Friederike Rothe ZwischenmenschlicheKommunikation
KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT
Friederike Rothe
Zwischenmenschliche ...
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Friederike Rothe ZwischenmenschlicheKommunikation
KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT
Friederike Rothe
Zwischenmenschliche Kommunikation Eine interdisziplinare Grundlegung
Deutscher Universitats-Verlag
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ijber abrufbar.
1.AuflageGktober2006 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Brigitte Siegel / Dr.Tatjana Rollnik-Manke Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de Das Werk einschlieSlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutztwerden diirften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Druck und Buchbinder: Rosch-Buch, SchefJIitz Gedrucktauf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-8350-6026-0 ISBN-13 978-3-8350-6026-5
Vorwort Vorliegende Arbeit ist die iiberarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift. Uber zwischenmenschliche Kommunikation zu schreiben heiBt, sich iiber etwas, das unsere menschliche Existenz grundlegend kennzeichnet, Gedanken zu machen. Im Hintergrund dieser Arbeit steht die Kommunikation mit den vielen ganz unterschiedlichen Menschen meines bisherigen Lebensweges, die nicht alle einzeln genannt werden konnen. Mein besonderer Dank gilt den Professoren Peter Stoger (Innsbruck), Wolfgang Frindte (Jena) und Karlheinz GeiBler (Miinchen) fiir ihre differenzierten, kritischen wie wohlwollenden Kommentare, dem Kollegen Mag. Christoph Bedenbecker fiir seine vielfaltige Unterstiitzung in schwierigen Zeiten, sowie Mag. Anita Obrist fiir ihren ausdauemden couragierten Einsatz im universitaren AUtag wie auch fiir ihre Sorgfalt, mit der sie diese Arbeit Korrektur gelesen und in eine ansprechende auBere Form gebracht hat. Zuerst und zuletzt aber gilt mein Dank dem Forschungskollegen und Freund Pio Sbandi, seinen Kommentaren und Visionen, mit denen er diese Reflexion in vielfaltigen Diskussionen begleitet hat. Fiir ihn war die „zwischenmenschliche Kommunikation" schon in den 1980er Jahren zum dringlichen Forschungsthema geworden, zur Suche nach einer Antwort auf die Frage: „Warum machen wir uns das Leben, also die zwischenmenschliche Kommunikation, so schwer?" Friederike Rothe
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Inhaltsverzeichnis 1 2
Einleitung Das Phanomen und seine Erforschung 2.1
Vortheoretische Klarungen
2.1.1 Das Phanomen 2.1.2 Zwischenmenschliche Kommunikation als soziales Ereignis 2.1.2.1 Etymologie 2.1.2.2 Kommunikationsstorungen 2.1.3 Face-to-face-Kommunikation als Urform der zwischenmenschlichen Kommunikation 2.1.4 Zwischenmenschliche Kommunikation als prozesshaftes Ereignis 2.1.5 Terminologische Abgrenzungen 2.1.6 Zwischenmenschliche Kommunikation als Gegenstand transdisziplinarer Forschung 2.2
Der Begriff des Sozialen in der Sozialpsychologie
2.2.1 Sozialpsychologische Theorienbildung 2.2.1.1 Theorieninflation und Primat der Methodologie 2.2.1.2 Der Mangel an umfassenden Theorien 2.2.1.3 Philosophische Voraussetzungen der Psychologic: Philosophische Anthropologic oder Theoretische Psychologic 2.2.1.4 Psychologische Menschenmodelle 2.2.1.5 Die individuumszentrierte Modellierung der sozialen Dimension in der Sozialpsychologie 2.2.2 Die Dichotomic von Individuumszentriertheit und sozialer Determiniertheit 2.2.2.1 Die Theorie sozialer Reprasentationen von Serge Moscovici 2.2.2.2 Der sozialkonstruktionistische Ansatz von Kenneth Gergen 2.2.2.2.1 Die relativistische „Position" Gergens
2.2.3 3
VII 1 7 7 7 9 9 10 13 14 15 17 19 20 20 23 25 27 30 33 34 36 38
2.2.2.2.2 Individuumszentriertheit und Sozialitat
41
2.2.2.2.3 Die soziale Konstruktion des relationalen Selbst
41
2.2.2.2.4 Kommunikation und Sprache
44
Zusammenfassung und Reflexion: Konsequenzen der Individuumszentriertheit
Absolutes Subjekt und Relationalitat
48 51
3.1
Etymologie und Sprachgebrauch von „persona"
51
3.2
Die antike und mittelalterliche Trinitatstheologie
53
3.2.1 3.2.2 3.2.3
Grundfrage und Denkrahmen Substanz, Akzidens und Relation Der Kampf um das Trinitatsverstandnis bei den Kirchenvatem
53 53 54 VII
3.2.4 Boethius 3.2.5 Richard v. St. Victor 3.2.5.1 Caritas als hochste menschliche Erfahrung 3.2.5.2 Person als „existentia incommunicabilis" 3.2.5.3 Condilectus: Die Notwendigkeit des Dritten
56 57 57 58 60
3.3
Triadisch bestimmte Relationalitat: Erste Folgerungen
62
3.4
Das absolute Subjekt bei Hegel
64
3.4.1 Die Aufhebung der Substanz in das Subjekt 3.4.2 Die Dialektik von Selbstbehauptung und Anerkennung 3.4.2.1 Die drei Phasen des Anerkennungsprozesses 3.4.2.2 Der Kampf auf Leben und Tod 3.4.2.3 Das Herr-und-Knecht-Verhaltnis 3.4.2.4 Autonomic vs. Anerkennung und das grundsatzliche Ungeniigen des Tausches
64 65 65 66 68 69
3.5
Transzendentalphilosophische Ansatze der Intersubj ekti vitat
70
3.6
Die Dialogphilosophie Martin Bubers
73
3.7
Absolutes Subjekt und Relationalitat: Zusammenfassung und Reflexion
74
Kommunikationsforschung: ein fragmentarischer Uberblick
78
4.1
Heterogenitat der Kommunikationsforschung
78
4.2
Fruhe kommunikationstheoretische Fragmente
80
4.2.1 Das Stimulus-Response-Modell und die Lasswell-Formel 4.2.2 Shannon & Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie 4.3 Forschungsansatze im Kontext der Ausdruckspsychologie 4.3.1 Das Ausdrucksverstandnis bei Robert Kirchhoff 4.3.2 Ausdruckstheoretische Uberlegungen bei Klaus Holzkamp 4.3.3 (Non-)verbale Kommunikation 4.3.3.1 Sprachphilosophie, Linguistik, Anthropologic 4.3.3.2 Facial Action Coding System (FACS) 4.3.3.3 Siegfried Frey: Das Bemer System zur Beschreibung natUrlicher menschlicher Bewegungen 4.3.3.4 Interkulturelle Kommunikation 4.4
Systemisch orientierte Kommunikationstheorien
4.4.1 Jurgen Ruesch: Kommunikation in der Psychiatric 4.4.2 Paul Watzlawick et al.: Menschliche Kommunikation 4.4.3 Friedemann Schulz v. Thun: Miteinander reden 4.4.4 Niklas Luhmann: Kommunikation als gesellschaftliche Operation 4.4.5 Klaus Merten 4.4.5.1 Die Evolution der Kommunikation 4.4.5.2 Kritische Anfragen: Informelle und mediale Kommunikation
80 80 82 82 87 90 90 91 94 98 99 99 102 104 106 108 109 113
4.5
Computervermittelte Kommunikation und Face-to-face-Kommunikation im Vergleich
115
4.6
Jiirgen Habermas: Theorie kommunikativen Handelns
118
4.6.1 VIII
Riickgriff auf G. H. Mead: taking the attitude of the other
119
4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6 4.6.7 4.6.8 4.6.9 4.7 5
Vemunft und Lebenswelt Verstandigung Strategische und verstandigungsorientierte Kommunikation Sprechakte DerDiskurs Die ideale Sprechsituation Die Bedeutung des psychoanalytischen Gesprachs Einige kritische Anmerkungen
120 120 121 122 124 125 126 127
Kommunikationsforschung in Fragmenten: Zusammenfassung
129
Intersubj ektivitat und Relationalitat in psychotherapeutischen Ansatzen
133
5.1 5.2
Die Forderung nach „gelingender Beziehung" als psychotherapeutisches Desiderat
133
Carl R. Rogers: Die klientenzentrierte Gesprachspsychotherapie
135
5.2.1 Rogers' wissenschaftliche Kompetenz 5.2.2 Die Aktualisierungstendenz 5.2.3 Die Notwendigkeit einer fordernden Umwelt 5.2.4 Die „Formative Tendenz" des Universums 5.2.5 Menschliche Freiheit 5.2.6 Die Problematik des Beziehungsbegriffes bei Rogers 5.3 Dieter Wyss 5.3.1 Vorbemerkung zum Werk von Dieter Wyss 5.3.2 Die kommunikative Grundbezogenheit von Subjekt und Welt 5.3.3 Wirklichkeit als Kommunikation 5.3.3.1 Das Postulat der wechselseitigen Bezogenheit: Menschsein als In-der-Welt-Sein 5.3.3.2 Die Dynamik der Bezogenheit 5.3.3.3 Mangel und Bediirfen als Grund von Kommunikation 5.3.3.4 Die Konstituierung des Subjektes durch die Kommunikation 5.3.3.5 Die Grundstrukturen der Kommunikation 5.3.3.6 Die Kommunikationsmodi Sozialitat und Kommunikation 5.3.4 5.3.4.1 Die ontologische Fundierung der Intersubj ektivitat 5.3.4.2 Zwischenmenschliche Kommunikation im Verstandnis von Wyss 5.3.4.3 Relationalitat als dyadisches Ereignis 5.3.4.4 Leben ist Kommunikation: der generalisierte Kommunikationsbegriff bei Wyss 5.3.5 Die weltanschauliche Fundierung der Wyss'schen Konzeption 5.3.6 Die Ambivalenz gegeniiber dem Anderen 5.4 5.5
136 137 138 140 141 141 144 144 146 147 147 147 149 150 151 153 155 155 156 157 159 160 161
Psychoanalytische Metapsychologie und empirische Sauglingsforschung: der „relational turn" der Psychoanalyse
162
Die Ontogenese zwischenmenschlicher Kommunikation
165
5.5.1
Einige Ergebnisse der neueren Sauglingsforschung: Wahrnehmung, Affekte und Kognition im Sauglingsalter 5.5.2 Die Kommunikation zwischen Saugling und Betreuungsperson 5.5.2.1 Die kommunikativen Fahigkeiten des Sauglings 5.5.2.2 Intuitive Parenting und Sensitive Caregiving 5.5.2.3 Communing attunement
165 168 168 171 172 IX
5.6
„Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation" in ausgewahlten psychoanalytischen Konzepten
5.6.1 5.6.2 5.6.3
DerBegriffder„Symbiose" Der „relational turn" der Psychoanalyse „Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation" in der Konzeption von Martin Domes 5.6.3.1 Zwischenmenschliche Kommunikation als Systemerweiterung 5.6.3.2 Das individuumszentrierte Verstandnis der Sauglingskommunikation 5.6.4 „Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation" in der Konzeption von Axel Honneth 5.6.4.1 Intersubjektivitat von Anfang an 5.6.4.2 Episodenhafte symbiotische Fusionen 5.6.4.3 Die Entwicklung der intrapsychischen Strukturen 5.6.4.4 Intersubjektivitat zwischen Symbiose und Unabhangigkeit 5.6.5 „Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation" bei Jessica Benjamin 5.6.5.1 Gegenseitigkeit des Bedtirfnisses nach Anerkennung 5.6.5.2 Die Paradoxic zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung 5.6.5.3 Die Fraglichkeit der Absolutsetzung des Subjekts 5.6.5.4 Absolutsetzung des Subjekts und zwischenmenschliche Kommunikation 5.6.5.5 Balance im Paradox 5.6.5.6 Der Appell an die Gleichheit 5.7
Bindung
5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.8 6
Bindung und Bindungsverhalten Bindung und Kommunikation Kritische Anmerkungen zum Bindungsbegriff Intersubjektivitat und Relationalitat in psychotherapeutischen Ansatzen: Zusammenfassung
174 174 176 179 179 183 187 187 188 190 192 194 194 195 196 197 198 199 200 200 204 205 209
Zwischenmenschliche Kommunikation als Ausdruck triadisch bestimmter Relationalitat 6.1
Das Relationalitats-Paradigma
6.1.1 Die Aporie des absoluten Individuums 6.1.2 Gegenlaufige Indizien 6.1.3 Die Trinitat als Modell der relationalen Bestimmtheit des Menschen 6.1.4 Relationalitat und Personalitat 6.1.5 Dyadisch bestimmte vs. triadisch bestimmte Relationalitat 6.2 Die Grundstrukturen zwischenmenschlicher Kommunikation Triadisch bestimmte Relationalitat und zwischenmenschliche Kommunikation 6.2.2 Relationalitat und Unmittelbarkeit 6.2.3 Die Bedeutung des „Dritten" in der Kommunikation 6.2.4 Kongruente und inkongruente Kommunikation 6.2.4.1 Kongruente Kommunikation 6.2.4.2 Inkongruente Kommunikation 6.2.4.3 Formen inkongruenter Kommunikation 6.2.4.3.1 Personlichkeitsstorungen als Kommunikationsstorungen
213 213 213 215 216 218 220 220
6.2.1
220 221 225 227 228 228 230 230
6.2.4.3.2 Machbarkeitsbestrebungen hinsichtlich der psychotherapeutischen Kommunikation
231
6.2.4.3.3 Computervermittelte Kommunikation als „risikofreie" Kommunikation
233
6.2.4.3.4 Individuum vs. Team
234
6.2.4.4 6.3
Fazit und Ausblick
6.3.1 6.3.2 6.3.3 7
Der Verzicht auf den Absolutheitsanspmch als Voraussetzung kongruenter Kommunikation
Literatur
Vom absoluten Subjekt zur triadisch bestimmten Relationalitat: ein notwendiger Paradigmenwechsel Die Fraglichkeit bestimmter Kommunikations-„Tools" Die Bedeutung der Gruppe
236 238 238 239 240 243
XI
1 Einleitung Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema „zwischenmenschliche Kommunikation" fiihrte 1991 an der Universitat Innsbruck zur Griindung des „Senatsinstituts fur zwischenmenschliche Kommunikation", heute: „Institut flir Kommunikation im Bemfsleben und Psychotherapie". Ausloser dieser Entwicklung waren die vielfachen Erfahrungen eines Sichnicht-verstehen-„Konnens" zusammen mit einem beharrlichen Missverstehen-„Wollen", wie es in den an diesem Institut durchgefuhrten gruppendynamischen Laboratorien der 1970er Jahre spurbar zutage trat. Friihe Uberlegungen dazu fanden ihren Niederschlag unter dem Titel „Umweltverschmutzung durch Kommunikation" auf der NOVA-West-Messe 1989 in Innsbruck. Auf den ersten Blick ist „zwischenmenschliche Kommunikation" ein ganz alltagliches Geschehen, das sich in unendlich vielen Varianten ubiquitar ereignet und dem wir uns kaum entziehen konnen. Die technische Entwicklung zeigt sich wesentlich auch als eine Entwicklung von zwischenmenschlicher Kommunikation, zumindest in dem Sinne, dass wir inzwischen per Handy oder auch uber E-Mail, Fax und Videokonferenzen groBe raumliche Distanzen uberwinden konnen. Trotzdem bleibt unbestreitbar, dass die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht die zwischenmenschliche Kommunikation katexochen darstellt. ZwischenmenschUche Kommunikation zu verstehen heiBt zunachst und in erster Linie, Face-to-face-Kommunikation zu verstehen, denn sie ist nicht nur evolutionar gesehen die ursprtingliche Kommunikationsform, sondem nach wie vor die umfassendste, der gegenliber alle anderen Kommunikationsweisen lediglich Derivate darstellen. Die Erfahrung unserer alltaglichen Kommunikation, unserer Beziehungen', ist in ihrer Gesamtheit „durchwachsen"; einerseits begliickt uns eine gelungene Kommunikation, andererseits macht ihr Misslingen uns Leiden. Das Scheitern der Kommunikation in Partnerschaft, Familie und Beruf, unbewaltigte Trennungen oder Sprachlosigkeit bewegen uns im Innersten und fUhren dann scheinbar zwangslaufig zur psychischen wie physischen Vernichtung des Anderen. Was bereits im Kleinen todUch enden kann, geschieht auch im Grofien. Wenn zwischenstaatliche Kommunikation scheitert, scheint der Krieg, also die Vernichtung des anderen Stammes, der anderen Volksgruppe oder Nation, eine unvermeidliche Folge zu sein. Der Minderung dieses kommunikativ bedingten Leidens durch Schulung der „soft skills" gelten viele Anstrengungen in den verschiedensten Bereichen, so etwa im wirtschaftlichen Bereich zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sowie gegenliber den Kunden,^ oder im Rahmen der Medizin zwischen Arzten, Patienten, medizinisch-technischem Personal, sowie
„Kommunikation" und „Beziehung" werden hier in der Einleitung noch synonym gebraucht. ^ Die Redeweise in der deutschen Sprache, die beide Geschlechter umfasst, ist nach wie vor unbefriedigend, wird jedoch aus Griinden der leichteren Lesbari<:eit beibehalten. Damit sind natiirlich immer beide Geschlechter gemeint.
Pflege- und Verwaltungspersonal. Stadteverwaltungen schicken ihre Mitarbeiter zu Kommunikationstrainings, damit sich diese als Dienstleister gegeniiber dem Burger als anspruchsberechtigten Kunden verstehen. Im padagogischen Bereich ist die Qualitat des „padagogischen Bezuges", der Kommunikation zwischen Erzieher und Educandus, ein Jahrhunderte altes Thema. Die Pastoraltheologie reflektiert die Seelsorge als einen besonderen kommunikativen Vorgang. Seriose Psychotherapie schlieBlich geht inzwischen, empirisch begrtindet, davon aus, dass Psychotherapie nur gehngen kann, wenn die Kommunikation zwischen Psychotherapeut und KHent gehngt. Im Konfliktfall werden Psychotherapeuten, Supervisoren, Mediatoren, Organisationsberater, Erziehungsberater, Kommunikationstrainer und Personalentwickler aufgeboten, um Betroffene zu sensibiHsieren und wieder gesprachsfahig zu machen. Moderatoren sollen die Diskussion in einer Gruppe in „verniinftige Bahnen" lenken; es werden Flipcharts, PowerpointPrasentationen und Inhalte ganzer „Moderatorenkoffer" verwendet, um die Kommunikation zu unterstiitzen und deren Ergebnisse zu dokumentieren. Und schheBHch gibt es eine breite Palette an Ratgeberliteratur, die sich, zumeist auf popularpsychologischem Niveau, dieser Problematik annimmt. Die groBe Anzahl der verschiedensten Interventionsangebote, deren Umsetzung zeitlich, psychisch und fmanziell sehr kostenintensiv ist, ist ein deutlicher Hinweis auf das AusmaB des Leidens an misslungener Kommunikation. Sie ist zugleich aber auch Ausdruck der Uberzeugung, dass die Bewaltigung dieser Kommunikationsstorungen mit den geeigneten Mitteln erfolgreich machbar ist. Eine solche Uberzeugung impliziert, dass ein Wissen darum vorhanden ist, was eigentlich gelingende bzw. misslingende Kommunikation meint, ja was denn iiberhaupt Kommunikationsprobleme oder Kommunikationsstorungen sind. Diesen heterogenen Interventionspraxen stehen nur sehr wenige Kommunikationstheorien im engeren Sinne gegeniiber. Umso mehr lassen sich aber eine ganze Reihe von multidisziplinar verankerten und terminologisch heterogen formulierten Theoriefragmenten fmden, die kaum kompatibel zu sein scheinen. Dieser Sachverhalt bestarkt die Vermutung, dass das Phanomen selbst theoretisch noch nicht hinreichend erfasst wurde, was sich unmittelbar in einer praktischen Beliebigkeit zeigt. Angesicht eines solchen Sachverhalts ist es sinnvoll, zunachst zu den Wurzeln, d.h. zum Phanomen selbst in seiner ganzen Breite zurtickzukehren. Die Phanomenanalyse ergibt u.a., dass ein Verstehen dessen, was wir zwischenmenschliche Kommunikation nennen konnen, unabdingbar auch ein Verstehen dessen, was Sozialitat ist, erfordert, und vice versa. Ist der Andere notwendig fiir den Einen, existiert er einfach nur auch oder ist er potenziell immer bedrohlich? Sozialitat und zwischenmenschliche Kommunikation erhellen sich so gegenseitig. Gerade die Ubiquitat und Alltaglichkeit des Phanomens wie auch die Tatsache eines Theorien- und Interventionspluralismus samt heterogener Terminologie machen zunachst ratios angesichts der Frage, welches wissenschaftliche Each oder welche Disziplin denn fiir seine Erforschung und Reflexion zustandig sei. Ausgehend von einer solchen Sachlage muss die
Problemorientierung an erster Stelle vor einer Fach- bzw. Disziplinorientiemng stehen (vgl. MittelstraB 1989). Erst eine fachtibergreifende Erhellung des Phanomens kann zeigen, welche theoretischen Bemuhungen in einer Sackgasse geendet haben und welche Erkenntnisse nach wie vor wertzuschatzen sind, um so erst den gesamten Erkenntnisgrad und die Grenzen der bisherigen theoretischen Klarung dieses Phanomens feststellen zu konnen. Eine Rtickkehr zum Phanomen „zwischenmenschliche Kommunikation" in seiner ganzen Breite und das Uberschreiten von Fach- und Disziplingrenzen konnten durchaus als Nahe zum Diskurs der so genannten Postmoderne ausgelegt werden. Ihre Kritik an scheinbar gesichertem Wissen, das Infrage-Stellen tradierter Denkmuster, die Erinnerung an die Unsicherheit eines jeden Denkanfangs, das Bewusstsein um das Eingerahmt-Sein eines jeden Gedankens wie auch die Eigenart des Verhaltnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit sind wichtige wissenschaftstheoretische Beitrage. Zusatzlich gilt es aber auch, dem Eindruck, dass wir dem Zwang der Verhaltnisse ohnmachtig ausgeliefert sind, durch den Aufweis von Interventionsmoglichkeiten entgegenzutreten. Inter- bzw. transdisziplinare Vorgehensweise heiBt zum einen, verschiedene Positionen hinsichtlich bestimmter Aspekte miteinander ins Gesprach zu bringen. Zum anderen ist sie der Versuch, sichtbar gewordene Sackgassen oder Argumentationsbriiche bisheriger theoretischer Anstrengungen dadurch zu bewaltigen, dass man sich gegebenenfalls Argumentationsfiguren bedient, die beispielsweise im Rahmen einer bestimmten theologischen Fragestellung entwickelt wurden, ohne damit Theologie zu betreiben bzw. unzulassig verschiedene Fragestellungen zu vermischen (vgl. Kap. 3). Uberdies ist es ein hermeneutisches Vorgehen, also der Versuch, sozialpsychologische, philosophische entwicklungspsychologische, padagogische und theologische Erkenntnisse gleichermaBen aufzugreifen und zueinander in Beziehung zu setzen. Ein solches interdisziplinares Vorgehen ist nicht ohne Risiko. Aufgrund des „publish or perish"-Drucks wachst die Anzahl der Publikationen in einem MaBe, dass kaum noch das eigene Fachgebiet uberschaut werden kann, geschweige denn zusatzlich noch ein anderes oder gar mehrere. Angesichts dieser Publikationsflut und der Menge, die ein einzelner Leser noch bewaltigen kann, muss eine exemplarische Auswahl unter den vorhandenen Ansatzen getroffen werden, die den gemeinten Sachverhah sichtbar werden lassen. Naturlich bleibt eine solche - durchaus eurozentrierte - Auswahl immer diskutabel. Um trotz des Uberschreitens von Fach- und Disziplingrenzen einem in Teilen fachfremden Leser den Gesamtduktus nachvollziehbar zu machen, wird sich der fachlich versierte Leser gelegentlich historischen wie systematischen Diskussionen gegeniibersehen, die ihm bekannt sind und daher seine Nachsicht erfordern. Aus dem gleichen Grund, aber auch wegen des Alters einiger Texte, schien es mir zudem sinnvoll, gelegentlich langere Originaltexte zu zitieren, um einer heterogenen Leserschaft einen eigenen Einblick in den jeweils gemeinten Sachverhalt zu bieten. Eine besondere Schreibweise wird dem Leser ins Auge fallen. Wenn es um die leitende Frage nach dem Verhaltnis zwischen „dem Einen und dem Anderen'\ um Soziali-
tat geht, dann werden beide Ausdriicke hier im Sinne eines Terminus gebraucht und bis auf die Originalzitate durchweg groB geschrieben. Ein kurzer Uberblick kann an dieser Stelle hilfreich sein, um den Argumentationsgang dieser Arbeit nachvollziehen zu konnen: In Kap. 2 wird die Sozialpsychologie hinsichtlich ihres Sozialitatsverstandnisses befragt. Ihr diesbeziigliches Schwanken zwischen dem Primat des Individuellen vor dem Gesellschaftlichen und umgekehrt notigt in Kap. 3 zu einer Befragung der abendlandischen Geistesgeschichte nach dem Verhaltnis des Einen zum Anderen. Deutlich schalt sich dabei eine doppelgleisige, miteinander unvermittelbare Tradition heraus: der Mensch wird entweder als absolutes Subjekt oder als relational fundierte Person verstanden. Besonders bemerkenswert im Hinblick auf die spatere eigene Konzeption sind die Argumentationsfiguren von Richard v. St. Viktor in Zusammenhang mit der christlich-theologischen Trinitatslehre hinsichtlich der Begrundung von Relationalitat. Das absolute Subjekt hingegen steckt unausweichlich im Dilemma zwischen seinem Bediirfnis nach Anerkennung durch den Anderen und seinem Anspruch auf Absolutheit fest. Letzteres, das so genannte individuumszentrierte Menschenbild, fmdet sich durchgehend als Sozialitatsverstandnis nicht nur in der Sozialpsychologie, sondem auch in den verschiedensten Kommunikationstheorien bzw. Theoriefragmenten wieder (vgl. Kap. 4). Daher kann vielfach die Notwendigkeit gelingender Kommunikation nicht begrundet werden, sondern eine solche Uberzeugung zeigt sich dann nur noch in Appellform. Kap. 5 wendet sich wiederum dem Phanomen und seiner empirischen Forschung speziell in der neueren Sauglingsforschung zu. Deren Ergebnisse dienen Vertretem der Psychoanalyse vielfach als Grundlage fiir die Entwicklung eines bestimmten Begriffs von Relationalitat, wobei der Frage nachgegangen wird, ob dieser Relationalitatsbegriff eine wirkliche Alternative zur Individuumszentriertheit anderer Ansatze darstellt. Das heute in Medien, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft herrschende Menschenbild ist ein individuumszentriertes oder „egomanisches", wie Richter (2002) es nennt. Die Tradition der individuumszentrierten Betrachtung des Menschen, der Absolutsetzung des Subjekts, die sich im Laufe der abendlandischen Geistesgeschichte als die dominierende durchgesetzt hat, fuhrt jedoch in eine Aporie, wenn sowohl die eigene Absolutsetzung als auch die Anerkennung durch den Anderen unverzichtbar sind. Es gibt fiir die Absolutsetzung des Subjekts jedoch keine plausiblen Griinde, daher ist ein radikaler Paradigmenwechsel, eine Neuformulierung des Menschenbildes, unumganglich. Bereits 1988 haben Sbandi & Vogl auf die Notwendigkeit einer relational fundierten Kommunikationstheorie hingewiesen. Viele Wissenschaftler sind in letzter Zeit ebenfalls auf die Notwendigkeit einer Veranderung dieses Paradigmas gestoBen. Der Titel des letzten Buches von H. E. Richter „Das Ende der Egomanie" lasst sich als Ausdruck eines Wunsches und als Zeichen einer grundlegenden Unruhe verstehen. Zugleich deutet sich aber auch an, dass eine solche Veranderung mit groBen Angsten verbunden ist. Es erscheint schwierig, sich von Denksystemen jeglicher Art zu losen und nach Neuem auch einmal dort zu suchen, wo man es vielleicht gar nicht erwarten wurde.
Auf der Suche nach einem anderen Modell, das beim Losen dieser Aporie behilflich sein konnte, scheint das in der christlichen Tradition beheimatete Modell der Dreifaltigkeit am besten geeignet. Ich habe mich bei diesem Vorhaben von einem mittelalterlichen Denker, Richard V. St. Victor (t 1173), inspirieren lassen, der selber wusste, welche Folgen das freie Denken ftir ihn hatte haben konnen. Bei ihm glaube ich, sozusagen in geballter Form, den radikalen Wechsel von einem Begriff des absoluten Seins zu dem des Seins als Bezogen-Sein infolge der Analyse zwischenmenschlicher Kommunikation entdeckt zu haben, was zugleich den Wechsel von einem individuumszentrierten zu einem relationalen Menschenbild bedeuten muss. Die Erfahrung der zwischenmenschlichen Kommunikation zwingt Richard zu der Annahme, dass der Mensch nur als grundlegend relationaler denkbar ist. Bezogenheit erfordert eine Pluralitat verschiedener Personen, zugleich ist sie der Garant der Einmaligkeit jeder Person. Daher ist die Person als Selbststand in Relation zu bestimmen. Da jede Relation grundsatzlich als solche schon liber sich hinausweist, ist die konstitutive Relationalitat eine triadisch bestimmte. Sie ist entweder total oder sie ist gar nicht. Kein Individuum, keine allein stehende Dyade, sondern ein in sich triadisch kommunizierendes System ist die Voraussetzung fur die von uns erfahrene zwischenmenschliche Kommunikation. Die triadisch bestimmte Relationalitat fmdet ihren Ausdruck in der zwischenmenschlichen Kommunikation als einer von beiden Kommunikationspartnern gemeinsamen bestimmten Handlung, insbesondere in der Face-to-face-Kommunikation als deren Urform. Unsere Entwicklung als unverwechselbare, einzigartige Person geschieht iiber die gesamte Lebensspanne hinweg in Abhangigkeit von der Kommunikation mit anderen Menschen. Die Durchwachsenheit unserer alltaglichen Kommunikation meint nichts anderes als unsere alltagliche Kommunikation im Kontinuum zwischen Kongruenz und Inkongruenz als dem Kennzeichen ihrer jeweiligen Qualitat. Gelingende Kommunikation ist gemeinsames und freies Handeln zweier Menschen. Zwischenmenschliche Kommunikation in kongruenter Qualitat ist Leben, d.h. Lebensqualitat und Qualitat der zwischenmenschlichen Kommunikation, vor allem der Face-toface-Kommunikation, sind nicht voneinander zu trennen. Das triadisch-relationale Paradigma ist mit der Behauptung der absoluten Autonomic des Subjekts, unvereinbar. Letzteres, das bis heute dominierende individuumszentrierte Menschenbild, ist wesentlich fur die verbreitete Inkongruenz zwischenmenschlicher Kommunikation und den entsprechenden Folgen verantwortlich. Diese erweist sich in ihrem Kern als ein andauemder Kampf zwischen zwei sich absolut setzenden Subjekten, die ihre eigentliche relationale Verfasstheit leugnen. Das sich autonom setzende Individuum reduziert den Anderen auf bestimmte Funktionen, d.h. auf seine Ntitzlichkeit. Der differenzierte Gebrauch der Kommunikation soil dabei dariiber hinwegtauschen, dass jeder Versuch, Kommunikation einseitig machen und kontrollieren zu woUen, zugleich ihre Zerstorung bedeutet. Das gilt fur jede Form von „Kommunikationstraining", das den Anderen dazu zu bringen versucht, in bestimmter Weise zu kommunizieren, und das zugleich aber unbedingt den Eindruck erwecken will, dass es genau dies nicht tut. Die computervermittelte Kommunikation kann gewisserma-
fien als „modemste" Form des Versuchs gelten, das der Kommunikation immanente Risiko auszuschalten und trotzdem „nahe" zu kommunizieren. Der Wechsel zum triadisch-relationalen Paradigma erweist in der Folge die Annahme eines absoluten Subjekts als Illusion ebenso wie die gelaufige Uberzeugung, dass wir vollig frei entscheiden und handeln konnen. Er stellt aber auch alle so genannten Interventionsformen in Frage, die auf dem Hintergrund eines individuumszentrierten Menschenbildes zwischenmenschliche Kommunikation fiir machbar halten.
2 Das Phanomen und seine Erforschung 2.1 Vortheoretische Klarungen Auf dem Weg hin zu einem fundierten Verstandnis des Phanomens „zwischenmenschliche Kommunikation" sind zunachst einige vortheoretische Klarungen erforderlich. Daher gilt es, in einem ersten Schritt das Phanomen selbst umfassend in den Blick zu bekommen. Die Etymologie von „Kommunikation" und der Blick auf verschiedene Kommunikationsstorungen erschlieBen zwischenmenschliche Kommunikation sukzessive als im Kern soziales und prozesshaftes Ereignis, insbesondere in seiner Urform, der Face-to-face-Kommunikation. Solche Strukturierungen machen dann auch erste terminologische Differenzierungen notwendig. Ganz im Sinne Holzkamps (1965) geht es also um „phanographische oder diskursiv-konstruktive Bemiihungen um Klarung der Redeweise iiber ein Problemgebiet, ohne dass dabei bereits konkrete, auf raum-zeitlich besonderte Realitat bezogene Annahmen formuliert werden. Durch vortheoretische Ausfiihrungen werden Abgrenzungen vollzogen, Unterscheidungen eingefiihrt, begriffliche Ortsbestimmungen angesetzt; man ist also auf Schaffung einer durchschaubaren Ordnung bei der wissenschaftssprachlichen Aufschliefiung des Problemgebietes gerichtet. [...] Vortheoretische Klarungen sind die Basis fiir jede Theorienbildung i. e. S. und des Weiteren fiir jede empirische Forschung. Von den allgemeinen wissenschaftssprachlichen Abgrenzungen und Unterscheidungen hangt es ab, was fur die Theorien i. e. S. iiberhaupt zum Problem werden kann, und mit welchen Worten man die empirischen Befunde, iiber die man ja notwendigerweise irgendwie ,reden' muss, in die objektivierte Wissenschaft einbezieht" (Holzkamp 1965, 39). 2.1.1 Das Phanomen Wie zeigt sich also das Phanomen „zwischenmenschliche Kommunikation", was erleben zwei gesunde erwachsene Menschen mit intakten Sinnesorganen, die miteinander kommunizieren? Es werden Worte gesprochen, nonverbale und paraverbale AuBerungen gemacht. Ich verstehe den Anderen^, was er mit Worten sagt oder auch ohne Worte. Ich nehme Widerspriiche wahr: er sagt etwas, aber ich spiire, dass er etwas anderes meint. Ich verstehe ihn inhaltlich nicht, oder: wir sind nicht einer Meinung, oder: ich lasse ihn liber meine wahren Absichten im Unklaren. Er fragt genau nach, ich weiche aus. Ich merke, dass er mich anliigt, weil ich andere Informationen habe, oder weil ich es „spure". Plotzlich kommt mir der entsprechende Verdacht. Ich bin misstrauisch und erzahle nicht alles, was der Andere wissen will. Ich spure, dass der Andere eine ganz bestimmte AuBerung von mir horen will und mache sie schlieBlich, um keinen Arger zu bekommen oder um ihn nicht zu enttauschen. Gesprache werden als mlihsam erlebt, weil der Andere nicht reden kann oder will. Sie konnen auch nur anfangs etwas zah sein und dann immer fllissiger werden. Sie konnen im Geftihl enden, dass es ein wunderbares Gesprach war und man sich in Zukunft mehr davon erhofft. Das kann auch auf
Der „Eine" und der „Andere" werden im Sinne eines Terminus durchgehend groBgeschrieben.
Gegenseitigkeit beruhen. Oder der Andere gibt zu verstehen, dass er dafiir keine Zeit hat, dass er das Gesprach nicht so erlebt hat, z.B. zwischen Psychotherapeut und KUent. Das Gesprach hat einen „schalen Nachgeschmack". Es schien gut zu sein, war es im Nachhinein aber nicht mehr. Ich rede mit ihm, well ich etwas von ihm will; ich unterstelle ihm die gleiche Intention. Manchmal scheint ein Gesprach im Nachhinein oder auch schon im Geschehen klar verstandlich, ein anderes Mai gar nicht. Es ist mir wichtig oder auch egal, ob der Andere mich schatzt Oder nicht. Es krankt mich, wenn der Andere mich angelogen hat. Mit einigen Menschen brauche ich das Gesprach, mit anderen will ich gar nicht reden. In offiziellen Situationen rede ich „unverbindlich" und suche Differenzen zu vermeiden, betreibe small talk. Ich fuhle mich geehrt, wenn jemand sozial Hochstehender mit mir spricht und gekrankt, wenn er mich ubersieht. Auf Signale der Ablehnung oder eines drohenden Kommunikationsabbruchs reagiere ich mit ganz bestimmten Kommunikationsformen, zugleich versuche ich selbst, solche Signale zu unterdriicken. Ich vermeide Unhoflichkeiten, versuche Gesprache am Laufen zu halten, spreche keine direkten Ablehnungen aus, auBere nicht offentliche Kritik, solange ich keinen Kommunikationsabbruch riskieren will. Ich sage nicht, was ich eigentlich meine, weil ich den Anderen nicht kranken oder verletzen will. Krankungen treffen mich, ihnen will ich mich entziehen, ich drohe mit Kommunikationsabbruch, werde laut, zeige Wut, Arger, Trauer. Ich will diese Reaktion beim Anderen verhindem, er soil die Kommunikation nicht abbrechen. Ich argere mich, weil man nicht offen mit ihm reden kann, weil er so empfmdlich oder auch so unempfmdlich ist. Die Reaktionen des Anderen sind mir nicht gleichgiiltig. Sie sind mir dann aber scheinbar gleichgultig, wenn ich zuvor schon entschieden habe, dass er fiir mich keinen Nutzen hat, dass er stort, dass ich ohne ihn besser dran bin. Erst wenn ich unter viel Druck stehe, wenn ich entschieden habe, dass der Andere ohne Bedeutung fiir mich ist, dass er mir nicht schaden kann, dann kann ich mir auch einen riiden oder subtilen Kommunikationsabbruch leisten. Ich ertrage den Anderen nicht, er stort oder belastigt mich, er bringt mir keinen Nutzen, hindert mich an anderen Kontakten usw. Daher verweigere ich mich per Telefon oder per E-Mail, ich tibersehe ihn, wenn er mir zuwinkt, ich wechsle die StraBenseite, wenn er mir entgegenkommt, ich weiche seinem Kontakt suchenden Blick aus, wenn wir zufallig das gleiche soziale Ereignis besuchen. Wenn ich mit einem Anderen liber einen Dritten rede, dann in keinem Fall, wenn dieser Dritte in unserer Nahe sitzt. Ich vermeide die offentliche Blofistellung, dass er sein „Gesicht verliert", glaube, dass ich ihm das in keinem Fall direkt sagen kann, und kann doch letztlich nicht vermeiden, dass der Andere meine Vermeidungshaltung wahmimmt und „versteht". Wenn ich gar nichts verstehe, in einem femen Land mit ganz anderen Sitten oder auch mit schwer kranken psychiatrischen Patienten, bin ich irritiert, verunsichert, versuche, nichts falsch zu machen, den Anderen nicht aufzuregen oder wutend zu machen. Ich spiire das Dilemma, wenn ich das von einem sozial hoher Gestellten denke, es vor ihm aber absolut verbergen muss. Das Sich-verstellen-Mtissen nervt, oder ist Teil des groBen Spiels mit- und ge-
geneinander. Wir verstehen einander nicht, sprechen dann verschiedene Sprachen. Das beriihmteste Bild dafiir ist wohl die „babylonische Sprachverwirmng" (vgl. Gen, 11,1-9).'* So Oder ahnlich konnen Gesprache erlebt und kommentiert werden. Eine Phanomenanaiyse auf dem Hintergrund einer solchen Phanomenbeschreibung erscheint fragwiirdig (vgl. Holzkamp 1956, 304), derm jene Formuliemngen scheinen nur personliche sprachliche Vorlieben wie auch subjektive Empfmdungen widerzuspiegeln, d.h. der gleiche Sachverhalt konnte auch anders ausgedrtickt und empfunden werden. Und trotzdem komme ich nicht umhin, feststellen zu miissen, wo von denn eigentlich die Rede sein soil. Auch Beschreibungen sind schon ein sttickweit Interpretation. Das Phanomen zeigt sich zunachst funktional vieldeutig. Aus seiner Betrachtung allein lasst sich „seine funktionale Herkunft niemals mit Notwendigkeit" (ebd. 307) erschliefien. Insgesamt werden wohl die meisten Menschen ihre Kommunikationserfahrungen in ihrer Gesamtheit als mehr oder weniger „ambivalent", als „durchwachsen" bezeichnen. 2.1.2 Zwischenmenschliche Kommunikation als soziales Ereignis 2.1.2.1 Etymologie Was lasst sich nun, ungeachtet der interpretativen Anteile, einer solchen Redeweise liber zwischenmenschliche Kommunikation entnehmen? Die Etymologie von „Kommunikation" hebt den Kemgehalt heraus. Der Georges (1999) uberliefert folgende Bedeutungen: „communicatio" (lat.): „die Mitteilung, vermittelst welcher man sich an die Zuhorer wendet und sie gleichfalls mit zu Rate zieht". Erst spater fallen im Lateinischen die Varianten „Anteilnahme" und „Gemeinschaft". „Communicare" kann bedeuten: 1. gemeinsam machen, vereinigen; 2. teilen, mitteilen, jemanden an etwas teilnehmen lassen; 3. sich beraten, besprechen. „Communio" hat die Bedeutungen 1. Gemeinschaft; 2. (commoenio) verschanzen; verwahren, befestigen, sicherstellen. „Communis" (altlat. commoinis, com + moin, mun, moenia, munus): mehreren oder alien gemeinsam, gemein, gemeinschaftlich, offentlich, allgemein, gewohnlich; auch im Sinne von „sich gemeinsam schiitzen". Die substantivierte Form „commune" wird mit „Gemeingut" sowie „Gemeinwesen", „Kommune" ubersetzt. Der Ausdruck „zwischenmenschliche Kommunikation" besagt implizit, dass zumindest zwei Menschen an einem solchen Vorgang beteiligt sind. Wir konnen deshalb auch von einem
"* „Die ganze Welt hatte die gleiche Sprache und die gleiche Ausdrucksweise. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, streichen wir Ziegel und brennen wir sie zu Backsteinen! Ihnen dienten Ziegel als Steine und Erdpech als Mortel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht iiber die ganze Erde zerstreuen! Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns! Jetzt wird ihnen nichts unerreichbar sein, was sie sich auch vomehmen. Auf, steigen wir herab und verwirren wir dort ihre Sprache, dass keiner mehr die Sprache des anderen verstehe! Der Herr zerstreute sie von dort aus iiber die ganze Erde, und sie horten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen iiber die ganze Erde zerstreut" (Gen 11,1-9).
„sozialen Ereignis" sprechen. Dem scheint das „Selbstgesprach" zunachst zu widersprechen. In einem Selbstgesprach rede ich mit einem imaginaren Gegeniiber. Dieses imaginierte Gegeniiber kann eine Verdoppelimg meiner selbst sein oder auch nur eines Teiles von mir, aber auch ein anderer Mensch, dem ich beispielsweise einen bestimmten Sachverhalt erklaren mochte. Das Selbstgesprach kann also verschiedene Funktionen haben. Es ist aber kein soziales Ereignis im strengen Sinne, eben weil der Andere kein reales Gegeniiber ist, sondem meine „Produktion" darstellt. Es ist nur die Fiktion einer Kommunikation, und insofem kein soziales Geschehen. Zwischenmenschliche Kommunikation geschieht also zwischen zumindest zwei realen Menschen und ist von daher ein soziales Ereignis. Wenn vom Menschen als einem sozialen Wesen die Rede ist, dann ist damit nichts anderes gemeint, als dass er grundlegend ein immer schon Kommunizierender ist. Zwischenmenschliche Kommunikation zu erklaren bedeutet folglich in eins auch die Klarung dessen, was die Existenz des Anderen fiir den Einen, was Sozialitat bedeutet.^ Erst dann lasst sich die Frage beantworten, warum wir kommunizieren und was wir kommunizieren. Bestimmte organische wie auch psychische Storungen machen diesen Sachverhalt deutlich. 2.1.2.2 Kommunikationsstorungen Eigentlich ist „Face-to-face-Kommunikation" eher eine irrefuhrende Bezeichnung, denn es ist nicht nur das Gesicht, iiber das wir kommunizieren, sondem wir kommunizieren in und durch unseren Leib, mit Mimik, Gestik, der Stimme, der Korperhaltung und Korperbewegung sowie den Augen im Blickkontakt. Richtig ist sie insofem, als die Mimik von Anfang an eine zentrale Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation spielt. Die Ausdruckspsychologen fruherer Jahrhunderte haben das gezeigt, aber auch in der Literatur- und Kulturgeschichte lasst sich dieses besondere Interesse verfolgen (vgl. von Matt 2000; McNeill 2003). Wie viele Signale zwischen den Kommunikationspartnem in kiirzester Zeit nur auf der Ebene der Mimik und der verbalen AuBemngen ablaufen, lasst sich mit dem Facial Action Coding System (FACS) von Ekman & Friesen (1978) zeigen (s. Abschnitt 4.3.3.2). Grob konnen wir zwischen Kommunikationsstorungen unterscheiden, die als Folge vermeintlicher oder tatsachlicher korperlicher Normabweichungen auftreten, und solchen, die mehr oder weniger rein psychisch bedingt zu sein scheinen, wie z.B. die Personlichkeitsstomngen, wie sie gemaB ICD-10 bzw. DSM-IV^ diagnostiziert werden konnen.^ ^ Diese Frage stellt sich allerdings nicht, wenn Sozialitat lediglich als „Eigenschaft" des Individuums betrachtet wird, wie z.B. bei Esser (1993). Er unterscheidet als Soziologe zwischen zwei Eigenschaften des Individuums, der Soziabilitat und der Sozialitat. Soziabilitat ist „die Fdhigkeit zur Aufhahme und zum Erhalt von sozialen Beziehungen" (Esser 1993, 161), wahrend Sozialitat „die Angewiesenheit auf eine soziale Steuerung des Verhaltens bzw. - spezieller - auf soziale Unterstutzung, auf soziale Anerkennung, auf sozial vermittelte Orientierung und eine fortlaufende soziale Verhaltensbestatigung iiber die soziale Interaktionen insbesondere mit interessierten und personal identischen Interaktionspartnem" (ebd.) meint. ^ ICD-10: International Classification of Diseases der WHO. DSM-IV: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association. ^ Naheres zum sozialen Aspekt von Personlichkeitsstorungen s. Kap. 6 unter 6.2.4.3.1.
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Jonathan Cole (1999) schildert eindrucksvoll Menschen mit verschiedenen Erkrankungen bzw. auch angeborenen Fehlbildungen und deren Auswirkungen auf die zwischenmenschliche Kommunikation. So beschreibt er z.B. die kommunikativen Beeintrachtigungen durch eine Gesichtslahmung infolge eines Schlaganfalls, durch die Erstarrung der Mimik bei Parkinson, die Vermeidung des Blickkontakts bei Autisten, der vollige Ausfall der Mimik infolge des Moebius-Syndroms^, die Mimik- und Kontaktprobleme nach Gesichtsverbrennungen, die Veranderung von Selbst- und Fremdwahmehmung bei spaterer Erblindung, das Nicht-wiederErkennen von Gesichtem bei Prosopagnosie^. Alles, was im Gesicht optisch und mimisch von der Norm abweicht, wird vom Gegenuber zunachst als irritierend wahrgenommen, was natiirlich auf den Erkrankten zurlick wirkt. Die Normabweichung dominiert die Kontaktaufnahme. Die Folgen sind haufig Kommunikationsvermeidung und soziale Isolation. Zu erwahnen sind in diesem Zusammenhang auch jene Menschen, die ihr Gesicht oder bestimmte Korperteile als von der Idealnorm stark abweichend erleben, so dass sie die plastische Chirurgie fur Korrekturen in Anspruch nehmen.'^ Mit solchen Veranderungen erhofft man sich groliere „Attraktivitat", was aber letztlich nichts anderes heifit, als das man jemand sein mochte, mit dem andere Menschen geme kommunizieren. „Die verschiedenen Kategorien der Probleme, sensorisch bei der Blindheit, physisch bei Entstellung und Mobius, neurologisch bei der Gesichtslahmung und entwicklungsabhangig beim Autismus - teils angeboren, teils erworben - , stoBen im Gesicht zusammen, verschwimmen und tiberschneiden sich dort" (Cole 1999, 255). Cole berichtet von Workshops mit Betroffenen, wo es sich als besondere Schwierigkeit
„Menschen mit entstellten Gesichtem dazu zu bringen, anderen ins Gesicht zu sehen. Ihre Gesichtsprobleme haben zu einem quasi autistischen Ruckzug von anderen gefiihrt [...] Wenn Emotionen durch Korpergefuhle ausgedriickt werden miissen, folgt daraus, dass ein Mangel an Erfahrung von Gefiihlen im Gesicht dazu fiihren kann, die Fahigkeit zu emotionaler Erfahrung uberhaupt einzuschranken" (ebd. 256). Angste vor offentlichen Auftritten gelten an sich als normal. Von „sozialer Phobic" oder „sozialer Angststorung" spricht man dann, wenn diese Angst die Lebensqualitat erheblich beeintrachtigt.^^ Stangier et al. (2003) verstehen in Anlehnung an Zimbardo „SchUchtemheit" als
Dabei handelt es sich um einen vermutlich angeborenen Innervationsausfall der Gesichtsmuskulatur, gegebenenfalls noch begleitet von anderen organischen Einschrankungen. Sog. Gesichtsblindheit: Die betroffenen Personen sind unfMhig, Personen aufgrund ihres Gesichtes wieder zu erkennen. ^ Finer der bizarrsten Falle dieser Art in unserer Zeit ist wohl der amerikanische Popsanger Michael Jackson. ' Erstmals wurde dieses Symptom von Marks & Gelder (1966) beschrieben (vgl. Stangier et al. 2003, IX); sie wurden allerdings erst 1980 in das DSM aufgenommen. DSM-IV: 300.23 (soziale Angststorung, Soziale Phobic); ICD-10: F 40.1 (Soziale Phobic). Erstmanifestation It. Stangier et al. in der Pubertat (75 % vor dem 16. Lj.). Uberlagert werden konnen solche StOrungen durch Depressionen oder Siichte als Ausdruck fehlgeschlagener Bewaltigung solcher Phobien. Differentialdiagnose: Selbstunsichere PersonlichkeitsstSrung, Depression. Bezuglich ersterer besteht eine grofie Uberlappung aufgrund von Parallelen in den Hauptkriterien. Sie ist evtl. als chronische Unterform der Sozialen Phobic zu sehen. Sie stellt die dritthaufigste Storung nach Major De11
„eine exzessive Sorge um die negative Bewertung, die durch einen Konflikt von Annaherung an personliche Ziele einerseits und deren Vermeidung aufgrund des Strebens nach Konformitat mit kulturellen Normen andererseits entsteht" (Slangier et al. 2003, IX). Die Bandbreite reicht von Angst vor einzelnen bestimmten (umschriebenen) Situationen bis hin zu generalisierten Angsten. „Zentrales Merkmal von Sozialen Phobien ist die Uberzeugung oder Erwartung, dass das eigene Verhalten oder korperliche Symptome von anderen Menschen als peinlich bewertet werden. Diese Uberzeugung zeigt sich vor allem in Gefiihlen von Angst und Scham, korperlicher Anspannung und einer starken Vermeidung von Situationen, in denen eine Konfroniation mit dieser negativen Bewertung moglich ist. Die Angste konnen sowohl in Situationen ausgelost werden, in denen eigene Handlungen vor anderen ausgefiihrt, beobachtet und bewertet werden konnten (sog. Leistungssituationen), als auch in Interaktionssituationen (z.B. Unterhaltungen), in denen das eigene Verhalten und die Reaktionen anderer in wechselseitiger Beziehung stehen" (ebd. 3).'^ Primar treten negative Kognitionen beziiglich Versagen, Blamage oder Peinlichkeit auf. Subjektiv erscheinen geltende Normen beziiglich Verhalten und Korper als nicht erfullt, was zur Uberzeugung fuhrt, dass andere einen als negativ bewerten und daher ablehnen werden. Einher geht dies mit einem negativen Selbstwertgefiihl, Perfektionismus und Uberempfmdlichkeit gegeniiber Kritik aus eben diesen Griinden, begleitet von Angst, Scham, Verlegenheit, Unsicherheit wie auch verschiedenen korperlichen Symptomen. Die Folge ist die Vermeidung von Situationen, Verhaltenshemmung und Sicherheitsverhalten mit daraus resultierender Beeintrachtigung (vgl. ebd. 6f).^^ Die iiberhohte Selbstaufmerksamkeit fiihrt dann in einen Teufelskreis. Das Sicherheitsverhalten tragt zur Aufrechterhaltung der Angst bei, weil keine anderen Erfahrungen mehr gemacht werden.
pression und Alkoholabhangigkeit dar (und evtl. sind diese beiden vielfach auch nur Ausdruck einer kaschierten sozialen Phobie, d.h. Soziale Phobie ist ein Risikofaktor fiir die Entwicklung anderer Storungen) sowie die haufigste Angstst5rung (vgl. ebd.). Es besteht eine hohe Komorbiditat (Angststorungen, Affektive Storungen, substanzbezogene StOrungen). Entscheidend ist das Ausmafi der Beeintrachtigung in Form von sozialer Isolation und beeintrachtigter psychischer Gesundheit. Sie verursacht wirtschaftlich hohe Kosten und wird haufig erst sehr spat erkannt. '^ Subklinische Angste sind sehr weit in der Bevolkerung verbreitet. 69 % leiden mindestens in einer von sieben vorgegebenen Situationen, 40 % in zwei, 18 % in drei Situationen. 33 % meinen, dass ihre Angst sehr viel groBer sei als die anderer Menschen, 19 % schatzen sich mittelgradig beeintrachtigt ein (vgl. Stein, Walker & Forde 1994, zit.n. Stangier et al. 2003, 13). Bei strenger Definition litten 12 % der reprasentativ Befragten unter einer Sozialen Phobie. '^ „Die neuroanatomische Grundlage fur die Wahmehmung und Verarbeitung von Gefahrenreizen bilden Amygdala, Hippocampus und Septum. [...] Der Hippocampus bildet die anatomische Grundlage fur die Verkniipfling von konditionierten Stimuli, die mit Bestrafung verbunden sind (z.B. aggressives Gesicht), mit Hinweisreizen des Kontextes (z.B. soziale Situation), und vermittelt Aktivierung des Verhaltenshemmungs-Systems das gespeicherte deklarative Wissen. Die Amygdala vermittelt zwischen der sensorischen Information und vegetativmotorischen Angstreaktionen. Sie ermoglicht durch direkte Weiterleitung die Aktivierung einer Furchtreaktion ohne kortikale (d.h. bewusste) Verarbeitung. Dariiber hinaus werden durch die Verbindung der Amygdala zum Cortex bewusste Bewertungsprozesse eingeschaltet, die die Grundlage ftir die eher kognitiv vermittelte Angst bilden. Die Aktivitat des (rechten) prafrontalen Cortex konnte die neuronale Grundlage fur das hieraus resultierende Vermeidungs- und Rilckzugsverhalten sowie Verhaltenshemmung bilden" (Stangier et al. 2003, 25f). Bei Personen mit Sozialer Phobie losen aggressive Gesichter eine starkere Aktivierung der Amygdala aus. Moglicherweise gibt es eine biologisch verankerte Angst vor aggressiven Gesichtem.
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2.1.3 Face-to-face-Kommunikation als Urform der zwischenmenschlichen Kommunikation Was unterscheidet nun Face-to-face-Kommunikation von anderen Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation, d.h. wie kommunizieren wir eigentlich? Genauer gefragt: was unterscheidet eine Kommunikation zwischen zwei Menschen, die sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befmden, beispielsweise von einer Video-Konferenz bzw. einer Kommunikation (iber Webcams? Die Face-to-face-Kommunikation im strengen Sinne ist gekennzeichnet dadurch, dass zwei Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort miteinander kommunizieren, d.h. die leibliche Dimension ist zum gleichen Raumzeitpunkt gegeben. Beide Kommunizierenden konnen einander uneingeschrankt mit alien Sinnen wahmehmen. Diese Wahmehmung ist in alien anderen Kommunikationsformen mehr oder weniger eingeschrankt. Wie gerade im Vergleich mit der computervermittelten Kommunikation deutlich wird (s. Abschnitt 4.5), gehort zur Face-to-face-Kommunikation wesentlich die Leibdimension, ihr Ausdruck im und durch den Leib, liber den wir uns in vielfaltigster Weise mitteilen. Wie zu zeigen sein wird, ist die eben umschriebene Face-to-face-Kommunikation, die gleichzeitige raum-zeitliche Gegebenheit in eins mit einer uneingeschrankten sinnlichen Wahmehmung, die Urform der zwischenmenschlichen Kommunikation, das analogatum princeps, der gegeniiber alle anderen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation - in unterschiedlichen Graden - bloBe Derivate sind. Daraus folgt, dass zunachst die phylogenetisch primare Form zwischenmenschlicher Kommunikation - und zugleich damit auch die Bedeutung der leiblichen Dimension fur sie - geklart werden muss, bevor deren Derivate hinsichtlich ihrer Ahnlichkeit bzw. Unahnlichkeit verstanden werden konnen. Eine ganz andere Position nimmt diesbeziiglich Klaus Merten (1977, 1999), Verfasser von Grundlagenwerken zur Kommunikationswissenschaft, ein. Er unterscheidet zwischen informeller und medialer Kommunikation. Unter ersterer versteht er „mtindliche, personale, Faceto-face-Kommunikation" (Merten 1999, 14). Letztere subsumiert Buch, Presse und Rundfunk (vgl. ebd. 13). Beide Kommunikationsweisen zeigen seiner Meinung nach die gleiche Struktur bzw. funktionieren nach gleichen Gesetzen. Die informelle Kommunikation stellt fur ihn den „einfachsten Kommunikationsprozess" dar (ebd. 15), die Entwicklung hin zu einer Mediengesellschaft ist Ausdruck einer „Evolution der Kommunikation" (ebd. 20) von der Schrift bis hin zum World Wide Web. „Entwicklung" meint hier demnach „Medienentwicklung". In dieser Evolution der Kommunikation wird die informelle Kommunikation offensichtlich als ihr Beginn angesehen. Wenn von Entwicklung die Rede ist, dann ist damit bei Merten technische Ausdifferenzierung, z.B. beziiglich der Geschwindigkeit, gemeint. „Entwicklung" ist aber, fiir sich gesehen, nicht zwingend positiv konnotiert. Hierfiir ist immer ein MaBstab erforderlich. Was bei Merten fehlt, ist eine Qualifizierung dieser Entwicklung. Ohne MaBstab kann man Veranderung zwar feststellen, aber nicht bewerten. Die behauptete Strukturgleichheit wird von Merten nicht begriindet, auch nicht, warum Face-to-face-Kommunikation die einfachste Kommunikationsform sein soil. Das hat zur Folge, dass Face-to-face13
Kommunikation bei Merten^'^ wie bei vielen anderen Autoren gemaB der Medienkommunikation verstanden wird. 2.1.4 Zwischenmenschliche Kommunikation als prozesshaftes Ereignis Zwischenmenschliche Kommunikation ist zugleich auch ein ubiquitares Ereignis. Uberall, wo Menschen miteinander in Kontakt kommen, geschieht Kommunikation. Der Mensch selbst ist eine sich prozesshaft entwickelnde Erscheinung. Analog dazu scheint das auch fiir seine kommunikativen Fahigkeiten zu gelten. Dieter Wyss hat in seinem umfangreichen Gesamtwerk einen umfassenden Kommunikationsbegriff verwendet, allerdings in analoger Bedeutung: auf der organismischen Ebene spricht er von Kommunikation im Sinne von „Austausch", wie etwa beim intermediaren Stoffwechsel, in gleichem Sinne auch zwischen Organismus und Umwelt, wie z.B. bei der Atmung oder Nahrungsaufnahme. So gesehen setzt Wyss „Leben" und „Kommunikation" gleich.^^ Was lebt, das kommuniziert auch. Das gilt in dieser Hinsicht fur alle Organismen. Nattirlich kann diese Kommunikation in verschiedenster Hinsicht gestort werden, z.B. durch Intoxikationen oder unkontrolliertes Zellwachstum. Analog dazu konnte man sagen, dass der Mensch kommuniziert, sofem er lebt, vorausgesetzt, er hat einen Kommunikationspartner, wenn Kommunikation denn grundsatzlich zwischen zwei Menschen geschieht. Dies wirft etliche Fragen nach den Grenzen zwischenmenschlicher Kommunikation und damit nach ihrer Definition auf. Wann beginnt ontogenetisch die menschliche Kommunikationsfahigkeit und warm endet sie? Kommunizieren zwei jeweils einen Tag alte Sauglinge miteinander, wenn man sie nebeneinander legt? Wie lasst sich die Kommunikation mit Menschen im Wachkoma oder mit einer Demenz vom Alzheimertypus, mit organischen Defiziten wie etwa bei Preterm-Babys oder jenen oben schon erwahnten Menschen mit asthetischen Abweichungen einordnen? Wie steht es um die zwischenmenschliche Kommunikation mit psychiatrisch erkrankten Menschen, die beispielsweise an einer Manie, Katatonie oder Depression leiden, und nicht zuletzt mit Sterbenden? Worin unterscheidet sich die Kommunikation mit einem Kind von der mit einem Erwachsenen? Organische und psychiatrische Erkrankungen scheinen deutlich unsere Kommunikationsfahigkeit zu beeintrachtigen, aber worin genau besteht diese Beeintrachtigung: im Sprach- bzw. Sprechverlust, im Gedachtnisverlust? Gestort bzw. erschwert erleben wir die zwischenmenschliche Kommunikation aber nicht nur durch organische und psychiatrische Erkrankungen, sondem auch durch die „normalen" Stimmungsschwankungen wie Mtidigkeit, Hunger und affektive Schwankungen. Wie unterscheidet sich femer die menschliche Kommunikationsfahigkeit von jener der Primaten? Was ist im Unterschied zu ihnen das „typisch Menschliche" an der zwischenmenschlichen Kommunikation? Wir erleben iiberdies Kommunikation als gestort oder gelungen, dies aber zudem nicht
'"* Naheres zum Kommunikationsverstandnis von Klaus Merten s. Abschnitt 4.4.5. '^ Naheres zum Kommunikationsbegriff von Dieter Wyss s. Abschnitt 5.3.
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einfach als Alternative, sondem mit vielen - u.U. auch dynamischen - Ubergangen und Wechseln zwischen diesen beiden Polen. 2.1.5 Terminologische Abgrenzungen Eine solche Prozesshaftigkeit eines Phanomens iiber die Lebensspanne hinweg bringt unweigerlich terminologische Probleme mit sich. Je umfassender ein Begriff, umso unbrauchbarer wird er. 1st es sinnvoll, neben dem Begriff „zwischenmenschliche Kommunikation" auch noch einen Begriff wie „Interaktion" zu verwenden, um so ersteren von anderen Kontaktformen zu unterscheiden?^^ Es wird hier davon ausgegangen, dass zwischenmenschliche Kommunikation im Sinne von Face-to-face-Kommunikation mit keiner anderen Kommunikationsform vergleichbar ist. Unterschiedliche Stadien eines Prozesses mit unterschiedlichen Termini zu belegen ist moglich, bringt aber zugleich die Schwierigkeit ihrer klaren Abgrenzung mit sich. Gerade aus dieser Schwierigkeit heraus scheint es mir nicht zielftihrend, verschiedene Termini zu verwenden. Die Griinde dazu soUen im Laufe dieser Arbeit deutlich werden. Face-to-face-Kommunikation im oben genannten strengen Sinne impliziert die gleiche raum-zeitliche Gegebenheit fiir zwei Gesprachspartner. Sie ist somit immer zugleich auch ein soziales Ereignis. Beide sind zur gleichen Zeit am gleichen Ort und nehmen sich mit alien Sinnen wahr. Die physische Anwesenheit ist ein notwendiges Moment. Wenn man „nicht nicht kommunizieren kann" (vgl. Watzlawick et al. 1990), dann fmdet in diesem Augenblick schon Kommunikation statt, selbst wenn diese beiden Menschen nicht verbal miteinander sprechen. Wenn wir einander wahmehmen, ist Kommunikation unvermeidlich. Von daher erscheint mir der Begriff „soziale Kommunikation", wie ihn Delhees (1994, 13) vorschlagt, tautologisch zu sein. Er versteht „soziale Kommunikation" als eine beabsichtigte Kommunikation, d.h. es gibt fiir ihn auch eine unbeabsichtigte Kommunikation. Die Problematik bzw. Schwierigkeiten einer solchen Definition werden spater noch deutlich werden. Schon 1972 hat Graumann im „Handbuch der Psychologic" festgestellt, dass die Beziehung zwischen den Begriffen „Kommunikation" und „Interaktion" nur schwer zu klaren sei, sie reiche „von der Synonymitat bis zur Anonymitat" (Graumann 1972, 1124). Fiir Graumann selbst wie auch fiir andere ist alle soziale Interaktion zugleich auch Kommunikation (vgl. ebd., 1117; Thomas 1991, 55; Delhees 1994, 12). Fiir das beschriebene Phanomen erscheint mir im Anschluss an diese Position der Begriff „Interaktion" obsolet. Immer dort, wo in der Literatur von „Interaktion" die Rede ist, handelt es sich um ein soziales Ereignis, findet also zwischenmenschliche Kommunikation statt. Watzlawick et al. haben „Kommunikation" auch mit „Verhalten" gleichgesetzt mit dem Argument, dass man sich ebenfalls „nicht nicht verhalten konne" (Watzlawick et al. 1990, 51). Ich folge dieser Gleichsetzung nicht. Jemand kann mich aus der Feme beim Spazieren-
Man konnte von „Interaktion" z.B. dann sprechen, wenn sich einer der Beteiligten nicht sicher ist, inwieweit der Andere ihn gerade wahrnehmen kann bzw. seine Aufierungen als Antworten zu verstehen sind oder nicht.
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gehen beobachten, ohne dass ich dies wahmehme. Der Andere beobachtet in diesem Fall mein Verhalten, ich aber nicht das seinige. Insofern ist „Verhalten" ein weiterer Begriff als „zwischenmenschliche Kommunikation". Ich kann zwar jede Kommunikation als Verhalten bezeichnen, aber nicht jedes Verhalten als Kommunikation. „Verhalten" ist daher kein synonymer Begriff fur „zwischenmenschliche Kommunikation". Gleiches gilt in analoger Weise auch fur den Begriff „Handlung". Nicht jede Handlung ist eine Kommunikation, wohl aber konnen wir jede gemeinsame Handlung auch als Kommunikation verstehen. Kommunikation als gemeinsame Handlung macht deutlich, dass sie nicht von einem allein gemacht werden kann. Jede Kommunikation erfordert zumindest zwei Menschen. Vielfach ist in der Literatur und in der Umgangssprache auch die Rede von „Begegnung". Wenn sich zwei Menschen begegnen, dann gilt das schon zur Kommunikation Gesagte. Jede Begegnung ist unweigerlich Kommunikation. Sofem dieser Begriff synonym mit Face-toface-Kommunikation ist, ist er, wissenschaftlich gesehen, auch entbehrlich und wird daher von mir auch nicht verwendet werden. Vielfach versucht man mit „Begegnung" die besondere Qualitat einer Kommunikation hervorzuheben. Eine solche Verwendungsweise birgt aber mehrere Gefahren. Sofem Face-to-face-Kommunikation ein Prozess ist, wird sich kaum bestimmen lassen, ab welchem Moment eine Kommunikation die Qualitat einer Begegnung erreicht hat. Die qualitative Bestimmung einer Kommunikation lasst sich einfacher anhand von Zusatzbezeichnungen fur die Qualitat der jeweiligen Kommunikation durchfiihren. Zu dieser Thematik gehort auch der Begriff „Beziehung". Wenn jemand nach seiner Beziehung zu einem anderen Menschen gefragt wird, dann bezieht sich seine Antwort immer auf das Gesamt der Kommunikation mit ihm in einer bestimmten Zeit. Diese wird beispielsweise als „gut" oder als „distanziert" qualifiziert. Dieses Urteil ist nichts anderes als ein Urteil iiber die Kommunikation zwischen den beiden. Ich verstehe daher unter „Beziehung" die gesamte Kommunikation zwischen zwei Menschen liber einen bestimmten Zeitraum in einer bestimmten Qualitat. Diese Bestimmung hat durchaus Ahnlichkeit mit der Definition von Irle: „Eine soziale Beziehung meint eine Sequenz sozialer Interaktionen in Raum und Zeit" (Irle 1975, 398), ist aber nicht damit identisch. Folgendes lasst sich also festhalten: Die Urform der zwischenmenschlichen Kommunikation ist die Face-to-face-Kommunikation. Der Leib ist eine bedeutsame Dimension dafur. Es ist ein soziales Ereignis, in ihrer Urform ereignet sich Sozialitat par excellence. Phanomenal gesehen ist die Kommunikation zwischen zwei Menschen face-to-face gewissermaBen die Ursituation und die einfachste Form zwischenmenschlicher Kommunikation. Im Focus einer Grundlegung zwischenmenschlicher Kommunikation muss daher die Analyse der Face-toface-Kommunikation stehen. Dafur wurden in dem ersten unvermeidlichen Schritt dieses Gedankenganges erste Abgrenzungen vollzogen, Unterscheidungen sichtbar gemacht und erste Begriffe eingefuhrt (vgl. Holzkamp 1965, 39).
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2.1.6
Zwischenmenschliche Kommunikation als Gegenstand transdisziplinarer Forschung
Nach diesen ersten vortheoretischen Klamngen unseres Gegenstandes muss auch die Frage gestellt werden, welche Disziplin bzw. welches Fach dann, wissenschaftlich betrachtet, zustandig fur die Erforschung dieses Urphanomens ist. Klaus Merten hat schon vor Jahren bemerkt, dass die Tatsache, dass es sich bei der Kommunikation um ein alltagliches, banales Phanomen handelt, verhindert habe, dass eine Kommunikationsforschung sich iiberhaupt geniigend entwickeln konnte. Demgegeniiber stunde aber eine besondere Relevanz dieser Thematik seit der Entwicklung hin zu einer Mediengesellschaft (vgl. Merten 1999, 13). Dass die Frage nach dem Warum bisher nicht wirklich gestellt wurde, ist vielleicht auch eine Folge dessen, wie Merten richtig festgestellt hat, „dass Kommunikationsprozesse jederzeit von jedermann mit geringstem Aufwand initiiert werden konnen, dass Kommunikation also eine furchtbar banale, gewohnte Alltagserscheinung und -erfahrung darstellt. Das hatte zunachst zur Folge, dass Kommunikation als Erkenntnisgegenstand lange Zeit iiberhaupt nicht zugelassen wurde, weil man unterstellte, dass das, was alltaglich ist und scheinbar problemlos funktioniert, auch problemlos erklart werden kann, also wissenschaftlicher Analyse nicht lohnt" (ebd. 15). Richtig ist auch, „dass die theoretischen Ansatze informeller Kommunikation bislang wenig konsistent ausfallen und sich auf einzelne Aspekte beschranken" (ebd. 132). Er selbst kommt zu dem Schluss, wie oben schon angedeutet, dass die Kommunikationswissenschaft fiir die gesamte Kommunikation zustandig sei, sowohl fur die zwischenmenschliche als auch fur die Medienkommunikation. Sie habe sozusagen die kontinuierliche Evolution der zwischenmenschlichen Kommunikation von ihrer einfachsten Form, der Face-to-face-Kommunikation, bis hin zum World Wide Web zum Gegenstand (vgl. ebd. 13ff). Maletzke (1998) hingegen sieht die Kommunikationswissenschaft sehr viel kritischer und steUt fest, dass sie sich - zunachst unter Vemachlassigung der interpersonalen Kommunikation - praktisch nur mit Massenkommunikation befasst habe. Dies habe sich inzwischen aber geandert, derm „man bezieht heute mehr oder weniger alle Formen von Kommunikation in die Forschung und Lehre ein, doch herrscht die friihere Gewichtsverteilung immer noch vor" (Maletzke 1998, 13). Hier gerat Maletzke in einen Selbstwiderspruch, denn wenn die fruhere Gewichtung nach wie vor vorherrscht, dann kann die Einbeziehung anderer Kommunikationsformen in Lehre und Forschung tatsachlich nach wie vor nur minimal sein. „Erst allmahlich erkannte man, dass die Massenkommunikation auf vielfaltige und komplexe Weise mit der interpersonalen Kommunikation verkniipft ist, und schlieBlich setzte sich die Einsicht durch, dass diese ,Normalform' von Kommunikation auch einen eigenstandigen Forschungsgegenstand darstellt" (ebd. 19). Entsprechend realistisch konstatiert Maletzke dann auch wenig spater: „Der Schuh, den sich die Kommunikationswissenschaft seinerzeit mit ihrem Namen angezogen hat, war und ist um einige Nummem zu groB. Mit diesem Namen weckt sie Erwartungen, die sie nicht erflillt und in absehbarer Zukunft auch nicht erfiillen kann. 17
Denn: Nimmt man den Begriff ,Kommunikation' in seiner ganzen, nahezu unermesslichen Spannweite, so hat es Kommunikationswissenschaft schon immer gegeben, seit es iiberhaupt Wissenschaft vom Menschen gibt, von der Rhetorik des Aristoteles iiber die Philosophie und Philologie aller Jahrhunderte bis hin zur Sozialpsychologie, Soziologie, Kulturanthropologie, Psychiatrie, Kybemetik, Informationstheorie, Politikwissenschaft, Linguistik, Phonetik, Literaturwissenschaft unserer Tage. Alle diese und noch manche anderen Zweige konnten unter den weiten Begriff ,Kommunikationswissenschaft' subsumiert werden. Bei dieser Sachlage ist somit fiir die gegenwartige Kommunikationswissenschaft ihr Name eigentlich zu groB, zu anspruchsvoll" (ebd. 19). Zudem sieht Maletzke auch groBe zentrifugale Krafte in der Kommunikationswissenschaft wirksam werden, was zu einer immer weiteren Zersplitterung in Einzelthemen ftihre (vgl. ebd. 200). Maletzkes Aufzahlung der verschiedensten Facher und Disziplinen, die sich bisher mit zwischenmenschlicher Kommunikation beschaftigt haben, bestatigt noch eirmial die Ubiquitat dieses Phanomens. Es erscheint in alien Lebensbereichen, d.h. uberall, wo Menschen sind, wird auch kommuniziert, und geriet so folgerichtig auch in den Focus der verschiedensten wissenschaftlichen Forschungen. Diese Bemuhungen erscheinen dem Beobachter allerdings als derart heterogen (vgl. Kap. 4), dass man sie nicht einmal mehr als „multidisziplinar" (vgl. MittelstraB 1989, 68) bezeichnen kann, d.h. Verbindungen dieser Forschungsbemiihungen untereinander sind nur schwer auszumachen. Die Aufteilung der Wissenschaft in einzelne Disziplinen und Facher ^^ ist aber „nichts Naturgegebenes, sondem etwas durch die Wissenschaftsgeschichte Entstandenes. Ihre Grenzen sind in erster Linie nicht theoretische oder durch Gegenstande bestimmte Grenzen, sondem historische Grenzen. Sie sind dariiber hinaus erkenntnistheoretische Grenzen: Wie wir die Welt ansehen, so sieht sie uns an. Eine einfache Vemunft der Tatsachen, der dann auch die Organisation der Wissenschaften folgen konnte, gibt es nicht" (MittelstraB 1989, 65). Fiir MittelstraB muss es in der Forschung heute primar um eine Problemorientierung gehen, denn die Welt der ,conditio humana' wird von den Disziplinen nur noch unzureichend erfasst (vgl. ebd. 82). „Wenn uns die Probleme nicht den Gefallen tun, sich selbst disziplinar oder gar fachlich zu defmieren, dann bedarf es eben besonderer Anstrengungen, die in der Regel aus den Fachem oder Disziplinen herausftihren" (MittelstraB 1998, 42). „Transdisziplinaritat" ist ftir ihn die Antwort darauf. „Mit Transdisziplinaritat ist hier im Sinne wirklicher Interdisziplinaritat Forschung gemeint, die sich aus ihren disziplinaren Grenzen lost, die ihre Probleme disziplinenunabhangig defmiert und disziplinenunabhangig klart. Das hat bedeutende Forschung immer schon getan. Disziplinare Zuordnungen kommen meistens zu spat" (ebd. 44). Und er fragt mit Recht, ob derm beispielsweise Max Weber Soziologe oder Historiker, Max Delbrtick Biologe oder Physiker gewesen sei.^^ „Transdisziplinare Forschung erfullt
'^ MittelstraB spricht von einer Atomisierung der Facher, von denen es nach seinen Aussagen inzwischen mehr als 4000 gibt. „Grenzen der Facher und Disziplinen drohen nicht nur zur Wahmehmungs-, sondem auch zu Erkenntnisgrenzen zu werden. Fachliche und disziplinare Grenzen werden zu Grenzen der Wissenschaftlerwelt. Jene werden immer kleiner, diese immer unscharfer" (MittelstraB 1989, 68).
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eben dort transdisziplinare Erwartungen der Lebenswelt, wo allein disziplinares Wissen nicht ausreicht, unsere Probleme zu losen" (ebd. 45f). Problemorientierung steht daher an erster Stelle vor einer Fach- bzw. Disziplinorientierung. Die Thematik „zwischenmenschliche Kommunikation" theoretisch und praktisch zu bearbeiten, erfordert einen solchen transdisziplinaren Zugang. Maletzke hat den „Tunnelblick" der Kommunikationswissenschaften in Bezug auf die Face-to-face-Kommunikation schon konzediert. Es wurde oben festgestellt, dass die wissenschaftliche Klarung zwischenmenschlicher Kommunikation zugleich auch die Klarung dessen, was der Bine fur den Anderen bedeutet, beinhalten muss. Daher scheint der Gedanke nahe Uegend - im Sinne eines transdiszipUnaren Vorgehens - nun als erstes die Sozialpsychologie zu fragen, was sie unter dem Sozialen, unter der SoziaUtat des Menschen versteht, und welches Verstandnis von zwischenmenschlicher Kommunikation dort entwickelt wurde.
2.2 Der Begriff des Sozialen in der Sozialpsychologie In den 1960er Jahren, gegen Ende beherrscht von den Unruhen der sog. „68er", wurde eine intensive wissenschaftstheoretische Diskussion im Rahmen der deutschen Soziologie unter dem Begriff des „Positivismusstreit" gefiihrt, insbesondere durch Hans Albert und Jiirgen Habermas. Zeitlich parallel dazu und auch noch spater verfasste Klaus Holzkamp wissenschaftstheoretische Arbeiten zur Psychologic, die ihn in der Folge schlieBlich zu einer am Marxismus orientierten „kritisch-emanzipatorischen Psychologic" hinfiihrten. Diese riefen eine gauze Reihe zustimmender wie ablehnender Reaktionen hervor, z.B. von damals fuhrenden Psychologen wie Martin Irle oder Theo Herrmann. ^^ Holzkamps fundierte und griindlich reflektierte wissenschaftstheoretischen Erkermtnisse zwingen einerseits nicht notwendig zu Konsequenzen in Richtung der von ihm initiierten Kritischen Psychologic, andererseits macht die Ablehnung letzterer nicht in gleicher Weise seine differenzierten Analysen uberfliissig. Was er in jenen Arbeiten (vgl. Holzkamp 1970, 1977) an grundlegender Kritik an der Psychologic im Allgemeinen und an der Sozialpsychologie im Besonderen auBerte, wurde auch von anderen Autoren wie z.B. Moscovici (1972), Tajfel (1972), Gergen (1973, 1985, 2002), Mertens & Fuchs (1978) oder Graumann (1979, 1990), z.Tl. unabhangig von ihm geauBert bzw. partiell bestatigt. Rook, Irle & Frey (1993) wiederholten gedrangt den Kern dieser Kritik an der Sozialpsychologie, allerdings ohne besonderen Hinweis auf Holzkamp oder andere Autoren.^^ Bemerkenswert ist die Arbeit von Walter Her-
Man wird wohl auch nicht fehlgehen, wenn man vermutet, dass die „Gegenstandszuordnungen" bzw. „Einvernahmungen" zumeist weniger wissenschaftHch denn durch die moglichen Konsequenzen im Wissenschaftsund Forschungsbetrieb begriindet sind. ^ Aus heutiger Sicht ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass damals eine solche Diskussion ihren selbstverstandhchen Platz auch in der neu gegrundeten „Zeitschrift fiir Sozialpsychologie" hatte. ° Vgl. die Zusammenfassung der historischen Entwicklung der Sozialpsychologie im 20. Jhdt. sowie der Kritik an ihr bei Jacob (2004, 7ff) und Laucken (1998).
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zog (1984), der in seiner Arbeit (iber „Modelle und Theorien in der Psychologie" die wesentlichen Kritikpunke Holzkamps kritisch aufgreift und darauf aufbauend die Weise psychologischer Modell- und Theoriebildung erarbeitet und Desiderate aufzeigt. SchlieBlich wiederholt auch Frey (1996) in seiner Vision, wie er sich die Sozialpsychologie in zehn Jahren wunschen wtirde, die schon bekannten Argumente. In diesem Abschnitt geht es nun darum, den Kern dieser Kritik an der MainstreamSozialpsychologie zu verdeutlichen, dabei in eins die Struktur sozialpsychologischer Theorienbildung herauszuarbeiten, um von daher dann die Frage nach dem sozialpsychologischen Verstandnis von Sozialitat in den Focus zu nehmen. 2.2.1
Sozialpsychologische Theorienbildung
Schon 1965 stellte Sargent fest: „Die Produktion von psychologischen Btichem, Monographien und Einzelbeitragen und Berichten ist zu einer wahren Flut geworden, so dass amerikanische Psychologen weder ihr eigenes Spezialgebiet, geschweige denn die angrenzenden Bereiche noch genau zu iiberschauen vermogen" (Sargent 1965, 233). Holzkamp spricht wenig spater von der wissenschaftlichen Psychologie als „einem Aggregat aus einer Unzahl von kleinen und kleinsten Einzeluntersuchungen [...] wobei allmahlich kein Mensch mehr imstande ist, dieses Aggregat zu iiberschauen, zu ordnen und einen einheitlichen Sinn darin zu entdecken" (Holzkamp 1970, 2; vgl. Moscovici 1972). Ein weiterer Vorwurf, mit dem die Psychologie im Allgemeinen haufig konfrontiert wird, betrifft die Trivialitat ihrer Forschung, d.h. dass sie Erkenntnisse zutage fordere, die nicht neu und daher irrelevant seien, da sie nichts zur Losung praktischer Probleme beitragen konnten (vgl. Holzkamp 1970, 2; Herzog 1984, 32; M. B. Smith zit. n. Sargent 1965, 234; Balmer 1982, 95). Holzkamp vermutet, „dass viele Forschungsresultate eigentlich nur noch deswegen von einschlagig spezialisierten Forschem beachtet werden, weil diese Befunde bei solchen Forschem offenbar eine durch Kompetenzerlebnisse bedingte sekundare Valenz gewonnen haben und im ubrigen weil jene Forscher durch leicht abgewandelte Perpetuierung bestimmter Tendenzen innerhalb des Chaos psychologischer Einzelbefunde das PubUkationssoll im Interesse ihrer akademischen Karriere zu erfiillen hoffen" (Holzkamp 1970, 2; ahnlich Sargent 1965, 233; Graumann 1973, 23). Fur Kruglanski gilt nach wie vor als Devise fur die Publikation sozialpsychologischer Literatur „to go light on theory and heavy on the empirical stuff, in particular that of the ,cute' variety" (Kruglanski 2001, 871). 2.2.1.1 Theorieninflation und Primat der Methodologie In Reaktion auf die Kritik Moscovicis (1972) an der Theorieninflation innerhalb der Sozialpsychologie hat Irle darauf hingewiesen, dass es auch in der Physik eine ganze Reihe von Teiltheorien gebe (vgl. Irle 1975, 98). Irle libersieht hier aber, dass im Unterschied zur Physik psychologische Theorien Gultigkeit nicht fur voneinander abgegrenzte Gegenstandsbereiche
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beanspruchen, sondem sie „werden mit dem Anspruch der Geltung fiir denselben Gegenstandsbereich formuliert, der auch von anderen Theorien abgedeckt werden will. Es ist also die Situation einer ThQoriQnkonkurrenz, die fiir den Zustand der Psychologie typisch ist" (Herzog 1984, 34). Eine Abgrenzung von Theorien unterschiedlicher Geltungsbereiche voneinander „setzt gerade eine tibergreifende einheitliche Grundbegrifflichkeit voraus, von der aus Konsens iiber den Geltungsbereich bzw. die Geltungsbedingungen der jeweiligen Theorie in Abhebung von anderen Theorien erreichbar ist. Eine solche klare Abgrenzung ist in der Psychologie bei ihrem geschilderten gegenwartigen Zustand gerade nicht moglich" (Holzkamp 1977, 5). Ohne einen Theorienvergleich lasst sich auch kein eindeutiger Fortschritt in der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung ausmachen. Die „Einfuhrung in die Kommunikationspsychologie" von Frindte (2001) macht diesen Sachverhalt fiir unsere Thematik anschaulich. Hier findet sich eine Reihe kommunikationstheoretischer Ansatzen, ohne dass ersichtlich wird, welcher von ihnen den Sachverhalt zutreffender erklart. Wie lassen sich beispielsweise der kommunikationstheoretische Ansatz von Watzlawick mit dem des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) vergleichen? In der Sozialpsychologie zeigt sich demnach eine Inflation von Theorien, Teiltheorien bzw. Theoriefragmenten, etwa die „Attributionstheorie, Theorie der Selbstwahmehmung, Identitatstheorien, Interaktionstheorien, soziale Lemtheorie, Reaktanztheorie, Akzentuierungstheorie, soziale Vergleichstheorie, Theorie der objektiven Selbstaufmerksamkeit, Austauschtheorie, Equitytheorie etc. Dabei lassen sich bei den meisten dieser Theorieansatze Ausdifferenzierungen feststellen, die an einzelne Forscher gebunden sind. Beispielsweise bei der Attributionstheorie die klassischen Formulierungen von Heider, die Theorie korrespondierender Inferenzen von Jones und Davis und die Kovarianz-Konfigurations-Theorie von Kelley. Oder im Falle der Austauschtheorie die ebenfalls klassische Arbeit von Thibaut und Kelley, die soziologischen Ansatze von Homans und Blau, die 'Ressourcentheorie' von Foa und Foa (1976) und die Entwicklung zur ,Equitytheone' (WalstQr, Berscheid & Walster 1973; Muller & Crott 1978). Im Beispiel der Identitatstheorien ist die Heterogenitat mittlerweile so groB, dass sich selbst der alien gemeinsame Identitatsbegriff aufzulosen beginnt (vgl. Gergen 1971; de Levita 1971; Theodore Mischel (ed.) 1977)" (Herzog 1984, 34; vgl. Holzkamp 1977, 5; Rook et al. 1993, 33). Klix schreibt in seiner Rezension der „Sozialpsychologie" von Herkner (1994): „Ich versuchte, die Anzahl der erwahnten Theorien zu zahlen. Bei 190 habe ich aufgehort, noch vor der Halfte des Buches. Sind das alles Theorien in einem wissenschaftlich iiblichen Sinne? Zweifellos gibt es stattliche Theoriebildungen in der Sozialpsychologie, z.B. die ausfiihrlich behandelte Dissonanztheorie oder die Balancetheorie oder die Theorie der Attribution, andererseits aber sind auch ungezahlte Deutungen von Befunden so schnell zur Theorie hochstilisiert, wie es ganz uniiblich ist" (KHx 1994, 93). Nach Holzkamp hat diese Entwicklung ihren Grund darin, dass sich die Psychologie in die Tradition des kritischen Rationalismus gestellt hat, demzufolge die Genese theoretischer Vorstellungen individuellen und kreativen Momenten unterliegt, es ein „bloB faktischer, wissenschaftlich unverbindlicher Entstehungs- bzw. Entdeckungsvorgang (,Hypothesengenerieren' 0. a.) beim einzelnen Forscher" (Holzkamp 1977, 4) ist, mit der Folge, „dass es mehrere Theorien zum gleichen Gegenstand gibt, aber keinerlei Methodik, mittels der entschieden werden 21
konnte, welche davon wissenschaftlich haltbar ist" (ebd. 5; vgl. Herzog 1984, 33; Witte 1989, 34). Fur Herzog steht dann Idiosynkrasie am Anfang der psychologischen Wissenschaft, anstatt dass sie sich als Wissenschaft gerade davon distanzieren wurde (vgl. Herzog 1984, 33). So beziehen sich die w^issenschaftlichen Standards der Psychologic ausschlieBlich auf die Methodologie, „und dies noch in einem restringierten Sinne, namlich im Sinne der Priifinethodik" (Herzog 1984, 36; vgl. Holzkamp 1977, 8f), wahrend man zugleich die genannten erkenntnistheoretischen Defizite hinnimmt. Im konkreten Fall kann es aufgrund dieses Sachverhalts zu wissenschaftlichen Arbeiten kommen, „die unterschiedliche Theorien zur Erklarung verschiedener Aspekte von Befunden heranziehen, ohne die theoretische Inkompatibilitat zu sehen, also ganz eklektizistisch vorgehen, und trotzdem alle wissenschaftlichen Standards erfiillen, denn diese beziehen sich ja nur auf die Methoden. Im Bereich der theoretischen KonzeptuaHsierung ist also (wenn zu offensichtliche logische Widerspriiche vermieden sind) sozusagen ,alles mogHch'" (Holzkamp 1977, 5; ahnlich auch Mertens & Fuchs 1979, 154). Die Diskrepanz besteht zwischen dem volligen Ungeniigen in erkenntnistheoretischer Hinsicht und dem volligen Geniigen in methodologischer Hinsicht, d.h. empirisch bewahrte Theorien konnen trotzdem zugleich widerspriichlich sein (so auch Sherif 1970, zit. n. Mertens & Fuchs 1978, 116). Eine Theorie bezieht sich auf bestimmte Dimensionen der Realitat, die sie strukturiert. Dieser Vorgang geht jeder Hypothesentestung voraus, d.h. die empirische Uberprtifung von Variablenzusammenhangen steht immer zur Ganze im Rahmen des zuvor theoretisch Formulierten. Ihr Erkenntnisgewinn verbleibt im zuvor abgesteckten theoretischen Rahmen, er kann nichts zur Formulierung einer neuen Theorie beitragen. Die Uberprtifung erlaubt ferner auch keine Aussage dariiber, welche Bedeutung dem gewahlten Variablengefuge ftir den betreffenden Realitatsausschnitt zukommt. „Der ganze Prozess der Theorien- bzw. Hypotheseniiberpriifung ist im Hinblick auf die in der Theorie angelegte Realitatsprasenz zirkuldr (Dick, vgl. Holzkamp 1977) bzw. tautologisch. Der Prozess der Theoriepriifung ist im Weiteren konservativ, da er lediglich die der Priifung zugrundegelegte Theorie beriicksichtigt, nicht aber zu einer Formulierung einer neuen Theorie beitragen kann. Die Falsifikation von Theorien ermoglicht es zwar, diese zu eliminieren; sie bringt aber keinerlei konstruktive Kriterien bei, wie eine neue Theorie formuliert werden soil, aufier jenem, dass sie nicht so wie die alte zu formulieren ist. Die Logik der Theorietestung gibt keine Gewahr, dass eine bestatigte Theorie eine ftir die untersuchte Realitat adaquate oder relevante Theorie ist, denn sie lasst keinerlei Aussagen daruber zu, ob in der (bestatigten) Theorie wesentliche Dimensionen der entsprechenden Realitat reprasentant sind" (Herzog 1984, 43). Es kann demnach in der Psychologic theoretisch nicht zwischen wesentlichen und unwesentlichen Dimensionen unterschieden werden, ja es kann nicht einmal gesagt werden, ob iiberhaupt wesentliche Dimensionen erfasst wurden (vgl. Holzkamp 1977, 10). Daraus folgt auch, dass eine Verbesserung der Prufmethodik keine Reduktion des aufgezeigten Theorienchaos mit sich bringen kann (vgl. Herzog 1984, 43f; Holzkamp 1977, 9; 11).
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2.2.1.2 Der Mangel an umfassenden Theorien Scheinbar in Widerspruch zur kritisierten Theorieninflation steht die haufig geauBerte Kritik am theoretischen Defizit der Sozialpsychologie. So wird offen beklagt, dass zu wenig Zeit und Krafte in theoretische und zu viel davon in empirische Bereiche investiert werde. „Es ist unsere Grundiiberzeugung, dass wichtige Impulse einer Wissenschaft, weniger von der empirischen Forschung, als von der Spekulation und der Kreativitat einer Theorie ausgehen. Mehr denn je soUte man deshalb theoretisches Denken und die Entwicklung von Theorien fordem" (Frey & Irle 1993, 10). Sie bedauem „besonders gegenuber den so zahlreich angelegten Datenfriedhofen", dass dieser Forderung „vielfach im realen Forschungsprozess nicht entsprochen wird" (Rook et al. 1993, 33). Auch Mertens & Fuchs batten schon 1978 „eine verbesserte Theorienbildung, die der Methodik vorgeordnet" (Mertens & Fuchs 1978, 151) sein miisse, verlangt. „Oft werden in experimentellen Untersuchungen mehr oder weniger theorielos von einem zum anderen Experiment neue unabhangige Variablen induziert und damit eine neue Veroffentlichung angestrebt, ohne die theoretische Relevanz des Experiments und der jeweiligen unabhangigen Variablen zu reflektieren. Die historische Konsequenz war eine Uberbetonung der Empirie, begleitet von Theorienaivitat und Theorielosigkeit" (Frey & Irle 1993, 10). Frey wiederholt die gesamte Kritik der Jahrzehnte zuvor an der Sozialpsychologie. „Ganz selten werden auf Kongressen die ,blinden Flecken' des Faches diskutiert hinsichtlich Inhalt, Methodik und Theorie" (Frey 1996, 59). Klix benennt das Problem deutlich: „Unubersehbar ist die Fiille der Aspekte und Leistungen. Uniibersehbar auch die Verschiedenheiten der Standpunkte bei den Deutungen dieser Vielfalt. Dass eine weitraumige theoretische Klammerung fehlt, kann man dem Autor [i.e. Herkner] nicht zum Vorwurf machen. Es ist dies ein Problem der Sozialpsychologie im ganzen, wie es scheint. Man mochte zurufen: ,Der Fakten sind genug gesammelt, nun lasst uns Konzepte sehen ...'. Die miissen umfassender angelegt werden" (Klix 1994, 93). Kruglanski (2001) wiederum stellt in seiner Reflexion der theoretischen Anstrengungen der Sozialpsychologie fest, dass ihm unter hunderten von sozialpsychologischen Publikationen der letzten Jahrzehnte nur drei Biicher bekannt seien, die sich der sozialpsychologischen Theorie gewidmet batten: Deutsch & Krauss (1965), Shaw & Constanzo (1970) und West & Wicklund (1980) (vgl. Kruglanski 2001, 871). Nach Deutsch & Krauss (1965) waren, so Kruglanski, Festinger, Deutsch, Thibaut, Kelley u.a., im Gegensatz zu Lewin, keine groBen Theoretiker, und er zieht den Schluss, „if postLewinian theories were ,middies', many subsequent formulations were more like 'minis': middi and mini theoretical skirts" (Kruglanski 2001, 872). Ende der 1950er Jahre hatte Robert Merton fiir „Theorien mittlerer Reichweite" mit dem Argument pladiert, „that abstract or general formulations are notoriously difficult to verify" (ebd.). Umfassendere Theorien erforderten eine groBere Datenbasis, was Kruglanski allerdings mit dem Hinweis auf die Theorien von Kopemikus, Galilei und Einstein bezweifelt, denn diese seien auch erst sehr viel spater empirisch bestatigt worden. Man solle Abstraktheit nicht mit Vagheit verwechseln, denn vage for23
mulierte Theorien seien schwierig zu operationalisieren, nicht abstrakte. „For Popper (1959) and other philosophers of science, the generality or abstractness of a theory is a plus, not a minus, because the more general a theory is, the greater its empirical content and hence, the more testable and falsifiable it is. [...] There is nothing scientifically or philosophically wrong with sweeping or abstract theorizing" (ebd.). Ftir Kruglanski zeigt sich darin, wohl wissend, dass seine Kritik nicht neu ist, vor allem ein Mangel an Mut, um traditionelle Grenzen, konventionelle Paradigmen, etablierte Theorien und Versuche, das Rad neu zu erfmden, hinter sich zu lassen und stattdessen zugrunde liegende Prinzipien und Mechanismen hinter scheinbar verschiedenen Phanomenen zu entdecken. Eine solche „reluctance to theorize" (ebd. 873) isoliere die Sozialpsychologie in der Debatte liber allgemeine gesellschaftliche Werte. „The nonspecialists do not care much about the elegance of our designs and the sophistication of our procedures. They want to know what it all means and whether our take-home message is novel and exciting. [...] they are interested in our theory much more than in our data. Indeed, one would hope that our theories about the interface of the individual and the society would have great impact on the national and international agenda in regard to major topics facing the world today" (ebd.). Den eigentlichen Grund fur dieses theoretische Defizit ortet Kruglanski ganz schlicht darin, dass es grundlegend an Wissen tiber Theoriebildung fehle (vgl. ebd.). Dazu gehort beispielsweise die Reflexion der eigenen Grundlagen, „um die Grenzen ihrer Erklarungsmodelle und die impliziten Voraussetzungen, mit denen sie arbeitet, in den Blick zu bekommen" (Jacob 2004, 142). Auch Jacob pladiert fur mehr theoretische Diskurse in der Sozialpsychologie sowohl hinsichtlich metatheoretischer Gegenstandsbestimmung als auch der Reflexion des eigenen Wissenschaftsverstandnisses, d.h. „wissenschaftstheoretische Uberlegungen gehoren genauso zur Bestimmung einer Disziplin wie Phanomenbestimmungen" (ebd., 206). Leitend fur den wissenschaftlichen Diskurs solle nicht mehr die Methodenperfektion, „sondem die Nachvollziehbarkeit der Argumentation, die auch an empirische Untersuchungen und methodisches Konnen gebunden ist" (ebd., 215), sein. Jiittemann sieht die Notwendigkeit der Uberwindung des von ihm so genannten Inversionsprinzips der Psychologic, „das in einer Umkehrung des Verhaltnisses von Gegenstand und Methode besteht und zu einer Ausblendung inhahlicher Aspekte fuhrt, die gleichsam wegoperationalisiert und damit wegabstrahiert werden. Nur wenn ausschliefilich der jeweilige Gegenstand fur die Wahl der Methode maBgebend ist, besteht die Chance, die Eigenart des Vorfmdbaren in einer inhaltlich unverkiirzten Weise zu erforschen" (Jiittemann 2004, 155f). Es gibt also einen Primat der Methodologie, eine Inflation von kleinen Theorien sowie einen Mangel an umfassenden Theorien, in denen sich ein grundlegendes Defizit hinsichtlich der Fahigkeit zur Theorienbildung zeigt. Holzkamp hat dies in den 1970er Jahren differenziert formuliert. Das Selbstverstandnis der Psychologic als experimenteller Einzelwissenschaft sowie die Ausblendung philosophischer, anthropologischer und geistesgeschichtlicher Fragen 24
hat nach Meinung Holzkamps dazu gefiihrt, dass die traditionelle Psychologic „ihren Gcgenstand auf gravierende Weise einseitig, verkurzt, stuckhaft erfasst hat, wobei seine wesentlichen Dimensionen aus der Forschung ausgeblendet blicben und demgcmaB einheitliche Grundkategorien als ,geistiges Band' zwischen den Einzeltheorien und -resultaten sich nicht herausbilden konnten'' (Holzkamp 1977, 12; vgl. Holzkamp 1970, 2). Angcsichts dcssen ist zu fragen, inwicweit sich die genannten Defizite auch in der Gegenstandsbestimmung der Sozialpsychologie, also beziiglich dessen, was sic unter Sozialitat verstehen will, niedergeschlagen haben. Zuvor gilt es, die Weise psychologischer Theorienbildung genauer in den Focus zu nehmen. 2.2.1.3 Philosophische Voraussetzungen der Psychologic: Philosophische Anthropologic oder Theoretische Psychologic In ciner psychologischcn Theoric wird der Versuch gemacht, konkrete Phanomene, in denen sich menschliche Existenz auBcrt, in einen sinnvoUen Zusammenhang zu bringen und damit verstandlich zu machen. Wenn wir nicht immer schon ein bestimmtes Vorverstandnis von dem hatten, was Menschsein ist, dann waren wir gar nicht in der Lage, cine solche widerspruchsfreie Zuordnung der empirischen Fakten zueinander vorzunehmen. Um ein Vorverstandnis handelt es sich deswegen, weil unser Bewusstsein intentional auf konkrete Einzelphanomene gerichtet ist, es selbst dabei aber nur unthematisch mitgegeben ist. Es ist „ein konkretes Apriori, zusammengewachsen aus der gesamten Erfahrung, die wir, in unserer Welt lebend, mit uns gemacht haben" (Coreth 1986, 15). Zwischen dem thematisch gegebenen Einzelphanomen und dem unthematisch gegebenen Hintergrund herrscht cine Dialektik, d.h. auf dem Hintergrund verstehen wir das Einzelne, von dort her gewinnen sic ihre Bedeutung, wahrend das Einzelne wiederum den Horizont bestimmt. Neue Erfahrungen verandem diesen apriorischen Horizont, wahrend sich dadurch wiederum auch der Blick auf das empirisch Gegebene verandert. Dickmann formuliert in Anlehnung an Coreth: „So erweist sich das dialektische Verhaltnis zwischen dem genannten Hintergrund und den Einzelphanomenen als hermeneutischer Zirkel ,in der konkreten Gestalt eines anthropologischen Zirkel\ insofem philosophische Anthropologic immer vom konkreten sich in der Welt verstehenden Menschen ausgehen muss und niemals einen davon abstrahierten ,voraussetzungslosen Ausgangspunkt' fiir sich in Anspruch nehmen kann" (Dickmann 1999, 16). Wir konnen den Menschen als Menschen nicht von einem auBermenschlichen Standpunkt, also voraussetzungslos, betrachten (vgl. dazu auch Kochler 1974, 8ff; Boss & Condrau 1980; Heidegger 1979). M.a.W. das sog. Menschenbild, wie man diese anthropologischen Voraussetzungen in einer systematisierten Form jetzt auch nennen kann, kann nicht unmittelbar erfasst werden, sondem nur durch die konkreten Fakten, und ist, das darf nicht iibersehen werden, zwangslaufig auch durch subjektive Momente, namlich der eigenen Erfahrung, mitbestimmt. Damit ist auch gesagt, dass es hier nicht um ein „ewiges Wesen" des Menschen gehen kann, sondem sich die Sichtweise auf den Menschen entsprechend andern wird, wenn neue
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Erkenntnisse vorliegen. Das anthropologische Vorverstandnis liegt jeder psychologischen Theorie zugrunde, von der empirisch zu iiberpriifende Hypothesen abgeleitet warden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wirken sich wiederum auf die Theorie imd das zugrunde liegende Menschenbild aus und modifizieren dies gegebenenfalls. Das Menschenbild ist sozusagen der Gesamthorizont, der die einzelnen Phanomene umgreift und dadurch erst verstandlich macht. Einzelwissenschaftliche Aussagen brauchen also fur ihre Synthese ein Ordnungsprinzip, dieses Ordnungsprinzip ist aber wiederum nicht unabhangig von den einzelwissenschaftlichen Ergebnissen. Die Voraussetzung fur eine widerspruchsfreie Zuordnung empirischer Gegebenheiten zueinander, einer psychologischen Theorie, ist also ein philosophisch-anthropologisches Vorverstandnis als einem extemen Ordnungsprinzip des psychologischen Gegenstandsbereiches. Dieses anthropologische Vorverstandnis, gewissermaBen ein Biindel von Annahmen den Kern, das Wesen des Menschen betreffend, sind das Unterscheidende psychologischer Theorien (vgl. Herzog 1984, 81; Herrmann 1976, 26; Hagehulsmann 1987). Dies gilt natiirlich unabhangig davon, ob solche Voraussetzungen deklariert werden oder nicht. „Die Psychologic bzw. eine ihr vorausgehende, aber zugehorige Philosophic der Psychologic hatte dann aber auch (und gerade heute) die Aufgabe, dieses Vorverstandnis explizit zu machen, um Vorurteile zu vermeiden" (Gebert 1995, 10; vgl. Hagehulsmann 1987, 13). Es lassen sich dem gegenuber in der psychologischen Literatur immer wieder Bemerkungen fmden, die darauf schliefien lassen, dass solche Voraussetzungen nicht nur nicht deklariert, sondem dass sic geradezu geleugnet werden (vgl. Wellek 1982, 26; Balmer 1982, 97, 99; Witte 1989, 34f; Mertens & Fuchs 1978). „The notion of a complete independence of social science from pre-scientific conceptions is a fairy tale that the scientists like to tell each other" (Moscovici 1972, 22, zit. n. Jacob 2004, 21). Zugespitzt kann man sagen: Die Annahme einer Voraussetzungslosigkeit ware ihrerseits nichts anderes als eine Voraussetzung. Gerade jener bekannte Satz: ,Nur Protokollsatze sind sinnvoU' ist ein Beweis fur die Unrichtigkeit dieser Behauptung, denn dieser Satz selbst ist ja gerade kein Protokollsatz. Greve folgert daraus, „dass eine strikte Abstinenz nicht nur unnotig, sondem schadlich ware, und im iibrigen auch kaum durchzuhalten ist. Wer als wissenschaftlicher Psychologe Philosophie betreibt oder wenigstens philosophische Grundkenntnisse hat, der spart Arbeit, vermeidet Fehler, und kann auf einen reichhaltigen Fundus von Ideen, Heuristiken und Einsichten zuriickgreifen [...] so miissen auch viele inhaltliche Voraussetzungen, die bei einer empirischen Herangehensweise an den Menschen, sein Verhalten, sein Erleben, sein Handeln unweigerHch - oft stillschweigend - gemacht werden, philosophisch genannt und philosophisch kritisiert werden konnen. [...] EinQphilosophische Kritik an einem psychologischen Forschungsvorgehen wird vielmehr sachliche Fehler der jeweiligen Untersuchung angreifen, die nicht auf der Ebene der technischen Durchfuhrung oder theorieimmanenten Stimmigkeit liegen, sondem die zugrundeliegende Fragestellung, ihre Voraussetzungen und die grundsatzliche Art und Weise ihrer Beantwortung treffen" (Greve 1994, 25f; vgl. Bunge & Ardila 1990, 26f).
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SchlieBlich gilt: „Wer philosophische Einsichten ignoriert, der macht sich unter Umstanden unnotige Arbeit, wenn er Dinge untersucht, die schon untersucht wurden, und insbesondere dann, wenn er empirische Bemuhungen anstrengt, wo schon begriffliche Oberlegungen die gesuchte Antwort geben konnten" (ebd. 32). Die Loslosung der Psychologie von der Philosophie im 19. Jhdt. ging haufig ressourcenmaBig zu Lasten der Philosophie, letztlich bedeutete sie eine unzulassige Einschrankung ihrer Gegenstandsreflexion.^^ So wie beispielsweise Ethik als ein philosophisches Each notwendig auf humanwissenschaftliche Kenntnisse angewiesen ist, so bedarf auch die psychologische Theorienbildung der philosophischen Reflexion ihrer Grundlagen. „Die Anerkennung der Annahme, dass jede Wissenschaft philosophische Tatigkeitsebenen hat, konnte die Kooperationschancen flir die philosophisch-psychologische Wiederannaherung untersttitzen" (Schmidt 1995, 19; ahnlich auch Bunge & Ardila 1990, 27f, 32, 67; vgl. Jacob 2004, 207f). Scheerer (1989) spricht in diesem Kontext von der Notwendigkeit einer „Theoretischen Psychologie" in Analogic zur „Theoretischen Physik". Die Trennung der Psychologie von der Philosophie habe eine solche weitgehend zum Verschwinden gebracht. Ubrig geblieben sei eine zumeist rein empirisch arbeitende Psychologie. Dieses, so Scheerer, stehe „sehr im Gegensatz zu der standig als Vorbild einer ,reifen' Wissenschaft herangezogenen Physik, bei der die Unterscheidung zwischen Experimentalphysik und Theoretischer Physik eine Selbstverstandlichkeit ist" (Scheerer 1989, 1651).^^ 2.2.1.4 Psychologische Menschenmodelle In Anlehnung an die Arbeit von Stachowiak (1973) erweisen sich diese „anthropologischen Voraussetzungen" ftir Herzog als eine Erkenntnis in oder durch Modelle (vgl. Herzog 1984, 85). Das Modell „dient in erster Linie als Denkhilfe und hat den Zweck, abstrakte und unmittelbar nicht mehr anschauliche Gegebenheiten soweit in die Sphare der Anschauung zu riicken, als es moglich ist" (Heiss 1965, 24). Wahrend das Modellhaus eines Architekten fur seinen Kunden illustrierenden Charakter hat, diesem also behilflich ist, auch eine raumliche Vorstellung seines geplanten Objektes zu bekommen, aber natiirlich in wesentlich verkleinertem MaBstab und unter Weglassung vielleicht peripherer Details, weiB man dies bei psychologischen Modellen gerade nicht. „Die Nahe psychologischer Modelle zur Wirklichkeit ist selten eindeutig bestimmbar, was seinen Grund darin hat, dass uber das Wesen der psychischen Wirklichkeit keine Einigkeit herrscht. Solange aber nicht klar ist, was die psychische Wirklichkeit ist, kann bei ^' Diese Trennung hatte aber auch Nachteile fiir die Philosophie. „Die Psychologie ist wissenschaftstheoretisch blockiert, die Philosophie holt sich notwendige psychologische Erkenntnisse vorwiegend von der Psychoanalyse" (Schmidt 1995, 12). ^^ Wellek berichtet, dass die Einfuhrung der „Philosophischen Anthropologie" von Seiten der Philosophie, wobei man die Psychologie vollig ignorierte, „teils aus dem begriindeten Ungeniigen an der Psychologie in ihrer bisherigen Entwicklung, zum anderen aber auch im Gegenteil aus dem Verdacht, die Psychologie konnte dieser bisherigen Entwicklungslinie untreu werden und etwas Ernstzunehmendes - z.B. fiir die Medizin, oder gar fiir die Geisteswissenschaften - darzustellen beginnen" (Wellek 1982, 32), kam.
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einem psychologischen Modell logischerweise nicht angegeben werden, inwiefem es mit der Wirklichkeit iibereinstimmt bzw. was fiir einen Aspekt der Wirklichkeit es hervorhebt und welche anderen Aspekte es vemachlassigt. Damit bekommen Modelle in der Psychologie eine konstituierende Funktion" (Herzog 1984, 89). Der psychologische Gegenstand wird nicht einfach nur entdeckt, sondern auf dem Hintergrimd eines Modells auch geschaffen. „Die Modelle der Psychologie sind metaphorische Modelle. Sie schaffen psychische Wirklichkeit, well sie von andemorts importiert werden und dazu dienen, den Menschen so zu verstehen, als sei er gemafi dieser importierten Idee konstituiert. Psychologische Modelle haben im wesentlichen Als-ob-Charakter. Der Forscher sieht menschliches Verhalten so, als lasse es sich unter der Idee der Maschine, des Organismus, der geologischen Schichtung, des Konflikts, des Regelkreises etc. verstehen. Diese Metaphem konstituieren den Gegenstand; sie bewirken, dass sich der Forscher so verhalt, als sei die psychische Wirklichkeit im Sinne der Metapher beschaffen" (ebd. 92). Das Menschenmodell als notwendiger Bestandteil des psychologischen Theorienbildens veranschaulicht also den Gegenstand und strukturiert ihn damit zugleich. Zudem wirkt er sich konstituierend aus, d.h. der psychologische Gegenstand wird unter einer ganz bestimmten Idee konstituiert, so als ob er eben gemaB dieser Idee beschaffen sei. Die Metapher ist gewissermaBen eine schopferische Neubeschreibung, eine neue Sicht der Wirklichkeit. Mit diesen Metaphem wird versucht, die Dynamik des unanschaulichen psychischen Geschehens anschaulich zu machen. Gleich ob es der befiederte Wagen bei Platon ist, die Maschine, der Organismus, der Konflikt, geologische Schichten oder das kybemetische System: man greift nach Modellen aus der jeweiligen Lebenswelt, um die Gestalt und Dynamik des Psychischen zu veranschaulichen. Ohne eine solche Veranschaulichung der psychischen Dynamik kormen wir keine Theorie bilden, wie es z.B. Carl Rogers, C.G. Jung, Sigmund Freud, Jakob. L. Moreno, Raymond B. Cattell und viele andere getan haben. Das Bild einer bestimmten Dynamik gibt darm den Interpretationsrahmen fiir die konkreten Phanomene und Daten vor, denn die Phanomene und Daten selbst sind nicht zugleich ihre eigene Interpretation. Daraus folgt: Unterschiedliche Menschenbilder haben auch unterschiedliche Theorien, d.h. Erklarungen eines konkreten Phanomens zur Folge. Die vielfaltigen psychologischen und psychotherapeutischen Theorien zum Verstandnis des einen, immer gleichen Menschen in seinem Erleben und Verhalten haben ihren Grund in den verschiedenen Menschenbildem. Zu den Grundannahmen des Organismusmodells gehort beispielsweise, dass der Mensch wie jeder Organismus, von Anfang an ein Ziel in sich hat, auf das hin sich zu entwickeln er alle Fahigkeiten hat (vgl. Herzog 1984). Sofem er in einem entsprechend forderlichen Milieu lebt, wird er sich auch gemafi seinem inneren Ziel entwickeln. Ist das Milieu, z.B. die Familie, unzureichend, dann wird sein Wachstum verkiimmem oder seltsame Formen armehmen, wie bei einer Pflanze, die zu wenig oder zuviel Wasser, Licht und Nahrstoffe bekommt. An diesem Modell hat sich beispielsweise der Begriinder der Gesprachspsychotherapie, Carl Rogers, orientiert und dementsprechend die therapeutischen Variablen - Wertschatzung, Empathie,
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Kongruenz - bestimmt, die ein wachstumsforderndes Klima in der Psychotherapie gewahrleisten sollen?^ Die Ideen, die den verschiedenen Menschenmodellen zugrunde liegen, stammen, wie gesagt, aus unserer Lebenswelt. Empirische Daten gewinnen ihren Sinn als erfolgreiche Illustration eines unterstellten Menschenmodells. Das Modell, das den jeweiligen Hypothesen zugrunde liegt, kann nicht durch jene Daten, die die Hypothese bestatigen, verifiziert werden, denn dann wiirde ich etwas bestatigen, was ich schon vorausgesetzt habe (petitio principii), m.a.W. psychologische Modelle sind empirisch nicht belegbar, d.h. sie sind weder wahr noch falsch. Die Wahl eines Modells schrankt zugleich unser Denken ein. Die einzige Moglichkeit, Modelle in Frage zu stellen, sind andere Modelle, wenn diese sich zur Bewaltigung bestimmter Problemstellungen als ntitzlicher erweisen. Das konkrete Phanomen liefert im Vorhinein hochstens plausible Griinde fur seine Wahl, im Nachhinein kann es sich lediglich als nutzlicher erweisen als andere Modelle. „Ntitzlicher" heiBt, dass die auf ihm basierende Theorie das Phanomen adaquater erklaren kann als Theorien, die auf anderen Modellen fuBen (vgl. ebd. 95). „Die Menschenmodelle stecken das Feld moglicher Fragen ab, die eine psychologische Theorie beantworten kann. Werden Fragen formuliert, die diesen Rahmen transzendieren, so muss die betreffende Theorie versagen. Psychologische Erklarungen sind Antworten auf Fragen, die sich im Rahmen eines bestimmten Menschenmodells stellen lassen" (ebd. 303). Die Forderung nach einem adaquaten Menschenbild in der Sozialpsychologie wurde immer wieder erhoben, wie z.B. von Mertens & Fuchs (1978, 151) oder von Frey (1996, 63), wenn er nach dem „homo psychologicus" als Gegenentwurf zum „homo oeconomicus" fragt. Hier gilt es noch etwas praziser zu formulieren. Das gegenstandliche Interesse dieser Arbeit gilt dem Phanomen der zwischenmenschlichen Kommunikation, zu dessen Erklarung wir einen Begriff von Sozialitat brauchen. Diese Frage nach der sozialen Dimension betrifft nur ein, wenn auch nicht unwesentliches, Moment eines Menschenbildes, namlich die modellhafte Erfassung der Dynamik des Verhaltnisses des Einen zum Anderen. Im Blick auf jenes Phanomen, in dem sich Sozialitat urspriinglich ereignet, der Face-to-face-Kommunikation, muss sich diese Antwort in Form eines Modells des Sozialen fmden lassen, das wiederum seinerseits die Bildung einer zutreffenden Kommunikationstheorie notwendig fundieren muss. Die Herausarbeitung einer Kommunikationstheorie ergibt demnach als unvermeidliches „Nebenprodukt" auch ein Modell des Sozialen. Face-to-face-Kommunikation ist das privilegierte Zugangsphanomen zum Sozialen. In diesem Sinne sind Phanomen, Sozialitatsmodell und Kommunikationstheorie unlosbar miteinander verbunden. Die Unlosbarkeit ihres Zusammenhangs gilt aber nicht nur fiir diese Momente, sondem schlieBt auch eine implizit immer mit ausgesagte weltanschauliche Dimension, die aus einer Kommunikationstheorie folgenden Interventionen, z.B. ein bestimmtes Kommunikationstraining, sowie deren ethische Beurteilung ein.
Naheres zur Konzeption von Carl R. Rogers s. Abschnitt 5.2.
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Wir koiinen beispielsweise aus einer bestimmten kommimikativen Praxis auf das implizite Menschenbild bzw. wie in unserem Falle auf ein bestimmtes Verstandnis von Sozialitat, riickschliefien. „Menschenbilder und Menschenmodelle bestimmen nicht nur Theorien und praktisches Handeln psychologischer Wissenschaft, sondem konnen [...] vice versa auch aus Theorien und praktischem Handeln in seiner Gesamtheit erschlossen werden" (Hagehiilsmann 1987,38). Die mangelnde Reflexion, Ignoranz oder Leugnung solcher philosophischer Voraussetzungen, birgt fiir die Psychologie die Gefahr, einem naiven Empirismus zu verfallen, also zu den Anfangen des neuzeitlichen wissenschaftstheoretischen Denkens zunickzukehren, das dem Motto folgte: Was ich wahmehme, das ist auch so, wie ich es wahmehme. Dabei wird die Differenz zwischen Modell und Phanomen eingeebnet. Dies ware beispielsweise dann der Fall, wenn man gewissermaBen ohne „Umweg" iiber ein Sozialitatsmodell die oben beschriebene Ambivalenz unserer Kommunikationserfahrung mit dem Anderen zu einer „wesentlichen" Ambivalenz, einer ontologisch fundierten, erklaren wiirde, ohne diesen Vorgang zu reflektieren.'^'^ Diese Problematik wird sich im Folgenden noch deutlicher zeigen. 2.2.1.5 Die individuumszentrierte Modellierung der sozialen Dimension in der Sozialpsychologie 1996 unterscheidet Graumann in seinem historischen Rlickblick auf die Geschichte der Sozialpsychologie zwei Stromungen des sozialwissenschaftlichen Denkens, die soziozentrierte und die individuozentrierte, also eine soziologische Sozialpsychologie, vertreten z.B. durch Goffman, French, Romans, Bales, und eine psychologische Sozialpsychologie, vertreten durch Lewin, Festinger, Schachter, Asch, Campbell und Allport. Erstere „betont die determinierende Funktion bzw. Einfluss sozialer Strukturen (Systeme, Institutionen, Gruppen) auf das individuelle Erleben und Verhalten" (Graumann 1996, 7), letztere die „individuelle(n) Prozesse und Funktionen, aus denen Zweck und Aufbau sozialer Systeme erklarbar sein sollen" (Graumann 1996, 7), d.h. es wird jeweils der Primat des Sozialen vor dem Individuellen oder umgekehrt gesehen. In der Tradition von McDougall und Simmel war, so Graumann, Sozialpsychologie schon immer zugleich Individualpsychologie. Die individualistisch gepragte Sozialpsychologie war vielfach Ziel der Kritik im Rahmen der in den 1970er Jahren thematisierten „Krise der Sozialpsychologie". Mertens & Fuchs (1978) verweisen diesbeziiglich auf unterschiedliche Positionen, deren gemeinsamer Tenor aber dahingehend lautet, „dass die gegenwartige Sozialpsychologie einer individualistischen Sichtweise verhaftet ist, in der soziale Einflussfaktoren bzw. die Dialektik zwischen Individuum und objektiven sozialen Faktoren als Analyseeinheit nicht auftauchen" (Mertens & Fuchs 1978, 122f).
^^ Deutlich zeigt sich eine solche naiv-empiristische Sichtweise in dem bekannten Sender-Empfanger-Modell von Shannon & Weaver als Erklarung fiir Kommunikationsprozesse (vgl. Kap. 4).
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Diese sog. Krise der Sozialpsychologie bestand fur Graumann im Wesentlichen darin, dass diese nur am Individuum, aber nicht an Interaktionen zwischen Individuen interessiert gewesen sei (vgl. Graumann 1979, 297). Dies wird noch einmal deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Strack (1988), der die Krise mit dem Paradigma der Informationsverarbeitung als weitgehend beendet ansieht (vgl. Strack 1988, 74). In seiner Antwort auf diese Position wird sichtbar, was Graumann unter „Individuumszentriertheit" versteht. Er meint damit die Reduktion der sozialpsychologischen Forschung auf die Representation der sozialen Wirklichkeit im Individuum. „Der Informationsverarbeitungs-Ansatz verfiihrt dazu, die Wirklichkeit auf ihre Reprasentation (im Individuum) zu reduzieren. Dabei besteht zwischen physischer und sozialer Realitat kein Unterschied. Das Attribut,social', das man so beflissen vor ,cognition' setzt, ist ein reines ,label' und hat weder theoretische noch methodologische Bedeutung. Die progressive Kognitivierung der Realitat fiihrt dazu, dass alle iiber das Individuum hinausgehenden sozialen Sachverhalte und Ereignisse wie Interaktion, Gruppe, aber auch alle kulturellen Gebilde, nur noch aus der individualistischen Perspektive angesehen werden, was die Reduzierung des Forschungsprogramms und die Gefahr einer ideologischen Verengung der Sozialpsychologie mit sich bringt" (Graumann 1988, 83). Eine Folge dessen ist die Vemachlassigung der Sozialitat menschlicher Existenz (vgl. ebd. 87). Frey wiederholt diese Kritik ebenfalls: „Nach wie vor ist die Sozialpsychologie - wie auch die gesamte Psychologic - zu sehr am Einzelindividuum, weniger an Interaktionen zwischen Individuen orientiert. Die Mainstream-Sozialpsychologie ist international stark gepragt durch die Untersuchung des Individuums - die social-cognition-Forschung iiberwiegt erheblich gegeniiber Interaktions- und Gruppenforschung. Ubrigens haben Tajfel und Moscovici bereits vor 25 Jahren diese Kritik formuliert, ohne dass sich seitdem im intemationalen Mainstream viel verandert hatte" (Frey 1996, 5 If). Jiingste Definitionen in sozialpsychologischen Lehrbtichem zeigen sich von dieser Kritik unbeeindruckt. Auch in der 4. Auflage seines Lehrbuchs von 1998 bleibt Bierhoff unverandert bei seiner Definition von Sozialpsychologie. „Sozialpsychologie ,ist das Studium der Reaktionen des Individuums auf soziale Stimulation. Die kritischen Reaktionen konnen Gedanken, Gefuhle oder offenes Verhalten sein, und die Stimuli konnen alles einschliefien, was durch die wirkliche, erinnerte oder antizipierte Anwesenheit anderer Leute impliziert wird'(Steiner 1979, 514)" (Bierhoff 1998, 9). In seiner „Einfuhrung in die Sozialpsychologie" von 2002 verzichtet Bierhoff, soweit ich sehe, allerdings iiberhaupt auf eine Definition der Sozialpsychologie. Dies hatte Irle fruher auch schon, wenn auch in anderer Form, getan: „Was in der Sozialpsychologie betrieben wird, ist durch Theorien definierbar, die derzeit als sozialpsychologische Theorien bezeichnet werden" (Irle 1975, 16, im Orig. hvgh.; vgl. Brauner 1995, 221). In seiner Reflexion auf Menschenmodelle in der Psychologic kommt Herzog zu dem Ergebnis, dass der eigentliche Mensch in alien von ihm diskutierten Modellen derjenige sei, der sich als autonom, vereinzelt, in sich geschlossen, auf sich selbst gestellt sahe, als monadisches Wesen oder „homo clausus" (vgl. Herzog 1984, 278). Individuation und Sozialisation stunden in samtlichen Menschenmodellen unverbunden nebeneinander. Letztere beeintrachtige eher 31
noch die Entwicklung des Individuums, wie z.B. die Rollentheorie es sahe. Das Individuum sei gemaB solchen Modellen alleine vollstandig, nicht erganzungsbediirftig. Dem entsprechend setze sich Interaktion bzw. zwischenmenschliche Kommunikation lediglich aus den Verhaltensweisen der einzelnen beteiligten Menschen zusammen. Soziales Verhalten sei „Funktion der individuellen Ausstattung der Interaktionspartner" (ebd. 276; vgl. Moscovici 1972, 35). Graumann hatte diesen Sachverhalt schon 1979 sehr plastisch kommentiert: „Nicht einmal der strenge ,methodologische Individualist', der noch jede Kommunikation methodologisch halbiert (in A sendet, B empfangt, dann sendet B usw.) ist in der Lage, einen Handedruck oder Kuss aus methodischen Griinden in zwei individuelle Anteile zu halbieren, ohne sich - und zwar rein methodologisch - zu blamieren [...] das untersuchte interaktionale Phanomen ist [...] zwar nicht ,mehr', aber etwas anderes als die Summe dieser Bedingungen oder ,Anteile"' (Graumann 1979, 294). Mtiller (1985) spricht von einem impliziten interaktionistischen Forschungsparadigma, in dem das „typisch Interaktionale solcher Situationen" (Miiller 1985, 3) nicht ausreichend berucksichtigt wurde, da „interpersonale Verhaltensweisen durch intrapersonale Konstrukte zu erklaren bzw. die in Gruppen beobachtbaren Phanomene als Funktion von Wahmehmungstendenzen, Kognitionen, Motivationen oder affektiven Zustanden einzelner
Gruppenmitglieder"
(ebd.) gedeutet wiirden. Denn „obwohl Ubereinstimmung daruber zu herrschen scheint, dass sich unter dem typisch Interaktionalen eine spezifische Qualitat sozialer Situationen verbirgt, und dass es sich bei dieser zwar nicht notwendig um mehr, jedoch um etwas anderes handelt als um die bloBe ,Potentiar-Summe einzelner Interaktionspartner, so bleibt zumeist unklar, wie eine adaquatere Analyse entsprechender Phanomene zu leisten ware"(ebd.). Die Folge ist eine Fokussierung auf intraindividuelle Prozesse. „Die Beziehung zwischen ego und alter erscheint dadurch weitgehend entkoppelt, alter tritt zumeist lediglich als Stimuluskonfiguration in Erscheinung, auf die ego im Rahmen eingeschrankter Moglichkeiten und uberdies vielfach nur ein einziges Mai zu reagieren vermag [...] Die Giiltigkeit gewonnener Erkenntnisse beschranken sich so auf eine Momentaufnahme sozialdimensionierter Reaktionen des im ubrigen sozial isolierten Individuums" (ebd. 3f). Hinsichtlich solcher „Prozesse sozialer Interaktion", wie sie beispielsweise in einer Gruppe ablaufen, gibt es in der Sozialpsychologie eine Vielzahl von Theorien wie etwa die Austausch-, Macht- und Kognitive Interaktionstheorie und deren vielfaltige Varianten, wie sie oben schon erwahnt vmrden. „Die Besonderheiten eines interaktionistischen Forschungsparadigmas bestehen darin, dass ego und alter durch wechselseitige individuelle Verhaltensweisen als miteinander verknupft gelten. Wechselseitig heiBt dabei, dass die Aktionen von PI und P2 proaktive wie reaktive Elemente enthalten und durch Ziele und Handlungsintentionen beider Partner geleitet werden. Die Plane und Interessen der Partner fmden ihren Ausdruck in spezifischen Verhaltensstrategien, deren gemeinsame Basis und Ergebnisperspektiven in und durch Interaktion eruiert werden miissen" (ebd. 5). Interaktion bzw. Kommunikation wird hier als ein Geschehen zwischen Individuen aufgefasst. Eine soziale Situation besteht demnach aus der Addition individueller Verhaltenswei32
sen. Interaktionstheorien bzw. Kommunikationstheorien lassen damit das eigentlich interaktionale Geschehen im Dunkeln bzw. verlegen es in das Individuum hinein. Die Bedeutung des Einen fiir den Anderen, des zwischenmenschlichen Kontaktes, bleibt in diesen individuumsbezogenen Menschenmodellen reduziert auf eine Stimulusfunktion. Individuen kommunizieren miteinander, und darin erschopft sich die Konstituierung von Sozialitat. Der Mensch wird so wesentlich als ein Individuum bestimmt, das spezifische Personlichkeitsmerkmale aufweist und daruber hinaus auch noch mit anderen Individuen kommuniziert. Er steht im Mittelpunkt seiner Welt; zu seiner Umwelt gehoren auch andere Menschen, die Dynamik dieser Beziehung bleibt jedoch im Dunkeln. Es bleibt unklar, ob der Andere beispielsweise eher ein Hindemis oder eine Forderung der Entfaltung des Einen bedeutet, ob er ambivalent oder letztlich als gleichgiiltig zu sehen ist. Individualitat und Sozialitat stehen unverbunden nebeneinander. Ganz gleich, ob soziologische oder psychologische Sozialpsychologie: ersterer geht es um „Funktionen von Individuen auf dem Hintergrund sozialer Strukturen", letzterer um mentale „Strukturen und Prozesse von Individuen" (Graumann 1996, 4f), beim genaueren Hinsehen erweisen sich aber beide als individuumszentrierte Ansatze. Die Frage nach dem Primat des Individuellen oder des Sozialen ist gerade Ausdruck dessen, dass beides unverbunden nebeneinander steht. Die oben erwahnte „Krise der Sozialpsychologie" liegt daher noch im Vorfeld der eigentlichen Problematik der Sozialpsychologie. Hier gilt, was Holzkamp oben gesagt hat: es fehlt zum einen das Kriterium daftir, welche Relevanz dem Individuum bzw. der Gesellschaft zukommt. Zum anderen fehlt es an einer adaquaten Modellierung der Dynamik des Sozialen. Diese Sichtweise einer sozialen Situation zeigt sich wissenschaftstheoretisch gesehen iiberdies als eine naiv-empiristische. Das Soziale wird als das genommen, als was es erscheint: als eine Ansammlung von zwei oder mehr Individuen, die miteinander kommunizieren. Die Dynamik des Sozialen deckt sich mit seiner Beschreibung. Das Verstandnis einer sozialen Situation, also einer zwischenmenschlichen Kommunikation, lediglich als Addition individueller Verhaltensweisen, erhebt damit zugleich das Beobachtbare zum Modell. Die Differenz zwischen Phanomen und Modell wird eingeebnet, das Beobachtbare wird unter der Hand zum Modell. Das dies scheinbar unbemerkt geblieben ist, konnte die oben erwahnte Vermutung Kruglanskis stiitzen, dass die Ursache fiir das Defizit an umfassenden Theorien in der Sozialpsychologie seinen Grund in mangelnden wissenschaftstheoretischen Kenntnissen hat. 2.2.2 Die Dichotomie von Individuumszentriertheit und sozialer Determiniertheit Nun lieBe sich dem bisher zur Theorienbildung der Sozialpsychologie Gesagten doch entgegnen, dass es durchaus Versuche gegeben habe, diese Dichotomie zwischen Individuumszentriertheit und sozialem Determinismus zu iiberwinden. Keineswegs konne die Rede davon sein, dass das Problem noch nicht gesehen worden sei. Jacob (2004) hat sich in ihrer Arbeit mit zwei sozialpsychologischen Ansatzen befasst, die als Widerspruch zu der gerade darge33
legten Analyse erscheinen konnten, den sozialpsychologischen Ansatzen von Serge Moscovici und Kenneth J. Gergen. Jacobs detaillierte Analysen zeigen, dass beide Autoren sehr frtih und zutreffend Kritik an der Theorieverweigerung seitens der Sozialpsychologie getibt und auch sehr deutlich das Fehlen einer umfassenden Theorie des Sozialen erkannt haben. Es ist ihnen aber nicht gelungen, so meine These, dieses Desiderat in ihren eigenen Ansatzen tatsachHch zu bewaltigen. Sie sind vielmehr jeweils auf einer Seite der Alternative, entweder einer individuumszentrierten Denkweise oder einem sozialen Determinismus, geblieben bzw. oszillieren dazwischen, weil auch sie die Differenz zwischen Phanomen und Modell, wie es scheint, nicht geniigend beachtet haben. 2.2.2.1 Die Theorie sozialer Reprasentationen von Serge Moscovici Moscovici spricht sich schon in der 1960er Jahren deutlich fiir eine vermehrte theoretische Entwicklung innerhalb der Sozialpsychologie aus (vgl. Moscovici 1963) und so sucht er nach den Bedingungen der individuellen wie auch sozialen Prozesse, nach einem vermittelnden Weg zwischen individualistischem und sozialdeterministischem Denken, um so eine Reduktion auf eines der Momente dieser Dichotomic vermeiden zu konnen (vgl. Moscovici 1972, 55). Sozialpsychologie, die von einer Unabhangigkeit von Subjekt und Objekt ausgehe, ginge durch diese Reduktion das Eigentliche ihrer Thematik gerade verloren (vgl. Moscovici 1989). Soziale Prozesse bestimmten schon unsere Wahmehmung der Welt wie auch unseren Umgang mit ihr, d.h. hier gebe es eine Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Objekt und das sei „das Soziale" (vgl. Moscovici 1988). Subjekt und Objekt seien durch das soziale Subjekt miteinander verbunden, wobei diese drei Elemente nach wie vor voneinander zu unterscheiden seien, wenngleich sie miteinander verbunden sind. „And yet, social psychology has a specific way of looking at things, which implies a ternary interpretation of facts and relationships. It replaces the binary relation consisting of a subject-object, taken over from classical philosophy, with a relationship in which there are three elements: individual subject - social subject - object" (Moscovici 1989, 413). Moscovici erganzt also Subjekt und Objekt durch ein Drittes, das soziale Subjekt, die von ihm so genannten sozialen Reprasentationen. „In fact, it was the need to turn the representation into a bridge between the individual and the social worlds" (Moscovici 1988, 219). Soziale Reprasentationen sind far Moscovici gewissermaBen die Brille, durch die wir immer schon die Welt wahmehmen. Es seien nicht mehr nur individuelle Phanomene, sondem auch soziale Prozesse, die sowohl unser Wahmehmen wie unser Denken beeinflussten. Prozesse seien sie insofem, als es sich um ein permanent verandemder uberindividueller Wissensbestand, ein soziales Gedachtnis der Gesellschaft, handele. „[...] the term representation should be reserved for a spezial category of knowledge and beliefs, namely, those that arise in ordinary communication and whose structure corresponds to this form of communication" (Moscovici 1987, 952 zit. n. Jacob 2004, 77). Diese Vorstellung beruht
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„auf einem Verstandnis des Individuums, fiir das soziale Bedingungen nicht etwas Fremdes, ihm Gegeniiberstehendes sind, sondern diesem immer schon angehoren. Das soziale Gedachtnis ist Teil der individuellen Kognition und durchdringt diese. Individuelles Denken ist nicht vorstellbar ohne diese sozial bestimmten Anteile. Die Vorstellung eines autonomen Subjektes soil damit jedoch keineswegs verworfen werden. Die sozialen Anteile individueller Kognition sind flir diese nicht heteronom" (Jacob 2004, 67). Moscovici erachtet die soziale Natur des Denkens und der Existenz „in general self-evident" (Moscovici 1988, 245), denn sie machen zwischenmenschliches Verstehen uberhaupt erst moglich. Jacob verweist hier auf die theoretische Nahe zu Durkheim und Hegel. „Die Vorstellung, geistige Prozesse konnten auch ohne direkte Anbindung an himphysiologische Strukturen ablaufen, iibemimmt er von Durkheim (Moscovici 1984b, 942). Durkheims Denken wiederum befindet sich in der Tradition des Hegelschen Geistesbegriffes. Hegel beschreibt verschiedene Stufen der Ausformung des Geistes, der nicht an individuelles Bewusstsein gebunden ist. Der Mensch erwirbt seinen eigenen Geist durch praktische Tatigkeit, die als Teilhabe an der als objektiver Geist bezeichneten Geschichte und Kultur verstanden wird (Hegel 1807)" (Jacob 2004, 68). Jacob sieht schlieBlich sehr richtig, „dass die soziale Natur des Denkens eine notwendige Voraussetzung der Konzeption Moscovicis ist, die innerhalb des Ansatzes selbst nicht begriindet wird. Sie muss als Voraussetzung zunachst akzeptiert werden, will man die Theorie sozialer Reprasentationen nachvollziehen" (Jacob 2004, 69). Wenn Moscovici von einer „Vermittlungsinstanz" spricht, dann heiBt das, dass diese Instanz zwischen etwas Getrenntem, namlich Subjekt und Objekt bzw. dem Selbst und dem Anderen, vermitteln soil. Moscovici setzt hier als urspriinglich getrennt an, was dann nachtraglich verbunden werden soil. Damit, so hat es den Anschein, will er eine Brticke zwischen zwei Sichtweisen schlagen, die eigentlich unvermittelbar sind, die einander jeweils ausschlieBen. Dass dies auf dem Hintergrund eines individuumszentrierten Ansatzes von vomherein zum Scheitem verurteilt ist, zeigt sich an seinen wiederholten Schwierigkeiten, nicht einer Seite der Dichotomic zu verfallen. Fiir Moscovici sind es gerade nicht die individuellen Kognitionen, die die Wahmehmung der Welt beeinflussen, sondern es sind die sozialen Reprasentationen, die den individuellen Kognitionen zugrunde liegen und uns mit der Welt vertraut werden lassen. Damit will er sich von der „social cognition"-Richtung der Sozialpsychologie abgrenzen, die davon ausgeht, dass es die individuellen Kognitionen sind, die uns die Welt in entsprechender Weise wahrnehmen lassen. Insgesamt bleibt es aber schwer, diesen Ansatz von der social cognitionForschung zu unterscheiden. Letztlich konnen, so Jacob, die sozialen Reprasentationen auch „als fur Einstellungen und Meinungen grundlegendes Phanomen betrachtet werden (Moscovici 1964)" (ebd., 84). Wenn in Untersuchungen Individuen befragt werden, „besteht die Gefahr, das Spezifische der Theorie sozialer Reprasentationen - die Thematisierung sozialer Phanomene, die sich nicht auf individuelle und institutionelle Prozesse reduzieren lassen - durch einen ,methodologischen Individualismus' (Lenk 1987, 67) zu iiberdecken. Die zunachst methodologisch begriindete Orientierung an individuellen Parametern als Moglichkeit der Beschreibung sozialer Phanomene wachst sich schnell zu der Herangehensweise aus, die Moscovici urspriinglich kritisierte: Individuelle Begriffe werden zum Beschreibungsmodus sozialer Prozesse" (ebd., 95). 35
„Wissen und Erkennen sind von einer Wirklichkeit abhangig, die jedoch als soziale Welt, bestehend aus sozialen Tatsachen verstanden wird" (ebd., 96). Bei einer kognitiven Orientierung besteht die Gefahr, dass sich der Ansatz dem der social cognition-Forschung angleicht, den Moscovici selbst als individualistisch kritisiert hatte. Fiir Jacob wird hier sichtbar, „dass der Versuch, Individuum und Soziales grundlegend miteinander verkniipft zu denken, verbunden mit dem Anspruch, die Dichotomic beider Begriffe aufzulosen, ein Grenzgang ist, der mit der Spannung lebt, in individualistisches Denken einerseits oder sozialen Determinismus andererseits zu kippen" (ebd., 69). Empirisch konnen Soziales wie Individuelles nicht wie zwei Entitaten voneinander getrennt werden, denn das hieBe ja, dass das cine unabhangig vom anderen erkannt werden konnte. „Social psychology represents one of the tension points created by the intersection of these terms, which can never be dissociated or treated as though each had a distinct reality" (Moscovici 1989, 412). Eigentlich soUte in Moscovicis Ansatz gerade nicht mehr die Rede von einem „Ubergang" sein, „da soziale Reprasentationen eben sowohl individuelles Denken als auch kollektive Prozesse gleichermaBen betreffen und somit miteinander verkniipfen. [...] Die Rezeption der Theorie sozialer Reprasentationen zeigt, dass die Annahme der Vermittlungsfunktion sozialer Reprasentationen zwischen individuellen und sozialen Prozessen bei Moscovici nicht ausreichend spezifiziert ist" (Jacob 2004, 73). Empirisch untersuchbar sind diese Reprasentationen nur im Individuum, zugleich werden sie aber als tiberindividuell behauptet. Man ahnt, was Moscovici meinen konnte, aber nicht in der Lage ist, theoretisch ausreichend nachvollziehbar zu machen. Man muss es wohl noch deutlicher sagen: Moscovici ist in einem individuumszentrierten Ansatz hangen geblieben, den er letztlich nur durch Negation zu iiberwinden sucht. Er will sagen, dass dieses Dritte, das Soziale, eigentlich die Realitat vermittelt (vgl. Moscovici 1989, 414). Moscovici postuliert damit eine Instanz, fur die er dann kaum Belege anfuhrt, die als Postulat aber akzeptiert werden muss. Wie soil man sich aber eine solche Instanz vorstellen, die einerseits im Individuum gegeben ist, aber andererseits weder heteronom, noch autonom ist? Er will nachtraglich zusammenbringen, was er ursprtinglich als getrennt gesetzt hat. So gelingt es Moscovici nicht, die Dichotomic zu bewaltigen. Er kann von dem, was er eigentlich anzielt, nur als Negation dieser Dichotomic sprechen. Oder anders gesagt: Moscovici ignoriert die Modellebene und versucht theoretisch „unmittelbar" zusammenzubringen, was er phanomenal als getrennt erfahrt. 2.2.2.2 Der sozialkonstruktionistische Ansatz von Kenneth Gergen Gemeinsam ist den sehr verschiedenen Ansatzen des Sozialen Konstruktionismus die Auffassung, dass soziale Prozesse zentrale Bedeutung fur die Konstruktion von Wirklichkeit haben. Anfang der 1970er Jahre taucht diese Richtung in der Sozialpsychologie auf, wesentlich verbunden mit dem Namen Kenneth Gergens. Dieser zunachst ganz traditionell arbeitende Sozialpsychologe stellte deren Selbstverstandnis als Naturwissenschaft und ihren Anspruch auf 36
Objektivitat und Wahrheit auf dem Hintergrund der Spatphilosophie Wittgensteins, franzosischer Literaturtheorie und Ideologiekritik radikal in Frage und bezeichnet seinen Ansatz selbst als „postmodem" (vgl. Gergen 1990). Sinn und Bedeutung als Resultat von Beziehung und Sprache Gmndlage unseres Wissens, so Gergen, ist die soziale Pragmatik, d.h. Sinn und Bedeutung eines Objektes werden erst im Gebrauch des Wortes produziert. Es gebe keine feste Korrespondenz zwischen Sprache und Objekten, wie dies, so Gergen, unreflektiert im modemen Begriff von Wissenschaft und Wahrheit der Modeme angenommen werde. „Welche Zustande werden durch diese Worter abgebildet? Wie konnen wir also behaupten, dass Worter mit Erfahrungen korrespondieren bzw. ,die Wahrheit' uber unser Erleben zum Ausdruck bringen?" (Gergen 2002, 34). So gebe es beispielsweise nahezu unendlich viele Bedeutungen der Aussage: ,Ich Hebe dich.' Hier zeigt sich, dass alle Denkgeriiste grundsatzlich schwankend sind. Alles, was gesagt wird, kann viele unterschiedliche Bedeutungen haben" (ebd. 293; vgl. ebd. 66), und das gelte auch fiir wissenschaftliche Begriffe (vgl. ebd. 295). Werde aber die stabile Korrespondenz zwischen Wort und Objekt in Frage gestellt, dann „erscheinen alle Anspruche auf Wahrheit, die mittels der Sprache vorgebracht werden, als fragwiirdig" (ebd. 45). Wissen sei das „Resultat relationaler Prozesse", das Ergebnis des „Austauschs zwischen Personen, Objekten, physischen Umgebungen usw." (ebd. 76). Es handele sich dabei um eine „Vielzahl komplexer Beziehungen, aus denen sich Formen des Verstandnisses ergeben" (ebd.), um Interaktionen wie z.B. „Diskussionen, Verhandlungen und Ubereinstimmungen. Aus dieser Sicht sind Beziehungen die Grundlage fiir alles, was verstehbar ist. Nichts existiert fur uns - als verstehbare Welt voUer Objekte und Personen -, bis wir in Beziehungen eintreten. Das heifit, dass alle Worter, Satze und Aussagen, die uns heute als sinnvoll erscheinen, unter anderen Beziehungsverhaltnissen vollkommen unsinnig wirken kormten" (ebd. 67). Kultur und Geschichte wirken dabei immer begrenzend. Beziehungen sind die Grundlage der Sprache, in der sich das Individuum auBert. Insofem gehen soziale Prozesse den individuellen voraus. Sprache bestimmt meine Welt und ist ihrerseits sozial bestimmt. Unser Wissen, Sirm und Bedeutung entstehen, so Gergen, im gemeinsamen tradierten Sprachspiel. „Was wir fiir Wissen von der Welt halten, entsteht aus Beziehungen und ist nicht in einen individuellen Geist, sondem in interpretative oder gemeinschaftliche Traditionen eingebettet. Konstruktionistische Dialoge betonen daher Beziehungen statt Individuen, Verbindungen statt Isolation und Kooperation statt Konkurrenz [...]. Sogar das Konzept der Beziehung, das wir iibemommen haben, setzt voraus, dass Beziehungen durch einen Zusammenschluss noch elementarerer Einheiten, eben individueller Personen, entstehen" (ebd. 156). „Beziehung" meint hier fur Gergen die Gesamtheit individueller Personen und setzt sich aus Individuen zusammen. Beziehungen existieren aber nicht nur zwischen Menschen, sondem auch zur nichtmenschlichen Umwelt. Gergen spricht von einer notwendigen „Erweiterung des Begriffs der Beziehung, der auch die Welt des Nicht-Sozialen und insbesondere die natiirliche Umgebung mit einschlieBt" (ebd. 175). So gesehen gebraucht Gergen den Begriff „Bezie37
hung" im alltagssprachlichen Sinne fiir den Kontakt zwischen zwei oder mehreren Personen, aber auch zur gesamten Umwelt. Vergangene Beziehungen ermoglichen, so Gergen, die Produktion gemeinsamer Bedeutungen. Da sich Beziehungen in permanenter Veranderung befinden, „gibt es nichts in unserer Vergangenheit, was unsere Moglichkeiten, gemeinsam Bedeutung zu erzeugen, starr festlegt [...] jedoch enorm viele Moglichkeiten neuer Kombinationen. [...] In diesem Sinne ist die Bedeutung, die wir gemeinsam erzeugen, selten festgelegt. Sie unterliegt einer kontinuierlichen Umdeutung" (ebd. 184). Damit nehmen auch friihere Beziehungen Einfluss auf die Bedeutungsgenerierung innerhalb der je aktuellen Beziehung. Sprache entsteht also nicht privat, sondem „erst durch eine breite Ubereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung von Wortem und Handlungen. [...] Ohne Beziehungen gabe es keine bedeutungshaltigen Diskurse; und ohne Diskurse gabe es keine verstehbaren ,Objekte' oder ,Handlungen' - oder Mittel, um diese in Zweifel zu ziehen. Wir konnen daher Descartes' bertihmten Satz ersetzen durch communicamus ergo sum - wir kommunizieren, also bin ich" (ebd. 274). Weil es fur Gergen keine feste Beziehung zwischen Wort und Objekt gibt, werden Sinn und Bedeutung eben nicht universell, sondem immer nur innerhalb eines bestimmten „Sprachspiels" produziert, d.h. die Korrespondenz von Wort und Objekt wird in jedem Sprachspiel neu bestimmt. Ein Sprachspiel ist Ausdruck einer bestimmten Lebensform, zu der alle Kenner der Sprachregeln Zugang haben. In diesem Sinn, so folgert Gergen, gibt es durchaus Wahrheit, „allerdings stets innerhalb der Regeln eines bestimmten abgegrenzten Spiels" (ebd. 52). Wenn wir jedoch liber die jeweilige Lebensform hinausgehen, das gemeinsame Sprachspiel verlassen, dann ist hier zugleich auch die Grenze der Aussage „es ist wahr" erreicht. Wahrheit kann sich also immer nur auf ein bestimmtes Sprachspiel beziehen und ist immer auch sozial bestimmt (vgl. ebd. 54). Dieser Sprachbegriff impliziert fur Gergen femer, dass wir Wirklichkeit nur innerhalb bestimmter Sprachspiele konstruieren konnen. Da Sprache wiederum durch Beziehungen, also sozial bestimmt ist, konnen wir Bedeutungen auch nicht auBerhalb von Sprache generieren. Wir konnen nicht hinter die Sprache zuriickgehen, denn auch unsere Reflexion liber diesen Diskurs erfolgt sprachlich. „Wir geben den Texten ihre Bedeutung. Texte erhalten ihre Bedeutung durch ihre Funktion innerhalb von Beziehungen. Die Gemeinschaft ist stets der Bedeutung eines Textes vorgeschaltet" (ebd. 59). 2.2.2.2.1 Die relativistische „Position" Gergens In Anlehnung an Derrida bezeichnet Gergen Sprache auch als im Kern differenzierend. „Jedes Wort trennt das, was benannt und bezeichnet wird, von dem, was nicht gemeint ist (dem Abwesenden, Gegenteiligen). [...] Letztendlich gibt es fur jedes Sein ein Anderssein" (ebd. 187). Wenn wir uns fur eine Bedeutung entscheiden, so ist das zugleich auch eine Entscheidung gegen eine andere (vgl. ebd. 42). „Durch jeden Schritt in einem Diskurs geben wir unzahlige Moglichkeiten auf und unterdrlicken andere Meinungen und Lebensformen" (ebd. 274) und Optionen (vgl. ebd. 277). Auch die jeweilige wissenschaftliche Sprache einer scientific com38
munity sei nur ein bestimmtes Sprachspiel, d.h. sie sei ebenfalls sozial bedingt und konne auch anders erfolgen. Fiir Gergen „macht es wenig Sinn anzunehmen, wissenschaftlicher Fortschritt brachte uns ,der Wahrheit' immer naher. Es gibt keine iiberzeugende Erklarung dafiir, wie eine Ansammlung von Silben (wissenschaftliche Theorien) die wahre Beschaffenheit dessen, was existiert, zunehmend genauer abzubilden vermag" (ebd. 296). Erst wenn wir den Anspruch auf die eine und einzige Wahrheit aufgeben, werden wir offen fiir alternative Diskurse und gewinnen dadurch weitere Handlungsmoglichkeiten. Der Anspruch, mehr und besser wissen zu woUen als friihere Wissenschaftler, habe sich durch das damit verbundene Konkurrenzdenken eher als lahmend erwiesen (vgl. ebd. 276, 296). Der Anspruch auf das Wahrheitsmonopol sei daher ungerechtfertigt und diene lediglich der Unterdriickung altemativer Diskurse. Einerseits „it is not the aim of constructionism to stablish the truth against which all competitors - such as empiricism - are silenced" (Gergen 1999, 93). Andererseits weiB Gergen aber doch, dass die Voraussetzungen fiir Bewertungen und Vergleiche konkurrierender Positionen unvermeidlich auf bestimmten Pramissen basieren. „Um uns iiberhaupt verstandlich zu machen, miissen wir eine bestimmte Sicht der Welt und des rechten Handelns in ihr vertreten. Der Konstruktionismus mag zu einer Haltung kontinuierlicher Reflexion einladen, doch jeder Moment des Nachdenkens ist unweigerlich von Werten gepragt" (Gergen 2002, 287). Trotzdem „entscheidet sich der Konstruktionismus fiir keine Siegerin unter den konkurrierenden Stimmen. In diesem Sinne ist er relativistisch. Alle Positionen mogen auf ihre eigene Weise ihre Berechtigung haben" (ebd. 287), d.h. Theorien konnen fiir Gergen auch nebeneinander bestehen. Die Suche nach einer Letztbegriindung ist fiir Gergen nur kontraproduktiv. Ein solcher „relativistischer Standpunkt" birgt mehrere Schwierigkeiten. Zum einen scheint Gergen nicht zwischen (1) widersprtichlichen Theorien in Bezug auf das gleiche Formalobjekt und Theorien, die sich auf unterschiedliche Formalobjekte beziehen, zu unterscheiden. Zum anderen kennt er teilweise (2) die zentrale Argumentation gegen einen relativistischen Standpunkt, zeigt sich davon aber unbeeindruckt. (1) In seinem Pladoyer fiir die Gleichberechtigung aller Positionen bringt er ein Beispiel: Wenn nur gelte, dass die Erde flach sei, dann sei fiir die Vertreter ihrer Rundheit kein Raum mehr. Wenn das Gras als griin betrachtetet werde, dann gebe „es keinen Platz fiir psychophysiologische Forschung, die Farbe als psychologisches Phanomen beschreibt, das aus dem von der Retina reflektierten Licht resultiert" (ebd. 276). Die Erde zugleich als flach und rund im Sinne von kugelformig zu behaupten ist im traditionellen Sinne ein kontradiktorischer Widerspruch, d.h. beide Aussagen schlieBen einander aus, denn sie beziehen sich auf den gleichen Gegenstand unter der gleichen Riicksicht, namlich auf die auBere Form der Erde. Was bedeutet hier also eine Gleichberechtigung aller Positionen? Im zweiten Beispiel ist ein anderer Sachverhalt angezielt. Umgangssprachlich wird Gras als „griin" bezeichnet, so wie es in der alltaglichen Wahmehmung gegeben erscheint. Dazu stehen die Ergebnisse psychophysiologischer oder auch physikalischer Forschung jedoch nicht im Widerspruch, sondem sie betrachten den gleichen Gegenstand unter einer anderen 39
Riicksicht, d.h. es liegen unterschiedliche Formalobjekte vor. Gergen unterscheidet hier sichtlich nicht zwischen einem Widerspruch im logischen Sinne und der Betrachtung ein und desselben Gegenstandes unter unterschiedlicher Riicksicht. Da es infolge der sozialen Bedingtheit des Wissens keine wahre Theorie geben kann, sind fur Gergen alle Theorien nicht nur gleichermaBen zulassig, es darf auch kein altemativer Diskurs unterdruckt werden. Es sei vielmehr zu begriifien, wenn es nicht um Erkenntnisfortschritt in dem Sinne ginge, dass andere Theorien verdrangt wurden. Eine Theorienvielfalt spiegelt, so Gergen, die Gegebenheiten viel besser wieder. Er pladiert sogar ausdriicklich fur mogUchst viele Theorien, die nicht als Konkurrenten zu betrachten seien. Der Kern der Kritik Holzkamps, Herzogs und anderer an der Theorieninflation der Sozialpsychologie ist, so wurde oben gezeigt, dass es viele Theorien unter gleicher Riicksicht zum gleichen Gegenstand gibt und kein Kriterium, nach dem sie gewichtet werden konnen, diesbeziiglich also eine Beliebigkeit herrscht. Mit einem relativistischen Standpunkt stellt sich Gergen dieser Theorienpluralitat aber gerade nicht entgegen, sondem unterstutzt mit seiner Argumentation noch diese Tendenz. Optiert Gergen damit nicht doch fur einen wissenschafllichen Stillstand, wenn er die Existenz konkurrierender Theorien vemeint? (2) Gergen weiB um die Selbstreferentialitat jeder Theorie, d.h. sie muss immer auch auf sich selbst angewandt werden konnen. Wenn jeder Behauptung nur relative Gultigkeit zukommt, dann gilt dies auch riickbeziiglich fur die Relativismus-Behauptung selber. tJberdies stellt der Akt der Relativismusbehauptung immer auch einen Anspruch auf universelle Geltung dar und ist damit zugleich ein performativer Selbstwiderspruch (vgl. Habermas 1983, 97). Der Inhalt des Gesagten steht in Widerspruch zu dem Sprechakt, in dem er vollzogen wird. Das Behauptete wird hier durch den Akt des Behauptens selbst widerlegt. Wenn Gergen tatsSchlich alles fiir gleich-giiltig halten wurde, dann ware nicht zu verstehen, warum er sich iiberhaupt die Miihe macht, wissenschaftlich eine eigene Position zu erarbeiten, wenn jede doch beliebig ist. In der Erarbeitung einer eigenen Position in eins mit dem Wunsch nach einem Dialog mit anderen Theorien tritt er doch in Konkurrenz zu diesen, sofem sie das gleiche Formalobjekt zum Gegenstand haben. Schon allein der Wunsch nach einem Dialog mit anderen Positionen ist zugleich die Anerkennung der Existenz anderer Positionen. Ein solcher Dialog eriibrigt sich, wenn nicht die Uberzeugung vorhanden ist, dass es relevante Unterschiede gibt. Gergen sind mitnichten alle Theorien gleich-giiltig, und seine Kritik an der MainstreamSozialpsychologie driickt implizit aus, dass es ihm durchaus um die Unterscheidung von „fortschrittlich" oder „weniger fortschrittlich" geht. Gergen will zudem mit einer solchen relativistischen Position zugleich auch verschiedene Handlungsoptionen offen halten: Wenn jedoch das Entscheidungskriterium fehlt, anhand dessen Handlungsaltemativen diskutiert werden konnen, weil alle fiir gleich-giiltig erklart werden, wird aus einer Optionsvielfalt letztlich nur noch eine Handlungsblockade. Die Ablehnung wissenschaftlichen Fortschritts, die Verneinung dessen, dass wir uns sukzessive doch einer unerreichbaren Wahrheit zumindest annahem konnen, erscheint dann schlussendlich als wissenschaftliche Kapitulation. 40
2.2.2.2.2 Individuumszentriertheit und Sozialitat Gergen kritisiert die starke Individuumszentriertheit der friihen Sozialpsychologie (vgl. Gergen 2002, 157ff). Die Annahme eines rationalen, selbstbestimmten, unabhangigen Individuums sieht er als Folge der Aufklarung, als „historisches und kulturelles Artefakt" (ebd. 191), das Individuum werde „als abgegrenzt, autonom, integriert und sich seiner selbst bewusst konstruiert" (ebd. 131). Werden Dialoge als Beziehungen zwischen solchermaBen verstandenen Individuen aufgefasst, „verstarken wir das Gefuhl des Konflikts. Wir unterstellen damit, dass trotz aller voriibergehenden Einigung der andere immer fremd, unbekannt und grundsatzlich nicht vertrauenswtirdig ist. Im Zentrum der individualistischen Sicht ist eine Welt ,jeder gegen jeden'" (ebd. 191). Aus dieser Perspektive heraus konnen wir jedoch andere weder verstehen noch ihnen vertrauen, mit der Folge, dass wir uns natiirlicherweise primar eigenen Bedurfnissen und Zielen zuwenden. „Gibt man sich Liebe und Sexualitat nur hin, um sich selbst zu befriedigen, geht der traditionelle Wert dieser Handlungen verloren. In gleicher Weise sind wissenschaftliche Forschung, die nur dazu dient, ,meine Karriere' zu fordem, und politische Aktivitat, die ,mir zum Sieg verhelfen' soil, ohne tieferen Wert" (ebd. 152). Isolation, Misstrauen und Konkurrenzdenken seien die Folge dieser individuumszentrierten Perspektive. Die Bekampfung unerwUnschter Folgen setze dann konsequenterweise wiederum beim Individuum an. Fiir Gergen funktioniert diese individuumszentrierte Grundannahme wie eine „Scheuklappe" (vgl. ebd. 155). „Wir sollten uns jedoch fragen, ob dieser Zustand des kontinuierlichen Kampfens wunschenswert ist" (ebd. 154). Stattdessen gelte es, so Gergen, „vielversprechendere Altemativen und neue Konzeptionen des Selbst zu generieren, die das soziale Leben weniger bedrohlich machen und eine globale Zukunft verheifiungsvoUer gestalten" (ebd. 155). Dazu gehort vor allem eine neue Wertschatzung der „Beziehung" (vgl. Gergen 1994, 141). Damit macht Gergen noch einmal deutlich, dass fiir ihn beileibe nicht alle Theorien gleichwertig sind, dass er durchaus Praferenzen setzt, also auch hier keine relativistische „Position" wirklich durchhalten kann. 2.2.2.2.3 Die soziale Konstruktion des relationalen Selbst Beziehungen bilden fur Gergen die Grundlage von allem, auch der Sprache. Im Gebrauch der Sprache im Rahmen eines gemeinsamen Sprachspiels wird in einem sozialen Prozess unsere gemeinsame Wirklichkeit konstruiert. „Wir benotigen eine Reihe allgemein akzeptierter - notfalls auch sehr einfacher - Annahmen uber das, was existiert (,das Reale') und das, was rechtes Handeln (,das Gute') ausmacht. Eine geteilte Ontologie ist vor allem das Nebenprodukt einer gemeinsamen Sprache. Sprechen Sie ledigHch Chinesisch und ich nur Englisch, werden wir kaum eine gemeinsame Beziehung aufbauen konnen. Besteht Ihre Welt aus Engeln, gottlichen Energien und bosen Kraften und meine Welt aus Neuronen, Synapsen und Endorphinen, werden unsere sich gegenseitig ausschliefienden Ontologien unsere Kommunikation erschweren. Idealerweise sollten wir ahnlich Worter in ahnlichen Situationen verwenden" (Gergen 2002, 107f).
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Wenn wir uns in einem gemeinsamen Sprachspiel bewegen, dann teilen wir, so Gergen, auch eine Ontologie. Eine solche Ontologie besteht aus Annahmen iiber das Reale, liber das, was existiert und liber das moralisch gute Handeln. Wenn sich unsere Ontologien nicht decken, wird die Kommunikation schwierig. „Wer ich bin und wie ich mich verhalte wird innerhalb von Beziehungen definiert. Sobald ich kurz nach der Geburt einen Namen erhalte und einem Geschlecht zugeordnet werde, beginnt meine Existenz als individuelle Person innerhalb einer gemeinsamen Ontologie. Indem ich iiber ,mich' und meine ,Gedanken', ,Gefuhle' oder ,tJberzeugungen' spreche, kreiere ich die Wirklichkeit einer individuellen Entitat, dem ,ich'. Wann immer Sie mich mit meinem Namen ansprechen oder auf bestimmte Weise mit mir interagieren, festigen Sie diese Realitat. All diese Worter beinhalten einen moralischen Aspekt. Mai werde ich als gut und mal als bose konstruiert" (ebd. 108f). An anderer Stelle hat Gergen einmal sehr klar gesagt, dass er ontologisch schweigsam sein wolle, sich also uber „die Realitat" nicht auBem wolle. „As I have noted, constructionism is ontologically mute. Whatever is, simply is" (Gergen 1994, 72). Gergen will ausdrlicklich ontologisch schweigsam sein, denn solche Seinsaussagen sind gegenliber dem Sprachgebrauch immer nachfolgend. Gergen entwickelt nun ein relationales Konzept des Selbst, wobei das „Selbst" flir ihn gewissermaBen den Kern des Menschseins bezeichnet (vgl. Gergen 1994, 211). Jede Bedeutung geht aus einer Beziehung hervor. Beziehungen entstehen durch den Zusammenschluss individueller Personen (vgl. Gergen 2002, 156). „Es gibt keine Bedeutung, die nicht auf einer Beziehung beruht. [...] Das Selbst kann in dieser Hinsicht nicht vom anderen getrennt werden. In der Entstehung von Sinn und Bedeutung bilden das Selbst und der Andere eine Einheit" (ebd. 166). Das Selbst und der Andere bilden eine Einheit, aber eben eine Einheit, die sich aus diesen beiden Individuen zusammensetzt. Sie beide zusammen sind Ursprung jeder Bedeutung. Sie produzieren gemeinsam geteilten Sinn und Bedeutung, denn „Beziehung" ist hier nur der Oberbegriff flir die Einheit aus dem Einen und dem Anderen. Beide bleiben Individuen auch in der Beziehung und verfligen je liber ein „Kemselbst" (vgl. ebd. 197ff). An anderer Stelle heiBt es hingegen: „Wir mussen die binaren Unterteilungen aufgeben, durch die wir von anderen getrennt sind und dennoch unter deren Einfluss stehen. Wir mlissen einen Weg fmden, uns selbst zu verstehen als Bestandteile eines Prozesses, in dem es kein Individuum gibt, der sich aber gleichzeitig aus individuellen Momenten zusammensetzt" (ebd. 165). Danach sind wir selbst Bestandteile eines Prozesses, der sich aus individuellen Momenten, aber nicht aus Individuen zusammensetzt. Hier wird das Individuum aufgehoben im Prozess, d.h. diese Beziehung setzt sich nicht mehr aus Individuen zusammen. Und schlieBlich kann er sagen: „Bewusste Erfahrung ist damit in grundlegender Weise relational. Subjekt und Objekt bzw. das Selbst und der Andere fallen in der Erfahrung zusammen" (ebd. 163). Subjekt und Objekt horen in der Erfahrung auf als solche zu existieren, und dies nennt er eine „relationale" Erfahrung. Wenn Subjekt und Objekt aber zusammenfallen, dann ist das aber gera-
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de das Ende ihrer Relation, das Ende von ihnen beiden als Relata einer Relation. Wie kann das Ende einer Relation zugleich eine relational Erfahnmg darstellen (vgl. Kap. 3)? Die Intention Gergens wird in diesen AuBerungen sichtbar. Subjekt und Objekt, als Individuen verstanden, sind als solche voneinander getrennt, und diese Trennung soil aufgehoben werden. Sie wird aufgehoben, wenn es keine Individuen mehr gibt, wenn Subjekt und Objekt nicht mehr existieren. Zugleich soil es gerade durch den Zusammenfall von Subjekt und Objekt, durch ihre Aufhebung im Zusammenfall, zu einer relationalen Erfahnmg kommen, d.h. zur Erfahrung einer Relation, deren Relata aber gerade aufgehoben sind. Es ist jedoch sinnlos, von einer Relation zwischen nicht Unterschiedenen zu sprechen. Was sich nicht voneinander unterscheidet, ist identisch. Dann wiederum handelt es sich dabei um eine bestimmte Sichtweise, Perspektive bzw. Konzeption. „Mit Sicherheit verringert das Konzept des relationalen Seins die begrenzende Kluft zwischen dem Selbst und anderen - dem Gefiihl, als Individuum allein dazustehen und den Anderen als fremd und wenig vertrauenswiirdig anzusehen. Was immer wir sind aus dieser Sicht sind wir es direkt oder indirekt im Verbund mit anderen. Es besteht keinen Grund, nur an sich selbst zu denken und andere als Mittel zur Erlangung personlicher Vorteile zu betrachten. Wir bestehen auseinander. Durch diese Sicht lassen wir auch das Problem friiherer relationaler Theorien hinter uns, namlich dass das Selbst ein Produkt der Anderen und die bloBe Folge des sozialen Umfelds ware. Innerhalb der neuen Sichtweise gibt es weder Ursache noch Wirkung" (ebd. 174f). Indem Gergen die Individualitat des Selbst und des Anderen aufhebt, meint er, zugleich das Problem eines sozialen Determinismus bewaltigt zu haben. Das Selbst ist dann nicht mehr Produkt eines Anderen oder eines ganzen sozialen Umfeldes, sondem es ist Uberhaupt nicht mehr. Es ist nur mehr ein Moment des sozialen Prozesses. Sofem es aber dort aufgrund des sozialen Prozesses entsteht, wird man einen sozialen Determinismus nicht ganz von der Hand weisen konnen, auch wenn Gergen dies dezidiert nicht angezielt hat (vgl. Jacob 2004, 160). Andererseits gibt es, wie gezeigt, auch Aussagen bei Gergen, in der er „Beziehung" als die Einheit von Individuen versteht. In dieser Widerspriichlichkeit wird das Dilemma Gergens deutlich. Entweder bringt er nachtraglich zwei Individuen in Beziehung, die zuvor als unabhangig voneinander gesetzt wurden oder aber er „vemichtet" das Individuum und setzt es stattdessen als individuelles Moment eines sozialen Prozesses. Dann kann aber nicht mehr emsthaft von Relationalitat die Rede sein. Der Hinweis auf die Positivitat zwischenmenschlicher Beziehung bekommt dann nur noch Appellcharakter, wenn ihm die Begriindung fehlt. Auch Jacob stellt die Frage: „Was ist der Mensch, wenn er in jeder Hinsicht als relational beschrieben wird? Wo bleibt das Einzigartige eines jeden Einzelnen?" (ebd. 189). Das Subjekt lost sich bei Gergen anscheinend in Relationalitat auf, es ist nur noch relationales Subjekt. „Was die Person ist, wie sie sich selbst wahmimmt und von anderen wahrgenommen wird, kommt ihr nicht als Individuum zu, sondern ist eine Eigenschaft der sozialen Beziehungen. Diese soziale Bestimmtheit soil jedoch nicht als sozialer Determinismus verstanden werden" (ebd. 21 If). Gergen versucht die Beziehung zwischen dem Einen und den Anderen zu 43
„verdichten", indem er sie als Individuen eliminiert. Es gelingt ihm nicht, diese Relationalitat theoretisch zu fassen, ohne dabei das Individuum zu eliminieren. Wie Moscovici schafft es auch Gergen nicht, die Dichotomic zwischen unabhangig gesetzten Individuen einerseits und ihrer Auflosung im sozialen Prozess andererseits zu uberwinden. 2.2.2.2.4 Kommunikation und Sprache Sprache und Handlungen sind nach Gergen die Mittel, durch die Sinn und Bedeutung generiert werden. „Ohne einander zu verstehen konnen wir keine gemeinsamen Bedeutungen aufbauen, keine Handlungen koordinieren und nicht zusammenleben" (Gergen 2002, 180). Unser Weltverstandnis ereignet sich primar durch Sprache (vgl. ebd. 164), an anderer Stelle zuvor gesteht Gergen allerdings einen „sprachlichen Reduktionismus" ein (vgl. ebd. 112), da seine Diskurse die gesamten nonverbalen Signale nicht berticksichtigten wie auch die Wichtigkeit des Kommunikationsmediums vemachlassigten (vgl. ebd. 113). Gergen widerspricht der landlaufigen Vorstellung, dass ein besseres Verstandnis des anderen Menschen durch ein Eindringen in dessen Privatsphare erreicht werden konnte. „Die Annahme, Emotionen seien universell, ist in gewisser Hinsicht attraktiv, da sie suggeriert, menschliches Verstandnis sei ein Teil der menschlichen Natur. Demzufolge waren wir von der Natur dafiir ausgeriistet, z.B. die Angst, Liebe oder Freude anderer Personen zu verstehen. Dies ist jedoch eine gefahriiche Annahme, da das, was wir fur ,naturlich' halten, iiblicherweise die Emotionen in unserer eigenen Kultur sind. [...] Wie konnen wir daher emotionale Ausdrucke als relationale Handlungen verstehen? Hier ist es hilfreich, das Konzept des Szenarios zu verwenden. Ein Szenario ist eine vorgeschriebene Menge aufeinander bezogener Handlungen, wie sie etwa in einem Theaterstiick vorkommen. Jede Handlung innerhalb des Szenarios ist die Vorbereitung fiir das, was danach kommt. Und das Nachfolgende ermoglicht das Verstandnis des Vorhergehenden. [...] In diesem Sinne sind emotionale Darbietungen Bestandteile kulturspezifischer Szenarien. [...] Der wiitende Ausruf und der wehleidige depressive Ausdruck [...] konnen nicht uberall und jederzeit auftreten, sondem nur innerhalb einer kulturell angemessenen Folge. [...] AUgemein konnen wir sagen, dass es Zeiten und Orte gibt, an denen die Darbietung von Emotionen angemessen ist. Des Weiteren legt das relationale Szenario fest, was auf die Darbietung einer Emotion folgt" (ebd. 173). Dass ich mich freue, kann weder der Andere anhand meines Gesichtsausdrucks erkennen, noch kann ich selbst durch Introspektion eindeutig meine Emotion identifizieren (vgl. ebd. 185). Auf diesem Wege ist Verstandnis nicht zu erreichen. „Vielmehr ist Verstandnis eine relationale Errungenschaft, die auf koordinierten Handlungen beruht - insbesondere auf einer durch Tradition vorgegebenen Koordinierung" (ebd, 185). Demnach ist beispielsweise meine Freude nicht wie ein Objekt wahrzunehmen und zu identifizieren, weder von mir selbst noch vom Anderen. Die Schlussfolgerung des Anderen, dass ich mich freue, geschieht aufgrund der Teilhabe an einer Kultur, „in der ,Freude' als durch Lacheln belegt angenommen wird. [...] In der westlichen Kultur ist es angemessen, auf ein Lacheln mit einem eigenen Lacheln zu reagieren und vielleicht die Gefiihle des anderen zu kommentieren" (ebd.). Wir sind beide Teilhaber der gleichen Kultur, kennen damit die Regeln des gemeinsamen Sprachspiels, die durch Tradition entstanden ist. „Wollen wir gemeinsam Bedeutung generieren, miissen wir 44
wirksame Interaktionsmuster entwickeln - ein Tanz, bei dem wir uns harmonisch zusammen bewegen" (ebd. 201). Wenn der Andere meiner Handlung, in diesem Fall meinem Lacheln, nichts hinzufugt, so meint Gergen, dann bedeutet sie auch nichts. Der Andere hingegen erlangt durch die von mir initiierte Handlung die Fahigkeit, Bedeutung zu erzeugen (vgl. ebd. 183f). Bedeutung ist daher „eine aus koordinierten Handlungen hervorgehende Eigenschaft" (ebd. 183, imOrig. hvgh.). Emotionen sind fur Gergen nicht die inneren Bedingungen fur auBeres Verhalten, sondern stellen eine „Performance" dar, eine Reaktion auf die reale oder auch phantasierte Reaktion des Anderen. Sie sind daher nicht „ privat", sondern immer Beziehungsmomente. Freude, Arger oder Depression sind nicht jeweils „meine" oder „deine", sondern immer die „unsrigen". „Ein Individuum ,vollzieht Depression' bzw. fuhrt Depression auf als kulturell verstehbare Handlung innerhalb eines Kontexts von Beziehungen. [...] In positiver Hinsicht deutet die relational Orientierung darauf hin, dass all unsere Freuden - Gerliche, Geschmack, Farben, Erotik usw. - nicht das Resultat individueller Biologic sind. Vielmehr verdanken wir all diese Geniisse dem Umstand, in Beziehungen eingebettet zu sein" (ebd. 174). Den Anderen zu beschreiben heifit zugleich auch uns selbst auszudrticken (vgl. ebd. 138). Wir haben in unserer Sozialisation gelemt, in bestimmter Weise auf die AuBerungen des Anderen zu reagieren, allerdings, so stellt Jacob richtig fest, sagt Gergen nicht, „wie und warum sich die Beteiligten in der Interaktion ftir eine bestimmte Reaktion entscheiden" (Jacob 2004, 171). Wie erklart sich Gergen nun Missverstandnisse oder das Unvermogen, jemanden zu verstehen? Entgegen der landlaufigen Auffassung liegt das seiner Meinung nach aber nicht an einem fehlenden Einblick in das Innere des Anderen, sondern an dem „Bruch mit dem gemeinsamen Beziehungsszenario. Gegenseitiges Verstandnis ist somit vergleichbar mit einem gemeinsamen Tanz, in dem alle Bewegungen aufeinander abgestimmt sind und als zulassig gelten" (Gergen 2002, 185). Damit sind bestimmte Beziehungsmuster festgelegt, und die Abweichungen davon werden als Storungen erlebt (vgl. ebd. 108). Gergen unterscheidet ferner zwischen dem Dialog im Sinne von Diskussionen, die der gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit und deren Institutionalisierung dient, und dem Dialog als einem „transformativen Medium". Mit letzterem meint er „spezielle(..) Arten von Beziehungen, in denen Veranderung, Wachstum und neue Einsichten gefordert werden" (ebd. 186). Da Bedeutungen in einem Kommunikationsprozess nie starr festgelegt sind, besteht im Streitfalle „die Moglichkeit zu einem neuen Vokabular, durch das die Form und Richtung des Gesprachs verandert werden kann" (ebd. 198). Indem wir die Sprache andem, andert sich auch die Beziehung. Gergen spricht von „Kokonstitution", in der die Gesprachsbeitrage aller in irgendeiner Weise auf die anderer Personen abgestimmt sind. Wir soUen uns selbst im Anderen sehen, Handlungen setzen, die Vorangegangenes aufnimmt, z.B. durch die Ubemahme des Tonfalls oder Anpassung der Kleidung. Ziel ist die Wiederherstellung der Harmonic durch „sprachliche Abschattung". „Alles, was gesagt wird, konnte auch anders sein und mittels einer angemessenen Abschattung in einen Zustand iiberfuhrt werden, der der zuvor abge45
lehnten Position ahnelt" (ebd. 203). Sprachliche Abschattung meint das Ersetzen eines Wortes durch ein ahnliches anderes. „Das Potenzial der Abschattung ist enorm, da jedes Ersetzen eines Wortes zu einer Vielzahl neuer Assoziationen und Bedeutimgen und zu neuen Moglichkeiten der Gesprachsfortsetzung fuhrt" (ebd. 202). Gergen veranschaulicht diese Vorgangsweise anhand der Schuldzuweisung innerhalb einer Kommunikation, die er als Beispiel fiir eine Unterminierung des transformativen Dialogs anfiihrt. Durch die gegenseitige individuelle Schuldzuweisung entfremden wir uns voneinander und konstituieren uns wechselseitig als Gegner. Dies ware jedoch anders, wenn wir uns nicht als Individuen, sondem nur als Vertreter bestimmter Gruppierungen betrachten wiirden. Der Hinweis auf Gruppenunterschiede konnte die gewohnte individuelle Schuldzuweisung vermeiden (vgl. ebd. 196ff), die er als einen Angriff auf das „Kemselbst" versteht, ,jenes ,Ich', das um jeden Preis verteidigt werden muss" (ebd. 196). In einer solchen Situation konnte ich eine andere Stimme in mir finden, die an meiner Stelle spricht, z.B. „du horst dich an wie dein Vater". „Auf diese Weise teilen Sie mir Ihr Unbehagen mit, ermoglichen mir jedoch gleichzeitig, meine Handlung als etwas anderes als ,ich selbst' zu bewerten. Das, was wir fiir das ,Kemselbst' halten, wird hierbei nicht angegriffen. [...] Vielmehr konstruieren Sie mich als jemanden, der in seinem Repertoire iiber viele andere Personen verfiigt. Diese sind es, die meine gegenwartigen problematischen Handlungen steuem" (ebd. 197f). Hier spricht Gergen, im Gegensatz zu oben, von einem Kemselbst, das in keinem Fall vom Anderen angegriffen werden darf, weil es uns jeweils im Innersten ausmacht und worin wir uns wesentlich voneinander unterscheiden. Die Konfrontation zwischen dem Einen und dem Anderen auf der Ebene dieses Kemselbst muss vermieden werden, am besten dadurch, dass ich mich dem Anderen als Mitglied einer bestimmten Gruppe prasentiere und gerade nicht als ich selbst, und umgekehrt sollte ich den Anderen auch nicht als ihn selbst ansprechen, sondem gewissermafien indirekt, auf Umwegen. Die direkte Begegnung zwischen dem Einen und dem Anderen, zwischen mir und dir, muss nach Gergen vermieden werden, denn diese Individualitat ist es, die uns voneinander trennt. Andererseits ist es aber doch wichtig, das man sich selbst ausdriicken kann. „Fur einen erfolgreichen Dialog ist es daher entscheidend, dass der Andere versteht, wer wir sind und welche Werte wir vertreten. AuBerdem darf die andere Person nicht die Verstandlichkeit des von uns Gesagten anzweifeln. Sie muss zuhoren und verstehen" (ebd. 199). Es ist wichtig, die eigenen Geftihle auszudriicken, aber auch, vom Anderen gewtirdigt und akzeptiert zu werden. „Wenn Sie nicht anerkennen, was ich sage, oder ich den Eindmck gewinne, Sie wiirden meine Geschichte missverstehen, habe ich nicht wirklich etwas ausgedriickt. [...] Zweifeln Sie derartige Aussagen an, stellen Sie meine Identitat in Frage. AuBem Sie dagegen Anerkennung, zeigen Sie mir Ihre Wertschatzung der Bedeutsamkeit meiner Subjektivitat" (ebd. 200). Die Beteiligten sollten personlich und nicht abstrakt sprechen, leicht verstandlich. Dann horen die Zuhorer besser zu; das fiihrt zu allgemeiner Akzeptanz.
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Auch beim Thema „Kommunikation" bleiben Gergens Aufierungen widerspriichlich. Es bleibt fur ihn die Frage, „wie konnten wir als unwissende Sauglinge die Worter und das Verhalten unserer Eltem verstehen" (ebd. 162). Einerseits gesteht er einen „sprachlichen Reduktionismus" ein, weil er selbst den gesamten Bereich der nonverbalen Kommunikation praktisch ignoriert hat. Andererseits glaubt er, dass er durch eine Anderung der Wortwahl auch die Kommunikation wesentlich verandem kann. Zudem vemeint er Forschungsergebnisse der Humanethologie, wonach die Basisaffekte ubiquitar vorkommen (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1984; vgl. unten Kap. 5). Wenn der Andere innerhalb eines Szenarios nicht auf mich reagiert, dann bedeutet das von mir Gesagte auch nichts, d.h. anders formuliert, dass Gergen, im Gegensatz zu Watzlawick et al. (1990), annimmt, dass wir durchaus nicht kommunizieren konnen. Verstandigung erreichen wir vor allem innerhalb traditionell koordinierter Handlungen, d.h. wenn wir uns an tradierte Kommunikationsregeln halten. Das oben schon als widerspriichlich gezeigte Verhaltnis zwischen dem Einen und dem Anderen setzt sich auch in seinem Kommunikationsverstandnis fort. Einerseits ist es wichtig, dass ich mich selbst ausdriicken kann und dass das jeweilige individuelle Kemselbst gewiirdigt und akzeptiert wird, andererseits sollte es am besten als Teil einer Gruppierung unsichtbar werden. In diesem Widerspruch zeigt sich noch einmal der oben schon diskutierte Umgang Gergens mit der Dichotomic. Auf der einen Seite soil das Individuum in guter amerikanischer Tradition sichtbar und gewtirdigt werden, andererseits sollte es in einer gelungenen Kommunikation gar nicht sichtbar werden und hinter der Gruppe verschwinden. Die Empfehlung, sich an tradierte Handlungskoordinierung zu halten, bedeutet ebenfalls, sich hinter der Gruppe zu verstecken und auf sicheren Pfaden zu kommunizieren. Wie kann der Einzelne zugleich personlich und im Namen einer Gruppierung kommunizieren? Als Fazit lasst sich zur Konzeption von Gergen sagen, dass er, wie Moscovici, die Grundprobleme der sich naturwissenschaftlich verstehenden Sozialpsychologie erkannt hat, vor allem auch das Fehlen eines adaquaten Sozialitatsbegriffs. Es gelingt ihm jedoch nicht, die in der bisherigen sozialpsychologischen Forschung sichtbar gewordene Dichotomic durch einen ontologisch fundierten Relationalitatsbegriff zu bewaltigen. Wissenschaftstheoretisch gesehen hat er sich mit seinem relativistischen Standpunkt in eine Sackgasse manovriert, die Handlungsunfahigkeit zur Folge hat. Er lasst keinen Zweifel daran, dass er Beziehung und eine bestimmte Form von Kommunikation fur wesentlich halt, kann diese Uberzeugung aber, mangels Begrlindung, nur als Appell formulieren, gefolgt von konkreten Ratschlagen fiir gelingende Kommunikation. Wissenschaftlich kann eine solche Ansammlung von Widerspriichen nicht uberzeugen. Zugute zu halten ist Moscovici wie Gergen, dass sie sich um einen alternativen Ansatz bemuht haben, aber auch fiir sie trifft moglicherweise Kruglanskis Vermutung zu, dass es an Know-how der Theorienbildung fehlt, die vor allem in der mangelnden Differenzierung zwischen Phanomen, Menschenmodell und Theorie sichtbar wird.
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2.2.3 Zusammenfassung und Reflexion: Konsequenzen der Individuumszentriertheit Unsere alltagliche Erfahrung der zwischenmenschlichen Kommunikation erweist sich letztlich immer als ambivalent: sie gelingt oder misslingt, und wenn sie misslingt, dann macht uns das Leiden. An zwischenmenschlicher Kommunikation sind immer zumindest zwei Personen beteiligt. Von daher ist sie immer auch ein „soziales" Ereignis. Dies zeigen sowohl die Etymologie des Begriffs „Kommunikation" als auch der Blick auf verschiedene Kommunikationsstorungen. Face-to-face-Kommunikation ist dadurch gekennzeichnet, dass zwei Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort miteinander uneingeschrankt mit alien Sinnen wahmehmen und aufeinander reagieren. Sie ist daher die Urform, der gegeniiber alien anderen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation, in unterschiedlichen Graden, bloBe Derivate sind. Zugleich ist sie der Ort, an dem sich Sozialitat in urspriinglicher Weise ereignet. Zwischenmenschliche Kommunikation zeigt sich ubiquitar und prozesshaft iiber die Lebensspanne hinweg, was z.B. die Frage aufwirft, wann die menschliche Kommunikationsfahigkeit ontogenetisch beginnt und wann sie endet. Der Mensch als soziales Wesen ist grundlegend ein immer schon Kommunizierender. Daher verlangt die Klarung zwischenmenschlicher Kommunikation in eins zugleich auch eine Klarung dessen, was die Existenz des Anderen fiir den Einen, was also die soziale Dimension bedeutet. Daher wird in einem zweiten Schritt nach dem Begriff des Sozialen, nach dem Verstandnis von Sozialitat in der Sozialpsychologie gefragt, die sich dafur scheinbar in besonderer Weise anbietet. Welches Losungspotenzial hat sie fiir die anstehende Frage anzubieten? Das Verstehen eines Phanomens wie die zwischenmenschliche Kommunikation erfordert ein adaquates Menschenmodell und eine darauf basierende Theorie. Das Menschenmodell ist jenes Organisationsprinzip, dass die empirischen Gegebenheiten einander widerspruchsfrei zuordnet. Menschenmodell, Theorie, Phanomen, Interventionen und eine alles fundierende Weltanschauung sind dabei auf das engste miteinander verkniipft. Nur dann ist es auch moglich, in Begrtindung dessen, was gelingende bzw. misslingende Kommunikation phanomenal ist und was sie fur die menschliche Existenz bedeutet, entsprechende Interventionen zur Veranderung einer Kommunikation einzusetzen. Die Unlosbarkeit dieses Zusammenhangs heiBt dann z.B., dass wir bestimmte Interventionsmethoden, etwa in der Psychotherapie oder Personalentwicklung, auf die ihnen impliziten Theorien und Menschenmodelle befragen konnen. Die seit Jahrzehnten wiederholte Kritik an der Psychologic bzw. Sozialpsychologie lautet: einerseits besteht eine Inflation von kleinen Theorien sowie ein Primat der Methodologie, andererseits aber ein Defizit an umfassenden Theorien. Wesentliche Dimensionen sind aus der Forschung ausgeblendet worden, es gibt keine einheitlichen Grundkategorien, die zwischen den Einzeltheorien und empirischen Ergebnissen vermitteln konnten. Das Selbstverstandnis der Psychologic als experimenteller Einzelwissenschaft, die Ausblendung philosophischer, anthropologischer und geistesgeschichtlicher Fragen, in eins mit einem Mangel an Know-how hinsichtlich von Theorienbildung iiberhaupt, haben dazu gefiihrt, dass die traditionelle Psychologic ihren Gegenstand wesentlich einseitig, systematisch verkiirzt und nur bruchstlickhaft 48
erfasst hat. Der Mangel an umfassenden Theorien betrifft insbesondere die Theorie des Sozialen, also den Gegenstand der Sozialpsychologie im Kern. Die Modellierung der sozialen Dimension im Rahmen (sozial-)psychologischer Theorienbildung ist zur Ganze eine individuumszentrierte, d.h. eine soziale Situation besteht dort, naiv-empiristisch, aus der Addition von individuellen Verhaltensweisen. Es bleibt damit unklar, ob aus sozialpsychologischer Sicht der Andere eher ein Hindemis oder eine Forderung der Entfaltung des Einen bedeutet, ob er ambivalent oder letztlich als gleichgultig anzusehen ist. Individuation und Sozialisation stehen theoretisch unverbunden nebeneinander. Einerseits wiederholt die Sozialpsychologie die Kritik an ihrer Profession ritualmafiig mit den immer gleichen Argumenten, andererseits wird gerade auf die Kritik an ihren erkenntnisund wissenschaftstheoretischen Defiziten, an der Unkenntnis und Geringschatzung wissenschaftlicher Theoriebildung nicht reagiert bzw. alternative Ansatze mehr oder weniger ignoriert.^^ Beispielhaft zeigt sich das an den Ansatzen von Moscovici und Gergen. Sie haben versucht, sowohl die theoretischen Defizite aufzuzeigen als auch sie in eigenen Ansatzen zu bewaltigen. Sie wollten das Soziale verstehen als etwas, das jenseits von Individualismus bzw. sozialem Determinismus angesiedelt ist. Es bleibt ein Verdienst beider Autoren, die Defizite nicht nur deutlich benannt, sondem auch an ihrer Reduktion gearbeitet zu haben. Als Ergebnis zeigt sich allerdings, dass Moscovici die Individuumszentriertheit nicht iiberwinden kaim, wahrend Gergen zwischen beiden Positionen dieser Dichotomic oszilliert und damit etliche Widerspriiche aufweist. Beide sind gescheitert, nicht zuletzt an einer unzureichenden Beherrschung der philosophischen Mittel, wie sich vor allem bei Gergen zeigt. Relationalitat, die Beziehung zwischen dem Einen und dem Anderen muss, im Blick auf das Phanomen, modellhaft in seiner Dynamik erfasst werden. Ein Blick in die abendlandische Geistesgeschichte zeigt, dass die Frage nach diesem Verhaltnis schon eine sehr alte ist, die auch im Rahmen der Philosophic und, das wird auf den ersten Blick verwundem, der christlichen Theologie, seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert wurde.
Das neue „Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie", herausgegeben von Bierhoff & Prey (2006), bietet, so meinen die Herausgeber, „einen guten Uberblick Uber den neuesten Stand der Grundlagenforschung als auch iiber die angewandte Forschung" (Bierhoff & Frey 2006, 14). Doch schon die Titel der einzelnen Telle lassen die traditionelle individuumszentrierte Ausrichtung der Sozialpsychologie wieder deutlich erkennen: „Selbst und PersSnlichkeit" (Teil I), „Soziale Motive" (Teil II), „Soziale Kognitionen" (Teil III), „Soziale Emotionen und Einstellungen" (Teil IV), „Soziale Interaktion und Kommunikation" (Teil V) und „Soziale Gruppenprozesse" (Teil VI). Der Begriff „Sozialitat" erscheint nicht einmal im Index, d.h. eine theoretische Auseinandersetzung urn ein adaquates Verstandnis von „Sozialitat" hat, soweit ich sehe, in diesem „Grundlagenwerk" keinen Platz gefunden. Dem AuBenstehenden bleibt nur die Spekulation iiber die moglichen Griinde einer solchen Jahrzehnte alten Theorieresistenz, zumal es ja in Bezug auf das Verstandnis von Sozialitat urn einen Kembegriff der Sozialpsychologie geht. Eine solche Reflexion muss jedoch andemorts geschehen. 49
3 Absolutes Subjekt und Relationalitat Dem Blick in die abendlandische Geistesgeschichte zeigt sich, dass sich schon sehr friih zwei gegenlaufige Theorietraditionen unverbunden gegeniiberstehen, das Verstandnis von „persona" als eine absolute und autonome einerseits und die Annahme ihrer grundlegend relationalen Bestimmtheit andererseits. In einem ersten Schritt geht es nun darum, den Entstehungskontext und die Entwicklung dieser beiden gegenlaufigen Positionen an der Schnittstelle von Spatantike und Fnihrnittelalter herauszuarbeiten, um dann den Versuch Kegels, beide Positionen zu vereinen, nachzuzeichnen. SchlieBlich erfahrt dieser Diskurs einen neuerlichen Kulminationspunkt in der Kontroverse zwischen dem Intersubjektivitatsbegriff der Transzendentalphilosophie und dem relationalen Ansatz der Dialogphilosphie. An dieser Vorgehensweise wird deutlich, dass das Interesse nicht auf eine vollstandige Darstellung aller Ansatze zu dieser Thematik, also historisch ausgerichtet ist. Vielmehr geht es darum, anhand der Kulminationspunkte dieses Diskurses die entscheidenden Argumentationsfiguren sichtbar zu machen.
3.1 Etymologic und Sprachgebrauch von „persona" Fuhrmann berichtet, dass das lateinische Wort „persona" zunachst „Maske", dann aber auch „Rolle", „Charakter" wie auch „Person" bedeutete. Etymologisch wurde es schon „in der Antike von „personare" = durchtonen abgeleitet, wobei man sich auf die akustische Wirkung des Sprechens durch die Schauspielermaske berief (Fuhrmann 1989, 269). So plausibel diese schon bei Gellius im 2. Jhdt. erwahnte Etymologic auch erscheinen mag (vgl. Hilberath 1986, 84), ist sie doch sprachwissenschaftlich nicht haltbar. Unsicher ist auch die Ableitung vom griechischen prosopon, d.h. „Gesicht", „Maske", spater auch „Person", iiber das etruskische phersu, d.h. „Maske", „Schauspieler", hin zu persona (vgl. Fuhrmann 1979, 269; Rheinfelder 1928). GleichermaBen abzulehnen ist sowohl die Ableitung von „per se una" (durch sich eines), wie z.B. bei Godescalc von Orbais (9. Jhdt), Abaelard, Alanus ab Insulis, Simon von Toumai, als auch „per se sonans" (durch sich selbst tonend) bei Remigius von Auxerre (vgl. Kible 1989, 283). Wenn es daher um die Bedeutung des Wortes „persona" geht, spricht Fuhrmann (1979, Anm. 4) von einer schon „beruchtigte(n) Etymologic". Aus der Grundbedeutung „Maske" folgten im allgemeinen Sprachgebrauch zum einen die Bedeutungen der Theaterrolle des Schauspielers, wie seit Plautus und Terenz belegt ist, zum anderen auch die der Rolle, die ein Mensch im sozialen Kontext spielt, wie sie seit Cicero nachgewiesen ist. Letztere konnten auch schon die metaphorische Bedeutung von „image" Oder „Heuchelei" haben (vgl. Fuhrmann 1989, 269ff). In der Gesellschaft gab es verschiedene dem Theater sehr ahnliche Bereiche wie z.B. das Gerichtswesen mit den RoUen des Klagers, des Beklagten und des Richters, die Beamtenhierarchie mit den RoUen des Senators, Prators oder Konsuls, die standische Gliederung der Gesellschaft, in der jeder seine Stellung im Rahmen des Ganzen zugewiesen bekam, sowie die Familie (vgl. Fuhrmann 1979, 88). „Per51
sona deutet immer auf etwas Typisches, auf einen typischen Standort innerhalb eines vorgegebenen Systems" (ebd. 91) hin, also auf den Trager einer sozialen Rolle. Daher sind Bedeutungen im Sinne von „Individualitat" oder „Personlichkeit" als Kern des Menschen, wie sie etwa im Georges oder bei Rheinfelder (1928) angefuhrt werden, fiir Fuhrmann „Ruckprojektionen eines Personbegriffs", der sich erst im Rahmen der christlichen Tradition und der neuzeitlichen Philosophie entwickelt hat (vgl. Fuhrmann 1979, 84). In der Antike hingegen ist die damit gemeinte Identitat „offensichtlich keine subjektive oder individualistische Kategorie, keine Einheit des Erlebens und Bewusstseins; sie ist vielmehr eine vom ,Stellenplan' der Gesellschaft aus betrachtete Grol3e, eine konventionelle Gegebenheit, kurz, die perpetuierte soziale Rolle" (Fuhrmann 1989, 271). Im Rahmen der antiken Fachwissenschaflen zeigt sich „persona" auch als ein terminus technicus in der Grammatik."^ Juristen wie Rhetoriker hingegen verwendeten „persona" als eine allgemeine Kategorie im Sinne von statistisch erfassbarem und beschreibbarem „menschlichen Sein" (vgl. Hilberath 1986, 88) vor allem „zu klassifikatorischen und didaktischen Zwecken" (Fuhrmann 1979, 95f), und weniger als strenge termini technici. Hier sieht Fuhrmann durchaus einen wechselseitigen Einfluss zwischen Fachdisziplin und allgemeinem Sprachgebrauch. Im romischen Recht wird persona relativ spat gebraucht und zwar „als allgemeine Bezeichnung fiir beliebige menschliche Individuen, auch fiir Sklaven" (Fuhrmann 1989, 273). Auch im Mittelalter ist es verbreiteter Ausdruck fur den einzelnen Menschen (vgl. Fuhrmann 1979, 106). Der antike Theologe Tertullian kennt „persona" noch in der Bedeutung von „Rolle" (vgl. ebd. 104). Aber schon in der Spatantike geriet diese Bedeutung zusehends in Vergessenheit und „uberdauerte nur noch als gelehrte Reminiszenz. [...] Fiir die Bedeutung ,Rolle' erfand man ein Derivat von persona: personaticum/personagium - personnage - personaggio" (ebd. 105). In der Aufklarung entschwindet der Bezug zur Transzendenz, die Person wird als jemand gesehen, der ganz auf sich selbst gestellt ist. Dabei bleibt aber die Kembedeutung des Begriffes erhalten. „Diese Entwicklung erreichte mit den Defmitionen Kants - der Mensch als Person, d.h. als seiner selbst bewusstes und freies Wesen, als ,Zweck an sich selbst'^^ - ihren Hohepunkt, und seither voUzieht sich alle philosophische Reflexion iiber die Person im Horizont des Idealismus" (ebd. 106).
^^ „Dort pflegte man nicht nur die drei prosopa-personae (,Sprecherrollen') des Verbs zu unterscheiden; man war auch bemiiht, in literarischen Dialogen (im Epos, im Drama) die jeweils redende Person ausfmdig zu machen, wobei man sich von der Perspektive leiten liel5, aus der der jeweilige Text gesprochen zu sein schien, und die Schulphilosophie suchte in entsprechender Weise bei den platonischen Dialogen zu bestimmen, ob eine Figur im Sinne Platons rede oder nicht" (Fuhrmann 1989, 275). " Vgl. Kant (1869) Anthropologic in pragmatischer Hinsicht, 11; KrpV 10If.
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3.2 Die antike und mittelalterliche Trinitatstheologie 3.2.1
Grundfrage und Denkrahmen
Christliche Theologie ist der Versuch, die als geoffenbart geglaubten Aussagen in heiligen Schriften, in diesem Fall vor allem des Neuen Testamentes (NT), systematisch in ihrem Gehalt zu verstehen. Die im NT zusammengefassten Schriften sind im Original griechisch geschrieben. Die nachfolgende theologische Reflexion erfolgte in der Ostkirche in griechisch, bei den westlichen Theologen in lateinisch. Dies hatte zur Folge, dass auch die Terminologie untereinander abgestimmt werden musste, d.h. es musste geklart werden, welcher griechische Terminus mit welchem lateinischen Ausdruck tibersetzt wird. Der Denkrahmen, innerhalb dessen diese Reflexion stattfand, war die klassische griechische Philosophic, wie sie im Wesentlichen von Aristoteles begrundet wurde. Zwei Themenbereiche standen in den ersten theologischen Reflexionen im Vordergrund. Zum einen ging es um die Frage nach der Trinitat Gottes, also darum, wie denn dieser Gott, tiber den die biblischen Aussagen als Vater, Sohn und HI. Geist reden, genauer zu verstehen sei. Die zweite groBe Auseinandersetzung war cine christologische, namlich die Frage nach den zwei Naturen von Jesus, die Uberzeugung, dass er zugleich ganz Gott und ganz Mensch sei. Wie war die Einheit von Gott und Mensch in einem Wesen zu verstehen? Beide Fragen betrafen „eine Antinomic, ein Spannungsverhaltnis (einer Dreiheit zur Einheit bei der Trinitat, einer Zweiheit zur Einheit bei Christus), und man bedurfte einer hinlanglich differenzierten Terminologie, um die verschiedenen Wesenheiten zu klassifizieren, die sich in bestimmter Weise zueinander verhalten sollten, die sich teils voneinander unterschieden, teils durch Gemeinsames miteinander verbunden waren" (Fuhrmann 1989, 277). Nur in diesem Kontext wurde auch tiber den Menschen nachgedacht. FUr die Reflexion dieser beiden Themenbereiche, zunachst der Trinitatstheologie, im 5. und 6. Jhdt auch der Christologie, wurde der Personbegriff ausdriicklich reflektiert verwendet, wobei im Folgenden der Akzent auf der Trinitatstheologie liegen wird. 3.2.2
Substanz, Akzidens und Relation
Die erwahnte klassische griechische Philosophic lieferte den Denkrahmen wie auch die Terminologie fur die Trinitatsspekulation. Einige der Grundbegriffe sollen daher im Folgenden kurz erlautert werden. Ontologie betrachtet alles Seiende hinsichtlich seines Seins. Kategorien bzw. Praedikamente sind verschiedene Weisen des Aussagens von Sein, genauer gesagt sind es Oberbegriffe Oder Urbegriffe, die selbst nicht mehr unter andere Begriffe subsumiert werden konnen. Sie bilden die hochsten Gattungen, uber denen allein das Sein, selbst keine Gattung, steht. Die Kategorien haben an ihm als den ursprlinglichen Seinsbestimmungen teil. Weitere Urbestimmungen sind die Transzendentalien. „Die Kategorien nennt man Eigen-Bestimmungen, well sie verschiedene Ordnungen begrunden und jeweils das der betreffenden Ordnung Eige53
ne besagen, wahrend die Transzendentalien Gemein-Bestimmungen heifien, da sie alle Ordnungen gleichmaBig durchwalten und ihnen alien gemeinsam zukommen" (Lotz 1976, 192). Insofem werden sie auch als „uberkategorial" bezeichnet. Die Kategorien, bei Aristoteles sind es zehn, bilden ein Gesamt von hierarchisch geordneten Gattungen und Arten. Bekannt fiir die Kategorie „Substanz" ist ihre graphische Darstellung in der Arbor Porphyriana. Die Substanz (lat. substantia, griech. hypostasis, hypokeimenon, ousia) ist nach Aristoteles die eigentliche Grundkategorie (vgl. Metaphysik VII.l). Sie ist das zugrunde Liegende, das in alien Erscheinungen Bleibende. Kennzeichnend fiir sie ist ihre Subsistenz, ihr Selbststand; sie hat also ihr Sein in sich, nicht in einem andem. Sie ist In- und Fur-sich-Sein. In der Neuzeit, bei Descartes und Spinoza, wird der Selbststand mit absoluter Unabhangigkeit gleichgesetzt. Jeder endlichen Substanz kommen immer akzidentelle Bestimmungen zu. Akzidentien bestimmen die Substanz naherhin, sind Eigenschaften der Substanz, absolut wie z.B. Quantitat Oder Qualitat, oder relativ, wie z.B. Zeit- und Ortsbestimmungen (vgl. Santeler & Lotz 1976, 7). Die Substanz beharrt als dieselbe und nimmt nur wechselnde Eigenschaften an."^^ Fur Aristoteles' Ontologie haben die unpersonalen Dinge Pate gestanden (vgl. OeingHanhoff 1977, 401, Anm. 95), d.h. er hat die Seinsbestimmungen wesentlich am Materiellen vorgenommen. Etwas ist umso seiender und voUkommener, ,je mehr es abgeschlossen in und bei sich selbst ist" (Oeing-Hanhoff 1977, 406). Daher ist die Relation das Schwachste unter alien Akzidenzien (vgl. Rauscher 1962, 47), und das gilt auch fur die spatere scholastische Philosophic. Diese Vorgehensweise hatte entsprechende Folgen fiir die Reflexion des Personbereichs. In der antiken Philosophic wird die Person nie ausdrticklich reflektiert, „was bei der Ubemahme des Aristotelismus durch die Scholastik zu nie verstummenden Schwierigkeiten fiihrte" (Brunner 1982, 115). Die allgemeinen ontologischen Begriffe wurden also an der Materie unter Vemachlassigung des personalen Bereichs gebildet, was ihre Eignung fragwiirdig
3.2.3 Der Kampf um das Trinitatsverstandnis bei den Kirchenvatern Wie kann nun innerhalb des vorgegebenen Denkrahmens von der Einheit her die Unterschiedenheit ausgesagt werden, wie kann von der Unterscheidung der Personen her die Einheit ausgesagt werden? Wie kann zugleich von Gott Einheit, also Substantialitat, und personale
^^ Unterschieden wird bei Aristoteles die primare von der sekundaren Substanz. „Die erste ist das individuelle und von wirklichen Akzidentien bestimmte Wesen, das von keinem anderen ausgesagt werden kann (z.B. Sokrates)" [...], „die zweite ist das allgemeine, vom individuelien durch Abstraktion gewonnene Wesen, das von der ersten Substanz ausgesagt werden kann (z.B. Mensch)" (Santeler & Brugger 1976, 387). ^^ Die Ubemahme neuplatonischer wie aristotelischer Begrifflichkeit fiihrte dazu, „dass der menschliche Personbereich und die wesentlich dazu gehSrenden Wirklichkeiten wie Einmaligkeit, Verstehen, Glaube, Offenbarung, Gnade, nicht an der Erfahrungsgrundlage im menschlichen Bereich zur Ausdriicklichkeit gebracht und erhellt wurden; besonders wirkte sich der Einfluss des Aristotelismus dahin aus, dass der Bereich des Sachhaften in der Ausarbeitung der Metaphysik vorherrschend und der Personbereich spSter nur in der Theologie erortert wurde, wo er in den Traktaten tiber die Dreifaltigkeit und die Menschwerdung, also auf der Ebene des analog erkannten Absoluten, ausdrUcklich wurde" (Brunner 1982, 96).
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Pluralitat ausgesagt werden? Wie ist das Verhaltnis dieser drei Personen zueinander zu verstehen? Um die Antworten auf diese Fragestellungen ist in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten theologisch intensiv gerungen worden. Betrachtet man jene Aussagen, die damals auf verschiedenen Konzilien als haretisch verworfen wurden, und worauf sich dann insbesondere das Konzil von Nicaa 325 n.Chr. einigte, erhalt man zugleich einen Uberblick sowohl iiber die moglichen Varianten des Personverstandnisses wie zugleich auch uber das Verhaltnis der drei gottlichen Personen zueinander. Der sog. Modalismus, vertreten durch Sabellius und Praxeas, meinte, dass die drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist „nur verschiedene Namen fur die Wirkweisen des einpersonlichen Gottes sind, wie sie fur uns in zeitlicher Verschiedenheit (Schopfung, Menschwerdung, Heiligung) erscheinen" (Neuner & Roos 1971, 159). Eine Gegenreaktion darauf, aber gleichfalls als haretisch verurteilt, ist der Tritheismus, der von drei verschiedenen geistigen Aktzentren und damit drei verschiedenen Gottheiten in Gott ausgeht. Der sog. Arianismus leugnete die Wesensgleichheit des Vaters mit dem Sohn, der Macedonianismus sah den HI. Geist nur als Geschopf, und der Photianismus sah letzteren als ein Mittlerwesen zwischen Gott und Geschopf. Der Subordinatianismus wiederum nahm eine wesensmaBige und nicht nur freiwillige Unterordnung des Sohnes unter den Vater an, also keine Gleichheit der Personen, ebenso der Monarchianismus, der die Prioritat Gottvaters lehrte. Tertullian (ca. 160 - nach 220) fuhrte, insbesondere in seiner Schrift „Adversus Praxean", (vgl. Hilberath 1986) den Begriff „persona" in die lateinische Theologie ein. Fuhrmann nimmt an, dass er sich dabei auf den traditionellen romischen Rollenbegriff bezog, weil er den romischen Staat als Modell fur die Trinitat ansah (vgl. Fuhrmann 1989, 276f). „Una substantia, tres personae" lautete daher seine Definition der Trinitat. Im Westen iibersetzte man die griechischen Begriffe „ousia" wie „hypostasis" gleichermaBen mit „substantia", als das die drei Personen umgreifende Eine, und sah daher in der Ostkirche die Gefahr des Tritheismus, wahrend fur den Osten „persona" die Gefahr des Modalismus aufwies. Der Personbegriff stammt demnach aus zwei terminologischen Traditionen, namlich von „pros6pon" und von „hypostasis", die zueinander in Spannung blieben, bis Basilius von Casarea und Gregor von Nazianz ihre Gleichsetzung vollzogen (vgl. Werbick 1985, 193f). Die Unterscheidung zwischen „ousia" und „hypostasis" ermoglichte es, drei Personen in Gott zu denken, unbeschadet der Einheit. Wird zu sehr die Einheit, die Substanz betont, besteht die Gefahr, dass die Dreipersonlichkeit geleugnet wird, wird letztere zu sehr betont, besteht die Gefahr des Tritheismus. Man kann sagen, dass die griechische Theologie bei den gottlichen Personen, die lateinische bei der Substanz ansetzte, wobei man diese Einteilung aber nicht ganz starr sehen kann (vgl. Hilberath 1986, 97). Die neuplatonische Metaphysik betrachtete den gesamten Kosmos, in eins mit der hochsten Trias^^ als eine Hierarchic von Seinsqualitaten. Demgegentiber sahen sich die christlichen
Das Eine, der Nous und die Weltseele.
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Theologen zum Aufweis genotigt, dass alien drei gottlichen Wesen gleichermaBen die hochste Seinsstufe zukommt, dass also eine Aufwertung des Vaters gegeniiber dem Sohn und dem Heiligen Geist, ein Subordinatianismus, ein Irrtum sei (vgl. Fuhrmann 1989, 277). Die drei Kappadokier, Basilius von Casarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, bestimmten in der zweiten Halfte des 4. Jhdts. die Unterscheidung zwischen den drei gottlichen Personen insofem positiv, als sie annahmen, dass das je Eigene jeder Person gerade in ihren Relationen zu den beiden anderen Personen bestehe, was bei „Vater" und „Sohn" ja schon an den Benennungen zu erkennen sei. „Man veranschaulichte die aus den wechselseitigen Relationen resultierenden Besonderheiten der trinitarischen Personen durch allerlei Bilder: Vater, Sohn und Heiliger Geist sollten sich zueinander verhalten wie Sonne, Strahl und Glanz, Wurzel, Stamm und Frucht usw." (Fuhrmann 1989, 278). Die Unterscheidung zwischen Vater, Sohn und Geist kann demnach weder substanzieller noch nur akzidenteller Art sein, zugleich miissen aber die oben schon genannten Irrtiimer vermieden werden. Und so versucht Aurelius Augustinus (354-430) sie als Relation zu verstehen. Die Begriffe „Vater" und „Sohn" sind fiir Augustinus korrelativ, und der Geist ist sowohl jener des Vaters als auch des Sohnes. Allerdings enthalt „Person" fiir ihn keine Relation. Er sucht „nach einer bestimmten Relation mit gleichartigen Gliedem (wie Freund, Verwandter, Nachbar) und schliefit folgerichtig, dass mit ,Person' etwas derartiges nicht gemeint sein konne; er hatte anders gefragt und ware zu einem anderen Resultat gelangt, wenn er mit der Bedeutung ,Rolle' (= Teil oder Funktion eines Ganzen, das aus ungleichen Elementen besteht) gerechnet hatte" (Fuhrmann 1979, 103). Hilberath sieht bei Augustinus die Spannung zwischen einem absolut gebrauchten Personbegriff und einem Relationsdenken (vgl. Hilberath 1986, lOlff), meint aber, man konne bei Augustinus sehr wohl auch „persona" als Rollenbegriff antreffen, allerdings nur in einem „offenbar sehr abgeblassten Sinn. [...] So stehen bei Augustin absolut gefasster Personbegriff und Relationenlehre unverbunden nebeneinander. [...] Indem Augustin die Kategorie der Relation aus dem Bereich der Akzidentien des aristotelischen Kategorienschemas herausnehmen muss, um sie in der Trinitatstheologie anwenden zu konnen, tut er den ersten Schritt in Richtung einer vom christlichen Trinitatsdenken her inspirierten relationalen Ontologie" (Hilberath 1986, 104). 3.2.4 Boethius Im Zuge der spateren christologischen Diskussion, also der Frage nach der Einheit von Gott und Mensch in Christus, wie sie wesentlich im 5. und 6. Jhdt. stattfand, erstellte Boethius (480 - 524) die erste formelle Definition von „persona" (um 500) in seinem Traktat „Contra Eutychen et Nestorium": 'De duabus naturis' (Migne, PL [=Patrologia Latina] 64, 1343). „Persona est naturae rationalis individua substantia". Eine Person ist ein vemunftbegabtes unteilbares Wesen oder eine individuelle Substanz vemiinftiger Natur. Er spricht hier von drei Wesensmomenten der Person: Rationalitat, Individualitat und Substantialitat, Kemgedanken in der nachfolgenden scholastischen Philosophic, der philosophischen Reflexion mittelalterlicher Theologen. Dafiir hat sich Boethius allerdings nur noch an der Bedeutung ,Maske', aber 56
nicht mehr an ,Rolle' orientiert, denn Personen sind ebenso wie Masken an besonderen Merkmalen zu erkennen (vgl. Fuhrmann 1989, 280). Ftir Werbick hat Boethius eine „Substanzmetaphysik" betrieben, die seinen Personbegriff theologisch unbrauchbar machte, „weil sie die Spannung zwischen prosopon und hypostasis zugunsten des Hypostatischen (Substantiellen) aufloste und damit die RelationaUtat der Person aus dem Blick verlor" (Werbick 1985, 196; vgl. Hilberath 1986, 114). Mit Boethius ist die mittelalterliche Theologie in ein Substanzdenken hineingeraten. Sie betont nur noch den Selbststand der Person, kann aber ihre RelationaUtat nicht mehr fassen, d.h. „Relation" als eines der personalen Wesensmomente tritt in den Hintergrund. Eine weitere Schwache dieser Definition besteht fiir Kasper darin, „dass sie Personalitat als Individualitat zu verstehen scheint. Individualitat ist aber eine Was-Bestimmung und noch keine Wer-Bestimmung; sie ist eine naturhafte Pragung der Person, nicht diese selbst" (Kasper 1982, 342). Im Rahmen der trinitatstheologischen Diskussion erweist sich diese Definition daher als unbrauchbar bzw. unzulanglich (vgl. Schniertshauer 1996, 173; vgl. Hilberath 1986, 114). Boethius verbleibt mit dieser Definition im griechisch-antiken Substanzdenken, eine Denkweise, die sich nach ihm weiter verfolgen lasst. 3.2.5 Richard v. St. Victor 3.2.5.1 Caritas als hochste menschliche Erfahrung Richard v. St. Victor (fl 173) greift die Unzulanglichkeit der boethianischen Definition fiir die trinitatstheologische Diskussion auf und formuliert in seinem Traktat „De Trinitate"'^^ der sich in sechs Biicher und einen Prolog gliedert, eine Gegenposition. Er wendet sich nicht nur an die Fachtheologen seiner Zeit, sondem auch an den interessierten, entsprechend gebildeten Leser, der seinen Glauben an die Dreifaltigkeit auch vemiinftig nachvollziehen will (vgl. Ktihneweg 1987, 403). Richard ist also auf der Suche nach den rationes necessariae, nach den Vemunftgriinden fiir seinen Glauben, denn „was notwendigerweise existiert, muss auch mit zwingenden Griinden nachgewiesen werden konnen" (Ktihneweg 1987, 404). Richard beruft sich, wie schon sein Lehrer Hugo v. St. Viktor, immer wieder auf die (mit)menschliche Erfahrung, die ihm den Zugang zum Geheimnis Gottes ermoglicht.^^ Er versucht also von seiner Erfahrung mit anderen Menschen her Personalitat zu denken und mit dem Schriftzeugnis zu verbinden. „Die geschaffene Wirklichkeit ist Spiegel des Schopfers; ihre reflexe Erfahrung verhilft zu einem zuverlassigen Ausgangspunkt und Beobachtungspos-
^' Die folgenden Zitate aus dem III. Buch aus „De Trinitate" stammen aus der Ubersetzung von Hans Urs v. Balthasar vom 1980. Die romische Ziffer bezieht sich auf das jeweilige Kapitel. ^^ „Sehr bezeichnend ist auch, dass er, der sonst kaum die Schrift beizieht, sechsmai den Vers Rom 1,20 zitiert, wonach das Unsichtbare Gottes seit Weltschopfung vom menschlichen Verstand in den geschaffenen Dingen angeschaut wird, was doch heifit, dass durch den Spiegel der Welterfahrung hindurch eine Sicht auf Gottes Geheimnis sich eroffnet" (v. Balthasar 1980, 21).
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ten, von dem aus die Leiter (scala) der Erkenntnis bestiegen werden kann" (Hofmann 1984, 204).^^ Ausgangspunkt seiner Uberlegimgen ist die caritas als die hochste und schonste menschliche Erfahnmg, die als ein Gut von Gott in hochstem Mafie besessen wird.^"^ „Jeder befrage sich selbst; er wird ohne Zogem und Widersprechen finden, dass es nichts Besseres, aber auch nichts Seligeres gibt als die Liebe. Die Natur bringt uns das bei, und vielfache Erfahrung bestatigt das immer wieder" (Richard v. St. Victor 1980, III, 86). „Das eigentliche und unabdingbare Kennzeichen der Liebe aber ist, dass man von dem, den man sehr liebt, auch sehr geHebt werden will. So kann die Liebe nicht selig sein, wenn sie nicht gegenseitig ist. [...] In der gegenseitigen Liebe aber muss notwendig Einer sein, der die Liebe hinschenkt, und Einer, der sie zurlickschenkt. Einer muss der die Liebe Hinschenkende, ein anderer der sie Zuruckschenkende sein. Wo aber einer und ein anderer ist, herrscht echte Vielfalt. In der wahren Ftille der Freude kann diese Vielfalt der Personen nicht fehlen" (Richard v. St. Victor 1980, III, 87). Die wahre Liebe ist immer eine gegenseitige und erfordert daher eine Personmehrheit.^^ Vollkommene Liebe kann keine Selbstliebe (amor privatus) sein. Liebe im Sinne von caritas muss zum Anderen hinstreben, um eine solche zu sein. Es gibt keine caritas zu sich selbst (vgl. v. Balthasar 1980, 17). Auch wenn Richard durch andere zu diesem Gedanken angeregt wurde, so ist die logische Durchfuhrung des Gedankens „ohne Zweifel das geistige Eigentum Richards" (v. Balthasar 1980, 18). 3.2.5.2
Person als „existentia incommunicabilis"
In einem weiteren Schritt versucht Richard nun die Differenz zwischen Substanz und Person zu bestimmen. So zielt „animar' auch auf Substanz, meint naherhin aber, dass es eine sinnlich fiihlende ist. Beim Menschen als „animal rationale" kommt als spezifische Differenz noch die Rationalitat hinzu. „Bei der ,Person' ist eine Proprietat mitinbegriffen, die nur jeweils einem einzigen zukommt, d.h. eine individuelle, singulare und inkommunikable. Insofem differieren die Bedeutung von , Substanz' und ,Person' untereinander erheblich und besteht ein groBer Bedeutungsunterschied. Die beiden Termini beziehen sich auf klar unterschiedene Sachgehalte. Der Unterschied besteht darin, dass im menschlichen Personsein iiber das Sein als animal rationale und als substantia rationalis hinaus immer noch etwas anderes miterkannt wird (subintelligitur). Dieses Miterkannte bezeichnet Richard als eine ,gewisse Eigentumlichkeit, die nur je einem einzigen zukommt' oder - genauer formuliert - als die schon genannte ,proprietas individualis singularis, incommunicabilis' [Trin IV,6,169])"(Schniertshauer 1996, 164). ^^ Auch wenn er den Begriff nicht kannte, geht es um eine analogia entis, einem Verhaltnis zwischen zweien, wobei es sowohl um Ahnlichkeit als auch um Unahnlichkeit geht. Richard schlieBt von menschlichen Erfahrungen auf die innertrinitarische Kommunikation, natiirlich immer im Bewusstsein der je groBeren Unahnlichkeit, auf das Verhaltnis der Personen zueinander. ^"^ Schniertshauer weist darauf hin, dass das geistige Klima zur Zeit Richards „gerade durch eine neue Wertschatzung der Freundschaft und Liebe ausgezeichnet ist" (Schniertshauer 1996, 123). ^^ Ein Gedanke, der wohl durch Gregor den GroBen angeregt wurde, fur den der Begriff „caritas" von vomherein eine Personenpluralitat impliziert (vgl. Hofmann 1984, 198). 58
Damit ist Person immer etwas absolut Einmaliges, Individuelles. „Substanz" ist die Bezeichnung fiir ein „quid", und das meint etwas AUgemeines, wahrend sich „Person" auf ein „quis", und d.h. auf etwas Individuelles, Einmaliges und Unmitteilbares bezieht, auf etwas absolut Solitares. Diese Proprietat unterscheidet die Personen in je einmaliger Weise (vgl. Kible 1989, 285), und zwar nach Qualitat und Ursprung, den modus essendi und den modus obtinendi. Beide Momente glaubt Richard nun in eins mit dem Begriff „existentia" erfassen zu konnen „und dabei noch einen Nachteil des Substanzbegriffs zu vermeiden, namlich die Konnotation des , stare sub (accidentibus)', die fur den gottlichen Bereich unbedingt auszuschliefien ist. Das ,sistere' gilt fur geschaffene und fur ungeschaffene Personen und bezeichnet das Insichstehen, das im allgemeinen der Substanz zugeschrieben wird, das ,ex' bezieht sich auf die Frage nach dem Woher des Seins (,unde habeat esse' bzw. ,modus obtinentiae') und weist auf diesen Ursprung hin" (Kible 1989, 285f; vgl. Schniertshauer 1996, 168). „Ex-sistere heifit also: Aus einem anderen heraus in sich selbst sein, der Substanz nach aus einem anderen sein, meint damit die Verbindung von Selbststand und Relation" (Schniertshauer 1996, 168). Man hat das Sein zugleich in sich selbst und von woanders her. Im Begriff „existentia" gelingt Richard so die Verbindung zwischen Selbststand und Relation, wahrend „substantia" sich ja nur auf den Selbststand bezog. Richard akzeptiert von der boethianischen Definition so zwar die der Person zugeschriebene Rationalitat, nicht aber die ,individua substantia'. Wahrend Menschen, da sie voneinander abstammen, sich sowohl hinsichtlich ihrer Ursprungsrelation als auch nach der Qualitat unterscheiden, gilt dies fur die gottlichen Personen nur hinsichtlich ihrer Ursprungsrelation, aber nicht beziiglich ihrer Qualitat. Inkommunikabel, also in eigentumlicher Weise besitzend, ist fur die gottliche Natur die Ursprungsrelation (vgl. Kible 1989, 286). Die existentia incommunicabilis ist jene Existenz, die immer nur einer Person zukommen kann, eine unmitteilbare Eigenttimlichkeit, „die die Personen als Personen konstituieren" (Schniertshauer 1996, 170). Der Sohn ist nur ein solcher durch seine Beziehung zum Vater, der Vater wiederum ist dies nur in der Zeugung seines Sohnes (vgl. Pannenberg 1979, 410). Richard hat demnach die boethianische individua substantia um den Moment des Ursprungs, dem sich die Person verdankt, erganzt und begreift sie dann als existentia incommunicabilis, d.h. als je eigenen Daseinsvollzug, der sowohl durch Selbststandigkeit wie auch durch Relation zum Ursprung gekennzeichnet ist. „Fur Richard ist die Person also ,kein schlechthinniger Selbststand aufgrund eines Woher; Person ist Person durch Beziehung zum Ursprung'" (Dieckmann 1995, 12f). Die Person hat nach Richard gleichermaBen das Sein in sich selbst als auch von einem Ursprung auBerhalb ihrer selbst, Individualitat und Relationalitat sind gleichermaBen personkonstitutiv. Richard gelingt es so, „eine Personkonzeption entwerfen, welche die beiden scheinbar gegensatzlichen Aspekte des Personseins, individuelle Eigenttimlichkeit einerseits und relational Verbundenheit andererseits, in einer dialektischen Einheit aufhebt" (Radlbeck 1989, 189). Damit tiberwindet er die bisherigen Altemativen, entweder bei der Einheit oder bei der 59
Dreiheit ansetzen zu miissen (vgl. ebd.). Es bedeutet, „dass Richard ein Personverstandnis entwickelt, welches das Schriftzeugnis mit menschlicher Erfahning zu verbinden vermag und gerade deshalb nicht im Tritheismus endet, well es die gottUche Dreieinigkeit nicht von der Substanz her, sondem in (inter)personalen Kategorien denkt" (Hilberath 1986, 119). In der augustinischen Tradition wird die Verschiedenheit der Personen aus ihren Relationen begrundet, Richard begriindet sie von ihrem unterschiedlichen Ursprung her. 3.2.5.3 Condilectus: Die Notwendigkeit des Dritten Hatte Richard oben schon begriindet, dass Gott als vollkommene caritas die Pluralitat fordere, so begriindet er in einem weiteren Schritt die Notwendigkeit von drei Personen. Zunachst kommt Richard zu dem Schluss, dass das Wertvollste in der wahren Liebe nicht die gegenseitige Liebe ist, sondem der Wille, dass der Andere in gleicher Weise wie man selbst geliebt werde. Gerade das sei etwas sehr Seltenes und daher auch etwas ganz GroBartiges, „dass der, den du zuhochst liebst und der dich zuhochst liebt, einen anderen ebenso sehr liebe. Die Probe ftir die vollkommene Liebe ist somit der Wunsch, dass die einem zuteilgewordene Liebe weitervermittelt werde" (Richard v. St. Victor 1980, XI, 95f). Das Hochste ist also der Wille, dass die Liebe zwischen diesen beiden, dem Ersten und dem Zweiten^^, sich auch zwischen dem Zweiten und einem Dritten ereignen moge, einem condilectus. Wem das keine Freude ist, dessen Liebe ist auch noch nicht vollkommen, d.h. es ist ein Zeichen von Schwache, ein wirklicher Mangel der Liebe, wenn man den Dritten nicht zulassen, ihn nicht ertragen kann. Dann unterscheidet Richard dreierlei Intensitaten dieses Willens, einen Dritten zuzulassen. „Und wenn es etwas GroBes ist, ihn zuzulassen, so etwas GroBeres, ihn freudig willkommen zu heiBen, etwas GroBtes aber, ihn sehnsiichtig herbeizuwiinschen. GroB ist das erste Gut, groBer das zweite, am groBten das dritte" (ebd. 96). Erst der Dritte vollendet die Liebe der beiden. „Wir hatten oben zwei einander Liebende angenommen; nun zeigt sich, dass zur Vollendung ihrer Liebe aus der gleichen Uberlegung einer als Mitgenosse der beiden zuteilwerdenden Liebe erfordert wird. Denn wenn die beiden nicht woUten, was die vollkommene Giite erheischt, wo bliebe dann die Fulle des Guten? Und wenn sie wollten, was nicht zu verwirklichen ware, wo bliebe die Fiille der Macht? Hier nun zeigt sich ein offenbarer Vemunftgrund daftir, dass der wertvollste Grad der Liebe und damit auch die Fiille des Guten nur dort erreicht ist, wo kein Mangel an Wollen oder Konnen den Mitgenossen der Liebe, die Vergemeinsamung der vomehmsten Freude ausschlieBt. Die Hochstliebenden und Hochstgeliebten wollen also beide in gemeinsamem Wunsch einen mitliebend-Mitgeliebten, den sie wunschgemaB in Eintracht gemeinsam besitzen" (ebd. 96f). Richard spricht hier zunachst davon, dass das Nicht-ertragen-Konnen eines Dritten eine Schwache, ein Mangel sei. Der Wille zum condilectus zeige sich in einer dreistufigen Intensitat: Er unterscheidet graduell zwischen „ihn zulassen konnen", „ihn freudig willkommen hei' Richard redet zwar vom Dritten, aber nicht vom Ersten und Zweiten. Ich benutze diese Ausdriicke nur als Unterscheidung, nicht im Sinne einer Rangfolge. 60
Ben" und „ihn sehnsuchtig herbeiwiinschen". Was sich zunachst nur als eine Behauptung bei Richard zeigt, versucht er nun in einem weiteren Schritt auch zu begrlinden, indem er zeigt, dass die dyadische Liebe ohne die Mitliebe eines Dritten unvoUstandig ist, d.h. gar keine vollkommene Liebe sein kann. Zur vollkommenen Liebe gehort ein Dritter, dem diese Liebe mitgeteilt werden kann, andemfalls wird sie einsam erfahren (vgl. ebd. 100). „Wenn einer einem anderen Liebe schenkt, wenn ein Einsamer einen Einsamen liebt, dann ist zwar Liebe vorhanden, aber die Mitliebe fehlt. Wenn zwei sich gegenseitig gem haben, einander ihr Herz in hohem Sehnen schenken, und der Liebesstrom von diesem zu jenem flieBt, und gegenlaufig je auf Verschiedenes zielt, dann ist zwar auf beiden Seiten Liebe da, aber die MitHebe fehlt. Von Mitliebe kann erst dann gesprochen werden, wo von zweien ein dritter eintrachtig geliebt, in Gemeinsamkeit liebend umfangen wird und die Neigung der beiden in der Flamme der Liebe zum Dritten ununterschieden zusammenschlagt" (ebd. XIX, 104). Dieser Augenblick der innigsten und hochsten Mitliebe ist fur Richard „der Zusammenfluss der innersten GroBmut und der hochsten Eintracht" (ebd. 105). Diese Mitliebe verhindert zudem den Verfall der dyadischen Liebe, namlich ihr „Abgleiten in einsame AusschlieBlichkeit" (ebd. XX, 105). Sie ist gewissermaBen ihre sichere Fundierung. In dieser vollkommenen Liebe ist keiner groBer als der andere (vgl. ebd. XXI, 106). Zusammengefasst lauten Richards Argumente fur die Notwendigkeit eines condilectus folgendermaBen: Das GroBte und Wertvollste der wahren Liebe ist es, zu wunschen, dass der Andere so geliebt wird w^ie man selbst geliebt wird, und dass der Andere einen Dritten ebenso sehr liebe wie einen selbst. Er bezeichnet es als „vomehmste Freude", wenn sich die gegenseitige Liebe in dieser Weise erfiillt. Dass der Andere mit einem Dritten das gleiche erlebt wie der Eine mit ihm, sieht er als hochste Erfiillung ihrer Liebe an. Wo ein solcher „condilectus" nicht ertragen werden kann, ist die Liebe noch zu schwach. Die Erfiillung ihrer Liebe durch die Liebe zu einem Dritten kennt Steigerungsgrade. Einen condilectus zuzulassen ist etwas GroBes, groBer ist es, ihn freudig willkommen zu heiBen, am groBten allerdings ist es, ihn zu ersehnen. Das Ersehnen des condilectus ist also der wertvollste Grad der Liebe. Es ist Ausdruck dessen, dass es keinen „Mangel an Wollen und Konnen" gibt, durch den die „Vergemeinsamung der vomehmsten Freude" verhindert wlirde, namlich die Teilhabe eines condilectus an ihrer gemeinsamen Liebe. Die Unertraglichkeit eines condilectus ist ein groBer Mangel an Liebe, m.a.W. die Sehnsucht nach einem condilectus stellt ein Qualitatsmerkmal fur die Liebe zwischen zweien dar. Das Mitteilen-Wollen der eigenen Liebe, ihre Kommunikation, erfordert zur Vervollkommnung die Teilhabe durch einen Dritten. „Der wahrhaft und im hochsten Grad Liebende verlangt also nicht nur einen vmrdigen ,dilectus', sondem auch einen ,condilectus'" (Klihneweg 1987, 412). Er verhindert zudem ein „Nachlassen der Liebe", ein „Abgleiten in einsame AusschlieBlichkeit".
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3.3 Triadisch bestimmte Relationalitat: Erste Folgerungen An dieser Stelle soil in einer ersten Uberlegung Richards Argumentation hin zu einer triadisch bestimmten Relationalitat vertieft werden. Zunachst hat Richard die Person bestimmt als eine „existentia incommunicabilis", die sich zugleich durch Selbststandigkeit wie durch Relationalitat zum Ursprung in je einmaliger Weise auszeichnet. Die Caritas ist das Hochste, ist auBerstes Seinkonnen, und sie erfordert ihrer Natur nach eine andere Person. Die Liebe zu sich selbst bleibt dahinter weit zuriick. Diese Caritas erfiillt sich erst in der Gegenseitigkeit, einseitige Liebe ware nicht genug. Zwei je einzigartige Personen, zugleich bestimmt durch Selbststandigkeit und Relationalitat, machen eine Relation aus. So gesehen kann man auch sagen, dass die Grundbedingung fiir das Bestehen einer Relation die Verschiedenheit ihrer Relata ist (vgl. Henrich 1979, 618). Zwei identische Gegebenheiten konnen keine Relation bilden. Die Verschiedenheit der Personen ist daher eine Voraussetzung fur eine Relation. Damit ist eine dyadische Relation begrundet. Die Originalitat Richards zeigt sich neben seiner Persondefmition auch in seiner Argumentation der Notwendigkeit eines condilectus. Wahrend der Wert einer dyadischen Liebesbeziehung aus der menschlichen Erfahrung problemlos nachvollziehbar zu sein scheint, weiB Richard, dass dies in Bezug auf einen Dritten nicht der Fall ist. Im Gegenteil, der Dritte wird primar misstrauisch von den beiden Personen einer Dyade betrachtet. Potenziell gibt er Anlass zu Eifersucht und Rivalitat. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die Kommunikation zwischen dem Anderen und dem Dritten zwangslaufig ein Verlust fiir den Einen sein muss. Potenziell besteht die Gefahr, dass die Kommunikation zwischen dem Einen und dem Anderen endet, well der Andere und der Dritte nun eine Beziehung haben. Wo die Dyade exklusiv, als vollstandige Einheit betrachtet wird, bedeutet der Dritte notwendig die Gefahr der Zerstorung dieser Dyade. Deswegen ist es aus dieser Perspektive sozusagen menschlich und verstandlich, den Dritten von der Dyade femzuhalten. Richard weiB um diese menschlichen Angste und sagt daher auch gleich, dass es etwas ganz Seltenes sei, wenn der Eine wiinscht, dass der Andere von einem Dritten in gleicher Weise geliebt werden solle wie man selbst vom Anderen geliebt worden sei. Die eigene Liebe zum Anderen ist von daher noch nicht genug. Die liebende Kommunikation der beiden erfahrt erst ihre Vollendung, wenn sie offen ist fiir eine gleiche Beziehung zwischen dem Anderen und dem Dritten, was natiirlich auch aus der Sicht des Anderen fur den Einen gilt. Die wechselseitige Liebe zwischen dem Einen und dem Anderen erfahrt ihre Erfiillung erst durch die wechselseitige Liebe zwischen dem Anderen und einem Dritten. Die Erfullung besteht gerade in der Offenheit der Dyade fiir die Kommunikation mit einem Dritten. „Es geht also um die Weitervermittlung der einem zuteil gewordenen Liebe, um die rest- und vorbehaltslose Offenheit der Kommunikation, die sich erst dort vollendet, wo sich der Dialog noch einmal offnet und an diesem dialogischen Geschehen Anteil gibt" (Schniertshauer 1996, 133). Und es ist nicht nur eine Offenheit, ein Zulassen, sondern diese Kommunikation mit dem Dritten ist innigst zu wunschen, weil nur so der hochste Grad der Liebe erreicht werden kann. Der Eine 62
muss woUen, dass der Andere auch noch in gelingender Kommunikation mit einem Dritten steht, well erst dann ihre innerdyadische Kommunikation ihren hochsten Grad erreichen kann. Beide miissen dies gleichermaBen woUen. Die Kommunikation mit dem Dritten, die Offnung der dyadischen Kommunikation ftir die Kommunikation mit einem Dritten ist zugleich die Negation jeglichen Exklusivitatsanspruchs der Dyade gegeniiber anderen Dyaden. Eine Verabsolutierung der Dyade bedeutet zum einen den Ausschluss des Dritten, d.h. der Beziehung mit einem Dritten. Sie bedeutet zum anderen auch, dass die dyadische Beziehung die vollkommene Erfiillung fiir beide darstellt, der eine weitere Beziehung nichts mehr hinzufugen kann. Beide sind einander alles. Eine exklusive Dyade, die als solche nicht offen ist fiir die Kommunikation mit einem Dritten, ist immer vom Verfall bedroht. „Eine Liebe, die ihr Gentigen in bloBer Gegenseitigkeit fande, vollzoge sich als gleichsam gedoppelter Egoismus und als eine subtilere Form des amor privatus, wenn sie die Weitervermittlung der Liebe in rest- und vorbehaltloser Offenheit ihrer communication nicht wunschte" (Hofmann 1984, 218). Nach v. Balthasar hangt der dyadischen Liebe immer noch etwas „verborgen-egoistisches" (vgl. v. Balthasar 1980, 119) an, und es sei Richards Intention gewesen, diesen Aspekt zu verdeutlichen. In der Verschlossenheit gegeniiber dem Dritten besteht die Gefahr eines Egoismus zu zweit. Egoismus lauft aber immer auf die Funktionalisierung des Anderen fiir die eigenen Zwecke hinaus. Funktionalisierung meint, dass er eben seinen Wert nicht als andere Person, wie ich selbst eine bin, hat, sondem nur darin, dass er auf bestimmte Funktionen reduziert wird. Er ist dann lediglich die Erganzung meiner selbst. Dies ist beispielsweise in der sog. Symbiose der Fall (s. Abschnitt 5.6). Wenn er sich hingegen nicht ftigt, wird er vemichtet. Die Offenheit fiir den Dritten garantiert gewissermaBen erst, dass beide fur einander gleichermaBen Person bleiben. Die Einstellung, dass die Dyade exklusiv sein muss, fiihrt zur Angst vor dem Dritten, gleichzeitig aber auch zum Verfall der Dyade selbst (vgl. Splett 1990, 67ff). Der Dritte garantiert so erst bleibend die Personalitat der Kommunizierenden. Bei Richard sind alle drei gleichermaBen Person. Keine ist der anderen uber- oder untergeordnet. Die Pluralitat der Beziehungen garantiert den Erhalt dieser Gleichheit von je einmaligen Personen. „Mit der Offnung des Zueinanders von erster und zweiter gottlicher Person zum ,condilectus' als dritter Person und mit der substantialen Gleichheit der Personen, die sich in symmetrischen Kommunikationsstrukturen auspragt, qualifiziert sich Richards Modell der immanenten Trinitat als ein Modell der offenen Kommunikations-gemeinschaft, die zugleich Urbild und Ziel jeder menschlichen Kommunikations-gemeinschaft ist. Eben die Reflexion auf die transzendentale Ermoglichung menschlicher Kommunikationsgemeinschaft erlaubt es Richard, gemaB seinem Ansatz bei der Reflexion auf Erfahrung einen Begriff der ,Freundschaftsliebe' und mit seiner Hilfe (als deren transzendentale Bedingung der Moglichkeit) den Begriff einer immanenten Trinitat zu entwickeln, die mit den Grundbegriffen ,Person' und ,Kommunikation' operiert und zur Bestimmung eines analogen Personbegriffs (,existentia ex communicatione') fuhrt" (Hofmann 1984, 233).
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3.4 Das absolute Subjekt bei Hegel Mit der Neuzeit andert sich der Blick auf die Welt und den Menschen. Verschiedene Wissenschaften emanzipieren sich von der bis dahin alles beherrschenden Theologie. Das ganze Weltgeschehen ist ein einziger groBer Mechanismus, der ein dauemdes Einwirken Gottes entbehrlich macht. Gott ist noch der Weltbaumeister, aber nicht mehr. Zu dieser Entwicklung beigetragen hat auch die Tatsache, dass die boethianische Linie sich in der Theologie durchgesetzt hat, so dass Gott weniger in seiner Relationalitat denn in seiner Absolutheit gesehen wurde. Religion wird zur Privatsache und die Aufklarung schlieBlich riickt den Menschen in den Mittelpunkt. Im Folgenden geht es nun um eine Analyse der Theorie der Anerkennung bei Hegel. Der Riickgriff auf Hegel erfolgt hier aus drei Grunden. Zum einen ist es Hegel, der schlieBlich die Substanz im Subjekt aufhebt und es damit absolut setzt. Was zuvor Gott zugeschrieben wurde, kommt jetzt dem Menschen zu. Zum zweiten versucht Hegel einen Weg zur Bewaltigung der Antinomic zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung zu fmden. Und schlieBlich beziehen sich Vertreter der Psychoanalyse wie z.B. Jessica Benjamin sehr dezidiert auf seine Theorie, um von daher ihren Begriff der „Intersubjektivitat" zu entfalten (s. Abschnitt 5.6). 3.4.1 Die Aufhebung der Substanz in das Subjekt Boethius hatte persona im Sinne des griechischen Substanzbegriffes aufgefasst. Substanz ist, was den Selbststand in sich hat. Sie ist durch sich selbst und nicht in Beziehung auf ein anderes, was sie ist. Bei Richard v. St. Victor war die Relation konstitutiv fur die Einzigartigkeit jeder der Personen. Hegels Philosophic des Subjekts unterscheidet sich insofem davon, als Hegel nun, in Anschluss an Kant, der den Begriff der Substanz unter die Kategorie der Relation subsumiert hatte, die Substanz im Subjekt aufhebt. „If God's personhood is that of one Person or Subject, it seems unavoidable that He is an absolute sovereign, a solitary ruler completely in control of his subjects. For that reason they cannot relate to Him in a personal way, for such a God must be a selfsatisfied being, a self-closed divine individual unable to care for his creation or to commit himself to human beings. This judgment is rooted in the experiences of modernity in which oppressive monarchies and dictatorships have lead people to foster strong democratic sensibilities. The struggle for social justice against bourgeois culture or individualism often had a similar effect" (Den Bok 1996, 13). Wenn die personale Trinitat Gottes aus dem Blick gerat^^, wenn also die Definition von Boethius sich durchsetzt, dann kommen wir zu einem selbstbezogenen absoluten Gott. „Gott, als Subjekt mit vollkommener Vernunft und freiem Willen gedacht, ist in der Tat das Urbild des freien, vemunftigen, souveranen, uber sich selbst verftigenden Men^ „Diese vollstandige Gemeinschaft der Personen, die voile Perichorese ineinander, voneinander her, fiireinander und miteinander, zerstort die Figur des einzigen und einsamen universalen Alleinherrschers, diese Grundlage fUr die Ideologisierung der totaUtSr ausschlieBlichen Macht" (Boff 1987, 36); „from a trinitarian point of view Boff also criticises democracy, which tends to level the particularity of persons and asymmetries in their relations" (Den Bok 1996, 13, Anm.l 1).
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schen. Darum wurde dieser Begriff Gottes in der btirgerlichen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts weitergebildet zum Begriff der ,absoluten Personlichkeit' und in schlichterer Wendung zur Vorstellung von dem ,pers6nlichen Gott'" (Moltmann 1980, 31, zit. n. Den Bok 1996, 13, Anm. 12). Fiir Paimenberg ist mit der Aufhebung der Substanz im Subjekt dessen Absolutheit festgestellt. Dieses absolut verstandene Subjekt sieht alles sonst Gegebene nur noch in seiner Funktionalitat fur seine eigene Tatigkeit. Autoritat und vorgegebene Ordnungen erlebt es als Einschrankung seiner absoluten Souveranitat. Ordnungen haben nur insofern Berechtigung, als sie den freien Entfaltungsraum des Subjekts, seine Selbstbestimmung ermoglichen. Alles andere gilt als fremdbestimmte Beeintrachtigung seiner freien Entfaltung. Das Subjekt erhebt sich liber alle substantiellen Inhalte. „Sogar die Beliebigkeit seines Verfugens selbst wird dem Subjekt leer und schal, weil sein Inhalt ja ebenso gut ein anderer sein konnte. Die Erscheinungsformen solcher leeren Subjektivitat entsprechen zwar eher der von Hegel selbst schon kritisierten romantischen Subjektivitat als den Intentionen seines eigenen Denkens. Hegels Philosophie der endlichen Subjektivitat war bemiiht, der Eitelkeit des romantischen Ich durch seine Bindung an ihm vorgegebene substantielle Inhalte zu begegnen. Aber indem er durch die Aufhebung der Substanz in das Subjekt die Position der Absolutheit des Subjektes allererst vollendete, ist es Hegel nicht gelungen, diese romantische Subjektivitat zu iiberwinden. Sie hat vielmehr in der Folgezeit erst recht die Signatur der Moderne gepragt" (Pannenberg 1979, 41 If). 3.4.2 3.4.2.1
Die Dialektik von Selbstbehauptung und Anerkennung Die drei Phasen des Anerkennungsprozesses
Hegel entwickelt seine Theorie der Anerkennung in kritischer Auseinandersetzung mit Fichtes Prinzipienlehre (vgl. Dtising 1986, 293). Er hat verschiedene Konzeptionen der Anerkennung entw^orfen, in seiner Jenaer Zeit, in den Enzyklopadie-Vorlesungen, aber vor allem am Ende seiner Jenaer Zeit in der „Phanomenologie des Geistes" (1805-1807). In dieser Schrift bemiiht er sich, ganz grundlegend die Struktur und die Genese der Anerkeimung zu entfalten. Im Folgenden soil auf die letztere Konzeption der Anerkennung naher eingegangen werden. Arbeit und das Streben nach Anerkennung sind fur Hegel die zwei Grundformen der Triebbefriedigung. Das Streben nach Anerkennung sei gewissermaBen das Pendant zum Streben nach Autonomic, das mit dem Christentum in die Welt gekommen sei. ,„Jeder will dem Anderen gelten; es ist Jedem Zweck, im Andem sich anzuschauen'(219/231). Das Streben nach Anerkennung wird als naturwuchsiges, als vorgesellschaftliches und asoziales Phanomen betrachtet, als Mechanismus der Vergesellschaftung" (Roth 1990, 194). Ahnlich wie Hobbes und Spinoza vor ihm sieht Hegel das Bedtirfnis nach Anerkennung als rein egoistisch bestimmtes an, als eine Folge von Selbstgefalligkeit, Eitelkeit und Ruhmsucht (vgl. ebd.) Die gesamte Anerkennungsbewegung verlauft fur Hegel in drei doppelsirmigen Phasen. ,,Erstens bezieht sich ein einzelnes Selbstbewoisstsein auf ein anderes seinesgleichen in gedoppelter Weise; es sieht sich ganz im anderen und verliert sich dabei selbst. Da es sich dann aber in seinem Bewusstsein voUstandig mit dem anderen identifiziert, wird dessen fremde
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Andersheit fiir es aufgehoben; so findet es in ihm sich selbsf (Diising 1986, 316). Weil er aber darin sein Selbstbewusstsein als selbststandiges Fiirsichsein nicht gewahrt sieht, muss es dieses Anderssein wiederum aufheben. Daher zielt das Selbstbewusstsein darauf ab, „den anderen als selbststandiges Wesen in seinem eigenen Selbstverstandnis zunichte zu machen; der andere hat dann keinerlei Bedeutung mehr fur die eigene Selbstgewissheit des Selbstbewusstseins. Dieser negative Versuch der Selbstwerdung durch Vemichtung des anderen wird, wenn er zugleich auch noch physisch durchgefiihrt wird, zum Kampf auf Leben und Tod" (ebd.). Die Gewinnung des eigenen Ftirsichseins ist zugleich der Verlust des Selbstbewusstseins, denn „hebt es nun den anderen auf, so hebt es sich selbst auf; relativiert es das Sein und Fiirsichsein des anderen, so relativiert es mit dem Selbst des Du zugleich sein eigenes Selbst" (ebd.). Mit dem anderen Individuum ist die Aufhebung des Andersseins gegeben, das einzelne Selbstbewusstsein kehrt zu sich zuruck und wird „somit in reflektierter Weise fur sich. Da es sich nun aber auch mit dem Anderen identifiziert hatte und da es deshalb mit der Aufhebung des Andersseins sich selbst, sein eigenes ,Seyn' und sein Bewusstsein in diesem anderen aufhebt, lasst es den anderen gerade dadurch frei und gesteht ihm ein Ureigenes, selbststandiges Dasein zu" (Diising 1986, 316). Anerkennung geschieht zugleich in der Gewinnung sowohl des eigenen Ftirsichseins als auch in der Freilassung des Anderen in die Selbststandigkeit. Erst beide Momente begriinden die Anerkennung. Diese dreiphasige Anerkennungsbewegung ist aber nur das Tun des Einen. „Die Anerkennungsbewegung ist jedoch ,die gedoppelte' beider selbstbewussten Individuen, die demnach gleichrangig an ihr und an ihrem Gelingen beteiligt sind. [...] Auf diese Weise besteht die gesamte Anerkennungsbewegung sowohl im Tun ,gegen sich als gegen das andere' und zugleich im ,Thun des Einen als des Andem'. So findet sich das seiner selbst bewusst werdende Individuum im anderen und negiert dies ebenso wieder, wird damit ein eigenstandiges Selbstbewusstsein und lasst den anderen frei in der gleichen Weise, wie der andere analog sich in ihmfindet,daraus zu sich zuriickkehrt, fur sich wird und das erste Selbstbewusstsein damit frei lasst. Erst dies wechselseitige Tun \s\ Anerkennung'' (ebd. 316f).^^ 3.4.2.2 Der Kampf auf Leben und Tod In einem ersten Schritt erfahrt das Individuum den fiir es notwendigen Anerkennungsprozess als einen Kampf auf Leben und Tod. In dieser Phase versteht sich das Individuum zwar selbst schon als ein Fiirsichsein, stellt fiir den je Anderen aber nur ein Lebendiges dar. In diesem einfachen Fiirsichsein ist die Negation des Anderen enthalten, und sie muss nun absolut realisiert werden. Jedes Individuum will das andere zur Ganze vemichten, um dadurch „zur direkten unreflektierten Realisierung und zur Bestatigung seines eigenen Ftirsichseins zu gelangen" (Diising 1986, 319). Dieser Kampf auf Leben und Tod begriindet sich demnach allein in der Entwicklung des Selbstbewusstseins. Die Macht des Fiirsichsein-Wollens im Selbstbewusst-
''vgl.GW9, 110 = H142
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sein wird so unter Einsatz des eigenen Lebens ausprobiert. Jeder tut hierbei, was der Andere tut, er will den Tod des Anderen und riskiert dafiir sein eigenes Leben. In diesem Kampf erfahrt nun das Selbstbewusstsein das Leben selbst als gleichermaBen bedeutsam wie das Fiirsichsein, denn Anerkennung kommt durch diesen Kampf ja nicht zustande, wenn einer oder beide tot sind. Der Tod verhindert die Anerkennung endgUltig (vgl. ebd.). Mit Recht fragt Roth (1990), warum das Streben nach Anerkennung iiberhaupt in einen solchen Kampf auf Leben und Tod ausarten muss. Da mochte einer vom Anderen, den er anerkennt, auch anerkannt werden. Statt eines Kampfes konnte er diese ja auch durch Geschenke oder ahnliches zu erreichen versuchen. „Auch auf diese friedfertige Weise wurde er seine Unmittelbarkeit iiberwinden und ein soziales Band entroUen. Wie hat Hegel die Notwendigkeit des Kampfes begrtindet? Der Kampf um Anerkennung wird in den einzelnen Entwiirfen Kegels unterschiedlich begrundet und zeitigt unterschiedliche Resultate" (Roth 1990, 195). FUr Dusing bleibt die Notwendigkeit eines Kampfes auf Leben und Tod „bewusstseinsgeschichtlich letztlich unerwiesen" (Dusing 1986, 320). Hegel argumentiert nicht mit bestimmten anthropologischen Konstanten, „noch fiihrt die sich erweisende Notwendigkeit der Aufhebung solchen Kampfeszustands, der jeden gegeniiber jedem betrifft, zum Rechtszustand. Er ist daher hier auch kaum mit einer bestimmten geschichtlichen Epoche vorstaatlicher Auseinandersetzung zu identifizieren, wie Hegel es dann in der Enzyklopddie vor Augen hat. [...] So bleibt der Kampf auf Leben und Tod auch als Stadium der Unmittelbarkeit in einem beginnen sollenden Anerkennungsprozess ohne hinreichende Evidenz" (ebd.). M.a.W. Hegel kann fur die Annahme eines solchen Theorems keinen hinreichenden Grund angeben. Die Notwendigkeit eines Kampfes auf Leben und Tod bleibt unbegriindet. Roth fiihrt Hegels „Kampftheorem" auf dessen Menschenbild zuruck. Hinsichtlich der Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder bose ist, entscheidet er sich fur letzteres, fur die christliche Variante, und gegen Rousseau. „Die Guten werden von den Bosen unterdriickt, wenn nicht erschlagen und erstickt. Nur dann, wenn man den Menschen (zugleich) als ein aggressives, eigensinniges Wesen fasst, folgt aus dem Anerkennungsstreben zwingend ein Kampf, ein Kampf, der mit dem Tod oder mit der Unterwerfung des einen unter die Gewalt des andem endet" (Roth 1990, 196). Das liefe aber darauf hinaus, dass der Mensch sich lieber selbst zerstort als die Vemichtung des Anderen auszusetzen. Whitebook meint aus psychoanalytischer Sicht, dass bei Hegel die Zuwendung des Selbstbewusstseins zum Anderen gerade nicht auf grund angeborener Intersubjektivitat erfolgt, sondem „durch die innere Logik seines narzisstischen Programms" (Whitebook 2001, 769). Anerkennung ist daher immer Selbstnegation, ,jemanden anderen anzuerkennen heiBt, an sich selbst Raubbau treiben" (ebd.). Das Problem bestehe fur Hegel darin, dass Begierde beiderseits ist. „Jeder wiirde geme den anderen als Gegenstand seiner Begierde - als ein narzisstisches Objekt - benutzen, kann dies aber nicht, weil der andere ,selbstandig' ist. Das strategische oder ,einseitige Tun ware unnlitz, weil, was geschehen soil, nur durch beide zu Stande kommen kann'. Daraus resultiert nach Hegel die Notwendigkeit wechselseitiger 67
Anerkennung: ,Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend'(Hegel 1807, 142f/Phanomenologie des Geistes)" (ebd. 770). Whitebook nennt dies eine stmkturelle Sackgasse, die beide Subjekte dazu zwingt, die Allmacht zu negieren und eine Beziehung einzugehen. Das geschieht weder durch gesitteten Dialog noch durch reine Kognition, sondem „die Einsicht, dass wechselseitige Anerkennung notig ist, stellt den Gipfelpunkt eines Lemprozesses dar, der in einer affektiv hochst aufgeladenen Weise beginnt, namlich mit dem Kampf auf Leben und Tod" (ebd.). 3.4.2.3 Das Herr-und-Knecht-Verhaltnis Wenn eines der beiden Individuen den Kampf um seines Uberlebens willen aufgibt, muss es sich dem Anderen unterwerfen. Damit verzichtet es sowohl auf seine Selbstbehauptung und seine Ehre und gerat damit in ein Herr-und-Knecht-Verhaltnis. Wer also an seinem Leben hangt und deswegen auf den Kampf verzichtet, wird zum Sklaven des Anderen. Daraus entsteht ein asymmetrisches und deshalb unvollstandiges Anerkennungsverhaltnis. Der Knecht sieht den Herm als ein selbststandiges Fiirsichsein. Der Knecht hebt sein Fiirsichsein auf und sieht sich nur noch im Herm. Daher tut er auch, was der Herr verlangt, und so ist sein Tun eigentlich das Tun des Herm. Das Tun des Knechtes ist eigentlich das Tun des Herm, ist die Verwirklichung von dessen Wtinschen. Darin erlangt der Herr seine Anerkennung als ein fursichseiendes Wesen (vgl. DUsing 1986, 321). Die Asymmetric dieses Verhaltnisses liegt darin, dass der Herr den Knecht nicht als personales Wesen anerkennt. Der Herr wird von einem Individuum anerkannt, das er selbst aber nicht als selbststandig erachtet, er handelt sich selbst gegeniiber nicht so wie gegeniiber dem Knecht. Er hebt sein eigenes durch die Anerkennung gewonnenes Fiirsichsein nicht auf, um den Anderen freizusetzen. In der Degradiemng des Anderen zum Knecht degradiert er aber auch sein eigenes Fursichsein. „Ebensowenig tut der Knecht gegeniiber dem Herm, was er sich selbst gegenuber tut; er wagt nicht, so wie er das eigene Fiirsichsein zugunsten eines fremden Willens aufhebt, auch das selbststandige Fiirsichsein des Herm aufzuheben, um dadurch ein eigenstandiges Selbstbewusstsein auszubilden. So ist also nur ,ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden'(GW 9, 113 = H 147)" (ebd. 321). Einerseits setzt der Knecht das selbststandige Fiirsichsein in einem Anderen, andererseits gewinnt er aber durch die Bearbeitung der Dinge, die ihm aufgetragen werden, in seinem eigenen Tun und Werk einen Eindruck seines eigenen Konnens. Und genau darin gewinnt der Knecht seine eigene Weise des Fiirsichseins. „Die subjektive Gewissheit des Unselbstandigseins kehrt sich um in die Wahrheit, dass er selbststandiges Bewusstsein ist" (ebd. 322). In der Folge bricht Hegel die Entwicklung des Anerkennungsprozesses ab. Ein Gmnd, so Diising, ist gerade genannt worden. Im Tun und an den bleibenden Werken erkennt der Knecht seine erfolgreiche Leistung. „Nicht aber gelangt er dazu durch ein interpersonales Anerkanntsein seitens anderer Individuen. Dies sind fiir Hegel offensichtlich Griinde daflir gewesen, dass er im folgenden von der Realisierung des Anerkennungsprozesses und von der Darlegung gelingen68
der wechselseitiger Anerkennung absieht, wie man sie eigentlich nach seiner Aufstellung des allgemeinen Begriffs der Anerkennung und zwei scheitemden Anerkennungsversuchen im Kampf auf Leben und Tod und im Herr-Knecht-Verhaltnis systematisch hatte erwarten konnen" (ebd. 323). Diising hebt zwar hervor, dass Hegel einen eigenen Anerkennungsbegriff gegentiber Fichte entwickelt hat, „[a]ber die konsequente Bewahrung und systematische Entwicklung dieses Begriffs in unterschiedlichen Selbstbewusstseins- und Geistesgestalten wird auch von ihm nicht geleistet. Dem Programm der Phanomenologie gemali ware eine grundlegende und metliodische Entfaltung der verschiedenen Stufen misslingender oder unvollstandiger bis bin zu gelingender, volistandiger und schliefilich hochster Anerkennung in einer Geschichte des Selbstbewusstseins erforderlich; in ihr miisste gezeigt werden, wie ein konkret existierendes individuelles Selbstbewusstsein im interpersonalen Geschehen der Anerkennung zu sich selbst kommt und stufenweise sich bildet, wie in diesem Prozess Selbstbewusstsein und Intersubjektivitat gleichurspriinglich und korrelativ sich entwickeln" (ebd. 327). Der veroffentlichte Text der „Enzyklopadie" fiihrt kaum iiber die Thesen zur Anerkennung in der Phanomenologie hinaus. 3.4.2.4
Autonomic vs. Anerkennung und das grundsatzliche Ungeniigen des Tausches
Hegel sieht den burgerlichen Menschen gefangen in der Dialektik zwischen Autonomic und Anerkennung. Seine Freiheit niitzt ihm nichts, wenn sie nicht anerkannt wird, aber wie kann sic anerkannt werden, wenn er nicht frci ist? Das Subjekt will hingegen beides zugleich, Autonomic und Anerkennung, und das ist sein Dilemma. „In diesem Widerspruch liegt nach Hegel die ganze Aporetik der burgerlichen Freiheit, der Grund fiir ihren bloB formellen Charakter. Um anerkannt zu werden, muss er sich dem Allgemeinen unterwerfen, um frei zu sein, muss er sich widersetzen. Um anerkannt zu sein, muss er die eingespielten Normen akzeptieren, um frei zu sein, muss er sie iibertreten. Er wird, sofern er auf seiner Autonomic beharrt und die vorfmdlichen Normen und Institutionen, in die er ohne Willensbeschluss hineingeboren wird, als bioBen Zwang empfmdet, zu Diebstahl, Injurie, ja selbst zum Mord getrieben. [...] Im Widerstreit seines Strebens nach Autonomic und Anerkennung gerat der einzelne in innere und auBere Konflikte, die er, wie Hegel zeigt, nur tiberwinden kann, dass er sich seiner Einzelheit entauBert an die Institutionen des gesellschaftlichen und staatlichen, okonomischen und rechtlichen, moralischen und sittlichen Lebens des Volkes" (Roth 1990, 198). Fiir Hegel, so Roth, zeigt der Tausch das Grundmuster des Anerkanntseins. Im Tausch anerkeimt der Eine die Arbeit des Anderen und damit ihn selbst, wodurch ein Selbstwertgefuhl erlebt wird. Im Vertrag werden nur noch Worte getauscht, die fur die Sache selbst stehen, es ist ein ideeller Tausch. Hier zeigt sich die Anerkennung als Vertrauen, dass der Andere den Vertrag cinhaltcn wird. Im Vertrag „ist nicht nur der Besitz des anderen anerkarmt und in Eigentum metamorphosiert, sondem daruber hinaus die Verlasslichkeit des andem, unabhangig von der faktischen Leistung. Durch diesen Vertrauensbewcis erreicht das biirgerliche Individuum den Hohcpunkt seines Sclbstgefuhls. Damit erreicht jedoch das Ancrkanntsein seine Schrankc" (ebd. 200).
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Das Verlangen nach Anerkennung ist fur Hegel kein „Sozialitatstrieb", sondem ein egoistisches Verlangen. Der Tausch dient nur der eigenen Bedurfnisbefriedigung. Zudem ist die Vertragserfullung zugleich auch die Beendigung der Anerkennung, d.h. Anerkennung erweist sich im Tausch als endlich, insofem ich dabei nicht als ganze Person anerkannt werde, sondem nur als Eigentumer eines bestimmten Gutes, sei es einer materiellen Sache oder eines bestimmten Wissens oder Konnens. „Er selbst gilt sich als Totalitat einer Vielzahl von Eigenschaften und Potenzen, die er in ihrer Gesamtheit anerkannt finden mochte. Und nun erfahrt er, dass er vom anderen auf eine einzelne seiner Bestimmtheiten reduziert und fixiert wird, auf seinen ,Uberfluss'. Damit wird nach Hegel seine ganze Person verletzt, seine Ehre" (ebd.). Die Anerkennung auf der Basis des Tuns, damit auch der Andere tut, des „do ut des" ist nicht von Dauer, wird zur Erinnerung, und ist so letztlich unbefriedigend. Von daher wird es notwendig, immer wieder attraktive Tauschmittel zu erwerben, um neuerliche Vertrage abschlieBen zu konnen. „Die okonomische Form der Anerkennung erweist sich so als ein permanentes Kontrahieren, als ein schlecht unendliches Geschaft, das einen Zwangszusammenhang konstituiert und ein System der Ehrverletzung und des Misstrauens produziert" (ebd. 201). Die Anerkennung auf Geschaftsbasis bleibt ungeniigend. Ftir Hegel liegt die Rettung des Subjektes aus dieser Situation in der Erkenntnis, dass es alien anderen genauso geht wie ihm. „Diese Einsicht in die Allgemeinheit und Wechselseitigkeit der Spannungen und Konflikte mache es ihm leichter, sich zusammen mit den anderen seiner Einzelheit zu entauBem und sich zum Glied des sich durch diese Aufopferung konstituierenden Allgemeinen zu machen, sich der Vemunft des Ganzen zu unterwerfen, die ihn aufhebt und zu seinem Recht kommen lasst" (ebd. 202). Das hier von Hegel aufgezeigte Dilemma kommt also dadurch zustande, dass das Subjekt absolut sein will. Zugleich braucht es dafiir aber die Anerkennung des Anderen. Das Subjekt steckt so zwischen Selbstbehauptung und Anerkennungsbediirfnis fest. Deutlich wurde aber auch, dass Hegel die Pramisse nicht plausibel machen kann, d.h. warum eine solche absolut verstandene Freiheit fur das Subjekt so unabdingbar sein soil. Richtig gesehen hat er das Ungenugen, Anerkennung gegen Leistung zu bekommen. Letztlich zeigt er aber aufgrund der behaupteten Absolutheit des Subjekts keinen konstruktiven Ausweg.
3.5 Transzendentalphilosophische Ansatze der Intersubjektivitat 1965 hat Michael Theunissen in einer inzwischen schon klassisch zu nennenden Arbeit die verschiedenen Begriindungen von Intersubjektivitat in ihren „idealtypischen Reflexionspositionen" (vgl. Theunissen 1977, 7) herausgearbeitet. Er zeigt den Unterschied als einen diametralen Gegensatz zwischen der transzendentalphilosophischen und der dialogphilosophischen Begriindung von Intersubjektivitat, die sich aber wechselseitig bestimmen. Zur einen Seite zahlen Philosophen wie Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, zur anderen vor allem Martin Buber, dann Eugen Rosenstock-Huessy, Gabriel Marcel, Ferdinand Ebner, Eberhard Griesebach u.a. Dazwischen ortet er eine Reihe von Mischformen des Trans70
zendentalismus oder Dialogismus, die entweder mehr zur einen oder mehr zur anderen Richtung zu rechnen sind wie z.B. Adolf Reinach, Dietrich v. Hildebrand, Kurt Stavenhagen, Wilhelm Schapp, Karl Lowith, Ludwig Binswanger, Karl Jaspers u.a. Theunissen meint, mit dieser Vorgehensweise doch die sozialontologischen Positionen in ihrer Gesamtheit umschreiten zu konnen. Es geht in diesen Theorien darum, als was der Mitmensch begriffen wird, als „alter ego", als „Fremdich", als „Mitdasein" oder als „Du" im Sinn der zweiten Person des Personalpronomens, denn der jeweilige Begriff impliziert schon, als was der Andere urspriinglich verstanden wird. Der von Theunissen dargelegte transzendentalphilosophische Ansatz unterscheidet sich von anderen Weisen des Fremdverstehens, wie z.B. der gesamten Einfuhlungspsychologie zu Anfang des 20. Jhdts. mit Autoren wie Dilthey, Troeltsch, Weber, der es urn eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik ging dadurch, dass sie transzendental ist „aufgrund ihrer leitenden Frage nach der subjektiven Konstitution von Welt. Indem sie auch die Frage nach dem Anderen im Zusammenhang des Problems der Weltkonstitution aufwirft, kann sie den anderen nur als das fremde Ich oder Dasein fassen, das wie das eigene subjektiver Pol der Welt ist" (ebd. 2). Hingegen sind Einfiihlungspsychologie wie auch geisteswissenschaftlich orientierte Hermeneutik des Fremdverstehens „originare Gebilde, die zum Teil auch zeitlich fruher als die transzendentale Philosophic des Anderen entstanden sind und dennoch erst durch diese ihr rechtes Fundament bekommen" (ebd. 3). Intersubjektivitat aus transzendentalphilosophischer Sicht, wie Theunissen sie exemplarisch bei Husserl verstanden sieht, heiBt, dass der Andere nicht gleichurspriinglicher Partner, sondem alter ego, d.h. nur ego in einem fremden Korper ist. Das Ich wird als solipsistisches Subjekt verstanden, welt- und beziehungslos, ein reines ego cogito, das durch Bewusstseinsakte das alter ego konstituiert. Daher begegnet der Mitmensch als alter ego immer nur in apprasentativer Erfahrung, niemals aber in seinem eigentlichen Selbstsein. In der Dialogphilosophie hingegen begegnet der Andere unmittelbar als Du, allerdings in volliger Unverfugbarkeit fur das Ich. Das Du ist uberdies der Ermoglichungsgrund fur die personale Entwicklung des Ich. In „Sein und Zeit" hat Heidegger, mit dem Ziel, die Frage nach dem Sinn von Sein zu klaren, eine Analytik des Mitseins vorgelegt. Zuganglich wird das Sein in jenem Seinsverstandnis, das fur das Dasein charakteristisch ist. Die Daseinsanalytik stellt eine Reflexion auf jene existenzialen Strukturen dar, die eben das Seinsverstandnis moglich machen. Das In-derWelt-Sein des Subjekts ist wesenhaft auch Mitsein mit anderen. Dasein ist wesenhaft Mitsein. Konkretes Alleinsein ist daher Mitsein im Modus der Defizienz. Fiir Heidegger, so Theunissen, macht das „uneigentlich-alltagliche Miteinandersein" das tatsachliche Miteinandersein aus, denn das eigentliche Miteinandersein voUzieht sich nur „in einer merkwiirdigen Gebrochenheit oder Indirektheit. [...] In solcher Indirektheit liegt eben seine Eigentlichkeit. Es ist eigentliches Miteinandersein, well es in einem anderen Sinne kein eigentliches, d.h. kein direktes Miteinandersein ist" (ebd. 178). Dasein ist Vorlaufen zum Tode, der immer der je mei71
ne ist, insofem ich darin absolut unvertretbar durch den Anderen bin. Er ist fiir den Anderen unerfahrbar imd insofem die eigenste und darin unbeztigliche Moglichkeit. „Die angesichts dieser Unbezuglichkeit erwachsende Einsamkeit ist das Urfaktum des eigentlichen Selbstseins" (ebd.). Heidegger spricht von einem „existenzialen Solipsismus" (vgl. ebd. 181). „Die Unbezuglichkeit des Todes wirft ihren Schatten auf jede Kommunikation und gibt dem auf die Stimme seines Gewissens horenden Dasein zu verstehen, dass es letztlich allein ist" (ebd.). Das Mitsein versagt, wenn es um das eigentliche Seinkonnen geht. Das Fremdeste des Anderen fiir mich ist dessen eigenstes Seinkonnen (vgl. ebd.). Ftir Theunissen wiederholt die Mitseinsanalyse Heideggers die Intersubjektivitatstheorie Husserls lediglich auf einer anderen, der existenzialen Ebene (vgl. ebd. 167). Transzendental gesehen hat sich der Andere bei Heidegger nach meinem Weltentwurf zu richten. „Er ist das Entworfene meines Entwurfs und unterscheidet sich in diesem Punkte nicht von dem Zuhandenen. DemgemaB wird das Miteinandersein sogar ausschliefilicher noch als bei Husserl, im Wesentlichen am Modell meiner Beziehung zum Anderen vorgestellt und nicht am Modell der Beziehung des Anderen zu mir" (ebd. 168). Bei Husserl wie Heidegger gibt es keine unmittelbare Begegnung mit dem Anderen, „weil sich zwischen ,mich' und den Anderen das Mittel der, PFe/r' schiebt" (ebd. 171). Er ist essentiell „das von Zeug Vermittelte" (ebd.). Theunissen verortet Sartres Ansatz zwischen dem transzendentalen und dem dialogischen Ansatz (vgl. ebd. 221). In gewisser Weise dreht Sartre, so meint er, die Verhaltnisse um. Aus dem Primat des ego wird eines des alter ego (vgl. ebd. 226), d.h. der Andere vermittelt das ego mit sich selbst. Der Andere ist der Fremde, kein Element meines subjektiv konstituierten Weltentwurfs. In „L'etre et le neant" nimmt Sartre eine existenziale Analyse des Blicks vor. Durch den Blick des Anderen erfahre ich mich als jenes Objekt, welches ich fur ihn bin. Erst dadurch wird seine urspriingliche Subjektivitat als Gegenwart des Anderen zuganglich. Vor dem Blick des Anderen werde ich meiner selbst erst gewahr, d.h. ich werde von ihm konstituiert (vgl. ebd. 222f). Sartre versteht dies als eine ganz basale Entfremdungserfahrung, in der ich mir selbst entzogen bin. „Mir entrissen werde ich allein durch das Auftauchen der fremden Freiheit. Denn weil in der Freiheit des Anderen steht, was mir geschieht, bin ich in ihrer Gegenwart nicht mehr ,Herr der Situation'" (ebd. 222). „Nicht von mir, sondem von der Freiheit des Anderen werde ich dirigiert, aber diese Freiheit hat sich in mir selbst, in der Tiefe meines Seins eingenistet" (ebd.). Die Freiheit des Anderen erst begriindet mein Selbstsein. Die Verobjektivierung durch den Blick des Anderen kann ich aber abweisen. „Im Abweisen des Anderen ergreife ich mich selbst als den Nicht-Anderen" (ebd. 224), d.h. er wie ich existieren jeweils in der Negation des Anderen. „Der Preis, den nach Sartres Theorie das ego fur die Restituierung seines umfassenden Selbstseinkonnens zu zahlen hat, ist der Verlust der urspriingHchen Gegenwartigkeit des anderen als personalen Wesens. Nur im Gegenzug gegen die originaren Seinsmoglichkeiten des anderen gewinnt das ego sein ureigenes Selbst zuriick. Diese ausweglose Alternative macht fiir Sartre die Tragik, das Dilemma der zwischenmenschlichen Beziehungen aus" (Diising 1986, 22).
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Deutlich werden hier die Parallelen zu Hegels Kampf um Anerkennung. Fiir Sartre bleibt dieser Kampf grundsatzlich unabschlieBbar. „Entweder macht der andere mich zu seinem Objekt und entfremdet mich meiner Freiheit oder umgekehrt - fiir Sartre gibt es kein Drittes, kein wechselseitiges Anerkennen des jeweils anderen als eines im freien Sich-Entwerfen gleichrangigen Subjekts" (ebd.). Das Selbstwerden ist nur auf Kosten der Beziehung moglich. Hier sieht Theunissen auch die Parallele zu Heidegger. Die Konstitution des Selbstseins geschieht „aus der Loslosung vom Anderen" (Theunissen 1977, 224), also gegen den Anderen.
3.6 Die Dialogphilosophie Martin Bubers Theunissen nennt die Dialogphilosophie eine Oppositionsbewegung vom Ansatz her gegen ein Philosophie des allgemeinen Subjekts, des Bewusstseins uberhaupt (vgl. ebd. 244). Der Dialogismus kritisiert die Transzendentalphilosophie, offenbart darin aber zugleich diese als seine Voraussetzung. Das Subjekt ist fiir Buber ein zutiefst relational verfasstes Wesen. Es gibt nicht zunachst ein Selbstbewusstsein fiir sich, sondem die Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit ist das „Zwischen" (vgl. ebd. 259f), in dem Ich und Du in der Begegnung Person werden, in einer Beziehung, die auf Gegenseitigkeit basiert. Das Es, d.h. die Objektwelt, steht dem Ich, vermittelt durch einen Weltentwurf, gegeniiber. Die Ich-Du-Beziehung hingegen ist durch reine Unmittelbarkeit gekennzeichnet. „Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung" (Buber 1984, 16). Dass das Ich erst am Du werde, ist fur Theunissen eine haufig missverstandene Kurzformel fiir den Ursprung der Partner aus der Begegnung. Ich werde nicht durch das Du, sondem in der Begegnung mit dem Du durch das Du. Die Begegnung ist unverfiigbar, kann weder durch mich noch durch den Anderen allein herbeigefiihrt werden, sondern ist eine Handlung von uns beiden. Nicht ich begegne dir und du begegnest mir, sondem „wir begegnen uns". Begegnung ist gekennzeichnet durch „Gegenseitigkeit" im Sinne von Gleichurspriinglichkeit und Ebenbiirtigkeit sowie „Unmittelbarkeit" als die Negation von „Mittel" im Sinne von Medium (vgl. Theunissen 1964, 322). Dadurch ist sie deutlich von der Ich-Es-Beziehung unterschieden. In der Ich-Es-Beziehung hingegen steht das Objekt unter der Herrschaft des Subjekts, in der letzteres durch den Entwurf „dem Objekt den Horizont seines Erscheinens vorschreibt" (ebd. 323), so wie es Heidegger Oder Sartre schon aufgefasst haben. Buber erreicht das Zwischen im Ausgang vom Grundwort Ich-Es, indem er dieses destmiert. Du und Es werden von Buber aber nicht als getrennte Bereiche von Seiendem betrachtet, derm alles kann Du und Es sein, aber nie beides zur gleichen Zeit. Als was Seiendes aber jeweils entworfen wird, hangt von bestimmten Einstellungen ab. Nach Theunissen zeigt sich darin wieder nur der transzendentalphilosophische Zugang zur Intersubjektivitat, den Buber eigentlich iiberwinden wollte. Durch die Sprache vollzieht Buber nun die Destmktion dieses transzendentalphilosophischen Schemas in zwei Schritten. Das Grundwort Ich-Du erfullt sich in der Rede und voUendet sich im Schweigen, worin es sachlich nicht mehr erfassbar ist. Die Sprache, so zeigt es Buber, ermoglicht es erst dem Menschen, Seiendes als Du oder 73
als Es einzusetzen, in der Beziehung zum Du geschieht es als ein Anreden, in der Beziehung zum Es als ein Bereden. „Genauer: wie das Anreden als den Anfang des Grundworts Ich-Du, so das Bereden als das Ende des Grundworts Ich-Es" (ebd. 324f). Das Angesprochenwerden ist allerdings ein Widerfahmis im Zwischen, geht also nicht von meiner oder des Anderen Subjektivitat aus. Gott ist die Mitte, das Zwischen, in dem sich die Begegnung ereignet, wobei er aber nicht wie das einzelne Du aus der Welt begegnet. Die Beziehung zu Gott ist nicht eine neben den Beziehungen zu den Mitmenschen und der Natur, d.h. er entzieht sich von vomherein der Intentionalitat, „aus dem das einzelne Du sich erst herauswinden muss" (ebd. 329). Gott ist nie intentionaler Gegenstand. Die „Mitte" setzt er dem „Zwischen" gleich, aber dies ist die Mitte zwischen dem je einzelnen Ich und Du. „Demgegentiber soil Gott die Mitte sein, in der sich die verlangerten Linien der Beziehungen zwischen dem einzelnen Ich und dem einzelnen Du schneiden. Sie nennt Buber die ,ewige' Mitte [DP 81]. Damit charakterisiert er Gott als das Zwischen alien Zwischens, welches auch die fiir sich ausschliefilichen und augenblicklichen Beziehungen verbindet. In ihm, so sagt Buber, fmdet die Duwelt die raumliche und zeitliche Kontinuitat, die sie als solche nicht hat" (Theunissen 1964, 329). Gott ist nach Buber das „ewige Du" (vgl. Buber 1984, 76), well es nie zum Es werden kann, denn es ist wesentlich und d.h. bestandig Du. Fiir Buber sind die Kategorien des Ich-Es-Verhaltnisses die der traditionellen Metaphysik und daher gerade nicht auf die Ich-Du-Beziehung anwendbar. Er kommt aber selbst, so Theunissen, seiner Forderung nach einer positiven Bestimmung des Ich-Du-Verhaltnisses nur fragmentarisch nach. Der Unangemessenheit des Ich-Es-Modells „in Bezug auf die in ihm abzubildende Wirklichkeit des Zwischen wird Buber allein dadurch gerecht, dass er das Geschehen der Begegnung als den Zusammenbruch der Position darstellt, die in dem Modell eigentlich getroffen ist. [...] Als via negationis setzt er das - wenn auch noch so undeutliche - Wissen um das Ungeniigen des gleichsam nur als Hilfskonstruktion gehabten Modells voraus. Dieses gebraucht er nur wie eine Leiter, die den Aufstieg von der noch unbegriffenen Sphare des Zwischen zu dessen begrifflicher Verstandlichkeit ermoglichen soil und die er wieder wegnimmt, sobald er ,oben' angelangt ist" (Theunissen 1977, 277). Buber gelingt es also nicht, das Ich-Du-Verhaltnis positiv zu sehen und nicht nur als Negation des Ich-Es-Verhaltnisses, wobei die vollkommene Erfullung aller Akzeptanz und Gegenseitigkeit nur in der Beziehung zwischen Gott und Mensch stattfmdet. Es ist tiber weite Strecken so Theunissen, nur eine „negative Ontologie" des Zwischen (vgl. ebd. 276).
3.7 Absolutes Subjekt und Relationalitat: Zusammenfassung und Reflexion Anhand der leitenden Frage, wie die soziale Dimension des Menschen zu verstehen ist, zeigen sich historisch zwei anscheinend unvereinbare Positionen. Seit der Spatantike bzw. dem Friihmittelalter stehen sich im Rahmen der sich entwickelnden Trinitatstheologie die Substanz betonende Definition eines Boethius (rationalis naturae individua substantia) und der originelle Ansatz eines Richard von St. Victor, der die Person als eine „existentia incommunicabilis" 74
bestimmt und ihre notwendig triadisch bestimmte Relationalitat aufweist, paradigmatisch gegeniiber. Einerseits wird Personsein verstanden als Selbststand, als absolutes Fursichsein bzw. Aus-sich-Sein, andererseits als Relationalitat, als In-sich-und-vom-Anderen-her-Sein. Substanzdenken wie relationale Ontologie stehen unverbunden nebeneinander. Das Substanzdenken von Boethius hat keinen theologisch brauchbaren Personbegriff hervorgebracht, „weil sie die Spannung zwischen prosopon und hypostasis zugunsten des Hypostatischen (Substantiellen) aufloste und damit die Relationalitat der Person aus dem Blick verlor" (Werbick 1985, 196). Boethius' Definition von Person ist ganz allgemein gehalten, sie bezieht sich generell auf individuelle Seiende, die lediglich hinsichtlich ihrer Vemunftbegabung naher bestimmt werden. Entscheidend ist die Verwendung des Substanzbegriffes, wodurch das Moment des Selbststandes der Person besonders betont wird. Fur Richard v. St. Victor erfordert die Caritas als hochste menschliche Erfahrung von ihrer Natur her eine Personpluralitat. Individualitat und Relationalitat erweisen sich dann als gleichermaBen personkonstitutiv. Erst der Dritte jedoch, der condilectus, vollendet die Liebe zwischen den beiden anderen. Die liebende Kommunikation erfahrt ihre VoUendung in der Offenheit der Dyade fur die Kommunikation mit einem Dritten. Im Begriff „existentia" gelingt Richard die Verbindung zwischen Selbststand und Relation. Man hat das Sein zugleich in sich selbst und von woanders her. Es stehen sich demnach ein substanz-metaphysisches Verstandnis und ein „existentielles" Verstandnis von „Person" gegeniiber, wobei letzteres im Laufe der Geschichte ersterem nachgeordnet bleibt. Das boethianische Personverstandnis wird zum Vorlaufer des modemen Subjektbegriffs. Die Trinitatsspekulation forderte allererst die denkerische Bewaltigung der Relationalitat heraus. Allerdings hat sich zunachst der Primat der Substanz gegeniiber der Relation durchgesetzt, d.h. auch in der Folge bleibt die Theologie dem Substanzdenken verhaftet. Einen besonders hohen Stellenwert hat die Vernunftbegabtheit in den Defmitionen von Boethius und Richard. Die Person ist ein geistiges Wesen, insofem sie iiber Vemunft und Selbstbewusstsein verfiigt. Selbstbewusstsein zeigt sich dabei als ein Konstitutivum der Personalitat, als ein Charakteristikum des neuzeitlichen Personbegriffs. Person, Subjekt, Selbstbewusstsein, Subjektivitat erscheinen als mehr oder weniger synonym (vgl. Dieckmann 1995, 20). Die Person tritt damit als autonomes Subjekt auf, begabt mit der Fahigkeit zu handeln und zu denken, sich so selbst konstituierend. Gott erscheint dann nur noch als unzulassige Begrenzung des Subjekts."^^ Bei Hegel wird das Subjekt nun endgiiltig absolut gesetzt. Sein egoistisches Streben nach Anerkennung ist fiir Hegel ein vorgesellschaftliches Phanomen und verlauft in drei Phasen.
Wagner weist auf die Aporie eines „selbstbestimmenden Selbstbewusstseins" hin, da es die Erklarung und Begrundung seiner selbst nicht leisten kann. Bei der Erklarung seiner Selbstkonstitution muss sich das Selbstbewusstsein namlich schon selbst voraussetzen, d.h. es kann die Erklarung und Begrtindung seiner selbst nur zirkular voUziehen, denn zur „Erklarung des Selbstbewusstsein, die durch das Selbstsetzen in ursprtinglicher Weise geleistet werden soil, setzt sich das Selbstbewusstsein in der Einheit seiner Momente, namlich von Setzen und Gesetztsein, Bestimmen und Bestimmtsein, Subjekt und Objekt schon voraus" (Wagner 1977, 137).
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Zunachst erfahrt das Individuum den notwendigen Anerkennungsprozess als einen Kampf auf Leben und Tod, wofur Hegel letztlich aber keine uberzeugenden Griinde anflihrt. Wenn eines der beiden Individuen den Kampf dann um seines Uberlebens willen aufgibt, muss er sich dem Anderen unterwerfen und wird zu seinem Knecht. In der Folge bricht Hegel aber die Entwicklung des Anerkennungsprozesses ab. Der Tausch zeigt zwar das Grundmuster des Anerkanntseins, aber die Anerkennung auf der Basis des „do ut des" ist nur eine kurzfristige und daher letztlich unbefriedigend. Der Mensch ist gefangen im Dilemma zwischen Autonomie und dem Streben nach Anerkennung, zwischen Selbstbehauptung und Anerkennungsbediirfnis, wobei er seine Pramisse der Unabdingbarkeit einer absolut verstandenen Freiheit des Subjekts nicht plausibel machen kann. In der Neuzeit wird das Subjekt zu einem freien Aktzentrum, das im Anderen nur den Rivalen sehen kann. Das Dilemma zwischen Autonomic und dem Bedurfnis nach Anerkennung wird nicht aufgelost und erscheint so naturgegeben. Im 20. Jhdt. kommt es zu verschiedenen transzendentalphilosophischen Ansatzen von Intersubjektivitat, wie beispielsweise bei Husserl, Heidegger oder Sartre. Der Andere ist nicht gleichursprtinglicher Partner, sondem alter ego (Husserl); der Andere hat sich nach meinem Weltentwurf zu richten und unterscheidet sich darin nicht von dem Zuhandenen (Heidegger). Bei Sartre schlieBlich wird aus dem Primat des ego eines des alter ego. Im Blick des Anderen erfahre ich mich als jenes Objekt, das ich far ihn bin. Der Andere macht mich zu seinem Objekt Oder umgekehrt, und dieser Kampf bleibt fiir Sartre gmndsatzlich unabschliefibar. Die Selbstwerdung geschieht, wie spater auch bei Wyss (s. Abschnitt 5.3), gegen den Anderen. Die Dialogphilosophie am Beginn des 20. Jhdts., in besonderer Weise mit dem Namen Martin Bubers verbunden, versucht dann in verschiedener Weise wiederum die relationale Verfasstheit des Menschen zu begriinden. Der Dialogismus steht vom Ansatz her in Opposition zu einer Philosophic des allgemeinen Subjekts, offenbart diese jedoch bei naherem Zusehen, wie vor allem Theunissen zeigt, als seine eigene Voraussetzung; er verbleibt letztlich doch in der Abhangigkeit von einem transzendentalphilosophischen Standpunkt. Buber gelingt es nicht, das Ich-Du-Verhaltnis positiv zu sehen, sondem nur als Negation des Ich-EsVerhaltnisses. Pannenberg sieht das absolute Subjekt historisch als Folge der Kirchenspaltung, die die Privatisierung der Religion nach sich zog und damit fur das Subjekt beliebig wurde. Er zieht die Entwicklungslinie von der Hypostasis hin zur transzendentalphilosophischen Subjektivitat (vgl. Pannenberg 1979, 412). In der Neuzeit wird das Subjekt zu einem freien Aktzentrum, das im Anderen nur den Rivalen sehen kann. „Die Vermittlung von Einheit und Dreiheit wurde damit zum unlosbaren Problem" (Kasper 1982, 347). „Keine der trinitarischen Personen hat ihr Wesen aus und durch sich selbst, wie es der modeme Begriff des Subjektes impliziert, da er ja anders die Substanz nicht in sich aufgehoben haben konnte. Person im Sinne der Trinitatslehre und Subjekt im Sinne der Entwicklung, die vom Begriff der Hypostasis zur transzendentalphilosophischen Subjektivitat flihrt, sind nicht dasselbe. Aber die Ausarbeitung ihrer Differenz ist eine noch unerledigte Aufgabe der Theologie, eine Aufgabe, die zugleich von erheblicher anthropologischer Tragweite ist" (Pannenberg 1979, 412). 76
Theunissen unterscheidet drei Positionen auf dem Hintergrund dieser beiden Grundeinstellungen."^^ Er versucht, samtliche Bedeutungen von „Person" aus der theatralischen Urbedeutung „Rolle" herzuleiten. Die Bedingung der Moglichkeit ist die Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit des Schauspielers: Rolle, Rollentrager, Selbstbewusstsein des Schauspielers (vgl. Hilberath 1986, 138). „Das In-der-Rolle-Sein des Schauspielers ist das Modell, an dem das In-Beziehung-Sein der Person urspriinglich abgelesen wurde" (Theunissen 1966, 483). Die Rolle hat Vorrang vor dem in ihr auftretenden Individuum, d.h. es gibt einen „wortgeschichtlichen Vorrang des relationistischen Personbegriffs vor dem substantialistischen" (ebd. 486). Die gmndlegende Problematik, namlich die Unvereinbarkeit zweier Personbegriffe, ist bis heute geblieben. Hier muss also im Blick auf das Ziel einer fundierten Kommunikationstheorie angesetzt werden. Wie soil die Autonomie der Person gewahrt bleiben und zugleich ihr Bediirfnis naoh Anerkennung anerkannt werden? In Hinblick auf die vorausgegangenen Uberlegungen zum Sozialitatsverstandnis in der Sozialpsychologie (s. Abschnitt 2.2) lasst sich nun sagen, dass diese mit ihrem unreflektierten individuumszentrierten Menschenbild ganz in der von Boethius begriindeten Tradition des absoluten Subjekts steht und damit auch vor dem noch nicht gelosten Dilemma zwischen Autonomie und Abhangigkeit. Eine Moglichkeit ware zu sagen: das Phanomen zeigt sich in unserer Erfahrung als „durchwachsen", als ambivalent. Konnte das bei Hegel sichtbar gewordene Dilemma zwischen Selbststandigkeit und Abhangigkeit nicht der Grund ftir diese Ambivalenz sein? Das wiirde bedeuten, dass der Mensch in Bezug auf den Anderen grundsatzlich ambivalent verfasst ware, sein Leiden an der Ambivalenz noch Ausdruck des Unverstandnisses gegeniiber seiner eigenen Natur darstellt. Das wiirde aber auch bedeuten, dass die aufgezeigte „relationale" Tradition zu Recht vemachlassigt bzw. ignoriert wurde. Eine relationale Begriindung des Verhaltnisses des Einen zum Anderen ware dann nur noch ein dem Phanomen unangemessenes Relikt christlich-abendlandischer Tradition. Gibt es, im Hinblick auf das wechselseitige Bestimmungsverhaltnis zwischen Sozialitatsbegriff und Kommunikationsverstandnis, Uberhaupt Kommunikationstheorien, die Sozialitat zumindest implizit als relational verfasst betrachten? Diese Frage soil in zwei Schritten bearbeitet werden, und zwar zum einen durch eine Reflektion der verschiedenen Kommunikationstheorien (vgl. Kap. 4) und zum anderen durch eine Analyse verschiedener psychotherapeutischer Ansatze (vgl. Kap. 5).
1. radikale Relationalitat, Endlichkeit in Gestalt totaler Angewiesenheit; 2. Person ist in ihrem Selbststand konstituiert, 2.a Losgelostheit des Fiir-sich-Seins, 2.b Autarkic des Durch-sich-und-aus-sich-Seins. In 1. ist die Relationalitat konstitutiv, in 2. akzeptabel, sofem sie nicht konstitutiv ist (vgl. Theunissen 1966).
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4 Kommunikationsforschung: ein fragmentarischer Uberblick 4.1 Heterogenitat der Kommunikationsforschung Es wurde in Abschnitt 2.2 systematisch herausgearbeitet, dass die Theorienbildung in der heutigen Psychologie aufgrund heterogener Theorien zum gleichen Sachverhalt unzureichend ist. Es ist weder entscheidbar, welche zutrifft, noch ist auch aufgrund heterogener Terminologien erkennbar, ob sich Aussagen auf die gleichen Sachverhalte beziehen. Es werden Realitatsausschnitte bearbeitet, deren Relevanz beliebig erscheint. Aufgrund einzelner Experimente werden Minitheorien fiir einen stark eingeschrankten Sachverhalt entwickelt, ohne dass ersichtlich wird, wie sich dieser in einen groBeren Zusammenhang einfugt. Nicht zuletzt ist die Tatsache der Individuumszentriertheit der psychologischen Perspektive, insbesondere der Sozialpsychologie, von zentraler Bedeutung, woran sich auch im Rahmen des Sozialen Konstruktionismus schlussendlich nichts geandert hat. Die fehlende Modellierung des Sozialen fuhrt in der Folge zu einer sehr heterogenen Kommunikationsforschung. Frindte (2001) hat in seiner „Einfuhrung in die Kommunikationspsychologie" eine Verortung versucht und spricht in Anlehnung an Ebbinghaus von einer „kurzen Geschichte mit langer Vergangenheit" (Frindte 2001, 26). Relevante Kommunikationstheorien bzw. Fragmente dazu kommen nicht nur aus der Psychologie, denn es handelt sich um ein grundlegendes menschliches Phanomen auch aus der Perspektive anderer Wissenschaften wie etwa der Anthropologic, Soziologie, Linguistik etc. Die Arbeit von Frindte fuhrt dem Leser vor Augen, wie heterogen diese Versuche sind. Fiir Merten zeigt „Kommunikation" zwei Besonderheiten im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Gegenstanden. Einerseits habe ihre Alltaglichkeit und Banalitat sie lange Zeit gar nicht als wissenschaftlichen Gegenstand begreifen lassen, andererseits habe die Entwicklung zu einer Mediengesellschaft Kommunikation „zum fuhrenden Teilsystem der Gesellschaft" (Merten 1999, 13) werden lassen. Insbesondere sind es nach Merten fiinf Eigenschaften der Kommunikation, die Kommunikationswissenschaft zu einem besonders schwierigen Unterfangen machen: Profanitat, Universalitat, Fluchtigkeit, Relationalitat und Unvermeidbarkeit (vgl. ebd. 15). Mit „Profanitat" meint Merten, dass Kommunikation banal und alltaglich, und jedermann dafur auch kompetent zu sein scheint. Banalitaten sind aber wissenschaftlich irrelevant. Mit „Universalitat" ist gemeint, dass Kommunikation die gesamte menschliche Existenz durchdringt und daher auch in der Folge von den unterschiedlichsten Disziplinen als Gegenstand beansprucht wurde. Bisher habe dies aber noch zu keiner allgemein akzeptierten Kommunikationstheorie gefiihrt. Stattdessen beschranke man sich auf Schlagworte und Metaphem, „die den Blick auf theoretische Probleme und Defizite" (ebd. 16) eher verstellten. „Fliichtigkeit" kennzeichnet Kommunikation insofern, als ihre Analyse immer nur im Nachhinein moglich sei, und das erfordere wiederum Kommunikation. „Relationalitat" meint, „dass Kommunika78
tion als Prozess weder beim Kommunikator noch beim Rezipienten, noch in der Aussage als solcher festzumachen ist, sondem sich als spezifische Relation zwischen diesen und anderen EinflussgroBen konstituiert" (ebd. 17). Als Prozess miisse er zudem dynamisch begriffen werden. Das Denken in Relationen sei aber allemal schwieriger als in Elementen oder Faktoren. Mit „Unvermeidbarkeit" bezieht sich Merten wiederum auf das 1. Axiom von Watzlawick et al. in dem Sinne, „dass Kommunikationsprozesse - sobald sie einmal angelaufen sind - keine Negation kennen" (ebd.). Hier unterlauft Merten allerdings der gleiche Irrtum wie Watzlawick et al. (s. Abschnitt 4.4.2), wenn er meint, dass ein konkretes Geschehen wie ein Kommunikationsprozess (iberhaupt eine Negation haben konnte. Negiert werden konnen nur Aussagen. Die Kommunikationsforschung ist dadurch gekennzeichnet, dass es nur ganz wenige Theorien im eigentlichen Sinne gibt. Zumeist lassen sich Mischungen aus Theoriefragmenten und Behauptungen finden, ferner verschiedene methodische Zugange und deren Ergebnisse, des weiteren haufig Beschrankungen auf einen bzw. sehr wenige Aspekte des Kommunikationsgeschehens, sowie mehr oder weniger popularpsychologische Ratschlage zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation, die kaum oder gar nicht theoretisch fundiert sind. Aufgrund der Heterogenitat dieser verschiedenen wissenschaftlichen Bemiihungen stellt sich allerdings die Frage, welchen Kriterien ihre Darstellung folgen soil. Zum einen geht es darum, die verschiedenen Bemiihungen in Erinnerung zu rufen bzw. iiberhaupt bekannt zu machen, es gilt, das Fragmentarische aufzuzeigen, ebenso jene Aspekte, die auch eine kiinftige Kommunikationstheorie beriicksichtigen musste. Schliefilich lassen sich bei aller Heterogenitat dieser interdisziplinaren Ansatze doch einige wenige Entwicklungslinien erkennen, d.h. Forschungsbemlihungen, die aufeinander aufbauen bzw. friihere Gedanken oder Methoden mit aufgreifen. Leitend bleibt dabei nach wie vor die Frage nach dem jeweiligen Verstandnis von Sozialitat, wobei aufgrund der Fragmenthaftigkeit vieler Bemiihungen die Antworten meist nicht sehr ergiebig ausfallen. Zudem sind Autoren wie z.B. Kirchhoff oder Holzkamp inzwischen derart fremd bzw. bisher zu Unrecht iibersehen worden, dass es sich aus diesem Grund, aber auch oftmals wegen der erstaunlichen Reflexionsqualitat, lohnt, bestimmte Aussagen in Form von langeren Originalzitaten vorzustellen, um einen Eindruck dieses teilweise schon mehr als fiinfzig Jahre zuruckliegenden Denkens aus erster Hand zu vermitteln. Gleiches gilt auch fur Autoren, deren zentrale Aussagen haufig schlagwortartig erwahnt werden, wie z.B. jene der Informationstheorie von Shannon & Weaver, ohne dass auf den Originaltext wirklich Bezug genommen wird. Die Entscheidung fiir eine im GroBen und Ganzen chronologische Darstellung ist von daher nicht nur Ausdruck des Mangels an iiberzeugenderen Kriterien, sondem hat auch den Vorteil, dass dadurch die behauptete Heterogenitat der Ansatze iiber die Zeit hinweg sichtbar wird. Die Zuordnung der einzelnen Beitrage zu bestimmten Themengruppen ist daher cum grano salis zu nehmen.
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4.2 Friihe kommunikationstheoretische Fragmente 4.2.1 Das Stimulus-Response-Modell und die Lasswell-Formel Aristoteles, insbesondere hinsichtlich seiner Schrift „Rhetorik", sieht Merten (1999) als „Urvater der Kommunikationswissenschaft" an, als jemanden, dem es um eine ganz bestimmte Wirkung von informeller, d.h. Face-to-face-Kommunikation zu tun war. Lasswell (1927) hat versucht, die Wirkung von Propaganda mittels seines Stimulus-Response-Modells zu erklaren, das er in Anlehnung an den Behaviorismus kreierte (vgl. Frindte 2001, 29f). Dieses Modell besteht aus drei Elementen, dem Kommunikator, dem Stimulus und dem Rezipienten, wobei Merten eine ganze Reihe anderer Ausdriicke fiir diese drei Momente anfiihrt (vgl. Merten 1999, 54). Im Kern des Modells geht es darum, dass etwas von einem zu einem anderen Punkt transportiert wird, quasi wie in einem Container. Diese drei Elemente konnen aber auch direkt bestimmte Rollen des Kommunikationsprozesses bezeichnen (vgl. ebd. 55). Die sog. Lasswell-Formel: „Who says what in which channel to whom with what effect?" war der Versuch Lasswells, die Einseitigkeit des Stimulus-Response-Schemas als Wirkung eines Senders auf einen Empfanger zu iiberwinden. Fiir Merten reduziert diese Formel den Kommunikationsprozess auf fiinf statische Positionen, die seiner Meinung nach aber der Prozesshaftigkeit des Geschehens nicht gerecht werden (vgl. ebd. 70). 4.2.2
Shannon & Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie
„The Mathematical Theory of Communication", herausgegeben von Shannon & Weaver (1949)"^^ zahlt zu den Klassikem unter den Kommunikationstheorien. Technische Informationsiibertragung war immer storanfallig, d.h. Elemente der iibertragenen Information gingen unvermeidlich verloren. Shannon & Weaver entwickelten eine Theorie der Informationsiibertragung, mathematisch exakt formuliert, die als Sender-Empfanger-Modell in den verschiedensten Wissenschaften Eingang fand, „vor allem, als sich herausstellte, dass zwischen den Formeln von Shannon/Weaver und der Entropie, wie sie die Thermodynamik beschreibt, gesetzmaBige Zusammenhange bestehen (Information als Negentropie). Seitdem ist Kommunikation ein transdisziplinarer Begriff: er gehort heute zum Grundinventar der Kybemetik (Wiener 1961), der Semiotik (wodurch Sprache und andere Handlungssysteme unter dem Aspekt ihres Zeichencharakters einen gemeinsamen Oberbegriff fanden" (Wessel & Naumann 1994, 16). Weaver versteht Kommunikation im weitesten Sinne als „Kontakt" der verschiedensten Art und Weise. „The word communication will be used here in a very broad sense to include all of the procedures by which one mind may affect another. This, of course, involves not only ' Die ubliche Zitierung dieses Werkes in der wissenschaftlichen Literatur erweckt den Eindruck, als ob es als Ganzes von Claude Shannon und Warren Weaver verfasst worden sei. Tatsachlich ist es von beiden herausgegeben worden; es enthalt aber lediglich zwei namentlich gekennzeichnete Beitrage, wobei ersterer von Weaver, letzterer von Shannon stammt.
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written and oral speech, but also music, the pictorial arts, the theatre, the ballet, and in fact all human behavior. In some connections it may be desirable to use a still broader definition of communication, namely, one which would include the procedures by means of which one mechanism (say automatic equipment to track an airplane and to compute its probably future positions) affects another mechanism (say a guided missile chasing this airplane). The language of this memorandum will often appear to refer to the special, but still very broad and important, field of the communication of speech; but practically everything said applies equally well to music of any sort, and to still or moving pictures, as in television" (Weaver 1972, 3f). Die Darstellung des Modells geschieht hier in Anlehnung an die Modalitaten der Telefonkommunikation. Der Sender schickt seine Signale iiber einen Ubertragungskanal an den Empfanger, wobei das Signal durch einen zwischen Sender und Empfanger geschalteten Transmitter in elektrische Spannung transformiert, d.h. encodiert werden muss, da Schallwellen keine groBen Distanzen uberbriicken konnen. Der Sender wiederum muss die Encodierung wieder umkehren, d.h. die Decodierung vomehmen. „The receiver is a sort of inverse transmitter" (ebd. 7). Die Decodierung ist das Kemproblem, und darum handelt es sich ursprlinglich um eine Informations- und nicht um eine Kommunikationstheorie. In die Ubermittlung des codierten Signals mischt sich storendes Rauschen mit den Signalen. Der Empfanger steht dann bei der Decodierung vor der Aufgabe, das Rauschen von den informationstrachtigen Anteilen des Signals trermen zu miissen. „Aus dieser Konzeption von Stoning resultierten mathematische Modelle von Information und Entropie, die in die Kybemetik (Wiener 1948) einflossen und sehr komplexe Modellierungen von Systemzustanden ermoglichten" (Petersen 2002, 16). Weaver schatzt die „Mathematical Theory of Communication" als „so general that one does not need to say what kinds of symbols are considered - whether written letters or words, or musical notes, or spoken words, or symphonic music, or pictures. The theory is deep enough so that the relationship it reveals indiscriminately apply to all these and other forms of communication" (Weaver 1972, 25). Bei der Ubertragung von Information werden bestimmte Regelhaftigkeiten wirksam, die mathematisch beschrieben werden konnen. Individuelle Eigenschaften, Erwartungen und Bediirfnisse sind entweder Storungsmomente des Ubertragungskanales, „die durch eine hohere Redundanz (also eine quantitative Eigenschaft der iibertragenen Botschaft) ausgeglichen werden konnen, oder als Differenzen im Zeichenvorrat von Sender und Empfanger, ebenfalls nur quantitatives Problem" (Wessel & Naumaim 1994, 17). Im Rahmen der Informationstheorie ist ein einheitlicher Code ftir den Sender und den Empfanger Voraussetzung fur die entsprechende En- und Decodierung. In der verbalen zwischermienschlichen Kommunikation muss ein solcher Code Bezug auf die Bedeutung nehmen. Shannon und Weaver losen das Problem „durch eine Zweiteilung auf Sender- wie Empfangerseite: Ein ,semantischer Sender' transformiert Bedeutungen in ,Output', schickt sein Signal an den ,technischen Sender', der die Transformation an die Kanalgegebenheiten vomimmt und das Signal an den ,technischen Empfanger' weiterleitet, der wiederum den ,semantischen Empfanger' ansteuert (vgl. Shannon und Weaver, 1949, S. 26). Damit dehnt sich zwar der Anteil potentieller Storquellen von der technischen Ebene auf die semantische Ebene aus, 81
jedoch ist menschliche Kommunikation in diesem Sinne als Signaliibertragung zumindest konzipierbar und bedarf nur eines einheitlichen semantischen Codes, der vorher kommuniziert worden sein muss" (Petersen 2002, 17). Und genau hier liegt das Problem, namlich ein unendlicher Regress von apriorischen Kommunikationen. Es wird in diesem Modell nicht deutlich, dass der Sender zugleich auch Empfanger ist. Auch bleibt der Kontext einer solchen Kommunikation unberiicksichtigt. Das Modell konzentriert sich ganz auf die Senderperspektive, ist also individuumszentriert. „Die Unmoglichkeit, in menschlicher Kommunikation das, was beim Empfanger ,ankommt' als abhangige GroBe der vom Sender ubertragenen Information plus der kanalseitigen Storreize zu konzipieren, begriindet sich uber die konstruktive Aktivitat des Empfangers. Die Definition von Kommunikation als Informationstibertragung im Sinne Shannon und Weavers befindet sich somit an einem Pol des Kommunikationsverstandnisses, der als physikalistische Orientierung dem Realismus zuzuordnen ist" (ebd. 18f).''
4.3 Forschungsansatze im Kontext der Ausdruckspsychologie Zu den Forschungsbemiihungen im Kontext der Ausdruckspsychologie zahle ich jene Ansatze, die sich mit dem moglichen Verstehen des verbal wie nonverbal GeauBerten eines Anderen auseinandersetzen, femer diejenigen, in denen Methoden entwickelt wurden, um beide Kommunikationsweisen konservieren und auswerten zu konnen sowie auch jene Bemiihungen, die ausschlieBlich Sprache mit Kommunikation gleichsetzen. 4.3.1 Das Ausdrucksverstandnis bei Robert Kirchhoff Robert Kirchhoff und Klaus Holzkamp waren, neben einigen anderen Autoren, seit etwa Mitte der 1950er Jahre um eine grundlegende theoretische Fundierung der Ausdruckspsychologie bemuht, die im Bd. 5 des „Handbuches der Psychologic" einen Hohepunkt fand."^^
^^ Der Konstruktivismus ist nach Petersen gewissermaBen der andere Pol mOglicher Kommunikationskonzepte (vgl. Petersen 2002, 19). ^^ 1941 wurde erstmals eine Diplomordnung fur Psychologie in Deutschland erlassen. Charakterkunde und Ausdruckskunde waren darin zwei der vier Vordiplomgrundf^cher. In der Diplomordnung von 1973 scheint „Ausdruckspsychologie" als Fach hingegen gar nicht mehr auf 1965 hat das „Handbuch der Psychologie" noch einen ganzen Band (Bd. 5) von knapp 600 Seiten diesem Thema gewidmet. Man kann dieses von Robert Kirchhoff herausgegebene Werk als ersten und zugleich letzten Versuch einer Systematisierung bisheriger ausdruckspsychologischer Arbeiten ansehen, wenn man von Karl Biihlers „Ausdruckspsychologie" (1933) absieht. Zugleich ist es auch der Versuch einer grundlegenden theoretischen Fundierung durch Kirchhoff selbst. Kirchhoff hatte 1957 seinen theoretischen Ansatz einer Ausdruckspsychologie als Habilitationsschrift vorgelegt. Auch sein Vater, Thomas Kirchhoff, war schon Professor fiir Ausdruckspsychologie gewesen. Kirchhoff sieht die Ausdruckspsychologie 1962 „in einer Krise. Es ist die schwerste Krise ihrer bisherigen Entwicklung: in ihr geht es um Fortbestand oder Auflosung. Die Krise ist eine Existenzkrise. Starke Krafte drangen auf ein Ende der Ausdruckspsychologie als selbststandiger Disziplin" (Kirchhoff 1962, 135). Krause (1996) bemerkt in der „Enzyklopadie der Psychologie", dem Nachfolger des „Handbuches", zu Recht kritisch an, dass in dem doch grol3en historischen Teil „die Zuruckhaltung in der Diskussion der vormals stilpragenden nationalsozialistisch orientierten ausdruckspsychologischen Autoren" (Krause 1996, 577) auffallig gering sei. Nur in einigen wenigen Nebensatzen erfolgt bei Kirchhoff ein hochstens kryptischer Hinweis auf jene, die durch ihren (wissenschaftlichen Dilettantismus) das Fach so in Verruf gebracht hatten, ohne dass allerdings Namen genannt werden.
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Kirchhoff halt Positionen, die „Ausdruck" entweder fiir gar nicht definierbar halten oder aber erst durch empirische Forschung, d.h. irgendwann spater einmal, zum einen fur eine wissenschaftliche Bankrotterklarung, zum anderen fur einen Ausweis einer „ebenso erstaunliche(n) wie erstaunlich weit verbreitete(n) Unklarheit uber die Funktion und das Wechselspiel von Begriffs- und empirischen Sachmethoden" (Kirchhoff 1965a, 11). Die Analyse von Satzen liber „Ausdruck" zeigt, dass darin immer von einem ,,'Wer oder Was' (einem Subjekt) ausgesagt wird, dass es in einem ,Worin oder Wodurch' (einem Medium) ,zum Ausdruck', zur Erscheinung, zur Sichtbarkeit, zur Wahmehmbarkeit, zum Vorschein kommt" (ebd.). Unter diesen beiden Rticksichten lassen sich also samtliche Ausdrucksbegriffe befragen; sie unterscheiden sich dann hinsichtlich Enge oder Weite dieser beiden Momente - Maximum, Minimum und Median - es entsteht ein Neunfelder-Schema (vgl. ebd.). Der Umfang des Ausdruckssubjekts, damit konnen z.B. nur Affekte, also der spezielle momentane Ausdruck, aber auch ganze Wesensziige gemeint sein, bestimmt nachfolgend das Ausdrucksmedium (vgl. Kirchhoff 1965b, 143). Ausdrucksmedien konnen zum einen persongebunden sein, wie z.B. Mimik, Gestik, Stimme, Bewegung, Haltungen, Beschaffenheit der Einzelteile etc., weiter differenziert in statisch-tektonische und dynamisch-funktionelle Ausdrucksmedien, andererseits konnen es auch personabgeloste wie z.B. die Handschrift, Milieuwahl, Milieugestaltung (Wohnung, Arbeitsraum) oder andere Werke sein. Sein eigener Ausdrucksbegriff umspannt „das gesamte Wie-Spektrum morphologisch-statischer und aller nicht-morphologischen Erscheinungen. Er umschlieBt dergestalt alle physiognomischen und pathognomischen Erscheinungen" (Kirchhoff 1962, 201)"^"^, wahrend er die personabgelosten Ausdrucksmedien aus seinem Ausdrucksbegriff ausschliefit."^^ Mit dieser Unterscheidung zwischen Ausdruckssubjekt und Ausdrucksmedium und deren graduelle Abstufungen"^^ gelingt es Kirchhoff, die auBeror-
'^'^ „Der antike Begriff der Physiognomik - in dem unter anderem der modeme Begriff einer Morphologie angelegt war - ist dergestalt recht weit und entbehrt zugleich einer Differenzierung des Ausdrucks-Mediums in statisch-tektonische und dynamisch-funktionelle Teilbezirke. Eine derartige Unterscheidung ist erst viel spater und vor allem unter dem kritischen Aspekt einer Abscheidung des morphologischen Anteils im AusdrucksMedium vollzogen worden; woran sonderlich Lichtenberg mit seiner von ihm zwar schon vorgefundenen, aber mit kritischem Geist versetzten und besiegelten Diskrimination von Physiognomik und Pathognomik beteiligt war" (Kirchhoff 1965a, 14). Physiognomik wird als Lehre von den Ausdruckserscheinungen morphologischer Art, Pathognomik als jene von den Ausdruckserscheinungen kinetischer Art verstanden. Unter „Physiognomie" versteht man den Gesichtsausdruck, wie er durch den Gebrauch der Mimik geworden ist. "•^ „Andererseits schliefit der Begriff die personabgelosten Erga aller pragmatischen und semantischen Handlungen aus; mithin die bleibenden Effekte zweckgerichteten Tuns ebenso wie diejenigen semantischer Vollzuge. So gelten weder selbstverfertigte Werkzeuge noch graphisch-signifikative Werkgestalten (Zeichnungen) noch sprachlich-signifikativ-graphische Werkgestalten (Handschrift) als Ausdruck i.S. der Ausdruckspsychologie" (Kirchhoff 1962, 201). Ausdruckssubjekt sind vor allem der Charakter, die zeituberdauemden Personlichkeitsmerkmale, bei Clauss, Gunther, Eckstein und anderen Rassenideologen der Nazizeit sind es die Rassenseele, die sich in einem ihr gemafien Leib zeigt, und Affekte. '*^ Ausdrucksmedien im Laufe der Jahrtausende waren einzelne Korperteile wie etwa Daumen, Stim und FuB, aber auch die gesamte Gestalt, femer Farben, Behaarung, Hautbeschaffenheit, Bewegung, Gang, Korperhaltung, Schadelform (vgl. Kirchhoff 1965a, 14f).
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dentlich heterogenen Arbeiten zum Thema „Ausdruck" im Laufe der Jahrtausende zu systematisieren.'*^ Leben ist fiir Kirchhoff „Erscheinen", physiognomisches wie pathognomisches, und insofem es erscheint, ist auch Ausdruck gegeben (vgl. Kirchhoff 1957, 158), d.h. was lebt, zeigt immer auch Ausdruck (vgl. ebd. 162ff), genauerhin ist er „das Erscheinen personalen Soseins fur Jemanden" (Kirchhoff 1965b, 182). Ausdruck existiert nicht fiir sich allein, sondem mindestens zwischen zweien. „Aussagen iiber Ausdruck sind Beziehungs- oder Relations2MSS2igQn. Sie betreffen nicht einen ,Punkt', sondem die Beziehung zwischen zwei Punkten (Partnem, Systemen) [...] Beziehung, logisch nicht weiter auflosbar, ist das Zwischen-Zweien. Je einer der zwei heiBt Relationsglied (Relatum). In unserem Fall ist das eine Relatum das erscheinende personale Sosein; das andere ist das Mitwesen, welches das erscheinende personale Sosein auffasst. Ausdruck ist das ,Zwischen' dieser beiden Relationsglieder. Es ist zu betonen, dass das erste Relatum nicht das personale Sosein ,als ganzes' und nicht ,als seiches' ist, sondem personales Sosein, soweit es erscheint, d.h. mit Bezug auf ein perzipierendes Mitwesen teilzuganglich wird"(ebd. 182f). Daher ist Ausdruckspsychologie „von Grund auf sozialpsychologisch angelegt" (ebd. 184). Insofem „Ausdruck" also nur als Relation zwischen zwei Relationsgliedem besteht, ist die Rede von einer „Ausdrucks-Eindrucks-Beziehung" fiir Kirchhoff tautologisch, d.h. wo Ausdruck ist, gibt es immer auch einen Eindruck. Man wiirde die Relation damit gewissermai3en verdoppeln, oder aber man will damit zwei unabhangige Momente verbinden (vgl. Kirchhoff 1962, 207f). Kirchhoff macht hier auf etwas ganz Entscheidendes aufmerksam. „Ausdruck" ist von vomherein immer schon relational bestimmt, und von Sender und Empfanger kann nur innerhalb dieser Relation die Rede sein. Man kann einerseits von einer Tautologie, einer unnotigen Verdoppelung, reden. Man konnte aber auch sagen, dass der zweite Schritt den ersten aufhebt, d.h. im Widerspruch dazu steht. Was zunachst relational aufgefasst wurde, wird unter der Hand wieder zu individuellen Momenten eines Geschehens, die nachtraglich miteinander verbunden werden miissen. Die Verselbstandigung der Relata ist eben die Ausloschung der Relation. Es kann eigentlich nur eine Akzentuierung innerhalb einer Relation geben bzw. auf dem Hintergrund der Relation. „Ausdruck" nennt Kirchhoff auch „das Zeichen-Sender-undEmpfanger" (ebd. 209). Wenn von „Sender" oder „Empfanger" die Rede ist, dann immer nur als Momente einer schon vorgegebenen Relation und nicht als einer nachtraglichen. Kirchhoff spricht in diesem Zusammenhang schon von „sozialer Rtickkopplung", wie sie auch im Tierreich gegeben sei, und sich besonders deutlich im Blickausdruck zeige (vgl. ebd. 206f). Diese relationale Perspektive ist in der Ausdruckpsychologie zu dieser Zeit weitgehend neu. Als Erklarung fur diesen Sachverhalt fuhrt Kirchhoff an, dass seit Aristoteles weitgehend ""^ Eine ausgewogene wissenschaftliche Darstellung dieser Forschungsbemiihungen existiert bislang noch nicht. Sie wtirde es erforderlich machen, dass man auch gerade die Ausdruckspsychologie im Kontext der nationalsozialistischen Ideologic aufarbeitet, d.h. die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Auffassungen von Ausdruck, Konstitution, Rasse, Rassenseele und Vererbung historisch und systematisch analysiert. Erste historische Einblicke geben Kirchhoff (1965a) und Lindner (1991). Geuter (1984) macht es sich m.E. zu einfach, wenn er sich mit dem Argument, dass es keine wirklichen Psychologen gewesen seien, aus der Affare zieht. 84
nur die Beziehung zwischen dem „Ausdmcks-Sender" und dem „Ausdrucks-Medium", also Mimik, Gestik, Tonfall etc., nicht aber jene zwischen „Ausdrucks-Sender" und „AusdrucksEmpfanger" im Blickpunkt stand, ohne dass dies bemerkt worden ware (vgl. Kirchhoff 1965a, 14). Verantwortlich dafiir macht er das sog. „Subjektivitatsaxiom" der damaligen Psychologic, das einen unmittelbaren Zugang zum anderen Menschen vemeint habe (vgl. Kirchhoff 1965b, 198), aber, so kann nach dem oben (s. Abschnitt 2.2) schon Diskutierten gesagt werden, nach wie vor vorherrscht. „Da Ausdruck das Zwischen-Zweien bedeutet, muss auch jeder Versuch scheitem, die Bedeutung des Ausdrucks fiir nur einen Relationstrager zu behaupten. Dies ist fiir die Seite des ,Lebenstragers fur sich' logisch schon deshalb unmoglich, weil im Falle des Nichtaufgefasstseins seines Daseins und seiner LebensvollzUge seitens eines realen Oder fiktiven Empfangers kein Erscheinen und somit kein Ausdruck vorliegen wiirde" (ebd. 185). Was ein Ausdruck meint, ist nur in Bezug auf den Empfanger feststellbar. Es sind also erst dann Ausdruckserscheinungen, „wo dieses Lebewesen in die Relation Sender-Empfanger eingetreten ist" (ebd.). Diese klaren Aussagen hebt Kirchhoff wenig spater wieder etwas auf, insofem er der darin implizit enthaltenen logischen und empirischen Bedeutungslosigkeit eines „Ausdruck an sich" nur bedingt und nicht zur Ganze zustimmt. „Jedoch trifft nicht zu, dass die Abwesenheit eines Empfangers die Lebensverwirklichung eines ,Lebewesens fur sich' ihrer Bedeutung beraubte. Diese wiirde aber sub specie ihres Erscheinens Ausdruck bzw. Ausdruckserscheinung heiBen" (ebd. 185f). Demnach ist Ausdruck immer gegeben, d.h. das jeweilige Sosein in einer bestimmten Situation ist zugleich „Ausdruck". Sozial ist er dann, sofem er „erscheint", d.h. von einem Empfanger wahrgenommen wird, auch wenn dieses Wahrgenommen-Werden vom Sender selbst nicht wahrgenommen wird, d.h. wenn er nicht weifi, dass er beobachtet wird. Ausdruck ist nicht nur dann gegeben, wenn er intentional ist. „Ausdruck ist das allgegenwartige Zuganglichsein von Wesensart und Zustandlichkeit eines Lebewesens fiir einen Empfanger" (Kirchhoff 1962, 206). Wie ist nun das Verhaltnis zwischen Ausdrucks-Subjekt und Ausdruckserscheinung zu verstehen? Es ist „anwesende Essenz bestimmter Erscheinungen" (Kirchhoff 1962, 213). Daher nimmt Kirchhoff eine „Gleichstrukturiertheit von Ausdrucks-Medium und AusdrucksSubjekt" (ebd. 214) an, d.h. Zeichen und Bezeichnetes sieht Kirchhoff als homolog strukturiert (vgl. ebd.), z.B. wird ein weiches Gesicht „als reprasentativ fur die homologe Struktur des von ihm Angezeigten" (ebd. 214) angesehen."^^ Praktisch alle Ausdruckserscheinungen zeigen eine durchgangige Vieldeutigkeit (vgl. Kirchhoff 1960, 586). Kirchhoff unterscheidet zwischen dem Phanomen und seiner Zeichenfunktion. Zeichen selbst sind immer eindeutig, allerdings kann ein Phanomen abhangig von der Situation auch mehrere Zeichenfunktionen haben. Insofem ist die Bedeutung eines Zeichens immer konstant, wahrend das Phanomen vieldeutig sein kann. Es liegt also eine Kon^^ S. Abschnitt 5.6.3 die Diskussion des Ansatzes von M. Domes, der das Gleiche in Bezug auf die Sauglingskommunikation behauptet. 85
stanz zwischen signum und significatum vor, zugleich kann ein „Mangel an Spezifitat bestimmter Erscheinungen" (Kirchhoff 1962, 216) vorliegen. Ohne Kenntnis der Situation bleibt der Ausdruck vieldeutig (vgl. ebd. 211). Kirchhoff thematisiert auch das Problem des „Ausdrucksverstehens", des „Enipfangssystems". Von dem klassischen Subjektivitatsaxiom aus lasst sich, so Kirchhoff, das Problem des Fremdverstehens nicht losen. „Wenn grundsatzlich vorentschieden ist, dass wir iiber Seelisches nur durch Introspektion etwas erfahren konnen, kann ebenso grundsatzlich keine Hilfsannahme zum Mitwesen als einem von sich aus lebendigen, personalen, beseelten Mitwesen hinfiihren" (ebd. 219). Was Kirchhoff „Subjektivitatsaxiom" nennt, wurde in Kap. 2 als „individuumszentrierter Ansatz" bezeichnet. Von ihm aus fuhrt kein Weg zum Verstehen des Anderen. Alle Verstehensversuche mtissen von hier aus scheitem. Folge dieses von Kirchhoff sog. Subjektivitatsaxiom war die Notwendigkeit, „durch entsprechende Zusatzannahmen das phanomenal unbestreitbare Verstehen des Mitwesens verstandlich zu machen. Wohl alles Denkbare ist als Hilfshypothese durchgespielt worden: Assoziation, Instinkt, Einfuhlung, Analogieschluss u.a. Das Problem der Intersubjektivitat ist dadurch aber nicht gelost worden" (ebd. 217). Die Erfahrung spricht von der unmittelbaren Gegebenheit des Anderen, womit sich der monadologisch bestimmte Ansatz des Subjektivitatsaxioms der herkommlichen Psychologic aber nicht in Einklang bringen lasst (und das ist bis heute unverandert so geblieben). Daher liefen die Bemiihungen darauf hinaus, „die Realitat des alltaglichen Umgangs mit lebenden Menschen und Tieren als phanomenalen Schein zu durchschauen und abzuwerten [...] es musste gezeigt warden, dass es eine unmittelbare Erfahrbarkeit unserer Mitwesen ,eigentHch' nicht gebe. [...] Dabei wurde der Terminus ,unmittelbar' in hochst verschiedener Weise gefasst, was sowohl die Diskussion wie die Klarung des Problems sehr belastet hat und noch heute belastet" (ebd. 218). Daher versucht Kirchhoff nun, die moglichen Bedeutungen von „Unmittelbarkeit" systematisch zu erfassen. Er unterscheidet „Unmittelbarkeit" im Sinne von „ohne Medien". Insofem der Ausdruck aber immer leibgebunden ist, ist er in diesem Sinne nicht unmittelbar. „Unmittelbarkeit" im Sinne von „tauschungsfrei": dies kann, so meint Kirchhoff, schon aufgrund der erwahnten Vieldeutigkeit von keinem Phanomen gefordert werden. „Unmittelbarkeit" im Sinne von „psychogenetisch nicht konditioniert": fast alles, was wir erleben, ist psychogenetisch konditioniert, d.h. es wurde gelemt. „Der Sache nach sollte man in der Diskussion phanomenale Unmittelbarkeit und psychogenetische Nicht-Unmittelbarkeit unterscheiden, wodurch sich der Streit behebt: Es gibt phanomenale Unmittelbarkeit (unmittelbares Sehen, Wahmehmen, Fiihlen, Denken usf), wo psychogenetisch unzweifelbar gelemt wurde. Nicht immer, eher selten, ist die ,Geschichte' eines Phanomens im phanomenalen Bestand selbst mitvertreten" (ebd. 219).
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Zur Vermeidung von Unklarheiten empfiehlt Kirchhoff die Verwendung einer entsprechenden Prazisierung, „z.B. unmittelbar = nicht-konditioniert; unmittelbar = ohne andere, als Wahmehmungsprozesse gegeben usf." (ebd. 219). Ausdruckserscheinungen zeigen sich unmittelbar erfahrbar am Phanomen, und dies gilt auch intersubjektiv. „Zeigt sich auBerdem, dass schon im Tierreich und beim Neugeborenen intersubjektive Reaktionen auftreten, und welter, dass in der Ontogenese nicht erst im Laufe der Entwicklung eine Beseelung bzw. Personifizierung von Weltgehalten eintritt, sondem umgekehrt eine Schrumpfung des zunachst viel we iter verbreiteten ,physiognomischen' Wahmehmens (i.S. Heinz Werners), dann wird das Subjektivitatsaxiom samt der Gleichsetzung von Wahmehmung mit ,Ding'-Wahmehmung immer suspekter" (ebd. 220). Adolf Portmann (1953) sprach vom Leben als einer vorbereiteten Beziehung. Eine solche ontologische Diskussion liegt ftir Kirchhoff nicht in der Zustandigkeit einer empirischen Einzelwissenschaft, doch kann die Ausdruckspsychologie nach seinen bisherigen Uberlegungen jetzt viel freier von „Ausdrucks-Wahmehmung" sprechen, die eigentlich eine SozialWahmehmung ist. Die konditionale Hauptfunktion des Ausdrucksverstehens ist die Wahrnehmung; daher ist die Frage seiner Genese eigentlich die Frage nach der Phylo-, Onto- und Aktualgenese der Sozialwahmehmung (vgl. ebd. 221). Die traditionellen Formen des Fremdverstehens karm es fur Kirchhoff trotzdem geben, also instinktives Ausdrucksverstehen, Analogieschliisse, Einfiihlung, allerdings immer nur auf der Grundlage von Wahmehmungsprozessen (vgl. ebd. 220). Hinsichtlich der Ontogenese des Ausdrucksverstehens geht es sowohl um den Einfluss von Erbanlagen, Reifung wie auch von Lerneffekten. 4.3.2 Ausdruckstheoretische Uberlegungen bei Klaus Holzkamp'*^ Fiir Holzkamp geht es in den 1950er Jahren in der grundwissenschaftlichen Ausdrucksforschung um die Frage, „auf welche Weise und unter welchen Bedingungen fiir die Menschen iiber den Ausdrucksweg tatsachlich Fremdseelisches erfahrbar wird" (Holzkamp 1956, 297) und inwiefem Ausdrucksverstehen „Mittel der Kommunikation anlasslich vorfmdbarer zwischeimienschlicher Beziehungen ist" (ebd. 298). Er nahert sich diesen Fragen zunachst mittels einer Phanomenanalyse. (1) Die seelische Befmdlichkeit, die Affektlage des Anderen erscheint uns urmiittelbar anschaulich. Wahmehmung des Anderen heiBt zugleich Wahmehmung seiner Befmdlichkeit. (2) Femer erscheint uns die fremdseelische Befmdlichkeit „als unvermittelt, also ohne erlebtes Dazwischentreten von Prozessen - etwa Wissensreproduktion, Schliissen oder sonstigen Denkablaufen - gegeben" (ebd. 299). (3) Die seelischen Gegebenheiten des Anderen erscheinen als die des Anderen, auBerhalb von mir, und nicht als meine eigenen. Dies hangt natiirlich Klaus Holzkamp (1927-1995) beschaftigte sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn in den 1950er Jahren mit der Ausdruckspsychologie, widmete dann eine ganze Reihe sehr kritischer Arbeiten den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologic und entwickelte schliefilich den Ansatz einer „Kritischen Psychologic" auf marxistischem Hintergrund.
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eng mit der Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit zusammen, denn es sind ja alles Aspekte des einen und selben Phanomens. Wir fuhlen einem fremden Gefuhl nach, ohne dass es zu unserem eigenen Gefuhl wird oder ein gleiches Gefuhl in uns erzeugt. Mitgefuhl kann eine Folge davon sein. Bei der Gefuhlsansteckung hingegen lauft in mir Ahnliches ab wie beim Anderen, ohne dass ich ihn aber verstanden hatte (vgl. ebd. 300). (4) Ich kann zwar eine Landschaft als heiter oder bedriickend erleben, schreibe ihr aber nicht eine solche Erlebnisqualitat zu. Anders ist dies bei einem Menschen, den ich als bedrtickt wahmehme. Das Fremdseelische hat Realitatscharakter. (5) Ich erlebe nicht Bedrticktheit als solche, sondem immer Bedriicktheit eines bestimmten Menschen. In der Folge diskutiert Holzkamp einige Autoren wie Roffenstein und Gruhle, die gegen einzelne der gerade aufgezahlten Momente des Ausdruckserlebens argumentieren. Er sieht ihre Kritik allerdings als Folge einer „Objektentgleisung", namlich als Verfalschung der reinen Erlebnisse durch tatsachlich oder vermeintlich Gewusstes (vgl. ebd. 304, Anm. 5). Holzkamp konzediert die Fragwurdigkeit jeder Phanomenanalyse aufgrund der „Beliebigkeit und Auswechselbarkeit der Formuliemngen, um die Schwerfassbarkeit der Phanomene und um ihre Labilitat gegenuber eigener und fremder Einrede" (ebd. 304). Aber selbst beim exakteren Vorgehen im Experiment muss zuvor festgestellt werden, wovon eigentlich die Rede sein soil. „Nur so wird es moglich zu entscheiden, in welchem Grade bei einem Experiment ein gemeintes Phanomen iiberhaupt verwirklicht ist" (ebd. 305). Wie funktioniert nun das Fremdverstehen? Die sog. „Einfuhlungsdiskussion"^^, die bis zum ersten Weltkrieg gefiihrt wurde, drehte sich um die Frage, wie Erlebnisse, die ja immer die jemeinigen sind, als die eines Anderen erfahren werden konnen, wie Fremdpersonliches iiberhaupt als Nichteigenes erscheinen kann. Darauf gab es sehr verschiedene Antworten. (1) Instinkt: er fiihrt allerdings zur Vervielfaltigung des eigenen Ichs. (2) „Einschmelzung": durch sie werden meine eigenen Erlebnisse mit dem fremden Leib verbunden. (3) Assoziation: wir assoziieren bestimmte Erlebnisse mit den dazugehorigen Bewegungsempfmdungen. Sehen wir eine Bewegung, assoziieren wir „ruckwarts" die dazugehorige Empfmdung. (4) Analogieschluss: Hier wird vom eigenen Verhalten auf das fremde geschlossen. Hierbei ergibt sich allerdings folgendes Problem: Ich habe bei einer bestimmten Gebarde ein bestimmtes Gefuhl gehabt. Sehe ich die Gebarde wieder, miisste ich das gleiche Gefuhl haben. Dass es das Gefuhl des Anderen sein soil, setzt voraus, dass ich schon weifi, dass es einen solchen gibt. (5) Nachahmung: Wir haben eine Tendenz zur Nachahmung der fremden Korperbewegung und gelangen dadurch zu Erlebniskorrelaten, die wir auf den Anderen beziehen. Aber die Empfmdung, die ich durch Nachahmung habe, ist wiederum meine Empfmdung, nicht die des Anderen. Holzkamp zieht angesichts dieses Sachverhalts den Schluss, dass die ^^ ,,'Empathie' ist ein Kunstwort, ein Neologismus mit einer kuriosen Geschichte" (Komer 1998, 3). Das deutsche ,Einfuhlung' wurde von Titchner ins Amerikanische mit ,empathy' Ubersetzt und gelangte von dort wieder als ,Empathie' ins Deutsche zurUck. Lipps „entwarf eine Theorie iiber die Einfiihlung als intrapsychischen Prozess. Er verfolgte die Hypothese von einem menschlichen Zwang zu ,motorischer Nachahmung'" (Komer 1998,4).
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Einwande gegen diese Theorien mehr oder weniger berechtigt sind, d.h. keine taugt wirklich zur Erklarung des Ausdruckserlebens. Holzkamp stellt die These auf, dass der Begriff der „AuBenwelt" unzutreffend bzw. veraltet sei (vgl. ebd. 308).^' Die sensualistische Auffassung der Wahmehmimg in den Anfangen der Psychologie ging davon aus, dass „die Wahrnehmung eine getreue Widerspiegelimg der Reizgegebenheiten sei" (ebd. 308). Erst die Gestalttheoretiker wiesen in vielen experimentellen Untersuchungen „die konstituierenden Faktoren beim Aufbau unserer Wahmehmungswirklichkeit auf (ebd.). Nicht nur die Reizgegebenheit bestimmt unsere Wahrnehmung, sondem auch die im wahmehmenden Subjekt gegebenen allgemeingiiltigen autochthonen Wahrnehmungsgesetzlichkeiten. Folge ist aber nicht eine „private" Wahrnehmung, sondem eine, die intra- und interindividuell bestandig ist. Diese Wahrnehmung kann dann noch durch subjektive Faktoren individueller Natur modifiziert werden, z.B. durch sozialen Druck, bestimmte Erlebnislagen etc. (vgl. ebd. 308f). Werden nun die Dinge als unabhangig vom wahmehmenden Subjekt gedacht, dann bleibt die Wahrnehmung des Ausdruckserlebens als fremdseelisches Erleben unerklarbar, namlich „wie unter bestimmten Bedingungen an solchen Dingen Erlebnisse als von auBen erfahrbar erscheinen konnten, und wie diese Erlebnisse eigentlich nach drauBen gekommen seien" (ebd. 309). Fiir die modeme Wahmehmungslehre gehoren jedoch die Anschauungsdinge, weil „die erlebte Welt durch die Wahmehmungsgesetzlichkeiten mitkonstituiert ist, ohnehin in gewissem Sinne zum Organismus. Es gibt somit gar keine in ihrer Beschaffenheit von der Subjektseite der Wahrnehmung unabhangigen AuBendinge" (ebd.). Fur Holzkamp sind damit alle Einfiihlungstheorien, was die funktionale Erklarung des Fremderlebens betrifft, uberflussig geworden. Damit ist fiir ihn aber noch nicht geklart, wie wir nun vom Fremderleben zum fremden Wesen selbst kommen, wie wir wirklich Einblick in seine Eigenart bekommen. Es geht jetzt also nicht mehr phanomenal darum, dass wir Fremdseelisches auch als solches erleben, sondem darum, dass wir es auch zutreffend in seiner Eigenart wahmehmen. Holzkamp unterscheidet nun zwischen Eigenart des Ausdmckstragers und deren Wahmehmbarkeit an der Oberflache sowie zwischen wahmehmbarer Oberflache und dem Gegebensein des Fremdpersonlichen fur das Subjekt (vgl. ebd. 312). Es ist also zu differenzieren zwischen der Beseeltheit des Anderen und der adaquaten Wahmehmung des Fremdseelischen, zwischen Existenz und dessen Beschaffenheit. Eine der bedeutsamsten Theorien diesbezuglich ist die Theorie des Urverstehens, „dergemaB uns der fremde Mensch mit seinen seelischen Eigenarten und Zustandlichkeiten ohne jedes Dazwischentreten von Verkniipfungsprozessen unmittelbar gegeben sei" (ebd. 314), die insbesondere von Scheler und Klages, aber auch von Kohler (Theorie des Isomorphismus) vertreten wurde. Die Urverstehenstheorie behauptet also Auch die „Losungen" von Scheler und Klages tragen nicht, denn es „blieb unbeachtet, dass aus der Betrachtung des Phanomens allein seine funktionale Herkunft niemals mit Notwendigkeit erschlieUbar ist, weil das Phanomen funktional vieldeutig bleiben muss" (Holzkamp 1956, 307).
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„die unmittelbare reale Gegebenheit des Fremdseelischen [...] Ein Hauptunterschied gegeniiber alien anderen Theorien liegt darin, dass die Urverstehenstheorie beim Ausdruckserleben nicht die Wirksamkeit von subjektiven, sondem von autochthonen Wahmehmungsfaktoren annimmt. Keinerlei objektionale - weder individuelle, noch soziale - Momente werden fur das Zustandekommen der Fremderlebnisse mitverantwortlich gemacht, sondem einzig die durch allgemeine Wahmehmungsgesetzlichkeiten bedingten Wesenseigenschaften. Urverstehen heiBt also, Zugang zu anderen Menschen finden allein auf Grund der autochthonen Wahmehmungsfakoren" (ebd. 317). Eine so verstandene Theorie des Urverstehens geht von einem „ursprunglichen biologischen Aufeinander-angelegt-Sein der Menschen" (ebd. 317) aus.^^ 4.3.3 4.3.3.1
(Non-)yerbale Kommunikation Sprachphilosophie, Linguistik, Anthropologie
Fiir Wessel & Naumann beziehen sich kommunikative Analysen seit den 1960er Jahren zunehmend auf zeichenvermittelte Interaktionen. Sie fiihren das darauf zuriick, dass hier die menschliche Sprache Modell fur die Kommunikationsprozesse steht und vielfach Kommunikation und Sprache als Synonyme aufgefasst wurden.^"^ „Die meisten Modelle der Kommunikation sind linguistische Modelle und damit von den Strukturvorstellungen der Grammatiker gepragt. Selbst die ersten Untersuchungen nichtsprachlicher Kommunikationsphanomene waren von dieser Voraussetzung gepragt. 1952 veroffentlichte Birdv^histell ein Klassifizierungssystem, in dem Gesten in kleinste Bestandteile zerlegt und ganzheitliche Bewegungsablaufe als Komposition aus Elementen beschrieben wurden, genauso wie gesprochene Satze aus Wortem gebildet werden. LeviStrauss (1958) hat in ahnlicher Weise Strukturregeln sozialen Austauschs gesucht" (Wessel & Naumann 1994, 18). Der Sprachphilosoph J. L. Austin vertrat die Auffassung, dass die Sprachproduktion zugleich eine Weise menschlichen Handelns darstellt.^'* Diese Auffassung vvurde von John R. Searle weiterentwickelt, und schlieBlich hat Paul Grice diesen Ansatz zu einer allgemeinen Theorie menschlicher Kommunikation entwickelt (vgl. Harras 2003, 899). Es geht hier um die sog. Sprechakttheorie, das Verstandnis von Sprechakten als regelgeleiteten Handlungen, auf das dann beispielsweise auch Jiirgen Habermas (s. Abschnitt 4.6) zurtickgegriffen hat. Dabei werden Sprechakte genau analysiert um herauszufmden, welche Bedingungen sie erfullen bzw. erfullen mtissen, um verstanden werden zu konnen. Wie schon erwahnt haben sich auch Anthropologen mit „Kommunikation" beschaftigt (s. Abschnitt 2.1.6).^^ Seit Anfang der 1960er Jahre hatte der amerikanische Anthropologe und
^^ Eine Annahme, die durch die Entdeckung der „mirror-neurons" weitere Untersttitzung erfahrt (s. Abschnitt 6.2.2). " Auch die „Enzyklopadie der Psychologie" hat der Sprache einen groBen Platz eingeraumt, genauer der Sprachproduktion, der Sprachrezeption und der Sprachentwicklung (vgl. Friederici 1999; Herrmann & Grabowski 2003). ^^ Auf diesen Ansatz stiitzt sich auch der Soziale Konstruktionismus von Kenneth Gergen (s. Abschnitt 2.2.2.2). ^^ Nach Schmitz (1975) war „Kommunikation" schon ein Thema derfriihenVolkerkunde gewesen. 90
Linguist Dell Hymes einen neuen Forschungsbereich eroffnet, den er zunachst „ethnography of speaking", spater „ethnography of communication" nannte (vgl. Schmitz 1975, 1^^). Schon der Begriinder der amerikanischen Anthropologic, Sir Edward B. Tylor (1832-1917), hat sich mit Sprache und Kommunikation beschaftigt. Im Wesentlichen ging es bei Tylor um Sprache als Medium der Kommunikation, zu der er auch nonverbale Ausdrucksweisen rechnete. Das andert sich auch nicht in der amerikanischen Anthropologic der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts. Des Weiteren ist Franz Boas (1858-1942) zu nennen. Er schrankte Kommunikation weitgehend auf sprachliche Kommunikation ein. Die Ausfuhrungen von Edward Sapir (18841939) iiber die Natur der Sprache haben „beinahe 50 Jahre lang den Vertretem der linguistischen Anthropologic als grundlegende Orientierung gedient" (Schmitz 1975, 40). Fiir Sapir ist Sprache Kommunikation par excellence (vgl. Schmitz 1975, 45).^^ 4.3.3.2 Facial Action Coding System (FACS) Psychologic, Verhaltensbiologie, aber auch die Interaktionsforschung fuhrten langsam zu der Vermutung, dass die Beschreibungsversuche der Kommunikation durch die Linguisten unzureichend sein konnten. Dies wurde vor allem durch die zahlreichen Untersuchungen zur nonverbalen Kommunikation gesttitzt, denn nonverbale Signalsysteme beispielsweise sind Verhaltens- und nicht Sprachsysteme. Neben ihrer Ahnlichkeit mit Verhaltensweisen von Primaten ist aber ein entscheidendes Argument, „dass pranatal und im ersten Lebensjahr des Menschen sich Kommunikation fast ausschlicBlich nonverbal entwickelt und auch in spateren Phasen der Humanontogenese sich nicht in Sprachanwendung auflost, sondem beide Signalsysteme mit unterschiedlichen Funktionen (wenn auch vielfach miteinander verflochten) koevolvieren" (Wessel & Naumann 1994, 18). Sprache transportiert Sachinformation, das leibliche Ausdrucksverhalten hingegen gibt Hinweise auf Glaubwiirdigkeit, Emotionen und innere Einstellungen, d.h. Hinweise auf den Kontext der Sachinformation. Vielfach wiirden, so die Autoren, die nonverbalen Hinweise gering geschatzt, weil sic unbewusst abliefen (vgl. ebd.). Die Ausdruckspsychologie im traditionellen Sinne endete in den 1960er Jahren. Die Forschungen zur „Nonverbalen Kommunikation" konnen gewissermaBen als eine Fortsetzung, allerdings anderer Art, verstanden werden. Mit ihr verbinden sich Namen wie Michael Argyle (1972, 1979), Klaus Scherer (1979, 1982) und Harald Wallbott (1977). Der technische Fortschritt ermoglichte auch die Entwicklung des Facial Action Coding System (FACS) und EmFACS (Emotional Facial Action Coding System) durch Paul Ekman und Wallance Friesen
^^ Schmitz verweigert ebenfalls eine Definition von „Kommunikation" (vgl. Schmitz 1975, 5). " Weitere Linguisten: Alfred Louis Kroeber (1876-1960), Leonard Bloomfield (1887-1949), Benjamin Lee Whorf (1897-1941). Insgesamt sind es Anthropologen mit einem ausgepragten sprachwissenschaftlichen Interesse. Spater: Gregory Bateson, John Weakland, Don D. Jackson, Jurgen Ruesch; Ray Birdwhistell. Englische Anthropologie: Radcliffe-Brown (1881-1955), Bronislaw Malinowski (1884-1942): dieser verstand die gesamte Ethnographic als einen Ubersetzungsprozess, Raymond Firth. FranzOsische Anthropologie: de Saussure, Marcel Mauss (1872-1950), Claude Levi-Strauss: fur ihn ist Sprache das perfekteste Kommunikationssystem. Kultur ist so ein System von Codes (vgl. Schmitz 1975, 148).
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(1978). Zunachst widmete man sich noch der gesamten nonverbalen Kommunikation iiber Mimik, Gestik, Korperhaltung, um daiin doch festzustellen: „Es existieren keine Theorien zur nonverbalen Kommunikation. Obwohl einige Versuche gemacht wurden, die untersuchten Phanomene klar abzugrenzen und zu defmieren [...] ist man von systematischer Theorienbildiing noch weit entfemt" (Wallbott & Scherer 1984, 278).^^ Zu diesem Zeitpunkt ist zumindest deutlich, dass es nicht mehr nur um „Ausdruck an sich" gehen kann, sondem um zwischenmenschliche Kommunikation. Die Arbeiten von Argyle sind insofem bemerkenswert, als auch er, ahnlich wie Kirchhoff und andere friiher, auBerordentlich akribisch die Weisen der nonverbalen Kommunikation zu erfassen sucht. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass nun der Ausdruck immer als ein kommunikatives Verhalten verstanden wird. Nach wie vor wird allerdings nur der einzelne, womoglich in einzelnen Bewegungen, und nicht die Kommunikation analysiert. Man hofft, aus den immer noch sehr labormaBigen Untersuchungen doch zu Anwendungsmoglichkeiten zu kommen. „Angesichts der Bedeutung nonverbaler Signale im Interaktionsprozess bietet sich der Versuch an, die fur erfolgreiche Interaktionen mit anderen Menschen erforderlichen sozialen Fertigkeiten zu schulen, um damit die Interaktionsgeschicklichkeit Oder ganz allgemein die soziale Kompetenz von Akteuren zu erhohen" (ebd.), indem man in Trainings theoretische Kenntnisse vermittelt und Ubungen mit Video-Feedback durchfiihrt. Das ermogliche das bessere Erkennen von Intentionen, konne Personlichkeitseigenschaften verbessem und damit zur Reduktion oder gar Vermeidung von Kommunikationskonflikten fuhren (vgl. ebd. 279). Solche Aussagen verdeutlichen, dass Kommunikation hier als ein Sender-Empfanger-Geschehen aufgefasst wird, d.h. die Sicht auf die Kommunizierenden ist individuumsbezogen. Kommunikation erscheint dann als ein vom einzelnen machbarer Prozess und kann daher auch entsprechend trainiert werden. Einen besonders detaillierten Einblick in das mimische Geschehen ermoglicht das Facial Action Coding System (FACS) von Ekman & Friesen (1978). Aufgrund der neueren VideoTechnik konnten nun mimische Bewegungen konserviert und in Zeitlupe wiedergegeben werden. Mittels FACS ist es moglich, „die Phanomenologie mimischer Bewegungsablaufe fiir Anfang, Ende und Maximalinnervation durch die Zahlenkombinationen der durchnummerierten innervierten Muskeln und die entsprechenden Zeitangaben sowie Intensitatsangaben darzustellen" (Krause 1996, 588), d.h. samtliche Muskelbewegungen des Gesichts werden damit systematisch erfassbar. Bewegungsanderungen der Mimik konnen mittels FACS im 50 Millisekunden-Abstand codiert werden, und das nicht nur bei einem einzelnen Menschen, sondem mit Hilfe der Split-Screen-Technik auch bei Paaren (vgl. Banninger-Huber 1996) wie z.B.
Eine Auflistung der englischsprachigen Literatur „seit 100 Jahren" zum nonverbalen Verhalten bietet Wolfgang (1994). Im Wesentlichen handelt es sich dabei allerdings um Literatur der 1960er und 1970er Jahre, auch wenn zwischendurch Charles Darwin erwahnt wird.
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Psychotherapeut und Patient (vgl. z.B. Krause 1997, Merten 2001).^^ Erfasst werden per Video der verbale Ausdruck und die Mimik im Sinne sichtbarer Veranderungen im Gesicht, d.h. alle anderen nonverbalen AuBemngen werden ignoriert. Anschliefiend erfolgt eine Codierung, wobei der Zeitaufwand von ca. 6 Stunden fiir 20 Sekunden (vgl. Banninger-Huber 1996, 52) ganz erheblich ist. Das Ergebnis ist gewissermafien eine zeitmikroskopische „Partitur" der verbalen und mimischen AuBemngen von beiden Kommunikationspartnern. Es lasst sich zu jedem Zeitpunkt ablesen, welche Ereignisse sich parallel oder unmittelbar nacheinander abgespielt haben. Diese Forschung hat inzwischen trotz ihres hohen Aufwandes sehr viel Detailwissen erbracht. Bei FACS handelt es sich also um eine Methode, mit der eine immense Datenmenge innerhalb eines sehr kleinen Zeitabschnitts gesammelt und anschlieBend codiert wird. Die solcherart gewonnenen empirischen Daten wurden aufgrund einer bestimmten Hypothese, abgeleitet von einer bestimmten Theorie, der wiederum ein bestimmtes Menschenmodell zugrunde liegt, erhoben (s. Abschnitt 2.2). Damit ist zugleich auch der Interpretationsrahmen der Daten vorgegeben, da sie nicht aus sich selbst heraus interpretiert werden konnen. Krause wie auch Banninger-Huber gehen von einer psychoanalytischen Kommunikationstheorie (Ubertragung, Gegeniibertragung, Projektion, Arbeitsbiindnis, Abstinenz etc.) aus, der das klassische Sender-Empfanger-Modell, also ein individuumszentriertes Modell, zugrunde liegt, auch wenn wir aufgrund von Slow Motion erkennen konnen, wie differenziert und auBerordentlich schnell die Gesprachspartner aufeinander reagieren, z.B. im Rahmen einer Psychotherapie zwischen Psychotherapeut und Klienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildem (vgl. Krause 1997, Merten 2001). „Methodisch kann man Beziehung unter Riickgriff auf den Strom des auBeren Verhaltens, den zwei oder drei Personen produzieren, beschreiben. Man kann dann aus diesem Verhalten repetitive, spezifische stabile Muster dyadischer, triadischer Art extrahieren und solche Charakteristika als spezifisch defmieren. Diese kann man dann ordnen und klassifizieren" (Krause 1997, 53f). Allerdings sind das beobachtbare Beziehungsverhalten, die sichtbare sinnliche intersubjektive Struktur und die jeweiligen Phantasien, das phantastische intersubjektive Feld, kaum kompatibel. Femer sind uns nur Telle des eigenen wie fremden Verhaltens mental present. Ein Wunsch oder Affekt im analytischen Rahmen hat eine ganz andere Bedeutung als im Alltag. Die Intentionen, Eigenschaften, Affekte und Triebzustande des Senders A brechen sich „wie in einer Linse in den verschiedenen Informationskanalen, wie der Stimme, den Korperbewegungen, den Handen, der Position des Korpers, den Gesichtsbewegungen" (Krause 1997, 56). „Der Empfanger hat nun sensorische Kanale, die das vielfaltig in der Linse des Verhaltens gebrochene Muster wieder aufnehmen. Auf Grund seiner Erfahrung, der Einschatzung des situativen Kontextes und Rahmens ,schlieBt' er auf die von A gemeinten Intentionen, Eigenschaften, Affekte und Triebzustande" (ebd. 57). Intensiv geforscht wurde und wird damit in den Arbeitsgruppen um Krause (Saarbrucken) und BanningerHuber (Innsbruck).
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Banninger-Huber geht in ihren Arbeiten insofem iiber friihere Ansatze anderer Autoren hinaus, als sie sich einerseits nicht auf verbale bzw. affektive AuBerungen des Klienten beschrankt, sondem die Interaktion z.B. zwischen Therapeut und Klient an ausgewahlten Sequenzen untersucht, d.h. sie beschrankt sich nicht einseitig auf Prozesse im Sender oder Empfanger. „Im Gegensatz zu den meisten Encodier- und Reaktionsansatzen besteht bei diesen Interaktionsstudien keine experimentell hergestellte Kausalitat. Wer ,Verursacher' eines Geflihls und wer ,Empfanger' eines Gefiihls ist, wird in diesem Ansatz, der sich explizit von der Vorstellung einer stimulus-response Kette abhebt, nicht experimentell getrennt. Damit wird es moglich, das Zusammenspiel des mimischen Verhaltens zwischen zwei Interaktionspartnem zu beschreiben und den zeitlichen Verlauf von Gefuhlen (zum Beispiel Zunahme oder Abnahme der Intensitat oder ihren ,Zerfall') in Abhangigkeit vom Verhalten eines Interaktionspartners zu untersuchen" (Banninger-Huber 1996, 3 7f). Kommunikation ist hier das Gesamt der erhobenen Datenmenge, sie besteht aus der Addition des Verhaltens zweier Individuen. Die empirische Erhebung der Mikrostrukturen des Verhaltens der beiden Kommunizierenden dient der Illustrierung von Modell und Theorie. Sie konnen diese, wie oben dargelegt (s. Abschnitt 2.2), v^eder beweisen noch einen neuen Horizont eroffnen, also ihren vorgegebenen Interpretationsrahmen iiberschreiten. Sie sind daher kein Weg, um das dargelegte Modell- und Theoriendefizit zu reduzieren.^^ 4.3.3.3 Siegfried Frey: Das Bemer System zur Beschreibung naturlicher menschlicher Bew^egungen Erwahnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von Siegfried Frey. Frey bezieht sich u.a. auf die Relevanztheorie von Paul Grice, wonach der Empfanger die Bedeutung der Botschaft bestimmt, d.h. der Sender steht fur ihn unter dem Diktat des Empfangers. Quantity, Quality, Relation, Manner sind die Anforderungen, die nonverbale Stimulation. „Die Ursache dafiir liegt in den pragmatischen Deutungsgewohnheiten des Gegeniibers. Selbst die leiseste Ahnung davon, dass der Empfanger etwas darauf gibt, wie sich der Sender nonverbal verhalt, muss diesen veranlassen, Verhaltensdisplays zu Gesicht zu bringen, die geeignet sind, bei seinem Gegeniiber einen bestimmten Eindruck zu erwecken bzw. zu verhindem, dass dieser zu einem fiir den Sender ungunstigen Eindruck gelangt" (Frey 1999,75). Auf der Grundlage der Grice'schen Relevanztheorie entwickelten nun Sperber & Wilson die These, dass in der Humankommunikation ein zweiter Kommunikationsmodus parallel zu jener kodierten Kommunikation im Sinne Shannons existiere, namlich die „inferentielle Kommunikation", die der Wissenschaft bisher entgangen sei (vgl. Sperber & Wilson 1986, 2). Kennzeichen dieser Kommunikation sei, dass die Relation zwischen Zeichen und Bezeichne-
^ Dies gilt auch ftir das Interaktionsverhalten in Gruppen. Becker-Beck (1994) hat diesbeziiglich eine Strukturanalyse anhand des Symlogverfahrens durchgefiihrt. Auch hier wird die soziale Situation als Interaktion zwischen isolierten Individuen verstanden, die soziale Interaktion wird „als Abfolge einzelner Verhaltensweisen der verschiedenen Akteure beschrieben" (Becker-Beck 1994, 95; vgi. 1997).
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tern nicht auf einer semantischen Konvention basiere, sondem nur Folge „einer nur pragmatisch begrtindeten Schlussfolgerung des Empfangers, die in der Regel durch nonverbale Stimuli hervorgerufen werde, und zwar vor allem durch die besonders augenfalligen,ostentativen' Bewegungen und Korperhaltungen des Gegeniibers (Sperber & Wilson 1986, 48ff; Wilson & Sperber 1988, 146)" (Frey 1999, 75). „Communication is successful not when hearers recognise the linguistic meaning of the utterance, but when they infer the speaker's ,meaning' from it [...]. The attribution of intentions to others is a characteristic feature of human cognition and interaction. Humans typically conceptualise human and animal behaviour, not in terms of its physical features, but in terms of its underlying intentions" (Sperber & Wilson 1986, 23f). Hier wird also auf die besondere Bedeutung der Bewegungen und Korperhaltungen rekurriert, die den Empfanger beeinflussen. „Ostensive behaviour provides evidence of one's thoughts. It succeeds in doing so because it implies a guarantee of relevance. It implies such a guarantee because humans automatically turn their attention to what seems most relevant to them. The main thesis of this book is that an act of ostension carries a guarantee of relevance, and that this fact - which we will call the principle of relevance - makes manifest the intention behind the ostension. We believe that it is his principle of relevance that is needed to make the inferential model of communication explanatory" (ebd., 50). Sperber & Wilson (1994) wie auch Frey (1992) argumentieren damit gegen Ekman und Friesen, die den menschlichen Ausdruck als ein Kodesystem analog zur Lautsprache als Teil einer allgemeineren Informationstheorie betrachten (vgl. Kempter 1999, 43). Eine allgemein verbindliche Semantik liege ihrer Meinung nach bei weitem nicht fur alle Mitteilungsformen vor und daher konne die Ausdrucksdeutung auch gar kein reiner Informationstransfer darstellen, sondem es sei ein „standig neuer Prozess der Erzeugung von subjektiver Bedeutung und gegenseitigem Einverstandnis. Die alltagliche Personwahmehmung liefere deshalb nicht eine direkte Entsprechung des Charakters des Wahrgenommenen, sondem immer nur das, was der Rezipient aufgrund seiner Schlussfolgerungen als Personlichkeit des Anderen erachte. Da jedoch nicht erfahrbar sei, wie diese Konklusionen zustande gekommen seien, musse man von prinzipiell unbewussten Prozessen ausgehen" (Kempter 1999, 43). Dem Empfanger wird hier Defmitionsmacht zugesprochen. Der Sender reagiert natiirlich seinerseits auf die „Defmition" des Empfangers, insofem das wiederum eine „Sendung" ist. Richtig ist sicher, dass wir versuchen, uns nach dem Empfanger zu richten, wenn wir woUen, dass unsere Botschaft ankommt. Frey verweist in diesem Zusammenhang auf Charles Morris, den Begrlinder der Semiotik. Dieser sprach von „Pragmatik", der Lehre von der Beziehung zwischen den Zeichen und dem Interpreten der Zeichen. Fiir ihn seien Zeichen nur insofem relevant, als der Empfanger ihnen Bedeutung beimisst, wenn ein Zeichen von jemandem auch als Anzeichen fiir etwas gedeutet wird (vgl. Frey 1999, 55). Entscheidend seien daher die Deutungsgewohnheiten des Rezipienten. Morris habe dies, so Frey, schon 10 Jahre vor Shannon & Weaver formuliert. In den 50er Jahren versuchte alien voran Birdwhistell (1952) das menschliche Bewegungsverhalten unter dem Begriff „kinesics" zu erforschen. Andere schlossen sich diesen Bemiihungen in den 95
1950er Jahren unter dem Begriff „nonverbal communication" an. Auch der Anthropologe Edward Sapir wies auf die hohe Bedeutung der nonverbalen Kommunikation hin. „[...] we respond to gestures with an extreme alertness and, one might almost say, in accordance with an elaborate and secret code that is written nowhere, known by none, and understood by all. But his code is by no means referable to simple organic responses [...] Like everything else in human conduct, gesture roots in the reactive necessities of the organism, but the laws of gesture, the unwritten code of gestured messages and responses, is the anonymous work of an elaborate social tradition" (Sapir 1968, 556). Hier sieht Frey dann auch das Grundproblem der alten Ausdruckspsychologic, die nicht erkannt habe, dass flir ein Verstandnis nonverbalen Verhaltens zunachst die pragmatischen Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem geklart werden miissten, was aber ohne ein entsprechendes nonsemantisches Kodierungssystem nicht gelingen konnte. Semantische Kodierung habe nur dazu geftihrt, „dass der Kodierer impressionistisch zu entscheiden hatte, ob und inwieweit einer Person aufgrund ihres nonverbalen Verhaltens ein bestimmtes psychologisches Attribut [...] zuzuordnen sei" (Frey 1999, 60). Damit wusste man zwar um die Wirkung auf den Beobachter, aber nicht, wodurch diese Wirkung zustande gekommen war. Man war nicht in der Lage, eine komplexe Korperbewegung durch ein DatenprotokoU zu erfassen, aufgrund dessen man die Korperbewegung hatte reproduzieren konnen. In den 1960er und 1970er Jahren suchte man daher nach einem leistungsfahigen Kodiersystem (vgl. Scherer & Walbott 1984). Frey meint, dass man die Schwierigkeiten mit der Entwicklung der Schrift vergleichen konnte. Die Notationssysteme ostlicher Sprachen rekurrieren auf den semantischen Gehalt, im Westen gehe es dagegen um die Phonetik, also um Lautketten mit Pausen. Frey sah sich selbst daher vor die Aufgabe gestellt, „ein Kodierungsverfahren zu entwickeln, das es gestatten wiirde, die nonverbale Komponente des Kommunikationsverhaltens nach dem Vorbild der alphabetischen Sprachnotation nonsemantisch, d.h. ohne jeglichen Rtickgriff auf die inhaltliche Bedeutung des zu untersuchenden Verhaltens, zu dokumentieren" (Frey 1999, 61). Frey will demnach die nonverbale AuBerung „an sich" erfassen, indem er ein entsprechendes Kodierungssystem dafiir entwickelt. ,,'Bewegung' ist Positionsanderung iiber die Zeit" (ebd. 63), d.h. wir brauchen zumindest zwei verschiedene Positionsstande, um uberhaupt von einer Bewegung sprechen zu konnen. Die nonverbalen AuBerungen sind komplexer als die Sprache. Aufgrund dessen und der Geschwindigkeit muss eine Datenspeicherung vorgenommen werden, die dann in Zeitlupe kodiert werden kann. Frey konstruierte Anfang der 80er Jahre das „Bemer System zur Beschreibung nattirlicher menschlicher Bewegung" mit insgesamt 55 Kodierungsdimensionen (vgl. Frey et al. 1981). Gegebenenfalls konnen die 49 Dimension von Ekman & Friesen (1978) zur Erfassung der Gesichtsmimik hinzugenommen werden. Dies musste einerseits leicht erlernbar sein, es andererseits aber ermoglichen, dass die Bewegung reproduziert werden konnte (vgl. Frey 1999, 68). Damit war es moglich, natiirliches Bewegungsverhalten gewissermaBen zu buchstabieren.
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Letztlich geht es Frey um eine Untersuchung „der Funktionsweise der beim Menschen vorliegenden physiologischen und psychologischen Rezeptionsmodi [...] denn nur dadurch kann das Wissen generiert werden, das man benotigt, um bei der Gestaltung multimedialer Kommunikationssysteme zu Losungen zu gelangen, die es dem Menschen ermoglichen, das Potential modemer Kommunikationstechnologien flir die Erledigung seiner eigenen Aufgabensteilungen auch tatsachlich nutzbar zu machen" (ebd., 77). In der Folge beschaftigt sich Frey dann auch mit der Wirkung von Bildern, insbesondere ihrem Einfluss auf die Stereotypenbildung. Frey versucht zu zeigen, wie intensiv die Bilder unser Urteil beeinflussen. Unter „nonverbaler Kommunikation" versteht er aber immer die des Individuums. Er argumentiert, dass ein Gesichtsausdruck von unterschiedlichen Deutem unterschiedlich interpretiert wird. Hier wird jetzt deutlich, warum Frey keinen Unterschied zwischen Face-to-face-Kommunikation und medialer Kommunikation macht; es geht ja letztlich nur um den Rezipienten. Zwar sind beide auch Rezipienten, das wird aber jeweils nur individuell gesehen. Die nonverbalen Komponenten des Kommunikationsgeschehens meint er nur einseitig. Damit ist die Individuumszentriertheit seines Vorgehens offensichtlich. In diesem Zusammenhang ist noch die Skriptanimation von Guido Kempter (1999) zu erwahnen, der davon ausgeht, dass das Gefuhl der Verstandigung mit einem anderen Menschen, uber den uns nur unsere Sinnesorgane beziiglich dessen auBerer Beschaffenheit informieren, wesentlich durch die Wahmehmung seiner Korperbewegung erfolgt. Kempter spricht von „spontanen Attributionsprozessen" und verweist diesbezuglich auf die Arbeiten von Heider (1977) und Asch (1946). Diese seien unter dem Einfluss der Gestaltpsychologie davon ausgegangen, dass der Kontakt mit anderen Menschen im naiven Erleben eine unvermittelte Tatsache sei. „Man erfahre in direkter Kommunikation mit anderen, wie Emotion auf Emotion stolie, Verlangen auf Verlangen treffe und Gedanke zu Gedanke spreche. Haufig gebe es fast keine Liicke zwischen dem psychologischen Ereignis bei der einen und dem Verstandnis davon bei der anderen Person. Man konne sogar die Gedanken und Gefiihle von Personen antizipieren, die wir kennen, und fast habe es den Anschein, als waren diese direkt mit den eigenen psychologischen Prozessen verbunden (Asch 1952) [...] In neuerer Zeit fmdet der Standpunkt, dass die Personwahrnehmung groBteils auf unwillkiirliche, unmittelbare und zwangslaufige Prozesse aufbaut, immer mehr Anhanger (Bargh, 1994; Uleman, Newman & Moskowitz, 1996)" (Kempter 1999, 111). Trotz der Arbeiten von Watzlawick et al., Ekman & Friesen so wie Frey sei es bisher aber nicht moglich gewesen, die Dynamik einer Geste und deren Eigenart, auf die ein Rezipient anspreche, genau zu rekonstruieren. Daher habe man sich bisher „mit statischen Reproduktionen von Korperhaltungen (Frey, Hirsbrunner, Pool & Daw, 1981) oder mit dem Einsatz von Schauspielem, die versuchten, diverse Ausdrucke nachzuspielen (Ekman & Friesen)" (Kempter 1999, 112), begnugt. Kempter entwirft daher ein Verfahren, um Bewegung mittels Computer zu animieren. Das ermoglicht es, die je individuelle Verhaltenweisen und Bewegungsablaufe einer Person originalgetreu elektronisch zu kopieren.
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4.3.3.4 Interkulturelle Kommimikation „Interkulturelle Kommunikation", ein Themenbereich insbesondere der Ethnologie^\ „ist die Wissenschaft von den kommunikativen Interaktionen und Bedeutungsvermittlungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kultur, von der Wahmehmung und der Hermeneutik des Fremden und vom Umgang mit kultureller Differenz (of. Hinnenkamp 1994). Interkulturelle Kommunikation als Wissenschaft ist die Frucht mehrerer Disziplinen, ist also bereits in ihrer Genese interdisziplinar" (Roth 1996, 20). Sie speise sich aus Erkenntnissen der Kulturanthropologie, der pragmatischen Linguistik, Texthermeneutik, Diskursanalyse, interkulturellen Psychologie und Padagogik, sowie aus verschieden Gebieten der Volkskunde (vgl. ebd.). Einer der „Urvater" solcher interkultureller Feldforschung ist Erving Goffman. Aufgabe der Interkulturellen Kommunikation sei die Vermittlung von „interkultureller Kompetenz, d.h. der Fahigkeit zum angemessenen und moglichst konfliktfreien Umgang mit Menschen anderer Kultur" (Roth 1996, 7). Bedeutsam seien dabei vor allem die verschiedenen Bedeutungsschichten nonverbaler Kommunikation. „Im Zentrum steht die Frage: Was geschieht, wenn Menschen mit verschiedenen kulturellen Codes miteinander kommunizieren und sozial interagieren. Der Kulturkontakt, der Kulturkonflikt, der Kulturschock, das Verstehen und Missverstehen zwischen Kulturen ist damit das zentrale wissenschaftliche Problem der Interkulturellen Kommunikation" (Roth 1996, 22). In der Diskussion um Interkulturelle Kommunikation wird unterstellt, dass das Hauptproblem in einer solchen Kommunikation eben gerade der hohe Fremdheitsgrad der anderen Kultur sei. Das insinuiert im Umkehrschluss, dass es die fremde Kultur sei, die gelingende Kommunikation verhindert. Levi-Strauss hat die Situation verbildlicht: Die Mitglieder der gleichen Kultur sind wie ein Orchester mit der gleichen Partitur, die Mitglieder fremder Kulturen sind zueinander wie ein Orchester, das mit zwei verschiedenen Partituren spielt und daher notwendigerweise Dissonanzen produziert (vgl. Giordano 1996, 34). In diesem Beispiel bleibt allerdings offen, wie dann iiberhaupt eine Verstandigung erfolgen kann. Dieses Verstehen oder Nichtverstehen ist nicht primar jenes, wie es in dieser Arbeit als Face-to-face-Kommunikation diskutiert wird. Die kulturelle Fremdheit macht es sicher schwieriger, miteinander ins Gesprach zu kommen. Besonders dann, wenn die andere Kultur in der Regel als weniger wertvoll als die eigene betrachtet wird (vgl. ebd., 32), ist das eine Einstellung, die mit Sicherheit beim Gesprachspartner ankommt, und er wird entsprechend darauf reagieren. Das Fremde, Unverstandliche wird dann zum Minderwertigen, muhsam zu Verstehenden. Auch innerhalb der gleichen Kultur gibt es sehr viel verschiedene Kulturen mit genau den gleichen Abgren' Hinnenkamp (1994) reflektiert in seinen Vorbemerkungen zu einer Bibliographie zur „Interkulturellen Kommunikation", dass es bislang noch keinen Konsens gabe, zu welchem Fach die Interkulturelle Kommunikation gehore (vgl. Hinnenkamp 1994, 3). „Fragen sind: Kristallisiert sich eine genuin eigenstSndige Disziplin Interkulturelle Kommunikation heraus? Oder ist Interkulturelle Kommunikation nur eines von vielen Gebieten innerhalb solcher Disziplinen wie der Linguistik, der Kommunikationswissenschaft, den Philologien - hier vor allem den Fremdsprachenphilologien -, der Anthropologic, Ethnologic, Psychologic, Sozialpsychologic oder Soziologie?" (ebd., 3).
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zungsstrategien. Und genau hier machen sich dann auch die individuumszentrierten Einstellungen bemerkbar.^^
4.4 Systemisch orientierte Kommunikationstheorien Mit dem Ausdruck „System" wird eine in ganz besonderer Weise geartete Struktur bezeichnet. Es meint ein geordnetes Ganzes, deren Elemente in Wechselwirkung zueinander stehen, „und zwar derart, dass jede Veranderung eines Elementes auf andere Elemente des Systems fortwirkt" (Wiswede 1991, 258). Ein klassisches Beispiel fur ein solches System ist der Organismus. Ein Eingriff in dieses System an einer beliebigen Stelle hat, so die Annahme, Auswirkungen auf das gesamte System. Wiswede merkt allerdings zu Recht kritisch an, dass eine solche Behauptung eher eine Maximalforderung formuliere, denn ein verstauchter Finger werde wahrscheinlich kaum Auswirkungen auf die Milzfunktion haben. „Die Frage nach Art und Grad der jeweiligen Interdependenz erweist sich demnach fur jede Theorie sozialer Systeme als empirisches Problem. Nur die Tatsache, dass Systemtheoretiker selten mit empirischer Forschung befasst sind, lasst sie dies gelegentlich aus dem Auge verlieren" (ebd., 259). Ruesch, Watzlawick et al., Luhmann, Merten und mit Einschrankung auch Schulz v. Thun verweisen in ihren Arbeiten implizit oder explizit auf systemisches bzw. kybemetisches Gedankengut, wobei der Begriff des Systems selbst sehr vieldeutig ist. Die Zuordnung ist daher cum grano salis zu nehmen. Gemeinsam ist diesen Ansatzen, dass in ihnen immer wieder auch das Verhaltnis des Einen zum Anderen zur Sprache kommt. 4.4.1 Jiirgen Ruesch: Kommunikation in der Psychiatrie Jiirgen Ruesch und Gregory Bateson haben 1951 gemeinsam das Buch „Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie" veroffentlicht.^^ Beide Autoren konstatieren darin das Ende des Individuums und den Beginn des Menschen als eines sozialen Wesens angesichts der Folgen des 2. Weltkrieges und der Unfahigkeit von Psychiatrie und Psychoanalyse, adaquat darauf zu reagieren. „Die fehlenden Verbindungsglieder, die die verschiedenen Einheiten (Person, Gruppe, Gesellschaft) miteinander verkntipfen konnten, waren Nachrichten und Schaltkreise. Eine Theorie der Kommunikation, die der menschlichen Situation und den Bediirfnissen der Psychiatrie angepasst war, war deshalb das Ziel des Buches" (Meister 1984, 1).^^ In diesem Werk ist schon die Rede von „Metakommunikation" und „Double-bind", Begriffe, die dann durch die Arbeit von Watzlawick et al. (1990) popular wurden. Es ist erstaunlich, wie differenziert zwischenmenschliche Kommunikation hier schon gesehen wird, insbesondere
• Mehr zu diesem Aspekt s. Kap. 6. Die einzelnen Kapitel sind allerdings namentlich gekennzeichnet. Von den 11 Kapiteln stammen flinf von Ruesch, vier von Bateson und nur zwei wurden tatsachlich von beiden gemeinsam verfasst. ^^ Bedeutsame Vorlaufer sind Norbert Wiener (1952): ,Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine' sowie die schon erwahnte Arbeit von Shannon & Weaver (1949).
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was den sozialen Charakter einer Kommunikation betrifft. Vor allem aber finden sich hier Gedanken zur Unmoglichkeit, Kommunikation in Face-to-face-Situationen zu vermeiden, ein Sachverhalt, der ebenfalls erst sehr viel spater durch das sog. 1. Axiom von Watzlawick et al. beriihmt wurde. Die leitende Frage ist jene nach der Kommunikation im psychiatrischen Feld. Kommunikativ sind nach Ruesch alle Prozesse, in denen Menschen einander wechselseitig beeinflussen. Handlungen und Ereignisse weisen kommunikative Aspekte auf, sofem sie von einem Menschen wahrgenommen werden. Wahrnehmung ist zugleich Informationsveranderung und damit Beeinflussung des Wahmehmenden. Besonders komplex wird die Situation, wenn mehrere Menschen daran beteiligt sind. „Wenn sich Leute treffen, geschieht etwas. Leute fiihlen und denken, wahrend sie zusammen sind und danach. Sie agieren und reagieren aufeinander. Sie konnen ihre eigenen Handlungen wahmehmen, und andere Menschen, die anwesend sind, konnen ebenfalls beobachten, was stattfindet. Sinnliche Eindriicke und Handlungen werden registriert. Sie hinterlassen einige Spuren innerhalb des Organismus, und, als ein Ergebnis solcher Erfahrungen, mogen die Sichtweisen der Menschen Uber sich selbst und voneinander bestatigt, verandert oder radikal modifiziert werden. Die ganze Summe dieser Spuren, angereichert durch Tausende von Erfahrungen im Laufe der Jahre, formt den Charakter eines Menschen und bestimmt partiell die Art und Weise, in der zukiinftige Begebenheiten von ihm gehandhabt werden" (Ruesch 1995a, 17). Bei isolierter Betrachtung von Entitaten sind Kommunikationsprobleme ohne Bedeutung. Daher ist far Ruesch zwischenmenschliche Kommunikation eine soziale Situation, d.h. wo Kommunikation geschieht, wird anerkannt, dass man in das Wahmehmungsfeld des Anderen eingetreten ist, dann handelt es sich um eine soziale Situation (vgl. Ruesch 1995a, 27; Ruesch 1995b, 36, 40). Drei Momente kennzeichnen diese Situation naher, namlich expressive Akte von einer oder mehreren Personen, ihre bewusste oder unbewusste Wahrnehmung durch andere Personen sowie die Beobachtung, dass die expressiven Akte beobachtet wurden (vgl. Ruesch 1995a, 27). „Der Status der Kommunikation ist von der Tatsache bestimmt, dass ein Mensch wahrnimmt, dass seine Wahrnehmung von anderen zur Kenntnis genommen wird. Sobald dies geschehen ist, kann davon gesprochen werden, dass ein Kommunikationssystem besteht. Jetzt finden selektiver Empfang, zielgerichtete Ubertragung sowie korrigierende Prozesse statt, und die zirkularen Charakteristika und selbstkorrigierenden Mechanismen des Kommunikationssystems werden wirksam" (Ruesch 1995b, 40). Ruesch spricht in diesem Zusammenhang auch von der Schwierigkeit einer „Kommunikation iiber die Kommunikation", „denn sie ist gewohnlich eher implizit als explizit; aber sie muss da sein, wenn ein Austausch von Botschaften stattfindet" (ebd. 36). In der Folge stellt Ruesch heraus, wie subtil diese Kommunikationsvorgange ablaufen. „Wann immer Aktivitaten eines Organs oder des ganzen Organismus von jemandem selbst oder anderen wahrgenommen werden, stellen sie kommunikative Akte dar, welche eine Deutung rechtfertigen. Die hoheren Zentren des Nervensystems und moglicherweise bestimmte Driisen werten Botschaften aus, welche von einzelnen Organen stammen; und eine Person kann automatisch antworten, manchmal ohne sich dieser Ubertragung bewusst zu sein, Solche automatischen Antworten werden Reflexe genannt, wenn der Kreislauf mit Ausnahme des Reizes vollstandig innerhalb des Orga100
nismus lokalisiert ist. Beim Ubertragen von Botschaften von Person zu Person wird haufig Information uber den Zustand des Organismus des Sprechers iibermittelt, ohne dass es den Teilnehmem bewusst wird. In sozialen Situationen zum Beispiel bewerten Menschen automatisch die Haltung der anderen Person [...]. Unser Organismus braucht nur den Bruchteil einer Sekunde, um eine Vielzahl von Reizen wahrzunehmen. Die meisten wissenschaftlichen Beschreibungen von Wahmehmungsphanomenen verrennen sich in uniiberwindliche Schwierigkeiten, wenn der Versuch gemacht wird, die beteiligten Prozesse zu beschreiben" (ebd. 43f). Ruesch verweist dann auf die Wahmehmung einer Rose, die in all ihren Facetten zu beschreiben mehrere hundert Seiten beanspruchen wlirde, auch wenn der eigentliche Vorgang nur wenige Sekunden dauert. Zu einer Zeit, in der es keine der heutigen Video-Technik vergleichbaren Forschungsmoglichkeiten gab, imponieren diese Beobachtungen durch ihre Genauigkeit und Differenziertheit. Gilt das bisher Gesagte grundlegend fiir jede soziale Situation, so gilt sie dann auch im therapeutischen Kontext (vgl. Ruesch 1995a, 31). „Die Storung zielgerichteten Verhaltens eines Individuums lost eine Alarmreaktion aus. Wenn die Storung erfolgreich beseitigt werden kann oder ganz vermieden werden kann, wird die Alarmreaktion zuriickgehen. Die Quelle der Storung kann aber haufig nicht vermieden oder eliminiert werden. Unter solchen Umstanden wird das kommunikative Teilen der Angst mit nichtangstlichen oder nichtbedrohenden Individuen ein wirksames Mittel, um die Belastung durch die Storung zu ertragen" (ebd. 30). Wenn auch die Storung selbst nicht verhindert werden kann und, weil verhaltensverandemd wirksam, auch vom Therapeuten entsprechend wahrgenommen wird, so kann die Kommunikation liber die Angst zwischen Patient und Therapeut helfen, die Storung zu ertragen und womoglich auch zu verringem. „Stillschweigend benutzen alle Therapeuten die Kommunikation als eine Methode, den Patienten zu beeinflussen. Die Unterschiede, die zwischen dem Therapeuten und dem Patienten bestehen, sind Unterschiede ihrer Wertsysteme, welche hergeleitet werden konnen aus den Unterschieden in der Kodifizierung oder Bewertung wahrgenommener Ereignisse" (ebd. 31). Ruesch sagt hier, dass es im Hintergrund der beiden Betroffenen unterschiedliche Wertsysteme gibt, erkennbar an ihrer Interpretation der jeweiligen Situation. Es bleibt festzuhalten, dass Ruesch den Therapeuten in gleicher Weise in die Situation involviert sieht wie den Patienten. „In der interpersonalen Situation konnen die Wirkungen zweckgerichteter oder expressiver Handlungen ausgewertet werden und, wenn notig, korrigiert werden. In intrapQrsonaler oder phantasierter Kommunikation ist es extrem schwierig, wenn nicht gar unmoglich, wahrzunehmen, dass man seine eigene Botschaft falsch interpretiert; und Korrektur ist seiten, wenn sie iiberhaupt jemals vorkommt" (ebd. 27f). Im Unterschied zur intrapsychischen Kommunikation ermogliche die zwischenmenschliche Kommunikation die Korrektur von Handlungskonsequenzen. Dieses Kommunikationsverstandnis hat auch Konsequenzen fiir die Erforschung zwischenmenschlicher Kommunikation, denn der Forscher muss schon kommunizieren, um iiberhaupt Kommunikation erforschen zu kormen. Daher gibt es keine festgelegte Beobachterposition und wir konnen auch unserer Beobachtungen nie ganz sicher sein.
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„Wir konnen niemals nicht kommunizieren^^ und als menschliche Lebewesen und Mitglieder einer Gesellschaft sind wir biologischerweise gezwungen zu kommunizieren. Unsere Sinnesorgane sind standig wachsam und zeichnen erhaltene Signale auf. Da unsere GliedmaBen niemals ruhen, sind wir zur gleichen Zeit fortlaufend dabei, Botschaften an die AuBenwelt zu senden. Deshalb ist unsere bioiogische Notwendigkeit, Botschaften zu erhalten und zu geben, in gewisser Weise ein Handicap, wenn es darum geht, wissenschaftliche Kommunikationsprozesse zu erforschen" (ebd. 18). Ruesch deutet hier an, dass der Forscher, eben weil er selbst den gleichen Kommunikationsbedingungen unterliegt wie seine „Beobachtungsobjekte", selbst imweigerlich in die zu beobachtende Situation involviert ist. Er kann daher ebenfalls nicht nicht kommunizieren. 4.4.2
Paul Watzlawick et al.: Menschliche Kommunikation
Das 1. Axiom von Watzlawick et al.: „Man kann nicht nicht kommunizieren" (Watzlawick et al. 1990, 53) ist inzwischen bildungsbiirgerliches Allgemeingut geworden und hat die Autoren, alien voran Paul Watzlawick, weltweit bekarmt gemacht. Ihr Werk, die „Menschliche Kommunikation", erstmalig erschienen 1967, hat den AnstoB zu einer ganzen Reihe von theoretischen Arbeiten iiber Kommunikation und Interaktion gegeben. Im deutschen Sprachraum ist es vor allem durch Schiilein (1976), Ziegler (1978) und Meister (1984) einer vemichtenden Kritik unterzogen worden, die allerdings kaum in das offentliche Bewusstsein gelangt ist. Hier ein Beispiel fiir viele: Schiilein verweist auf die Inkonsistenz bzw. Unklarheit der Terminologie bei Watzlawick et al. mit den entsprechenden Folgen. „Die scheinbare Klarstellung: Der Austausch von Mitteilungen, deren Inhalt Information ist, beeinflusst Verhalten, fuhrt jedoch zu einer totalen Begriffsverwirrung, die als Resultat der eigenartigen Bestimmung von Totalitat von Interaktion als nebelhaft verschwimmende ,menschliche' oder ,zwischenmenschliche' ,Beziehung' und des daraus destillierten Kommunikationsbegriffs betrachtet werden muss. Wenn Interaktion nur als Austausch von Information erfassbar ist, woraus besteht dann Kommunikation und Verhalten, wenn nicht eine Identitat vorliegt? Hier bricht das formale Begriffssystem regelrecht zusammen: mal ist von den ,formalen Beziehungen zwischen Kommunikation und Verhalten'(13), die untersucht werden sollen, die Rede, dann wird von ,Kommunikationshandlungen'(23) gesprochen; mal handelt es sich um ,pragmatische (verhaltensmaBige) Wirkungen der Kommunikation'(13), dann werden ,die beiden Begriffe Kommunikation und Verhalten ... als praktisch gleichbedeutend verwendet'(23); schlieBlich ,ist in ... pragmatischer Sicht ... alles Verhalten Kommunikation, und jede Kommunikation ... beeinflusst Verhalten'(23) - ganz zu schweigen davon, dass [...] Kommunikation als Input/Output ,menschlicher Beziehungen' zu sehen ist. Dieser babylonisch anmutenden Begriffsverwirrung von Handlung, Verhalten, Beziehung, Kommunikation und Interaktion entspricht ein durchgangiges methodologisches Chaos: die Ebenen der Argumentation wechseln permanent und ohne dass dies ausgewiesen bzw. reflektiert wiirde" (Schiilein 1976, 54; vgl. Karle 1984, 24ff). Schiilein zahlt vier Ebenen auf: „allgemeine Aussagen anthropologischer Natur [...] strukturell-systematische Aussagen [...] empirische Aussagen [...] historisch-dynamische Aussagen" (Schiilein 1976, 55). Der jeweilige Status einer Aussage wird bei Watzlawick et al. nicht ausdriicklich gemacht und zudem noch verfalscht. ^^ Die Parallele zum 1. Axiom von Watzlawick et al. (1990, 53) ist hier deutlich zu erkennen. 102
„Dieser methodologische Wirrwarr ist quasi der Kitt, der die vielen unterschiedlichen Brocken, aus denen die Pragmatische Kommunikationstheorie zusammengesetzt ist, beieinander halt: er ermoglicht die Naivitat, mit der die Verfasser iiber theoretische und praktische Unebenheiten weghobeln, und tragt so die oben angedeutete Ambivalenz der Theorie (praktische Offenheit ftir bestimmte Momente des Gegenstandes vs. theoretische Inkompetenz" (ebd.). M.a.W. es liegt hier eine vollige Inkonsistenz der Terminologie vor, zentrale Begriffe wie „Kommunikation", „Metakommunikation" und „Verhalten" werden nicht eindeutig voneinander abgegrenzt.^^ Die Auffassung, dass wir nicht nicht kommunizieren konnen^^, wie sic auch schon Ruesch 16 Jahre zuvor formuliert hatte (s. Abschnitt 4.4.1)^^, war zu jener Zeit im allgemeinen Bewusstsein etwas revolutionierend Neues. Doch muss man differenzieren. Die Autoren mogen hier wohl eine nicht ganz originare Intuition gehabt haben, sic haben sie allerdings nicht iiber das Stadium einer Behauptung hinaus gebracht. Watzlawick et al. „begrunden" ihr erstes Axiom damit, dass man sich auch nicht nicht verhalten konne. Die „Begriindung" besteht eigentlich nur darin, zwei Begriffe synonym zu gebrauchen, namlich Verhalten und Kommunikation: „Verhalten hat kein Gegenteil" (Watzlawick et al. 1990, 51). Hier wird die schon angefiihrte Kritik Schuleins an der Vermischung verschiedener Aussagenebenen noch einmal belegt. Ein Gegenteil konnen nur Aussagen haben, nicht aber empirische Sachverhalte.^^ Man muss also sagen, dass auch das erste Axiom nur eine Behauptung der Autoren darstellt, die sie durch Fallbeispiele zu illustrieren versuchen, sie aber nicht wirklich begriinden. Was wir hier fmden, ist ein wirklich naiver Empirismus, die Vorstellung, dass es voraussetzungsfreie Theorie geben konne, also erkenntnistheoretische Voraussetzungslosigkeit. Die Autoren iibersehen, dass auch in Beobachtungsaussagen schon theoretische Momente miteinflieBen, d.h. sie meinen zu beobachten, was doch schon Theorie ist. Wissenschaftstheoretisch schon lange iiberholt ist die Vorstellung der Autoren, dass eine Struktur di-
Meister (1984) hat die Anf^nge dieser terminologischen Verwirrung schon bei Ruesch & Bateson nachgewiesen. Ftir Meister hat der Begriff „Metakommunikation" hier etwas „Schillemdes", sich dem Verstandnis Entziehendes, „weil er - je nach Kontext - mal als Kommunikation uber Kommunikation, mal als Kommunikation uber die Beziehung und mal als Synonym mit ,interpersonaler Kommunikation' aufgefasst wird" (Meister 1984, 16). Fur Ruesch & Bateson ist dies jenes Problem, das Whitehead & Russel in ihren „Principia Mathematica" (1910-13) schon angesprochen haben, vor allem aber Godel, „der gezeigt hat, dass kein System von Aussagen vollstandig (d.h. seine eigenen Axiome erklarend) und zugleich widerspruchsfrei sein kann; dass deshalb immer - als ein Ergebnis von Kommunikation und Metakommunikation - Widerspruche vom Russelschen Typ sich einschleichen" (ebd. 13). Meister kritisiert, dass die beiden Autoren die Tatsache, dass ihre Aussagen zu Paradoxien fiihren, mit Hinweis auf Whitehead, Russel und Godel als ein universelles Kennzeichen verstehen, anstatt ihre eigene Theorie als widerspruchlich zu betrachten. Denn jene Mathematiker meinten mit ihren Aussagen mathematische und verwandte Systeme, wozu eine Kommunikationstheorie vermutlich nicht gehort (vgl. ebd.). Diese Probleme tauchen bei diesen Autoren in der Double-Bind-Hypothese wieder auf und unverandert auch bei Watzlawick et al. Watzlawick bekennt sich auch 2001 noch zu den erstmalig 1967 gemeinsam mit Don D. Jackson und Haley formulierten Kommunikationsaxiomen (vgl. Porksen 2001, 214ff). ^^ Auch Goffman hatte sinngemaB schon vor Watzlawick et al. das Gleiche formuliert: „Ein Mensch kann aufhoren zu sprechen, er kann aber nicht aufhoren mit seinem Korper zu kommunizieren; er muss damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen; er kann aber nicht gar nichts sagen" (Goffman 1971,43). ^^ Uberspitzt formuliert ware das so, als ob manfragenwurde: Was ist das Gegenteil von „ApfeIstrudel"? 103
rekt beobachtbar sei. Ziegler (1978) meint, dies gleiche dem Versuch, die mathematischen Formeln der Astronomic durchs Teleskop entdecken zu woUen (vgl. Ziegler 1978, 48)7^ Neben dieser Kritik kommt den Autoren unzweifelhaft auch ein historisches Verdienst zu, denn sie haben zu ihrer Zeit das Thema „menschliche Kommunikation" iiberhaupt zu einem solchen gemacht, und das ist ungeschmalert zu wiirdigen. Was etwa den Gehalt der Axiome betrifft, so kann man sicher nicht von grundlegenden Kommunikationsregeln sprechen, aber man kaim doch sagen, dass sie auf typische Interaktionsformen hinweisen. Ebenso wird man nicht Icugnen konnen, dass widerspriichliche Signalc auf der Beziehungsebene groBe Probleme bereiten. Eine theoretische Erklarung fiir diese Kommunikationsphanomene gibt es hier jedoch noch nicht. Was Watzlawick et al. vorgelegt haben, ist keine Theorie, sondem ein Sammelsurium an Einsichten, Behauptungen, AUtagserfahrungen, die fiir sich gesehen auch nicht falsch sein miissen. Es gelingt ihnen aber nicht annahemd, ihre Erkenntnisse auch theoretisch zu konzeptualisieren. Was Meister schon bei Ruesch & Bateson kritisiert hat, gilt fiir Watzlawick et al. in gleicher Weise. Beeinflusst von kybemetischem und dann systemtheoretischem Denken interessiert sie das Warum einer Kommunikation gar nicht, sondem nur ihr Wie. Man versucht, den Ablauf der Kommunikation, ihr Funktionieren zu verstehen, fragt aber nicht nach den Grunden. Gegenuber der kausalen Relation eines psychoanalytischen Denkens fuhren Ruesch & Bateson das zirkulare Denken, die funktionale Relation ein. Sie fragen nicht mehr nach dem Warum, der Ursache, sondem nur nach dem Wie. Wenn aber nur noch die „funktionalen Relationen zwischen einem System von Ereignissen und dem Feld, in dem sie auftreten (= das grofiere, das ,given system')", dann fiihrt das „zur Aufgabe der kritischen Dimension wissenschaftlichen Fragens. Das umfassende System, und das ist in den Sozialwissenschaften stets die Gesellschaft, wird als vorgegeben akzeptiert; ihre potentielle Irrationalitat und die der in ihr handelnden Individuen fallt aus dem Universum moglicher Fragen heraus, allenfalls die Suche nach ,Dysfunktionalitaten' erscheint noch mogHch" (Meister 1984, 11). Diese Kritik trifft in gleicher Weise auch auf Watzlawick et al. zu. 4.4.3 Friedemann Schuiz v. Thun: Miteinander reden Die Arbeit von Watzlawick et al. hat viele Publikationen zum Thema „Zwischenmenschliche Kommunikation" nach sich gezogen. Besonderen Anklang fand und fmdet die ganz praktisch orientierte Anleitung zum „Miteinander reden" von Friedemann Schuiz v. Thun (1981-1998, 3 Bande). Er bemft sich theoretisch auf die Ansatze von Carl Rogers, Alfred Adler, Ruth Cohn, Fritz Perls und Paul Watzlawick (vgl. Schuiz v. Thun 1981, 13). Hinter seinen Anleitungen zum besseren Kommunizieren steht ein ganz individuumszentriertes Konzept von Kommunikation in der Nachfolge auch von Shannon & Weaver, gerade wenn es um das Verstandnis der Storungen zwischen Sender und Empfanger geht. ™ AhnHches gilt auch fur die Begriffe „Axiom", „pragmatisches Kalkiil", „Metakommunikation", „Paradoxie", „Double-bind". Z.Tl. finden sich darin die schon bei Ruesch & Bateson grundgelegten Unscharfen. 104
„Der Grundvorgang der zwischenmenschlichen Kommunikation ist schnell beschrieben. Da ist ein Sender, der etwas mitteilen mochte. Er verschliisselt sein Anliegen in erkennbare Zeichen - wir nennen das, was er von sich gibt, seine Nachricht. Dem Empfdnger obliegt es, dieses wahmehmbare Gebilde zu entschliisseln. In der Regel stimmen gesendete und empfangene Nachricht leidlich iiberein, so dass eine Verstandigung stattgefunden hat. Haufig machen Sender und Empfanger von der Moglichkeit Gebrauch, die Giite der Verstandigung zu uberpriifen: Dadurch dass der Empfanger zuriickmeldet, wie er die Nachricht entschliisselt hat, wie sie bei ihm angekommen ist und was sie bei ihm angerichtet hat, kann der Sender halbwegs uberpriifen, ob seine SendeAbsicht mit dem Empfangsresultat tibereinstimmt. Eine solche Riickmeldung heifit auch Feedback^' (Schulz v. Thun 2001, 25). Schulz V. Thun setzt einfach voraus, dass wir miteinander storungsfrei kommunizieren wollen, ohne dies weiter zu begrlinden. Uberhaupt geht es ihm kaum um eine theoretische Fundierung, sondem vor allem um die Praxis. Der Verzicht auf theoretische Fundierung auBert sich dann in einer ganzen Reihe von Normvorgaben fur das richtige Kommunizieren, ahnUch w^ie sie ja auch Ruth Cohn fiir die TZI formuUert hat. Wenn Schulz v. Thun gleich am Anfang sagt, dass er von dreierlei Ansatzen ausgeht, namlich vom Individuum, von der Art des Miteinanders und schlieBlich von den institutionellen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Schulz V. Thun 1981, 19ff), ohne deutlich zu machen, wie diese drei Ansatze zusammenhangen bzw. welcher Ansatz wann zum Zuge zu kommen hat, herrscht theoretische Verwirrung. Er geht davon aus, dass Menschen gut miteinander kommunizieren wollen, kann aber nicht begrunden, warum dies eigentlich der Fall ist. So kommt es zu Verweisen auf andere theoretische Ansatze, insbesondere systemische, aber auch tiefenpsychologische. Ob diese miteinander kompatibel sind, wird nicht diskutiert. Theorien sind erklartermaBen nicht das primare Anliegen von Schulz v. Thun. Andererseits, im Hinblick auf den unlosbaren hermeneutischen Zirkel, muss davon ausgegangen werden, dass diese Momente doch implizit enthalten sind. Wenn ich vom Individuum ausgehe, dann habe ich jedes Mai Probleme zu begriinden, warum zwischen Individuen eigentlich gut kommuniziert werden soUte. Eine solche Begriindung ist von diesem Paradigma her nicht zu erreichen. So bleibt man dann im Normativen stecken. Wenn ich einerseits nicht begrunden kann, warum gute Beziehung und gelingende Kommunikation notwendig ist, diese also lediglich einen Erfahrungswert darstellen, dann wird daraus eine Norm, an deren Einhaltung nur appelliert werden kann. Von daher erklaren sich die vielen Ratschlage zur Verbesserung der Kommunikation.^^ Wenn ich aber nicht begrunden kann, warum eine solche Kommunikation notwendig ist, dann schweben auch diese Ratschlage im freien Raum. Sie sind dann nur der Versuch, eine Norm umzusetzen, aber nicht die Konsequenz aus einer begriindeten Erklarung ^' Dies trifft auf samtliche Ratgeber zu. Man geht nur scheinbar von verntinftigen und plausiblen Annahmen aus. Man hat gewissermafien die ideale Kommunikation als Norm vor Augen und gibt dann allerlei Ratschlage, wie man diese Norm realisieren kann. Das geht an der eigentlichen Dynamik des Geschehens u.U. weit vorbei, weil es zuvor nicht erklart wurde. Gleiches gilt auch fiir den „Dialog" beispielsweise von Hartkemeyer et al. (1998), die sich dabei auf das Dialogische Prinzip von Buber berufen. Sie beschreiben detailliert, wie man sich in welcher Situation zu verhalten hat. Wenn man nicht weiB, was Kommunikation eigentlich fiir eine Bedeutung hat, dann wird insinuiert, dass durch die Befolgung bestimmter Regeln die Kommunikation gelingen wird - was immer eine gelingende Kommunikation ist.
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des kommunikativen Geschehens.^^ Die Ratschlage mtissen nicht unbedingt unvemunftig sein, aber sie sind gewissermaBen beliebig und weisen nur eine gewisse Plausibilitat auf. Wissenschaftlich gesehen reicht das nicht aus. 4.4.4 Niklas Luhmann: Kommunikation als gesellschaftliche Operation Niklas Luhmann (1927-1998) versteht Kommunikation als eine gesellschaftliche Operation. Irritierend an seinem Ansatz ist vor allem sein konsequenter Verzicht auf den Subjektbegriff. „Es gehort zu den schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache (und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem Grunde inadaquat, ja irrefuhrend), die Pradikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schlieBHch die aite Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, dass es um ,Dinge' gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitaten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden" (Luhmann 1988, 326). Das individuelle Subjekt fallt seiner funktionalen Ausdifferenzierung der Systeme zum Opfer. Der Mensch ist weder Mikrosystem noch ein System-Aquivalent, sondem wird „zwischen den sich ausdifferenzierenden Systemen aufgeteilt (Zima 2000, 332). So versteht Luhmann Gesellschaft als ein „operativ geschlossenes System sinnhafter Kommunikationen" (Luhmann 1990, 62). „Ein soziales System kommt zustande wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschrankung der geeigneten Kommunikationen gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondem aus Kommunikationen" (ebd. 269). Systeme sind Beobachter, die durch ihr Beobachten zwischen sich und dem Beobachteten differenzieren, also einen Unterschied herstellen, und dadurch Informationen iiber ihre Umwelt gewinnen. Hier verweist Luhmann auf Bateson und dessen Bestimmung „a difference that makes a difference" (Luhmann 1988, 68)als Elementareinheit von Information. Ein Beobachter sieht also Dinge, macht Unterschiede zwischen ihnen und bekommt so Informationseinheiten. Insofem konstruiert er seine Umwelt. Kommunikation ist jene Operation, mit der sich soziale Systeme gewissermaBen reproduzieren, d.h. sie ist eine autopoietische Ope^^ Hier ist Senge et al. Recht zu geben: „Ohne grundlegende Theorie hat man Werkzeuge, die in einer bestimmten Situation moglicherweise phantastisch funktionieren, aber man hat keine Ahnung warum. In anderen Situationen erweisen sie sich vielleicht als nutzlos und auch hier bleiben die Grunde verborgen. Letzten Endes konnte die Nutzlichkeit des Werkzeugs sogar von nichtreproduzierbaren, individuellen Fahigkeiten abhangen. In der Hand eines wirklich guten Beraters bewirkt das Werkzeug vielleicht wahre Wunder. Aber alle anderen Mitarbeiter im Untemehmen haben nicht die leiseste Ahnung, wie man es effektiv anwendet. Zweitens konnen wir ohne grundlegende Theorie haufig nicht erkennen, wo die Grenzen eines Werkzeugs liegen oder wo es vielleicht sogar kontraproduktiv wirkt, weil man es falsch anwendet. [...] Das ist der wichtigste Grund, weshalb man nach Werkzeugen suchen sollte, die auf bahnbrechenden Theorien basieren: nur solche Werkzeuge haben die Kraft, unsere Denkweisen zu verandem. Die meisten ProblemlSsungswerkzeuge, die ins Management eingeftihrt werden, so innovativ sie auch sein mogen, basieren auf konventionellen Denkweisen. Wie konnte es auch anders sein, wenn sie keine Theoriegrundlage haben. Solche Werkzeuge konnen niitzlich sein, aber sie haben keine transformative Wirkung. Sie lassen die tieferen Ursachen der Probleme in der Regel unberiihrt. [...] Wenn wir uns auf unsere derzeitigen Denkweisen sttitzen, ist es sehr schwierig, Werkzeuge zu entwickeln, die diese Denkweise verandem. Dafur muss man neue Theorien fmden oder entwickeln" (Senge et al. 1996, 34f).
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ration. Sie stellt eine Synthese aus drei Elementen dar, namlich Information, Mitteilung und Verstehen (vgl. ebd. 267). „Was als Verstehen in der Kommunikation erreicht wird, entzieht sich der Steuerung jedes einzelnen Beteiligten. Es ist ein emergentes Resultat ihres Zusammenwirkens und daher nicht als Handlung zurechenbar auf Sender oder Empfanger" (Schneider 1994, 164). Handlungen sind, so gesehen, Elemente von Systemen, aber keine Attribute von individuellen oder kollektiven Subjekten. Letztere werden „durch einen anonymen Differenzierungsprozess ersetzt: durch einen Prozess ohne Subjekt" (Zima 2000, 329). GewissermaBen wird der Prozess selbst zum Subjekt. Nach Zima hat Luhmann das transzendentale als auch das individuelle Subjekt nur gegen abstrakte Subjekt-Aktanten ausgewechselt. Als solche erscheinen „Differenzierung", „System", „Operation" oder „Kommunikation" und diese „wahlen", „entscheiden", „bewirken", „verhindem". „Diese Aktanten werden zwar ihrem Namen nach eliminiert, aber alle ihre subjektiven Modalitaten {sein, konnen, wollen, wissen) gehen in den mythisierten Subjekt-Aktanten ,System' ein, der etwas ,kann', etwas ,wiir, etwas ,beobachtet', etwas ,wei6' usw. [...] Die systematische Tilgung von Subjektivitat hat bei Luhmann lediglich dazu gefiihrt, dass sie sein gesamtes System durchwirkt, ohne dass er es merkt, weil er Subjektivitat allzu impressionistisch und unsystematisch - mit individueller und transzendentaler Subjektivitat gleichsetzt. Aber Subjektivitat ist eine Kategorie, die dem ganzen Sprachsystem (mit oder ohne Ich-Pronomen) und der menschlichen Kommunikation zugrunde liegt. Luhmann selbst muss dies geahnt haben. Nur so ist seine verzweifelte Polemik gegen den Subjektivismus der Sprache zu verstehen" (Zima 2000, 334). Luhmann bemiiht sich um die Negation individuell-subjektiver Einheiten, um die Eliminierung des Subjekts, was aber letztlich sprachlich nicht moglich ist, so sehr sich Luhmann, bis an den Rand der Unverstandlichkeit, darum bemiiht. Soziale Prozesse werden anonymisiert und zugleich anthropomorphisiert, und „zusammen mit dem beobachtenden und handelnden Subjekt sind auch die subjektiven Kategorien verschwunden, mit deren Hilfe Soziologen bisher versuchten, die Dynamik der Gesellschaft zu erklaren: Intention, Interesse und Kritik^' (ebd. 335). Folgerichtig gibt es den Menschen als kommunizierendes Subjekt nicht mehr, sondem er zerfallt in ein neuro-physiologisches und ein psychisches System. „Wir wahlen den Ausdruck ,Mensch', um festzuhalten, dass es sowohl um das psychische als auch um das organische System des Menschen geht" (Luhmann 1988, 286, Anm. 101). Der Mensch ist weder ein autonomes noch ein autopoietisches System wie etwa der Korper oder die Gesellschaft, sondem erscheint „als zwischen verschiedenen autopoietischen Systemen angesiedelt" (Zima 2000, 332). Der Mensch ist kein Subjekt mehr im herkommlichen Sinne. Daher ist er auch nicht mehr Teil des sozialen Systems, sondem gehort „als Zusammenwirken von biologischen und psychischen Faktoren zu dessen Umwelf (ebd.). Die Funktion des bisherigen Subjekts iibernimmt das System. „Dieser Aktant ist aber nach wie vor ein Subjekt-Aktant, der systematisch mit den Pradikaten individueller und kollektiver Subjekte ausgestattet wird" (Zima 2000, 333f).
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4.4.5 Klaus Merten Noch 1999 konstatiert Merten als Kommunikationswissenschaftler, dass sich die Kommunikationswissenschaft „wissenschaftssoziologisch gesehen, noch in einem sehr unfertigen Zustand befindet" (Merten 1999, 80). Die Griinde fur diesen Sachverhalt, der sich in einer iibergroBen Varianz von Ansatzen zeige, ortet er gleich mehrfach bei der Kommunikation selbst, nicht zuletzt in den groBen theoretischen Defiziten. Schon in seiner Arbeit „Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozessanalyse" hatte Merten „eine begriffliche und theoretische Klarung von Kommunikation zu gewinnen" (Merten 1977, 35) versucht, und mehr als 20 Jahre spater einen neuerlichen Anlauf dazu genommen (vgl. Merten 1999). In der erstgenannten Arbeit sucht Merten nach einer Defmitionsanalyse von 160 Defmitionen, den dort deutlich gewordenen Schwierigkeiten dadurch zu begegnen, „dass die Entwicklung verschiedener Prozesstypen entlang einer evolutionaren Zeitachse verfolgt wird. Damit lasst sich eine zeitliche Ordnung evolutionarer Hierarchien von Kommunikationsprozessen als Richtschnur flir die Analyse angeben, entlang der die Entwicklung von Kommunikation verfolgt und verglichen werden kann. Offensichtlich liegt eine solche hierarchische Ordnung insofem vor, als alle hoheren Kommunikationsprozesse Eigenheiten und Leistungen der niedrigeren voraussetzen und diese auch iibemehmen. So ergibt sich fast zwanglos die Strategic, verschiedene evolutionare Ebenen, auf denen sich Kommunikationsprozesse feststellen lassen, anzugeben, und im Vergleich von Ebene zu Ebene anzugeben, welcher Zuwachs an evolutionaren Errungenschaften [...] welche Folgen hat" (Merten 1977, 92). Dem folgt Merten auch in seiner Arbeit von 1999. Neben dieser evolutionaren Sichtweise auf die Entwicklung von Kommunikation praferiert Merten zur Erklarung des Kommunikationsgeschehens einen systemtheoretischen Ansatz, wobei er sich explizit auf den Ansatz Luhmanns beruft. Systeme, so Merten, haben Elemente, „die untereinander ein bestimmtes Mali an Verkniipfung und damit an Ordnung aufweisen. Die Summe aller solcher nichtzufalligen Verkniipfungen wird Struktur genannt" (Merten 1999, 84). Der Gegenstand der Systemtheorie sind dynamische Prozesse. Kommunikation ist flir Merten das kleinste soziale System. Aus kleinen Systemen werden groBe und mittels der Systemtheorie lasst sich die Beziehung zwischen den Systemen, vor allem das System „Gesellschaft" in den Griff bekommen (vgl. ebd. 101). Kommunikation zeichnet sich aus durch Reflexivitat in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht (vgl. Merten 1977, 162ff; 1999, 86ff). „Reflexivitat als Kriterium ftir Kommunikation wiirde bedeuten, dass zunachst nur dann von Kommunikation gesprochen werden soil, wenn die Kommunikanten ihr Verhalten wechselseitig aneinander ausrichten. Radikalisiert man diese tJberlegungen, so kommen schlieBlich auch Prozesse weit unterhalb der Humanebene in den Gesichtskreis, etwa neurophysiologische und genetische Prozesse, bei denen man von Kommunikation sprechen kann" (Merten 1977, 87).
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AUgemein meint „Reflexivitat" die unter bestimmten Bedingungen auftretende Ruckwirkung von Prozessen auf sich selbst, die generell eine Steigerung von Leistungen oder eine Korrektur bewirkt, vorausgesetzt, das System ist in sich geschlossen/^ 4.4.5.1 Die Evolution der Kommunikation Merten entwickelt einen Vierfelder-Plan, in dem sich seiner Meinung nach die Entwicklung der Kommunikationswissenschaft einordnen lasse. So konnen einerseits die informelle, d.h. die Face-to-face-Kommunikation, und die mediale Kommunikation voneinander unterschieden werden, andererseits die intentionale von der non-intentionalen Kommunikation. Weitere Differenzierungen geschehen einerseits nach Medien, andererseits nach Positionen im Kommunikationsprozess (vgl. Merten 1999, 13). Aristoteles ging es noch um eine ganz bestimmte Wirkung von informeller Kommunikation, die sehr viel spater entwickelten Literaturwissenschaften legen den Akzent auf den „Kommunikator", die Textwissenschaften wiederum auf den Inhalt. Sie schlieBen die informelle Kommunikation ein, denn „Text ist alles, was zeichenhaft strukturiert ist" (ebd. 14). Damit scheint Merten informelle Kommunikation auf „Text" zu reduzieren. Zeitungswissenschaften und dann Publizistik stellen „den konsequenten Versuch dar, Strukturen und Gesetze, die man am Medium Presse erkannt hatte, auf alle Medien zu tibertragen. Fragt man nach einer Disziplin, die ubergreifend das gesamte Feld der intentionalen Kommunikation umfasst, so geraten Public Relations (PR) ins Gesichtsfeld" (ebd.). Wahrend all diese Ansatze der Kommunikation Intentionalitat unterstellen, zeigen psychologische, psychiatrische und soziologische Forschungen, dass „Kommunikation sich nicht nur unbeabsichtigt, sondem geradezu unvermeidbar einstellt" (ebd.), wie Merten im Blick auf das 1. Axiom von Watzlawick et al. betont. Mit „Non-Intentionalitat" meint Merten demnach Unvermeidbarkeit. Kommunikationswissenschaft versteht sich nun als eine Wissenschaft, die sowohl die informelle als auch die mediale, die intentionale wie non-intentionale Kommunikation zu umfassen und damit auch alle bisherigen Ansatze zu integrieren sucht. „Unterstellt wird damit zugleich, dass Kommunikation und Massenkommunikation - wie im einzelnen auch immer eine gleiche Struktur aufweisen resp. nach den gleichen Gesetzen funktionieren. Fiir die Analyse dessen, was Kommunikation ist, muss man daher logischerweise beim einfachsten Kommunikationsprozess ansetzen, also bei der informellen Kommunikation" (ebd. 15). An gleicher Stelle spricht Merten auch von der „mediale(n) Vermittlung informeller Kommunikation" (ebd. Anm. 2). Zuvor hatte er die informelle Kommunikation als „mundliche, personale, Face-to-face-Kommunikation" (ebd. 14) bezeichnet. Dies lasst folgem, dass Merten jede Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen, gleich ob medial oder face-to-face, als „informeU" bezeichnet.
Der Begriff der Reflexivitat taucht auch bei anderen Autoren auf, z. B. bei G. H. Mead oder Niklas Luhmann und stammt v. a. aus dem Gedankengut der Kybemetilc.
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Den groBten Schwierigkeiten sieht sich die Kommunikationswissenschaft nach Merten gegeniiber, wenn es um die Erfassimg der Struktur von Kommunikation geht. Die Annahme einer Kausalitat ist fiir Merten nicht haltbar, und ist vielmehr fur den Forschungsstillstand verantwortlich (vgl. ebd. 19). Im Vergleich dazu lasse sich eine geradezu explosive Entwicklung des Kommimikationssystems selbst beobachten. Als friihestes Medium gilt die Schrift (ca. 3000 V. Chr.). Von ihr bis hin zum Internet zeigt sich die Entwicklung der Kommunikation fur Merten in einer Evolutionskurve. Es gebe einen „Megatrend zur Mediengesellschaft", dieser „konfrontiert das Bewusstsein des Menschen mit einem exponentiell gestiegenen Informationsangebot und zwingt den Rezipienten zu immer starkerer Selektion" (ebd. 21), und zwar wieder durch Medien. „Daraus folgt: Nichts ist wirklich, was nicht in den Medien ist, oder: Medien konstruieren Wirklichkeit (ebd.). Merten begrundet dies folgendermaBen: Es sei ein ehemes Gesetz der Sozialwissenschaften, dass sich Gesellschaften irreversibel ausdifferenzieren. Damit die Gesellschaft als Ganze aber in der Folge nicht erodiert, braucht es integrative Relationen zwischen den Teilsystemen, und diese sind „letztendlich nichts anderes als kommunikative Leistungen" (ebd. 187). In diesem Zusammenhang spricht Merten davon, dass auch andere als kommunikative Strukturen fiir den gesellschaftlichen Zusammenhalt verantwortlich gemacht werden konnten, wie z.B. Institutionen und Rollen. Man muss hier allerdings fragen, wie Institutionen als nicht kommunikative Strukturen verstanden werden konnen. Hier zeigt sich das Problem, dass Merten nicht defmiert, was er unter solchen Institutionen genauer versteht. Das Kommunikationssystem wird zum fuhrenden Teilsystem der Gesellschaft, denn: „Kein Absatz ohne Werbung, kein Wahlsieg gegen die offentliche Meinung, keine Kultur ohne das Femsehen, kein offentliches Vertrauen ohne Public Relations. Schon von daher ist es gerechtfertigt, heute von Mediengesellschaft zu sprechen" (Merten 1999, 188f). Merten analysiert nun die Kommunikationsmoglichkeiten auf 4 Evolutionsebenen, der (1) subanimalischen, der (2) animalischen, der (3) humanen und der (4) technischen bzw. Massenkommunikation, denn die Evolution von Kommunikation bedinge auch die Evolution von Gesellschaften (vgl. ebd. 184; 1977, 93ff), wobei man diesbeziiglich bei Merten eine gewisse Spekulation nicht von der Hand weisen kann. (1) Subanimalische Kommunikation: Eine „vegetative Kommunikation" mit sehr geringer Selektivitat erfolgt im Bereich der Mikroorganismen und chemischen Strukturen. Je nach Konzentrationsschwellen erfolgt eine Stimulation oder sie unterbleibt. Dazu ist aber ein direkter Kontakt notig, die Moglichkeit der Interaktion auf Distanz besteht nicht. Allerdings bleibt der Unterschied zwischen Organismen und Nicht-Organismen unklar: Die reziproke Anziehung zweier Magnete konnte als Kommunikation verstanden werden, genauso wie die Verbindung aus zwei verschiedenen Molekiilen. „1. Bei allem, was zwischen zwei Substanzen iibertragen wird, ist nicht der Trager relevant, sondem die darin verschliisselbare Struktur, also eine relationale Eigenschaft, eine Art Strukturtransfer. 2. Wie alle Evolution zeigt, erfolgt der Aufbau von Struktur autokatalytisch, lasst sich jedoch selbst wieder fiir den Aufbau von weiterer Struktur 110
einsetzen, d. h. der Zuwachs an Struktur ist abhangig von dem jeweils schon erreichten Strukturbestand in der Zeit" (Merten 1977, 95). „Struktur" kann bezeichnet werden als eine Ansammlung von Elementen, die miteinander in Kommunikation stehen. Im konkreten Fall produzieren, verbreiten und modifizieren sich die Elemente selbst wieder und bleiben miteinander in Kontakt. Auf dem Niveau der Zelle sind die Kommunikanten, also die Zellen, in einem Zwangskontakt, sie konnen nicht wahlen, d.h. es besteht nur eine geringe Selektionsmoglichkeit. Die Moglichkeit der wechselseitigen Stimulation geschieht nicht durch Wahmehmung, sondem durch metabolische Prozesse. Bei solchen Prozessen wird Substanz in Form von Losungen transferiert, d.h. es erfolgt eine Stimulation durch chemisch entstandene Reziprozitat. Die Verarbeitung der Prozesse ist sehr einfach und geschieht durch binare Codierung (0, 1). (2) Animalische Kommunikation: Die animalische Kommunikation begrundet sich auf der Fahigkeit zur Lokomotion und der Ausdifferenzierung der Wahmehmungsorgane und der damit verbundenen Moglichkeit der freien Abstandswahl. Die Trennung der Kommunikanten ist auf der subanimalischen Ebene nicht gegeben, auf der animalischen Ebene sehr wohl. Auf letzterer wird sie mittels Kommunikation iiberwoinden. Dort wird bereits Lokomotion angenommen, und sie erlaubt Selektion und Verbesserung der Lebensbedingungen. Es wird eine aktive Informationsaufnahme ermoglicht und die Voraussetzung zur Reflexivitat geschaffen. Die Tatsache, dass sich die Organismen voneinander getrermt haben und sich bewegen konnen, erfordert eine neue Form von Kommunikation, namlich durch wahmehmbare Zeichen. Wenn Lokomotion die Organismen in der langen Entwicklung verandert hat, dann muss es moglich sein, Stufen dieser Entwicklung auszumachen, auf denen sich Wahmehmungsorgane und damit Formen von Kommunikation differenziert haben. Der phylogenetisch alteste Wahmehmungskanal ist der taktile Kanal. Aus diesem haben sich die anderen Wahmehmungskanale entwickelt. Seine Informationsleistung ist ausgesprochen gering, ebenso seine Selektivitat. Taktile Wahmehmung erlaubt die Unterscheidung in Organismen und NichtOrganismen, kann nur iiber Tasten geschehen, d. h. ihre notwendige Voraussetzung ist der korperliche Kontakt. Sie ist ohne unmittelbare Anwesenheit des Anderen nicht moglich, ermoglicht die unmittelbare Reaktion und lasst in der Kommunikation wegen der unmittelbaren Nahe des Partners nur eine dichotome Interpretation zu: Sich Aufeinander-zu-Bewegen oder sich Voneinander-weg-Bewegen, Bindung oder Trennung, Aggression oder Affektion. Der olfaktorische Wahmehmungskanal ist hinsichtlich der Informationsleistung der schwachste Kanal. Die Wahmehmungsleistung ist jedoch hoch und sie karm so wohl gerichtet (identifizierend, also von einem spezifischen Lebewesen ausgehend) als auch ungerichtet (fossilierend) erfolgen, d.h. sie setzt nicht die wechselseitige Anwesenheit von Kommunikanten voraus (vgl. Merten 1999, 191). Der akustische Wahmehmungskanal verfugt liber eine sehr groBe Informationsleistung, die iiber groBe Distanz und fur viele Rezipienten nutzbar eingesetzt werden karm. Die Auflosung ist hochselektiv, was fiir die Emission spezifischer Signale von groBem Vorteil ist. Emissions-
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und Rezeptionsorgane sind getrennt. Die emittierten Inhalte fossilieren nicht, so dass eine Verfolgung, im Gegensatz zum olfaktorischen und gegebenenfalls zum taktilen Kanal, unmoglich wird (vgl. ebd.). Der optische Wahmehmungskanal verfiigt iiber die groBte Informationsleistung und auch iiber das groBte Auflosungsvermogen. Die Wahmehmung ist liber groBe Distanz und fiir viele Rezipienten moglich. Gegenuber alien Wahmehmungsorganen hat der optische Kanal den Vorteil, dass er diese - mehr oder minder prazise - kontrollieren kann: Man kann sehen, dass jemand spricht oder jemand beriihrt wird, man kann aber nicht horen, dass jemand sieht. Zugleich erfasst der optische Wahmehmungskanal das gesamte Verhalten eines Kommunikators wie etwa Bewegung der Hande oder des ganzen Korpers. Von besonderer Bedeutung ist, dass das Auge selbst sowohl als Emissions- als auch als Rezeptionsorgan tatig ist, so dass das Sehen des Sehens bzw. das Sehen des Gesehenwerdens moglich ist. Dies ist eine reflexive Struktur und als solche von besonderer Leistung, denn genau iiber die Reflexivitat optischer Wahmehmung wird Kommunikation generiert. Der auditive Kanal hat sich, so Merten, unmittelbar aus dem taktilen Kanal entwickelt. Die Reziprozitat des taktilen Kanals bleibt auch beim auditiven erhalten, das Gesagte wird zugleich gehort. Der visuelle Kanal ersetzt den Verlust der raumlichen Unmittelbarkeit des taktilen Kanals. Die Wahmehmung auf Distanz erfolgt in einer umfassenderen Weise, als sie mit dem taktilen Kanal moglich war. Visuelle Wahmehmung ist viel mehr objektgerichtet und selektiver. Durch die Differenziemng der Kanale ergibt sich das Problem, verschieden geartete Informationen zu speichem. Es entsteht eine gewisse Rivalitat zwischen den Kanalen. Gedachtnis und Aufmerksamkeit erlauben uns, mit diesem Problem umzugehen (vgl. ebd. 191f). Der auditive und der visuelle Kanal ermoglichen Risikoreduktion durch Wahmehmung auf Distanz. Sie haben die Unmittelbarkeit im Vergleich zum taktilen Kanal verloren. Anstelle der unmittelbaren Reziprozitat tritt die Handlung auf Distanz. Folge ist, dass Handlungen auch interpretiert werden miissen. Sie haben femer die groBte Leistungsfahigkeit mit dem geringsten energetischen Aufwand. (3) Humankommunikation: Das Kriterium fiir die Humankommunikation ist die Verfagbarkeit eines sprachlichen Kanals uber und neben den nonverbalen Kanalen. „Sprache ist nicht Voraussetzung von Kommunikation, sondem schon Folge von Kommunikation" (Merten 1977, 118). Die Verfiigbarkeit von Sprache potenziert die Kommunikationsleistungen und erlaubt weitere Stmkturgenese (vgl. ebd.). Durch die Kombination der einzelnen Kanale werden weitere Leistungen, etwa die KontroUfunktion, ermoglicht. Sprache erlaubt die Behandlung realen Geschehens auf einer zweiten Ebene und hat somit Stellvertreterfunktion: Nur durch die Entwicklung dieser Funktion wird es moglich, in Vergangenheit und Zukunft und damit in der Dimension von Zeit zu denken - und zu erleben. Nur dadurch ist es moglich, neben die Wirklichkeit die Idee der Moglichkeit, neben die objektive Tatsache die subjektive Meinung zu stellen, planerisches Denken zu entwickeln und damit Erwartungen zu pragen (vgl. Merten 1999, 193). Fiir Merten kennzeichnet der Zeitpunkt, 112
zu dem die Sprache entstanden ist, den Ubergang vom Tier zum Homo sapiens: „Es ist die Fahigkeit zur Kommunikation, die aus einem Tier einen Menschen macht" (ebd. 192), d.h. Kommunikation findet fiir Merten nur zwischen Menschen statt. Mit der Sprache verfugt der Mensch iiber ein Medium, also ein Instrument, durch das und mit dem sich Kommunikation entfalten lasst. Des Weiteren erlaubt Sprache die Ausbildung von Regeln (Normen) und zwar sowohl des sozialen Verhaltens, der friedlichen Zusammenkunft, der Vorbereitung der Jagd etc. als auch vor allem von Regeln des Umgangs mit Sprache selbst (vgl. ebd. 194). 4.4.5.2 Kritische Anfragen: Informelle und mediale Kommunikation (4) Massenkommunikation (1977 spricht Merten noch von „technischer Kommunikation"): Die Entwicklung des Menschen besteht fur Merten eigentlich in der „Evolution der Kommunikation" (Merten 1999, 20) von der Schrift bis hin zum World Wide Web, d.h. sie ist eigentlich „Medienentwicklung". In dieser Evolution der Kommunikation wird die informelle Kommunikation offensichtlich als Beginn der Evolution gesehen, d.h. die Face-to-faceKommunikation ist nur eine Stufe in der Evolution der Kommunikation. Die mediale Kommunikation wird bei Merten zum analogatum princeps, d.h. zum MaBstab fur alle evolutionar friiheren Kommunikationsformen, zu der dann auch die Face-to-face-Kommunikation gehort. Wenn von Entwicklung die Rede ist, dann ist damit die technische Ausdifferenzierung, z.B. bezuglich Geschwindigkeit, Verbreitungsgrad oder Menge der Rezipienten, gemeint. Von daher kann Merten die informelle Kommunikation dann folgerichtig als die einfachste Form der Kommunikation bezeichnen (vgl. ebd. 15). Miisste man dann aber nicht erwarten, dass sich infolge dieser evolutionaren Weiterentwicklung auch die Qualitat der zwischenmenschlichen Kommunikation verbessem wurde? Die Frage nach der qualitativen Verbesserung stellt sich Merten nicht. Insgesamt geht es, in Anlehnung an Luhmann, um die Reduktion von Komplexitat, d.h. wie bekommen wir die heutigen Informationsmengen in den Griff, wie kommen wir an die richtige Information heran, welche Wirkung iibt die mediale Kommunikation aus? Wesentlich dabei ist die Wirkung von Kommunikation beim Empfanger. „Entwicklung" ist, ftir sich gesehen, nicht zwingend positiv konnotiert. Hierfur ist immer ein MaBstab erforderlich. Was bei Merten fehlt, ist eine Qualifizierung dieser Entwicklung. Ohne MaBstab kann man Veranderung zwar feststellen, aber nicht bewerten. Die behauptete Strukturgleichheit wird von Merten nicht begriindet, auch nicht, warum denn die Face-toface-Kommunikation die einfachste Kommunikationsform sei. Das hat zur Folge, dass Faceto-face-Kommunikation bei Merten, wie bei vielen anderen Autoren, gemaB der Medienkommunikation verstanden wird. Es ist nicht zu bestreiten, dass es in den letzten Jahrzehnten eine enorme Medienentwicklung gegeben hat, die sich auch auf die Gesellschaft auswirkt. Was aber bedeutet das fiir den Einzelnen? Face-to-face-Kommunikation ist eine evolutionar niedrigere Stufe der Kommunikation als mediale Kommunikation. Dies bleibt bei Merten eine Behauptung, fur die er keine Begriindung angibt. Was ist letztlich der MaBstab fur eine Entwicklung: schneller, hoher, wei113
ter? Das gilt aber heute auch fiir die Waffenproduktion. Face-to-face-Kommunikation ist demnach aus Mertens Sicht eine niedrigere Entwicklungsstufe. Nachdem er entschieden hat, dass Kommunikation einer rasanten evolutionar bedingten Entwicklung unterliegt, wird von dieser Pramisse her alles andere abgeleitet und verstanden. Grund dafur ist ein univoker Kommunikationsbegriff. Auf alien Evolutionsstufen geht es immer um die eine und gleiche Kommunikation. Was sind die Pramissen von Merten? Kommunikation als Relation ist lediglich die Verbindung zwischen den Elementen. Merten verlasst nie die Individuumszentriertheit, bleibt also in der Linie der friiheren Kommunikationsansatze. Der „Megatrend zur Mediengesellschaft" als evolutionarer Antrieb ist nicht beweisbar. Wie gegeniiber Luhmann stellt sich auch hier die Frage nach dem Subjekt der Technik. Was soil eigentlich verwirklicht werden? Was ist der Sinn dieser Evolution? In jedem Fall wird Face-to-face-Kommunikation am heutigen Stand medialer Kommunikation gemessen. Das zeigt sich dann auch, wenn Merten naher auf die informelle Kommunikation eingeht. Merten unterteilt die informelle dyadische Kommunikation in small talk, Klatsch, Gesprach, spater auch Geriicht und Rede. Merten konzediert, dass auch andere Typisierungen moglich waren. Er typisiert nach der Zahl der Kommunikanten, nach der Modalitat des Inhalts bzw. nach der Intention. Beispielsweise lasst sich fragen, wie iiberhaupt eine „non-intentionale" Kommunikation moglich sein kann (vgl. Merten 1999, 119). Die Beliebigkeit dieser Typisierung, die er selber konzediert, ist wissenschaftlich fragwUrdig. Nach der Bedeutung dieser Kommunikationsformen fur den einzelnen Kommunizierenden fragt Merten nie. Welchen Erklarungswert, auBer einem Gefuhl von Uberschaubarkeit zu vermitteln, hat das Ganze dann? Es wird nicht erkennbar, was dieses Erklarungssystem fiir zwei Menschen mit Kommunikationsproblemen leisten kann. Uberhaupt scheinen „Kommunikationsprobleme" bei Merten nicht naher auf. Merten hat bisherigen Kommunikationstheorien unterstellt, dass sie die wesentlichen Schwierigkeiten umgehen, vor allem die Prozesshaftigkeit ignorieren. Prozesshaftigkeit ist zwar richtig, sie hat aber immer auch bestimmte Qualitaten, die Merten nicht im entfemtesten anspricht. Z.B. ist Mobbing ein Kommunikationsprozess, dessen destruktive Qualitat far die Beteiligten von enormer Bedeutung ist. Wenn Merten von der „Wirkung" der Kommunikation spricht, zieht er sich wieder auf die so negativ kritisierten friihen Kommunikationstheorien zurlick, d.h. auf einzelne Momente des Kommunikationsprozesses, auf Kommunikator, Aussage. Medium, Rezipient und Wirkung. Die Wirkungsforschung ist fiir Merten der wesentliche Motor der Kommunikationsforschung (vgl. Merten 1999, 331). Hier geht es ihm aber nur um die Wirkung medial bestimmter Kommunikation. Durch die Beherrschung der Medien kann man die Welt beherrschen, das entspricht aber nicht unserer Erfahrung. Kommunikation ist letztendlich ein Medium, durch das andere beeinflusst werden. Merten scheinen die Konsequenzen einer solchen Position zu entgehen.
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Gerade im Hinblick auf den Anspruch, Kommunikation begreifen und erklaren zu wollen, verfiigt die Systemtheorie flir Merten iiber erhebliche Vorziige, da sie Kommunikation als dynamischen Prozess versteht (vgl. Merten 1999, 101). In der Darstellung und Erklarung der einfachen Face-to-face-Kommunikation, der informellen Kommunikation, will Merten nun den systemtheoretischen Ansatz darstellen (vgl. ebd. 103). Wenn zwei psychische Systeme (= Menschen, Lebewesen) einander wechselseitig in das Feld der Wahmehmung geraten, katalysiert sich zwischen diesen psychischen Systemen unausweichlich das kleinste bzw. einfachste Sozialsystem, namlich Kommunikation. Alle Kommunikationssysteme setzen doppelte Kontingenz der beteiligten Wahmehmungen der Kommunikation voraus: Jeder kann so oder auch anders wahmehmen, Wahmehmung arbeitet selektiv. Ubemimmt ein Kommunikant zusatzlich die Wahmehmung des Anderen, d.h. die Wahmehmung, dass er selbst wahrgenommen wird, so steigert sich die Moglichkeit seines Wahmehmens erheblich. Tritt diese Wahmehmung der Wahmehmung jedoch auch beim anderen Kommunikanten ein, so liegt nicht nur doppelte Kontingenz vor, sondem es katalysiert sich ein System heraus, das sofort seine eigene Stmktur selektiv erzeugt: Kommunikation beginnt (vgl. ebd. 105). Merten hat die Bedeutung von Kommunikation damit von vomherein festgelegt. Andere Bedeutungshorizonte tauchen darin gar nicht auf. Hier lieBe sich die Kritik von Meister an Watzlawick et al. wiederholen (s. Abschnitt 4.4.2). Wenn nur noch die „funktionalen Relationen zwischen einem System von Ereignissen und dem Feld, in dem sie auftreten (= das groBere, das ,given system')", von Bedeutung sind, dann fiihrt das „zur Aufgabe der kritischen Dimension wissenschaftlichen Fragens. Das umfassende System, und das ist in den Sozialwissenschaften stets die Gesellschaft, wird als vorgegeben akzeptiert; ihre potentielle Irrationalitat und die der in ihr handelnden Individuen fallt aus dem Universum moglicher Fragen heraus, allenfalls die Suche nach ,Dysfunktionalitaten' erscheint noch moglich" (Meister 1984, 11).
4.5 Computervermittelte Kommunikation und Face-to-faceKommunikation im Vergleich Merten behauptet, wie dargelegt, dass die Face-to-face-Kommunikation eine evolutionar niedrigere Stufe der Kommunikation als mediale Kommunikation sei, bleibt aber die Begriindung far diese Behauptung schuldig, sofem damit nicht einfach die unterschiedliche Informationsmenge dieses „evolutionar bedingte Mehr" ausmachen soil. Diese Arbeit geht davon aus, dass Face-to-face-Kommunikation die Urform der zwischenmenschlichen Kommunikation ist und ihr nach wie vor der Primat fur die menschliche Ontogenese zukommt. Das Aufkommen des Intemets hat in der Folge zu einer Reihe von sozialpsychologischen Studien geflihrt, die sich mit den psychosozialen Folgen seiner Nutzung, also der computervermittelten Kommunikation, auseinandersetzen. Ein Hauptthema sind deren Abweichungen von der Face-to-faceKommunikation. Im Folgenden geht es damm zu zeigen, dass dieses „evolutionare Mehr", 115
von dem Merten redet, in Bezug auf die zwischenmenschliche Kommunikation nicht zutrifft. Vielmehr zeigt sich, dass die computervermittelte Kommunikation selbst in vielfacher Weise auf die Face-to-face-Kommunikation als die unvergleichlich differenziertere Form zwischenmenschlicher Kommunikation verweist, so dass die computervermittelte Kommunikation mitnichten als eine entwickeltere Form der FtfK betrachtet werden kann.^"^ Der primare Unterschied zwischen beiden Formen zwischenmenschlicher Kommunikation betrifft die physische An- bzw. Abwesenheit der Kommunikanten, d.h. ihre leibliche Dimension. Der Sachverhalt ist unbestritten, diskutiert wird jedoch die Moglichkeit seiner stufenweisen Kompensation durch Emoticons, Akronyme, Soundworter, Aktionsworter u.a. Insgesamt besteht die Tendenz, die Bedeutung dieser Differenz herunterzuspielen. Bin Beispiel fur die Bedeutung des Leibes in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist das Telefonat. Hier reduziert sich die leibliche Wahmehmung des Anderen auf das Horen seiner Stimme. Und obwohl wir natiirlich in der Regel wissen, dass uns der Andere nicht sehen kann, zeigen wir mimische und gestische Reaktionen, bewegen uns u.U. mit dem ganzen Leib, was ja fiir den Zweck des Telefonats sinnlos erscheint. In Romanen bekommen wir Skizzen der handelnden Personen, von ihrer auBeren Erscheinung wie auch von ihrem Charakter, die unsere Phantasie in ganz bestimmte Richtungen lenkt. Fehlende Informationen werden einfach hinzuphantasiert, derm wir konnen uns keine Person ohne ihre Verleiblichung vorstellen^^ Analog verhalt es sich in der computervermittelten Kommunikation. Dem Anderen wird die eigene physische Erscheinung beschrieben, damit er sich eine entsprechende Vorstellung machen kann. Die physischen Merkmale „im nichtphysischen Raum computervermittelter Kommunikationsmedien" (Kohler 1999a, 161) sind besonders bedeutsam. Der Andere soil und will sich ein Bild von mir machen, und was der Beschreibung fehlt, wird in der Phantasie erganzt. Da auch hier das „individuum est ineffabile" gilt, lassen sich phantasierte Erganzungen der Beschreibung des Anderen nicht vermeiden bzw. werden u.U. auch bewusst insinuiert. Friiher oder spater stellt sich im Kontext von Online-Beratungen oder im Netz begonnenen Freundschaften die Frage nach personlichen Kontakten, sei es zumindest iiber die Stimme am Telefon oder aber face-to-face (vgl. Mikosz 2002; Doring 1999). Walther (1992) behauptet in seiner Social Information Processing Theory (SIP), dass die computervermittelte Kommunikation als eine hyperpersonale Form von Kommunikation die Face-to-face-Kommunikation bei weitem noch ubertreffe. Aufgrund der reduzierten Informationsmenge wurden die vorhandenen Informationen viel besser ausgewertet und dadurch zu einer groBeren Nahe fuhren. Die Kommunikationspartner werden sozusagen hellhorig far jede noch so kleine Information. Walther bestatigt damit, dass wir in der Kommunikation dauemd auf der Suche nach Informationen iiber den Anderen sind. Aufgrund unserer kreuzmodal •"* Vgl. dazu die ausfuhrliche Diskussion dieser Thematik in Rothe (2004). '^ Romanverfilmungen sind genau aus diesem Grunde immer heikel, da sie in Konkurrenz zur Phantasie des Lesers treten.
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strukturierten Wahmehmungsfahigkeit (s. Abschnitt 5.5.1) versuchen wir, von kleinsten Informationen uber den Anderen auch noch auf weitere Informationen zu schlieBen. In der Face-to-face-Kommunikation geschieht dies automatisch, so dass wir auf dieses Tun erst aufmerksam werden, wenn wir darin, wie in der computervermittelten Kommunikation, behindert werden. Wenn die Leibdimension ausfallt und damit auch alles, was wir iiber diese Dimension kommunizieren, dann fiihrt die Dringlichkeit, mit der wir diese Informationen brauchen, dazu, dass wir wachsam fiir die kleinsten Hinweise werden. Eine in dieser Hinsicht blockierte Kommunikation fuhrt uns gerade das vor Augen. Es gibt noch eine weitere Komponente der computervermittelten Kommunikation, die auf die Bedeutsamkeit der Leibdimension far die zwischenmenschliche Kommunikation verweist. Es sind dies jene Versuche, in denen Emotionen und Empfmdungen, die sich sonst leiblich mitteilen, durch Codierungen vermittelt werden sollen. Dazu gehoren die Emoticons, die sog. smileys, Soundworter (z.B. juhuuu), Aktionsworter (z.B. lachel, grins, wiirg, kicher) oder Akronyme wie etwa ROTFL: rolling on the floor laughing (vgl. Doring 1999, 100). Emoticons geben stilisiert einen Gesichtsausdruck wieder, wobei es sich genauer um das Klischee eines Gesichts handelt. Es ist der emotionale Ausdruck eines entindividualisierten Gesichts. Soundworter imitieren gewissermaBen das „Gerausch", das ein emotionaler Ausdruck macht, z.B. wenn jemand weint oder sich sehr freut. Durch Vermehrung einzelner Zeichen kann zudem noch die Intensitat eines Gefuhls signalisiert werden. Aktionsworter sind Kurzbezeichnungen fiir eine Handlung. Soundworter wie Aktionsworter sind dabei aber keine neu im Rahmen der computervermittelte Kommunikation entstandene Codierungsform, sondem sind seit Jahrzehnten gelaufige Ausdrucksformen in Comics. Akronyme wiederum driicken vielfach eine Korperbewegung aus. Gemeinsam ist diesen Ausdrucksformen, dass sie versuchen, das nicht sinnlich Wahmehmbare durch andere Mittel dem Kommunikationspartner zu versinnlichen. Es wurde oben schon in Zusammenhang mit dem FACS beschrieben, dass sich die Faceto-face-Kommunikation in einer ungeheuren Geschwindigkeit abspielt. Hier erfolgt eine Fiille von AuBerungen in kurzester Zeit, unbewusst in dem Sinne, dass wir sie zwar wahmehmen und darauf reagieren, uns dieses Vorgangs aber zumeist nicht reflex bewusst sind. Die computervermittelte Kommunikation hingegen erreicht dieses Tempo nicht einmal annahemd, zudem ist bei ihr die multimodal Wahmehmung hoch eingeschrankt und wird, wenn iiberhaupt, nur in statischer Weise plakativ kompensiert. In ihr muss es zumindest einen kurzen Moment der Reflexion geben, um sich der eigenen Stimmung/Emotion bewusst werden und sie dann codieren zu konnen. Die Codierungsgeschwindigkeit hangt sicher von der Ubung ab, sie ist aber in jedem Fall keine spontane Reaktion, sondem Folge einer zumindest kurzen Bewusstwerdung der eigenen Emotionen, die dann in einem Code klischeehaft zusammengefasst werden. Differenzierungen mussen dabei notgedrungen entfallen. Damit iibermittle ich dem Anderen in Form einer kontrollierten Ruckmeldung, was ich glaube zu empfmden, was durchaus auch eine Selbsttauschung sein kann. Auch sog. Video-Konferenzen bzw. Kommunikation 117
uber Webcams sind kein vollwertiger Ersatz fiir Face-to-face-Kommunikation. Wir sehen und horen den Korper und die Stimme, aber eben durch ein Medium, dem Monitor und den Lautsprecher. Vor allem fehlt der unmittelbare Blickkontakt. Die hier skizzierte Weise, wie die computervermittelte Kommunikation versucht, die fehlende Leibdimension zu kompensieren, ist von daher geradezu ein Beleg fiir ihre Unentbehrlichkeit in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Die Analyse des Unterschiedes zwischen diesen beiden Kommunikationsformen ergibt sowohl seine Nichtkompensierbarkeit als auch den Primat der Face-to-face-Kommunikation7^ Am Ende dieser Sichtung von im weitesten Sinne systemisch orientierten Kommunikationstheorien gilt es nochmals in einem weiteren Anlauf eine ganz andere Weise kommunikationstheoretischen Denkens in den Blick zu bekommen, die nur wenige Verbindungen zu den bisher diskutierten Ansatzen aufweist. In Auseinandersetzung mit den Begriindem der Soziologie, Emile Durkheim, Max Weber und George Herbert Mead, aber auch anderen Ansatzen wie z.B. der Sprechakttheorie von J. L. Austin und J. R. Searle, entwickelte Jiirgen Habermas seine umfassend angelegte „Theorie kommunikativen Handelns", die im Folgenden, beschrankt auf einige wesentliche Aspekte, naher in den Blick kommen soil.
4.6 Jiirgen Habermas: Theorie kommunikativen Handelns Am Anfang seines monumentales Werkes erklart Habermas, dass seine „Theorie des kommunikativen Handelns" keine Metatheorie sei, „sondem Anfang einer Gesellschaftstheorie, die sich bemuht, ihre kritischen MaBstabe auszuweisen" (Habermas 1981a, 7). Wie kommt eine soziale Ordnung zustande? Wie werden Handlungen stabil und regelhaft vemetzt? „Interaktion ist die Losung des Problems, wie die Handlungsplane mehrerer Aktoren so miteinander koordiniert werden konnen, dass die Handlungen von Alter an die von Ego Anschluss fmden" (Habermas 1992, 69). So ersetzt Habermas das Subjekt-Objekt-Verhaltnis durch intersubjektive Kommunikation und versucht verstandlich zu machen, „dass das Paradigma der Erkenntnis von Gegenstanden durch das Paradigma der Verstandigung zwischen sprach- und handlungsfahigen Subjekten abgelost werden muss" (Habermas 1985, zit. n. Zima 2000, 35). Habermas versucht nun in seiner „Universalpragmatik" die humanspezifischen Grundbedingungen der zwischenmenschlichen Verstandigung, d.h. die allgemeinen Kommunikationsvoraussetzungen aus der Sicht der Teilnehmer am Verstandigungsprozess, zu rekonstruieren.^^
'^ Die derzeitige sozialpsychologische Diskussion dieses Vergleichs spiegelt selbst die oben (s. Abschnitt 2.2) schon diskutierten Mangel sozialpsychologischer Theorienbildung wider, insbesondere ihren naiven Empirismus. '''' In der Pragmatik geht es um die Beziehungen zwischen Sprecher, Horer und sprachlichen Zeichen sowie um die Frage der Entstehung von Bezeichnungen, d.h. wie sprachliche Zeichen fiir nichtsprachliche Realitaten verwendet werden.
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4.6.1 Ruckgriff auf G. H. Mead: taking the attitude of the other Am Beginn des zweiten Bandes seiner „Theorie des kommunikativen Handelns" (1981b) beschreibt Habermas in einem komprimierten historischen Uberblick den Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim, beide wie auch Max Weber Griindungsvater der modemen Soziologie, als einen Schritt von der Zwecktatigkeit zum kommunikativen Handeln. „Mead analysiert Bewusstseinsphanomene unter dem Gesichtspunkt, wie diese sich in den Strukturen sprachlich oder symbolisch vermittelter Interaktion herausbilden" (Habermas 1981b, 12). Habermas' Ruckgriff auf die Konzeption Meads sei im Folgenden hinsichtlich einiger zentraler Aspekte skizziert. Zunachst richtet Mead sein Augenmerk auf die „Gebardensprache" „als evolutionare Ausgangslage fur eine Sprachentwicklung, die zunachst zur signalsprachlichen Stufe symbolisch vermittelter Interaktion und dann zm propositional ausdifferenzierten Rede flihrt. „Symbolische Bedeutungen entstehen aus einer Subjektivierung Oder Verinnerlichung objektiver Strukturen. Da diese vomehmlich am Sozialverhalten von Tieren abgelesen werden, versucht Mead die Entstehung der Sprache damit zu erklaren, dass das in gestenvermittelten Interaktionen angelegte semantische Potential durch eine Internalisierung der Gebdrdesprache fiXr die Interaktionsteilnehmer symbolisch verfUgbar wird' (ebd. 15). Wie wird nun in der Interaktion zweier Organismen die Geste des Einen vom Anderen interpretiert bzw. ihm zugeschrieben? Welche Transformationen fuhren von der gestenvermittelten zur symbolisch vermittelten Interaktion? Gesten verwandeln sich zum einen dadurch in Symbole, dass deren individuelle Bedeutung sich in eine allgemeingiiltige verwandelt. Zum anderen tritt an die Stelle einer kausalen Beziehung zwischen Reiz und Reaktion eine interpersonale zw^ischen einem Sprecher und einem Horer, die kommunikativ miteinander umgehen wollen, und zw^ischen Verstandigungshandeln und strategischem Handeln zu unterscheiden lernen. „Mit diesen drei Aufgaben wird das Problem des Ubergangs von der Stufe der gestenvermittelten zur Stufe der symbolisch vermittelten Interaktion gelost" (ebd. 21). Dieser Ubergang geschieht durch Einstellungsubemahme, durch „taking the attitude of the other", was ahnlich bei Piaget als „Interiorisierung" oder bei Freud als „Intemalisierung" beschrieben wurde (vgl. ebd.). Mead meint, dass die Entwicklung identischer Bedeutungen fur zwei Interaktionsteilnehmer dadurch zu erklaren ist, dass einer die Reaktion des Gegeniiber auf seine eigenen Gesten intemalisiert und zwar dadurch, dass er dabei die Einstellung des Anderen ubemimmt, mit der dieser auf seine Gesten reagiert hat. Habermas sieht die Schwierigkeiten, die mit dieser Konstruktion verbunden sind, und schreibt spater: „Nun versteht Mead den Mechanismus des ,taking the attitude of the other' an manchen Stellen als ,calling out the response in himself he calls out in another'. [...] Das Einnehmen der Einstellung des anderen ist ein Mechanismus, der an der Verhaltensreaktion eines anderen auf die eigene Geste ansetzt, dann aber auf weitere Bestandteile der Interaktion ausgedehnt wird" (ebd. 26). Habermas bemiiht sich sehr, bei Mead eine Erklarung dafiir zu fmden, wie die Mitteilung von A zu B kommt und von diesem
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in gleicher Weise verstanden wird, wie A sie eigentlich geauBert hat. „Dennoch verschafft sich Mead keine hinreichende Klarheit tiber den wichtigen Schritt der Intemalisierung der Stellungnahme eines anderen zur fehlerhaften Verwendung von Symbolen" (ebd. 30). Es handelt sich hier um ahnUche Versuche, wie sie oben schon in Zusammenhang mit der Ausdruckspsychologie beschrieben wurden. Es bleibt auch bei Mead die Schwierigkeit zu erklaren, wie zwei absolut gedachte Individuen miteinander kommunizieren konnen. 4.6.2 Vernunft und Lebenswelt Rationalitat gehort fiir Habermas zur Grundausstattung sprach- und handlungsfahiger Subjekte. „Sie auBert sich in Verhaltensweisen, fur die jeweils gute Griinde bestehen. Das bedeutet, dass rationale AuBerungen einer objektiven Beurteilung zuganglich sind" (Habermas 1981a, 44). Den Begriff der „Lebenswelt" fiihrt Habermas dann als Komplementarbegriff zum kommunikativen Handeln ein (vgl. Habermas 1981b, 182), den Gedanken, dass wir alle immer schon in der Welt sind, in Beziehung zueinander stehen, der Mensch nur in seiner jeweiligen Lebenswelt denkbar ist. Habermas geht es allerdings nicht um die reale je eigene Lebenswelt, sondem er versteht sie formal-pragmatisch gemaB der idealen Sprechsituation als eine ganz homogene, alien Kommunikanten gemeinsame. Sie ist „ein Reservoir von Uberzeugungen, aus dem die Kommunikationsteilnehmer schopfen, um den in einer Situation entstandenen Verstandigungsbedarf mit konsensfahigen Interpretationen zu decken. Als Ressource ist die Lebenswelt fiir Prozesse der Verstandigung konstitutiv. [...] Wir konnen uns die Lebenswelt, soweit sie als Interpretationsressource in Betracht kommt, als sprachlich organisierten Vorrat von Hintergrundannahmen vorstellen, der sich in der Form kultureller Uberlieferung reproduziert" (Habermas 1995, 591). 4.6.3
Verstandigung
Mittels Kommunikation verstandigen sich mindestens zwei Sprecher bzw. Horer tiber etwas. Dieser enge Zusammenhang zwischen Kommunikation und Verstandigung ist der Sprache schon strukturell eigen, so dass Habermas auch sagen kann: „Verstandigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne" (Habermas 1981a, 387). „Verstandigung" und „Sprache" erlautem sich wechselseitig (vgl. Habermas 1995, 497). Sprache als solche ist immer auf Verstandigung ausgerichtet. Allerdings ist auch Habermas klar, dass die typische Kommunikation gerade so nicht aussieht, dass dort eher Unverstandnis, Unwahrhaftigkeit, Nichtiibereinstimmung herrscht. Daher differenziert er das eben Gesagte noch genauer. Sprachgebrauch, der auf Verstandigung ausgerichtet ist, ist der Originalmodus von Sprachverwendung (vgl. Burkart & Lang 2004, 45), ist der Inbegriff menschlicher Kommunikation. Alles andere ist strategische Kommunikation, also defizitar. Habermas ist nun der Auffassung, dass hinreichend sozialisierte Kommunikationsteilnehmer ein intuitives Wissen dariiber haben, was Verstandigung tatsachlich bedeutet. Dieses implizit vorhandene Wissen versucht er explizit darzustellen. „Ziel der Verstandigung ist die Herbeifuhrung eines Einverstandnisses, welches in der intersubjektiven Gemeinsamkeit des 120
wechselseitigen Verstehens, des geteilten Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Ubereinstimmens terminiert" (Habermas 1995, 355). Verstandigung meint also den Prozess der Herbeifuhrung eines Einverstandnisses, in dem sich kommunikative Rationalitat realisiert. „Dieser Begriff kommunikativer Rationalitat fiihrt Konnotationen mit sich, die letztlich zuriickgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunachst nur subjektiven Auffassungen iiberwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vemiinftig motivierter Uberzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven Welt und der Intersubjektivitat ihres Lebenszusammenhangs vergewissem" (Habermas 1981a, 28). Wenn in Kommunikation das Telos gegenseitiger Verstandigung eingebaut ist, heiBt das, dass „sprachliche Kommunikation gleichsam von Haus aus auf Konsensbildung, nicht auf Beeinflussung angelegt ist" (Habermas 1995, 503). Allerdings sagt Habermas selbst, dass diese Form von Verstandigung real wenig stattfmdet. Sie ist daher ein normativer Begriff (vgl. Habermas 1995, 114). 4.6.4
Strategische und verstandigungsorientierte Kommunikation
Habermas unterscheidet die Kommunikation in verstandigungsorientierte und nichtverstandigungsorientierte oder strategische Kommunikation. Erstere ist gekennzeichnet durch gemeinsame Uberzeugungen, auf deren Basis ein rational bestimmtes Einverstandnis erreicht werden soil. Solange die Absicht der Verstandigung besteht, sind wir im Prozess der Verstandigung, auch wenn ein Einverstandnis noch nicht erreicht wurde. Verstandigung karm die Erreichung eines Einverstandnisses nicht kausal bewirken. Strategische Kommunikation kann offen oder verdeckt sein und ist im Wesentlichen eine „erfolgskalkulierte Einflussnahme auf die Einstellungen des Gegentibers" (Habermas 1995, 574). Hier gelangt die Sprache nicht an das in ihr angelegte Ziel. In der offen strategischen Kommunikation erfolgt die Ubereinstimmung durch auBere Einflussnahme, durch das Sanktionspotential, also Gratifikation oder Drohung. Die Ubereinstimmung wird entweder erkauft oder erzwungen. Die verdeckt strategische Kommunikation zeigt sich ebenfalls in zweifacher Weise, als bewusste Tauschung, d.h. Manipulation, und als unbewusste Tauschung. Hierbei handelt es sich um systematisch verzerrte Kommunikation. Resultat der ersteren ist eine erschlichene Ubereinstimmung, der letzteren eine tauschende Ubereinstimmung. Bei der bewussten Tauschung wird der Eine fiir die Zwecke des Anderen eingespannt, es wird Verstandigung nur vorgetauscht. Der Andere wird zu einem bestimmten Verhalten veranlasst, fur die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Abwehrstrategien als Formen unbewusster Konfliktbewaltigung im Siime der Psychoanalyse fiihren zu intrapsychischen wie auch interpersonellen Kommunikationsstorungen. „In solchen Fallen tauscht mindestens einer der Beteiligten sich selbst daruber, dass er in erfolgsorientierter Einstellung handelt und bloB den Schein kommunikativen Handelns aufrechterhalt" (Habermas 1981a, 446). Systematische Selbsttauschung ist Ausdruck von Irrationalitat. 121
„Wer aber imstande ist, sich iiber seine Irrationalitat aufklaren zu lassen, der verfiigt nicht nur iiber die Rationalitat eines urteilsfahigen und zweckrational handelnden, eines moralisch einsichtigen und praktisch zuverlassigen, eines sensibel wertenden und aufgeschlossenen Subjekts, sondem uber die Kraft, sich seiner Subjektivitat gegeniiber reflexiv zu verhalten und die irrationalen Beschrankungen zu durchschauen, denen seine kognitiven, seine moralisch- und asthetisch-praktischen AuBerungen systematisch unterliegen" (ebd, 43). Das psychoanalytische Gesprach ist fiir Habermas ein solcher Prozess der Selbstreflexion, der aus derartiger Irrationalitat herausftihren kann. Eine Person verhalt sich rational, wenn sie auf Verstandigung eingestellt ist und bei Kommunikationsstorungen auf die Sprachregeln rekurriert (vgl. ebd.). Jede Handlung ist zweck- oder zielgerichtet, entweder auf Erfolg oder auf Verstandigung. Verstandigung ist erforderlich, um Handlungen zu koordinieren oder Interessen ausgleichen zu konnen. Einzelhandlungen werden hier von Habermas in einen Interaktionszusammenhang gebracht. Anhand des intuitiven Wissens der Beteiligten soil es nun moglich sein, verstandigungs- oder strategieorientierte Einstellungen jeweils erkennen zu konnen. Habermas spricht von einem „vortheoretische(n) Wissen kompetenter Sprecher, die selber intuitiv unterscheiden kormen, warm sie auf andere einwirken und wann sie sich mit ihnen verstandigen; und die zudem wissen, wann Verstandigungsversuche fehlschlagen" (ebd. 386). Solche Sprecher verfugen nach Habermas iiber eine „kommunikative Kompetenz" (vgl. Habermas 1995, 387). Die „Universalpragmatik" ist die Theorie dieser kommunikativen Kompetenz. Sie geht davon aus, dass diese Kompetenz Ausdruck einer Beherrschung des Regelsystems unserer Sprache ist. „Die Universalpragmatik hat die Aufgabe, universale Bedingungen moglicher Verstandigung zu identifizieren und nachzukonstruieren" (Habermas 1995, 353), also die allgemeinen Kommunikationsvoraussetzungenherauszuarbeiten. Kommunikative Handlungen sind also Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre indirekten Handlungsplane auf der Grundlage eines kommunikativ erzielten Einverstandnisses koordinieren. „Unter dem funktionalen Aspekt der Verstandigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidaritat; unter dem Aspekt der Sozialisation schlieBlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitaten" (Habermas 1981b, 208). 4.6.5
Sprechakte
Habermas konkretisiert den Verstandigungsprozess anhand der Sprechakttheorie von J. L. Austin und J. R. Searle. Ein Sprechakt ist eine Grundeinheit einer Rede, die einem anderen Subjekt verstandlich und akzeptabel ist. Sie weist eine Doppelstruktur auf, d.h. zwei Ebenen, „auf denen sich Sprecher und Horer gleichzeitig verstandigen mussen, wenn sie ihre Intentionen einander mitteilen wollen" (Habermas 1995, 406), zum einen den illokutiven Akt, durch
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den die Beziehung hergestellt wird, und zum anderen den Gegenstand, iiber den man sich verstandigt^^ Der Sprechakt ist dann gelungen, wenn zum einen die angezielte Beziehung zwischen Sprecher und Horer zustande gekommen ist, und zum anderen, wenn der Horer den vom Sprecher geauBerten Inhalt genau in dem von jenem gemeinten Sinn versteht und auch akzeptiert. Verstandlichkeit und Akzeptanz hangen davon ab, dass die fur eine Sprechhandlung erforderlichen typischen Kontextbedingungen gegeben sind, und dass der Sprecher mit seinem Sprechakt bereit ist, eine bestimmte Bindung einzugehen. „Diese Bindung bedeutet die Garantie, dass er in Konsequenz seiner AuBerung bestimmte Bedingungen erfullen wird: z.B. eine Frage als eriedigt zu betrachten, wenn eine befriedigende Antwort gegeben wird; eine Behauptung fallen zu lassen, wenn sich deren Unwahrheit herausstellt. [...] Die illokutive Kraft des Sprechaktes besteht mithin darin, dass sie einen Horer dazu zu bewegen vermag, seinem eigenen Handeln die Unterstellung zugrunde zu legen, das Angebot des Sprechers sei serios" (Habermas 1995, 201). Sie erzeugt zwischen den Beteiligten eine interpersonale Beziehung. „Soweit der Sprechakt Handlung ist, aktualisiert er ein bereits etabliertes Beziehungsmuster. Die Geltung eines normativen Hintergrundes von Institutionen, Rollen, soziokulturell eingewohnten Lebensformen usw. wird immer schon vorausgesetzt" (ebd. 203). Festzuhalten ist, dass fur Habermas der gelungene Sprechakt zugleich die Herstellung einer interpersonellen Beziehung ist (vgl. ebd. 201). Die Beziehung zwischen Sprecher und Horer wird also durch den Sprechakt erst hergestellt, sie besteht nicht schon vorher. Einen solchen Sprechakt, genauer ein solches Sprechaktangebot, kann der Horer nun akzeptieren oder ablehnen, und zwar im Hinblick auf das illokutive Moment. Jenes erhebt Anspriiche gegentiber dem Horer, die dieser annehmen oder zuriickweisen kann. Bis es dazu kommt, muss der Sprecher zuvor aber noch vier Anspriiche erfullen, die „sich nicht auf ein Gemeinsames zuruckfiihren lassen" (ebd. Ill): Verstandlichkeit (Beherrschung der Sprachregeln), Richtigkeit (im Hinblick auf den normativen Kontext), Wahrheit (zutreffende Existenzaussage) und Wahrhaftigkeit (Meinungen, Absichten, Gefiihle wahrhaft auBem). Der Horer kann im Hinblick auf die letzten drei Anspriiche Nein sagen (vgl. Habermas 1995, 11 Iff). „Wer ein verstandliches Sprechaktangebot zuriickweist, bestreitet mindestens einen dieser Geltungsansprtiche" (Habermas 1981a, 413). Was macht nun der Sprecher, wenn der Horer zumindest einen seiner Geltungsansprtiche vemeint? In einer verstandigungsorientierten Kommunikation wird der Horer durch vemunftige Grunde zur Annahme des Geltungsanspruches motiviert. D.h. der Sprecher droht nicht oder lockt auch nicht mit Gratifikationen, sondem er verfugt potenziell uber Grunde. M.a.W. eine kommunikative Verstandigung stutzt sich immer auf rationale Grunde, auch wenn diese nicht explizit ausgesprochen werden (vgl. Habermas 1995, 549). In den meisten alltaglichen Das erinnert an die Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekt bei Watzlawick at al.(1990) (s. Abschnitt 4.4.2). 123
small talks ist das der Fall, well man sich auf lebensweltliche Gemeinsamkeiten bezieht. In der strategischen Kommunikation hingegen geht es nicht um Grunde, sondem ausschlieBlich um eine erfolgreiche Einflussnahme, mit welchen Mitteln auch immer. Wenn also die Vemeinung von Geltungsanspriichen passiert, dann wird der Sprecher versuchen, den Horer mittels vemiinftiger Argumente zur Akzeptanz zu bewegen, denn kommunikative Verstandigung basiert immer auf rationalen Griinden. Fur die Begriindung vemeinter Geltungsanspriiche, also gestorter Kommunikation, gibt es nach Habermas zwei Ebenen: einfache Reparaturleistungen und den Diskurs. Einfache Reparaturleistungen sind Deutungen, d.h. Antworten auf Verstandlichkeitsfragen (Wie meinst Du das?), Behauptungen und Erklarungen, wenn die Wahrheit problematisch ist (ist es wirklich so?), Rechtfertigungen, wenn die Richtigkeit fragwiirdig ist (warum hast Du das getan?) (vgl. ebd. 11 Of). Reichen diese einfachen Reparaturleistungen nicht aus und bleibt die Kommunikation trotzdem verstandigungsorientiert, wird also nicht strategisch, dann muss die Begriindung explizit erfolgen, im Diskurs. 4.6.6 Der Diskurs Die Rationalitat der Diskursteilnehmer zeigt sich darin, dass sich ihr erzieltes Einverstandnis letztlich auf Grunde sttitzen muss. Wenn ein Dissens nicht mehr durch Reparaturleistungen zu bewaltigen ist und seine „L6sung" nicht durch direkte oder strategische Gewaltanwendung herbeigefiihrt werden soil, dann verweist die der Kommunikation innewohnende Rationalitat auf die Argumentation als Mittel der Wahl (vgl. Habermas 1981a, 37f). Deshalb ist fiir Habermas eine Theorie der Argumentation notwendig, um den Begriff der kommunikativen Rationalitat weiter zu prazisieren. ^Argumentation nennen wir den Typus von Rede, in dem die Teilnehmer strittige Geltungsanspriiche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulosen oder zu kritisieren" (ebd. 38). Ein solcher theoretischer Diskurs ist eine „Form der Argumentation, in der kontroverse Wahrheitsanspriiche zum Thema gemacht werden" (ebd. 39), eine Kommunikation, „welche die Voraussetzungen der Argumentation erfullt" (ebd. 44). Uber problematisch gewordene Geltungsanspriiche soil mittels ausdriicklicher Argumentation ein Konsens erzielt werden. Im Diskurs wird thematisiert, was sonst nur implizit mit ausgesagt wird. Habermas unterscheidet einen theoretischen Diskurs, in dem kontroverse Wahrheitsanspriiche thematisiert werden, und den praktischen Diskurs, in dem es um die Richtigkeit von Handlungsnormen geht. Die Geltungsanspruche der Wahrheit und der Richtigkeit lassen sich im Diskurs mit Argumenten einlosen, nicht jedoch der der Wahrhaftigkeit. Habermas bringt dazu eine expressive AuBerung als Beispiel: ,,'Ich bin, wie ich Dir gestehen muss, iiber den schlechten Zustand, in dem sich mein Kollege befmdet, seitdem er aus dem Krankenhaus zuriick ist, beunruhigt'" (ebd. 69). Er erhebt den Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Ob der Andere auch meint, was er sagt, kann er nur durch seine nachfolgenden Handlungen zeigen. „Die Wahrheit von Expressionen lasst sich nicht begriinden, sondem nur zeigen; Unwahrhaftigkeit 124
kann sich in der mangelnden Konsistenz zwischen einer AuBerung und den mit ihr intern verkniipften Handlungen verraten" (ebd.). Im theoretischen und praktischen Diskurs konnen wir versuchen, die Wahrheit und Richtigkeit unserer Sprechakte zu begriinden, nicht jedoch ihre Wahrhaftigkeit, d.h. wenn Zweifel vorhanden sind, dann kann die Wahrheit nicht argumentativ aufgezeigt werden, sondem nur durch nachfolgende Handlungen. Der Diskurs soil letztendlich zu einem wahren Konsens fuhren. 4.6.7
Die ideale Sprechsituation
Mit dieser Auffassung von „Diskurs" nimmt Habermas Bezug auf eine ideale Sprechsituation. „Ideal nenne ich eine Sprechsituation, in der Kommunikationen nicht nur durch auBere kontingente Einwirkungen, sondem auch nicht durch Zwange behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben. Die ideale Sprechsituation schlieBt systematische Verzerrungen der Kommunikation aus. Und zwar erzeugt die Kommunikationsstruktur nur dann keine Zwange, wenn fur alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wahlen und auszufuhren gegeben ist" (Habermas 1995, 177). M.a.W. alle miissen die gleichen Rechte und Chancen haben zu sprechen. Dariiber hinaus muss die Gewahr bestehen, dass die Diskursteilnehmer nicht nur glauben, dass sie einen solchen ftihren, aber tatsachlich doch einem Handlungszwang unterliegen. Daher sind, so Habermas, nur solche Sprecher zum Diskurs zugelassen, die gleichermaBen fahig sind, „ihre Einstellungen, Gefuhle und Wtinsche zum Ausdruck zu bringen. Denn nur das reziproke Zusammenstimmen der Spielraume individueller AuBerungen und das komplementare Einpendeln von Nahe und Distanz in Handlungszusammenhangen bieten die Garantie dafur, dass die Handelnden auch als Diskursteilnehmer sich selbst gegeniiber wahrhaftig sind und ihre innere Natur transparent machen" (Habermas 1995, 178). Und es gibt noch eine vierte Bedingung. Die Beteiligten miissen die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte, also zu befehlen, zu verbieten, sich zu widersetzen, zu erlauben etc., setzen zu konnen. Nur „die vollstandige Reziprozitat der Verhaltenserwartungen, die Privilegierungen im Sinne einseitig verpflichtender Handlungs- und Bewertungsnormen ausschlieBen, bieten die Gewahr dafiir, dass die formale Gleichverteilung der Chancen, eine Rede zu eroffnen und fortzusetzen, auch faktisch dazu genutzt werden kann, Realitatszwange zu suspendieren und in den erfahrungsfreien und handlungsentlasteten Kommunikationsbereich des Diskurses iiberzutreten" (ebd.). Es wurde schon gesagt, dass Habermas sich selbst dariiber im Klaren ist, dass sich eine solche ideale Sprechsituation kaum realisieren lasst. ,Jede empirische Rede ist sowohl durch die raumzeitlichen Begrenzungen des Kommunikationsvorgangs wie auch durch die Belastungsgrenzen der Diskursteilnehmer grundsatzlich Restriktionen unterworfen, die eine vollstandige Erfullung der idealen Bedingungen ausschlieBen" (ebd. 179). Aber wozu dann iiberhaupt die Rede von einer idealen Sprechsituation? Zumindest eine hinreichende Realisierung der Bedingungen einer idealen Sprechsituation will er nicht ausschlieBen. Bedeutsamer ist fiir ihn aber die Frage, wie ich denn iiberhaupt feststellen kann, dass diese Bedingungen erfiiUt sind.
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Woher weiB ich, ob gerade eine ideale Sprechsituation gegeben ist oder nicht? Im Nachhinein lasst sich durchaus feststellen, dass die betreffende Situation nicht oder nicht alle geforderten Bedingungen erfiillt hatte. Doch entscheidender ist, dass ein extemes Kriterium der Beurteilung fehlt, „so dass wir in gegebenen Situationen niemals sicher sein konnen, ob wir einen Diskurs fuhren oder ob wir nicht vielmehr unter Handlungszwangen agieren und Scheindiskurse vorfiihren" (ebd. 179f). Habermas ist der Auffassung, dass wir einen argumentativ erzielten Konsens von einem erzwungenen nur dadurch unterscheiden konnen, dass wir ihn an der idealen Sprechsituation messen. Auch miissen wir davon ausgehen, dass wir diese Unterscheidung treffen konnen, „weil wir sonst den vemiinftigen Charakter von Rede preisgeben wtirden" (ebd. 180). Trotzdem kann die Unterscheidung im konkreten Fall nicht eindeutig geschehen. Diese Widersprtichlichkeit versucht Habermas dadurch zu losen, dass er die ideale Sprechsituation weder als Konstrukt noch als empirisches Phanomen betrachtet, sondem als eine von den Diskursteilnehmem vorgenommene Unterstellung, die als solche im Kommunikationsvorgang wirksam ist. Wir antizipieren im Gesprach sozusagen die ideale Sprechsituation. „Dieser Vorgriff allein ist Gewahr daftir, dass wir mit einem faktisch erzielten Konsens den Anspruch eines vemiinftigen Konsenses verbinden diirfen; zugleich ist er ein kritischer MaBstab, an dem jeder faktisch erzielte Konsensus auch in Frage gestellt und daraufhin iiberpriift werden kann, ob er ein hinreichender Indikator fiir einen begrundeten Konsens ist" (ebd.). M.a.W. die ideale Sprechsituation ist als Norm, als kritischer MaBstab in jedem Gesprach wirksam. Argumentation als Prozess betrachtet Habermas als eine „idealen Bedingungen hinreichend angenaherte Form der Kommunikation. In dieser Hinsicht habe ich versucht, die allgemeinen kommunikativen Voraussetzungen der Argumentation als Bestimmung einer idealen Sprechsituation anzugeben" (Habermas 1981a, 47). Die Struktur argumentationsbestimmter Kommunikation schlieBt jeden Zwang aus mit Ausnahme des besseren Arguments, dass sich als solches als zwingend erweist. So gesehen „kann die Argumentation als eine reflexiv gewendete Fortsetzung verstandigungsorientierten Handelns mit anderen Mitteln begriffen werden" (Habermas 1981a, 48). 4.6.8 Die Bedeutung des psychoanalytischen Gesprachs Dem psychoanalytischen Gesprach weist Habermas in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, leistet es doch zugleich weniger und mehr als ein Diskurs. Weniger aufgrund der Asymmetric der Beteiligten, denn erst die gelungene Therapie erftillt die Bedingungen, die der Diskurs von Anfang an fordert. Weil hier aber nicht nur Geltungsfragen wie im Diskurs thematisiert werden und wo zudem alle Inhalte und Informationen von auBen kommen miissen, sondem Handeln und Erfahrung eine bedeutsame Rolle spielen, „resultiert die gelingende Selbstreflexion in einer Einsicht, die nicht nur der Bedingung der diskursiven Einlosung eines Wahrheits-(bzw. Richtigkeits-)anspruches, sondem zusatzlich der Bedingung der (normalerweise gar nicht diskursiv zu erreichenden) Einlosung eines Wahrhaftigkeitsanspruches ge126
nugt" (Habermas 1995, 183). Die Durcharbeitung und Bestatigung der Deutungen des Analytikers ermoglichen dem Patienten das Erkennen seiner Selbsttauschungen, d.h. die wahre Deutung begrundet zugleich wahre Aufierungen. „Wahrhaftigkeitsanspruche lassen sich, in der Kegel, nur in Handlungszusammenhangen iiberpriifen. Jene ausgezeichnete Kommunikation [i.e. die Psychoanalyse, F.R.], in der Verzerrungen der Kommunikationsstruktur selbst uberwunden werden konnen, ist die einzige, in der zusammen mit einem Wahrheitsanspruch zugleich ein Wahrhaftigkeitsanspruch ,diskursiv' gepriift (und als unberechtigt abgewiesen) werden kann" (ebd.). Habermas konzediert, dass die Deutungen des Analytikers auch als Versuch verstanden werden konnen, den Patienten einfach nur zu iiberzeugen, d.h. ihn durch Argumente dahin zu bringen, dass er die Selbsttauschungen hinsichtlich seiner expressiven AuBerungen erkennt und seine Einstellungen andert. Es gibt fiir Habermas einen deutlichen Unterschied zwischen solchen PatientenauBerungen und argumentativer Rede einerseits, und einem vemeinten Geltungsanspruch mit anschlieBendem argumentativem Diskurs andererseits. Ein therapeutisches Gesprach erfullt wesentliche Voraussetzungen fur einen Diskurs nicht, denn „der Geltungsanspruch wird nicht von vornherein als problematisch erkannt; der Analysand nimmt zu dem Gesagten keine hypothetische Einstellung ein; auf seiner Seite sind keineswegs alle Motive auBer dem der kooperativen Wahrheitssuche ausgeschaltet; es bestehen auch keine symmetrischen Beziehungen unter den Gesprachspartnem usw. Gleichwohl beruht, nach psychoanalytischer Auffassung, die heilende Kraft des Gesprachs auch auf der iiberzeugenden Kraft der in ihm verwendeten Argumente. Diesen besonderen Umstanden trage ich terminologisch dadurch Rechnung, dass ich immer dann von 'Kritik' statt von 'Diskurs' spreche, wenn Argumente verwendet werden, ohne dass die Beteiligten die Bedingungenftireine von externen und intemen Zwangen freie Sprechsituation als erftillt voraussetzen miissten" (Habermas 1981a, 691). 4.6.9 Einige kritische Anmerkungen Nach Habermas wohnt Sprache als solcher Verstandigung inne. Die jeweilige Einstellung entscheidet dariiber, ob sich dieses immanente Telos realisiert oder nicht, d.h. die Sprache kann, entgegen ihrem urspriinglichen Ziel, defizitar gebraucht werden. Woher kommen aber diese beiden Kommunikationseinstellungen? Sind sie letztlich nicht schon das Ergebnis von Kommunikation? Der gelungene VoUzug eines Sprechaktes bedeutet zugleich die Herstellung einer intersubjektiven Beziehung, d.h. eine Beziehung ist erst da, wenn das Gesagte vom Horer akzeptiert wurde. Beziehung wird durch den Sprechakt hergestellt und zwar als Aktivierung eines vorgegebenen Beziehungsmusters, und ist daher normativ bestimmt. Die Sprecher wissen einerseits intuitiv um Verstandigung, andererseits wissen sie aber nie sicher, ob sie einen echten Konsens erreicht haben, d.h. sie wissen intuitiv um den Prozess, aber nicht um dessen Ergebnis. So konnen sie miteinander einer Tauschung erliegen, und das diirfte meistens der Fall sein, gemessen an der idealen Sprechsituation als Norm. Habermas unterstellt damit zudem, dass eine Kommunikation, die sich am Prinzip der Rationalitat orientiert, das ideale Verstandigungsmittel ist. Die ideale Kommunikation ist die vollkommen rationale Kommunikation. 127
Habermas fordert eine „ausreichende Sozialisierung" als Voraussetzung fiir die Teilnahme am Diskurs. Das wlirde aber bedeuten, dass fur die meisten Menschen die Teilnahme an einem Diskurs gar nicht moglich ware, weil wir, im Sinne der Psychoanalyse, wohl alle irgendwelchen Selbsttauschungen unterliegen. Wer sich selbst hinsichtlich seiner Kommunikationsqualitat tauscht, ist demnach noch nicht ausreichend sozialisiert. Nur durch eine Psychoanalyse kann man diese Diskursfahigkeit erwerben. Einerseits ist aber nie defmitiv entscheidbar, ob der Konsens ein echter ist, auf der anderen Seite scheint aber die systematische Tauschung eines Analysanden eindeutig zu sein. Wer entscheidet am Ende dariiber, ob eine Selbsttauschung vorliegt oder nicht? Und wie werden Kommunikationssituationen bewaltigt, in denen jeder dem Anderen Selbsttauschung vorhalt? Wahrhaftigkeit ist der einzige Geltungsanspruch, der nach Habermas nicht im Diskurs eingelost werden kann. M.a.W. ob meine Gefiihle echt sind, kann mein Gesprachspartner nicht entscheiden. Das zeigt sich erst in spateren Handlungen. Nur die Psychoanalyse macht hier eine Ausnahme, da sich in der Konsequenz ihres Ablaufes meine Wahrhaftigkeit herausstellt. So gesehen ist vermutlich unsere gesamte Kommunikation im Sinne Habermas' mehr oder weniger irrational. Es ist aber genau diese Kommunikation, die uns krank machen kann. Sie kann aber nur im Kontext einer Psychoanalyse bewaltigt werden, d.h. der Einzelne muss seine Selbsttauschung erkennen. Und was ist, wenn nur der Eine verstandigungsorientiert kommuniziert und der Andere nicht? Woran lasst sich das erkennen, und wie lasst sich eine solche Situation verandem? Zima wirft Habermas vor, dass dieser „den Konsens gegen die Subjektivitat der Beteiligten formalistisch (d.h. formalpragmatisch)" (Zima 2000, 36) durchsetzen wolle. Es gebe in Wirklichkeit weder im Alltag noch in den Sozialwissenschaften eine Universalsprache. Jedes Subjekt bilde seinen eigenen Soziolekt aus, der, weil partikular, auch nie ganz konsensfahig sei. „Und daher erscheint auch die These iiber den ,Zwang des besseren Arguments' fragwurdig: derm in jedem Soziolekt ist ein anderes Argument ,besser"' (ebd.). Das Ziel der sprachlichen Vereinheitlichung fiihre zur Einebnung der psychischen, sozialen und diskursiven Differenzen. Die Konstruktion einer idealen Sprechsituation „negiert, was sie fordem soil - namlich Verstandigung zwischen heterogenen Subjektivitdteri'' (ebd. 395). Die ideale Sprechsituation sieht ja gerade von der realen Kommunikationsgegebenheit ab und ist daher nur „als Austausch nichts sagender Hoflichkeitsfloskein denkbar" (ebd.). Sprechende Subjekte werden durch die aus ihren Soziolekten hervorgehenden Diskurse konstituiert. Daher konnen sie von ihren eigenen sprachlichen Strukturen gar nicht absehen, weil sie sich selbst damit negieren wtirden. Der Wille zur Verstandigung, so Zima, konne nicht darauf hinauslaufen, dass die Kommunikanten ihre Subjektivitat aufgeben miissten. Die ideale Sprechsituation sieht nicht nur von alien Herrschaftsanspriichen ab, sondem auch von „der konkreten sprachlichen Subjektivitat der Kommunizierenden" (ebd. 396).
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4.7 Kommunikationsforschung in Fragmenten: Zusammenfassung (1) Zu den fruhen kommunikationstheoretischen Fragmenten mit nachhaltiger Wirkung auf die gesamte spatere Theorieentwicklung zahlen das Stimulus-Response-Modell und die sog. Lasswell-Formel. (2) Vor allem zahlt dazu aber die Informationstheorie von Shannon & Weaver, die den Kommunikationsvorgang in Anlehnung an die Modalitaten der Telefonkommunikation verstehen. In seiner Konzentration auf die Senderperspektive kann das Modell jedoch nicht die Wechselseitigkeit des Geschehens deutlich machen. Kommunikation ist das, was beobachtet werden kann. Es handelt sich dabei um eine individuumszentrierte Sichtweise im Sinne eines naiv-empiristischenGegenstandsverstandnisses. (3) Der Ausdruckspsychologie im weiteren Sinne wurden jene Ansatze zugerechnet, die sich mit dem Verstandnis von verbalen bzw. nonverbalen AuBerungen des Anderen auseinandergesetzt haben. Ebenso wurden jene Ansatze unter die Ausdruckspsychologie subsumiert, in denen Methoden entwickelt wurden, um beide Kommunikationsweisen konservieren und auswerten zu konnen, und schlieBlich auch jene Uberlegungen, in denen iiberwiegend Sprache mit Kommunikation gleichgesetzt wird. Kirchhoff erkennt die Unhaltbarkeit der subjektzentrierten Sichtweise der herkommlichen Ausdruckspsychologie und versteht schlieBlich jegliche Aussage iiber Ausdruck als Relationsaussage. Vom traditionellen Subjektivitatsaxiom her lasst sich das alte Problem des „Fremdverstehens" nicht losen, d.h. von ihm aus fiihrt kein Weg zum Verstehen des Anderen, zu seiner unmittelbaren Gegebenheit. Holzkamp greift ebenfalls das Problem des Fremdverstehens durch Ausdruck auf. Samtliche sog. Einfuhlungstheorien hinsichtlich der fiinktionalen Erklarung des Fremderlebens sind fiir ihn durch die modeme Wahmehmungslehre iiberflussig geworden. Besonders hilfreich ist dabei die sog. „Urverstehenstheorie", die die unmittelbare reale Gegebenheit des Fremdseelischen infolge eines urspriinglichen biologischen Aufeinander-angelegt-Seins annimmt. Diese Annahme fmdet durch die Entdeckung der sog. „mirror-neurons" durch Gallese et al. weitere Unterstutzung (s. Abschnitt 6.2.2). Hatte sich die klassische Ausdruckspsychologie weitgehend auf das visuell Wahmehmbare beschrankt, so fassen Sprachphilosophie, Linguistik und Anthropologic vielfach Sprache und Kommunikation als synonym auf. Die Nachfolge der traditionellen Ausdruckspsychologie treten akribische Forschungen zur „nonverbalen Kommunikation" an, wo Ausdruck nun immer als kommunikatives Verhalten des Individuums verstanden wird, allerdings ohne dass daraus eine systematische Theorienbildung erfolgt ware. SchlieBlich ermoglicht der technische Fortschritt die Konservierung und Wiedergabe mimischer AuBerungen sowie deren Codierung z.B. durch das von Ekman & Friesen entwickelte Facial Action Coding Systems (FACS). Varianten sind Freys „Bemer System zur Beschreibung natiirlicher menschlicher Bewegungen" sowie Kempters „Skriptanimation", denen die Relevanztheorie von Paul Grice und deren Weiterentwicklung durch Sperber & Wilson zugrunde liegt. Interkulturelle Kommunikation ist vor allem ein Themenbereich der Ethnologic und beschaftigt sich insbesondere 129
mit der Vermittlung von Kompetenzen fur einen moglichst konfliktfreien Umgang mit Menschen anderer Kultur. (4) Die systemisch orientierten Kommunikationstheorien bilden einen vierten Schwerpunkt innerhalb dieses Kapitels. Die hier behandelten Autoren verweisen in ihren Arbeiten implizit oder explizit - im weitesten Sinne - auf systemisches bzw. kybemetisches Gedankengut. Jiirgen Ruesch publizierte lange vor Watzlawick et al. die Auffassung, dass es immoglich sei, Kommunikation in Face-to-face-Situationen zu vermeiden. Wo Kommunikation geschieht, wird anerkannt, dass man in das Wahrnehmungsfeld des Anderen eingetreten ist und subtilste Kommunikationsvorgange in Bruchteilen von Sekunden ablaufen. Wie Therapeut und Patient so sind auch der Forscher und seine „Beobachtungsobjekte" gleichermaBen in die Kommunikation involviert. Die „Menschliche Kommunikation" von Paul Watzlawick et al. wurde schon in den 1970er und 1980er Jahren einer weitgehend resonanzlos gebliebenen vemichtenden Kritik unterzogen, die sich wesentlich gegen eine vollig inkonsistente Terminologie wie auch gegen den offenkundigen naiven Empirismus richtete. Die fiinf Axiome sind Behauptungen, die durchaus Plausibilitat besitzen, aber theoretisch nicht wirklich konzeptualisiert werden. Ganz typisch fiir systemtheoretische Ansatze ist hier der Ausschluss der Frage nach dem „Warum" und der Beschrankung auf das „ Wie" der Kommunikation. Weite Verbreitung hat seit den 1980er Jahren die praktisch orientierte 3-bandige Anleitung „Miteinander reden" von Friedemann Schulz von Thun gefunden, die in der Nachfolge des individuumszentrierten Ansatzes von Shannon & Weaver steht, gerade wenn es um Storungen zwischen Sender und Empfanger geht. Theorien sind allerdings erklartermaBen nicht das primare Anliegen Schulz von Thuns. Wenn die Notwendigkeit gelingender Kommunikation nur ein Erfahrungswert ist, dann kann sie lediglich normativ gefordert werden, und viele gute Ratschlage sollen dies ermogUchen. Fiir Niklas Luhmarm ist Kommunikation eine gesellschaftHche Operation. Ein soziales System ist dann gegeben, wenn es sich durch Kommunikation von seiner Umwelt abgrenzt, wenn ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht. Er ist eine Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen. Letzteres ist der Steuerung des Einzelnen entzogen. Irritierend an Luhmanns Ansatz ist der konsequente Verzicht auf den Subjektbegriff, Stattdessen ist die Rede von abstrakten Subjekt-Aktanten wie „Differenzierung", „System", „Operation" etc., die „wahlen", „entscheiden" oder „verhindem". Dieser Versuch der Negation des individuellen Subjekts muss allerdings letztlich scheitem, well er schon sprachlich nicht moglich ist. Konsequent wird der Mensch zwischen verschiedenen autopoietischen Systemen angesiedelt. Das System iibemimmt die Funktion des bisherigen Subjekts. Wesentlich bestimmt wird der Ansatz Klaus Mertens von einem evolutionaren Verstandnis der Kommunikationsentwicklung sowie durch ein systemtheoretisches Denken in Anlehnung an Luhmann. Kommunikation ist das kleinste soziale System. Die informelle (i.e. face-toface-) Kommunikation stellt den einfachsten Kommunikationsprozess dar. Von der Schrift bis 130
hin zum World Wide Web zeigt sich die Entwicklung der Kommunikation in einer Evolutionskurve, d.h. Medien konstmieren heute die Wirklichkeit. Damit wird bei Merten mediale Kommunikation zum MaBstab fur alle evolutionar friiheren Kommunikationsformen, also auch fur die Face-to-face-Kommunikation. Wie bei Luhmann bleibt auch bei Merten die Frage nach dem Subjekt der Technik off en, d.h. das Woraufhin dieser evolutionaren Entwicklung. Ein Ziel scheint die Reduktion der Komplexitat von Information zu sein. Merten unternimmt beliebige Typisierungen informeller Kommunikation, wobei nicht erkennbar wird, was diese fiir zwei Menschen z.B. mit Kommunikationsproblemen eigentlich leisten soil. Wie schon Ruesch und Watzlawick et al. so bleibt auch Merten bei der Frage nach dem Wie stehen. Das „Warum" bleibt offen. (5) Ein Vergleich zwischen computervermittelter Kommunikation und Face-to-faceKommunikation im Anschluss an Mertens Position zeigt, dass sich dessen Annahme, dass die mediale Kommunikation die entwickeltere Form gegeniiber der Face-to-face-Kommunikation sei, nicht nur nicht halten lasst, sondem dass im Gegenteil die computervermittelte Kommunikation selbst in vielfacher Weise auf die Face-to-face-Kommunikation als die unvergleichlich differenziertere Form zwischenmenschlicher Kommunikation verweist. Dies ergibt sich wesentlich schon aus einer Analyse des primaren Unterschiedes zwischen beiden zwischenmenschlichen Kommunikationsformen, der physischen An- bzw. Abwesenheit der Kommunikanten. (6) Fiir Jurgen Habermas muss eine Gesellschaftstheorie erklaren konnen, wie die Handlungsplane mehrerer Aktoren miteinander anschlussfahig werden. Interaktion transformiert nach Mead gestenvermittelte in symbolisch vermittelte Interaktion durch die Ubemahme der „attitude of the other". Die individuelle Bedeutung verandert sich dabei in eine allgemein giiltige. Die alien gemeinsame homogene Lebenswelt ist fiir Habermas eine konstitutive Interpretationsressource. Im Originalmodus ist Sprache immer auf Verstandigung hin ausgerichtet. Habermas unterscheidet zwischen verstandigungsorientierter und strategischer Kommunikation. Eine Person verhalt sich rational, wenn sie auf Verstandigung eingestellt ist und bei Kommunikationsstorungen auf die Sprachregeln rekurriert. Kommunikative Kompetenz meint die Beherrschung des Regelsystems unserer Sprache. Habermas konkretisiert den Verstandigungsprozess anhand der Sprechakttheorie von J.L. Austin und J.R. Searle. Der gelungene Sprechakt ist zugleich die Herstellung einer Beziehung. Die ideale Sprechsituation lasst sich zwar kaum realisieren, und wir konnen in einer gegebenen Situation auch nie sicher sein, ob wir gerade einen Diskurs ftihren oder einer Tauschung erliegen, doch ist sie als Norm in jedem Gesprach wirksam. Kritisch bleibt u.a. anzumerken, dass bei Habermas offen bleibt, wo derm die verstandigungsorientierte wie auch die strategische Kommunikation eigentlich herkommen. Die Kommunikanten wissen intuitiv um Verstandigung, wissen aber nie sicher, ob sie einen echten Konsens erreicht haben. Zudem ist die ideale Kommunikation ganz am Prinzip der Rationalitat orientiert. Femer diirfte eine ausreichende Sozialisierung als Voraussetzung fur die Teilnahme am Diskurs fur die meisten kaum erreichbar sein. 131
Dieses Kapitel hat zum einen also jene Ansatze behandelt, die sich explizit als kommunikationstheoretische Uberlegungen verstehen, zum anderen wurden hier aber auch solche Theorien bzw. Theoriefragmente aufgegriffen, die man, ausgehend von der Begriffsbestimmiing in Abschnitt 2.1, thematisch damnter subsumieren kann. Zu letzterer Gruppe lassen sich auch die psychotherapeutischen Ansatze zahlen. In diesem Sinne soil die Thematik im Blick auf das Kommunikationsverstandnis verschiedener psychotherapeutischer Theorien noch einmal vorangetrieben werden. Zugleich erfordert dies auch die Explikation der Ergebnisse der neueren Sauglingsforschung in Bezug auf die Entwicklung der zwischenmenschlichen Kommunikation.
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5 Intersubjektivitat und Relationalitat in psychotherapeutischen Ansatzen In Abschnitt 2.1 wurde „Beziehung" vorlaufig als Kommunikation zwischen zwei Menschen liber einen bestimmten Zeitraum in bestimmter Qualitat definiert. Wenn es um die Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient geht, dann ist damit die Qualitat der Kommunikation zwischen beiden im Verlauf der Beziehung gemeint. Im Folgenden soil exemplarisch gezeigt werden, wie in verschiedenen psychotherapeutischen Ansatzen die zwischenmenschliche Kommunikation und in eins damit Sozialitat jeweils verstanden wird. Carl Rogers hat schon sehr friih in seiner Konzeption einer Gesprachspsychotherapie die Bedeutung der Beziehung zwischen Therapeut und Klient hervorgehoben. Wenig bekannt hingegen ist der anthropologisch-integrative Psychotherapieansatz von Dieter Wyss, dessen Ziel in der Verringerung von Kommunikationseinschrankungen besteht. Ausfuhrlicher sollen Versuche aus dem psychoanalytischen Umfeld reflektiert werden, die sich besonders die Frage nach dem Verstandnis von Relationalitat oder Intersubjektivitat stellen, wobei sie dafur auch auf Erkenntnisse der neueren Sauglingsforschung zuruckgreifen. Ebenso darf hier der Blick auf die sog. Bindungstheorie, die sich darin dezidiert von einer psychoanalytischen Position absetzt, fehlen. In diesen Reflexionen wird immer wieder deutlich werden, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn von einem individuumszentrierten Menschenmodell ausgegangen wird. Ausdrticklich sei an dieser Stelle betont, dass die Kritik an den diskutierten psychotherapeutischen Ansatzen sich auf die jeweilige theoretische Konzeption bezieht und nicht auf die praktische Kompetenz des betreffenden Psychotherapeuten. Erfolge hat jede seriose Psychotherapie aufzuweisen. Wenn eine Psychotherapie als erfolgreich bewertet wird, wobei die jeweiligen Kriterien hier auBer Acht gelassen werden konnen, dann ist dies unleugbares Faktum. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass die Erklarung dieses Erfolges auch zutreffen muss. Therapieerfolge belegen nicht notwendig die Richtigkeit einer Theorie, sondem in erster Linie das Gelingen der Kommunikation zwischen den Beteiligten. Eine gelungene Praxis verlangt eine widerspruchsfreie Theorie. Ist das nicht der Fall, dann braucht diese Praxis eben eine andere Theorie.
5.1 Die Forderung nach „gelingender Beziehung" als psyehotherapeutisches Desiderat In der Psychotherapie-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte wurde vielfach festgestellt, dass eine gelingende therapeutische Beziehung unabdingbar fur das Gelingen der Psychotherapie sei. Grawe, Donati & Bemauer stellen 1994 fest, dass die Forderung, psychische Storungen und deren Therapie unter dem Aspekt der Beziehung zu betrachten, schon vierzig Jahre alt sei. „Uber lange Zeit hin hat in der Psychotherapie jedenfalls eine starke Diskrepanz bestanden zwischen der Uberzeugung der meisten Psychotherapeuten, wie wichtig der zwi133
schenmenschliche Aspekt fur die Psychotherapie sei, und dem konkreten Bemuhen, diese Uberzeugimg zu systematisieren, ausdifferenzieren, zu untersuchen und praktische Konsequenzen daraus fur die Ausbildung und Praxis zu ziehen" (Grawe, Donati & Bemauer 1994, 778). Schon 1980 hatte Bauriedl konstatiert, dass bislang noch keine Theorie ein Denkmodell fur die therapeutische Beziehung ausgearbeitet habe, also „wie man sich die Zusammenhange zwischen Veranderungsprozessen bei Analysand und Analytiker einerseits und der Art ihrer Beziehung zueinander andererseits vorstellen konnte" (Bauriedl 1980, 14). Das Zusammentreffen von Menschen bedeutet fur sie Risiko und Chance zugleich, „sich gegenseitig in Frage zu stellen, zu relativieren, und das bedeutet: zueinander in Relation zu kommen" (Bauriedl 1980, 33), denn die Lockerung des Abwehrsystems auf der Patientenseite „kann nicht ohne gleichzeitige Lockerung des gemeinsamen Abwehrsystems zwischen Patient und Therapeut erfolgen. Ich glaube, dass dieser Satz fUrjede Therapieform und fiXrjede therapeutische Situation gilt, auch wenn man ihn nicht beachtet oder fiir falsch erklart" (Bauriedl 1985, 13). 1994 verweist sie auf Ergebnisse der Psychotherapieforschung, die inzwischen bestatigt haben, dass die „gute Beziehung" zwischen Therapeut und Patient als erheblich relevanter anzusehen ist als die jeweilige psychotherapeutische Technik (vgl. Bauriedl 1994, 85). 1992 meint Grawe, dass die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit zwischen den Beziehungswiinschen und -moglichkeiten des Patienten mit dem Beziehungsangebot des Psychotherapeuten zu giinstigen oder weniger giinstigen Voraussetzungen fiir die Beziehungsebene fuhre (vgl. Grawe 1992, 150). 1995 stellt er fest, dass „die Qualitat der Therapiebeziehung einen der am besten gesicherten Einflussfaktoren auf das Therapieergebnis" (Grawe 1995, 133) darstelle. In Rekurs auf die Arbeit von Orlinsky & Howard (1986) sieht auch Krause die Qualitat der therapeutischen Beziehung als in hohem MaBe bedeutsam fiir den erfolgreichen Verlauf einer Psychotherapie an (vgl. Krause 1997, 45). In gleicher Weise auBem sich dazu ebenfalls Banninger-Huber (vgl. Banninger-Huber 1996, 25) und Grawe (1998). Ebenfalls unter Verweis auf die groBe Studie zu Meta-Analysen der Prozess-Outcome-Zusammenhange von Grawe, Donati & Bemauer 1994 sagen auch Kryspin-Exner et al: „Fur den Verlauf einer Therapie ist die Qualitat der Beziehung zwischen Therapeut und Klient von entscheidender Bedeutung. Eine tragfahige Allianz ist der herausragende Pradiktor fur den Therapieerfolg (Horvath & Symonds, 1991; Safran & Muran, 1998). Es wird inzwischen von alien Therapierichtungen anerkannt, dass die Gute einer Intervention an die Qualitat der therapeutischen Beziehung gebunden ist" (Kryspin-Exner et al. 2000, 138). Wahrend die Bedeutsamkeit der psychotherapeutischen Beziehung fiir den Therapieerfolg unter Hinweis auf viele empirische Studien weitgehend auBer Frage steht, bleibt allerdings die anfangs erwahnte Frage von Bauriedl, was denn eigentlich unter einer gelingenden Beziehung in der Psychotherapie zu verstehen sei, nach wie vor offen. Krause meint: „Die Frage, was eine Beziehung sei, ist schwer zu beantworten, obgleich jeder die Antwort zu kennen meint" (Krause 1997, 53). In Bezug auf die Psychoanalyse stellen Thoma & Kachele fest: „Wir unterstreichen, dass nicht ,jede gute Beziehung zwischen Analytiker und Analysierten, wahrend 134
und nach der Analyse als Ubertragung einzuschatzen' «sei»" (Thoma & Kachele 1985, 65). Es lasst sich ihrer Meinung nach weder klinisch noch wissenschaftlich zur Ganze erfassen, „wie die reale Person [i.e. des Therapeuten, F.R.] durch ihre personliche Gleichung, durch ihre Gegenubertragung, durch ihre Theorien und durch ihre latente Anthropologic auf den Patienten einwirkt" (ebd. 80). „Tatsachlich geht also zwischen Patient und Analytiker sehr viel mehr vor sich als ein Austausch von Worten" (Thoma & Kachele 1988/89, 287). Ahnlich auBert sich spater auch Frischenschlager: „Es wurde lange Zeit verabsaumt zu klaren, was tatsachlich ablauft, wenn ein seelischer Inhalt, etwa eine unbewusste Phantasie ihre Wirkung im Beziehungspartner erzielt" (Frischenschlager 1995, 160) und er folgert daraus, dass wir nicht umhinkommen, „die Interaktion zu untersuchen, wenn wir verstehen wollen, wie Menschen einander beeinflussen, wie uberhaupt psychische Struktur sich entwickelt, wie sie allenfalls beeinflusst werden kann" (ebd. 163). Schiepek kommt in einer „Chaos-Analyse der therapeutischen Selbstdarstellungsdynamik" zu dem Schluss, „dass Psychotherapie auf der Mikroebene der Therapeut-Klient-Interaktion ein nicht vorhersehbarer Prozess ist" (Schiepek 1995a, 104). Banninger-Huber kritisiert die Einseitigkeit in der Forschung, da sich die meisten Forschungsmethoden nur mit dem Beziehungsmuster des Klienten beschaftigen wiirden. „Dem Anteil des Therapeuten an der Beziehung wird hingegen wenig Beachtung geschenkt, m. a. W. das wechselseitige Zusammenspiel des Interaktionsverhaltens von Klient und Therapeut wird nicht untersucht" (BanningerHuber 1996, 26). In Abschnitt 2.1 wurde „Beziehung" vorlaufig als Kommunikation zwischen zwei Menschen uber einen bestimmten Zeitraum in bestimmter Qualitat defmiert. Wenn es um die Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient geht, dann ist damit die Qualitat der Kommunikation zwischen beiden im Verlauf der Beziehung gemeint. Im Folgenden soil exemplarisch gezeigt werden, wie in verschiedenen psychotherapeutischen Ansatzen die zwischenmenschliche Kommunikation und in eins damit Sozialitat jeweils verstanden wird. Carl Rogers hat schon sehr friih in seiner Konzeption einer Gesprachspsychotherapie die Bedeutung der Beziehung zwischen Therapeut und Klient hervorgehoben. Wenig bekannt hingegen ist der anthropologisch-integrative Psychotherapieansatz von Dieter Wyss, dessen Ziel in der Verringerung von Kommunikationseinschrankungen besteht. Ausfiihrlicher sollen Versuche aus dem psychoanalytischen Umfeld reflektiert werden, die sich besonders die Frage nach dem Verstandnis von Relationalitat oder Intersubjektivitat stellen, wobei sie dafiir auch auf Erkenntnisse der neueren Sauglingsforschung zuriickgreifen. In diesen Reflexionen wird immer wieder deutlich werden, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn von einem individuumszentrierten Menschenmodell ausgegangen wird.
5.2 Carl R. Rogers: Die klientenzentrierte Gesprachspsychotherapie Carl R. Rogers (1902-1987), der Begriinder der Gesprachspsychotherapie, war iiberzeugt, dass eine gelingende Kommunikation zwischen Psychotherapeut und Klient die notwendige 135
Voraussetzung fur das Gelingen der Psychotherapie insgesamt sei. Hinsichtlich seines Verstandnisses der psychotherapeutischen Beziehung hat er sich haufig auf Martin Ruber bezogen. Beide trafen sich zu einem offentlichen Gesprach 1957 an der Universitat von Michigan, Ann Arbor, das ziemlich deutlich macht, wie groB doch die Differenzen zwischen Buber und Rogers waren, zumindest aus der Sicht von Buber (vgl. Cissna & Anderson 2002; Rogers & Buber 1984). Rogers hat mehrfach seine theoretischen Uberlegungen im Laufe der Jahrzehnte niedergelegt, zuletzt noch 1979 (vgl. Rogers 1984). Dieser recht kurze Aufsatz ist insofem interessant, als er hier nicht nur seine Theorie, sondem auch seine weltanschaulichen Grundlagen skizziert, was in der psychotherapeutischen Literatur eine Ausnahme darstellt. 5.2.1
Rogers' wissenschaftliche Kompetenz
Peter F. Schmid hat sich sehr eingehend in seinen Arbeiten mit dem Werk Rogers befasst. Fiir ihn war Rogers ein Empiriker. „Seine Anthropologie wird in seinen Fall- und Problemstellungen, in seinen meist gut nachvollziehbaren Beschreibungen und in seinen sehr erfahrungsnah gehaltenen Folgerungen aus den Beobachtungen oft klarer und deutlicher, als es eine Analyse der von ihm verwendeten theoretischen Begriffe ergibt. Die Darstellung seiner Auffassung von Person geschah im Rahmen der Entwicklung des personzentrierten Ansatzes auch nicht primar systematisch, sondem vor allem beschreibend anhand von ihm geschilderter Erfahrungen. Aus ihnen gewann er sein Verstandnis von Person und Beziehung und stellte dann erst Theorien dartiber auf (Schmid 1991,123). Rogers, so Schmid, habe seine Theorie weitgehend selbststandig entwickelt, er babe sich nicht in der Tradition einer bestimmten philosophischen Schule gesehen, andererseits, so Schmid wenig spater, stand er natiirlich „in der Denktradition der abendlandischen Philosophie, insbesondere auch im Einfluss der aus Deutschland ausgewanderten Existenzphilosophen und ihrer in die USA gebrachten Vorstellungen. Man muss ihn auch als Phanomenologen und dialogischen Denker sehen. Seine Bezugnahme auf Autoren wie Kierkegaard, Buber etc. erfolgte zwar ex posteriori; die Auseinandersetzung mit ihnen, die dadurch ausgelost wurde, befruchtete freilich die weitere Ausbildung seiner Anthropologie" (ebd. 122). Deutlicher benennen Cissna & Anderson (2002) den Sachverhalt: „Unlike Buber, Gadamer, and other philosophers, Rogers was not schooled in a tradition of European phenomenology or existential thought. Moreover, Rogers worked professionally as a therapist, not as a philosopher. His work demonstrates neither the systematic consistency nor the careful explication of all the implications of ideas that would be expected of a professional philosopher. Rogers was attempting to articulate the relationally oriented conception of human life that he experienced (including the role of empathy) with inadequate preparation and in an hospitable environment. He also tried, in very practical ways, to give people ideas that could help them and [...] attempted to do so in terms they could understand readily" (Cissna & Anderson 2002, 94). Auch Schmid konzediert an anderer Stelle, „dass die Begriffe von ihm [i.e. Rogers, F.R.] nicht immer einheitlich verwendet werden. Besser als in seinen theoretischen Formulierungen kommt Rogers' Anthropologie und damit sein Personbegriff in seinen Falldarstellungen und
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seinen erfahrungsnahen Beschreibungen zum Ausdruck" (Schmid 1991, 124). Rogers hatte keine wirkliche philosophische Ausbildung, und das Gesprach, das er mit Buber 1957 gefiihrt hat, macht dies auch deutlich. Die Bezugnahme erfolgte „wie bei Psychotherapeuten haufig eher eklektisch, oft einfach anhand passender Zitate" (Schmid 1997, 199). Rogers all jene Erkenntnisse zuzusprechen, wie sie etwa Dialogphilosophen wie Martin Buber formuliert haben, wird ihm daher nicht gerecht. Er bleibt beschreibungsnah und dabei sehr plastisch, ringt aber im theoretischen Bereich sehr um die Begriffe. Schmid berichtet von einer Selbstaussage Rogers 1981 bei einer Diskussion in Salzburg, wo Rogers selber einraumte, „seine Beobachtungen seien dort am besten, wo er Veranderungen in einer Beziehung beobachte und weniger, wo es um Strukturen gehe. Seine meisten theoretischen Formulierungen seien daher auch Prozessformulierungen, der Begriff des ,Selbst' beziehe sich jedoch auf eine Struktur" (Schmid 1991, 125).^^ Auch hier wird deutlich, dass Rogers unscharf bleibt, etwa hinsichtlich des Unterschiedes zwischen einer Beschreibung und der theoretischen Formulierung einer Struktur. Eine Struktur kann nicht beobachtet werden, sondem ist eine theoretische Konstruktion. 5.2.2
Die Aktualisierungstendenz
Jeder Organismus, also nicht nur der Mensch, ist „auf eine konstruktive Erfiillung seiner innewohnenden Moglichkeiten" (Rogers 1984, 12) ausgerichtet. Es ist eine natiirliche Entwicklungstendenz, Rogers nennt sie „aktualisierende Tendenz", die durch keine noch so widrigen Umweltbedingungen in ihrem Wirksamwerden behindert werden kann. Dass ein Organismus lebt, ist gerade am Wirksamwerden dieser Tendenz, das sich in einem gerichteten Prozess zeigt, erkennbar. Veranschaulichen will er diesen Vorgang, wie er fiir ihn bei psychisch Kranken stattfmdet, anhand eines Vergleichs der Klienten mit Kartoffeln unterhalb des Kellerfensters, die lange weiBe Triebe in Richtung des Fensters entwickeln, die vollig unniitz sind im Vergleich zu jenen Trieben, die sie im Frlihjahr, wenn sie in die Erde gepflanzt werden, entwickeln. Aus den im Keller treibenden Kartoffeln „wurde niemals eine Pflanze, niemals reiften sie heran, niemals konnten sie ihre wirkliche Entfaltungsmoglichkeit erfiillen. Doch sogar unter widrigsten Umstanden strebten sie nach dem Werden. Das Leben gibt nie auf, nicht einmal dann, wenn es keine Entfaltungsmoglichkeiten besitzt" (ebd. 13). Diese aktualisierende Tendenz ist demnach eine Art zielgerichtete und konstruktive Energie, d.h. im Normalfall wirkt sie nicht selbstzerstorend. Nur bei widrigen Umstanden kann ihre Richtung verfalscht werden, sich ins Gegenteil verkehren (vgl. ebd. 15). „Der Organismus bewegt sich im Normalzustand auf seine eigene Verwirklichung und Selbstbestimmung sowie auf eine Unabhangigkeit von jeglicher auBerer Kontrolle zu". Er ist „immer auf Erhaltung, Forderung und Reproduktion seiner selbst ausgerichtet" (ebd. 14). Deutlich erkennbar sind hier die Verweise Es geht hier nicht um Rogers Kompetenz als Psychotherapeut, sondem um seine wissenschaftliche Kompetenz. Rogers ist ein anschauliches Beispiel daflir, dass es ein schwieriger Weg ist von der Erfahrung hin zur Theorie.
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auf die Lebensphilosophie, etwa bei Hans Driesch, oder auch insgesamt an den elan vital bei Henri Bergson. 5.2.3 Die Notwendigkeit einer fordernden Umwelt Rogers bezeichnet es als die zentrale Hypothese seines Ansatzes, „dass das Individuum unermesslich reiche Anlagen in sich tragt, sich selbst zu verstehen, das Selbstkonzept, die grundlegenden Einstellungen und das Selbstbestimmte zu verandem, und dass diese Anlagen sich nur dann erschliefien konnen, wenn eine genau definierbare Atmosphare von fordernden psychologischen Einstellungen geschaffen werden kann" (ebd. 10). Rogers zahlt etliche Beziehungen auf, in denen eine fur den educandus entsprechende Atmosphare zur Verfugung stehen muss: Eltem - Kind, Therapeut - Klient, Leiter - Gruppe, Lehrer - Student, Verwalter Personal. Aufgezahlt werden hier ganz bestimmte Rollenbeziehungen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ein hierarchisches Gefalle aufweisen, das sich dadurch naher bestimmt, dass es um die Entwicklung der Personlichkeit des educandus geht. Das Gefalle zwischen diesen beiden war auch mehr als 20 Jahre zuvor Diskussionspunkt in dem oben genannten Gesprach zwischen Rogers und Buber gewesen (vgl. Rogers & Buber 1984, 57ff). Der Eine braucht Hilfe vom Anderen. Buber bestreitet die Gleichheit zwischen beiden, die trotzdem fur Rogers in dieser Beziehung zu bestehen scheint. Was nun fur die Kartoffel im optimalen Fall der richtige Boden, Wasser, Licht, Temperatur darstellen, ist fiir den educandus Echtheit, Wertschatzung und Empathie seitens des Therapeuten, der Eltem, des Lehrers oder des Gruppenleiters. Es sind jene drei therapeutischen Grundvariablen, die fiir Rogers ausschlaggebend fiir den Therapieerfolg sind. Echtheit oder Kongruenz meint, dass der Therapeut transparent ist in seiner emotionalen Befmdlichkeit, ohne jegliche Zuruckhaltung. Es gibt bei ihm keine Diskrepanz zwischen innerem Erleben, Bewusstsein davon und Ausdruck dieses Erlebens. „Wertschatzung" ist fur Rogers eine „bedingungslose und positive Zuwendung" (ebd. 11) zum Klienten, zu dem, was dieser im Augenblick ist. „Empathie" meint ein einfiihlendes Zuhoren mit ganzer Aufmerksamkeit. Die Realisierung dieser drei Bedingungen erzeugt eine „wachstumsfordemde Atmosphare" (ebd. 10). Durch die erfahrene Achtung und Aufmerksamkeit wird der Klient dazu kommen, sich selbst mehr zu mogen und zu verstehen. Er entwickelt dann zunehmend ein Selbst im Einklang mit dem Erlebten, d.h. er wird echter. Er entwickelt jene Einstellungen, wie sie der Therapeut ihm gegeniiber zeigt, auch selbst, und fordert damit seine eigene Entwicklung. Nur einmal spricht Rogers in diesem Kontext davon, dass diese Einstellungen die Beziehung fordem wiirden (vgl. ebd. 11). „Da die gesamte Person anerkannt und geachtet wird, neigt sie dazu, sich selbst mehr und mehr zu mogen. Durch die einfiihlende Aufmerksamkeit ihr gegeniiber wird es fiir sie moglich, dem Ablauf ihrer eigenen inneren Erfahrungen genauer zuzuhoren. Und in diesem MaBe, in dem die Person sich selbst versteht und achtet, erfoigt eine Entwicklung ihres Selbst, das mehr mit dem Erlebten in Einklang steht. Die Person wird dadurch zugleich wahrhaftiger und echter. Diese Tendenzen, die den Einstellungen des Therapeuten entsprechen, bedeuten, dass die Person fiir sich selbst ein erfolgreicher 138
Forderer ihrer Entwicklung wird. Es entsteht so eine groBere Freiheit, jene Person zu sein, die sie in ihrem Innersten ist" (ebd. 1 If). Eine Pflanze braucht Erde, Wasser, Licht und eine bestimmte Temperatur. Wenn etwas davon fehlt, dann erreicht die Pflanze nicht ihre optimale Gestalt oder entwickelt sich uberhaupt nicht. Man konnte dagegen halten: Erde muss nicht sein, auch in einer Nahrlosung, vielleicht mit etwas Watte als Halt, konnte sich die Pflanze entwickeln, d.h. wir konnten die genannten Elemente austauschen gegen Ersatz, wobei je nach Empfindlichkeit Pflanzen nicht jeden Austausch tolerieren. Auf Grund dieser auBeren Gegebenheiten wiirde trotzdem nichts passieren, wenn das Wachsen hin zu einer bestimmten Gestalt nicht in der Kartoffel angelegt ware. Umgekehrt nutzt die beste Anlage nichts, wenn nicht die entsprechenden auBeren Bedingungen vorhanden sind. „Der Organismus bewegt sich im Normalzustand auf seine eigene Verwirklichung und Selbstbestimmung sowie auf eine Unabhangigkeit von jeglicher auBerer Kontrolle zu". Er ist „immer auf Erhaltung, Forderung und Reproduktion seiner selbst ausgerichtet" (ebd. 14). „Wir haben es mit einem Organismus zu tun, der immer auf der Suche ist, immer wieder von vorne beginnt, immer in Bereitschaft ist. Es gibt eine zentrale Energiequelle im menschlichen Organismus. Es handelt sich um eine zuverlassige Wirkungsweise mehr des gesamten Systems als eines Teiles davon. Sie wird vielleicht am einfachsten als ein Bestreben nach Erfiillung, nach Aktualisierung aufgefasst, das nicht nur die Erhaltung, sondem auch die Steigerung des Organismus beinhaltet" (ebd. 17). Die Pflanze produziert nur sich selbst, der Organismus will sich selbst erhalten. Den Sauerstoff, den Pflanzen beispielsweise abgeben und der uns die Luft zum Atmen gibt, ist ja fiir die Pflanze nur ein Abfallprodukt. Ein solcher Organismus „wiir' - anthropomorph gedacht - vor allem leben und sich hin zu seiner optimalen Gestalt entwickeln; das ist genetisch in ihm angelegt. Allein aus sich heraus schafft er das allerdings nicht, er braucht dazu ihm gemaBe forderliche Umweltbedingungen. Flat er zuwenig oder zuviel Wasser, zuwenig oder zuviel Licht, zuwenig oder zuviel Warme oder Kalte, dann kann er sich nicht optimal entfalten. Wie in Abschnitt 2.2 dargelegt, ist das Organismusmodell ein individuumszentriertes Modell, was hier bei Rogers auch ganz deutlich wird. Der Kartoffel geht es nicht um Wechselseitigkeit, ihre Umwelt „interessiert" sie nicht. Es geht ihr ausschlieBlich um sich selbst. Fiir den Klienten ist der Therapeut die Umwelt, die fur seine Entwicklung das Notwendige bereitstellt. Er ist der ausschlieBlich Zuwendung Empfangende. Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum denn der Therapeut das uberhaupt tut. Wo einer der ausschlieBlich Empfangende ist, kann schwerlich im personalen Sinne von Beziehung und Wechselseitigkeit die Rede sein. Die Umwelt der Kartoffel wird eben als Umwelt und nicht als Organismus verstanden. Der Austausch, der hier von Rogers beschrieben wird, ist also kein Austausch zwischen Organismen. Auch wenn der Therapeut natiirlich auch ein „Organismus" ist, eben weil er ein Mensch ist, wird er in Bezug auf den Klienten auf die Funktion „Umwelt" reduziert. Der Andere hat
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nicht Bedeutung als Anderer, sondem ist nur bedeutsam im Sinne einer Funktion. In diesem Modell ist kein Platz fiir Beziehung im Sinne von Wechselseitigkeit.^^ Der Unterschied ist also nicht einfach der, dass in der Psychotherapie der Klient und nicht der Therapeut thematisiert wird, sondem der, dass der Therapeut auf eine ganz bestimmte Funktion reduziert wird. Als Ziel der Selbstaktualisierungstendenz spricht Rogers daher auch nicht von Beziehungsfahigkeit oder ahnlichem beim Klienten. Im Rahmen dieses Modells ist es Rogers nicht moglich, Kommunikation als ein wechselseitig bestimmtes Geschehen zu fassen, dass sich wirklich zwischen zwei Personen abspielt. Rogers bleibt auch in weiteren Beispielen fiir diese Aktualisierungstendenz im Biologischen stecken (vgl. ebd. 13f). 5.2.4 Die „Formative Tendenz" des Universums Wie sehr diese Aktualisierungstendenz zentral fur seinen Ansatz ist, zeigt Rogers im Folgenden, wenn er sie weltanschaulich zu verankem sucht. Die oben beschriebene Aktualisierungstendenz ist nicht nur eine solche in lebenden Systemen, „sondem Teil einer starken formativen Tendenz, die das gesamte Universum durchzieht und auf alien Ebenen sichtbar ist" (ebd. 24), die sich in der organischen Evolution hin zu immer groBerer Komplexitat manifestiert, sich als Evolutionsstrom zeigt. Je starker nun das Bewusstsein einer Person entwickelt ist, „um so sicherer wird sie in eine Richtung treiben, die in Einklang mit dem gerichteten Evolutionsstrom steht" (ebd. 20). „Und auf einer weiteren Stufe, glaube ich, tasten wir uns zu einer machtigen kreativen Tendenz vor, die unser Universum geschaffen hat, von der kleinsten Schneeflocke zur groBten Galaxie, von der primitiven Amobe zu der empfmdsamsten und begabtesten Person. Und vielleicht beriihren wir die Schneide unserer Fahigkeit, uns selbst zu transzendieren, urn neue und mehr spirituelle Richtungen der menschlichen Person hervorzubringen" (ebd. 24). Diese formativ gerichtete Tendenz, so Rogers' Hypothese, kann an alien Dingen und Lebewesen beobachtet werden. „Es ist eine Evolutionstendenz auf eine groBere Ordnung, groBere Komplexitat, groBere wechselseitige Beziehung hin. Beim Menschen entwickelt sie sich von einer einzelnen Ursprungszelle zu einer komplexen organischen Funktionsweise, zu einem Wissen und Ftihlen unterhalb der Bewusstseinsschwelle, zu einem bewussten Erkennen des Organismus und der auBeren Welt, zu einem transzendenten Bewusstsein des Einklanges und der Einheit im kosmischen System, einschlieBlich der Menschheit" (ebd. 23). Rogers unterscheidet hier zwischen einer „formativen Tendenz" und einer „machtigen kreativen Tendenz". Erstere ist eine Kraft, die das ganze Universum durchzieht. Er nennt sie auch „Evolutionsstrom". Hinter dieser formativen Tendenz nimmt er noch ein „machtige kreative Tendenz" an, die das Universum geschaffen hat. Rogers spricht hier nicht von einem personalen Gott, sondem von einer apersonalen Tendenz, die im Universum wirksam ist, sowie von einer, die das Universum geschaffen hat. Je mehr jemand als Person entwickelt ist. Es bleibt dann auch offen, warum ein Therapeut eine solche Haltung an den Tag legen sollte, was er davon hat, wenn man einmal vom Honorar absieht.
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das entsprechende Bewusstsein hat, umso „sicherer" wird er im Einklang mit dem gerichteten Evolutionsstrom „treiben". Rogers treibt hier das Organismusmodell noch weiter voran und dehnt es auf den ganzen apersonal verstandenen Kosmos aus. Zur Untermauerung dieser Annahmen verweist er beispielsweise auf Stanislav Grof, den Begrunder der Transpersonalen Psychotherapie, und andere, die von Bewusstseinszustanden berichten, in denen „Personen das Gefiihl haben, mit ihrem Evolutionsstrom in Beruhrung zu stehen und dessen Bedeutung zu erfassen. Sie erfahren ihn als etwas, was an eine transzendierende Einheitserfahrung heranreicht. Sie sehen das individuelle Selbst in einer Ara hoherer Werte, besonders der Schonheit, des Einklangs und der Liebe, aufgelost" (ebd. 20). Er spricht von der „Erfahrung der Mystik von der Einheit mit dem Universum" (ebd.). Rogers vertritt hier, wenn auch als Hypothese deklariert, einen offenkundigen Monismus, wie er in verschiedenen neuplatonischen Fassungen immer wieder propagiert wurde. Es geht um ein apersonales Einheitserleben; zuerst nennt er hohere Werte, Schonheit, Einklang und fuhrt dann zum Schluss auch noch die Liebe an. Dies wird gewissermaBen als auBerste Existenzform formuliert. Von einer personalen Begegnung ist dabei nicht mehr die Rede. 5.2.5 Menschliche Freiheit Rogers auBert sich an einer Stelle dieses Textes auch uber die menschliche Freiheit, einen Kembegriff ethischer Reflexion. „Das Individuum in dieser fruchtbaren [i.e. psychotherapeutischen, F.R.] Atmosphare hat die Freiheit,ye^e Richtung zu wahlen, doch tatsachlich wahlt es positive und konstruktive Wege [...] wir sind nicht in ein zufalliges Ereignis verwickelt" (Rogers 1984, 24). Hier formuliert Rogers ein sehr eigenes Verstandnis von Freiheit. Es ist, so sagt er, kein Zufall, dass das Individuum positive und konstruktive Wege wahlt. Woher kann Rogers derm iiberhaupt wissen, dass es eine Wahlfreiheit gibt, namlich die Freiheit, auch andere Wege einzuschlagen; ganz abgesehen davon, dass in diesem Text der MaBstab, an dem gemessen ein Weg positiv und konstruktiv erscheint, offen bleibt. Die Entwicklung geht hin auf ein Einswerden mit dem Evolutionsstrom. Damit wird dem Menschen jede Verantwortlichkeit abgenommen, weil hier fur menschliche Freiheit kein Platz mehr ist, wenn die Dinge mit Notwendigkeit geschehen, wenn wir wie die Tiere determiniert sind. Dann gibt es aber auch keinen Unterschied mehr zwischen Gut und Bose. Auch die Bedeutung des einzelnen Menschen reduziert sich, wenn alle im Grunde eins sind. Das Leben ist letztlich ein unendliches Kommen und Gehen. 5.2.6 Die Problematik des Beziehungsbegriffes bei Rogers Rogers war, wenn man den Berichten glauben will, ein sehr charismatischer Psychotherapeut. Er hat sehr detailliert Fallbeispiele beschrieben. Die Bedeutsamkeit der zwischenmenschlichen Beziehung ist fiir ihn ein Erfahrungswert. Eklektisch hat er sich entsprechende theoretische Untermauerung zusammengesucht, die seine Erfahrung theoretisch unterstutzen, wobei terminologische Inkonsistenzen deutlich sind. Sozialontologische Reflexionen hat er nicht be141
trieben, dazu war er nicht ausgebildet. Der Unterschied zwischen Theorie und Menschenmodell war ihm reflex vermutlich nicht bekannt. Rogers hat versucht, die psychische Dynamik des Menschen auf dem Hintergrund eines Modells, das aus dem nichtmenschlichen Bereich stammt, zu veranschauUchen. Ein individuumszentriertes Menschenmodell, wie es Rogers in seinem Organismusmodell expliziert hat, meint, dass das Individuum autonom ist in dem Sinne, dass es nicht grundlegend von einem anderen Menschen abhangig ist, es sozialontologisch gerade nicht relational verfasst ist. Es wurde oben gezeigt, dass die Aktualisierungstendenz den Menschen zu seinem Ziel hintreibt, vorausgesetzt, dass er ein entsprechend forderliches Milieu vorfmdet. Das autonome Individuum braucht fiir seine Entwicklung den Anderen im Sinne einer forderlichen Umweh, und nur in dieser Funktion, und gerade nicht als den unverwechselbaren Anderen. Die zwischenmenschliche Beziehung kommt hier hochstens funktional, als notwendig fur den Einzelnen, nicht aber als wechselseitiges, relationales Geschehen in den Blick. Die Abhangigkeit vom Anderen als Anderem ware als eine ontologisch fundierte Relationalitat zu verstehen. Dies wird auch in der Kritik an Rogers' Konzeption deutlich. Friedman (1987), meint beispielsweise, so Schmid, dass „entweder die Aktualisierung der Ich-Du-Beziehung unterzuordnen sei oder die Ich-Du-Beziehung eine Funktion der Aktualisierungstendenz ware" (Schmid 1994, 192). Beck (1991) sieht ebenfalls die Positionen von Buber und Rogers in diesem Punkt als diametral entgegengesetzt (vgl. Beck 1991, 113). Nach Eisenga ist Rogers Menschenbild „eine undeutliche Mischung von vorwiegend individualistischen und nur wenig dialogistischen Ztigen" (Eisenga 1989, 34). Beziehung ist fiir Rogers eine Funktion der Selbstwerdung. Schmid hat sich an verschiedenen Stellen mit dem Personverstandnis in der Geschichte auseinandergesetzt und richtig die historisch erkennbaren Kontrapositionen „Substanz versus Relationalitat" herausgearbeitet (z.B. Schmid 1991, 1994).^* Fiir ihn geht die Kritik an Rogers „von einem falschen Entweder-Oder zwischen dem relationalen und dem substantiellen Personverstandnis aus, die jedoch beide als konstitutiv fiir die menschliche Person gesehen werden mlissen" (Schmid 1994, 192f).^^ Schmid konstatiert eine Spannung zwischen der Selbststandigkeit und der Beziehungsangewiesenheit (vgl. Schmid 1994, 193; 1997, 200), die fiir ihn den Personbegriff des personzentrierten Ansatzes kennzeichnet (vgl. Schmid 1997, 200). „Diese Spannung findet sich in der Therapie wieder: wenn es darum geht, dass der Klient durch die Beziehung er selbst wird, dabei begreifend, was er immer schon selbst war und erst noch werden kann. Und wenn es darum geht, dass der Therapeut authentisch er selbst und doch einfuhlend und wertschatzend ganz auf den anderen bezogen ist. Die Spannung ist in jeder hilfreichen Beziehung gegeben" (ebd.).
Man wird sagen miissen, dass Rogers wohl mit ziemlicher Sicherheit keine Kenntnis von diesen unterschiedHchen Personbegriffen gehabt hat. Er hat Texte gelesen und sich gegebenenfalls mit bestimmten Aussagen identifiziert. ^^ Schmid scheint hier dem bei Theunissen (vgl. Kap. 3) angefiihrten Verstandnis von Relationalitat zu folgen.
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Das autonom verstandene Individuum kann nicht zugleich ontologisch relational fundiert sein, es kann nicht zugleich autonom und vom Anderen abhangig sein. Die Annahme einer Aktualisierungstendenz im Sinne Rogers schlieBt letzteres aus. Schmid geht es um die Spannung zwischen Beziehung und Selbstwerdung. „Person ist nach dem personzentrierten Verstandnis also einer, der sein Selbst-Sein in einmaliger Weise, unaustauschbar verwirklicht, indem er sich mehr und mehr zu jener Personlichkeit entwickelt, die er sein kann; indem er flir andere da ist, sein Menschsein in tiefster Weise so vollzieht, dass er anderen Raum gibt, sie (in diesem Sinne) liebt, weil er selbst sich als ein von den anderen her Ermoglichter und ,Geliebter' vorfindet: als einer, der schon angesprochen wurde, bevor er noch selbst sprechen konnte, und nun Antwort gibt und Verantwortung ubernimmt und tragt - und diesen Prozess selbst wieder bei anderen aufs Neue hervorruft" (Schmid 1997, 200, im Orig. insgesamt hervorgehoben). Wende ich mich dem Anderen zu, weil man sich auch mir zugewandt hat, so gilt: do ut des. Dann bekommt Zu-Wendung eine moralische Note. Dann geht es um den Ausgleich zwischen autonom verstandenen Individuen. Zuwendung ist hier nicht ein Teil der Selbstverwirklichung, sondern ich wende mich zu, weil man sich auch mir zuvor zugewandt hat. Dieses Moment steht unverbunden neben der Selbstwerdung. Schmid erklart beides wechselweise zur Bedingung des Anderen. Hier muss unterschieden werden zwischen konkreten Spannungen zwischen Menschen und einem widerspriichlichen Personbegriff. Es ist bezeichnend, dass fiir die Selbstwerdung Beziehung erforderlich ist, dass die Zuwendung zum Anderen aber nicht als ein Teil der Selbstwerdung betrachtet wird. Dann plotzlich argumentiert Schmid normativ. Ich wende mich zu, weil sich Andere zuvor mir zugewandt haben, aber nicht: weil diese Zuwendung fiir unsere nie abgeschlossene Entwicklung notwendig ist. Die Zuwendung zum Anderen, also die Kommunikation, gehort zu unserer Selbstwerdung. Natiirlich bleibt, gerade bei sog. hierarchischen Beziehungen, die Frage: was habe ich von der Kommunikation mit diesem Menschen? Jemanden ansprechen, weil ich angesprochen wurde, heiBt zugleich: ich brauche ihn jetzt nicht, aber er braucht mich jetzt. Das ware eine Spannung. Hier fehlt die Begrtindung fiir die Kommunikation zwischen reifen Menschen, aber auch zwischen Lehrer und Schiller, einem sog. hierarchischen Verhaltnis. „In der dialogischen Spannung von Ganz-auf-den-Anderen-bezogen-Sein (Solidaritat) und Ganz-selbst-Sein (Autonomic) geschieht Selbstverwirklichung dialektisch als Aktualisierung der gegebenen Moglichkeiten in den jeweiligen Beziehungen, also nicht ,aus sich selbst' allein, sondern aus der Begegnungserfahrung" (Schmid 1998, 26). Zumindest ist spater auch fiir Schmid klar, dass Rogers zunachst ganz individuumszentriert vorgegangen ist. Das „Beziehungsaxiom" setzt Rogers spater voraus, „auch wenn er es nicht explizit als Axiom formuliert" (ebd. 28). Unvereinbar ist ein individuumszentriertes Modell mit der Erfahrung der Notwendigkeit zwischenmenschlicher Beziehung. Schmid versucht diese Unvereinbarkeit zu „losen", indem er Relationalitat und Substantialitat fiir gleichurspriinglich erklart. Der Klient wird durch die Beziehung er selbst, der Therapeut soil zugleich authentisch er selbst und einfiihlsam sein. 143
Der Klient wird, was der Therapeut schon ist: er selbst. Das ist das Ziel. Damit der Klient dieses Ziel erreicht, braucht er die Einfuhlsamkeit des Therapeuten. Offen bleibt, warum ein Therapeut dies uberhaupt tun sollte. Schmid bleibt damit in der gleichen Aporie wie Rogers stecken. Beiden gelingt es nicht, ihre Erfahrung widerspruchsfrei theoretisch zu fassen. Genausowenig gelingt es ihnen, die Notwendigkeit von gelingender Kommunikation ausreichend zu begriinden, sie bleibt eine Behauptung. Der Andere wird letztlich auf eine Funktion im Dienste der Selbstwerdung reduziert. Die Ambivalenz der Erfahrung wird in der Theorie nicht erklart, sondem das Unvereinbare wird gleichzeitig als zutreffend behauptet, die Substantialitat zugleich mit der Relationalitat. Dies bestatigt die Vermutung, dass ein individuumszentriertes Menschenmodell, und das Organismusmodell ist ein solches, hier grundsatzlich seine Grenzen hat, d.h. die Notwendigkeit des Anderen fiir den Einen steht in Widerspruch zur behaupteten Autonomie. Im Vergleich mit Rogers' Ansatz bietet der Psychiater, Philosoph und Psychotherapeut Dieter Wyss in seinem anthropologisch-integrativen Psychotherapieansatz einen ganz anderen, philosophisch ungleich reflektierteren Zugang zur zwischenmenschlichen Kommunikation im Allgemeinen und ihrer Bedeutung fiir das psychotherapeutische Geschehen im speziellen an. Die Auseinandersetzung mit seiner Konzeption ermoglicht so in der Folge eine weitere Ausdifferenzierung der Thematik.
5.3 Dieter Wyss^^ 5.3.1 Vorbemerkung zum Werk von Dieter Wyss*"^ Menschsein ist fiir Dieter Wyss (1923-1994) grundlegend kommunikativ verfasstes In-derWelt-Sein. Phanomenal weist er diese Thematik in der kleinen Schrift „Lieben als Lemprozess" (1981) auf und systematisiert seinen Ansatz in einer Trilogie. In ihren beiden ersten Banden, „Beziehung und Gestalt" (1973) und „Mitteilung und Antwort. Untersuchungen zur Biologic, Psychologic und Psychopathologie von Kommunikation" (1976) geht es um den Menschen in Krankheit und Gesundheit sowie um „die ,Lehre von der Kompensation', d.h. von den Moglichkeiten der Gleichgewichtsfmdung in kommunikativen, widerspriichlichen Prozessen der Lebewesen und des Menschen" (1976a, 19). Den letzten Band der Trilogie bil-
Ausfuhrlich bearbeitet wurde diese Thematik in Rothe (1995). ^"^ Dieter Wyss studierte Medizin und Philosophie, war Mitarbeiter von Viktor v. Weizsacker in Heidelberg, Lehrstuhlinhaber fiir Psychotherapie und Medizinische Psychologic in Wurzburg sowie Mitbegriinder der „Deutschen Gcsellschaft fiir anthropologische und daseinsanalytischc Medizin, Psychologic und Psychotherapie". Wyss zeigt in seinen Arbeiten eine umfassende Kenntnis der abendlandischen Geistes- und Kulturgeschichte, auf deren Hintcrgrund er dann seine eigene Anthropologic und Psychotherapie entwickelt und in ihren verschiedensten Facetten ausleuchtet. Seine Arbeiten sind zugleich philosophisch, medizinisch, psychologisch, psychotherapeutisch, sie beschafligen sich dariiber hinaus mit Biologic, Chemie und Physik und umfassen auch Gedichtbande und Romane. Dieses Uberschreiten von mehreren Fachgrenzen in vielen umfangreichen Monographien und Artikeln wie auch seine an Heidegger angelehnte, nicht immer leicht verstandliche Sprache mogen Griinde fiir seine sehr geringe Rezeption sein.
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det „Zwischen Logos und Antilogos" (1980), wo „die Antinomik menschlichen Daseins und Bewusstseins in seinen Fundamentalbezugen zu Zeit und Sein, zu Tod und Intersubjektivital entfaltet" (Lang 1995, 1) wird. Wyss selbst bezeichnet es als eine ,,'Wiedereinfuhrung' der klassisch antiken Ontologie vermittels der Todeserfahrung" (Wyss 1980, 679). 1982 erfolgt gemeinsam mit Mitarbeitem „Der Kranke als Partner. Lehrbuch der anthropologisch-integrativen Psychotherapie" eine zwei Bande umfassende Wendung seines Ansatzes ins Praktische. Krankheit wird hier verstanden als Ausdruck eingeschrankter Kommunikation; Ziel einer Therapie ist daher die Kommunikationserweiterung. Zwischen 1986 und 1987 erscheint die Trilogie „Neue Wege in der psychosomatischen Medizin", eine Reflexion der Psychosomatik in ihren verschiedensten Facetten, Bd. I: „Vom zerstorten zum wiederentdeckten Leben. Kritik der modemen Biologie" (1986a), Bd. II: „Erkranktes Leben - Kranker Leib. Von einer organismusgerechten Biologie zur psychosomatischen Pathophysiologic" (1986b), Bd. Ill: „Der psychosomatisch Kranke. Zwischen Krisen und Scheitem" (1987a). Seine letzten groBen Arbeiten kreisen urn die Themen Irrationalitat, Religion und Ethik, so „Traumbewusstsein? Grundziige einer Ontologie des Traumbewusstseins" (1988), „Die Philosophic des Chaos Oder Das Irrationale. Die Bestimmung des Menschen in einer irrationalen Welt'(1992), „Psychologie und Religion. Untersuchungen zur Ursprtinglichkeit religiosen Erlebens" (1991), und posthum erscheint noch „Kain. Eine Phanomenologie und Psychopathologie des Bosen. Dokumente und Interpretation" (1997). Wyss spannt den Bogen von einer ganz genauen phanomenalen Analyse empirischer Phanomene Uber deren widerspruchsfreic Zuordnung in einem Menschenmodell sowie dessen weltanschauliche Rtickbindung und ethische Konsequenzen hin zu praktischen Interventionen im Rahmen der Psychotherapie. Es ist der Versuch, ein umfassendes System der Wirklichkeit des Menschen und des Seins insgesamt, eine umfassende Anthropologic und Ontologie, zu erstellen. Wyss bleibt sich dabei allerdings der Grenze und Relativitat auch seines Entwurfes bewusst, weil, wie er wiederholt betont, der Mensch letztlich nicht feststellbar ist (vgl. Wyss 1982a, 64). „Die Heterogenitat der derzeitigen psychoanalytisch-psychotherapeutischen, psychologischen Hypothesenbildungen bedingen letztlich die Unverbindlichkeit aller und damit die eigentliche Krise der Psychologie und Psychopathologie, der Psychotherapie, ihr zunehmendes Abwandern in Subkulturen aller Art. Sie ist Krise, da der ontologisch auf ein wie auch immer zu interpretierendes absolutes Sein bezogene Ausblick im Zuge dieser Entwicklung sich verstellt hat bzw. er nicht einmal flir diskussionsfahig gehalten wird. Der ,Krisenpunkt' wird durch die eben erwahnte, auffallende Divergenz in den therapeutischen Zielen der verschiedenen Schulen manifest" (ebd. 63). Kemgedanke dabei ist der Mensch als grundlegend kommunikativ verfasstes In-der-WeltSein. Seine eigenen Bemuhungen bezeichnet Wyss als
^^ Wyss selbst hat sich bemiiht, an verschiedenen Stellen eine Kurzfassung der zentralen Gedankengange seiner Konzeption zu geben (vgl. z.B. Wyss 1976b, 545-557; 1991b, 521-539; 1982a, 62-134). Seinen eigenen Ansatz einer „anthropologisch-integrativen" Psychotherapie versteht Wyss als eine „Weiterfuhrung und Systematisierung der existenzial-anthropologischen Konzeption" bzw. als „eine Synthese der tiefenpsychologischen
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„eine den neuzeitlichen Subjektivismus und wertfreien Psychologismus iiberwindende Riick- und Vorwartsbegriindung und -bindung der Psychologic in eincr mctaphysischanthropologischcn Konzeption. Dicse bcmiiht sich, sowolil die antik-scholastische Philosophic (universalia ante rem), die Erkenntniskritik der Aufklarung (Kant) als auch den phanomenologischen Subjektivismus und die Existenzialontologie zu einer neuen ,Einheit' zu integrieren und damit der Psychologic und Psychoanalyse (Ticfenpsychologic) ihren Ort im Verhaltnis zu dcm ,Scin' oder der ,Transzendenz' zu vcrmittcln, d.h. sic werden als Wissenschaft vom Menschen neu fundiert und konstituiert" (cbd. 64). Wyss hat sich mit der abendlandischen Geistesgeschichte intensiv auseinandergesetzt, greift fur seinen Ansatz insbesondere auf die Vorsokratiker, die Lebensphilosophie, Phanomenologie, Existenzphilosophie und die Psychoanalyse zuriick, verarbeitet diese kreativ bzw. integriert sie in sein eigenes Konzept (vgl. Wyss 1976b) Husserl, Heidegger, V. v. Weizsacker inspirieren ihn in besonderer Weise. Bei aller Orientierung an Gedankengangen anderer hat Wyss einen umfassenden eigenen Entwurf vorgelegt, dessen Komposition absolut originar ist. Daher wird in der folgenden Darstellung der Wyss'schen Grundgedanken auf die vielfaltig moglichen Hinweise bezuglich deren Urspriinge verzichtet. 5.3.2 Die kommunikative Grundbezogenheit von Subjekt und Welt Welt und Subjekt sind nach Wyss in der Verfassung des Moglichen begriindet, dessen Gewahrwerden mit der aktiven wie passiven Erfahrung von Veranderung zusammenfallt. Das Mogliche ist das Konstituens alles Lebendigen und bewirkt die Kontingenz unserer Erfahrung. Erfahrung der Wirklichkeit meint daher, dass der Horizont des Moglichen durch das Unmogliche eingeschrankt wird (vgl. Wyss 1973, 20). Phantasie und Traum sind hingegen ohne Einschrankungen, Wandlungen gehoren zu ihrer Natur (vgl. ebd. 36). „Das Mogliche stellt dicse Welt durch den Zufall in Fragc. Es erscheint im Riss, der sich durch die Planungen zicht, im technischen oder menschlichen 'Versagen', im harmlosen Kurzschluss mit alien sich daraus ergebenden Konsequenzen, die die rationale Welt von einem Augenblick zum anderen wie einen Handschuh umstiilpen, und in der, dem Traum vergleichbar, plotzlich wieder ,alles moglich' ist" (ebd. 37). Das Mogliche als konstituierender Grund alles Lebendigen fiihrt Wyss zu der ersten Grundannahme seines Menschenbildes: der grundsatzlichen Indeterminiertheit des Menschen (vgl. Wyss 1976b, 545; 1991, 522). Das Mogliche stellt die Existenz permanent in Frage.
und existenzialontologischen Schulen" (Wyss 1976b, 545). Bis auf jene wenigen Autoren, die sich dieser neuen „Wurzburger Schule" verpflichtet wissen, gibt es meines Wissens keine Literatur, die sich kritisch mit dieser Konzeption auseinandergesetzt hat, sieht man von Karle (1984) ab (vgl. zur Kritik Karles Rothe 1995, 2125). Ein Schriftenverzeichnis bis 1985 fmdet sich bei Biihler & Weiss (1985, 373 ff), das seitdem noch um einige Arbeiten angewachsen ist.
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5.3.3 Wirklichkeit als Kommunikation 5.3.3.1 Das Postulat der wechselseitigen Bezogenheit: Menschsein als In-der-Welt-Sein Die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt veranschaulicht Wyss an der erkennbaren Relation zwischen dem Auge, also einem Organ, und der Umwelt. Die spezifische Funktionsweise der Augenmuskulatur ermoglicht erst die visuelle Fixierung eines Gegenstandes, d.h. die Unterscheidung des Deutlichen, gestaltpsychologisch gesprochen des Vordergrundes vom undeutlichen Hintergrund. Das Auge begriindet Beziehung zur Umwelt, aber auch umgekehrt ist die Welt auf Wahmehmung hingeordnet. „Wahmehmung und Welt, Organe der Wahrnehmung und wahrgenommene Umwelt sind demnach in ihrer leibhaften Fundierung aufeinander von Anfang an zugeordnet" (Wyss 1973, 41). Umwelt ist also nicht eine, die im Akt der Fixierung erst geschaffen wird. Wahmehmung und Sich-Zeigen „sind komplementare Pole eines einzigen Zusammenhanges, der Welt als Welt konstituiert" (ebd. 51, im Orig. hvgh.), sie bilden eine Fundamentalstruktur des In-der-Welt-Seins, die Gleichzeitigkeit von SichBeziehen und Auf-etwas-bezogen-Werden. Diese Beziehung ist es auch, die bestimmt, ,,was deutlich oder undeutlich ist [...] das Deutliche oder das Undeutliche sind die Variablen der Beziehung zwischen Wahmehmendem und Sich-Zeigendem" (ebd.). Mensch und Welt sind also in vielfacher Weise aufeinander hin angelegt. 5.3.3.2 Die Dynamik der Bezogenheit Wyss macht im Folgenden detaillierteste Phanomenanalysen, auf die hier aber aus Platzgrunden nicht naher eingegangen werden kann. Unter „Wirklichkeit" versteht Wyss „J/e stdndige Korrespondenz von Beziehung und Bedeutung'' (Wyss 1973, 87), von meinen Sirmen mit der Umwelt. Wirklichkeit ist „Immer-schon-in-Beziehung-Sein", ist die Komplementaritat von Wahmehmen und Sich-Zeigen - ein dynamischer Prozess. Im Austausch mit der Welt entscheide ich, wem Bedeutung zukommt. Die Reaktionen auf meine Wirkungen sind nichts anderes als deren Bedeutung, die ich erfahre. Beziehung und Bedeutung erscheinen, dynamisch gesehen, als Wirken und Gegenwirken. Genauer betrachtet handelt es sich dabei um einen Austausch, ein „Geben" und „Nehmen" (vgl. ebd. 104), das fur Wyss ein Grundprinzip der gesamten belebten Natur darstellt. Der Stoffaustausch ist „ein Grundmerkmal des Lebendigen iiberhaupt, dem zwar die personale Relation von Geben und Nehmen fehlt, das aber nichtsdestoweniger unter der Kategorie des Austausches zu fassen ist" (ebd. 102f). Geben und Nehmen bilden nach Wyss einen „gemeinschaftsbildenden Faktor allerersten Ranges" in jeder Gesellschaft (vgl. ebd. 103). Den Austausch zwischen einem Gebenden und einem Nehmenden defmiert Wyss als Kommunikation (vgl. Wyss 1976a, 24). An anderen Stellen in „Mitteilung und Antwort" (1976a) spricht Wyss auch von „Senden und Aufnehmen", „Ausstrahlen und Empfangen", von „Wirken und Gegenwirken", beide Momente sind jeweils Aspekte des einen Prozesses; das eine bedingt zugleich das andere. Die Gesamtheit dieses Prozesses nennt er „Austausch", 147
„Kommunikation" oder „Begegnung". Dass Wyss sukzessive so viele Synonyma fiir diesen einen Prozess einfuhrt, mag seinen Grund darin haben, dass er irmerorganismisch, lebensweltlich und zwischenmenschlich die gleichen Kommunikationsstrukturen gegeben sieht, die sich aber doch qualitativ voneinander unterscheiden. Wirklichkeit ist demnach fur Wyss die permanente Korrespondenz von Wirken und Gegenwirken, von Geben und Nehmen, von Mitteilung und Antwort, ist Kommunikation. Diese Dynamik ist Austausch, ist Kommunikation, d.h. Wirklichkeit ist fiir Wyss immer schon kommunikativ. In-der-Welt-Sein heiBt zu kommunizieren, heiBt immer auch abhangig vom Anderen zu sein. Zu- und Abwendung sind Momente in diesem Kommunikationsprozess. Das Mogliche vermittelt zwischen Beziehung und Bedeutung als einem Prozess von Wirken und Gegenwirken. Daraus lasst sich folgem, dass es innerhalb dieses dynamischen Prozesses keine lineare Kausalitat gibt. Allgemeine Geschehensablaufe, gleich ob in der Natur oder als „Mitteilung und Antwort", nennt Wyss „Themen" oder „Gestalten". Sie sind bildhafte fluktuierende Geschehensablaufe, die auf der vorlogischen Ebene, in „anteilnehmender Kommunikation", erlebt und im Begriff, in der „teilnehmenden oder begrifflich-noetischen Kommunikation", durch den Beobachter festgestellt werden. Gleichzeitig wird damit das Konkrete vemichtet. Themen werden so zu Konstrukten im menschlichen Denken. Beides, konflikthaftes Erleben der Wirklichkeit und dessen Homogenisierung im Begriff, sind immer gegeben und zugleich Audruck der antilogischen Verfasstheit des Menschen. Es gibt also eine grundsatzliche Diskrepanz zwischen Erleben und der Fassung des Erlebten im Begriff. Der Begriff ist nicht imstande, das Erlebte adaquat wiederzugeben. Beide heterogenen Vorgange als die Totalitat der Wirklichkeit konnen nie gleichzeitig total erfasst werden, d.h. der Mensch kann sich reflex nie einholen. Das Aufeinanderprallen zweier verschiedener Beziehungs- und Bedeutungseinheiten, von Thema und Gegenthema, von Mitteilung und Antwort, ist Konflikt. M.a.W. Kommunikation, Wirklichkeit, ist immer auch Konflikt. Er ist Voraussetzung jeglicher Veranderung, d.h. von Leben. Konflikt, so konnte man sagen, ist der Motor des Lebens. Ohne die fundamental Abhangigkeit von Subjekt und Welt sowie den ontologisch fundierten Mangel gabe es keine Kommunikation und damit keinen Konflikt. „Wirklichkeit, wenn iiberhaupt im ,letzten' fundiert, ist nicht mit den Mitteln der das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten begrtindenden Logik zu fassen, sie ist alogisch oder antilogisch, da sie sowohl Konflikte wie auch konfliktlose Phasen, Regulierung und Uberwindung von Konflikten gleichzeitig nebeneinander bietet" (Wyss 1976a, 121). Gestalt ist demnach „im letzten durch die gegliickte ,Selbstandigkeit' der Umwelt gegenuber, durch das Gleichgewicht zwischen Selbstandigkeit und gegenseitiger Abhangigkeit bestimmt" (ebd. 122). Die gelungene Gestalt zeichnet sich aus u.a. durch „gesteigerte Kommunikationsfahigkeit" (vgl. ebd.). Konflikthaftes Erleben der Wirklichkeit und dessen Homogenisierung im Begriff sind also zusammen Ausdruck einer antilogischen Verfasstheit des Menschen.
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5.3.3.3 Mangel und Bedurfen als Grund von Kommunikation Wyss geht nun in seinen Uberlegungen noch ein Sttick weiter und fragt nach dem Grund von Kommunikation. Mitteilung, und d.h. Zuwendung zur Welt, ist fiir Wyss Ausdruck eines grundlegenden Mangels, was fiir Mensch, Organismus und Lebenswelt gleichermafien gilt (vgl. Wyss 1976a, 38). Dieser Mangel bildet den diffusen Hintergrund zum konkreten Bedtirfnis. Der Mangel spezifiziert sich im Bedurfnis, dieses wiederum in konkreten Kommunikationsmodi. Er ist „das Erleben der unaufloslichen Abhangigkeit des einen Subjektes von dem anderen, der stets nur relativen Aufhebung dieser Abhangigkeit durch die Kommunikation selbst, da diese immer eine Gleichzeitigkeit von Geben und Nehmen ist" (ebd. 40, im Orig. hvgh.). Dieser ontologisch fundierte Mangel ist ein weiterer Aspekt der antilogischen Struktur des Menschen. M.a.W. Wlinschen, WoUen, Tun ist Folge des Mangels (vgl. ebd. 39), ist aber zugleich als Mitteilung auch ein Geben. Beispielhaft ist das am Organismus erkennbar. Er befmdet sich immer nur vorubergehend im FlieBgleichgewicht von Aufbau- und Abbauvorgangen, d.h. dem Lebensprozess ist ein fundamentaler Mangel eigen. Er muss sich der Welt immer wieder zuwenden, also kommunizieren, um die fehlenden Substanzen aufnehmen zu konnen. Dieser Mangel spezifiziert sich im Bedurfen nach Gleichgewicht, im Bedurfen nach Absattigung des Mangels. Bezogen auf die Lebenswelt als einen Organismus wird dort „das Gleichgewicht durch Erzeugung von Ungleichgewicht - Totung und Nahrungssuche - erhalten" (ebd. 37, im Orig. hvgh.). Allein dadurch, dass der Mangel mitgeteilt wird, erfahrt er eine erste Befriedigung (vgl. ebd. 41). Das gilt auch dann, wenn die Umwelt das Bedurfnis zuriickweist oder in Frage stellt, denn das spezifischere Bedurfnis schrankt den unspezifischeren Mangel ein, ist dessen erste Kompensation, d.h. es ist eine Reduzierung, voriibergehende Ausgleichung des Mangels. Allerdings gibt es „letztlich ftir den diffus globalen Mangel keine konkrete Erfallung. [...] Der Mangel selbst iibersteigt immer wieder die spezifische Befriedigung als letztlich nicht zu befriedigende Erfiillung" (ebd. 42, im Orig. hvgh). Kommunikation als Kompensation des Mangels weist also zwei Momente auf: einerseits ist sie Reduzierung, Einschrankung des Mangels, andererseits ist jede konkrete Befriedigung nur eine von vielen moglichen und daher ,von Natur aus' nur vortibergehend (vgl. ebd. 44). Diese nur temporare Befriedigung ist damit Grund weiterer Kommunikation, halt also den Kommunikationsprozess in Gang. In der Lebenswelt und im Organismus erfolgt diese Kompensation in weitgehend vorgegebenen Bahnen.^^ M.a.W. der Mangel ist fur Wyss ontologisch fundiert, ist die Grundlage jeder Lebensaufierung. Der Mensch hat sich nie ganz als den, „der er sein konnte, da er in seinen Moglichkeiten durch die erbliche Disposition und die jeweiligen Bedingungen seiner Umwelt dann durch die Kommunikation selbst eingeschrankt wird" (Wyss 1980, 357). Fur Wyss ist dieser Prozess der Einschrankung des unspezifisch-allgemeinen Kommunikationsbediirfen durch ar-
Mit dieser Konzeption umgeht Wyss auch die Problematik der sog. „Triebe". Diese waren dann ein spezifiziertes Bedurfen aus dem grundlegenden Mangel heraus.
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tikuliertere, differenziertere Kommunikationsweisen, wie sie etwa in der Entwicklung des Kleinkindes verfolgt werden kann, auch zugleich der Prozess der Entwicklung des Menschen zu einem Kulturwesen. „Die Differenzierung und Anamorphose des Menschen zum potentiellen Kulturtrager erfolgt generell uber zunehmend sich differenzierende, einschrankende Kompensationsweisen auf dem Hintergrund des diffusen Mangelerlebens" (Wyss 1976a, 45, im Orig. hvgh.). Wie Watzlawick et al. (1982) setzt auch Wyss Verhalten und Kommunikation gleich. „Verhalten ist spezifische Kommunikation tiber Mitteilung, Aufnahme, Antwort auf dem Hintergrund des unspezifischen Mangel-Bedurfens" (ebd. 46). Die Antwort stellt, wie die Mitteilung, ein Thema dar, genauer das „Gegenthema", gleich ob sie bejabend oder vemeinend ist. Sie ist ebenfalls zugleich Geben und Nehmen. Aber auch eine bejahende Antwort ist Einschrankung. Die jeweilige Antwort ist bestimmt von der dem Lebewesen eigenen Intentionalitat. Gleich ob positiv oder negativ, die Antwort verandert die vorherige Mitteilung. Mitteilung und Antwort sind immer antithetisch zueinander, sind gegensatzlich in ihrer Wirkung. „In der Gegensatzlichkeit von Mitteilung und Antwort wird Veranderung sichtbar. [...] Die Bejahung ist femer stets Stellungnahme auf die Provokation der Mitteilung, damit latente Abwehr derselben, die als Mitteilung immer auch ein Herausfordem von nichtenden, in Frage stellenden Moglichkeiten der Antwort impliziert. Antwort, ob bejahend oder vemeinend, ist Stellungnahme im Sinne des Sich-stellens, des Sich-aufProvokation-Beziehens, sich als Antwortender [...] zu zeigen [...]. Mitteilung, Aufnahme, Antwort stellen die zyklische Verbindung, den tragenden Grund von Kommunikation dar" (ebd. 48, im Orig. hvgh.). Grund jeglicher Mitteilung, und d.h. Zuwendung zur Welt, ist also der ontologisch fundierte Mangel, ein weiteres Moment der antilogischen Struktur des Menschen. Kommunikation ist der Versuch, diesen Mangel auszugleichen, was aber immer nur partiell gelingt, da die Erfullung spezifischen Bediirfens im Verhaltnis zum totalen und diffusen Mangel zwar eine Einschrankung, Reduzierung des Mangels bedeutet, zugleich aber nur eine von vielen moglichen Befriedigungen darstellt, und so zum Anlass weiterer Kommunikation wird. 5.3.3.4 Die Konstituierung des Subj ektes durch die Kommunikation Das Innen stellt sich der wachen Zuwendung als Selbstwahmehmung der Gedanken und Antriebe dar. Das Innen ist nur, weil es sich auf ein AuBen, die Welt, beziehen kann; es ist von ihm abhangig, weil es erst iiber diese Beziehung sich in seinem eigenen Wunschen und Wollen erfahrt. Bildhaft gleicht das Innen einem Wasserglas, in dem verschiedenste Substanzen aufgelost sind. In der Zuwendung entwirft sich das Innen als reines Bildgeschehen, als Aperspektive oder Psyche, nach auBen und begriindet so Perspektivitat. Psychische Funktionen entstehen erst in der Folge dieser Zuwendung. In der Wahmehmung erfahrt das Subjekt die Gleichzeitigkeit von Innen und AuBen, d.h. diese Unterscheidung hebt sich in der Wahrnehmung auf (vgl. Wyss 1973, 152). Trotzdem sind Innen und AuBen je Verschiedenes und nicht aufeinander zuriickfuhrbar. Das Innen des Subj ektes fluktuiert permanent und zeichnet sich durch eine ganz bestimmte antilogische Dynamik aus. 150
Wirken und Gegenwirken sind auch fiir das Innen grundlegend, d.h. auch im Innen des Subjektes findet Kommunikation statt. Ein konzentrierter Gedankengang z.B. verunmoglicht eine gleichzeitige intensive Gefuhlsregung wie etwa Freude oder triebhafte Bediirfnisse erotischer Art. Psychische Inhalte konnen des Weiteren sowohl miteinander als auch gegeneinander wirken, z.B. Gedanken gegen Antriebe. Zu starke Bewegung oder Ruhe liber einen langeren Zeitraum sind immer Hinweise auf krankhafte Prozesse. Die Bewegung im Innen ist ebenso kommunikativ wie die zwischen Innen und AuBen. Die Konfliktsituation ist fiir Wyss demnach normal. Grund der Zuwendung ist das Streben nach Identitat. Uber Zuwendung entsteht Konflikt, der die Identitat zwischen Subjekt und Umwelt aufhebt, aber auch im Widerstand gegeniiber einem eigenen Trieb. Fiir Wyss vermittelt der Konflikt zwischen dem Moglichen der Aperspektive und den Moglichkeiten der AuBenwelt. Folge ist Differenzierung, Entwicklung und Veranderung, d.h. das Erleben von Zeit und nicht zuletzt das Vermogen der Reflexion (vgl. ebd. 200). Das Subjekt ist zugleich Erleben und Reflexion des Erlebten, es ist die Einheit antilogischer Akte. 5.3.3.5 Die Grundstrukturen der Kommunikation Wenn wir forschen und unsere Ergebnisse darlegen wollen, miissen wir in der Beobachtung lebendige Vorgange zerlegen, was nichts anderes bedeutet, als zu strukturieren. Ohne Strukturierung konnen wir nicht erkennen, andererseits geschieht dabei, wie Wyss es nennt, die „Vernichtung der konkreten Anschaulichkeit durch den Begriff (Wyss 1976a, 64). Schemata oder so genannte Modellvorstellungen sind als Konstrukte realitatsverfalschend, da in diesen der lediglich ideale Bezug der vom Subjekt verbindlich dargestellten Zusammenhange - z.B. des Atommodells - sichtbar wird. M.a.W. Schemata verfalschen letztlich die Realitat und werden auf die Weise konstruiert, die sie zugleich auch inhalflich aussagen. „Psychisches Geschehen entzieht sich bereits in seinen Ansatzen dieser Eindeutigkeit" (ebd. 67). „Je vieldeutiger dagegen ein Bezugssystem erscheint, je fundamentalere Begriffe es durch die phanomenologische Reduktion entwickelt, um Vieldeutigkeit psychischen Geschehens verstandlich zu machen und gegen das (konstruiert) Eindeutige abzugrenzen, um so mehr wird es der psychisch-umfassenden Realitat gewachsen sein. Je deutlicher ein Bezugssystem Subjekt und Welt in ihren vielfaltigen Bezogenheiten auf- und zueinander darzustellen vermag, gleichzeitig aber unter dem Umgang mit psychischen Vorgangen vieldeutiger wird, umso adaquater erfasst es psychische Realitat. Diese wird aber auch dann dem totalen Anspruch auf ,Begriffen-Werden' durch den Menschen dank ihrer bildhaft-antilogischen Verfassung entziehen" (Wyss 1973, 191). Wirken und Gegenwirken des psychischen Geschehens „lassen nur unter kiinstlichen Bedingungen des Experimentes, unter besonderen Anlassen die lineare Folge naturwissenschaftlicher Kausalitat beobachten. Die naive Ubertragung des mechanischen Modells auf psychische Vorgange ist nicht statthaft und flilirt zumeist zu falschen Ruckschlussen" (ebd.). Bisher wurde die Transzendierung des Subjekts naher bestimmt als Mitteilung, Aufnahme und Antwort. Eine weitere Ausdifferenzierung erfahrt nun das In-der-Welt-Sein als Kommunikationsprozess durch Strukturen und Modi. Strukturiert ist das Subjekt in Raum, Zeit, Leis151
tung iind Leib. Die rdumliche Strukturierung wiederum zeigt sich als Lebensraum, Orientierung und Ordnung. Der Lebensraum umfasst geographische wie klimatische Faktoren, soziale Faktoren wie z.B. dorflicher oder stadtischer Umraum, Wohnen im Hochhaus oder in Einzelhausem, Wohnungseinrichtungen usw. Die innerraumliche Orientierung des Subjekts meint seine Beziehung zu Normen, Weltanschauungen oder Religionen, wie sie im Lebensraum in bestimmter Weise und durch ganz bestimmte Personen (Vorbilder) vermittelt werden bzw. wurden. Es geht um die geistige, religiose Orientierung, also Richtung. Richtung erfordert aber immer Raumlichkeit. „Orientierung bestimmt darliber hinaus das Verhalten des Individuums zu seiner Umgebung (Normen), das Verhalten ist stets immer auch Antwort auf schon erfahrenes, anderes Verhalten" (Wyss 1982a, 74). Ordnung bezieht sich auf das Umfeld „im Sinne von Geordnet-Sein der auBeren Lebensverhaltnisse" (ebd.). Sie bezieht sich ebenso auch z.B. auf die Kleidung wie auf andere Dinge, die die jeweilige Gesellschaft als ,ordentlich' begreift. „Die Ordnung stellt die VerauBerlichung der Orientierung dar" (Wyss 1976a, 245). Zeit, so Wyss, wird vermutlich erst durch den Menschen erfahren. Kommunikation als Mitteilung und Antwort zeigt sich als „Nacheinander von Veranderungen" (ebd. 59) in verschiedenen Modalitaten, die er in Anlehnung an Heidegger „Verfassungen" nennt (vgl. ebd. 252f). Zeit und Mangel sind fLir Wyss nahe „verwandt": es geht um „Nicht-Mehr" (Vergangenheit), „Noch-Nicht" (Zukunft) und „Jetzt" (Gegenwart). Zeit war die Verwirklichung der Vergangenheit, also des Nicht-Mehr, und sie konstituiert und hebt zugleich das Jetzt wieder auf Der Zeit kommen quasi Eigenschaften zu, die Kommunikation als auch den Mangel als solche kennzeichnen. Kommunikation produziert den Mangel, den sie beheben will. „NochNicht" und „Nicht-Mehr" entsprechen der „Gleichzeitigkeit von „Setzen" und „Aufheben" (Nichten)" (ebd. 255). Hierin wird wieder eine antilogische Struktur sichtbar. Eine weitere Struktur der Zeitlichkeit ist die Verantwortung. ,,'Du hast es ver-antwortet', d.h. zu einer bestimmten Antwort veranlasst" (ebd. 257). Man weiB sich fur die Antwort der Umwelt verantwortlich. „Geschichtlichkeit entsteht durch Auseinandersetzung, in der sich mogliche Identitat im Sinne des Bei-sich-selbst-Seins des Individuums zeigt, das als eines, in verschiedenen Situationen seinen (Ordnungs-)Prinzipien entsprechend, sich zumindest ahnlich verhalt. Geschichtlichkeit macht die Konsequenz, die innere Folgerichtigkeit des Handelns aus, die (relative) Selbstdarstellung des Subjektes in der Leistung" (ebd. 260, im Orig. hvgh.). Die Vergangenheit kann nie zur Ganze aufgearbeitet werden, weil in der Erinnerung vollig subjektiv aus den vergangenen Ereignissen Gegenstande herausgegriffen werden. Geschichtlichkeit setzt nach Wyss unbewaltigte Vergangenheit voraus. Bewaltigung gelingt nur in Bruchstiicken. Das Unbewaltigte aber provoziert weitere Auseinandersetzung, damit Erinnerung und Geschichtlichkeit. Leistung ist fiir Wyss die Struktur, durch die Kultivierung stattfmdet. In der Leistung stellt sich der Mensch, zumindest bis zu einem gewissen Grade, selbst dar. Daher hat Kommunika152
tion, sofem es sich dabei um eine Art Selbstdarstellung handelt, ebenfalls Leistungscharakter. Leistung meint auch die Beziehung, die der Mensch zu seiner Arbeit hat, was sie ihm bedeutet, zu der Weise, wie er sie leistet. Leistung ist immer kommunikativ, insofem sie z.B. auch Auseinandersetzung mit vorhandenen oder nicht vorhandenen Leistungsnormen bedeutet. Das Subjekt gewinnt „uber das die Leistung voUbringende Handeln Jdentitat' mit der Leistung selbst" (ebd. 271, im Orig. hvgh.).^^ Nach Wyss ist der Leib die fundamental Struktur. In ihm verschranken sich Raum, Zeit und Leistung. Gemeint ist mit der Struktur des Leibes aber nicht nur das organische Existieren, sondem sie meint auch die Beziehung zur SinnUchkeit, also Erotik und Sexualitat, zur eigenen Wahmehmung und Bewegung, und zur Emotionalitat insgesamt. Das Verhaltnis dieser vier Grundstrukturen zueinander beinhaltet die Moglichkeit, dass sie miteinander in Konflikt geraten, sich aber auch durch Verbiindung starken konnen. Die Entwicklung des Menschen ist zugleich eine Ausdifferenzierung „uber, in und durch diese vier ,Grundstrukturen'. Wir sind immer im Leib, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und auBem uns, d.h. leisten etwas. Er ist ihnen dispositionell, hereditar ,ausgeliefert', wie auch wiederum jedes Milieu eine Selektion innerhalb der Strukturen bewirkt und sich damit zahlreiche Konfliktmoglichkeiten innerhalb der Kommunikation abzeichnen" (Wyss 1982a, 75). Die gleichgewichtige, harmonische Verwirklichung in alien Strukturen kann daher nur ein Ideal sein. De facto wird die Kommunikation und damit Entwicklung iiber die eine oder andere Struktur, hereditar wie auch umweltbedingt, beglinstigt oder benachteiligt. 5.3.3.6 Die Kommunikationsmodi Der Mensch entwickelt sich iiber, in und durch diese Grundstrukturen, die miteinander in Konflikt stehen wie sich auch gegenseitig verstarken konnen. Zueinander vermittelt werden sie durch die Kommunikationsmodi Erkunden, Entdecken, ErschlieBen, Sich-Auseinandersetzen, Binden-Losen und Bewaltigen. Jeder dieser Kommunikationsmodi zeigt sich zudem als in unterschiedlichen Gewichtungen sowohl emotional, triebhaft, als auch noetisch gefarbt. In jeglichem Weltbezug, also in Mitteilung, Aufnahme und Antwort, bilden diese Kommunikationsmodi die jeweils Ubergeordneten Leitthemen, die Wyss auch „Einstellungen" nennt. Grundlegend bestimmt, wie gesagt, ist diese Dynamik durch das Mogliche, d.h. sie ist indeterminiert (vgl. Wyss 1976a, 103). Auf der Grundlage der phanomenologischen Methode, und d.h. in standigem Blick auf die Realitat, sind nach Wyss diese Kommunikationsmodi zu eruieren, die nicht nur die humane Kommunikation ausmachen, sondem auch in der Lebenswelt und im Organismus anzutreffen sind (vgl. ebd. 104). Hierbei geht es um ein differenzierteres Erfassen des Kommunikationsgeschehens. Alles ist Kommunikation, aber eben in einem bestimmten Modus.
Wyss ist meines Wissens der einzige, der im psychotherapeutisclien Kontext „Leistung" als eine Grundstruktur des menschlichen In-der-Welt-Seins wurdigt.
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Das Erkunden ist eine lebenslangliche Voraussetzung fur das Lemen. Es ist eine Kreisbewegung von Wahmehmung und Bewegung, ist immer Antwort auf das Wahrgenommene wie auch abwartendes Beobachten. Zugleich erfahrt sich der Mensch als Erkundender. Es ist auch ein Modus des Sich-Kennenlemens von Menschen. Das Entdecken ist ein „spezifisch auf ,Neues' ausgehendes Erkunden" (ebd. 107), Neugier, das vorhandene Erfahrungen in Frage stellt. „Entdecken von Neuem in der AuBenwelt ist stets Entdecken neuer innerer Erlebnismoglichkeiten, die bis zu dem Zeitpunkt des Entdeckens noch nicht dem Wachen, dem Bewusstsein, zuganglich waren [...] das zum Abschluss gekommene Erlebnis ist in der Begriffsfmdung vorlaufig als verfiigbares [...] gebunden" (ebd. 108, im Orig. hvgh.; vgl. 1991, 525). Im Erschliefien wird Welt zunehmend thematisiert, es „ergeben sich vorlogisch-bildhafte Oder logisch aufeinander verweisende Sinn-Zusammenhange" (Wyss 1976a, 109) wie auch Selbsterschliei3ung. Durch ihr bloBes Erscheinen werden sie „unmittelbar als Mitteilung wahrgenommen" (ebd. 110) und im Verstehen adaquat, in dem, was sie meinen, beantwortet. Es entwickelt sich die Moglichkeit, Stimmungen in der Welt zu erfuhlen, es „erschliel3t sich z.B. das Gesicht einer Person in ihrer jeweiligen Befmdlichkeit, bevor sie etwas uber sich berichtet haben muss" (ebd.). Erschliefien zeigt aber auch eine noetisch-teilnehmende Dimension, als es Bedurfnis und Bereitschaft darstellt, einer Sache oder Beziehung vertieft nahe zu kommen. Auseinandersetzung beinhaltet die Erfahrung von Widerstand, der Thematik steht eine Gegenthematik gegeniiber. Lemen ist Vermeidung von Widerstand im Umgang mit den Dingen, wie ihn der unsachgemaBe Umgang damit mit sich bringt (vgl. ebd. 111). Im Widerstand zeigt sich die Welt unkommunikativ, vemeinend, nichtend, in Frage stellend, der Entsprechendes innerweltlich korrespondiert. Auseinandersetzung ist also ein existenzialer Modus von Kommunikation und daher jedem konkreten Konflikt schon vorgegeben. „Im Binden und Losen existiert der Mensch, d.h. verhalt er sich zur Welt (transzendieren), als sich in seiner Beziehung zu dieser losend (Abwenden) oder bindend (Zuwenden), um damit den fundamentalen Charakter von Binden und Losen durch seine sich primar zu- oder abwendende Existenz zu erweisen" (ebd. 113, im Orig. hvgh.). Losung ist Abwendung und wird als Einschrankung, Kommunikationsverweigerung, als Nichtung erlebt. Bindung und Losung waren gesellschaftlich schon immer von besonderer Bedeutung und wurden entsprechend normiert. Sie sind auch Grundvorgange der logischen Begriffsbildung (vgl. ebd. 115). Bindung und Losung ist dem Menschen in den verschiedensten Bereichen moglich, weil er sich zuvor in noetischer Kommunikation der Welt zugewandt hat. Fur Wyss gibt es eine „engste Korrespondenz zwischen der Entwicklung der Denkvorgange, sozialen Regeln und dem Entstehen von Institutionen. [...] Die Entfremdungsprozesse der Denkvorgange sind Voraussetzung dafiir, dass ,entfremdete' soziale Regeln oder Institutionen eingerichtet werden" (ebd. 116).
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,,Bewahigen'' ist eine die „Auseinandersetzung abschlieBende Kompensation" (ebd. 118). Fiir Wyss ist Bewaltigung ein wesentliches Moment des gesamten Lemprozesses, insofem es die Moglichkeit darstellt, Umwelt, die nichtend erlebt wird, zu meistem (vgl. Wyss 1976a, 119). Droht eine Bewaltigung, bewusst gewordene Erfahrung, allerdings zu erstarren, dann ist Dekompensation die Folge. 5.3.4
Sozialitat und Kommunikation
5.3.4.1 Die ontologische Fundierung der Intersubjektivitat Die Mitteilung erfahrt in der Aufnahme immer eine „monadisch bedingte Veranderung", die Sender, Adressat und die Mitteilung selbst in Frage stellen und an der Antwort sichtbar wird. Hier zeigt sich nach Wyss eine „Ur-Differenz", ein Ausdruck von Konflikt (vgl. Wyss 1980, 359), die „letztlich dem monadischen Fiir-sich-Sein des Einen und dem Fiir-sich-Sein des Anderen" (ebd. 360) entspringt. Diese in den oben skizzierten Strukturen und Modi sichtbar werdende Antithetik der Kommunikation sieht Wyss in der Notwendigkeit der Trennung des Kindes von der Mutter und damit unvermeidlich mitgegebenen Verlassenheitserfahrungen fundiert (vgl. ebd. 370). Verlassenheitserfahrungen sind im Wesen der Kommunikation begriindet. Der Andere wird erst uber das Bewusstsein Nicht-Ich/Ich als Anderer objektiviert (vgl. ebd.), ausgelost durch die Antithetik der Kommunikation. Eigentlich ist es eine „doppelte Antithetik", so Wyss, derm an dem Nicht-Ich erfahrt sich das Kind wiederum als Ich (vgl. ebd. 372). Diese „ist ausschlaggebend fiir die Entstehung der jetzt gegenseitig erfolgenden intersubjektiven Konstitution in der Kindheit. Sie ist die Grundlage auch fiir die spatere Antithetik der Subjektivitat" (ebd. 372f). Die gegenseitige intersubjektive Konstitution meint aber nicht, dass ich durch den Anderen der bin, der ich bin, sondem ich bin es gegen ihn, „weil wir uns durch den Anderen in eigener Andersheit erfahren, damit den Anderen als Anderen objektivieren" (ebd. 373). Eine weitere Konsequenz dieses Gedankens ist, dass Gliick oder ein harmonischer Augenblick Aufgabe des Ich und Aufgehen im Anderen bedeuten. In der Identifikation erlebt sich das Ich als der Andere, ohne es jedoch zu sein, „und wird dariiber zum Nicht-Ich" (ebd. 377). In der immer nur vortibergehenden Aufhebung des Mangels tritt das erlebende Subjekt in den Hintergrund, es wird zum Nicht-Ich. Im Erleben des Mangels hingegen konstituiert sich das Ich. Oder anders formuliert: in der Zuwendung wird mein Ich zum Nicht-Ich, in der Abwendung konstituiere ich mich gegen ihn (vgl. ebd. 380). Der Andere in seinem schieren AndersSein bedeutet fur mich Destruktion, die zugleich Konstitution meiner selbst gegen ihn bedeu-
An dieser Stelle fugt Wyss zuvor den Kommunikationsmodus des Aufzeigens und Aufweisens ein, von dem spater (vgl. 1982a) nicht mehr die Rede ist. Er soil deshalb hier nur erwShnt sein.
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tet. Nichtung, Destruktion heifit fur Wyss „Vergegenstandlichung" des Anderen, ihm Dinghaftigkeit zuzuweisen.^^ 1st es auf der einen Seite die Erfahrung des Mangels, des Leides etwa, die das Subjekt konstituiert, so ist es in der Liebe der Liebende, wahrend der Geliebte dadurch entkonstituiert wird. Existenz liegt damit der Intersubjektivitat nicht voraus, sondem vollzieht sich allererst in ihr. Person, so Wyss, „stellt sich nur im wechselnden kommunikativen Bezug her, oder verblasst und verloscht in diesem. Sie ist nicht ,Substanz', sondem gleichzeitig Folge und Ursache wechselseitig-intersubjektiver Prozesse, stets ,bipersonar sich ereignend. Person im hier gemeinten Sinne - oder ,Personlichkeit' - erscheint als das ,Selbst', das sich im Laufe zahlreicher Konfliktsituationen zu der Existenz, stets auf den anderen bezogen, hindurchgerungen hat" (ebd. 435). Wir werden demnach nicht durch den Anderen zum Ich, sondem gegen ihn. Wir erfahren uns durch den Anderen in eigener Andersheit und objektivieren damit den Anderen als Anderen. Aufhebung des Mangels infolge Identifikation konstituiert das Nicht-Ich, im Erleben des Mangels hingegen konstituiert sich das Ich. Der Andere in seinem schieren Anders-Sein bedeutet fiir mich Destmktion, die zugleich Konstitution meiner selbst gegen ihn ist. Der Andere provoziert mit seiner Nichtung meine Selbstfmdung, die wiederum ihn relativiert. Existenz liegt damit der Intersubjektivitat nicht voraus, sondem vollzieht sich allererst in ihr. Person ist keine Substanz, sondem ereignet sich. Der Andere ist Gmnd meiner Selbstwerdung wie ich es auch fur ihn bin. Diese Gmndbezogenheit vollzieht sich zugleich als ein Mit- und Gegeneinander. Wyss spricht hier in seinem Konzept dem Menschen eine gmndlegende Bezogenheit auf den anderen Menschen zu. Der Andere ist Gmnd meiner Selbstwerdung wie ich es auch fur ihn bin. Allerdings zeigt sich diese Bezogenheit zugleich als ein Mit- und Gegeneinander. Ein ausschlieBlich harmonisches Miteinander wie bei Buber, so Wyss, schlieBt diese Konzeption aus(vgl. Wyss 1990, 158). 5.3.4.2 Zwischenmenschliche Kommunikation im Verstandnis von Wyss Praverbale Kommunikation ist schon fiir das Kind sinnhaft und verstandlich. Wyss erklart dies damit, dass das Kind zumindest tiber die Moglichkeit eines solchen Verhaltens auch selbst verfugt, dessen Bedeutung ihm durch die Antwort des Anderen auf sein Verhalten aufgeht. Der Andere provoziert in mir ein ahnliches Verhalten, das so verstandlich wird (vgl. Wyss 1980, 391). Die Wahmehmung eines Zeichens, so Wyss, wird „von den Lebewesen der gleichen Art/ Familie aufgmnd der eigenen Moglichkeit, selber Zeichen zu geben, sich zum Zeichen zu werden, ,verstanden"' (ebd. 392). Das Lacheln des Anderen etwa weckt in mir analoge Verhaltensmoglichkeiten. „Die ,Figuren' eines ,vorlogischen' Verstehens meinen stets ,Sinnvolles', d.h. Bedeutungs-Bezogenes - gleichgtiltig ob Bestatigung oder Destmktion,
Die Ahnlichkeit zu Sartre ist hier unverkennbar (s. Abschnitt 3.5).
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dies macht ihren thematischen Charakter aus. Ihre ,Verstehensgrundlage' ist die gelebteerlebte Analogie von ahnlichen Moglichkeiten des Verhaltens: der Andere erweckt das eigene, dem anderen Verhalten entsprechende" (ebd. 392f). Fur Wyss gibt es demnach insgesamt drei Arten des Verstehens: •
Das „Feedback" des Anderen auf mein Verhalten gibt diesem eine spezifische Bedeutung.
•
Das Verhalten des Anderen regt ahnliches Verhalten bei mir an.
• Die Gleichzeitigkeit von 1. und 2. Das Verstehen beruht auf Ahnlichkeit, analogem Erleben, aber ich bin nicht der Andere in seinem Erleben. „Der Andere, nicht weniger als der Organismus, bleibt als sich Erlebender mir verschlossen und deshalb alogisch" (ebd. 394). Mein Erleben ist, so Wyss, „absolut monadisch" und entzieht sich daher letztlich dem Verstehen; es besteht ein unaufhebbares Verschlossen-Sein (vgl. ebd. 395). D.h. selbst wenn ich den Anderen im Urteil verobjektiviere, kann dies aufgrund dieser urspriinglichen Verschlossenheit nie total geschehen. Er bleibt unaufhebbares Nicht-Ich, eine „monadische Differenz". Je eindeutiger die Begriffsbildung, umso mehr entzieht sich das empirische Subjekt. „Die monadische Verschlossenheit des Anderen ist die permanente Grenz- und Todeserfahrung des Anderen als eines Nicht-Ich mir gegeniiber - und umgekehrt" (ebd.). Andererseits wird diese Erfahrung in alien Kommunikations- und Erkenntnisprozessen relativiert. Dem Menschen ist demnach eine grundlegende Widerspriichlichkeit eigen. Er ist gleichzeitig Einzelexistenz und Bezogenheit auf den Anderen (vgl. Wyss 1991b, 521). Ich bin im letzten ein Einzelner, und zwar unaufhebbar, aber um als solcher sein zu konnen, muss ich kommunizieren. Da totale Kommunikation nicht moglich ist, kann diese auBerste Vereinzelung auch nie ganz aufgehoben werden. Im letzten bleibt der Mensch allein. „Die Monadizitat ist die Grenze der eigenen Existenz, die letztlich die nicht zu kompensierende Einsamkeit des Erlebens jedes Menschen beinhaltet" (Wyss 1982a, 113). Die Erfahrung des Nicht-Ich ist unaufhebbar, wird aber in alien Kommunikations- und Erkenntnisprozessen relativiert. Ich bin schlussendlich Einzelner, muss aber, um sein zu konnen, kommunizieren. Da totale Kommunikation nicht moglich ist, bleibt auch die Monadizitat unaufhebbar. Wie der Andere sich erlebt, bleibt mir im letzten verschlossen und umgekehrt. Diese auBerste Unzuganglichkeit bedingt schlieBlich unser beider Einsamkeit des Erlebens. Wyss sagt damit, dass ich zum Erleben des Anderen letztlich keinen Zugang habe, weil dies absolut monadisch geschieht. 5.3.4.3 Relationalitat als dyadisches Ereignis Fur die therapeutische Praxis, also die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, hat dieses Konzept entsprechende Konsequenzen. Ziel der anthropologisch-integrativen Psychotherapie ist eine Kommunikationserweiterung, von der beide Beteiligten als Partner in diesem Prozess betroffen sind. MaBgeblich fiir den Erfolg einer Therapie ist daher die Qualitat des intersubjektiven Prozesses. 157
Die gleichmaBige Kommunikation in alien Modi und Strukturen ist nach Wyss eine idealutopische Moglichkeit. Kommunikationseinschrankung und Konflikt bestimmen eigentlich den Menschen. Daher „ware ,Kommunikationsbeschrankung' die ,Norm', oder die Krankheit, wird Krankheit als eine in verschiedenen Strukturen eingeschrankte oder ausfallende Kommunikation defmiert. Krankheit wird jedoch erst in der Dekompensation vorhandener, das Gleichgewicht des Menschen in seinen verschiedenen Strukturen und Modi erhaltender Faktoren (die wiederum diese Strukturen und Modi selbst sind) manifest" (Wyss 1991b, 527). Wyss konstruiert damit einen Krankheitsbegriff, der psychische wie somatische Krankheiten in gleicher Weise betrifft. Krankheit heiBt, dass das Subjekt nicht mehr in der Lage ist, die Kommunikation mit sich selbst und der Umwelt aufrecht zu erhalten. In der oben dargelegten antilogischen Verfasstheit des Subjekts selbst liegt der Grund fiir seine mogliche Dekompensation. Den „gesunden" Menschen zeichnet eine „kompensierte Dekompensation", ein labiles Gleichgewicht aus. Ziel der Therapie nach Wyss ist die Aufhebung der Kommunikationseinschrankung des Patienten, eine Kommunikationserweiterung. Genauer gesagt kann es sich nur um die Kommunikationserweiterung beider handeln, sowohl des Patienten als auch des Therapeuten; sie ist Existenzerhellung und Sinnfmdung beider. Aufgrund der Selbstverborgenheit des Subjektes, seiner unaufhebbar monadischen Existenz, kann dies aber nie vollkommen gelingen (vgl. Wyss 1984, 111). Ausschlaggebend dafiir ist die Qualitat der zwischenmenschlichen Beziehung, die vielen Imponderabilien unterliegt und vor allem „technisch" nicht machbar ist; sie geschieht oder geschieht nicht (vgl. Wyss 1982a, 91, 158, 178, 272, 354). Dem Therapeuten ist vorab zumeist nicht erkennbar oder nacherlebbar, welche Wirkungen seine Worte und sein Verhalten auf den Patienten haben konnen, was seinen Grund in der monadischen Strukturierung beider hat (vgl. ebd. 364, lOlf). „Das wesentliche ,Erfolgsmoment' der Psychotherapie ist das Ereignis einer kommunikativen Veranderung, der Patient ist nach jeder Behandlung ,ein Sttick ein anderer' geworden - aber auch der Therapeut" (ebd. 90). Andererseits muss der Patient „in der Therapie erfahren und lemen, dass er und nur er in allererster Linie fur sein Leiden verantwortlich ist und letztlich nur er selbst sich helfen kann" (Wyss 1981, 106). Der therapeutische Prozess ist fur Wyss ein Gang durch die Moglichkeiten des Patienten (vgl. Wyss 1982a, 111), die Konfrontation des Moglichen, der Entwtirfe des Patienten mit dem Wirklichen, mit seinen Grenzen in der Kommunikation mit dem Therapeuten, den Menschen seines Lebensraumes und zugleich auch mit sich selbst (vgl. ebd. 163). Genesung erfolgt fiir Wyss „nicht durch das ,Was' der vom Therapeuten vermittelten Inhalte seiner Theorien, sondem durch das ,Wie' der Vermittlung, durch den ,Umgang', durch die Arzt-PatientBeziehung. Die Relativitat aller psychologischen Theorien wird durch das Absolute der Intersubjektivitat, der Beziehung aufgehoben - diese bedingt letztlich Heilung und Genesung, nicht die Theorie" (Wyss 1981, 108). Gruppentherapie ist fur Wyss den „individuellen Behandlungsformen der nichtrichtungsweisenden Verfahren erheblich unterlegen" (Wyss 1982a, 238). Sie ist allerhochs158
tens eine provisorische Behandlungsmoglichkeit, beispielsweise wenn noch kein Therapieplatz zur Verfiigung steht. Hauptkritikpunkte sind die mangelnde Kontinuitat des Prozesses zwischen Erkunden und Bewaltigen, vielmehr reiBt eine Gruppe unterschiedliche Themen und Thematiken an, die dann wieder verschwinden, wie auch Angst und Probleme des Widerstandes. Vorteilhaft ist sie fiir kontaktarme Patienten, wenn zugleich auch eine Individualtherapie erfolgt. Die Dynamik einer gruppentherapeutischen Sitzung folgt, so Wyss, „im Prinzip den gleichen Modi von Kommunikation [...] wie die tiberwiegend dialogische Therapie, nur auf eine Vielzahl von Teilnehmem verteilt" (Wyss 1982a, 239). Die Dyade ist demnach die Struktur, in der das BedUrfnis nach zwischenmenschlicher Kommunikation am besten befriedigt werden kann. So gesehen muss jede Gruppensituation im Vergleich zu einer dyadischen defizitar erscheinen. Hier wird unverkennbar, dass Wyss dem traditionellen Therapiesetting verhaftet bleibt.^^ 5.3.4.4 Leben ist Kommunikation: der generalisierte Kommunikationsbegriff bei Wyss Wiederholt wurde deutlich, dass Wyss einen generalisierten Kommunikationsbegriff verwendet. Kommunikation fmdet innerorganismisch, lebensweltlich und zwischenmenschlich statt. „Je nach Situation und augenblicklicher Verfassung des Subjekts konnen die Kommunikationsstrukturen und die Kommunikationsmodi einander einschranken. Die Einengung in einem Kommunikationsmodus kann bedingt sein durch das Uberwiegen in einem anderen, dadurch aber auch begrenzt ausgeglichen werden" (Biihler & Wyss 1980, 161). Krankheit ist Folge von Kommunikationseinschrankung. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um eine Phobic oder eine Tuberkulose handelt. „Jede Dekompensation ist fur das Subjekt sowohl ein leibhafter als auch ein psychischer Vorgang" (ebd.l61f; vgl. Wyss 1987, 370). Krankheit ist Ausdruck gestorter oder gar ausgefallener Kommunikation. „Es gibt nur eine Krankheit, die sich in einer auBerordentlichen Vielfalt von Kommunikationsstorungen sowohl organismisch-biologisch wie auch in den Arten und Weisen der zwischenmenschlichen Kommunikation darstellt" (Wyss 1976a, 388). Alles Lebendige kommuniziert: die Lebenswelt, der Organismus wie auch der Mensch. Dieser generalisierte Kommunikationsbegriff ermoglicht Wyss die Verwendung eines einzigen Krankheitsbegriffes, in eins damit auch die Bewaltigung des LeibSeele-Problems. Jede Dekompensation geschieht zugleich leibhaft und psychisch und ist Ausdruck eingeschrankter oder ausgefallener Kommunikation. Krankheit zeigt sich so als eine Vielfalt von Kommunikationsstorungen. Wyss selbst hat die Berechtigung eines so weiten Kommunikationsbegriffs ausdriicklich reflektiert. „Das eine und selbige Subjekt setzt sich in einer Infektionskrankheit mit dem Erreger, im Stoffwechsel mit Kohlehydraten, in Antipathic und Sympathie mit der Umgebung Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Wyss mit Gruppendynamik nicht sonderlich vertraut gewesen ist. Diesbezughch ist die Kritik Karles an der unzureichenden Darstellung anderer therapeutischer Konzepte bei Wyss m.E. zutreffend (vgl. Karle 1984, 140f.).
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Oder mit einer Aufgabe auseinander, erschliefit sich einer anderen Person, bewaltigt einen Konflikt - oder bewaltigt eine Intoxikation. Ware demnach Erkunden der Blutdruckverhaltnisse durch einen innerarteriellen Fiihler, Erkunden eines Spielzeuges durch ein Kind, Erkunden einer Landschaft das gleiche? Sind sie das gleiche, weil sie auf das ,gleiche' Subjekt bezogen sind? Oder sind diese kommunikativen Vorgange der Lebenswelt, der Organfunktionen, der anteil- oder teilnehmenden Kommunikation die gleichen, weil der Mensch sie mit identischen (gleichen) Begriffen festlegt?" (Wyss 1976a, 169). M.a.W. Wyss gebraucht den Begriff der Kommunikation analog, d.h. das damit Gemeinte weist sowohl zentrale Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Das Identische der Begriffe vollzieht sich nach Wyss liber dem Nicht-Identischen der Kommunikationsmodi. 5.3.5 Die weltanschauliche Fundierung der Wyss'schen Konzeption Der Urkonflikt des Menschen ist nach Wyss sein fundamentaler Mangel. Aus diesem Grunde heraus kommuniziert er, was einerseits diesen Mangel einschrankt, andererseits neuen Mangel provoziert. Dieser Grundmangel ist unaufhebbar. Der Begriff des Mangels ist nur in Zusammenhang mit seinem Gegenteil, dem Nicht-Mangel, dem Vollkommenen zu verstehen. Anders formuliert: das Sein des Menschen ist mangel-haft im Vergleich zu einem absoluten Sein. Wyss fuhrt die Krise der Psychopathologie, Psychologic und Psychotherapie darauf zurlick, dass sich dort der Blick „auf ein wie auch immer zu interpretierendes absolutes Sein verstellt hat" (Wyss 1982a, 63). Ermoglicht Kommunikationserweiterung nur ein vorlaufiges Bewaltigen der Existenz, so geschieht das letzte Bewaltigen nach Wyss „im existenziellen Bereich, ist auf die Transzendenz bezogen" (ebd. 133). Dieser Urmangel ist der Grund ftir die innere Unruhe des Menschen, wie sie schon Augustinus formuliert hat, und karm innerweltlich nicht behoben werden. Dieser Gedankengang kann seinen Ursprung in der christlichen Metaphysik nicht verbergen. Das wird schon deutlich, werm Wyss das Seiende in der Kategorie des Moglichen fundiert. Das Mogliche ist aber zugleich das Nicht-Notwendige, das Kontingente.^' Die Existenz des Menschen zeichnet sich durch eine fundamental Gebrochenheit aus. „Der Widerspruch - das ,Absurde' - bestimmt fundamental onto-psychologisch das Wesen des Menschen, er ist der ,Motor seines Werdens'" (Wyss 1991a, 19). Diese „Geworfenheit" ist das, was christlich als Erbstinde bezeichnet wird (vgl. ebd. 134). Die ideal-utopische Kommunikation beschreibt Wyss als eine sich gleichmaBig in alien Modi und Strukturen realisierende Kommunikation. Sofern sie auch dann Kommunikation ist, ist sie unverandert Folge des Urmangels, der kontingenten Verfasstheit. Das absolute Sein ware demnach ein Sein, das, weil ohne Mangel, nicht kommuniziert. Das absolute Sein kommuniziert nicht vollkommen, sondem gar nicht. Von daher ware das Ideal eigentlich die Nicht-Kommunikation. Dagegen steht allerdings die Auffassung, dass der Bezug zur Transzendenz eine vertiefte zwischenmenschliche Kommunikation ermoglicht (vgl. ebd. 130) bzw. ^' „Da nach dem metaphysische Kausalprinzip alles kontingente Seiende als solches ein wirkendes Prinzip voraussetzt, ist der Nachweis der Kontingenz der Welt der entscheidende Schritt in jedem Gottesbeweis, der auf Gott als den Urheber bzw. Schopfer des innerweltlichen Seienden schlieBt" (de Vries 1976, 202).
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sich dort bewahren muss (vgl. ebd. 139). Die Frage bleibt dann, wie man sich einen solchen Transzendenzbezug vorstellen muss. Wie soil ein letztes existenzielles Bewaltigen gerade durch den Bezug auf Transzendenz erfolgen, wenn diese nicht kommuniziert?^^ 5.3.6 Die Ambivalenz gegeniiber dem Anderen In der Konzeption von Wyss zeigt sich eine deutliche Ambivalenz gegeniiber dem kommunikativen Geschehen wie auch gegeniiber dem Anderen. In der Zuwendung zur Welt wird totale Identitat von Seiten des Kindes erwartet. Die ist dann gegeben, wenn es keine Unterscheidung, keine Trennung zwischen dem Subjekt und dem Anderen gibt.^^ An vielen Stellen erwahnt Wyss die Trennung durch die Geburt. Aufhebung des Mangels infolge Identifikation konstituiert das Nicht-Ich, im Erleben des Mangels hingegen konstituiert sich das Ich. Der Andere in seinem schieren Anders-Sein bedeutet fur mich Destruktion, die zugleich Konstitution meiner selbst gegen ihn ist. Der Andere provoziert mit seiner Nichtung meine Selbstfmdung, die wiederum ihn relativiert. Der Andere ist Grund meiner Selbstwerdung wie ich es auch fiir ihn bin. Diese Grundbezogenheit vollzieht sich zugleich als ein Mit- und Gegeneinander.^"^ Der Mensch ist also zugleich Einzelexistenz und Bezogenheit auf den Anderen. Er ist im letzten Einzelner, muss aber, um sein zu konnen, kommunizieren. Da totale Kommunikation nicht moglich ist, bleibt auch die Monadizitat unaufhebbar. Der Mensch bleibt im letzten allein. Kommunikation ist Ausdruck eines fundamentalen Mangels. Durch diesen Ansatz gelingt es Wyss nicht mehr, Kommunikation in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Eigentlich, so konnte man Wyss weiter interpretieren, wollen wir gar nicht kommunizieren, aber der Verlust der primaren Identitat zwingt uns dazu. Dieser tritt ein, wenn der Andere als Anderer fiir mich existiert. Seine Existenz ist Ausdruck meines Verlustes, zugleich brauche ich ihn zur Bewaltigung dieses Mangels, die aber immer nur eine relative sein kann. Der Andere ware so ein „notwendiges Ubel" zu relativen Bewaltigung des Mangels. Geht man diesen Gedankengang noch einen Schritt weiter, dann konnte man sagen: ein absolutes Sein, dass als solches nicht kommuniziert, der Verlust der primaren Identitat, der zur Kommunikation zwingt: Nichtkommunikation und Identitatswunsch lassen sich letztlich nur auf dem Hintergrund einer monistischen Fundierung des Wyss'schen Ansatzes verstehen.
So formuliert ist es zumindest kein personaler Bezug im christlichen Sinne, denn dieser wird gerade durch die Kommunikation bestimmt. ^^ Hier schimmert noch deutlich das psychoanalytische Symbiosekonzept durch, auf das unten in der Diskussion psychoanalytischer Konzepte noch naher eingegangen wird (s. Abschnitt 5.4). ^"^ Wyss lehnt sich hier deutlich an Sartre und Heidegger an (s. Abschnitt 3.5). Bei Sartre wird das Ich auch nur es selbst gegen den Anderen. Bei Heidegger kommt das Dasein erst im Tode zu seiner Eigentlichkeit, also ohne den Anderen. Dass der Andere in seinem Erleben und Verhalten fiir mich kontingent ist, wird nur dann ein Problem, wenn wiederum die Symbiose als der eigentlich wahre Zustand angesehen wird. Die Trennung bedingt die Konstitution des Ich, es gibt keine totale Zuganglichkeit des Anderen, und wenn, dann nur um den Preis des eigenen Ich.
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Dem gegeniiber steht andererseits aber die Kommunikationserweiterung als Heilungsvorgang, von dem beide, Therapeut wie Patient, betroffen sind. Existenz liegt damit der Intersubjektivitat nicht voraus, sondem vollzieht sich allererst in ihr. Person ist keine Substanz, sondem ereignet sich. MaBgeblich ist fiir Wyss dabei die Qualitat der Kommunikation, die geschieht, und nicht technisch machbar ist. Seine Grenzen erfahrt dieser Prozess an der grundsatzlichen monadischen Verschlossenheit des Menschen. Wir konnen den Anderen im letzten nicht erreichen, und das Bedauem dariiber ist bei Wyss uniiberhorbar. Aber bedeutet nicht der Versuch, den Anderen ganz erreichen zu wollen, zugleich den Versuch, die Trennung zwischen mir und dem Anderen aufzuheben? Jemanden „ganz" kennen heiBt, ihn seiner Andersheit, seines mir grundsatzlich Entzogen-Seins zu berauben. Kommunikationserweiterung geschieht optimal in der Dyade, Gruppentherapie ist eine Notlosung, ist dem gegenuber grundsatzlich defizitar. In der Konsequenz dieser Uberlegung wird dann verstandlicher, warum Wyss die Dyade als optimale soziale Konstellation ansieht, die aber vom Grunde her schon ambivalent ist. Sie ist notwendig und unumganglich ftir die Kommunikation. Die Gruppe, also eine Pluralitat von Beziehungen, ist nur eine Notlosung; sie birgt die Gefahr der Abweichung vom Ziel der Kommunikationserweiterung. Eine Beziehungspluralitat gefahrdet dieses Therapieziel. Am Ende bleibt dann das letztlich unerreichbare monadische Subjekt, das seine Existenz nur durchstehen kann, da der fundamental Mangel unaufhebbar bleibt. Man wird schlussendlich konstatieren miissen, dass Wyss ein ambivalentes Verstandnis der zwischenmenschlichen Kommunikation und des Sozialen darlegt. Einerseits jene, wie sie sich in seiner therapeutischen Konzeption zeigt, wo sich Therapeut und Patient gemeinsam in dem einen Prozess der Kommunikationserweiterung riskieren. Diese Dynamik kann sich ohne eine positive Beziehung zwischen beiden nicht entwickeln, allerdings konnen wir einander im letzten nicht erreichen. Fundiert wird dies von seinem Verstandnis von zwischenmenschlicher Kommunikation als Ausdruck eines fundamentalen Mangels. Sie ist Ausdruck der grundlegend und unaufhebbar defizitaren conditio humana. Letztlich kann ein solcher Entwurf einen tief greifenden Pessimismus gegeniiber dem „Diesseits" nicht verbergen. Er liegt meines Erachtens in der Konsequenz des ontologisch fundierten Mangels, d.h. in der Weltanschauung von Wyss.
5.4 Psychoanalytische Metapsychologie und empirische Sauglingsforschung: der ^relational turn" der Psychoanalyse Rogers wie Wyss sind der Auffassung, so konnte gezeigt werden, dass eine gelingende Kommunikation zwischen Therapeut und Klient unbedingt notwendig ist. Rogers kann seine Uberzeugung nicht fundiert begriinden, Wyss, der urspriinglich von der Psychoanalyse herkam, bleibt gegenuber dem Anderen letztlich ambivalent. Auch im Rahmen der psychoanalytischen Diskursgemeinschaft wird die Eigenart der zwischenmenschlichen bzw. speziell psychotherapeutischen Beziehung, von „Relationalitat" bzw. „Intersubjektivitat", diskutiert. Die 162
Konfrontation der Psychoanalyse mit den Ergebnissen der neueren Sauglingsforschung hat im Rahmen der psychoanalytischen Diskursgemeinschaft eine Reihe von Diskussionen ausgelost. In engem Zusammenhang mit ihnen steht auch der sog. „relational turn" der heutigen Psychoanalyse (vgl. Altmeyer 2004), wobei es eigentlich nicht korrekt ist, von „der" Psychoanalyse zu reden. Thoma konstatiert in der Psychoanalyse einen kaum mehr iiberschaubaren Pluralismus, Subjektivismus und Eklektizismus (vgl. Thoma 1999, 820). „Die typischen schulspezifischen Theorien bewirken eine so groBe Variation auf der Ebene der klinischen Erfahrung, dass von der Gemeinsamkeit, die Wallerstein gesucht und gefunden zu haben glaubt, nicht viel ubrig bleibt" (ebd. 823). Altmeyer meint ahnlich: „Im metapsychologischen Modellwettbewerb haben der Konzeptreichtum und auf klinischer Ebene die Methodenvielfalt Dimensionen angenommen, die nicht mehr zu iiberschauen sind" (Altmeyer 2004, 1111), und stellt eine „institutionelle(..) und konzeptionelle(..) Diffusion" (ebd. 1112) fest. Zusatzlich erschwert werde die Verstandigung durch die Generierung je eigener Terminologien, deren Ubersetzung kaum noch machbar erscheine, und zudem das Gesprach mit Nachbarwissenschaften entsprechend erschwere, da diese letztlich nicht wtissten, wer ihr „eigentlicher" Gesprachspartner sei. Altmeyer bezweifelt iiberdies, dass es heute noch jemanden gebe, der das gesamte psychoanalytische Wissen seit ihrer Entstehung parat habe und fiihrt dazu eine ganze Reihe von Beispielen an. Einen wesentlichen Grund fiir die interne Zersplitterung, aber auch Isolierung von den anderen Wissenschaften sieht Altmeyer im „Konfessionszwang". Wer nicht bestimmten „Grundwahrheiten" zustimme, sei Dissident bzw. Haretiker (vgl. ebd. 1113f). Altmeyer sieht die Bewegung des psychoanalytischen Diskurses in drei Richtungen als Antwort auf die Krise der Psychoanalyse: „organisationspolitisch in Richtung Offnung bzw. Inklusion, forschungsstrategisch in Richtung Empiric und Wissenschaftsorientierung, praktisch-klinisch, aber auch metapsychologisch in Richtung Relationalitat oder Intersubjektivitat" (ebd. 1112). Die Offnung der psychoanalytischen Metapsychologie gegeniiber den Ergebnissen empirischer Forschungen stoBt im psychoanalytischen Diskurs nicht auf ungeteilte Zustimmung, wie etwa die Diskussionen zwischen Andre Green und Daniel Stem (vgl. Sandler et al. 2000) oder zwischen Dahl (2001a, 2001b), Domes (2001b) und Altmeyer (2001) gezeigt haben. Dahl vertritt die Meinung, dass ein metapsychologisches Konzept psychoanalytisches Denken ermogliche, aber keine empirisch iiberpriifbaren Hypothesen liefere, dass daher die Erkenntnisse der neueren Sauglingsforschung die psychoanalytische Metapsychologie der friihen Kindheit tiberhaupt nicht tangieren wiirden. Die Metapsychologie wie auch die Theorien der Sauglingsforscher und Intersubjektivisten seien gleichermaBen reine Spekulation, denn „kein Ergebnis empirischer Forschung kann uns je sagen, was ,wirklich' ein Baby in welcher Weise erlebt, was es fuhlt oder wovon es traumt. Und so geht es in der aktuellen Debatte letztlich um Metapsychologie versus empirische Forschung, letztere vertreten vor allem durch die Intersubjektivisten und durch die Sauglingsforscher" (Dahl 2001, 625). 163
Spekulation liegt auch im Ausgang von unbewussten Entitaten, „von unbeobachtbaren GroBen, die plausible und koharenzstiftende Annahmen ermoglichen sollen, mit denen psychoanalytisch gedacht werden kann. [...] Unter diesem Verstandnis ist die Metapsychologie tatsachlich immun gegen jede positivistische Widerlegung, sie ist weder beweisbar noch widerlegbar" (ebd. 626). Die psychoanalytische Methode sei eben eine Methode, die sich mit unbekaiint bleibenden intrapsychischen Vorgangen befasse. „Die Wahl ist letztlich eine Frage der Entscheidung, die wohl auch einer ganz personlichen Geisteshaltung entspringt" (ebd. 628). Auch Altmeyer ist der Meinung, dass es ein Irrtum der Empiriker sei, „wenn sie meinen, aus der reinen Beobachtung der frlihen Mutter-Kind-Interaktion erschlieBe sich die Erlebniswelt des Sauglings. Sie muss, wie Stem (1992, 16) zugesteht, ,erfunden', d.h. konstruiert werden" (Altmeyer 2001, 620). Damit hat Altmeyer sich richtigerweise gegen einen naiven Empirismus in der Sauglingsforschung verwahrt. Domes konzediert in einer Antwort auf Dahl, dass Theorien haufig Unbeobachtbares enthielten, die daher selbst auch nicht empirisch iiberpriift werden konnten, wohl aber Vorhersagen Oder Konsequenzen, die auf ihnen basierten (vgl. Domes 2001b, 613). „Wie Ricoeur (1977) feststellt, markiert die Plausibilitat den Punkt, an dem sich der hermeneutische Zirkel der Psychoanalyse offnen und in Kontakt mit anderen Bereichen des Wissens oder der Spekulation treten muss, in diesem Fall mit dem Wissen iiber die Sauglingsentwicklung. Dies ist die Form der indirekten Relevanz, um die es hier geht. Obwohl indirekt, kann sie nichtsdestotrotz eine groBe Kraft entfalten. [,..] Die Psychoanalyse formuliert in dieser Sichtweise uberwiegend keine direkt iiberpriifbaren Hypothesen, und das von ihr produzierte Wissen - nach dem Modell von HypotheseA'^orhersage/Uberpriifting. Aber das hermeneutisch oder sonstwie geftindene Wissen steht in Zweifel, wenn es den aus anderen Bereichen stammendem Wissen widerspricht. Dann ist es nicht mehr plausibel. [...] Der Preis fiir das Festhalten an indirekt widerlegten/unplausiblen Theorien - sei es nun des Todestriebs oder eine andere - ist aber, dass diese Theorien irrelevant fiir die Welt werden" (Domes 2001b, 617). Mit einer Position, wie sie hingegen Dahl vertrete, entziehe sich die Psychoanalyse dem wissenschaftlichen Diskurs. „Trotz der unermesslichen Komplexitat des Seelenlebens konnen sich gegenseitig ausschlieBende Theorien uber dieselben Phanomene nicht gleichermaBen wahr sein. [...] Unter neuer Fragestellung sind wir mit dem alten Problem konfrontiert, wie die Theorie(n) das therapeutische Denken und Handeln beeinflussen" (Thoma 1999, 821). Nicht nur im Hinblick auf die kontroverse Diskussion iiber die Bedeutung der empirischen Sauglingsforschung fiir den psychoanalytischen Diskurs, sondem auch hinsichtlich eines noch differenzierten Blicks auf das Phanomen „zwischenmenschliche Kommunikation" selbst ist es zielfiihrend, sich in einem nachsten Schritt einige Ergebnisse der neueren Sauglingsforschung zu vergegenwartigen.
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5.5 Die Ontogenese zwischenmenschlicher Kommunikation 5.5.1
Einige Ergebnisse der neueren Sauglingsforschung: Wahrnehmung, Affekte und Kognition im Sauglingsalter^^
Die Wahmehmungsfahigkeit gehort zu den zentralen Momenten in der zwischenmenschlichen Kommunikation. So konnen Sauglinge beispielsweise ihre Mutter schon unmittelbar nach der Geburt an der Stimme und nach wenigen Tagen am Geruch erkennen, sehen im Alter von etwa sechs Monaten fast wie Erwachsene. Noch erstaunlicher ist ihre zumindest teilweise angeborene Fahigkeit zur intersensorischen bzw. kreuzmodalen Wahrnehmung, d.h. der Koordination der verschiedensten Sinneswahmehmungen des gleichen Gegenstandes, so dass dieser als einheitliches Objekt erkannt wird (vgl. Domes 1999, 43). Die Gestalt eines Objekts oder auch eine Handlung lost zugleich auch einen bestimmten Affekt in einer jeweils bestimmten Intensitat und mit spezifischen Eigenschaften aus, z.B. kann ein Lachen leise, drohnend, abgehackt, ironisch usw. sein. Objekte erscheinen hart oder fragil, Handlungen geschehen abrupt oder weich etc. „Sanfte Tone sind so verkniipft mit sanften Bewegungen des Objekts und mit sanften Korper- und sensorischen Empfmdungen des Subjekts" (ebd. 85), d.h. zu einem sanften Tonfall passen keine abrupten Bewegungen. Sauglinge bevorzugen beispielsweise den Ton, der zum Helligkeitsgrad des zuvor gesehenen Lichtes passt. Sie konnen unterscheiden, ob eine gehorte Stimme mit einem gezeigten Gesicht synchron geht oder auch nur um 4/10 Sekunden davon abweicht und bevorzugen synchrone Wahmehmungen (vgl. Stem 1994, 45f).^^ Der Saugling nimmt also die Gemeinsamkeiten dieser verschiedensten Sinnesmodalitaten wahr und kann die Objektwahmehmung vereinheitlichen.^^ Die Welt erscheint ihm demnach, entgegen friiherer Annahmen, nicht als Chaos von Sinneseindriicken und separierten Empflndungen. Affektausdrucke sind Indikatoren fiir subjektive Empfmdungen und in eins damit Signale fur andere. Sie beeinflussen erheblich die zwischenmenschliche Kommunikation. Die sog. Primar- oder Basisaffekte des Gesichts sind universal, d.h. kulturinvariant, wie die Forschun-
Es geht im Folgenden nicht darum, sSmtliche Ergebnisse der Sauglingsforschung prasent zu machen (vgl. dazu Domes 1990, 1998, 1999, 2002, 2004), sondem nur Fahigkeiten, die besonders kommunikationsrelevant erscheinen, zu erinnem. ^ Das Synchronisieren von Filmen ist ein Beispiel daflir, dass diese PrSferenz auch im Erwachsenenalter genauso gegeben ist. So ist es unublich, Filme fur den amerikanischen Markt zu synchronisieren, eher werden entsprechende Filme neu fur den amerikanischen Markt gedreht. Wer kaum Erfahrungen mit der Synchronisation fremdsprachlicher Filme hat, wird sich an der Asynchronizitat zwischen Mundbewegung und gesprochenem Wort in jedem Fall storen. Im deutschsprachigen Raum hat die Synchronisation fremdsprachiger Filme schon eine lange Tradition, doch lassen sich hier Qualitatsunterschiede feststellen. Eine gute Synchronisation wird genau den Anfang und das Ende der entsprechenden Mundbewegungen beriicksichtigen, wenn moglich auch einen deutschen Text wahlen, der den gezeigten Mundbewegungen sehr ahnlich zu sprechen ist. Als Erwachsene erleben wir es beispielsweise als storend, wenn im TV Korrespondentenberichte via Satellit etwas spater zu horen als zu sehen sind. Gleiches gilt fiir alte Filme, deren Tonspule noch getrennt lauft. ' Lyrik wie Prosa haben fiir uns u.a. dann Qualitat, wenn es Uber die Sprache gelingt, diese anderen Sinnesqualitaten in uns zu evozieren. Ein schones Beispiel fiir die Verkniipfung von Musik, Farbe und Bewegung ist Walt Disneys Film „Fantasia" aus den 1940er Jahren, der 1998 neu herausgegeben wurde.
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gen von Eibl-Eibesfeldt (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1984) und Ekman (1988) (s. Abschnitt 4.3) gezeigt haben: Freude, Interesse-Neugier, Uberraschung, Ekel, Arger, Traurigkeit, Furcht, Scham, Schuld (vgl. Domes 1999, 113). Kulturabhangig sind hingegen die sog. Affektzeigeregeln, die solche Emotionsausdriicke modifizieren. Im Gesichtsausdruck des Sauglings lassen sich in den ersten drei bis vier Monaten mindestens sechs verschiedene Affekte nachweisen (vgl. ebd. 120). Bis etwa 18 Monate driickt sich in seinem Gesicht ziemlich rein die aktuelle Gefuhlssituation aus. „Bevmsstes Maskieren oder Posieren von Gesichtsausdriicken gibt es erst ab drei Jahren [...] und ein implizites Wissen um Ausdrucksregeln ist fruhestens mit drei bis vier Jahren naehweisbar" (ebd. 115). Hinsichtlich der Verbindung zwischen Gefiihl und Ausdruck meint Domes, dass es wohl Gefiihl ohne Ausdmck, aber keinen Ausdmck ohne Gefiihl geben konne.^^ Ausdmck hat Signalfunktion, Gefiihl motivierende Funktion. Ersterer gilt dem Anderen, letzteres schafft Handlungsdispositionen bei einem selbst. Ein angstlicher Gesichtsausdmck bei nicht vorhandener Angst wtirde den Anderen zu Handlungen veranlassen, die nicht adaquat v^aren (vgl. ebd. 124f). Dies gilt natiirlich nur im Sauglingsalter, derin wie schon erwahnt, konnen Kinder ab drei Jahren ihren Gesichtsausdmck bereits bewusst maskieren. Auch die begleitende nonverbale, nicht mimische Ausdmcksweise sttitzt die initiale Konkordanz (Arm-, FuBbewegungen, Korperhaltung, Blickkontakt etc.). „Diese Konkordanz verschiedener affektiver Verhaltensweisen untereinander erhoht die Wahrscheinlichkeit flir die Richtigkeit der Annahme, dass der Gesichtsausdruck von einem entsprechenden Gefiihl begleitet ist, weil die anderen Affektindikatoren dasselbe anzeigen. [...] In der Regel werden einige, aber nicht alle expressiven, motorischen und autonomen Komponenten eines Affekts zusammen auftreten" (ebd. 126). Ein Beispiel fur vorhandene Gefiihle, die sich nicht im Gesichtausdruck zeigen, ist das schon anfangs erwahnte sog. Moebius-Syndrom (s. Abschnitt 2.1.2), das sich in Form einer Lahmung der Gesichtsnerven zeigt, die es den Betroffenen unmoglich macht, ihr Gesicht zu bewegen. Dies erschwert den sozialen Kontakt der Betroffenen erheblich, vor allem im Kindesalter, denn w^ie die sog. Still-face-Experimente gezeigt haben, losen starre Gesichter Unbehagen und Angst aus und werden im sozialen Umgang entsprechend bekampft bzw. gemieden. Der Saugling kann mit etwa sechs bis sieben Monaten einen Zusammenhang zwischen mimischem und stimmlichem Affektausdmck der Mutter herstellen (vgl. Domes 1998, 134). Hinsichtlich der Affekte konkurrieren zwei Richtungen miteinander. „Die sog. Differenzierungstheorien der Emotionen behaupten, dass am Anfang des Lebens Emotionen global und nur wenig voneinander abgegrenzt sind (z.B. Bridges 1930, Sroufe, 1979); die Theorie der diskreten Affekte (Tomkins 1962, 1963; Izard 1977) behauptet das Gegenteil. [...] Die klassische psychoanalytische Affekttheorie kann man den Differenzierungstheorien zurechnen. Eine ihrer Grundannahmen ist, dass das Neu-
Man erinnere sich hier an die Ausfuhrungen von Kirchhoff (s. Abschnitt 4.3.1), wonach ein Mensch immer Ausdruck zeigt. Dass dieser ein Gefiihl anzeigt, das gar nicht vorhanden ist oder anderes maskieren soil, ist unbestritten. Es macht aber keinen Sinn, von einem Gefiihl ohne Ausdruck zu reden. Ausdruck ist immer gegeben.
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geborene ausschlieBlich durch die Gefiihle von Lust und Unlust beherrscht wird" (ebd.). Letzteres halt Domes fur falsch. Das spezifische Ausdrucksmuster der Primaraffekte ist interkulturell identisch. Der Saugling beherrscht schon die meisten davon, d.h. sie gehoren bereits zu seiner Grundausstattung. Ftir Domes ist es plausibel, „dass eine weitgehende Entsprechung von Gesichtsausdmck und Gefiihl wahrscheinlich ist" (ebd., 135). Zum Affektleben gehoren nicht nur die Basisaffekte, sondem auch verschiedene Erlebnisqualitaten wie z.B. Zeit- und Intensitatserleben. „Ein guter Teil der Einflihlung des Sauglings in die Mutter beruht auf der Wahmehmung von Tempo und Intensitat ihrer verschiedenen LebensauBerungen. An ihnen sptirt er ihre Befindlichkeit" (ebd., 136). Diese Erkenntnisse stellten, so Domes, die Brauchbarkeit der psychoanalytischen Triebtheorie in Frage, die ja vom Primat der Triebe (Lust und Unlust) gegeniiber den Affekten ausgehe. Affekte werden bis zum Alter von 18 Monaten nur sensorisch durch Handlung und Wahrnehmung ausgelost. Erst mit dem Erwerb der Symbolfunktion, d.h. der Fahigkeit, sich einen Gegenstand oder Handlung phantasieren zu konnen, kann auch Phantasie einen Affekt hervormfen. Trotzdem sind nur sensorisch ausgeloste Affekte nicht einfach Gefiihlsvorlaufer; sie beinhalten ein breites Erlebnisspektmm. Domes geht davon aus, ,,dass Affekte und ihre Verdnderungen schon vom kleinsten Saugling als differentielle Gefiihle gespiirt und wahrgenommen werden und dass die Integration sensorischer und perzeptueller Daten im Gehirn, die zum Gefiihl fiihrt, auf dieser elementaren Ebene kein kognitiver Prozess ist. Affekte sind dann das Ergebnis der Wahmehmung von Informationen aus hierarchisch untergeordneten korperlichen Regulierungssystemen, wobei die Wahmehmung direkt ist und nicht auf elaborierte kognitive Einschatzungs- oder Auswertungsprozesse angewiesen. [...] Im Laufe der Entwicklung fmdet eine kognitive Anreicherung der Affekte und eine zunehmende Interaktion von Kognition und Affekt statt" (Domes 1999, 129f). Gerade in der Psychotherapie kommt es ja haufig vor, dass ein Patient bestimmte Affekte gar nicht wahmimmt. Dies ist fiir Domes eher eine Folge „sozialisatorischer Einfliisse" und nicht ein Initialzustand. Auch wenn es sehr unterschiedliche Formen beispielsweise des Glticksempfmdens gibt, so sind sich diese Empfmdungen doch ziemlich ahnlich. Der Gefuhlstonus bleibt wahrend des gesamten Lebens ziemlich konstant (vgl. ebd., 130), was zur Kontinuitat unseres Selbstgefiihls beitragt. Allerdings fordert es auch die abnehmende Bereitschaft zur Veranderung, eben well Affekte derart zum Kem des Selbstempfmdens zahlen. Gegenstande existieren ftir den Saugling nur so lange, wie sie anwesend sind bzw. er Kontakt mit ihnen hat. Er hat also keine Objektvorstellung, sondem eine Objektempfmdung. „Mutter", so Domes, ist ftir den Saugling eine Gesamtheit von Empfmdungen, die ihre Gegenwart in ihm provoziert. Diese Erfahrungen speichert er und so kann er sie auch wieder erkennen, wenn er die Erinnerung mit den gerade aktivierten Sinneseindrticken vergleicht. „Vor dem Erwerb der Symbolfunktion gibt es keine halluzinatorische Wunscherfiillung, sondem nur aktuelle Bediirfnisbefriedigung oder Frustration" (ebd., 139). Der Saugling kann sich z.B. die Realitat erst im Alter von 12 bis 18 Monaten umphantasieren, also mit dem Erwerb der
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Symbolfunktion. So kann er auch nicht uber die abwesende Mutter nachdenken, well er sie eben noch nicht symbolisch reprasentieren kann (vgl. ebd. 140). Daher gibt es auch keine Abwehrmechanismen, sondem nur AbwehrmaBnahmen. „Primarprozessdenken, dessen zentrale Charakteristika Verdichtung und Verschiebung innerhalh eines SymholgefUges sind, ist erst ab eineinhalb Jahren moglich. [...] Ohne symbolische Reprasentation kann eine Triebregung von der Realitat frustriert, aber nicht vom Ich verdrangt werden, weil die Verdrangung bekanntlich nicht am Trieb selbst, sondem an dessen Vorstellungsreprasentanz ansetzt" (ebd. 140f.). Domes halt daher die Triebtheorie insgesamt fur unzureichend. 5.5.2 Die Kommunikation zwischen Saugling und Betreuungsperson 5.5.2.1 Die kommunikativen Fahigkeiten des Sauglings Dem Blick und den Blickdialogen zwischen Saugling und Betreuungsperson kommt besondere Bedeutung zu.^^ „Schon in der ersten postnatalen Woche schaut das Neugeborene besonders geme Gesichter an und reagiert auf unterschiedliche Reize der Pflegepersonen" (Petzold 1995, 391). Aufgmnd von Experimenten liegt der Schluss nahe, dass eine Praferenz fur das menschliche Gesicht angeboren ist (vgl. Stem 1994, 49), d.h. „dass ein Schema oder ,Bild' eines menschlichen Gesichts in unseren Genen verschliisselt ist, in unserem Nervensystem reflektiert wird und sich letztlich in unserem Verhalten ausdruckt, ohne dass dem spezifische Lemerfahrungen voraufgehen miissen" (ebd.). Wahrend 70 % der gemeinsamen Zeit schauen Mtitter ihre Babys an. Das Kleinkind kann Objekte nur in einer Distanz von ca. 20 cm klar sehen. Das schirmt zugleich vor einer Menge Reize ab. „Somit weist das Zusammenspiel von Anatomic, normaler Position und naturgegebener visueller Kompetenz auf das miitterliche Antlitz als einen ersten Schwerpunkt im friihen Aufbau der hervorstechenden visuellen Welt des Babys und als einen Ausgangspunkt fiir das Entstehen seiner friihen Beziehungen zu Menschen" (ebd.).^^^ Das Neugeborene selbst hat eine Vielzahl von Gesichtsausdriicken, d.h. das neuromuskulare System des Gesichts ist relativ ausgereift. Es gibt von Geburt an „erkennbare Konfigurationen, die spater im Leben zu sinnstiftenden sozialen Hinweis-Reizen werden" (ebd. 58), wobei es dabei individuelle Unterschiede gibt. In den ersten Wochen zeigt es ein endogenes oder reflektorisches Lacheln, d.h. dieses Lacheln entsteht offensichtlich nicht aus dem sozialen Kontakt, sondem ist Ausdruck neurophysiologischer Erregung. Zwischen sechs Wochen und drei Es wird auch schon von pranataler Kommunikation gesprochen. „Das Ungeborene ist fiir ein solches interplay', das im letzten Schwangerschaftstertial in Bewegungsspielen mit der Mutter, mit dem Vater (z.B. durch Druck auf die Bauchdecke und spielerische Reaktion) Ausdruck fmden kann, von der Evolution fur die Erfahrung des Anderen gertistet. Dem Organismus eignet eine urspriingliche Intentionalitat zur Welt und zum Mitmenschen hin (etre-au-monde, Merleau-Ponty; etre-a'l'autrui, Levinas)" (Petzold 1995, 351). ^^ Nach Petzold kommen Blickdialoge bei Primaten nicht vor, und Sauglinge, die Blicke vermeiden, gehoren zu einer Risikogruppe. „Der ,gazing dialogue' [...] konstituiert ein Grundmuster des Zwischenmenschlichen, das uber die Lebensspanne hin in alien Situationen bedeutsam bleibt" (Petzold 1995, 443f). Er schliefit daraus, dass die Verweigerung des Blicks, wie etwa im klassischen psychoanalytischen Setting, durch den Therapeuten dysfunktional sei (vgl. ebd. 445).
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Monaten wird es zunehmend exogen. Lachen als Reaktion auf auBere Reize erscheint zwischen dem 4. und 8. Monat. Ab der 6. Woche kann das Kleinkind fixieren und die Fixierung auch beibehalten. Dies wirkt als Interesse, als Eindruck, dass man wirklich angeschaut wird. Ende des 3. Monats ist das Entfemungssehen ahnlich wie bei Erwachsenen ausgebildet, d.h. es gibt eine nahezu vollstandige Blickkontrolle, was fiir andere Kommunikationssysteme, z.B. das Sprechen, keinesfalls gilt (vgl. Stem 1994, 59). Was den Saugling am anderen Gesicht fasziniert, ist weniger das Gesicht als ganzes, sondem das Gesicht als Gesamtheit einer spezifischen Reizkombination. Es ist „die richtige Kombination von fesselnden Reizelementen. Andere Studien haben gezeigt, dass die scharfen Winkel, die die Augenwinkel bilden, sowie der Hell-DunkelKontrast von Pupille zu Augenweili (Sklera) und von Augenbraue und Haut das Kleinkind besonders faszinieren. Von Anfang an ist das Kleinkind also ,darauf eingestellt', das menschliche Gesicht fesselnd zu finden, und sieht sich die Mutter bewogen, soviel Interesse wie moglich auf ihr bereits ,interessantes' Gesicht zu lenken" (ebd. 50). Mit etwa 7 Monaten reagiert der Saugling auf Emotionsausdriicke von Seiten der Betreuungsperson mit entsprechenden Gesichtsausdrucken (vgl. ebd. 153). Altmeyer erwahnt auch die „Spiegelneuronen", die Anlass geben woirden, beobachtete Handlungen auch selbst innerlich mitzuvoUziehen, sie gewissermaBen virtuell auszufahren und spricht von einer „elementaren Intersubjektivitat der Wahmehmungs- und Erlebensprozesse" (Altmeyer 2004, 1119f; vgl. Gallese & Goldmann 1998; Gallese 2000, 2001, 2005, 2006). Genauer betrachtet handelt es sich darum, dass sich im Beobachter der Handlung eines anderen Menschen die gleichen Neuronen und Muskeln aktivieren wie beim Handelnden selbst. Von daher wird vermutet, dass wir schon durch die Beobachtung ein Gespur dafur bekommen, wie sich eine bestimmte Handlung anfiihlt. Es seien aber, so Domes, keine realen sensorischen Empfmdungen, sondem „als-ob-Gefuhle" (vgl. Domes 2002, 316; s. Abschnitt 6.2.2). Bei der Futterung beispielsweise beobachtet der Saugling die Mutter nicht nur von auBen aus einer egozentrischen Perspektive, sondem die Wahmehmung ihrer Aktivitat, wenn sie selbst den Mund demonstrativ aufmacht, um dem Saugling zu zeigen, was er tun soil, lost in ihm eine Resonanz aus, „die es ihm ermoglicht zu spiiren, wie sich die Mutter bei der Ausfiihmng der Bewegung fiihlt" (ebd. 317). Besonders erlebbar wird es, wenn wir jemandem beim Biss in eine Zitrone zuschauen. Der Beobachter kann kaum verhindem, dass auch bei ihm selbst die Speichelproduktion zunimmt. Es geschieht also die Teilnahme an einer Handlung eigentlich aus beiden Perspektiven und das „stiftet ein korperlich verankertes Gemeinschaftsgeftihl, das wahrscheinlich die erste Form von Intersubjektivitat ist. Braten spricht von einer ,bodily intersubjective communion', Merleau-Ponty von ,Zwischenleiblichkeit' und Meltzoff und Moore meinen, dass durch die korperliche Angleichung bei der Imitation die groBtmogliche gefuhlsmaBige Nahe zweier Partner erreicht wird, ohne dass deshalb ein symbiotisches Gefiihl entstehe" (ebd. 318). Dem Saugling ist demnach eine unmittelbare gefuhlshafte Teilhabe mitgegeben als Voraussetzung fiir wesentliche Lemprozesse. Domes spricht von rezip169
roker Aktivitat, etwa beim Flittem, well sich die Fiitterungsaktivitaten der Mutter gewissermafien auch im Saugling abspielen wiirden. Auch wenn hier noch viel Forschungsarbeit aussteht, so wiirde doch die Funktionsweise dieser Spiegelneuronen hinsichtlich des Verstehens die oben schon geschilderte Diskussion um die „Einfuhlung" und das „Verstehen" des Anderen (s. Abschnitt 4.3) endlich voranbringen. Schon friiher hatte Domes bemerkt, dass „die Details der wechselseitigen Regulierung der Interaktion und die genaue zeitliche Abgestimmtheit der in sie eingebundenen Verhaltensweisen" sich „ini MiUisekundenbereich" bewegen. „Auf die so erhobenen Befunde sind die klassischen behaviouristischen Begriffe wie Stimulus, Response und Latenz nicht mehr sinnvoll anwendbar, well z.B. die Reaktionszeit in Interaktionen jede bekannte Latenz unterschreitet. Die Antwort (Response) ist oft in einem MaBe gleichzeitig und synchron auf den Reiz abgestimmt, dass der Eindruck eines gemeinsamen Tanzes entsteht und nicht der einer linearen, nacheinander ablaufenden Sequenz" (Domes 1999, 38). Die Spiegelneuronen wiirden verstandlich machen, warum hier eine so hohe Geschwindigkeit vorliegt, dass der Eindruck der Gleichzeitigkeit, des Tanzes entsteht. Das Kleinkind ist nicht passiv, sondem sucht aktiv nach Reizen, nach Stimulation. Ab drei Monaten hat die kognitive Stimulation primare Bedeutung. „Langweilig wird flir das Kleinkind ein Reiz, wenn es dessen Natur ,erfasst' hat und tiber eine 30 Sekunden lange Pause hinweg ,erinnert'. [...] Der zweite Punkt ist der, dass ein Reiz, der ,ansprechend' und interessant bleiben soil, nicht immerzu wiederholt werden darf. [...] Die Reizereignisse, also ihre Verhaltensweisen, miissen fast standig modifiziert werden, wenn das Aufmerksamkeitsniveau aufrechterhalten werden soil" (Stem 1994, 74f). Dabei scheint der Saugling daran interessiert zu sein, „RegelmaBigkeiten zu entdecken, Erwartungen zu entwickeln und diesen Erwartungen gemaB zu handeln" (Emde 1993, 292). Das Kleinkind bildet von einem wiederholten Reiz ein Schema, „so dass die Stimulation nicht nur von den Eigenschaften des Reizes selbst ausgeht, sondem auch von seiner Beziehung zum Schema des Kleinkindes" (Stern 1994, 76), d.h. das Kind hat bei einem Reiz schon bestimmte Erwartungen an ihn. Weicht er davon ab, darm wird diese Abweichung zur eigentlichen Reizquelle. Das erweitert zugleich auch das Schema. Je hoher die Diskrepanz, desto hoher die Aufmerksamkeit. Wird der Toleranzpunkt iiberschritten, d.h. die Diskrepanz ist zu groB, dann stellt das Kleinkind keine Beziehung mehr zwischen Objekt und Schema her und die Aufmerksamkeit erlahmt (vgl. ebd. 77). „Eindeutig werden Reize, die zu intensiv oder zu inkongruent sind, oder die sich in irgendeiner Weise zu rasch oder mit zuviel Fluktuation aufbauen, als aversiv erfahren" (ebd. 84). Zu betonen ist, dass sich all diese „Kompetenzen" ausgepragt nur in einem Zustand der „wachen Inaktivitat" zeigen. Nur in diesem Zeitfenster scheint der Saugling besonders aufmerksam und empfanglich fur Stimulation zu sein. Ab etwa drei Monaten kann der Saugling 15 Minuten und langer konstant auf die Umgebung achten und reagieren. Die Experimente mit Sauglingen konnen folglich nur in einem sehr kurzen Zeitraum des Tages stattfmden. Die
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hier vignettenhaft vorgestellten Ergebnisse beziehen sich demnach nur auf diese kurze Periode wacher Inaktivitat. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt sich fiir einige Psychoanalytiker von daher die Frage, wie hoch tatsachlich die Bedeutsamkeit solcher kurzen Zeitraume sein kann. 5.5.2.2 Intuitive Parenting und Sensitive Caregiving Unterschieden wird zwischen dem sog. „intuitive parenting" wahrend des ersten Lebensjahres und dem „sensitive caregiving", das beginnt, wenn es um das langsame Sprachlemen geht. Letzteres ermoglicht eine weitere Differenzierung und Intensivierung der Kommunikation. Es griindet in Empathie und zeigt Grundmuster menschlichen Kommunikationsverhaltens, sie haben „affordance-Qualitat" (vgl. Petzold 1995, 595). Das intuitive parenting ist eine genetische Disposition. Zu ihm gehoren der automatische Augenabstand, eine kulturiibergreifende intime Distanz zwischen 0 und 46 cm, sowie der Baby-Talk. Die Mimik wie auch die Vokalisationen der Betreuungspersonen weichen zeitlich wie raumlich von jener in der Kommunikation mit Erwachsenen ab, sind ubertrieben, verlangsamt im Sprechrhythmus, eingeschrankt in der Varianz. Von besonderer Bedeutung sind z.B. Uberraschung, Stimrunzeln, Lacheln, Mitgefuhl Oder das vollig ausdruckslose starre Gesicht. „Zum Initiieren oder Signalisieren einer Bereitschaft oder Aufforderung zur Interaktion dient der gespielte Ausdruck der Uberraschung. [...] Zum Aufrechterhalten und Modulieren einer bereits vor sich gehenden Interaktion dienen das Lacheln und der Ausdruck der Teilnahme. Das Lacheln ist ein starkes affirmatives Signal, dass die Interaktion nicht nur lauft, sondern gut verlauft. [...] Zur Beendigung der Interaktion dient das Stirnrunzeln mit Kopfabwenden und Abbrechen des Blickkontakts. Dies ist ein Signal, zumindest fiir den Moment mit einer Interaktion aufzuhoren, die fiir das Baby oder fiir die Mutter oder fiir beide nicht mehr funktioniert. [...] Zum Meiden einer sozialen Interaktion dient ein neutrales oder ausdrucksloses Gesicht, zumal eines mit Blickabwenden, als ein klares Signal mangelnder Bereitschaft oder Neigung zu einer Interaktion" (Stern 1994, 20f). Wiirde sich eine Betreuungsperson einem Saugling gegentiber auf Dauer wie gegeniiber einem Erwachsenen verhalten, dann so meint Stem, ware sie nicht nur ineffektiv, sondern aversiv. Die meisten Menschen haben vielmehr eine starke Tendenz, in dieser stereotypen Weise auf einen Saugling zu reagieren (vgl. Stem 1994, 35f), d.h. diese Verhaltensweisen lassen sich ubiquitar fmden und sind nicht das Produkt individueller Erfahrung. Emde schlieBt aus all dem, das der Mensch von Geburt an uber organisierte Fahigkeiten zur Kommunikation verfugt. Dazu gehort der Augenkontakt, die Empfanglichkeit fur verschiedene Formen von Korperkontakt, anhaltende Aufmerksamkeit fiir Reize des menschlichen Gesichts und der menschlichen Stimme (vgl. Emde 1993, 293f). „Es gibt keinen einzelnen Entwicklungsabschnitt im Lebenslauf, etwa von der Pubertat bis zur Menopause, in dem sie biologisch oder hormonal ausgelost werden und auBerhalb dessen sie nicht auftreten konnen" (Stem 1994, 38), wobei Madchen zu Beginn der Pubertat noch besonders auf das sog.
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Kindchen-Schema reagieren.^^^ Das ganze Verhaltensprogramm der Betreuungsperson, so Eibl-Eibesfeldt (1984), wird durch dieses Kindchen-Schema ausgelost.^^^ Besonders positiv wirkt das spezifische Ausdrucksrepertoire des Kleinkindes: „die besonderen Arten des Lachelns, die Abstufungen des Aufleuchtens der Augen, der offene Mund mit zuriickgeworfenem Kopf und herausgeschobener Zunge. Die zuletzt genannte Bewegung hatte in einer Reihe von Beobachtungen in weit starkerem Masse als das Lacheln die Kraft, bei Muttem ein Schub von positiv getonten Verhaltensweisen auszulosen" (Stem 1994, 37). Das beliebteste Spiel in den ersten Monaten thematisiert die Prasentation des Gesichts. „Guck-guck" ruft Aufmeiksamkeit und Entzucken hervor (ab 4. Monat), ebenso Kopfbewegungen zum Kind hin. Jede Prasentation des Gesichts bzw. Kopfes wird von einem bestimmten Ausdrucksdisplay begleitet; das Kind erlebt so die Darbietung verschiedener Ausdriicke, die durch Pausen deutlich voneinander abgegrenzt sind (vgl. ebd. 28ff). Im Zeitraum von sechs Monaten werden die Grundlagen gelegt, um das Verhalten und die Ausdrucksformen anderer Menschen verstehen zu konnen. „Gegen Ende dieses kurzen Abschnitts seines Lebens wird es die meisten grundlegenden Ausdrucksdisplays des Menschen unterscheiden konnen. AuBerdem wird es schon die grundlegenden Konventionen und Signale kennen, die den Strom einer vokalen Interaktion regulieren" (ebd. 34). 5.5.2.3 Communing attunement Bis zum Alter von etwa 8 Monaten blicken Kinder auf die zeigende Hand und nicht auf den gezeigten Gegenstand. Erst dann sind sie in der Lage, dem Zeigen mit der Hand oder den Augen zu folgen, so dass ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus zwischen Mutter und Kind entsteht (vgl. Domes 1999, 152). Bei diesem Zeigevorgang schaut das Kind zur Mutter zuriick, um sich zu vergewissem, dass sie ebenfalls das Gezeigte sieht. Dies gilt nicht nur ftir kognitive Vorgange, sondem auch fiir Affekte. Im sog. social referencing wird sich bei fremden Gegenstanden das Kind zunachst der Affekte der Mutter vergewissem, wenn es selbst zwischen Neugier und Furcht schwankt, und je nach Reaktion der Mutter dann handeln, d.h. das Kind liest einen Affekt im Gesicht der Mutter und bezieht ihn auf die eigene Situation. Die Kommunikation zwischen Mutter und Saugling ist gepragt von Wechselseitigkeit im Blickkontakt, Vokalisierungen, Beruhmngen und Imitationen, wobei das Timing des Ineinandergreifens der Verhaltensweisen beider besonders imponiert. „Es entsteht der Eindruck eines Zwiegesprachs, in dem die gezeigten Verhaltensweisen kommunikative Handlungen sind: Einer spricht und der Andere antwortet. Diese Struktur des friihen Dialogs ist in der Literatur vielfach in Begriffen wie Reziprozitat, Mutualitat, Responsivitat und ahnlich beschrieben worden" (ebd. 66).^^^ Hier fallt auch der Vergleich mit einem Tanz. Zu beobachten ist auch, '°' Der sog. Babytalk zeigt sich im Umgang mit Puppen kaum. Die Puppe bzw. die Imagination stimuliert offensichtlich nicht dazu (vgl. Petzold 1995). '^^ Die Kindchen-Merkmale sind bei Hunden, Katzen, Vogel, Menschen dieselben ^^^ Bruner (1987) hat diese Wechselseitigkeit beim Sprechenlemen sehr anschaulich gemacht.
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dass die Betreuungspersonen bestandig einen Bedeutungsiiberschuss in die AuBerungen des Sauglings hineinlegen. Die Mutter etwa formuliert, gleich wie unverstandlich die Laute sein mogen, was das Baby „sagen" will, aber mangels Sprache noch nicht sagen kann. Stem (1985) spricht von affect attunement bzw. communing attunement zwischen Mutter und Saugling, einer Affektabstimmung, die gelingen, aber auch misslingen kann. Dabei kommentiert sie, so Domes, die Handlungen bzw. das Verhalten des Kindes zumeist in einer anderen Sinnesmodalitat, d.h. es ist nicht einfach eine spiegelgleiche Handlung. Affect attunement bezieht sich auf den Rhythmus, die zeitliche Kontur wie auch die Intensitat, und gibt damit den sich darin ausdriickenden Affekt wieder (vgl. Domes 1999, 155). Ahnlichkeit mit einem Spiegeln hat der Vorgang aber insofern, als es hier nach Domes um ein „passgenaue Affektkommentiemng" (vgl. ebd. Anm. 159). Mit neun Monaten sind Sauglinge schon sehr gut in der Lage, Abweichungen von einer Passgenauigkeit beim attunement wahrzunehmen. „Neun Monate alte Sauglinge verfiigen iiber eine gutentwickelte Fahigkeit, Abweichungen im Grad des Zusammenpassens von Verhaltensweisen, die attunement ausdrticken sollen, zu bemerken" (ebd. 158). Bei „selektivem attunement" lemt das Kind, dass nur ganz bestimmte AffektauBemngen intersubjektiv teilbar sind und andere von den Eltem mimisch oder durch Nichtbeachtung abgelehnt werden. „Tuning" meint generell: es „wird auf bestimmte GefiihlsauBerungen des Kindes positiv geantwortet, aber die Antwort fallt entweder etwas starker Oder schwacher aus als der kindliche Ausdruck" (ebd. 156). Wenn sich der Saugling in der Kommunikation nicht wohl ftihlt, beispielsweise weil die Betreuungsperson ihn iiberstimuliert, dann zeigt er das in verschiedener Weise. Er schrumpft gewissermaBen zusammen und wendet sich ab, er versucht mit Handen und FiiBen Unangenehmes wegzutreten, er schaut am Gesicht der Betreuungsperson vorbei oder schlaft ein, er fangt an zu wimmem oder zu schreien (vgl. ebd. 66). Es wurde oben (s. Abschnitt 4.3.3.2) schon aufgezeigt, wie differenziert und in welcher hohen Geschwindigkeit auch Erwachsene miteinander kommunizieren. Von daher kann man sagen, dass die dargelegte Differenziertheit und Geschwindigkeit in der Kommunikation nicht nur im Sauglings- und Kleinkindalter besteht, sondem auch im Erwachsenenalter gegeben ist. Die Frage ist, ob man aus diesem Sachverhalt auch den Schluss Ziehen kann, dass auch die Intersubjektivitat, um es vorsichtig zu formulieren, flir ihn gleichermaBen bedeutsam ist wie fur Saugling und Kleinkind. Man konnte angesichts dieses Sachverhalts auch iiberlegen, ob jene Kommunikation, die weitgehend angeborenen Schemata folgt, wie z.B. der Baby-Talk, nicht besser als „Interaktion" verstanden werden soUte (s. Abschnitt 2.1). Demnach ware Interaktion dann eine Form anfanghafter, reflexartiger, mdimentarer Kommunikation, wie sie mit Sauglingen, schwer dementen oder depressiven Menschen stattfmdet. Wir wissen dann nicht, inwieweit der Andere uns versteht, wir sind zugleich auch unsicher, ob wir ihn richtig verstehen, wir sind nicht sicher, ob wir einander tatsachlich wahmehmen. Hier ware der Begriff der „Affektregulation" moglicherweise angemessen. Insofern zwischenmenschliche Kommunikation ein Prozess ist. 173
lassen sich dann auch keine eindeutigen Grenzen zwischen Interaktion und zwischenmenschlicher Kommunikation im engeren Siiine festlegen. Das liegt aber in der Natur alles Lebendigen. Gerade angesichts einer solchen schnellen und differenzierten Wahmehmungsfahigkeit wird auch verstandlich, warum Preterm-Babies, autistische Kinder oder Kinder mit MoebiusSyndrom kommunikativ so groBe Schwierigkeiten bereiten. Sie sind, iiberwiegend aus organischen Defiziten heraus, nicht in der Lage, ausreichend differenziert zu kommunizieren, vor allem weil die Mimik reduziert ist oder iiberhaupt fehlt. Sie zeigen sich nicht ansprechend, ahnliches gilt ja auch im geriatrischen Bereich. Auf dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse lasst sich ermessen, wie gravierend die kommunikativen Beeintrachtigungen infolge solcher Erkrankungen bzw. Defizite sein miissen. Aus individuumsbezogener Sicht wird dieser Aspekt kaum gesehen. Wenn sich unsere Wahmehmungs- und Kommunikationsfahigkeiten so schnell und differenziert entwickeln, und sich zudem zeigt, dass dies nicht nur eine vortibergehende Entwicklung ist, etwa bis Ende der Kindheit oder Pubertat, dann ist offensichtUch genetisch nicht vorgesehen, dass diese Fahigkeit nur bis zum Erwachsenwerden benotigt wird und dann nicht mehr. Zudem entwickelt sich diese Fahigkeit vor vielen anderen Fahigkeiten, d.h. sie hat ontogenetisch Prioritat. 5.6 „Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation^' in ausgewahlten psychoanalytischen Konzepten Im Folgenden geht es nun darum, den Begriff der „Relationalitat" bzw. „Intersubjektivitat" in ausgewahlten psychoanalytischen Konzepten herauszuarbeiten, also das jeweilige Verstandnis von Sozialitat sowie den damit verkniipften Begriff von „zwischenmenschlicher Kommunikation" zu analysieren. Durch die neuere Sauglingsforschung wurde auch der fur die Psychoanalyse zentrale Begriff der „Symbiose" fur die Eigenart der Beziehung zwischen Betreuungsperson und Saugling sehr fraglich. Was ist mit dem „relational turn" in der Psychoanalyse tatsachlich gemeint? Wie wird die Aufgabe des Symbiosekonzeptes gedacht und was tritt dann an seine Stelle? Diesen Fragen soil exemplarisch anhand der Konzepte von Martin Domes, Axel Honneth und Jessica Benjamin - Autoren, die sich in besonderer Weise mit dieser Thematik in Teilen ihrer Arbeiten beschaftigt haben - nachgegangen werden. 5.6.1 Der Begriff der „Symbiose" Bis in die 70er Jahre hinein wurde der Saugling als ein im Wesentlichen passives, rein von Trieben gesteuertes, lediglich Spannungsabfuhr wie auch orale Befriedigung anzielendes Wesen betrachtet, das nur geringe Wahmehmungs- und Interaktionsfahigkeiten aufweist. Die Welt erscheint als Reizchaos, dem der Saugling hilfios ausgeliefert ist. Entscheidend wurden diese Vorstellungen von Seiten der Psychoanalyse gepragt, die sie dergestalt aufgrund von Erinnerungen und Assoziationen erwachsener Patienten rekonstruiert hatte. „Freuds Behauptung 174
(1915, 231), dass der Hass alter sei als die Liebe, da der Saugling ursprtinglich die AuBenwelt ablehne, weil sie ihn mit Reizen uberwaltige, illustriert diese Sicht des Verhaltnisses von Mensch und Welt, in der der Mensch eine zunachst gesellschaftsfeindliche und unsoziale Kreatur ist" (Domes 1998, 128). In den letzten Jahrzehnten haben die oben aufgezeigten Befunde der empirischen Entwicklungspsychologie dem gegeniiber einen vollig neuen Blick auf die tatsachlichen Fahigkeiten des Sauglings eroffnet und den „competent infant" (vgl. Stone etal. 1973)entdeckt. Domes hat sich in seiner umfangreichen Arbeit von 1993, im Kontext mit den oben dargelegten entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, intensiv mit der Frage der Realitat eines friihkindlichen symbiotischen Zustands, wie ihn Margret Mahler 1955 (vgl. Mahler 1985) beschrieb, auseinandergesetzt. In der Biologie meint „Symbiose" das Zusammenleben zumeist artverschiedener Organismen zum wechselseitigen Nutzen (vgl. Domes 1999, 58), wie z.B. Walhaie und Putzerfische. Die Symbiose im biologischen Sinne funktioniert nach dem Motto des „do ut des". Beide Organismen konnen nur gleichzeitig existieren, sie brauchen einander wechselseitig. Er wird unterschieden vom Begriff des „Parasiten", der meint, dass ein Organismus auf Kosten des anderen existiert. Im psychoanalytischen Sinne meint Symbiose die psychische Verschmelzung zwischen Saugling und Mutter aus der Perspektive des Sauglings. Er erlebt sich als unabgegrenzt von der Mutter, Und hier liegt auch ein entscheidender Unterschied zum biologischen Symbiosebegriff Psychoanalytisch ist die Symbiose nichts Wechselseitiges, vielmehr wird sie immer aus der Perspektive des Sauglings oder des Patienten beschrieben. So gesehen hat der psychoanalytische Symbiosebegriff bedeutungsmaBig eine groBe Nahe zum biologischen Parasitenbegriff In jedem Fall steht dahinter ein individuumszentriertes Menschenmodell.'^'* Domes referiert dazu zunachst die Position von Lichtenberg, der meint, „dass die vielen Studien zur fruhen Interaktion von Mutter und Kind, die ein erstaunliches MaB an Abgestimmtheit, Wechselseitigkeit, Reziprozitat und Zusammenpassen dokumentieren, das Symbiosekonzept nicht sttitzen, sondern widerlegen, weil in ihm nicht ausreichend beriicksichtigt wird, dass der Saugling schon in der friihesten Interaktion ein aktiver, initiativer und kompetenter Partner ist" (Domes 1999, 61). Auch wenn hier durchaus Harmonic sichtbar werde, so ist diese „nicht passiv und regressiv, kein seliges Verschmelzen, das der Saugling rezeptiv geschehen lasst und dem er sich hingibt, sondern etwas, was er aktiv herstellt und mitgestaltet" (ebd.). Domes sieht diese Aussagen durch die verschiedensten Untersuchungen unterstiitzt und folgert daraus, „dass die Interaktion zwischen Mutter und Kind von Geburt an einfach zu differenziert ist, um angemessen mit dem Konzept der symbiotischen Beziehung erfasst zu werden" (ebd. 69). Was bedeutet nun das so beschriebene Symbiosephanomen beziiglich des Verhaltnisses des Einen zum Anderen? Wenn ich mich selbst nicht mehr als abgegrenzt vom Anderen erleMan konnte zwar argumentieren, dass auch die Mutter etwas von dem Kind hat, aber was ware das eigentiich?
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be, dann heiBt das, dass der Andere fur mich gar nicht mehr als ein Anderer existiert. Ein Anderer ist er nur dann, insofem ich ihn als einen Anderen, als personales Nicht-Ich wahmehme, das getrennt von mir existiert. Aus der symbiotischen Innensicht stellt sich gar nicht die Frage nach dem Anderen, denn die Frage zu stellen wlirde bedeuten, den Anderen zuvor schon als Anderen erkannt zu haben. Insofem ist die Symbiosebeschreibung immer eine AuBensicht des Phanomens. Psychoanalytisch wird es als ein „Verschmelzungserlebnis" aufgefasst. Es ist eine Erweiterung, Potenzierung, die affektiv hochst positiv erlebt wird. Von auBen gesehen bedeutet dieses Geschehen, dass der Andere in diesem Augenblick fLir den symbiotisch Erlebenden zur reinen Funktion wird. Die Anerkennung des Anderen als Anderen schlieBt ein solches Erleben aus. Daher ware sie auch von Momenten groBer Harmonie zu unterscheiden, denn diese sind eben keine Verschmelzungserfahrung, sondem der Andere bleibt in diesen Momenten als Anderer bestehen. Beschrieben wird diese Phase als ein psychisch hochster Zustand, den man allein erreicht und in dem man alleine ist. Man ist sich selbst vollkommen genug (aus der Innensicht). Die Symbiose erscheint als ein vollkommenes System von zweien, dem ein Dritter nichts hinzufiigen kann, vielmehr wird er zum Zerstorer des Symbioseerlebens. Die Trennung der Symbiose durch das Eindringen des Vaters in diese Symbiose, ihre Sprengung, birgt die Gefahr der Traumatisierung, wovon auch das kriegerische Vokabular zeugt. 5.6.2
Der ^relational turn" der Psychoanalyse
Im engsten Zusammenhang mit der Aufgabe des Symbiosekonzepts steht die sog. „relationale Wende" vieler Psychoanalytiker. Altmeyer nennt sie einen Paradigmenwechsel, der im Kern eigentlich „die Entfaltung eines ureigenen Potentials der Psychoanalyse" (Altmeyer 2004, 1121) sei. „Der Fokus verschiebt sich von der Ein- zu einer Zwei-Personen-Psychologie, die intrapsychische wird durch eine intersubjektive Betrachtungsweise erganzt" (ebd.). Es sei ein Wechsel von der Trieb- zu einer Objektpsychologie. Das Objekt sei nicht Ergebnis einer autonomen Entwicklung, sondem entfalte sich im Rahmen vielfaltiger Interaktionen mit seiner Umwelt. Im Blick auf die Theoriegeschichte der Psychoanalyse behauptet Altmeyer, dass diese immer schon relational gewesen sei, also schon ganz friih erkannt habe: „Die Psyche ist ihrer Natur nach relational [...] das Ich verdanke sich dem Niederschlag vergangener Objektbeziehungen und konne als eine Art Sediment seiner Interaktionsgeschichte begriffen werden (Freud 1923b) [...] Der Mensch ist keine Monade [...] sondem von Anfang an auf den Anderen bezogen" (ebd. 1121f). Altmeyer verweist dann auf Kegels Sozialphilosophie und deren Kemgedanke, dass sich das Selbst erst durch Anerkennung entwickle. Dies liege auch den „meisten sozialwissenschaftlichen Identitatstheorien zugrunde: sie alle miissen erklaren, wie die Prozesse der Individuation und Vergesellschaftung psychisch miteinander verwoben sind, ohne einem schlichten Abbildmodell der Pragung oder einem ebenso schlichten Modell der reinen Selbsterzeugung zu folgen. Und sie alle konzeptualisieren die psychologischen Strukturen menschlichen Fiihlens und Phantasierens, Denkens und Sprechens, Agierens und Interagierens unter dem Paradigma der Intersubjektivitat. Die zeitgenossische Psychoanalyse befindet sich also in guter Gesellschaft, wenn sie im 176
Konzert der Humanwissenschaften in diesen Grundakkord einstimmt und der inneren Relationalitat des seelischen Geschehens nachforscht. Bei der Suche nach dem ,inter-' im ,intra-, (vgl. Reiche 1999) wird man genotigt sein, klassisch metapsychologische Kategorien intersubjektiv zu reformulieren" (Altmeyer 2004, 1122f), Altmeyer macht hier schon sehr deutlich, was er unter „Relationalitat" verstanden wissen will. Es geht um die „innere Relationalitat", um das „inter" im „intra", d.h. nach wie vor geht es um die Ausbildung der intrapsychischen Strukturen, jetzt allerdings richtet sich der Blick auf den Einfluss des Anderen in diesem Prozess, auf die Entfaltung einer intersubjektiven Entwicklungstheorie. Die analytische Situation, so Altmeyer, werde jetzt dialogisch-interaktiv verstanden und ersetze den spiegelnden, neutralen Analytiker. Diesbeziigliche Differenzen bezogen sich nun auf Rollenverteilung, Qualitat der Beziehung, dem Gleichgewicht zwischen Authentizitat und Zuriickhaltung. Entscheidender hingegen seien die Differenzen auf der metapsychologischen Ebene (vgl. ebd. 1123). Ahnlich auBem sich auch Buchholz (2003) und Mitchell (2003). Fiir Buchholz beinhaltet eine relationale Psychoanalyse, dass nun der therapeutischen Beziehung und deren Analyse der Primat zukommen miisse (vgl. Buchholz 2003, 8f). Auch Mitchell spricht vom Paradigmenwechsel, dem relational turn der Psychoanalyse (vgl. Mitchell 2003, 29). „Danach wird das Seelenleben zunehmend - und zwar in einem fundamentalen und unmittelbaren Sinne - in Konfigurationen von Selbst und Anderem, in Begriffen von intrapsychisch und interpersonell, von Gegenwart und Vergangenheit, von Wirklichkeit und Phantasie verstanden" (Mitchell 2003, 28). Die triebtheoretische Terminologie wird vielfach weiterhin verwendet, wobei sich aber die Bedeutung verandert habe. Wieder andere hatten ihrer Konzeption nur relationale Prinzipien hinzugeftigt, „anstatt das Konzept des Triebes selbst zu ,relationalisieren'. So fahlen sich viele Analytiker (z.B. Pine 1960) mit einem lockeren Eklektizismus ganz wohl" (Mitchell 2003, 29). Daneben gebe es zudem, so Mitchell, ziemliche Unklarheit iiber den Zusammenhang zwischen den verschiedensten Interaktionskonzepten und stellt dann sehr konkrete Fragen. „Beschreiben die verschiedenen Intersubjektivitatstheorien (z.B. Trevarthen und Hubley 1987; Stolorow, Brandchaft und Atwood 1987; Benjamin 1996, 1998; Stolorow und Atwood 1992) dasselbe Basisphanomen auf verschiedene Weise oder beschaftigen sie sich mit verschiedenen Phanomenen (vgl. Aron 1996, Kapitel 2)? Bedeutet ,intersubjektiv' dasselbe wie ,interpersonell' (Sullivan 1953; Lionells u.a. 1995)? Welche Beziehung besteht zwischen Loewalds Objektbeziehungstheorie und der von Fairbaim oder zwischen Bowlbys Bindungstheorie und neueren Untersuchungen zur Intersubjektivitat? Sind die Muster wechselseitige Einflussnahme, wie sie in den systemischen Konzepten der Sauglingsforschung gezeichnet werden, das Gleiche wie die Selbst- und Objekt-Reprasentanzen in der Ich-Psychologie? [...] Basieren diese unterschiedlichen Ansatze auf alternativen, miteinander konkurrierenden Theorien iiber die Natur des Seelenlebens oder beziehen sie sich bloB auf unterschiedliche Dimensionen menschlicher Interaktion? Alle diese Konzepte gehen von etwas aus, was Aron (1996) als ,Gegenseitigkeit' {mutuality) bezeichnet; aber es gibt, wie Aron ebenfalls feststellt, viele verschiedene Arten von Gegenseitigkeit" (Mitchell 2003, 3Of).
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Mitchell kam 1983 zusammen mit Jay Green zu dem Schluss, dass die Bedeutung des Anderen nicht mit dem Freudschen Triebmodell kompatibel sei. Die von Mitchell und Green reflektierten Autoren entwickeln, so Buchholz in seinem Vorwort zu Mitchell (2003), „ihre Objektbeziehungstheorie als eine gleichsam theoriestrategische Antwort auf die in der Tradition ungelosten theoretischen Probleme der therapeutischen Praxis. Immer werden dabei zwei Grundthemen variiert: der andere wird in der Triebtheorie gesucht zum Zweck der Triebbefriedigung oder aber die Beziehung zum Anderen wird als irreduzibel angesetzt, sie ist primar. Das gesamte psychoanalytische Theoriengebaude schwankt zwischen diesen Polen und kann dann elementare Fragen nicht beantworten" (Buchholz 2003, 12). „Die seit neuestem als ,relationale Psychoanalyse' bekannt gewordene Tradition (Mitchell und Aron 1999) bildet eine Mischung all dieser verschiedenen Stromungen und integriert sie zu einer breit angelegten, multidimensionalen Vision von menschlicher Intersubjektivitat" (Mitchell 2003a, 110). Dazu zahlt die interpersonelle Tradition, die Objektbeziehungstheorie, relational orientierte feministische Analytikerinnen wie Jessica Benjamin und Nancy Chodorow. Friiher waren Trennung und Autonomic die Entwicklungsziele, jetzt ist es die Entwicklung von Subjektivitat und Handlungsfahigkeit im Kontext von Bezogenheit (vgl. ebd.). Mitchell sieht zum einen „eine tiefe und anhaltende Spannung" zwischen dem eigenen Weg des Subjektes und seiner Abhangigkeit vom Anderen. Zum anderen sei die analytische Situation die langste Zeit nicht als Begegnung zwischen zwei Menschen verstanden worden, „sondern als ein Medium, innerhalb dessen sich die mentalen Inhalte des einen entfalten sollten, um dann vom anderen, der qua Profession eine mehr oder weniger objektive Funktion ausiibt, gedeutet zu werden. Inzwischen hat sich das Verstandnis auf breiter Front geandert. Heutzutage wird der analytischen Beziehung, der personlichen Beziehung zwischen den beiden Teilnehmem einer Analyse, eine fundamental Bedeutung fiir die Veranderungsprozesse zugestanden. Mehrere groBe Theorieschulen haben zu diesem tiefgehenden Paradigmenwechsel beigetragen" (Mitchell 2003, 108). Fiir Mitchell ist es aber schwierig zu sehen, wie diese Beziehung tatsachlich funktionieren soil. Mitchell greift mit seinen Fragen ein wesentliches Problem auf, denn fiir unseren Gedankengang ist entscheidend, ob dieser behauptete Paradigmenwechsel bedeuten soil, dass sich die bisherige Individuumszentriertheit der Psychoanalyse wesentlich geandert hat, d.h. dass die neue Relationalitat bzw. Intersubjektivitat auch ein neues Verstandnis von Sozialitat bedeutet. Altmeyer zumindest spricht nur von den Auswirkungen von Interaktionen auf die intrapsychische Entwicklung, also von der Bedeutung des Anderen fiir den Einen und dessen Entwicklung. Es stellt sich die Frage, ob er diese Bedeutung wirklich als der unaufhebbar Andere hat oder auf eine bestimmte Funktion reduziert wird wie bisher auch, d.h. dass es sich trotzdem nach wie vor um einen individuumszentrierten Ansatz handelt. In Hinblick auf die Feststellungen Mitchells ist zu fragen, ob sich ein solcher fundamentaler Paradigmenwechsel, wie er von ihm, Altmeyer und vielen anderen behauptet wird, nicht auch entsprechend theoretisch und praktisch auswirken miisste. Diesen Fragen soil im Folgenden bei Domes, Honneth, Benjamin und anderen weiter nachgegangen werden. 178
5.6.3 „Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation" in der Konzeption von Martin Domes 5.6.3.1 Zwischenmenschliche Kommunikation als Systemerweiterung Domes hat in seinem Buch „Der kompetente Saugling" von 1993 und in vielen Arbeiten danach ganz differenziert und umfassend die Forschungsergebnisse zur Entwicklung des Sauglings und der Bedeutung der zwischenmenschlichen Kommunikation zwischen Saugling und Betreuungsperson zusammengetragen. Wie versteht er nun selbst den haufig verwendeten Begriff „Intersubjektivitat"? Ging die psychoanalytische Triebtheorie noch davon aus, dass sich zwischenmenschliche Beziehung durch die Befriedigung primarer Bediirfnisse entwickelt, also in der Folge einer Mangelbewaltigung entsteht, so meint Domes, dass es sich bei der Zuneigung um ein primar autonomes Motivationssystem, also eines, das unabhangig von physiologischen Bediirfnissen ist, handle. Es sei nicht nur der Mangel, den das Subjekt zum Objekt treibe, sondem ein biologisch verankertes Grundbediirfnis nach Sicherheit und Kontakt (vgl. Domes 1999, 161f). Der Mensch verfugt also nach Domes uber ein sog. „Zuneigungssystem", das weitgehend unabhangig neben anderen basalen Motivationssystemen existiert, und unter denen Domes noch keinem den Primat zuerkennen kann (vgl. ebd. 162). Die psychoanalytische Triebtheorie ging davon aus, dass der Mensch eine asoziale Natur hat, und der Drang zum Objekt lediglich „eine Folge ungeloster oder alleine unlosbarer Triebspannungen" (ebd. 161) sei. Die Intersubjektivitatstheorie hingegen postuliert ein primares Bediirfnis nach sozialen Kontakten. Die Ergebnisse der neueren Sauglingsforschung stiitzen demnach die Annahme eines autonomen Bedtirfnisses nach Kontakt mit anderen Menschen, nach Intersubjektivitat. In dieser Terminologie bleibt der Andere bei Domes „Objekt", die „Objektsuche" entspricht dem „Bediirfnis nach Intersubjektivitat" (vgl. Domes 2002, 326), d.h. der behauptete Paradigmenwechsel fiihrt zumindest hier noch zu keiner terminologischen Anderung. Unter Intersubjektivitat versteht Domes in einer spateren Arbeit „die Beziehung zweier Subjekte, in der die Subjektivitat beider, also ihr Denken, Fiihlen und/oder ihre nichtinstinkthaften expressiven AuBerungen Gegenstand wechselseitiger Reaktionen oder Antworten sind" (Domes 2002, 304), wobei dafiir „kein explizites Bewusstsein dieser AuBemngen notig" (ebd. 322) ist. Es geht darum, „kognitive und affektive Zustande mit anderen zu teilen bzw. diesen mitzuteilen" (Domes 1999, 161). Domes hat seine Auffassung von der Konstituierung des Anderen in Zusammenhang mit Stein Bratens Theorie vom „virtuellen Anderen" weiter ausformuliert. Diese Theorie besagt, „dass manche Aspekte des Selbst nicht durch die soziale Interaktion konstituiert werden, sondem ihr vorausgehen und dass das Subjekt schon vor jedem sozialen Kontakt eine soziale Konstitution hat" (Domes 2002, 303). Nach Braten ist der Saugling psychisch immer schon dyadisch stmkturiert. Er hat angeborene Interaktionserwartungen, namlich dass ein Anderer da sein soil und auch wie er da sein soil. Der Saugling zeigt, ob die Antworten seinen Erwartungen entsprechen oder nicht, indem er nicht alle Angebote akzeptiert. Der „Tanz" ist fiir 179
Braten sozusagen der Beleg dafiir, dass hier die Erwartungen des Sauglings erfiillt werden. Misslungen ist die AuBerung der Mutter, „wenn der Saugling gar nicht oder aversiv darauf reagiert. Er zeigt damit, dass ihm die Antwort fremd ist, dass er sie nicht erwartet hat, dass sie nicht zu seinen impliziten Erwartungen, wie solche AuBerungen sein sollen passt und deshalb nicht in seinem seelischen Innenraum Platz nehmen kann. Die Reaktionen auf die still-face-Experimente [...] und die Perturbationsexperimente^^^ [...] zeigen, wie dieser Ruckzug aussieht" (ebd. 308). Nach Domes geht es aber nicht nur um eine Beeintrachtigung von Interaktionserwartungen, sondem es werden soziale Bediirfnisse verletzt. Schon die Nachahmung ist „bereits bei Neugeborenen eine soziale Antwort, die ein Wissen um die Sozialitat des Anderen einschlieBt [...] dass schon Neugeborene ein primares Bediirfnis nach Kommunikation und ,companionship' haben, das nicht angemessen gewiirdigt wird, wenn man es als im Dienst anderer Bediirfnisse stehend konzipiert" (ebd. 310). Nach Trevarthen, so Domes, gehe es Neugeborenen nicht nur um Affektregulation, sondem sie wollen sich ausdrticken, sich mitteilen und erwarten darauf auch Antwort. Der Saugling erwarte auf seine Nachahmungsgeste wiedemm eine Reaktion. Braten meint, so Domes, dass jene Interaktionssequenzen, die den Eindmck eines Tanzes vermitteln wurden, Ausdmck dessen seien, dass hier ein realer Anderer den Platz des sozial prafigurierten virtuellen Anderen ausfiille (vgl. ebd.). Vorher gibt es eine „Tanzbereitschaft" und ein „Tanzbedurfnis". „Nur passende Angebote des wirklichen Anderen werden von ihm als Instantiiemng seiner inneren Erwartungen erlebt und nur sie setzen den Dialog in Gang; oder, anders ausgedriickt, nur sie ermoglichen es, den virtuellen in den aktuellen Dialog tiberzufiihren" (ebd.). Der Andere kommt also nicht iiber soziale Interaktion in das Subjekt hinein, sondem ist dort immer schon in Form spezifischer Erwartungen. Nur wenn der reale Andere als Exemplifiziemng des virtuellen Anderen, d.h. als mit ihm iibereinstimmend erlebt wird, fmdet eine gegliickte Verinnerlichung statt (vgl. ebd. 311). Ftir Domes hat Braten gewissermaBen ungeklarte Voraussetzungen bei Mead geklart. Fur Braten sei die Annahme einer sozialen Natur oder eines primaren Kommunikationsbedlirfnisses nicht ausreichend, um die Stmktur und Abgestimmtheit dieses Dialogs zu erklaren. Bemerkenswert sei Bratens Theorie deshalb, well er den Saugling nicht als jemanden sieht, der aus Langeweile, Triebdruck oder Neugier kommuniziere, sondem well er dieses In-Kraft-Treten von Verhaltensweisen als Manifestationen einer inneren Vorstmktur betrachtet. „[...] das biologische Substrat fur Sozialverhalten erzeugt etwas, das Braten ... einen virtuellen Anderen genannt hat, d.h. eine Art organismisch unterfuttertes Bediirfnis nach einem Partner' ... (Aitken und Trevarthen 1997, 655)" (ebd.).
Perturbationsexperimente sind Experimente, bei der der Saugling in seiner Erwartung verstort wird, z.B. wenn er von links ein Spieizeugauto kommen sieht, das dazugehorige Gerausch aber unerwartet von rechts kommt.
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Die Verbindung zwischen Saugling und Mutter existiert immer schon in beiden und wird nicht erst durch die Interaktion hergestellt. Es begegnen sich daher in der Kommunikation nicht zwei Monaden, „sondem eine angeborenerweise innerlich dialogisch strukturierte, also eine einzelne Dyade, sucht oder findet Erfiillung ihres Potentials in der Welt. Die inharent dialogische Psyche rekreiert sich in der dyadischen Begegnung mit dem Anderen. ... Reziprozitat sollte flir das Neugeborene deshalb etwas Naturliches sein, well der Erwachsene in einen vorgefertigten Kreislauf des ,Dialogisierens' eintreten kann'. Und: ,Das angeborene Du wird in der Begegnung mit dem tatsachlichen Du verwirklicht'(Braten 1988, 198ff)"(ebd.). Der intersubjektive Austausch ist damit nur ein Moment der Konstituierung des Sauglings neben dem angeborenen virtuellen Anderen. Was Braten hier im Blick hat, trifft auf das „intuitive parenting" sicher zu. Hier unterstiitzt „die Natur" sozusagen die anfangliche Kommunikation der beiden Partner. Unter Rekurs auf die sog. „Spiegelneuronen" (s. Abschnitt 6.2.2) wiirden, nach Braten, die beobachteten Handlungen des Anderen auch innerlich mitvollzogen werden. So entstiinde im Saugling eine zweifach bestimmte unmittelbare Vertrautheit des Anderen, zum einen aufgrund seiner Erwartung, zum anderen im Nachvollzug seiner Gefuhle. Der virtuelle Andere ist das Gesamt der Interaktionserwartungen und der Simulation von Bewegungsempfmdungen (vgl. ebd. 321). Der Saugling ist hier gewissermaBen stiller unbewusster Teilhaber an den Zustanden des Anderen. Er nimmt die Gefuhle des Anderen unmittelbar wahr. Diese Teilhabe bewirke eine „Verwandlungserfahrung", „ein Gefuhl von Lebendigkeit und Vertrautheit" (ebd. 324). In diesen Formulierungen zeigt sich Intersubjektivitat als ein angeborenes Bediirfnis, wozu die Beteiligten auch in besonderer Weise befahigt erscheinen, wenn man die Differenziertheit des Kommunikationsgeschehens zwischen Saugling und Mutter betrachtet, aber auch die oben schon angesprochenen Erkenntnisse durch die FACS-Forschung berucksichtigt (s. Abschnitt 4.3.3.2). Domes sieht hier aber noch nicht die Letztbegriindung erreicht und bezieht sich dazu auf den systemtheoretisch fundierten Ansatz von Tronick (1998). Dieser meine, dass hier „ein System nach Verbindung mit einem zweiten System sucht, um seine Komplexitat und Koharenz zu steigem und damit seine Problemlosungsfahigkeit" (ebd. 325). Der Saugling konne beispielsweise seine Gefuhle nur bis zu einem bestimmten Punkt selbst regeln, erweitere diese Fahigkeit aber, indem er sich dem Anderen zuwende. Dieser Kompetenzzuwachs gebe ihm ein „machtiges Gefuhl von Erfiillung" (ebd.), besser noch: von Expansion. Mit diesem Konzept revidiere Tronick explizit seine friihere Annahme eines angeborenen Bediirfnisses nach dem Anderen, wie es gerade Braten annimmt. Das gelte auch bei negativen Erfahrungen. Das Bediirfnis nach Expansion ist das Bediirfnis nach Kontakt mit einem anderen System. Dieses sei starker als der Schmerz und letztlich der Grund fiir die „Unausweichlichkeit von Objektbeziehungen". Die Kontaktaufnahme mit einem anderen System bezweckt die Komplexitats- und Koharenzsteigerung, und tritt damit an die Stelle des Triebes. „Der Mensch sucht, ahnlich wie bei Bollas, um jeden Preis eine Transformationser-
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fahning, die bei Tronick ,need for expansion' heifit" (ebd.). Seine Psyche drangt zum Gebrauch anderer Psychen. Domes folgert aus all dem, dass der letzte Grund des Bediirfnisses nach Kommunikation „ein Versuch der Aufrechterhaltung, Gewinnung, Weiterentwicklung psychischer Organisation" (ebd. 326) sei, also das Erfiillungsgefuhl bzw. der Expansionsdrang, wie Tronick es nennt. „Das System, der Geist, die Psyche wollen ihre Organisation aufrechterhalten, erweitem und im Storfall zuruckgewinnen. Differenzen bestehen vor allem hinsichtlich der Frage, ob der primare Zustand eher ein organisierter oder unorganisierter ist, was die primaren Storungsursachen sind und wie die Bewaltigungsmechanismen dafur aussehen" (ebd. 327), und das ist nach Domes die letzte Motivation fur die Objektbeziehungen. Hatte Domes gerade noch Bratens „Interaktionserwartungen" als unzureichend kritisiert und von „sozialen Bedurfnissen" gesprochen, welches er 1993 noch als ein „unabhangiges Motivationssystem" neben anderen betrachtet hat, so erweist es sich jetzt als vorletztes System, das im Dienste einer Aufrechterhaltung der psychischen Organisation steht. Expansion ist eine Notwendigkeit und tritt nach Tronick an die Stelle des Triebes. Nicht ersichtlich wird allerdings, worin denn, psychodynamisch gesehen, der Unterschied zwischen beidem liegen soil, wenn das Expansionsbediirfnis auch vom Schmerz nicht aufgehalten wird. Die gesamte hochst differenzierte Kommunikation zwischen Saugling und Mutter steht nur im Dienste der Aufrechterhaltung der psychischen Organisation. Die zuerst (1993) erfolgte „Aufwertung" des sozialen Bediirfnisses wird hier wieder zuriickgenommen. Wie oben schon in Zusammenhang mit der Theorie Mertens (s. Abschnitt 4.4.5) gezeigt wurde, basiert auch die Systemtheorie auf einem individuumszentrierten Menschenmodell. Dies bestatigt sich auch hier bei Braten wie Domes. Der Andere tritt tiberhaupt nicht als Subjekt in Erscheinung, auch wenn die Rede ist von einem „organismisch unterfiitterten Bediirfnis nach einem Partner". Es ist ein „vorgefertigter Kreislauf des Dialogisierens", der Saugling bringt schon eine Vorstellung von den adaquaten Reaktionen des Anderen mit in Form des virtuellen Anderen. Dynamisch gesehen haben wir hier ein Individuum, den Saugling, der in sich schon eine vorgefertigte Erwartung an seine Umwelt hat. Dieser Vorstellung entspricht zur Ganze das anfangs schon erwahnte Organismusmodell (s. Abschnitt 2.2). Ein Baum etwa wird sich nur dann zu dem entwickeln, was in ihm angelegt ist, wenn die Umwelt, also Licht, Luft, Wasser, Boden und Nahrstoffe genau seinen in ihm schon angelegten Bedurfnissen entspricht. Ftir den Baum ist es sozusagen kein Thema, wie es seiner Umwelt geht, es geht einzig um sein Wachstum. Die Kommunikation des Organismus mit der Umweh ist notwendig, aber der Umwelt kommt ansonsten kein eigener Stellenwert zu. Der Ubergang vom Triebmodell zur Objektbeziehungstheorie bzw. Intersubjektivitatstheorie, auch Zwei-Personen-Modell genannt, suggeriert, dass nun der Andere als eigenstandiges Subjekt Bedeutung hat, und nicht mehr nur eine Funktion fiir den Saugling darstellt. Trieb wird hier nur ersetzt durch Expansionszwang. Zwar wird die neu erforschte Sauglingskommunikation in ihrer Differenziertheit zur Kenntnis genommen, doch kann man aus nichtpsy182
choanalytischer Sicht sagen, dass hier das neue Subjekt in Wahrheit immer noch das alte Objekt ist. Insofem ist die Rede von zwei Subjekten, die sich begegnen, bei Domes eigentlich nur irrefuhrend. Letztlich bleibt das Individuum, eines der beiden Subjekte, im Mittelpunkt und betrachtet alles andere, also auch das andere Subjekt, als Funktionstrager im Dienste der Aufrechterhaltung seiner psychischen Organisation. Termini wie „Dialogische Psyche", „eine einzelne Dyade", „angeborenes Du" konnen nicht dariiber hinwegtauschen, dass eigentlich nie von der Befmdlichkeit des Anderen in der Kommunikation die Rede ist, d.h. es bleibt eine absolut individuumszentrierte Sichtweise. Schlussendlich geht es immer wieder nur um das Individuum und die Erfiillung von dessen Bedurfnissen. Das Du fiillt die vorgefertigte „Schablone" gut oder weniger gut aus. Sozialitat bezieht sich hier auf die Brauchbarkeit des Anderen fur das Subjekt. In dem Sinne ist dann der Andere nicht wirklich Subjekt wie ich, es ist eigentlich egal, was er ist, Hauptsache er dient meiner Expansion. Der Andere als Anderer ist ohne Bedeutung fiir mich. Domes „entlarvt" das Phanomen „zwischenmenschliche Kommunikation", wie es sich in der Sauglingsforschung zeigt, noch einmal und zeigt, dass die ungehemmte Freude des Sauglings am Kontakt mit seiner Bezugsperson nur im Dienste eines Bediirfnisses des nach wie vor autonom sein wollenden Subjekts steht, namlich seiner Expansion. 5.6.3.2 Das individuumszentrierte Verstandnis der Sauglingskommunikation Die Individuumszentriertheit zeigt sich aber nicht nur in der Konzeption Bratens, die Domes zum Schluss noch in Anlehnung an Tronick zu uberholen sucht, sondem auch an anderen Stellen seiner Interpretation der Sauglingskommunikation. Es war oben schon die Rede von „communing attunement" bzw. „affect attunement", wobei Domes hier die Notwendigkeit einer Passgenauigkeit betont und diese „spekulativ" interpretiert als „ein Ziel in sich". „Abweichungen werden bemerkt und unterbrechen den Fluss der Aktivitat - bei Haufung zum Schaden der weiteren Entwicklung" (Domes 1999, 158). Die Anerkennung und Befriedigung des Bedurfnisses nach Harmonic seitens des Sauglings sieht Domes als integrativen Bestandteil seiner Entwicklung (vgl. ebd. 160). Unklar bleibt bei Domes, woher er uberhaupt die Forderung nach der „Passgenauigkeit" ableitet und woran die adaquate Feinfuhligkeit oder Passgenauigkeit gemessen wird. Man wird hier zweierlei unterscheiden miissen. Wenn dem Saugling die Kommunikation, aus welchen Griinden auch immer, zuviel wird, so stehen ihm verschiedene Kommunikationsmoglichkeiten offen, dies auch mitzuteilen. Wenn sich der Saugling wegen Uberstimuliemng oder Miidigkeit abwendet, dann ist „Affektregulation" eine Interpretation aus einem individuumszentrierten Verstandnis von Kommunikation heraus. Das Abwenden und AugenschlieBen ist nicht nur ein Schutz vor zu vielen Reizen, sondem zugleich auch im Rahmen der Kommunikation eine Mitteilung an die Betreuungsperson, diese Kommunikationsweise einzustellen. Hier wird gewissermaBen die kommunikative Seite dieses Verhaltens ausgeblendet. Wenn die Betreuungsperson ihn dann gewaltsam notigt, in welcher Form auch immer, so wird 183
dariiber wohl kein Streit sein, dass dies nicht mehr gelingende Kommunikation darstellt. Hier kann man aber noch ein Sttick weiter gehen. Dass eine Betreuungsperson darauf gekrankt reagieren kann, besagt zweierlei: Es wird als Kritik aufgefasst, nicht optimal gewesen zu sein, also versagt zu haben, dh es wird uberhaupt als Ablehnung erfahren. Dass das passieren kann, ungeachtet des Aspekts der Fehlinterpretation, heiBt aber, dass sich die Betreuungsperson dadurch getroffen, also angesprochen fuhlt. Dieser Aspekt fallt vollig unter den Tisch. Das hat nichts damit zu tun, ob der Saugling „willentlich" ablehnt oder aus physischer Uberforderung. Nachdem, was bisher schon an Wahmehmungsfahigkeit beim Saugling wie beim Erwachsenen sichtbar geworden ist, wird dies der Saugling womoglich auch zumindest diffus wahrnehmen. Zum anderen gilt: „Es gibt keine ideale Betreuungsperson, die mit auBerstem Feingefuhl alle Verhaltensweisen des Kleinkindes erfasst und entsprechend reagiert. Eine solche Person und eine solche Situation sind wegen des Wesens der sozialen Interaktionen unvorstellbar. In ihrem Bemiihen, sich in ihrem Verhalten fortwahrend einander anzupassen, sind Mutter und Kleinkind in dauemder Veranderung" (Stem 1994, 94). Dies geschieht schon allein deswegen, well das Reizniveau nie ganz konstant bleiben kann. Die Uberschreitung der Toleranzgrenzen ist immer wieder erforderlich, um sie sukzessive zu erweitem. Deswegen kann auch nie dauemd „gute Stimmung" sein, derm ..matches und mismatches, attunements und misattunements - und beides ist wichtig, denn auf diese Weise wird gerade in den Dissonanzen der andere als anderer, vom Selbst nicht nur perzeptuell verschiedener erlebt. Dissonanzen sind, sofem sie nicht chronisch erfolgen, fiir die Entwicklung notwendig, ja entwicklungsfordemd" (Petzold 1995, 359). Es ist nicht verstandlich, dass attunement nur dann positiv sein soil, wenn das Kind den Rhythmus und die Intensitat vorgibt. In einer gelungenen Kommunikation wechselt die Fiihrung. Oder man miisste attunement dahin prazisieren, dass eine Unterbrechung erst dann erfolgt, wenn das Kind mit der Intervention iiberfordert ist. Wenn es lediglich erstaunt den Rhythmuswechsel registriert, wird man noch nicht von einer Kommunikationsstorung sprechen konnen. Gerade well das Kind auf immer neue Reize aus ist, bestiinde bei einem einseitigen attunement die Gefahr der Habituation und damit der Langeweile. Es stellt sich hier die Frage, ob in solchen Aufierungen nicht doch unterschwellig das Symbiosekonzept wieder zum Zug kommt, namlich dass diese affektive Ubereinstimmung in sich einen sehr hohen Wert hat. Diese Momente mag es geben, aber zwischenmenschliche Kommunikation ist ein lebendiger Prozess mit dauemden Veranderungen. Es bleibt das Bild der Betreuungsperson als einer Erfullungsmaschine fiir die Bedurfnisse des Sanglings wie auch des Kleinkindes, deren eigene Bedurfnisse und Reaktionen keine RoUe spielen, sondem sie mussen immer adaquat passen. Eine Differenz zwischen sich und der Betreuungsperson erlebt der Saugling schon durch das unterschiedliche Timing und die Resonanz. Von daher hatte Domes u.a. geschlossen, dass das Symbiosekonzept nicht haltbar ist. Im Gmnde kritisiert er aber die Erfahrung der Diffe184
renz, wenn das affect attunement nicht klappt bzw. die Mutter gerade nicht passgenau, sondem liber- oder unterstimuliert. Die Veranderung des Reizes ist das, was den Saugling anregt, ihn interessiert. Stimmigkeit kann auch nur voriibergehend befriedigen, andemfalls wird sie zur Monotonie und damit uninteressant. Es konnte sein, dass Stimmigkeit die laufende, eben stimmige Anpassung an veranderte Gegebenheiten, Bediirfnisse meint. In dem Fall verschwindet der Andere aber hinter der Stimmigkeit. Nicht er selbst ist interessant, sondem die zu erreichende Stimmigkeit. Nur Differenzen erhohen die Aufmerksamkeit und fuhren zu einem Lemeffekt. Es kann sozusagen eine fortlaufende Stimmigkeit geben, von einer Modalitat zur nachsten, es bleibt aber Stimmigkeit. Es wird „passgenau" vermieden, dass eine Differenz wahmehmbar wird. In der Differenz wird aber gerade der Andere spiirbar. Allerdings kann die Differenz harmonisch oder disharmonisch sein. Nach Domes ermoglicht dieses Geschehen „maximale Gemeinsamkeit im Erleben von Gefiihlen. Es kreiert die Erfahrung, dass innere Zustande keine privaten Ereignisse sind, sondem soziale und Beziehungsangelegenheiten. Es ist die Antwort auf die Frage: Siehst du, was ich fiihle? Und es ist eine positive Reaktion auf das anthropologisch tief sitzende Bedurfnis nach Wahmehmung und Anerkennung des eigenen Geflihlszustands" (Domes 1999, 159f). Geht es in einer Kommunikation tatsachlich nur darum, dass der Andere wahmimmt, was ich fiihle? Geht es nicht auch darum, dass ich wahrnehme, wie meine GefLihle den Anderen bertihren? Erschopft sich das Ziel zwischenmenschlicher Kommunikation darin, dass der Andere meine Gefiihlszustande wahmimmt und anerkennt, und was heiBt „anerkennen"? Was bewirkt diese Anerkennung bei mir, und wiedemm: wie wirkt diese meine Wahmehmung seiner Anerkennung und meine Reaktion darauf auf ihn zuriick? Beschrieben wird einzig die Funktion des Anderen fiir das Subjekt, und damit erschopft sich sichtlich der Kommunikationsvorgang. Zugleich werden die Moglichkeiten des Anderen zur Einflussnahme als gefahrlich betrachtet. Hier wird die gesamte Kommunikation reduziert auf die Wahmehmung der Befmdlichkeit von einem der beiden. Das Dilemma der individuumszentrierten Sichtweise wird an einer Stelle besonders deutlich. „Tuning ist ,gefahrlicher' als selektive oder vollstandige Nichtbeachtung einzelner AuBerungen, weil es ein Weg ist, in das Kind und sein Gefiihlsleben hineinzukommen und es von innen heraus zu verandem. Im Falle der Nichtbeachtung erfolgt eine Kommunikation von auBen, gegen die das Kind sich wehren kann. Das ist beim tuning schwerer. Hier kann man die Anfange des falschen Selbst vermuten, aber diese Vermutung ist riskant, weil ein gewisses MaB an tuning unvermeidlich ist, einfach weil Eltern eigene Wesen mit eigenen Wunschen und Angsten sind. Es ist schwer zu sagen, wo der Saugling anfangt, nicht mehr er selbst zu sein, weil er niemals nur er selbst war, sondem unvermeidlich und von Anfang an der Adressat elterlicher Absichten" (ebd. 157). Wenn es zutrifft, wie oben dargelegt, dass wir nicht nicht kommunizieren konnen, dann heiBt das, dass wir schon durch die gegenseitige Wahmehmung einander beeinflussen, zumindest erfolgen neuronale Aktivitaten (vgl. Spiegelneuronen). Wo Bediirfnisse sind, besteht auch das Bediirfnis, diese zu befriedigen. Es bleibt hier offen, in welcher Form das Bediirfnis nach 185
Kontakt und Sicherheit befriedigt wird. Das gilt aber nicht nur fiir die Kommunikation zwischen Saugling und Eltem, sondem fiir jegliche Kommunikation. Wie sollte man sich also Kommunikation ohne Beeinflussung vorstellen? Betrifft das nicht gerade das Wesen von Kommunikation, dass wir die Wirkung des Anderen suchen bzw. ihn beispielsweise zu bestimmten Handlungen veranlassen wollen? Dass Domes diesen Sachverhalt als Dilemma formuliert, weist doch auf ein gutes Sttick Ambivalenz bezuglich Kommunikation hin. Wie konnen wir das Bediirfnis nach Kommunikation haben und zugleich ganz wir selbst bleiben wollen? Hier druckt sich der ganze Zwiespalt eines individuumszentrierten Ansatzes aus. Die Mutter moduliert auf diese Weise die Affekte des Kindes - aber geschieht das nicht auch anders herum? Nach wie vor wird diese Kommunikation nur aus der Sicht des Sauglings gesehen, also einseitig. Der Saugling ist ein Individuum und muss vor ungewollten Einfliissen geschutzt werden. Wie soil jemand er selbst sein, und d.h. vollig unbeeinflusst von anderen, wenn er so gar nicht existieren kann? Woher kommt die Vorstellung, alles muss aus mir selbst kommen, nichts darf von Anderen kommen, weil das eben nicht ich bin? Es ist die gottahnliche Vorstellung einer creatio ex nihilo: ich verdanke mich niemandem, sondem nur mir selbst. Es lasst sich also in verschiedener Weise bei Domes zeigen, dass er Intersubjektivitat individuumszentriert versteht. Fragt man, worin der von Mitchell und Altmeyer zitierte Paradigmenwechsel der Psychoanalyse im Ansatz von Domes bestehen konnte, so hat sich gezeigt, dass die einzige Verandemng eigentlich darin besteht, dass das Bediirfnis nach Sicherheit und Kontakt zunachst als eigenes Motivationssystem neben das Triebsystem gestellt wurde, um dann wiedemm einem Bediirfnis nach Systemerweiterung untergeordnet zu werden. Die Perspektive in diesem Fall ist die des Systems „Saugling", das sich zu erweitem sucht. Analoges wurde oben schon als „Organismusmodell" aufgezeigt. Die Frage etwa nach Befmdlichkeit und Wohlergehen des anderen Systems stellt sich nie. Wichtig ist vor allem Passgenauigkeit in der Antwort des anderen Systems. Je passgenauer und d.h. je weniger abweichend, irritierend die Antwort erfolgt, desto besser fiir das System „Saugling". Wie will Domes damit aber erklaren, wamm eine Betreuungsperson iiberhaupt mit dem Saugling kommuniziert, wenn man nicht die gesamte Kommunikation als Reflex bezeichnen will? Was bereitet einer Betreuungsperson daran dann Vergniigen? Der Primat des Subjektes und seiner Autonomic bleibt aufrecht. So subtil und differenziert die Kommunikation zwischen Saugling und Mutter als Phanomen inzwischen beschrieben und minutios erfasst worden ist, in seiner theoretischen Erklarung reduziert es sich auf seine Funktion fiir das Subjekt, als eine Bediirfniserfiillung durch ein anderes Subjekt. Der Differenziertheit der Beschreibung entspricht kein gleichermafien differenziertes Verstehen der Gesamtsituation. Das Interesse verengt sich vielmehr auf das Individuum. Unterschwellig bleibt die Symbiose als Idealzustand leitend^^^, bezeichnen-
Dies konnte oben bei der Diskussion der Wyss'schen Konzeption ebenfalls gezeigt werden (s. Abschnitt 5.3).
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derweise nicht im biologischen Sinne. Der Ubergang von der Triebtheorie zur Objekttheorie in diesem Sinne wird meines Erachtens zu Unrecht als „Paradigmenwechser' bezeichnet. 5.6.4 „Intersubjektivitat" und „zwischenmenschliche Kommunikation'^ in der Konzeption von Axel Honneth 5.6.4.1 Intersubjektivitat von Anfang an'^^ In seiner Auseinandersetzung mit dem Psychoanalytiker Joel Whitebook hat der Sozialphilosoph und Habermasschuler Axel Honneth versucht, sein Verstandnis von Intersubjektivitat deutlich zu machen. Wie oben (s. Abschnitt 3.4) schon in Zusammenhang mit Hegel zitiert, sieht Whitebook in seiner Auseinandersetzung mit Honneth die Zuwendung zum Anderen nicht als Ausdruck einer angeborenen Intersubjektivitat, sondem eines angeborenen narzisstischen Programms (vgl. Whitebook 2001, 769). „Das Allmachtsstreben der Psyche ist nicht nur eine der wichtigsten Quellen der menschlichen Destruktivitat, sondem in seiner Neigung, die gegebenen Verhaltnisse zuriickzuweisen und einen Anti-Kosmos nach eigenen Wtinschen zu gestalten - ist es auch Quelle der Kreativitat" (ebd. 771). Der Kern seiner Argumentation gegen die intersubjektivistische Wende der Kritischen Theorie durch Habermas ist, dass die Aufgabe einer grundlegenden Asozialitat im Subjekt dazu fiihre, dass es dann kein der Gesellschaft gegenuber unangepasstes Selbst mehr gebe.'^^ Eine solche vorsoziale Schicht, ein durch jegliche Sozialisation unauflosbares Aggressionspotenzial im Subjekt, drohe den Vertretem eines Intersubjektivismus aus dem Blick zu entschwinden. Damit meint Whitebook das Omnipotenzstrebens des Sauglings im freudianischen Sinne, alles auBerhalb seiner selbst als verfugbar anzusehen. Gegen die Annahme einer genetisch bedingten Aggressivitat sprechen sich, so Honneth, mehrheitlich die Befunde aus. Vielmehr sind aggressive AuBerungen von Kleinkindem Reaktionen auf Unlusterfahrungen. „Je weiter wir dann im Lebensalter der Kinder fortschreiten, desto eher lassen sich deren Aggressionstendenzen schlieBlich als reaktive Bewaltigungen von Versagungen und Verletzungen interpretieren, deren Quelle soziale Beziehungen sind" (Honneth 2001, 793). Die Annahme friihkindlicher Allmachtsphantasien halt Honneth gleichermaBen nicht fiir haltbar, derm der Saugling verfiige schon bald iiber die Fahigkeit zur Selbstabgrenzung wie der Wahrnehmung fremder Intentionalitat. „Entweder neigt der Saugling aufgrund seiner Fusionserfahrungen zu Zustanden der Halluzination von Omnipotenz Oder aber er verfugt bereits iiber ein elementares Empfmden des eigenen Selbst, so dass fur
'°^ Die folgende Darstellung bezieht sich zum Teii auf die sog. Whitebook-Honneth-Kontroverse, die seit 2001 in der Zeitschrift Psyche sukzessive veroffentHcht (vgl. Honneth 2000, 2001, 2003; Whitebook 2001, 2003), und spater auch noch durch Beitrage anderer Autoren erganzt wurde (vgl. Busch 2003; Warsitz 2003; Bedorf 2004). Diese Kontroverse dreht sich wesentlich urn die Frage, ob es eine Intersubjektivitat von Anfang an gibt, Oder ob nicht, so Whitebook, ein vorsoziales Selbst angenommen werden muss. '^* Honneth fragt zuriick, inwiefem eine Gesellschaftstheorie nur dann kritisch sein konne, wenn zwischen Selbst und gesellschaftlicher Ordnung ein struktureller Konflikt bestehe, klammert diese Fragestellung dann aber im Folgenden ein.
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Allmachtsphantasien nur wenig oder gar kein psychischer Raum besteht" (ebd. 795). Ein Subjekt, das zur Ganze nur Produkt seiner Umgebung sei, kame nie zu eigenen Uberzeugungen, die es brauche, um fremde Normen zu iiberprufen. Wohl aber besteht fiir Honneth kein Zweifel daran, „dass wir die Fahigkeit zur rationalen Begrtindung eigener Uberzeugungen und Urteile nur auf dem Weg der symbolisch vermittelten Interaktion erwerben" (ebd. 796), durch Perspektiveniibemahme des Anderen. Die Annahme eines Aggressionstriebes wurde schon widerlegt, aber selbst wenn man ihn annehmen wiirde, dann hatte man nur eine endogene Quelle sozialer Feindseligkeit zusatzlich. Im Kern geht es darum, „dass der intersubjektiven Begegnung entweder begrifflich oder genetisch immer eine Art von elementarer Selbstfmdung vorausgehen muss, um die Tatsache zu erklaren, dass das Individuum sich als Adressat von Zuwendung oder Anerkennung begreifen mag" (ebd. 797). Entweder gibt es eine frtiheste Phase der Ungeschiedenheit oder aber ein Kem-Selbst. Eine vorgangige Form elementarer Selbstempfmdung lasst sich „durchaus als Hinweis auf eine konstitutive Dimension der ,Asozialitat' in jeder Subjektivitat verstehen [...] weil sie als Gegenpol zur Intersubjektivitat eine unhintergehbare Perspektive des subjektiven Erlebens festzuhalten versucht" (ebd. 798). Honneth differenziert jetzt zwischen dieser „Asozialitat" und der Annahme einer „antisozialen Schicht" in jedem Subjekt, auf die das Omnipotenzstreben hinweist, „weil damit Tendenzen einer immerwahrenden Negation von sozialer Intersubjektivitat gemeint sind [...] ein fortwahrender Impuls der Verleugnung von oder des Ankampfens gegen Intersubjektivitat, sofem damit die Existenz unabhangiger Anderer gemeint ist" (ebd.). Das ware eine konstitutive Antisozialitat. Wenn eine totale Fusion zwischen Selbst und Umwelt nicht mehr angenommen werden kann, dann entfallt aber auch die Annahme eines sozusagen natiirlichen Omnipotenzstrebens. Einziges Zugestandnis: man kann „gravierende Episoden der Verschmelzung mit dem Bezugsobjekt" (ebd. 799) unterstellen, was aber etwas anderes ist als eine Omnipotenzphantasie. Dass der Andere dauerhaft eine unbeeinflussbare Realitat besitzt, ist dann aber keine Schockerfahrung mehr fiir den Saugling. 5.6.4.2 Episodenhafte symbiotische Fusionen Die Zuruckweisung der Annahme einer friihkindlichen Symbiose aufgrund experimenteller Forschungen durch Stem und auch Domes (s. Abschnitt 5.5.2.1) wird von Honneth nicht ganz geteilt. Erst intemalisierte Kommunikationsmuster fuhren zur psychischen Stmkturiemng. Das bedeutet aber, dass eine Phase der Ununterschiedenheit zwischen Subjekt und Realitat vorausgehen muss. Der Saugling erlebt seine Impulse als verschmolzen mit der Reaktion der Bezugsperson darauf, affektiv gibt es keine Trennung zwischen Selbst und Realitat (vgl. Honneth 2000, 1098). So nimmt Honneth zwar keine ganze symbiotische Phase mehr an, aber es gibt fiir ihn die gerade genannten „gravierende Episoden der Verschmelzung mit dem Bezugsobjekt" (Honneth 2001, 799). Die Fusionserfahmngen mtissen im Saugling „ein psychisches Erwartungsschema der leiblich-seelischen Geborgenheit wachgerufen haben, das durch den wachsenden Realitatssinn alsbald enttauscht wird, so dass Angst und Schmerz, Wut und 188
Trauer in spannungsvoUer Einheit die nahe liegenden Reaktionen sind" (Honneth 2001, 801). Diese urspriingliche Symbioseerfahrung habe nach Winnicott auch noch zentrale Bedeutung fur den Erwachsenen. Wenn man nun zusatzlich annehme, dass dieses Erwartungsschema in jedem Subjekt zutiefst verankert bleibe, dann konne dies verstandlich machen, warum auch altere Menschen panisch auf Trennungen reagierten und Verschmelzungstendenzen zeigen wurden. Darin zeige sich die affektive Schwierigkeit, „die Unabhangigkeit von geliebten oder begehrten Subjekten anzuerkennen und die dadurch bedingte Gebrochenheit der Intersubjektivitat zu akzeptieren" (ebd.). Ubergangsobjekte im Sinne Winnicotts batten daher Bedeutung bis ins hohe Lebensalter. Ein solches Erwartungsschema kann Honneth zufolge als Quelle der Antisozialitat in dem Sinne gesehen werden, dass es eine Negation der Unverfugbarkeit des Anderen darstelle. Das Ubergangsobjekt sei aber „gerade ein Hinweis auf die iiberragende Bedeutung von Intersubjektivitat" (ebd.). Aus der Innenperspektive des Sauglings heraus hat dieses Fusionserlebnis nattirlich keine intersubjektive Struktur, aus der Beobachterperspektive hingegen erscheint es als primare Intersubjektivitat, „weil es nur die haltenden, liebkosenden, versorgenden Entgegnungen eines anderen Menschen sein konnen, die dem SaugUng die Erfahrung einer Verschmelzung machen lassen. Insofern ware es wohl richtig, die unregelmafiig wiederkehrenden Fusionserlebnisse des Sauglings als ,Nullpunkt' aller Erfahrungen von Anerkennung zu begreifen: als tiefsitzende Chiffren einer Geborgenheit, die fiir immer hinter uns liegt, treiben sie doch alles Streben nach jenen gebrochenen Formen von Intersubjektivitat an, die die Gestalt der wechselseitigen Anerkennung zwischen erwachsenen Subjekten besitzt" (ebd. 80If). Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das symbiotische Erleben aus der Sicht des erlebenden Subjekts nicht intersubjektiv ist. Auch Honneth unterscheidet hier zw^ischen der Innenund AuBenperspektive eines Fusionserlebnisses. Fusionserlebnisse zeichnen sich dadurch aus, dass hier der Andere als Anderer nicht wahrgenommen wird. Nur in einer nachfolgenden Reflexion kann der Andere in seiner Beteiligung an dieser Fusionserfahrung erkannt werden, eine Reflexion, zu der der Saugling noch nicht imstande ist, d.h. diese primare Intersubjektivitat ist eine aus der Beobachterperspektive, aber nicht eine des Sauglings. Fusionserlebnisse als solche konnen per defmitionem nicht intersubjektiv sein, und insofern sind sie tatsachlich der NuUpunkt aller Erfahrungen von Anerkennung, aber gegenlaufig zur Position Honneths, namlich gar keine. Symbiotische Erlebnisse sind apersonal. Diese apersonalen Fusionserfahrungen sind nun nach Honneth der Grund fur das Streben nach Intersubjektivitat, und damit bekommt Intersubjektivitat bei Honneth eine ganz bestimmte Bedeutung. Offensichtlich sind die Fusionserlebnisse die voUkommenen Formen von Intersubjektivitat, an denen gemessen alle spateren Formen von Intersubjektivitat nur noch gebrochene sein konnen. Erwachsene haben Muhe, die Unabhangigkeit eines geliebten Subjekts zu akzeptieren, und das ist zugleich Ausdruck ihrer Schwierigkeit, die Gebrochenheit der Intersubjektivitat zu akzeptieren. Diese Auffassung zeigt, dass die friihkindlichen apersonalen Fusionserlebnisse fur Honneth der MaBstab sind, an dem jegliche spatere intersubjektive Erfahrung gemessen wird. Je mehr sie von 189
diesen fruhkindlichen Fusionserfahrungen abweichen, umso gebrochener wird die Intersubjektivitat erlebt. Damit kommt die Symbiose als Urwunsch, als eigentliches Ziel, durch die Hintertiir wieder herein. Die wechselseitige Anerkeimung ist nur Ausdruck einer gebrochenen Intersubjektivital, die Urform der Intersubjektivital ist das Verschmelzungserlebnis, in dem der Andere als selbststandiges Subjekt nicht mehr in Erscheinung tritt. Geschickt benutzt Honneth den Begriff der „primaren Intersubjektivitat", aber eigentlich ist er eine Tauschung. Der Beobachter sieht zwei Subjekte, der Saugling erlebt sich als eines. Damit versucht Honneth doch die Symbiose als eigentliche „Beziehungserfahrung", die aber gar keine ist, zu retten.^^^ 5.6.4.3 Die Entwicklung der intrapsychischen Strukturen Von den Fusionserfahrungen zu unterscheiden seien „auBere Kommunikationsbeziehungen", deren Macht zunachst nur passiv erfahren wird. Am Anfang strebe die Psyche gewissermaBen richtungslos nach Austausch mit der Umwelt (vgl. Honneth 2000, 1102). Honneth spricht auch von der „Aufsprengung" der Symbioseerfahrung des Sauglings (vgl. ebd. 1100). Die Intemalisierung von Kommunikationserfahrungen bewirke zugleich die Vergesellschaftung wie die Individuierung des Subjekts. Sie depotenziere die zunachst nur passiv erfahrene Kommunikation, indem sie sie im Inneren des betreffenden Subjekts reproduziere und sich ihrer als Ressource zur Abgrenzung von der sozialen Umgebung bediene. Das Produkt gelingender Intemalisierung von Interaktionsschemata mit Hilfe freigesetzter Triebenergie seien die intrapsychischen Instanzen. Diese „schaffen gewissermaBen den inneren Kommunikationsraum, der notig ist, um sich von dem stets wachsenden Kreis von Kommunikationspartnem unterscheiden zu konnen und zu einer autonomen Lebensgestaltung zu gelangen" (ebd. 1095f). Die Intemalisierung passiv erlittener Interaktionsbeziehungen^'^ ist ein konfliktreicher Vorgang, in dem sie gewissermaBen entmachtigt werden und nun dazu dienen, sich von der auBeren Welt abzugrenzen. Sie bedeutet das Verlassen der urspriinglichen Symbiose. Durch diesen Vorgang werden, so Honneth, die verinnerlichten Kommunikationsmuster umgewandelt in eine Ressource zur Abgrenzung von anderen, in „die Fahigkeit des Subjekts, Unabhangigkeit gegeniiber extemen Objekten zu erlangen" (ebd. 1096). Dieser neu gewordene innere Kommunikationsraum ermoglicht also Abgrenzung von den Anderen und damit auch Individuiemng. Es wird allerdings nicht der gesamte psychische Innenraum stmkturiert, sondem es bleibt ein davon ausgesparter Rest, das „Es" bei Freud und Winnicott, das „I" bei Mead, der sozusagen Dmck in Richtung permanenter Individuiemng macht und dem Bewusstsein entzogen bleibt. Die unbewussten Impulse sind gewissermaBen stumme Forderungen, „die
Domes halt solche Fusionserlebnisse im Ubrigen fur ganz selten und fur eher pathologisch (vgl. Domes 1999, 77). "^ Es spricht in der Sauglingsforschung nichts dafiir, dass die Interaktionsbeziehungen passiv erlitten werden.
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den Einzelnen unentwegt zwingen, das jeweils erreichte Niveau seiner Kompromissbildungen mit der sozialen Umwelt emeut zu tiberschreiten, um zu einem hoheren Grad an Individuierung in seiner Bediirfnisartikulation zu gelangen" (ebd. 1097). Die Psyche begreift Honneth als einen im Idealfall „nach innen verlagerten Interaktionszusammenhang" (vgl. ebd. 1105), als ein Komplement zur sozialen Lebenswelt. Sie entsteht „in Form einer Verinnerlichung von Interaktionsbeziehungen mit einem immer groBer werdenden Kreis von Bezugspersonen" (Honneth 2000, 1094). Dafiir spricht seiner Meinung nach auch die nachgewiesene Bedeutung der affektiven Bindungserfahrung. Es geht um kommunikative Verfliissigung des Innenlebens (vgl. ebd.), eine interaktive Konstitution der Selbstbeziehung. Die Uberwindung der Symbioseerfahrung ist der Preis fur die Individuierung. Winnicott, so Honneth, ging davon aus, „dass jene frtihen Akte der Erlangung der Selbstandigkeit, die ja zugleich mit der ersten affektiven Vergegenwartigung der Unabhangigkeit der auBeren Wirklichkeit einhergehen, gewissermaBen eine Uberforderung fiir das Kind darstellen und dementsprechend auch sein intrapsychisches Leben bis ins Erwachsenenalter in Bann halten werden" (ebd. 1097f). Die Intemalisierung der Interaktionsbeziehungen sei aus der Sicht des Sauglings zugleich eine so tiefgreifende und schmerzliche Trennung von der Bezugsperson, das sie iiber die Lebensspanne hinweg immer wieder Kompensation „durch stets wieder notwendige Exkursionen in den intermediaren Bereich der Ubergangsobjekte" (ebd. 1100) erforderlich mache. Die sog. Ubergangsobjekte seien „ontologische Vermittlungsglieder zwischen dem primaren Erlebnis des Verschmolzenseins und der Erfahrung des Getrenntseins" (ebd. 1099). Sie ermoglichen nun dem Kind, auch affektiv die Unabhangigkeit seiner Betreuungsperson von seinen Phantasien zu akzeptieren, und sie bleiben lebenslang bedeutsam. Intrapsychische Dialogfahigkeit ist nach Honneth gleichbedeutend mit Selbststandigkeit und setzt die Anerkennung der Unabhangigkeit des Anderen voraus und zugleich damit auch die zunehmende Distanz zur Symbioseerfahrung. Moglich wird das aber nur, wenn es uns gleichzeitig gelingt, „uns periodisch hinter die jeweils errichteten Ich-Grenzen zuriickfallen zu lassen, um die stetig wachsende Distanz zum ursprtinglichen Zustand der Symbiose ertragen zu konnen" (ebd. 1100). Honneth meint, „dass der kommunikativ verfasste Emanzipationsprozess der Subjekte insofem stets gebrochen ist, als es zur Kompensation der erlittenen Trennung vom symbiotischen Anfangszustand einer wiederkehrenden Entgrenzung des Selbst bedarf, die die Form einer spielerischen Exkursion in die Zwischenwelt der Ubergangsobjekte Oder kultureller Imaginationen besitzt" (Honneth 2000, 1101). Es gilt zwischen Verschmelzungswunsch und Abgrenzung lebenslang eine Balance zu halten. Fiir Honneth zeigt sich darin „Gebrochenheit", „Zerrissenheit". Die Individuierung wird mit dem Verlust der Fusionserfahrung teuer bezahlt. Reif ist dasjenige Subjekt, „das sein Potential an innerer Dialogfahigkeit, an kommunikativer Verflussigung seiner Selbstbeziehung dadurch zur Entfaltung zu bringen vermag, dass es moglichst vielen Stimmen der unterschiedlichsten Interaktionsbeziehungen in seinem eigenen Inneren Gehor verschafft" (Honneth 2000, 1106).
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5.6.4.4 Intersubjektivitat zwischen Symbiose und Unabhangigkeit Aus der Sicht von Honneth stellen sich die Fusionserfahrungen als die eigentlichen Erfahrungen von Intersubjektivitat dar. Die zwischenmenschliche Kommunikation dagegen wird „erlitten", erlebt der Saugling passiv als Macht. Der Preis fiir die Individuierung ist die Aufgabe der Fusion. Honneth spricht vom „Nullpunkt aller Erfahrung von Anerkennung" als dem tiefsten Moment der Geborgenheit, wahrend die wechselseitige Anerkennung erwachsener Subjekte nur „gebrochene Formen von Intersubjektivitat" darstellen. Der tiefste Moment der Geborgenheit ist jener, in der der Andere als ein Anderer nicht in Erscheinung tritt, fiir den Saugling nicht wahmehmbar wird. Warum ist die Erfahrung der Unabhangigkeit des Anderen eine traumatisierende Erfahrung? Die hochdifferenzierte Kommunikation zwischen Saugling und Bezugsperson ist fiir Honneth ein Minus gegeniiber der Fusionserfahrung. Das auBerste, was zwischenmenschlich erreichbar ist, ist eine wechselseitige Anerkennung, die aber nur eine gebrochene Intersubjektivitat darstellt. Der Nullpunkt der Intersubjektivitat soil zugleich der auBerste Moment an Intersubjektivitat sein, der aber darin besteht, dass der Andere nicht als ein Anderer, als Nicht-Ich, erlebt wird. Hier zeigt sich zutiefst eine Ambivalenz gegenuber dem Anderen. Die Kommunikation mit ihm trennt mich von ihm. Die intemalisierten Kommunikationsschemata fiihren zur Ausbildung der Instanzen, die wiederum die Abgrenzung von dem Anderen, die Unterscheidung von ihm, ermoglichen. Die eigentliche Existenz ist jene, wo der Andere nicht als ein solcher in Erscheinung tritt, und zugleich fiihrt die Kommunikation mit ihm zur Trennung von ihm, d.h. dazu, dass er als Anderer in Erscheinung tritt. Der Andere ist notwendig fiir das Grundgefahl der Geborgenheit und zugleich beraubt er mich dessen unwiederbringlich. Egal wie differenziert wir unsere Kommunikationsfahigkeiten ausgebildet haben, es bedeutet immer, dass der Andere als Anderer in Erscheinung tritt. Das gilt dann aber fiir jede Kommunikation, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Deutlicher kann man nicht sagen, dass im Zentrum das Subjekt steht, dass wir hier wiederum ein individuumszentriertes Menschenmodell vor uns haben. Der Andere hat fiir gelingende Kommunikation zu sorgen, damit entsprechende Schemata intemalisiert werden konnen. Er hat hier nur Bedeutung in Hinblick auf seinen Nutzen fiir das Subjekt. Jede Kommunikation ist defizient gegenuber der urspriinglichen Fusionserfahrung. So gesehen erscheint der Ubergang von der Triebtheorie zur Objektbeziehungstheorie auch bei Honneth kein wesentlicher zu sein, schon gar nicht ein „paradigmatisch" anderer. Aus der Sicht eines Nichtanalytikers erscheint der Begriff „Objektbeziehung" hier ganz treffend, wahrend „Intersubjektivitat" eher irrefuhrend ist. Man kann auch fragen, welche Auswirkungen ein solches Verstandnis von zwischenmenschlicher Kommunikation auf konkrete Kommunikationsvorgange hat. Es dreht sich nur um das Individuum und seine intrapsychische Strukturierung. Wenn sie gelingt in Form von innerer Dialogfahigkeit, dann handelt es sich laut Honneth um einen reifen Menschen. Der Andere als Anderer ermoglicht nur die Erfahrung gebrochener Intersubjektivitat, d.h. wahre Intersubjektivitat ist jene, wo der Andere als Anderer nicht in Erscheinung tritt, wo 192
Kommunikation wirklich am Nullpunkt, also gar nicht mehr ist. Damit wird die konkrete Kommunikationserfahrung zweitrangig hinter der Fusionserfahrung. Das erinnert an die schon diskutierte Position von Wyss, in der sich die vollkommene Kommunikation als NichtKommunikation zeigte. Der Andere, sofem er als Anderer erscheint, bedeutet das Ende der Fusion. Hier wird eine deutliche Ambivalenz gegeniiber dem Anderen und letztlich gegenliber der zwischenmenschlichen Kommunikation sichtbar. Wenn vom reifen Subjekt die Rede ist, dann zeichnet es sich durch intrapsychische Dialogfahigkeit aus. Die zwischenmenschliche Kommunikation ist im besten Fall immer nur Ausdruck gebrochener Intersubjektivitat im Vergleich zu jener der Fusionserfahrung. Honneth hat zwar die fruhkindliche Symbiose reduziert auf „gravierende Fusionserfahrungen", um damit nicht ganz in Opposition zu den Ergebnissen der Sauglingsforschung zu geraten, sie stellen aber den eigentlichen MaBstab fur Intersubjektivitat dar. Es bleibt an dieser Stelle die Frage offen, weshalb solche einzelnen friihkindlichen Fusionserfahrungen einen solchen iiberragenden Stellenwert zugesprochen bekommen. Was rechtfertigt es, angesichts der erforschten Kommunikationsfreudigkeit des Sauglings, des „Tanzes" zwischen Saugling und Betreuungsperson, die Fusionserfahrung als hochste Form der Intersubjektivitat zu bezeichnen, die eine solche zudem auch nur aus der Beobachterperspektive ist? Warum muss sich der Mensch immer wieder von der alltaglichen zwischenmenschlichen Kommunikation, der gebrochenen Intersubjektivitat, durch Fusionserlebnisse erholen? Dass zwischenmenschliche Kommunikation scheitem kann, ist unbestritten. Ist die Losung dann aber ein symbiotischer Riickzug oder eine Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation? Hier kann man nur vermuten, dass die Symbiose metapsychologisch nach wie vor bedeutsam ist, gerade werm es um die anschlieBenden Entwicklungsphasen des Sauglings aus psychoanalytischer Sicht geht. Honneth praferiert die Symbiose, die aber nur eine metapsychologisch erschlossene ist. Es muss sie geben, wenn die Kommunikationserfahrungen erst sukzessive das Innere strukturieren. Das ist dann aber kein Argument gegen die Ergebnisse der Sauglingsforschung, sondern heiBt eigentlich nur, dass die Symbiose metapsychologisch, warum auch immer, notwendig ist. In diesem Fall hat sich Honneth fur die Trennung von empirischen Forschungsergebnissen entschieden. Er argumentiert rein metapsychologisch, obwohl er in seiner Auseinandersetzung mit Whitebook jenem gegeniiber sehr wohl mit empirischen Ergebnissen argumentiert hatte, weil dieser ein nicht intersubjektiv tangiertes Moment am Selbst als gesellschaftliches Kritikpotential retten wollte. Intersubjektivitat und intersubjektive Konstituierung bedeuten hier jedenfalls nicht, dass der Andere mir dauerhaft lebensnotwendig ist. Ich gebrauche ihn zur intrapsychischen Ausdifferenzierung und Instanzenbildung, er ermoglicht Fusionserfahrungen, in der er aber nicht in Erscheinung tritt und auch nicht als Grund dieser Erfahrung erfahren wird. Die reife Personlichkeit gelangt im besten Fall nur zu einer gebrochenen Intersubjektivitat, d.h. keine erwachsene Kommunikation erreicht die Bedeutung der Fusionserfahrungen. Klarer kann man am Ende die zwischen-
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menschliche Kommunikation nicht abwerten. Die Ambivalenz gegentiber dem Anderen gehort in dieser Konzeption zur condition humaine. Die Griinde dafiir sind nicht plausibel, oder aber: Die individuumsbezogene Sichtweise ist derart selbstverstandlich und ohne Konkurrenz, dass eine andere Denkweise gar nicht mogUch erscheint. In der Psychoanalyse ging und geht es nach wie vor immer um das Individuum und diese Perspektive hat sich auch bei Honneth nicht verandert. Intersubjektivitat bleibt auch hier ein eher irrefuhrender Begriff fiir das Gemeinte. 5.6.5 „Intersubjektivitat^' und „zwischenmenschliche Kommunikation^' bei Jessica Benjamin 5.6.5.1 Gegenseitigkeit des Bediirfnisses nach Anerkennung Die feministische Psychoanalytikerin und der Kritischen Theorie wie dem Dekonstruktivismus verpflichtete Philosophin Jessica Benjamin entwickelt ihren Ansatz unter Riickgriff auf die Anerkennungstheorie von Hegel. Fiir sie fiihrt die Annahme, dass das Kind schon von Geburt an kommunikativ ist, dazu, dass Freuds Bild vom Menschen als einem „monadischen Energiesystem" revidiert werden muss „zugunsten der Vorstellung von einem aktiven Selbst, das auf andere angewiesen ist" (Benjamin 1996, 21). Das ist aber nicht einseitig zu verstehen, sondem der Andere ist ebenso ein eigenstandiges Subjekt wie das Selbst, eine Person. In der Interaktion zwischen beiden Subjekten geschieht eine wechselseitige Anerkennung sowohl hinsichtlich der Verschiedenheit als auch der Ahnlichkeit, und zwar auf der Grundlage eines gegenseitigen Bediirfnisses nach Anerkennung. Und hier scheint Benjamin iiber Positionen, wie sie zuvor diskutiert wurden, hinauszugehen. „Es existiert auch ein Bediirfnis, die jeweils andere Person als ,selbstandige Person' anzuerkennen und nicht nur - wie etwa in der traditionellen Sicht der Mutter-Kind-Symbiose - als eine Art Anhangsel der AuBenwelt oder des bedurftigen kindlichen Ichs" (Benjamin 1993, 142). Die Mutter ist nicht nur ,Ja' zum Kind, sondem auch ein Nicht-Ich. Schon die Begegnung zwischen Neugeborenem und Mutter kann in einem Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung geschehen, sofem das gesellschaftliche Umstande und Erwartungen nicht verhindem. Die gegenseitige Anerkennung ist gerade nicht erzielbar, wenn kein Anderer da ist. Der nicht zu verhindemde Mangel an Zuwendung, Grenzsetzung konstituiert die Realitat. „Die Psychologic ganz allgemein und die Psychoanalyse im Besonderen haben zu einem verzerrten Mutterbild beigetragen, das tief in unserer Kultur verankert ist. Und bislang hat noch keine Theorie die selbstandige Existenz der Mutter adaquat dargestellt" (Benjamin 1996, 27). Benjamin geht also davon aus, dass es zu Anfang immer schon zwei Subjekte gibt, und zwar aus der Innenperspektive dieser Beziehung. Aber wie entwickelt sich diese Fahigkeit zu einer solchen Gegenseitigkeit? Es gibt vor jeder Kommunikation schon zwei Subjekte, die das Bediirfnis nach wechselseitiger Anerkennung in sich haben. Saugling und Mutter sind demnach nicht nur organisch, sondem auch psychisch je Subjekt. Mit einem Gleichnis veranschaulicht Benjamin dieses Anerkennungsverhaltnis: „So verstanden, konnen wir Anerkennung mit jenem wichtigen Ele194
ment der Photosynthese vergleichen, namlich dem Sonnenlicht, das die Energie fur die dauemde Transformation der pflanzlichen Substanz liefert" (Benjamin 1996, 25). Damit greift Benjamin mit alien Nachteilen auf das schon von Rogers (s. Abschnitt 5.2) verwendete Organismusmodell zuriick. Sonne und Pflanze sind die zwei Subjekte. Die Pflanze bekommt ihre Energie fur die ihr notwendige Photosynthese von der Sonne und kann sich dadurch entwickeln. Was aber bekommt die Sonne von der Pflanze? Dass sich die Sonne iiber das Wachsen der Pflanze „freut", ware denn schon eine ziemliche Anthropomorphisierung, die bei der Pflanze nicht notwendig war. Hier zeigt sich zum einen die Unbrauchbarkeit des Organismusmodells fur die Veranschaulichung der zwischenmenschlichen Kommunikation. Zum anderen erfuUt dieses Modell nicht einmal die Bedingungen fur eine biologische Symbiose im Sinne eines „do ut des", denn fur die Sonne ist es „gleichgultig", ob die Pflanze auf sie reagiert Oder nicht. Was bis jetzt nach einer grundlegenden Anderung im Vergleich zum Ansatz von Honneth aussieht, namlich davon auszugehen, dass es sich von vomherein um zwei Subjekte mit dem Bediirfnis nach wechselseitiger Anerkennung handelt, erweist sich zumindest anhand dieses Bildes als Irrtum. Die Sonne ist hier ein ganz autonomes „Subjekt", das der Pflanze uberhaupt nicht bedarf Sie existiert vollig unabhangig von der Pflanze. Es ist ein klares einseitiges Abhangigkeitsverhaltnis. Was Benjamin also versucht hat, namlich die Wechselseitigkeit und Gleichheit der beiden Subjekte von Anfang an gegeniiber anderen Ansatzen herauszuheben, als den Kern des intersubjektiven Ansatzes, gelingt mit diesem Gleichnis gerade nicht. Im Gegenteil, sie verbildlicht damit das, was sie eigentlich zuvor als so einseitig an Freuds „monadischem Energiesystem" kritisiert hat. Wenn man im Bilde bleibt, so ist dann auch die Distanz zwischen beiden „Subjekten" auffallig.^ ^' In jedem Fall kommt der Andere in diesem Gleichnis nicht adaquat ins Bild. Es geniigt nicht, aus dem friiheren „Objekt" nur nominell ein „Subjekt" zu machen. 5.6.5.2 Die Paradoxic zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung Die gleichwertige Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen wird ermoglicht durch die Spannung zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung. Zwischen beidem herrscht allerdings ein „prekares" (vgl. Benjamin 1996, 15), ein immer wieder gefahrdetes Gleichgewicht. Aber nicht nur das. Es ist paradox, d.h. ein Widerspruch in sich. Verantwortlich fur diesen Widerspruch ist das Bediirfnis nach Anerkennung. Der Wunsch nach Anerkennung wirft uns, so Benjamin, in die Abhangigkeit zuruck (vgl. Benjamin 1996, 41). Demnach scheint die Selbstbehauptung ein Zustand zu sein, der aus einer bewaltigten Abhangigkeit erfolgt, wohin das Verlangen nach Anerkennung das Subjekt zurucktreibt. Das Verlangen nach Anerkennung ist schon Riickfall in die Abhangigkeit. Hier rekurriert Benjamin auf Hegel. „Das Verlangen nach absoluter Selbststandigkeit kollidiert nach Hegel mit dem Wunsch des Selbst nach Anerkennung. Zwei absolute Selbst stehen einander hypothetisch gegeniiber (das
Allerdings ist es immer auch eine Frage, wieweit die Gultigiceit einer Metapher reicht.
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Selbstbewusstsein und der Andere - namlich ein weiteres Selbstbewusstsein), deren Auseinandersetzung eine Dialektik der Anerkennung begrtindet" (Benjamin 1996, 34). Allerdings ist bei Hegel der Andere nur ein Mittel zum Zweck, es gibt nicht wirklich ein Bediirfnis nach dem Anderen. Und so kann Benjamin eine Parallele ziehen zwischen Hegel und der klassischen Psychoanalyse. Beide gehen ihrer Meinung nach aus von einem selbstbezogenen, monadischen Ich (vgl. Benjamin 1996, 35), das sich zunachst in einer Allmachtsposition befmdet, dass in der Begegnung mit dem Anderen von diesem bestatigt werden soil. Dabei stellt dieses absolute Selbst aber fest, dass das andere eines ist wie es selbst. „Es findet im Anderen keine Bestatigung seiner Allmacht: Denn dazu mtisste es den Anderen ja anerkennen. Den Anderen anerkennen wiirde aber heifien, den eigenen Absolutheitsanspruch aufzugeben. So fiihrt das Bedurfnis nach Anerkennung zu einem elementaren Paradoxon: In dem Augenblick, da wir unsere Unabhangigkeit erreichen, sind wir davon abhangig, sie uns gegenseitig zu bestatigen. In dem Augenblick, da wir begreifen, was es heifit, ,Ich selbst' zu sagen, miissen wir auch die Grenzen dieses Selbst erkennen. In dem Augenblick, da wir verstehen, dass getrenntes Bewusstsein den gleichen Zustand teilen kann, miissen wir erkennen, dass beide auch verschiedener Meinung - also uneins - sein konnen" (Benjamin 1996, 35f). Hegel, und mit ihm Benjamin, postuliert ein Verlangen nach absoluter Selbststandigkeit, setzt an den Anfang ein absolutes Selbst, dass, zumindest bei Hegel, nicht einmal ein Verlangen nach dem Anderen hat. Der Zustand der Allmacht bei Hegel, in der klassischen Psychoanalyse ist es die Symbiose und ein mit ihr einhergehendes Gefiihl von Omnipotenz, steht am Anfang. Bei Benjamin hingegen sind Selbstbehauptung und Verlangen nach Anerkennung einerseits gleichurspriinglich, d.h. die Ambivalenz gegeniiber dem Anderen bestimmt das Verhaltnis von Anfang an. Andererseits wird bei ihr dieses Gleichgewicht durch die Anerkennung prekar. So gesehen ware bei Benjamin doch die Selbstbehauptung, wie bei Hegel, das Primare. „Einerseits gibt es im Grunde kein unabhangiges und sich selbst konstituierendes Ich, sondem nur ein Ich, das aus den Objekten besteht, die es assimiliert; andererseits kann es das Ich nicht zulassen, dass der Andere eine unabhangige, auBere, von ihm getrennte Entitat ist, vielmehr verleibt es sich den Anderen stets ein oder fordert, der Andere musse so sein wie es selbst" (Benjamin 2002, 103). Die Absolutsetzung des Subjekts bedeutet zugleich die Vemeinung der Eigenstandigkeit des Anderen, die Negation seines Andersseins. 5.6.5.3 Die Fraglichkeit der Absolutsetzung des Subjekts „Das Bedurfnis des Subjekts nach dem Anderen ist insofem paradox, als das Subjekt sich als ein absolutes Wesen zu setzen versucht, aber um selbst anerkannt zu sein, auch den anderen als gleichen anerkennen muss" (Benjamin 1996, 34). Benjamin akzeptiert die Ergebnisse der Sauglingsforschung und damit auch, dass der Saugling von Anfang an auf Kommunikation mit einem anderen Subjekt hin angelegt ist. Femer ist die Anerkennungsbewegung zwischen Mutter und Saugling eine wechselseitige, d.h. sie sieht auch die Mutter als eigenstandiges Subjekt, ja sie geht soweit zu sagen, dass der Saugling die Mutter als eigenstandiges Subjekt anerkennen will. Mit der Metapher von der Photosynthese kehrt sie allerdings in das alte indi196
viduumszentrierte Schema zuriick. Durch das Verlangen nach Anerkennung entsteht nun das Paradoxon zwischen diesem und der Absolutsetzung des Subjekts. Damit wird das Postulat des sich absolut setzenden Subjekts akzeptiert, wahrend das Verlangen nach Anerkennung das eigentUche Problem provoziert. Welcher Art ist nun diese Paradoxic? Es ist, aristotelisch gesprochen, ein kontradiktorischer Widerspruch. Die Absolutsetzung des Subjekts steht in volligem Widerspruch zu seiner Angewiesenheit auf Anerkennung. Wenn es sich absolut setzt, kann es nicht zugleich auf Anerkennung angewiesen sein, derm die hebt die Absolutsetzung auf. Beides kann nicht zugleich der Fall sein. Benjamin hat diese paradoxe Bewegung zwischen zwei Subjekten anschaulich formuliert: voneinander unabhangige Subjekte wie auch deren Begegnung begreift sie als „ein Bild, in dem die Vogel stets in beide Richtungen fliegen" (Benjamin 1996, 39), eine Bewegung, die es realiter nicht geben kann. Wenn das Bedtirfnis nach Anerkennung durch Andere und Kommunikation mit ihnen von Geburt an gegeben ist, dann fragt sich, was denn eigentlich flir diese Absolutsetzung spricht, wodurch die Annahme eines sich absolut setzenden Subjekts begrtindet werden soil. Hegel hat diese Frage nicht beantwortet, ebenso tut dies auch Benjamin nicht. Vielleicht miisste man es besser umgekehrt sagen. Das Bedurfnis nach Anerkennung in der zwischenmenschlichen Begegnung wird problematisch durch das Postulat der Absolutsetzung des Subjekts. Nicht die Anerkennung des Anderen ist das Problem, sondem die Verabsolutierung des Subjekts. Sie ist der Grund fur das Paradoxon. Wenn die Absolutheit des Subjekts abhangig ist von der Anerkennung durch den Anderen, dann ist sie eben keine mehr. Man muss es deutlich sagen: die Ergebnisse der Sauglingsforschung sprechen klar fiir die Annahme einer Abhangigkeit vom Anderen, einer Angewiesenheit auf seine Anerkennung. Nichts spricht, wie Honneth es oben sagte, dafur, dass es eine ursprtingliche Aggression gegeniiber dem Anderen gibt. Absolutsetzung und Abhangigkeit vom Anderen sind ein kontradiktorischer Widerspruch; beide Behauptungen schlieBen einander aus. Von daher bleibt die Absolutsetzung des Subjekts eine vollig unbegrundete Behauptung ohne jegliche Plausibilitat. Bezogen auf die theoretischen Ausfuhrungen uber die Individuumszentriertheit psychologischer oder psychotherapeutischer Menschenmodelle wird immer deutlicher, dass einem solchen Ansatz das fundamentum in re fehlt. Wie bei Benjamin noch zu zeigen ist, folgen aus diesem Sachverhalt konsequenterweise weitere Probleme. 5.6.5.4 Absolutsetzung des Subjekts und zwischenmenschliche Kommunikation „Das Subjekt ist nur an seinem Tun zu erkennen. Nur wenn dies Tun flir den Anderen eine Bedeutung hat, hat es auch fiir das Selbst eine Bedeutung. Aber jedes Mai, wenn das Selbst etwas tut, negiert es den anderen, das heiBt, wenn der andere durch dieses Tun beeinflusst wird, ist er nicht mehr identisch mit demjenigen, der er vorher war. Statt das Tun des Selbst anzuerkennen, leistet der andere daher Widerstand, um seine Identitat zu wahren" (ebd., 34f). Ubersetzt wurde das bedeuten, immer wenn wir miteinander kommunizieren, beeinflussen wir einander, und d.h. wir verandem uns. Schon in dem Augenblick, wenn wir einander wahrge197
nommen und damit kommuniziert haben, werden wir andere. Insofem sind wir tatsachlich dann nicht mehr diejenigen, die wir vor der Kommunikation waren. Wer kommuniziert, verandert sich und ist damit nicht mehr der, der er vorher war. Die Negation des Anderen durch das Selbst, wie auch umgekehrt, besteht nach Benjamin darin, dass er durch die Kommunikation verandert wird, wie allerdings das Selbst auch. Kommunikation hatte dann konkret den Verlust der Identitat zur Folge, denn ein Einfluss von auBen verandert. Veranderung heiBt, es ist ein neuer Zustand gegeben. Das kann das absolute Subjekt aber nicht zulassen, weil es dann nicht mehr absolut ist, d.h. sein Mit-sich-identisch-Sein ist gleichbedeutend mit seiner Unbeeinflussbarkeit. Absolutsein heilit mit sich identisch bleiben. Diese Vorstellung erinnert stark an den „unbewegten Beweger" bei Aristoteles (vgl. Metaphysik XII, 1072b). Auch das absolute Sein bei Wyss (s. Abschnitt 5.3.4) erwies sich nicht als vollkommen Kommunizierendes, sondem als gar nicht Kommunizierendes. Das absolute Subjekt ist dasjenige, das nicht kommuniziert. Wenn das Selbst etwas tut, negiert es damit zugleich den Anderen. Negation meint, dass der Andere durch mein Tun beeinflusst und dadurch verandert wird, also nicht mehr mit sich identisch ist. Der Andere anerkennt daher nicht das Tun des Selbst, damit er nicht seine Identitat verliert. Das ist eigentlich grundlegend die Vemeinung von zwischenmenschlicher Kommunikation. Die Anerkennung ist existenziell notwendig, und sie geschieht durch Handeln, das den Anderen beeinflusst, d.h. durch Kommunikation. Die Ergebnisse der Sauglingsforschung belegen diesen Sachverhalt. Den Anderen anerkennen heiBt, den eigenen AUmachtsanspruch aufgeben. Warum muss es den erst geben, um ihn dann wieder aufzugeben? Fiir den Saugling ist das Anderssein, das immer wieder Anderssein, doch auch anregend. Das Neue weckt seine Aufmerksamkeit. Der Andere in seiner Andersheit ist neu. Die Begegnung fiihrt zur Veranderung von beiden. Der Andere ist auch der, der Grenzen setzt. Erst in der Beriihrung mit dem Anderen sptirt sich der Eine selbst. Ob das als beengend oder fordemd erlebt wird, hangt von der Weise der Beruhrung ab, namlich von der Kommunikation. Durch die Beruhrung und das Beriihrt-Werden in der Kommunikation entwickeln wir uns oder schranken wir uns ein. Der Saugling wird durch das AuBen stimuliert, und sein Gehim ist immer wieder aktiv auf der Suche nach Stimulierung. Widerstand ist notwendig, um sich selbst zu erleben; er kann aber sehr verschiedene Qualitaten haben. 5.6.5.5 Balance im Paradox Benjamin pladiert nun dafiir, zwischen Selbstbehauptung und Bedurfnis nach Anerkennung eine Balance zu halten und nicht in eine Polarisierung zu fliichten. „Weil der Wunsch nach Anerkennung durch den Anderen uns in die Abhangigkeit vom anderen zuriickwirft, miindet das Paradoxon der Anerkennung in einen Kampf um die KontroUe. In diesem Kampf konnen wir zu der Erkenntnis kommen, dass wir, wenn wir den anderen vollig negieren, damit auch uns selbst negieren. Denn wenn wir vollige Kontrolle uber den anderen beanspruchen, wenn wir seine Identitat und seinen Willen zerstoren, dann gibt es niemanden mehr, der uns anerkennen konnte. Dann ist niemand mehr da, den wir begehren konnten" (Benjamin 1996, 41). 198
Wenn ich die KontroUe uber den Anderen erlange, dann glaube ich verhindem zu konnen, dass er mir die Anerkennung verweigert. Fiir Hegel ist dies der Beginn von Herrschajftsverhaltnissen. „Vielleicht liegt es also an der Befiirchtung, dass Abhangigkeit von anderen unsere Unabhangigkeit bedroht; dass Anerkennung des anderen unser Selbst beeintrachtigen konnte. Wenn der Konflikt zwischen Abhangigkeit und Unabhangigkeit allzu intensiv erlebt wird, fliichtet sich das Individuum aus dem Paradoxon der Gegenseitigkeit in eine einfache Entgegensetzung der beiden Seiten. Damit tritt Polarisierung an die Stelle der Balance auch im Selbst. Und diese Polaritat bildet dann den Rahmen, in dem die Entwicklung des Selbst als eine Flucht aus der Abhangigkeit definiert werden konnte" (ebd., 52). Absolutsetzung und Verlangen nach Anerkennung zur gleichen Zeit schlieBen einander aus. Wo Selbstbehauptung ist, kann es nicht zugleich ein Verlangen nach Anerkennung geben. Insofem kann es auch keine Balance geben, denn es gilt tertium non datur. Nur wenn Absolutsetzung und Bedtirfnis nach Anerkennung als gleichursprlinglich betrachtet werden, konnen diese in Polaritaten gelebt werden. Dann ware aber die Grundverfasstheit des Menschen ambivalent. Das hieBe konkret, dass ich den Anderen einmal anerkenne und dann wieder nicht anerkenne. Daraus konnen konkret aber nur Kommunikationsstorungen entstehen, die dann aber der unvermeidliche Ausdruck dieser Ambivalenz sind. Anerkennung ist fiir Benjamin „die Arena des Konflikts zwischen dem Selbst und den anderen" (ebd., 26). 5.6.5.6 Der Appell an die Gleichheit Benjamin will mit einem Konzept „von Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit" liber „die Erfahrung der Dualitat" derart hinausgehen, dass sich beide Subjekte als gleichwertige Partner begegnen kormen. „Die intersubjektive Interaktion besteht aus zwei aktiven Partnem, nicht aus einer umkehrbaren Einheit von Gegensatzen, bei der eine Person etwas tut, der anderen etwas angetan wird. Die Identifikation mit der anderen Person geschieht durch die geteilte Erfahrung gleicher Zustande, nicht durch bloBen Rollenwechsel. Das ,Zusammen-sein' uberwindet die Gegensatze zwischen machtig und hilflos, zwischen aktiv und passiv und wirkt der Tendenz entgegen, andere zu verdinglichen und all denen, die anders oder schwacher sind, Anerkennung zu versagen. Solch ein Zusammen-sein ist die Grundlage alien Mitleids, alien ,Mitfuhlens', wie Milan Kundera sagt, der Fahigkeit, Geflihle und Intentionen mit anderen zu teilen, auch ohne die Kontrolle iibemehmen zu wollen. Es befahigt uns, Gleichheit zu erleben, ohne die Unterschiede zu verleugnen" (ebd., 50). Hier spricht Benjamin nicht mehr von einer Balance, sondem einer Uberwindung der Gegensatze. Wodurch soil die aber zustande kommen? Sie stellt eine Behauptung daruber auf, was Beziehung eigentlich ist. Die Verbindung zu dem vorher Ausgefuhrten wird aber nicht deutlich. Die intersubjektive Theorie spricht von wechselseitiger Beeinflussung: das ist im Grunde nur eine Beschreibung des Phanomens, aber keine Erklarung. Man verbleibt auf der Phanomenebene und in der Ambivalenz gegentiber dem Anderen, „Balance" ist da wohl nur ein
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Wunschtraum, beeinflusst von demokratischen Grundsatzen. Demokratische Grundsatze allein garantieren aber kein Gelingen der Kommunikation. Worin besteht die Gleichheit zwischen beiden Personen? Alles, was Benjamin hier sagt, ist, dass die Gleichheit wunschenswert ist; sie gibt dafiir aber keine Begriindung an bzw. sagt, dass dann die Beziehung fiir beide schoner sei. Wie sollen in einer Beziehung Gegensatze uberwunden werden, die zuvor als konstitutiv fiir den Menschen erhoben wurden? M.a.W. in der konkreten Beziehung geht es plotzHch nicht mehr um die Balance von Selbstbehauptung und Anerkennung, die ja auch gar nicht moglich ist, sondern um Gegensatze, die uberwunden werden miissen. Die Diskrepanz zwischen Menschenmodell und Phanomen lasst sich dann nur noch durch einen Appell an die Vemunft, namlich dass beide gleich sind, in den Griff bekommen. Wo die Begriindungen nicht ausreichen, bleibt nur noch der Appell. „Wenn das Kind die Unabhangigkeit der anderen respektiert, gewinnt es etwas, das ihm viel wichtiger sein kann als das Gefiihl der Kontrolle: namlich ein neues Gefiihl der Verbundenheit mit anderen" (Benjamin 1996,42).
5.7 Bindung Ein Verstandnis ganz eigener Art von der Beziehung zwischen Betreuungsperson und Kind wird in der von John Bowlby begriindeten Bindungstheorie dargelegt. Bowlby orientierte sich an Konrad Lorenz und Niko Tinbergen, und alle an Charles Darwin (vgl. Grossmann 2003, 13). Seit 1950 arbeitete Bowlby mit Mary Ainsworth zusammen. 1969 erschien „Attachment", der 1. Band seiner Trilogie iiber die Bindungstheorie. Bowlby tibernahm „fur die Bindungsforschung den ethologischen Bezugsrahmen der Verhaltensforschung von Konrad Lorenz, William H. Thorpe und Niko Tinbergen (Bowlby 1969/1982)" (Grossmann & Grossmann 2003, 29). Er hat seine Theorie in Anlehnung an den Prozess der Pragung im Tierreich gebildet, „durch den die Bildung enger sozialer Eltem-Kind-Beziehungen erklart werden konnte, ohne dass das Fiittem dabei eine Rolle spielen musste" (Bretherton 1995, 33). Wie noch zu zeigen sein wird, ist dieser Vergleich unglucklich gewahlt, weil die Parallelitat zwischen Pragung und Bindung so nicht zutreffend ist. Im deutschsprachigen Raum wird die Bindungsforschung insbesondere von dem Forscherteam um Grossmann & Grossmann (Regensburg) betrieben. Sie verweisen auch auf die Trennung zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie. Letztere sei entschieden empirisch orientiert (vgl. Grossmann & Grossmann 2003, 34f). Forschungen zum Thema „Bindung" haben im letzten Jahrzehnt sprunghaft zuge-
5.7.1 Bindung und Bindungsverhalten Bindung ist phylogenetisch verankert, d.h. es werden nicht bestimmte Verhaltenssysteme vererbt, „sondem das Potential, bestimmte Verhaltenssysteme zu entwickeln, deren Wesen und Auspragung sich ontogenetisch qualitativ unterschiedlich ausbilden konnen" (Grossmann & Grossmann 2003, 31). Phylogenetisch gesehen ist seine Funktion die Uberlebenssicherung.
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„Bindung" selbst ist ein hypothetisches Konstrukt und daher nicht direkt beobachtbar. „Es stellt die innere Organisation des Bindungsverhaltenssystems und der zugehorigen Gefuhle dar (Sroufe & Waters, 1977). Dagegen ist Bindungsverhalten eine Klasse von variablen und bedingt austauschbaren Verhaltensweisen und Signalen [...] die das Kind mit seiner Bindungsperson in Verbindung bringen und halten soUen" (Grossmann & Grossmann 2003, 33). Besonders sichtbar ist fur Bowlby das Bindungsverhalten im Sauglingsalter, „doch geht man davon aus, dass es menschlichen Wesen von der Wiege bis zum Grab eigen ist. Es umfasst Weinen und Rufen, die Fursorge und Zuwendung auslosen, Folgen und Festhalten und auch starken Protest, wenn ein Kind allein gelassen oder bei fremden Personen zurlickgelassen wird. Mit zunehmendem Alter nehmen die Haufigkeit und Intensitat solchen Verhaltens kontinuierlich ab. Trotzdem bleiben alle als wichtiger Teil der Verhaltensausstattung des Menschen erhalten. Bei Erwachsenen sind sie vor allem dann zu beobachten, wenn eine Person starken Belastungen oder Krankheit ausgesetzt ist oder wenn sie Angst hat. Die besonderen Muster des Bindungsverhaltens eines Individuums hangen zum Teil von seinem Alter, seinem Geschlecht, den Lebensumstanden und zum Teil von den Erfahrungen ab, die es mit Bindungspersonen frtiher im Leben gehabt hat" (Bowlby 2003, 23). Bindung ist genauso ein Grundbedurfnis, also nicht primar abgeleitet, wie jenes nach Nahrung oder Schlaf, und zwar nicht nur fur den Saugling und das Kleinkind, sondem fiir jeden Menschen das ganze Leben lang. Bindungsverhalten ist daher weder kindlich noch pathologisch, sondem ist ein „lebenslanges Thema" (Brisch 1999, 22). Strauss betrachtet die „Bildung einer engen emotionalen Beziehung als universelles, primares menschliches Bediirfnis [... als] eine spezifische Art sozialer Beziehung [...] die sich zunachst paradigmatisch zwischen dem Saugling und dessen primarer Bezugsperson entwickelt" (Strauss 2000, 98). Fiir den Saugling und das Kleinkind vermittelt die Betreuungsperson zuverlassige Fursorge, Trost und Schutz, und hat von daher lebenserhaltende Bedeutung. Die Person, die eine solche Sicherheit bietet, wird vom Schutzbediirftigen als erfahrener, weiser und starker betrachtet. „Ein Kind oder altere Person in der Rolle desjenigen, der Unterstutzung sucht, wird in Reichweite der Fiirsorgeperson bleiben, wobei das AusmaB der Nahe oder der Zuganglichkeit von den jeweiligen Umstanden abhangt" (Bowlby 1995, 21). Bindungen zu anderen Menschen aufbauen zu konnen, gilt Bowlby als Grundmerkmal psychischer Gesundheit. Dazu gehort es, sowohl Unterstiitzung und Trost suchen als auch geben zu konnen (vgl. ebd.). Bindungsverhalten wird dann gezeigt, wenn sich das Kind oder der Erwachsene bedroht fiihlt, d.h. in Stresssituationen, bei Angst, Unsicherheit, Unwohlsein oder Krankheit. In solchen Situationen zeigt der Mensch das Bediirfnis nach bestimmten vertrauten Personen (zumindest nach einer), und zwar nach Face-to-face-Kontakt. Die Weise, wie dieser Kontakt in einer solchen beangstigenden Situation hergestellt wird, lasst auf eine entsprechende Bindungsqualitat schlieBen. Zur standardisierten Erhebung der Bindungsqualitat bei Kleinkindem hat Mary Ainsworth den „Fremde-Situations-Test" entwickelt (vgl. Ainsworth & Wittig 1969), der mit 12 Monate alten Kindern durchgefiihrt wird. Dabei wird die Betreuungsperson zunachst mit dem Kind allein in einem Raum belassen, der fiir das Kind fremd ist. Beide konnen hier miteinander spielen. Nach einer Weile kommt eine fremde Person dazu und setzt sich 201
in den Raum. Nach einer weiteren Weile verlasst die Betreuungsperson den Raum, die fremde Person bleibt. Wird das Kind aufgeregt oder weint wegen der Abwesenheit der Betreuungsperson, versucht die fremde Person das Kind zu beruhigen. 5 Minuten spater kommt die Betreuungsperson zurtick und versucht mit dem Kind wieder Kontakt aufzunehmen und es zu beruhigen. Ein sicher gebundenes Kind wendet sich nach dieser Trennung der Bindungsperson wieder zu, lasst sich trosten und beruhigen und geht dann wieder weiter seinem Spiel nach. Sein Bindungssystem wird durch die Trennung aktiviert, lasst sich aber auch schnell wieder deaktivieren. Beim unsicher-ambivalent gebundenen Kind wird das Bindungssystem allein schon durch die fremde Umgebung und die fremde Person aktiviert. Kehrt die Bindungsperson zuruck, dann zeigt es ihr gegeniiber ein widerspriichliches Verhalten. Es klammert sich an, und tritt zugleich nach ihr. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder reagieren scheinbar gar nicht auf die Trennung, genauso wenig zeigen sie sich besonders interessiert an der Riickkehr der Bindungsperson.'^^ Spater wurde eine vierte Klassifizierung, unsicherdesorientiert gebunden, vorgenommen (vgl. Main 1995). „Kinder wurden dann als desorganisiert oder desorientiert klassifiziert, wenn sie in Anwesenheit der Bezugsperson Verhaltensweisen zeigen wie: das Kind erstarrt in seinen Bewegungen bei gleichzeitigem tranceahnlichem Gesichtsausdruck; es schaukelt stereotyp auf Handen und Knien nach begonnener Annaherung; bei Angst vor Fremden entfemt es sich von der Bezugsperson und lehnt seinen Kopf an die Wand" (Main 1995, 126). Solche Verhaltensweisen dauem zwischen 10-30 Sekunden, das Kind zeigt sich gewissermafien paralysiert. Die jeweilige Reaktion auf die Riickkehr der Bindungsperson ist ein Indikator fur die Qualitat der Beziehung zwischen beiden, und d.h. es ist ein Indikator fur die Qualitat ihrer Kommunikation. Offensichtlich ist die physische Anwesenheit allein nicht ausreichend, derm sonst wtirden sich alle Kinder bei der Riickkehr der Betreuungsperson sofort beruhigen. Vielmehr zeigt sich hier die Frustration des Kindes in ganz bestimmter Weise. Es kommuniziert in dieser Situation ambivalent, oder versucht das Getrenntsein wie die Riickkehr iiberhaupt zu ignorieren. Im auBersten Fall wird es derart von der Angst iiberwaltigt, dass es quasi erstarrt. Die Weise, wie ein Kind in dieser Testsituation reagiert, lasst Riickschliisse auf die Qualitat der Kommunikation zwischen beiden zu. Bei unsicher gebundenen Kindem ist die Kommunikation in unterschiedlichen Graden so defizitar, dass sie nicht in der Lage ist, entsprechend beruhigend zu wirken, d.h. diese Beziehung tragt nicht mehr in Notsituationen. Bindungsvermeidendes Verhalten meint, dass die Kinder schon mit einem Jahr gelemt haben, ihr Bindungsverhalten auBerlich nicht mehr zu zeigen. Folge ist allerdings eine erhohte innere Stressbelastung. Der gesamte Organismus reagiert intensiv auf den Verlust der Bindungsperson.
' Bei vermeidend-gebundenen Kindem waren erhohte Herzfrequenzen wMhrend der Trennung zu beobachten, „und ein Ausbleiben von Herzfrequenzdezeierationen, wenn die Kinder ihre Aufrnerksamkeit Spielobjeicten zuwandten" (Main 1995, 138).
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„Dies auBert sich darin, dass sich bei ihnen nach kurzen Trennungssituationen im Alter von einem Jahr die hochsten Stressreaktionen fanden, wie sie etwa durch die Erhohung der Herzfrequenz, der Veranderung des Hautwiderstandes und durch eine Erhohung des Cortisols im Speichel gemessen wurden (Spangler und Schieche, 1995). [...] Es kommt zu einer Aktivierung von physiologischer Stressregulation im Herz-Kreislauf-System (Blutdruck, Herzschlag); auch im Bereich der endokrinen Stressreaktion und des Immunsystems erfolgt eine Veranderung der Hormonkonzentrationen im Blut (Reite und Field, 1985; Hofer, 1995)" (Brisch 2002, 359). Die 12 Monate alten Kinder werden in diesem Test durch die Konfrontation mit einem fremden Raum, einer fremden Person und dem Weggang der Betreuungsperson in eine Stresssituation gebracht. Das Verhalten wahrend dieser Konfrontation wie auch bei der Wiederbegegnung mit der Bindungsperson, das sog. Bindungsverhalten, sowohl wahrend der Aktivierung als auch der Beruhigung seines Bindungssystems, dient als Diagnosegrundlage fur den Bindungsstil. Wenn das Kind sich wieder sicher fiihlt, wird das Bindungssystem auch wieder desaktiviert. ,,Zusammengefasst lasst sich Bindung durch einen emotionalen Kern gefuhlter Sicherheit und wahrgenommenen Schutzes vor Gefahr in Gegenwart der Bindungsperson definieren (Bretherton 1985)" (Schmidt & Strauss 1996/97, 141). Das Kind wendet sich von einem Angst machenden Reiz ab und gleichzeitig der Betreuungsperson als sicherem Ort zu. Bindungsverhalten fuhrt im Laufe der Entwicklung zu Bindungen bzw. affektiven Banden und entsprechenden Verhaltensformen sowohl zwischen Kind und Betreuungsperson als auch zwischen Erwachsenen, die sich iiber die ganze Lebenssparme hinweg zeigen (vgl. Bowlby 2003b, 60). Angst, Trost- und Schutzbedlirftigkeit losen eine bestimmte Folge von Verhaltensmustem aus, „die sich schnell und gezielt auf die Person richten, die sich um es kiimmert, am haufigsten auf die natiirliche Mutter. Der Effekt ihrer Aktivierung ist es, Kind und Mutterperson so nah zusammenzubringen und -zuhalten - daher der umfassende Begriff ,Bindungsverhalten'" (Bowlby 2003b, 59). M.a.W. affektive Bindungen sind Folgen von Bindungsverhalten. „Der Aufbau eines Bandes wird beschrieben als ,sich verlieben', das Aufrechterhalten eines Bandes als ,jemanden lieben' und einen Partner verlieren als ,iiber jemanden trauem'. Ein drohender Verlust lost Angst aus, und der tatsachliche Verlust gibt Anlass zu Kummer, und jede dieser Situationen kann zu Arger fiihren. Das Aufrechterhalten eines Bandes, ohne es in Frage zu stellen, erlebt man als Quelle von Sicherheit und die Emeuerung eines Bandes als Quelle von Freude" (ebd. 61). Komplementar zum Bindungsverhalten ist das Fursorgeverhalten. Lerntheoretisch glaubt man, dass man das Schreien des Kindes verstarkt, wenn man es hochnimmt, bindungstheoretisch ist sein Schreien eine funktionale Reaktion auf Angstgefiihle (vgl. Bowlby 2003a, 46). Wird das Bindungsverhalten aktiviert, endet gleichzeitig jede Exploration. Die Herstellung des Face-to-face-Kontaktes mit der Bindungsperson ist dann das absolute und einzige Ziel, das die gleichzeitige Verfolgung eines anderen Ziels ausschlieBt. Und auch dieser Sachverhalt lasst sich liber die Lebenssparme hinweg beobachten. „Diesen Prozess hat Bowlby vielmehr als einen bestandigen Vorgang im Laufe des gesamten Lebens betrachtet. Die Sparmung zwischen den Polen Bindung und Exploration muss dabei immer wieder neu wie auf einer ,Wip203
pe' ausbalanciert werden, da Bindung iind Exploration wie These und Antithese zueinander in Beziehung stehen" (Brisch 1999, 39). 5.7.2 Bindung und Kommunikation Das Kind wird im „Fremde-Situations-Test" in eine Stresssituation gebracht, in eine fremde, unbekannte Umgebung, und muss diese ohne Bezugsperson aushalten. 1st die Bezugsperson in der Nahe, dann kann das Kind den Raum explorieren, ist aber das Bindungsverhaltenssystem durch den Weggang der Betreuungsperson aktiviert, wird die Exploration eingestellt und es versucht, den Kontakt mit der Betreuungsperson zunachst wieder herzustellen. Aufschluss iiber die Qualitat der Bindung gibt die Weise, wie nach der Stresssituation der Kontakt zwischen Betreuungsperson und Kind ablauft und ob es sich dann wieder der Exploration zuwenden kann. Man kann auch sagen, die Weise, in der die beiden nach der Stresssituation wieder miteinander kommunizieren, gibt Aufschluss iiber die Qualitat ihrer Beziehung insgesamt. Eine sichere Bindung zeigt ein Kind, wenn es in einer Angstsituation sich der Betreuungsperson zuwenden kann, sich dort trosten und konsolidieren lasst, um dann, wenn es sich beruhigt hat, also das Bindungsverhalten abgeklungen ist, sich wieder seinen Explorationen zuwenden kann, d.h. es kann den direkten Korperkontakt wieder aufgeben. Offensichtlich ist der Korperkontakt, die Face-to-face-Kommunikation beim Kleinkind notwendig zur Desaktivierung des Bindungssystems.^^^ Die physische Anwesenheit spielt auch insofem eine Rolle, als das Erlebnis vergangener gelungener Kommunikation allein nicht ausreicht, damit das Kleinkind die Situation ohne Stress bewaltigt. Entscheidend ist, dass die Anwesenheit zur Stressreduktion ftihrt. Diese affektive Bindung entsteht also durch die tagliche Kommunikation mit der Betreuungsperson. Eine angstigende Situation erfordert den direkten korperlichen Kontakt mit ihr. Die Weise, wie sich das Kind sowohl der Betreuungsperson als dann auch der Exploration wieder zuwendet, ist ein Hinweis auf die Qualitat der Bindung. In dem Sinne, konnte man sagen, lasst die Qualitat der Bindung auch Riickschltisse auf die Qualitat der Kommunikation zwischen den beiden Personen zu. War die Qualitat der Kommunikation liber die Zeit ausreichend, dann konnte sich auch eine entsprechend stabile und in Notsituationen tragfahige Bindung aufbauen. Die unzureichende Kommunikationsqualitat zeigt sich dann in der Weise, wie Kind und Betreuungsperson die angstigende Situation bewaltigen. Kinder mit unzureichender Bindung sind nicht in der Lage, sich wieder der Exploration zu widmen. Sie bleiben gespannt und unruhig, klammem gegebenenfalls. Das Kind vermeidet iiberhaupt die Kommunikation, d.h. es erwartet sich dadurch keinen Trost und Unterstiitzung, vielleicht auch das Gegenteil, noch eine Beschimpfung dazu. Es vermeidet gewissermaBen den offenen Kommunikationsabbruch, d.h. von der Betreuungsperson abgelehnt zu werden. Reagiert das Kind ambivalent, dann hat das Kind noch nicht aufgegeben, aber letztlich wird
' Es sei daran erinnert, dass sich ein Kind mit 12 Monaten die Betreuungsperson noch nicht herbeiphantasieren kann.
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diese Kommunikation als ungeniigend gekennzeichnet. Die bisherige Kommunikation zwischen beiden hat nicht dazu gefiihrt, dass das Kind sich mit ertraglicher Aufregung immer wieder Neuem, Unbekannten zuwenden kann. Die Kommunikation mit der Betreuungsperson in gentigender Qualitat ist also notwendig, um sich auBergewohnlichen Situationen aussetzen zu konnen. Unzureichende Kommunikation schrankt in der Folge die Kommunikation mit der Welt ein, also die Exploration, womoglich in Form einer Abwartsspirale. Darauf hatte Wyss schon in seinen Arbeiten hingewiesen (s. Abschnitt 5.3). Was macht eine Person zu einer Bindungsperson? Sie vermittelt im Laufe der alltaglichen Kommunikation das Gefiihl, dass sie immer beschiitzend und unterstutzend da ist (im Idealfall). Allerdings hat das Kind meist keine Alternative. Es braucht in jedem Fall Bindung in diesem Sinne und wird versuchen, sie mit der Betreuungsperson herzustellen. In normalen Situationen werden solche Defizite kaum spurbar, solange die Situation einigermafien sicher ist. Erst in Angstsituationen wird ein Sicherheitsgefuhl erforderlich, das in der Kommunikation zwischen Kind und Betreuungsperson im negativen Fall nicht erreichbar ist. 5.7.3 Kritische Anmerkungen zum Bindungsbegriff Hilarion Petzold weist immer wieder auf die selektive Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit der Entwicklungspsychologie, auch mit der neueren Sauglingsforschung, hin (vgl. Petzold 1995,398). „Wie kommt es, dass derartige Konzepte von Freud, seinen Nachfolgem, von Psychoanalytikern und Analytikerinnen bis in die Gegenwart, die als Vater und Mutter doch Umgang mit ihren Babies batten, ausgedacht, ausgearbeitet und zur Grundlage weiterfiihrender Theorienbildung gemacht warden? [...] wie kommt es, dass Generationen von Psychoanalytikem, ja Kinderanalytikerinnen bis in die Gegenwart derartige Konzepte vertreten und zur Grundlage klinischen Handelns gemacht haben?" (ebd. 399). Petzold hat zwei umfangreich Bande zur Sauglingsforschung herausgegeben, und es verbliifft doch einigermaBen, wie die dort zusammengetragenen Forschungsergebnisse in der Diskussion kaum Beachtung fmden. In der Konsequenz dessen geht es ihm sowohl um „die Infragestellung von Grundsatzpositionen des psychoanalytischen Diskurses'' (Petzold 1995, 400) als auch um einen kritischen Blick auf Ergebnisse der Bindungsforschung. Im Folgenden sollen einige far die Thematik relevante Ergebnisse und Argumente vorgestellt werden. Bowlby war fasziniert vom Phanomen der „Pragung" wie es Konrad Lorenz fur das Tierreich formuliert hatte. Pragung im Tierreich bedeutet aber sofortige irreversible Pragung, wahrend der Saugling erst mit etwa 6 Monaten eine Bindung entwickelt hat. „Im bioethologischen Sinne reflektiert eine sensible Phase einen Abschnitt der Entwickiung mit einer eingebauten Kompetenz fur einen bestimmten Austausch zwischen Organismus und Umwelt, der das System auf seine Entwicklungszukunft vorbereitet, indem es die reife Struktur oder Funktion im Verhaltnis zur friihen Erfahrung in Ubereinstimmung mit dem Evolutionsprogramm des Organismus vorwegnimmt" (Vyt 1997, 137).
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Gerade wenn die Umweltbedingungen fiir den Saugling nicht optimal sind, iiberlebt er am besten, wemi er iiber einen langen Zeitraum hinweg fur Bindungen empfanglich bleibt, und das nicht nur gegeniiber einer einzigen Person, sondem gegenuber vielen Personen. Ware das Bindungssystem analog zu dem von Enten oder Gosseln, dann hieBe das, dass in der Zeit der Unreife permanente Nahe einer bestimmten Person erforderlich ware. Dies aber ware „eine Behinderung der kognitiven Exploration und Motivation zum autonomen Lemen, die fur die menschliche Anpassung iiberhaupt entscheidend ist" (ebd. 138f). Eine starre Pragung wie bei Enten ist nur dann von wirklichem Vorteil, wenn die Lemzeit kurz und die Variabilitat gering ist. Rigiditat ist bei hoher Produktionsrate geeignet, in jedem Fall aber sehr anfallig, wenn die auBeren Umstande sich wesentlich andem. Dem Menschen steht hingegen eine Alternative offen, denn er besitzt die Fahigkeit, auf sehr hohem Niveau durch Beobachtung und Kommunikation zu lemen (vgl. ebd. 139). In diesem Sinne ist, wie oben schon angedeutet, der Vergleich zwischen tierischer Pragung und menschlicher Bindung eher irrefuhrend, weil sie in entscheidenden Aspekten unterschiedlich sind. Petzold et al. bezweifeln insgesamt die Sinnhaftigkeit des Bindungskonzepts. Da das intuitive parenting-Verhalten transkulturell auffmdbar sei „und als artspezifischer, kollektiv verankerter Schutzfaktor zum Tragen kommt, besteht fur die Bonding-Doktrin von Bowlby, Klaus, Kennell u.a. eigentlich keine Notwendigkeit, zumal das Parenting-Muster sich im kommunikativen Vollzug durch den sich in ihm vollziehenden, wechselseitigen ,emotionalen Ansteckungseffekt' noch verstarkt" (Petzold et al. 1997, 391). M.a.W. diese Kommunikationsform ist genetisch grundgelegt. Der Saugling will jemanden, der in bestimmter Weise auf sein Lacheln und sonstige Kontaktversuche reagiert. Die Bindungsvorstellung durfte insgesamt eine missgluckte Analogic sein. Die Frage, ob es so etwas wie „sensible Phasen" in der Sauglingszeit gebe, beantwortet Vyt dahingehend, dass es wohl einzelne Phasen gebe, aber nicht die gesamte Zeit eine einzige groBe sensible Phase sei. Letztere Meinung sei eine unzutreffende Schlussfolgerung aus Untersuchungen an schwerstdepravierten Kindem gewesen (vgl. Vyt 1997, 134f; ahnlich Emde 1997, 288f). Sensible Phasen gebe es, so Petzold gegen Bowlby, iiber die ganze Lebensspanne hinweg immer wieder, d.h. aber nicht, dass, analog zur „tierischen Pragung", Versaumnisse wahrend solcher Phasen irreversibel sind. Bei Sauglingen gebe es keinen Bindungsmoment unmittelbar nach der Geburt, der unwiderruflich verpasst werden konnte. Lemerfahrungen konnten auch noch nachgeholt werden (vgl. Petzold et al. 1997, 416f). Fiir Emde hat die Forschung gezeigt, „dass die Kontinuitat der Umwelt von groBerer prognostischer Bedeutung fiir die Verhaltensfolgen ist als jede besondere Form von Erfahrung im fruhen Sauglingsaker" (Emde 1997, 288). Es wird auch nicht das Verhaltensmuster des Kindes, sondem „die Muster der Kind-Betreuer-Beziehung auf Dauer festgelegt. [...] Fruhe Beziehungsstile und -muster werden spater vom Individuum in der Weiterentwicklung vom Sauglingsaker zur friihen Kindheit verinnerlicht. [...] Beziehungsaspekte werden vom Individuum verinnerlicht, wirken als starke Einfliisse auf die Entwicklung wahrend der
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ganzen Kindheit fort und werden in ahnlichen Beziehungszusammenhangen wahrend des ganzen Lebens aktiviert" (ebd. 289). Vyt kritisiert uberdies die nach wie vor bestehende Prioritat linearer Entwicklungsmodelle. „Die Auswirkungen friiher Erfahrungen konnen Ergebnis von interagierenden Faktoren uber die Zeit hin sein und sind kaum zu erkennen wegen der Auswirkungen hinzukommender Erfahrungen, der Komplexitat der Reifungsprozesse oder der Diskontinuitaten in der Reifung des zentralen Nervensystems (Kagan 1984)" (Vyt 1997, 112). Ergebnisse werden zwangslaufig falsch interpretiert, wenn sie als Folge eines immerwahrenden Einflusses einer friihen Erfahrung angesehen werden, statt als Konsequenz bestimmter Aspekte von Umwelteinfltissen. Die Beziehung zwischen „Input" und Output" ist fur Vyt daher gerade nicht linear (vgl. ebd. 113ff), d.h. der Schluss von einem fruheren Entwicklungszustand auf einen spateren ist zu simpel. Verhaltensvoraussagen fur gestresste Kinder lassen sich, so Vyt, nur unter Beriicksichtigung weiter hinzukommender Umwelteinflusse machen, ebenso gilt, „dass Langzeitwirkungen aus der fruhen Umgebung nicht auf den Zustand des Kindes in dieser fruheren Zeit und nicht auf spatere, unabhangig vom Organismus handelnde Umgebungen zuriickzufuhren sind, sondem Ergebnis transaktionaler Prozesse sind" (ebd. 117). Hinzu kommt noch, dass Temperament wie Bindungsqualitat in verschiedenen Kulturen unterschiedlich bewertet werden. Langsschnittuntersuchungen haben gezeigt, „dass die Vorhersagbarkeit fur Verhalten von der fruhen Kindheit auf spatere Jahre gering ist" (Emde 1997, 279). Die Mutter ist fiir Vyt keine „Alma mater", die die wesentlichen psychischen Funktionen fur das ganze Leben pragt. Bindungsqualitat ist fiir Vyt ein stabiles inneres Arbeitsmodell, das potenziell das Verhalten des Sauglings steuem kann. Die Folgen unsicherer Bindung beispielsweise zeigen sich fiir ihn eher darin, „dass ein unsicher gebundener Saugling in alle moglichen Arten negativer Kommunikation investiert, also in die aktive Ablehnung der Mutter, die Vermeidung dyadischer Settings oder in ambivalentes Verhalten, und zwar so stark, dass gesunde Gelegenheiten zur Exploration und kognitiven Mastery gehemmt werden" (Vyt 1997, 143 f). Deshalb spielt fur ihn die sog. Bindungssicherheit, im Gegensatz zu den Bindungsforschem, fiir voll ausgetragene Sauglinge eine zu vernachlassigende RoUe (vgl. ebd. 145). Anders dagegen bei gefahrdeten Sauglingen wie z.B. Fruhgeburten. Sozial gefahrdeten Sauglingen fehlt es an einem Unterstiitzungssystem, dass die mangelnde Sensibilitat von Eltern kompensieren konnte (vgl. ebd. 146). Ohne valide und wirklich langfristig angelegte Langsschnittstudien lasst sich, so Vyt, gar nicht sagen, ob eine Betreuungsperson zum Aufbau eines inneren Modells gebraucht wird „oder ob ein generalisiertes inneres Modell von Selbstvertrauen notig ist, das auf Erfahrungen einer reagierenden Umwelt basiert oder auf Erfahrungen, die das Selbstvertrauen herausfordem" (ebd. 147). Nach Zentner haben Bindungstheoretiker ihr Augenmerk fast ausschlieBlich auf die Reaktionen der primaren Bezugspersonen gerichtet und diese fiir die kindliche Verhaltensentwicklung verantwortlich gemacht. Die angeborenen Triebe oder Reflexe des Sauglings blieben
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praktisch auBer Betracht (vgl. Zentner 1997, 157). Das ist fur ihn aus mehreren Griinden nicht haltbar. (1) Sauglinge unterscheiden sich in ihrem Verhalten schon in den ersten Lebenswochen. (2) Es gibt keine Korrelationen „zwischen fnihkindlichen Entwicklungsumstanden und den spateren Eigenschaften des Kindes" (ebd. 158). (3) Wenn Korrelationen diesbezuglich auftreten, sind kausale Attributionen nicht berechtigt, also Einstellungen und Erziehungspraktiken bestimmen die psychische Entwicklung des Kindes (die Mutter ist an allem Schuld); es konnte auch umgekehrt sein, „dass namlich Unterschiede im Verhalten des Sauglings, die gewohnlich als Produkte elterlicher Erziehung angesehen werden, ebenso als Ursache elterlichen Erziehungsverhaltens in Betracht kommen" (ebd.). Petzold et al. kommen zu dem Ergebnis, dass ein guter Anfang nicht unwesentlich ist, aber bei weitem nicht der bedeutendste Einflussfaktor fiir den weiteren Entwicklungsverlauf darstellt. Fiir ausschlaggebend halten sie vielmehr die Interaktion zwischen Saugling und relevanten Betreuungspersonen. Babys, die sich darin aktiv und kompetent zeigen, haben entsprechend gute Entwicklungschancen. „Sauglinge mit einem Handikap oder massiven Entwicklungsrisiken sind auch fiir ihre weitere Entwicklung mehr ,at risk', nicht zuletzt, weil sie im Zusammenspiel mit ihren relevanten Bezugspersonen weniger zu ,stimmigen' Interaktionen kommen. [...] Beeintrachtigungen bei einem oder beiden der Interaktionspartner ,Kind und Erwachsener' erhohen das Risiko misslingender Kommunikation und damit gesunder Entwicklung erheblich" (Petzold et al. 1997, 377). Fiir Petzold et al. kann es daher nicht um die eine und einzige friihkindliche Bindung gehen, sondem um significant caring adults (vgl. ebd. 393). Was fiir Sauglinge und Kleinkinder lebensnotwendig ist, ist fiir Erwachsene zumindest wesentliche Unterstiitzung fur die Bewaltigung von Belastungen und Stress (vgl. ebd. 394f). „Sichemde, stiitzende soziale Beziehungen sind deshalb von Babyzeiten an als zentraler, protektiver Faktor zu sehen" (ebd.). Es gibt keine totale Bindung, sondem ausgewahlte Bindungen zu verschiedenen Personen, wobei sich attachment auch bei Misshandlungen entwickelt. Bis zu einem Alter von 10 Monaten besteht keine Angst vor Fremden. Die Befahigung zum intuitive parenting muss „als zentraler salutogener Einfluss bzw. als protektiver Megafaktor fiir diese Altersstufe angesehen werden, denn Sauglinge benotigen diese Kommunikationsmuster. Sie sind ,primar sozial' (Rutter, Rutter 1992, 110) und oft so kommunikationsfreudig, dass man sogar von einer ,Beziehungspromiskuitat des Sauglings' in dieser Phase sprechen kann. Kleinkinder hingegen haben sich an ihre Bezugspersonen gewohnt und zu ihnen spezifische Bindungen aufgebaut (Bischof 1991, 43 Iff) - nicht zuletzt weil auch die Caregiver nun nicht mehr typisierten Parentingmustern folgen, sondem sich in differenzierten Formen des ,sensitive caregiving' (Vyt 1989) auf die sich entwickelnde Personlichkeit des Kindes eingestellt haben, und dies ist wiederum ein salutogener und schiitzender Einfluss. Deshalb sind Kleinkinder Trennungen gegeniiber viel sensibler als Sauglinge" (ebd.,417f). Ein monokausales Erklarungsmodell erscheint Petzold et al., wie oben schon Vyt, angesichts dieser Forschungsergebnisse nicht mehr vertretbar, also etwa der Schluss vom friihen Milieu auf spatere Pathologien. Daher halt Vyt die Bindungsklassifikation durch eine einzige Messung im Alter von 12 Monaten als Grundlage fiir eine Voraussage spaterer sozialer, emotiona208
ler und kognitiver Kompetenzen fiir unzureichend. Langfristige Follow-up-Untersuchung iiber 12 Jahre ergaben „bei Kindem, die mit 12 Monaten als unsicher gebunden eingeschatzt wurden, keine Anzeichen fiir anhaltende negative Charakterdispositionen" (Vyt 1997, 149). Aus den Ergebnissen der verschiedensten empirischen Studien, vor allem aber auch Longitudinalstudien, zieht Petzold den Schluss, dass sog. friihe Storungen nicht zwingend zu schweren psychischen Erkrankungen im spateren Leben ftihren miissten, „denn die Kompensationsfahigkeit von Sauglingen und Kleinkindern ist ungeheuer grofi" (Petzold 1995, 402f). Es gibt viele Diskontinuitaten im Verlauf der Entwicklung. Nicht nur die Mutter, sondem auch der Vater, Geschwister und andere Verwandte spielen im ersten Lebensjahr eine Rolle. „Es muss schon zu bestandigen ,mismatches\ Jnsensitivities' oder Fehlempathierungen kommen oder es muss ein weitgehender Mangel an sensiblen, empathischen Kommunikationen vorliegen, wenn im Verein mit anderen pathogenen Faktoren es zur Entwicklung von Pathologic kommen soil" (Petzold et al. 1995, 432). Daher versteht Petzold den Menschen als ein in Bezogenheiten aktual Handelnder und Erlebender, der „in jedem Moment seines Daseins geschichtlich und relational gegriindet" (Petzold 1995, 459) ist.
5.8 Intersubjektivitat und Relationalitat in psychotherapeutischen Ansatzen: Zusammenfassung (1) Die Forderung nach gelingender Beziehung als Voraussetzung fur die Gute einer Intervention ist im Rahmen des psychotherapeutischen Diskurses weit verbreitet. Offen wird allerdings auch gesagt, dass bisher unklar geblieben sei, was darunter eigentlich zu verstehen sei. (2) Die Gesprachspsychotherapie von Carl Rogers gilt als Therapierichtung, in der gelingender Kommunikation eine herausragende Bedeutung zugemessen wird. Eine kritische Analyse seines Beziehungsbegriffs macht deutlich, dass das als autonom verstandene Individuum fur seine Entwicklung den Anderen im Sinne einer forderlichen Umwelt braucht, aber nur in dieser Funktion, und gerade nicht als den unverwechselbaren Anderen. Beziehung ist notwendig fur den Einzelnen, ist aber kein wechselseitiges, relationales Geschehen. Die Ambivalenz der Erfahrung wird in der Theorie nicht erklart, sondem das Unvereinbare wird gleichzeitig als zutreffend behauptet, die Substantialitat zugleich mit der Relationalitat. Letztlich gelingt es Rogers aufgrund seines individuumszentrierten Menschenmodells nicht, die als notwendig erfahrene gelungene Beziehung auch theoretisch zu verankern. (3) Dieter Wyss untemimmt den Versuch, eine umfassende Anthropologic und Ontologie zu erstellen. Menschsein ist darin ein grundlegend kommunikativ verfasstes In-der-Welt-Sein. Wirklichkeit ist Kommunikation, ist permanente Korrespondenz von Mitteilung und Antwort, und ist zugleich immer auch konflikthafte, antilogische Verfasstheit. Kommunikation ist Ausdruck und zugleich Kompensation eines grundlegenden Mangels, unaufhebbar, weil ontologisch fundiert, und zugleich der eigentliche Grund fiir die Zuwendung zur Welt. Gegenseitige intersubjektive Konstitution meint, dass ich gegen den Anderen bin, was ich bin, und nicht durch ihn. Der Andere in seinem schieren Anders-Sein bedeutet fur mich Destruktion, 209
die zugleich Konstitution meiner selbst gegen ihn bedeutet. Unser In-der-Welt-Sein zeigt sich, gnindlegend widerspriichlich, zugleich als ein Mit- und Gegeneinander, als gleichzeitige Einzelexistenz und Bezogenheit auf den Anderen. Im letzten sind wir unaufhebbar einzelne, mlissen aber, um sein zu konnen, kommunizieren. Kommunikationseinschrankung und Konflikt bestimmen eigentlich den Menschen. Jede Dekompensation geschieht zugleich leibhaft und psychisch und ist Ausdruck eingeschrankter oder ausgefallener Kommunikation. Krankheit heiBt, dass das Subjekt nicht mehr in der Lage ist, die Kommunikation mit sich selbst und der Umwelt aufrecht zu erhalten. Der Urmangel bedingt die unaufhebbare Unruhe des Menschen, die innerweltlich nicht behoben werden kann. Das absolute, d.h. mangellose Sein kommuniziert nicht vollkommen, sondem gar nicht. Von daher ware das Ideal eigentlich die Nicht-Kommunikation. Erkennbar wird bei Wyss eine deutliche Ambivalenz gegeniiber dem kommunikativen Geschehen wie auch gegeniiber dem Anderen. Die Existenz des Anderen ist Ausdruck meines Verlustes, zugleich brauche ich ihn aber zur Bewaltigung dieses Mangels, die so immer nur eine relative sein kann. So verstanden ware der Andere ein „notwendiges Ubel" zur relativen Bewaltigung des Mangels. Dem gegenuber steht andererseits aber die Kommunikationserweiterung als Heilungsvorgang, von dem beide, Therapeut wie Patient, betroffen sind. Seine Grenzen erfahrt dieser Prozess an der grundsatzlichen monadischen Verschlossenheit des Menschen. Am Ende bleibt dann das letztlich unerreichbare monadische Subjekt, das seine Existenz nur durchstehen kann, da der fundamentale Mangel unaufhebbar bleibt. (4) Die Konfrontation der Psychoanalyse mit den Ergebnissen der neueren Sduglingsforschung hat im Rahmen der psychoanalytischen Diskursgemeinschaft eine Reihe von Diskussionen ausgelost. In engem Zusammenhang mit ihnen steht auch der sog. „relational turn" eines Teils der heutigen Psychoanalyse. (5) Die Erforschung der Ontogenese der zwischenmenschlichen Kommunikation hat in den letzten 25 Jahren erstaunliche Ergebnisse gezeitigt, insbesondere, was die schnelle Entwicklung und Ausdifferenzierung der Wahmehmungsfahigkeit, Kognition und Affekte des Menschen betrifft. Der Saugling ist im Zustand der wachen Inaktivitat insbesondere fasziniert vom bewegten menschlichen Gesicht und sucht aktiv die Kommunikation mit dem Anderen. Die Kommunikationsfahigkeit entwickelt sich vor vielen anderen Fahigkeiten, d.h. sie erscheint als sehr wichtig und existentiell liber die gesamte Lebensspanne hinweg. (6) Durch die neuere Sauglingsforschung wurde auch die psychoanalytische Annahme eiviQS friihkindlichen symhiotischen Zustands (Margret Mahler) in Frage gestellt. Im psychoanalytischen Sinne meint Symbiose die psychische Verschmelzung zwischen Saugling und Mutter aus der Perspektive des Sauglings und entspricht damit eher dem biologischen Parasitenbegriff. In jedem Fall steht dahinter ein individuumszentriertes Menschenmodell. Aus der symhiotischen Innensicht stellt sich gar nicht die Frage nach dem Anderen, derin die Frage zu stellen wurde bedeuten, den Anderen zuvor schon als Anderen erkannt zu haben.
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Im engsten Zusammenhang mit der Aufgabe des Symbiosekonzepts steht die sog. „relationale Wende" vieler Psychoanalytiker. Anhand der Konzeptionen von Domes, Honneth und Benjamin wird herausgearbeitet, dass mit den Begriffen „Relationalitat" bzw. „Intersubjektivitat" zwar die Bedeutung von zwischenmenschlicher Beziehung hervorgehoben wird, dass dies aber nach wie vor auf dem Hintergrund eines individuumszentrierten Sozialitatsverstandnisses geschieht. In der Konzeption von Martin Domes ist ein mehrmaliger Wandel bezuglich seines Verstandnisses von Intersubjektivitat festzustellen. Letztlich geht es um den Gebrauch anderer Psychen im Dienste der Aufrechterhaltung der eigenen psychischen Organisation. Sozialitat bezieht sich hier auf die Brauchbarkeit des Anderen fur das Subjekt. In Bezug auf das „communing attunement" bzw. „affect attunement" zwischen Mutter und Saugling kommt in seiner Kritik an passungenauen Reaktionen der Mutter womoglich das Symbiosekonzept wieder zum Zug. Es bleibt das Bild der Betreuungsperson als einer Erfiillungsmaschine fur die Bediirfnisse des Sauglings wie auch des Kleinkindes, d.h. die gesamte Kommunikation wird auf die Wahrnehmung der Befmdlichkeit von einem der beiden reduziert. Wie konnen wir das Bediirfnis nach Kommunikation haben und zugleich ganz wir selbst bleiben wollen? Der Primat des Subjektes und seiner Autonomic bleibt aufrecht. Axel Honneth weist einerseits das Vorliegen genetisch bedingter Aggressivitat zuruck, kennt andererseits aber noch episodenhafte Fusionserlebnisse, als tiefste Momente der Geborgenheit, in denen der Andere als Anderer nicht in Erscheinung tritt. Diese apersonalen Fusionserlebnisse sind die Urform von Intersubjektivitat, gemessen an denen alle spateren Formen von Intersubjektivitat, wie z.B. wechselseitige Anerkennung, nur noch gebrochene sein konnen. Die Individuierung wird mit dem Verlust der Fusionserfahrung, mit „Gebrochenheit" und „Zerrissenheit", teuer bezahlt. Die „primare Intersubjektivitat" ist cine Tauschung. Der Beobachter sieht zwei Subjekte, der Saugling erlebt sich als eines. Damit versucht Honneth doch die Symbiose als eigentliche „Beziehungserfahrung", die aber gar keine ist, zu retten. Honneth bleibt gegeniiber dem Anderen und letztlich gegeniiber der zwischenmenschlichen Kommunikation ambivalent; die Erfahrung der Unabhangigkeit des Anderen ist fur ihn traumatisierend. Die Kommunikation mit ihm trennt mich von ihm. Anhand der Sauglingsforschung lasst sich diese Position nicht begrtinden. Hier kann man nur vermuten, dass die Symbiose metapsychologisch nach wie vor bedeutsam ist. Jessica Benjamin entwickelt ihren Ansatz in Anlehnung an Hegels Anerkennungstheorie und scheint dabei iiber bisher diskutierte Positionen hinauszugehen. Das Postulat des sich absolut setzenden Subjekts wird von ihr akzeptiert, wahrend das Verlangen nach Anerkennung das eigentliche Problem provoziert. Die gleichwertige Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen, ihre Gleichurspriinglichkeit, wird ermoglicht durch die „paradoxe" Spannung zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung. Dann ware aber, so muss gefolgert werden, die Grundverfasstheit des Menschen bei Benjamin ambivalent. Benjamin appelliert schlieBlich an die Gleichheit, ohne dies weiter zu begrunden, d.h. es sollen Gegensatze uberwunden 211
werden, die zuvor als konstitutiv behauptet wurden. Wie Hegel kann auch Benjamin die Notwendigkeit eines sich absolut setzenden Subjekts nicht begriinden. (7) Der Begriinder der Bindungstheorie, John Bowlby, hat diese in Anlehnung an den Prozess der Pragung im Tierreich gebildet, um Eltem-Kind-Beziehungen auBerhalb des Fiitterungskontextes erklaren zu konnen. Bindungen zu anderen Menschen aufbauen zu konnen ist Grundmerkmal psychischer Gesundheit. Bindungsverhalten wird bei Bedrohung gezeigt, d.h. in Stresssituationen, bei Angst, Unsicherheit, Unwohlsein oder Krankheit. Es dient als Diagnosegrundlage fur den Bindungsstil. Die Weise, in der Betreuungsperson und Kind nach einer Stresssituation wieder miteinander kommunizieren, gibt Aufschluss iiber die Qualitat ihrer Beziehung, d.h. ihrer Kommunikation insgesamt. Unzureichende Kommunikationsqualitat zeigt sich in der Weise, wie Kind und Betreuungsperson die angstigende Situation bewaltigen. Kritisch lasst sich anmerken, dass der Bindungsbegriff wenig sinnvoll ist, weil er im „intuitive parenting" schon zum Tragen kommt. Die Bindungsvorstellung diirfte insgesamt eine missgluckte Analogic sein.
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6 Zwischenmenschliche Kommunikation als Ausdruck triadisch bestimmter Relationalitat^^"* 6.1 Das Relationalitats-Paradigma Am Ende einer interdisziplinar angelegten Sichtung verschiedenster kommunikationstheoretischer Ansatze im weitesten Sinne gilt es nun, die Ergebnisse in ihrem entscheidenden Kern zu fokussieren. Ausgangspunkt war die Frage nach der Grundstruktur des Phanomens „zwischenmenschliche Kommunikation". Phanomenal ereignet es sich ubiquitar und in unzahligen Varianten. Dabei zeigt es sich in seiner Gesamtheit ambivalent, durchwachsen, und sein Scheitem wird als destruktiv erlebt. Insofem Kommunikation sich immer zwischen zumindest zwei Menschen ereignet, ist es zugleich auch ein soziales Phanomen, wobei die Face-to-faceKommunikation seine ursprtinglichste Form darstellt. . 6.1.1
Die Aporie des absoluten Individuums
Die Sozialpsychologie hat den Mangel eines adaquaten Sozialitatsbegriffes zu Recht kritisiert. Aufgrund der unzureichenden Reflexion der eigenen Grundlagen bleibt sie selbst jedoch in einem naiven Empirismus gefangen. Dieser nimmt das positiv Gegebene zugleich als dessen eigene Begrtindung. Die Folge ist, dass Sozialitat weithin als Ergebnis der Addition individuellen Handelns und Verhaltens verstanden wird, dies allerdings meist nicht reflex bewusst, sondem als implizite Annahme. Wahmehmbar sind zwei Individuen, also ist Kommunikation ein Ereignis zwischen zwei Individuen, wovon das eine spricht und das andere hort, das eine sendet und das andere empfangt, und umgekehrt. Folge davon sind theoretisch beliebige Erklarungen der Kommunikationsdynamik durch Macht, Balance, Attribution, Sprache, Rituale o. a. Unterschieden werden konnen solche Theorien auch danach, ob sie einseitig den Primat des Individuums vor der Gesellschaft oder der Gesellschaft vor dem Individuum ansetzen, d.h. entweder bestimmt das Individuum die Gesellschaft oder es selbst ist sozial determiniert. So deutlich Moscovici und Gergen dieses Problem gesehen haben, es gelingt ihnen, so scheint es, in ihren eigenen Ansatzen dennoch nicht, Sozialitat wirklich zu begriinden. Moscovicis soziale Reprasentationen sind letztlich doch die des Individuums, Gergens Relationalitatsbegriff zeigt sich insgesamt widerspriichlich. Der technische Fortschritt hat es sukzessive ermoglicht, die Fliichtigkeit des kommunikativen Ereignisses nicht nur dauerhaft festzuhalten, sondem es auch zeitverzogert oder zeitbeschleunigt wiederzugeben. Die Zeitlupentechnik macht sichtbar, wie differenziert wir im Millisekundenbereich aufeinander reagieren, und dies nicht nur im Sauglingsalter, sondem iiber die ganze Lebensspanne hinweg, abgesehen von bestimmten organischen Einschrankungen, die Kommunikationsstomngen zur Folge haben konnen. Damit wird auch die Bedeutsamkeit Erste Uberlegungen dazu vgl. Rothe & Sbandi (2002) und Sbandi & Vogl (1988).
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der nonverbalen Seite unserer Kommunikation und unseres Leibes insgesamt fiir die zwischenmenschliche Kommunikation augenfallig. Die solcherart erhobenen groBen Datenmengen erfordem zu ihrer Interpretation jedoch Theorien, auf deren Hintergrund sie interpretiert werden konnen, da sie dies nicht selbst zu leisten vermogen. Daher konnen Methoden allein, wie z.B. FACS, nichts am defizitaren Sozialitatsbegriff der Sozialpsychologie andem. Dem Blick auf die philosophisch-theologische Diskussion der Beziehung des Einen zum Anderen im Laufe der abendlandischen Geistesgeschichte zeigen sich zwei deutlich gegenlaufige Traditionen, zum einen das Verstandnis dieses Verhaltnisses als das eines schlieBlich absolut gesetzten Subjekts, dem gegenuber der Andere nie ein Subjekt gleicher Art sein kaim, zum anderen die Annahme einer grundlegend relationalen Bestimmtheit des Menschen. Letztere fmden wir in den trinitatstheologischen Spekulationen eines Richard v. St. Victor exemplarisch entfaltet, als ontologische Fundierung von Relationalitat, und zwar als notwendig triadische. Anders begriindet fmdet sie sich in der sog. Dialogphilosophie. Auf letztere wird vielfach von eher praktisch orientierten Wissenschaftlem Bezug genommen wie z.B. von Seiten der Psychiatric in der ersten Halfte des 20. Jhdts. oder der Padagogik. Die erstgenannte Traditionslinie ist die bis heute mit Abstand absolut dominierende, zugleich wurde damit aber auch ihre Aporie, wie sie Hegel deutlich formulierte, mittradiert. Diese Aporie erweist sich als ein Dilemma, in dem das Subjekt zwischen Autonomic und Abhangigkeit, zwischen Selbstbehauptung und einem Streben nach Anerkennung, gefangen erscheint. Einerseits muss es absolut sein, andererseits ist es auf die Anerkennung des Anderen angewiesen und beides scheint fur das Subjekt unverzichtbar zu sein. Jedoch kann die Pramisse dieses Sozialitatsverstandnisses, namlich die Unabdingbarkeit einer absolut verstandenen Freiheit des Subjekts, schlussendlich anscheinend nicht plausibel gemacht werden. Wenn man die Durchwachsenheit unserer Kommunikationserfahrungen dieser Aporie gegeniiberstellt, so konnte man sagen, dass erstere eben der konsequente Ausdruck letzterer sei. Aus dieser Perspektive ware das Verhaltnis zum Anderen bleibend ambivalent, d.h. die Widerspruchlichkeit gegentiber dem Anderen ware konstitutiv. Auf einer derartigen Annahme scheinen die Ansatze von Wyss, Domes und Honneth zu basieren. Sie versuchen zu zeigen, dass zwischenmenschliche Kommunikation als solche schon defizitar ist. Fiir Wyss ist, wie erwahnt (s. Abschnitt 5.3), Kommunikation Ausdruck eines grundlegenden Mangels. Wir kommunizieren nur gezwungenermaBen, und nicht, well wir kommunizieren woUen. Aus dieser Perspektive ware das Ende der Kommunikation bzw. die Nicht-Kommunikation der eigentliche Idealzustand, denn dann ware der Mangel aufgehoben. Was bedeutet nun ein individuumszentriertes Sozialitatsverstandnis? Gegenuber dem sich absolut setzenden Subjekt, das sich im Zentrum seiner Welt sieht, ist der Andere folglich kein Subjekt wie dieses. Die Absolutsetzung schlieBt genau das aus, ist die Negation des Anderen als Subjekt der gleichen Art. Wenn es ein solches zu sein behauptet, wird es negiert, unter Umstanden bis hin zu seiner totalen Vemichtung. Wenn das sich absolut setzende Subjekt im
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Mittelpunkt seiner Welt steht, dann existiert alles andere nur noch als Funktion far dieses Zentrum. Unter dieser Riicksicht betrachtet, ist die Symbiose gewissermaBen eine perfekte Funktionalisierung des Anderen. Die Perfektion besteht darin, dass der Andere aus der Sicht des autonomen Subjekts vollig im Funktionsein ftir das Subjekt aufgeht, als Anderer auch nicht momentweise in Erscheinung tritt. Aus der Innensicht des autonomen Individuums existiert er nicht einmal, derm dieses kennt keinen Anderen als Anderen, es kennt eigentlich gar nichts. Domes hat die Funktionalisierung des Anderen als Erweiterung des Systems des autonomen Subjekts beschrieben. Honneth halt die Symbiose fur den eigentlichen Urzustand, aus dem wir durch die Kommunikation mit dem Anderen endgultig vertrieben worden sind. Er nennt die Symbiose den „Nullpunkt" der Kommunikation, der von auBen betrachtet als innigste Kommunikation erscheint, aus der Innenperspektive jedoch die vollige Negation des Anderen als Anderen mit sich bringt, seine Auflosung in reine Funktionalitat. Dieser Gltickszustand erfordert den Anderen, aber gerade nicht als Anderen. Benjamin fordert als „Losung" eine Balance zwischen Absolutsetzung und Bediirfnis nach Anerkennung. Dies konnte dann aber nur im Sinne des Tauschs (s. Abschnitt 3.4.2.4) verstanden werden, im Sinne eines „do ut des". Auch in diesem Fall wird der Andere nur in seiner Funktion fiir den Einen anerkannt. Es gibt dann Zuwendung und Anerkennung nur in eingeschranktem Sinne, namlich als Gegenleistung fur etwas anderes, was aber nicht wirklich befriedigend erscheint. Ob nun Aufhebung der Differenz zwischen den Subjekten in der Symbiose, Funktionalisierung des Anderen im Dienste des absoluten Subjekts oder vollkommene Kommunikation als Nicht-Kommunikation: es geht immer darum, den Anderen als Anderen zu eliminieren, weil anders das Individuum nicht absolut sein kann. Ware die Ambivalenz oder aber die vollige Autonomic konstitutiv fiir den Menschen, dann ware jede MaBnahme zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation sozusagen gegen seine Natur gerichtet. 6.1.2
Gegenlaufige Indizien
Diesem dominierenden Sozialitatsverstandnis stehen jedoch eine Reihe von Indizien gegenuber, die auf die Bedeutsamkeit gelingender Kommunikation mit dem Anderen hinweisen. So zeigen Ergebnisse der Sauglingsforschung (s. Abschnitt 5.5), dass es dem Saugling in der Kommunikation nicht nur um die Beendigung unangenehmer Empfmdungen geht, sondem dass gerade im Zustand korperlicher Bediirfnislosigkeit, in der wachen Phase, sein Interesse an der Kommunikation mit dem Anderen unubersehbar ist. M.a.W. der Saugling kommuniziert nicht nur, um ein Bediirfnis zu befriedigen, sondem die Kommunikation selbst gehort ebenfalls zu seinen Grundbediirfnissen. Dafiir spricht der besondere Reiz, den das menschliche Gesicht auf den Saugling ausubt, ebenso wie die Tatsache, dass der Saugling nichts anderes so schnell lemt wie die Bedeutung nonverbaler und verbaler Ausdrucksweisen. In Form des „intuitive parenting" leistet die Natur dazu zwar eine Art „Anschubhilfe", doch werden dann in hoher Geschwindigkeit auBerordentlich differenzierte Kommunikationsformen er215
lemt. Hatte Kommunikation lediglich die Funktion, die Befriedigung von Grundbediirfnissen zu sichem, dann ware zu erwarten, dass diese Fahigkeit, analog zu jener, Fremdsprachen zu erlemen, spater wieder abnimmt. Das kann als Hinweis gesehen werden, dass der Andere nicht nur in seiner Reduktion auf bestimmte Funktionen, sondem als Anderer, als er selbst, von zentraler Bedeutung fur den Saugling ist. Dafiir spricht auch das lebenslange Bediirfnis nach und die Lust an gelingender Kommunikation sowie unser Leiden an destruktiven Kommunikationserfahrungen. Ebenso bestatigt die bisherige Psychotherapieforschung in seltener Einmiitigkeit, dass gelingende Kommunikation eine wesentliche Grundlage fur den Erfolg einer psychotherapeutischen Behandlung darstellt. Schliefilich weisen auch die vielen erfahrungsbegriindeten Appelle in der so genannten popularpsychologischen Ratgeberliteratur in die gleiche Richtung. Ihre Ratschlage zur Verbesserung der Kommunikation sind beliebiger Art und zielen darauf ab, den jeweiligen Kommunikationspartner etwas glauben und damit auch bereit dafur zu machen, in bestimmter Weise zu kommunizieren. Damit insinuieren sie einerseits die Machbarkeit gelingender Kommunikation, andererseits ist doch ein Bewusstsein um diese Diskrepanz deutlich vorhanden. So soil beispielsweise der Andere dazu gebracht werden, spontan die Bediirfnisse des Einen zu erfiillen und zugleich wird aber geleugnet, dass er auf diese Weise funktionalisiert wird. Der Andere soil in jedem Fall von der ehrlichen Absicht des Einen iiberzeugt sein, d.h. das „Gelingen" einer solchen manipulierten Kommunikation hangt auch davon ab, dass das Faktum ihrer Manipulation dem Anderen verborgen bleibt, denn kommunikative Zuwendung aus Manipulationsgriinden, die aber als solche erkannt wird, verliert offensichtlich ihren Wert. Die Annahme eines absolut gesetzten Subjekts einerseits und diese Ergebnisse empirischer Forschung wie auch die Reflexion der Erfahrung andererseits stellen einen Widerspruch dar, der einen Paradigmenwechsel notwendig macht. Es gilt daher, die sichtbar gewordene Angewiesenheit des Einen auf den Anderen zu fundieren. 6.1.3 Die Trinitat als Modell der relationalen Bestimmtheit des Menschen Fiir einen solchen notwendigen Paradigmenwechsel bietet sich die christliche Trinitatsspekulation an, wie sie Richard v. St. Victor entwickelt hat (s. Abschnitt 3.2.5). Sie geht, wie die ebenfalls erwahnte Dialogphilosophie (s. Abschnitt 3.6), von einer urspriinglichen Bezogenheit zwischen dem Einen und dem Anderen aus, die aus individuumszentrierter Sicht gerade negiert wird. Richards Ansatz scheint mir fur die zu klarende Frage die weitaus brauchbarere Konzeption zu sein, vor allem deswegen, weil er aufzeigt, dass Relationalitat notwendig als eine triadisch bestimmte begriffen werden muss. In der theologischen Literatur gibt es schon seit den 1970er Jahren, in Zusammenhang mit trinitatstheologischen Reflexionen, eine Reihe sehr unterschiedlicher Hinweise auf die Moglichkeit, zwischenmenschliche Beziehungen quasi als analogia trinitatis zu verstehen. „Wenn alles endliche Seiende eine Schopfung Gottes ist und diese notwendig eine Ahnlichkeit und Teilhabe ihres Schopfers bedeutet, so ist alles Seiende ein Bild der 216
Trinitat: analogia entis ultimatim est analogia trinitatis. Von seinem gottlichen Grunde her ist das Seiende als solches trinitarisch strukturiert. Die ,analogia trinitatis' ist damit die tiefste Verstandnisgrundlage der Seinsstruktur von Natur und Kultur und der letzte ,hermeneutische Schlussel' aller Strukturprobleme" (Beck 1980, 87)."^ Oeing-Hanhoff erwahnt in Reaktion auf Beck die Aussage von Th. Haecker (vgl. 1934, 13If), wonach Schopfer und Schopfling es forderten, die analogia trinitatis auf dem Boden der analogia entis zu bauen. Dies sei zwar eine Um- und Fortbildung augustinischer Lehre, wonach in jeder Kreatur eine Spur der Trinitat erscheine, doch sei es „auch eine Fortbildung der mittelalterlichen Analogielehre, weil bekanntlich erst Cajetan und Suarez statt von analoger Pradikation von der ,analogia entis' gesprochen haben; aber es findet sich doch schon bei Nikolaus von Kues die These, jede Kreatur stelle ein Bild der Trinitat dar: ,res omnis creata gerit imaginem ... Trinitatis' [Cusanus, De pace fidei VIII]" (Oeing-Hanhoff 1984, 143f). Die Weisen, in denen Gott existiert, sind ,,'personar gerade und genau im Sinn des modemen Personbegriffes: dialogisch so wesenhaft aufeinander bezogen, dass ihr personliches Eigensein und Selbstbewusstsein nur in solchem Bezogensein aufeinander besteht" (Oeing-Hanhoff 1977, 400). Daraus folgt fur Kasper: „In Gott und zw^ischen den gottlichen Personen ist nicht trotz, sondem wegen ihrer unendlich groBeren Einheit zugleich unendlich mehr Interrelationalitat und Interpersonalitat als im zwischenpersonalen Verhaltnis von Menschen" (Kasper 1982, 353f, im Orig. hvgh.). Es geht hier also um Konvergenzen zwischen trinitatstheologischen Postulaten und Ergebnissen der zeitgenossischen Anthropologic (vgl. Hilberath 1986, 312). „Es muss wenigstens zu denken geben, dass auch im Blick auf die Daten der Erfahrung eine trinitarische Ontologie mehr integriert als andere Ontologien" (Hemmerle 1976, 58). Vielfach ist die Rede von einer „relationalen Ontologie" (vgl. Hilberath 1986, 1999; Hemmerle 1976) oder von der Relation als einer Urkategorie des Wirklichen (vgl. Kasper, 354), wobei immer wieder Bezug auf die Ausfuhrungen von Richard von St. Viktor genommen wird. Richard schloss von menschlicher Erfahrung auf die Notwendigkeit eines trinitarischen Gottes, wahrend in der analogia trinitatis der Weg umgekehrt verlauft. Das Entscheidende von Richards Trinitatsphilosophie ist, dass es ihm zum einen gelingt, Selbststand und Relationalitat gleichermafien zu fundieren, zum anderen fiihrt ihn dies konsequent zur notwendig trinitarischen Personalitat Gottes. Hilberath meint: „Ich-selbst-Sein und In-Beziehung-Stehen gehoren gleich urspriinglich zum Menschen. Ich karm nur ich sein von Beziehungen her und nur ein Ich kann bereichemd in Beziehung eintreten" (Hilberath 1997, 109). Es geht um Selbststand in Beziehung, d.h. Einheit und Vielfalt schlieBen sich nicht gegenseitig aus, sondem erganzen sich.
Es gibt eine Reihe „Schriften zur Triadik und Ontodynamik", herausgegeben von Heinrich Beck und Erwin Schadel. Hier wird nach triadischen Grundstrukturen in der Wirklichkeit gefragt, die vielfaltig zu sein scheinen, nach Entsprechungen zwischen dem innertrinitarischen Leben und unserer Welt. Splett pladiert allerdings dafur, iiberhaupt nicht nach Dreiheiten zu suchen, wie das E. Schadel in dieser Bibliotheca Trinitariorum gemacht habe. „Gar nicht vermag ich zu sehen, was durch Hinweise etwa auf den musikalischen oder farblichen Dreiklang gewonnen wird" (Splett 1990, 84; vgl. ebd. Anm. 31). 217
„Sosehr die Person eine nicht mehr an eine hohere Einheit mitteilbare Einheit ist, sosehr ist sie doch nur im Mitsein mit anderen Personen moglich. Die menschliche Person ist ein Plurale tantum [einmalige Mehrzahl], das nur in gegenseitiger Anerlcennung existieren kann und das seine Erfullung nur in der Gemeinschaft der Liebe findet. Personen existieren also nur im wechselseitigen Geben und Empfangen [...]. Denn im menschlichen Bereich ist das Mitsein der Personen Ausdruck ihrer Endlichkeit und Bedurftigkeit. Sie sind in der vielfaltigsten Weise aufeinander angewiesen. Keine einzelne Person ist ganz mit sich identisch; keine schopft das Wesen des Menschseins und die Fiille seiner Moglichkeiten aus. Gemeinschaft in der Liebe ist deshalb auch immer erotische, d.h. nach Erfullung strebende Liebe" (Kasper 1982, 372). Den Bok verweist ganz allgemein auf die Analogic zwischen trinitarischem Gott und der relationalen Verfasstheit des Menschen: „[...] the present study in trinitarian personhood is particularly motivated by the challenge of the idea that a person is constituted by the relation to an other person (or to other persons) and that in this respect human persons are modelled on the divine trinitarian persons, because the Trinity is the most perfect realization of the principle ,Ich werde am Du' (Martin Ruber)" (Den Bok 1996, 7), wahrend Splett deutlicher wird: „So ist das Wir zu denken, und zwar nicht bloB als ein solches Zweier, sondern von Dreien. [...] Nicht die Zwei-Einheit des Ich-Du ist also das Grundelement (das ,Atom' sozusagen) von Interpersonalitdt, sondern die Dreieinigkeit eines solchen Wir'' (Splett 1986, 339). Fiir Hilberath hat Richard mit der condilectus-Konzeption „die Enge der Ich-Du-Philosophie bereits im Kern iiberwunden" (Hilberath 1986, 326). Hofmann sieht dariiber hinaus, ebenfalls in Anlehnung an Richards Konzeption, die innertrinitarische Kommunikation als Modell und Vorbild auch fiir die zwischenmenschlichen Kommunikation an. „Mit der Offnung des Zueinanders von erster und zweiter gottlicher Person zum ,condilectus' als dritter Person und mit der substantialen Gleichheit der Personen, die sich in symmetrischen Kommunikationsstrukturen auspragt, qualifiziert sich Richards Modell der immanenten Trinitat als ein Modell der offenen Kommunikationsgemeinschaft, die zugleich Urbild und Ziel jeder menschlichen Kommunikationsgemeinschaft ist" (Hofmann 1984, 233f). In diesen Kontext gehoren auch Bemuhungen um die Konkretisierung dieses Grundgedankens fiir die pastorale Praxis wie dies etwa im Rahmen der „Kommunikativen Theologie" (vgl. Scharer & Hilberath 2002) versucht wird. 6.1.4 Relationalitat und Personalitat Die angefiihrten Hinweise in der theologischen Gegenwartsliteratur gehen in die richtige Richtung, doch bleiben sie in ihrer Allgemeinheit meines Erachtens hinter dem von Richard V. St. Victor schon Gedachten zuriick (s. Abschnitte 3.2.5 und 3.3). Richard versteht die Person als „existentia incommunicabilis", gleichermafien bestimmt durch Selbststandigkeit wie Relationalitat. Person ist fiir ihn Selbststand in Relation. Eine Relation wird notwendig durch zwei gleichurspriingliche Relata gebildet. Diese Relata sind als solche verschieden voneinander, also nicht-identisch, denn ihre Identitat ware die Eliminierung ihrer Getrermtheit und damit das Ende der Relation. Als Relata sind sie zugleich aber auch notwendig aufeinander be218
zogen. Daher wiirde die Absolutsetzung der Relata gleichfalls das Ende ihrer Relation bedeuten, denn dies hieBe Aufhebung ihres Bezogen-Seins und damit ihrer Abhangigkeit voneinander. Eine Relation muss demnach zwei Bedingungen erfuUen: ihre Relata sind notwendig verschieden voneinander und auch notwendig aufeinander bezogen. Ihre Bezogenheit erfordert zugleich ihre Differenz wie auch ihre Verschiedenheit notwendig ihre Bezogenheit erfordert. Daher schlieBt eine Relation sowohl eine Symbiose zwischen ihren Relata als auch deren Absolutsetzung zwingend aus, denn in beiden Fallen wird gleichermaBen die Bezogenheit negiert, entweder indem die Differenz zwischen den Relata aufgehoben oder indem sie verabsolutiert wird. Absolutsetzung und Gleichurspriinglichkeit schlieBen einander ebenso aus wie Absolutsetzung und urspriingliche Bezogenheit. In einer Relation sind die Relata notwendig und unverfugbar zugleich. Eine so verstandene Bezogenheit erfordert zumindest zwei verschiedene Personen. Zur relationalen Verfasstheit gehort konstitutiv die Gegebenheit des Anderen als Anderer des Einen. Wenn Relationalitat in diesem Sinne konstitutiv flir den Menschen ist, ihn also wesentlich bestimmt, dann bedeutet dies zum einen, dass der Eine und der Andere existentiell aufeinander bezogen sind. Zum anderen bedeutet es, dass sie als Bezogene bleibend verschiedene Personen sind. Die Bezogenheit begriindet so die Einmaligkeit der Person und hebt sie gerade nicht auf Ihr Fiir-sich-Sein, ihren Selbststand hat die Person nur aufgrund ihrer Bezogenheit zum Anderen. Personalitat ist also nicht eine solche „an sich", sondem nur in Relation zum Anderen gegeben, d.h. Selbstsein erfullt sich in der Relationalitat und ist in diesem Sinne kontingent. Personalitat besagt daher notwendig auch Relationalitat, d.h. sie bedingen sich gegenseitig. Dieser relationale Seinsbegriff steht „im strikten Gegensatz zum griechischen apersonalen ,Identitatsmodeir, demgemaB etwas umso seiender und voUkommener ist, je mehr es abgeschlossen in und bei sich selbst ist" (Oeing-Hanhoff 1977, 406). Die Annahme einer ursprunglichen Bezogenheit ermoglicht, die absolute Einzigartigkeit jedes Menschen durch den Personbegriff zu kennzeichnen. Die Person ist im Singular ein Artefakt. Insofem wir uns als relational Bezogene notwendig voneinander unterscheiden, sind wir je einmalige Person, denn als grundsatzlich unaufhebbar relational Bezogene bleiben wir auch immer voneinander Unterschiedene. Die Relationalitat ist gewissermafien der Garant der Einmaligkeit jeder Person. Das Verhaltnis des Einen zum Anderen, die Sozialitat des Menschen, ist in diesem Sinne eine relational verfasste. Die historische Trinitatsdiskussion zeigt wiederholt zwei Gefahren (s. Abschnitt 3.2.3), denen einzelne Autoren erlegen sind. Entweder wurde die Differenz zwischen den Personen aufgehoben oder sie wurde verabsolutiert. In beiden Fallen bedeutete dies die Negation der Bezogenheit als auch Personalitat. In ihren Versuchen im Rahmen der Sozialpsychologie sind, so scheint es, Moscovici und Gergen dieser Gefahr ebenfalls erlegen (s. Abschnitt 2.2.2). Moscovici verbleibt in der individuumszentrierten Perspektive, indem er die Differenz zwischen den Subjekten letztlich doch wieder absolut setzt, und Gergen oszilliert zwischen der Absolutsetzung des Individuums und der Aufhebung der Differenz zwischen den Subjek219
ten. Beide sehen, dass die Individuumszentriertheit tiberwunden werden muss, konnen aber das Ziel entweder nur als Negation dieser Dichotomie formulieren, wie Moscovici, oder als Appell, dass das Miteinander doch schoner sei als das Gegeneinander, so Gergen. In ihrem Vorgehen wird das Kemproblem sichtbar, namlich dass die Unvermitteltheit zwischen Individuum und Gesellschaft auf diese Weise nicht bewaltigt werden kann. Weil bei ihnen Modellebene und Phanomen mehr oder weniger identisch sind, bleibt die Dynamik zwischen dem Einen und dem Anderen dunkel bzw. kommt die eigene Erfahrung im Appell zum Vorschein, dessen Inhalt aber keine theoretische Fundierung erfahrt. Ahnliches lasst sich auch von jenen psychoanalytischen Ansatzen im Kontext des „relational turn" aussagen, wie sie oben (s. Abschnitt 5.6) diskutiert wurden. Auch sie oszillieren zwischen der Sehnsucht nach Symbiose, also nach der Aufhebung der Differenz zwischen den Subjekten, und ihrer Absolutsetzung. Angesichts dessen muss man sagen, dass sich derzeit eine aquivoke Verwendungsweise des Relationalitatsbegriffes in der Literatur zeigt, die zwangslaufig zu Missverstandnissen fuhren muss, wenn nicht prazise auf das damit jeweils ontologisch Gemeinte geachtet wird. 6.1.5 Dyadisch bestimmte vs. triadisch bestimmte Relationalitat Richard v. St. Victors Originalitat zeigt sich vor allem in seinem Aufweis, dass diese Relationalitat notwendig als eine triadisch bestimmte verstanden werden muss. In Anlehnung an seine Argumentation lasst sich sagen: zwei Relata konnen sich nicht alleine in ihrer Bezogenheit erkennen. Dazu ist eine Position auBerhalb der Dyade erforderlich, um diese zur Ganze zu erfassen, denn weder das eine noch das andere der beiden „Elemente" des Systems kann das System widerspiegeln, ohne es dabei zugleich zu verlassen. Durch das Verlassen des Systems aber hort das System als solches auf zu sein, und das ware das Ende der Relation. Daher ist ein drittes Relatum erforderlich, das den beiden anderen Relata ihre Bezogenheit widerspiegelt. Es kann folglich weder eine einfache noch eine zweifache Relation geben. Relationalitat meint notwendig eine Pluralitat von drei Relationen. Damit weist jede Relation als solche schon grundsatzlich tiber sich hinaus. Sie ist immer schon mitbestimmt durch zwei andere Relationen. In diesem Sinne ist die konstitutive Relationalitat eine triadisch bestimmte. Eine sich absolut setzende Dyade kann keine Relation im oben genannten Sinne sein. Sie kann nicht nach „innen" eine Relation und nach „auBen" absolut sein. Dies ware ein Widerspruch. Relationalitat ist entweder total oder sie ist nicht. Hier zeigt sich, wie schon oben, dass das Intersubjektivitats-Paradigma und das Relationalitats-Paradigma einander grundsatzlich ausschliefien. 6.2 Die Grundstrukturen zwischenmenschlicher Kommunikation 6.2.1 Triadisch bestimmte Relationalitat und zwischenmenschliche Kommunikation Diese triadisch bestimmte Relationalitat ist im Folgenden das leitende Sozialitatsverstandnis, dessen Fraglichkeit in Kap. 2 aufgezeigt wurde. Wir existieren konkret als einzigartige un220
verwechselbare Personen, die Handlungen setzen. Die wesentliche Grundbezogenheit besagt nun, dass sich unsere Entwicklung als einmalige Person iiber die gesamte Lebensspanne hinweg in Bezogenheit zum Anderen ereignet. In der jeweiligen konkreten Kommunikation zwischen zwei Menschen aktualisiert sich diese Grundbezogenheit in einer von beiden Kommunikationspartnem gemeinsam bestimmten Weise, d.h. die Relationalitat findet ihren Ausdruck in der zwischenmenschlichen Kommunikation, insbesondere in der Face-to-face-Kommunikation als deren Urform. In diesem Sinne ist Kommunikation zugleich „Leben", d.h. zwischenmenschliche Kommunikation ist notwendig fur unsere Entwicklung als Person. Daher hat ihr Gelingen wie auch ihr Misslingen, also ihre Qualitat, existentielle Bedeutung fur unsere Entfaltung oder Beeintrachtigung als Person. Wir brauchen nicht einfach nur Kommunikation mit dem Anderen, sondem wir brauchen Kommunikation in ausreichender Qualitat, und dieses Grundbediirfnis bleibt iiber die gesamte Lebensspanne hinweg bestehen. 6.2.2 Relationalitat und Unmittelbarkeit Zunachst sei an die oben (s. Abschnitt 4.3) erwahnte Diskussion von „Unmittelbarkeit" und der Moglichkeit einer „Urverstehenstheorie", wie sie von Kirchhoff (1965a) und Holzkamp (1956) dargestellt und gefiihrt wurde, erinnert. Nach Holzkamp geht eine solche Theorie des Urverstehens von „einem urspriinglichen biologischen Aufeinander-angelegt-Sein der Menschen" (Holzkamp 1956, 317) aus.^^^ In jenen Theorien wurde offensichtlich versucht, einen entsprechenden Erfahrungswert zu erklaren, was aber aufgrund des individuumszentrierten Denkens nicht gelingen konnte. Pokomy (1974) rekurriert in Anlehnung an Tyrell auf den Begriff der „extrasensory perception" und meint damit Wahmehmungsmoglichkeiten, von der die Sinnesphysiologie noch keine Kenntnis habe. Weder das „Wie", noch das „Wodurch" dieser Wahmehmung seien bisher bekannt. Er spricht von einem „anderen Verkehrsakt" zwischen Ich und Du, der gleichzeitig mit der normalen Wahmehmung ablaufe, dem „Eindruck", und beide unterscheiden sich nach Pokomy ganz wesentlich. „Auch das seelische Ich driickt sich korperlich aus, und diesem Ausdruck entspricht auf der Seite des Du ein ,Eindruck'. Dieser Eindrucksakt verlauft anders als der Wahmehmungsakt. Er ist zugleich allgemeiner, diffuser und unmittelbarer. Er ereignet sich im Unbewussten oder, wenn man den nuancenreicheren Terminus Schilders wahlt, im ,Spharischen'. [...] Buytendijk hat durch Beobachtungen, die gefilmt wurden, festgestellt, dass die Zeit zwischen der Angriffs- und der ihr entsprechenden Abwehrbewegung bei kampfenden Tieren (Mungo und Cobra) kiirzer ist als das Minimum der Leitungszeit im Reflexbogen. Die Reaktion erfolgt also rascher als der Verlauf des Sinneseindrucks in der sensorischen Nervenbahn und der Reaktions-Innervation in der motorischen Nervenbahn, selbst bei Umschaltung auf dem kiirzesten Weg. Bei aller Zuriickhaltung in der gedanklichen Auswertung dieser inzwischen auch bei Tennisspielern etc. bestatigten Beobachtung wird man fiir die Beziehungen zwischen Ich und Du einen feineren, unmittelbar funktionierenden Verkehrsweg, neben dem der unmittelbaren sinnliAus der Sicht des hier vorgelegten triadisch-relationalen Ansatzes ware die Einschrankung auf das „Biologische" ailerdings nicht akzeptabel.
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chen Wahmehmung annehmen miissen, der vielleicht der eben erwahnten ,extrasensory perception' gleich oder ahnlich ware. Die Unmittelbarkeit, die wir der Erscheinung des Ausdrucks zuerkennen mussten, entspricht auch eine Unmittelbarkeit des Eindrucks, also des Ausdrucksverstandnisses" (Pokomy 1974, 52f). Dieser erste Eindruck zielt nach Pokomy immer auf das Ganze der Gestalt ab und wird dabei „durch die Personlichkeit mit beeinflusst. Erst wenn durch eine Art phanomenologischer Herausdifferenzierung der Einzelheiten aus dem Gesamt-Eindruck die bewusste, verstandesmaBige Untersuchung einsetzt, dann wirkt sich die Artung des menschlichen Verstandes analytisch aus. Denn nur durch die denkmaBige Isolierung der Einzelfakten vermogen wir das Objekt intellektuell zu bewaltigen, selbst wenn am Anfang das ,intuitiv' gewonnene Gesamtbild steht" (ebd. 61). Jerome Bruner spricht von einer „ungelemte Bezogenheit auf den anderen", die allerdings auf alle Lebewesen, nicht nur auf den Menschen, zutreffe: „Ich wage die Behauptung, dass die ,Absicht, etwas zu meinen' nicht gelemt zu werden braucht - und ebenso wenig das Erkennen dieser Absicht bei anderen. [...] Es muss eine gewisse Basis flir Intersubjektivitat hinsichtlich der Bedeutung existieren, bevor die Sprache auftaucht. Es ware sonst logisch unmoglich, dass zwei Menschen sich iiber eine Bedeutung einig sein konnten. Diese ungelemte ,Bezogenheit auf den anderen' ist weder mehr noch weniger mysteries als die von den Ethologen hervorgehobene Tatsache, dass die Tiere aller Arten andere Organismen als artgleich betrachten und sich entsprechend verhalten" (Bruner 1987, 104f). Wyss (1992) wiederum redet von einem intuitiven Erfassen der Ganzheit einer Situation, die iiber einen „rationalen Akt der urteilenden-erkennenden Zuordnung" noch hinausgeht. Sie wird ^primdr als , Gauzes' erschaut und verstanden - dann beurteilf. In dieser Intuition „gehen Begriff und Schau, gehen Erfiihlen und Erkennen ineinander iiber. Die spezifische Bedeutung jedoch des intuitiven Erfassens liegt in der Moglichkeit der zu beurteilenden rationalen Einordnung des jeweils Begegnenden. [...] Das Neue des Begegnenden wird zwar immer erst mit einem ,Ausprobieren' (Erkunden) und gewissermaBen ,Anlegen' der verfiigbaren Kategorien versuchsweise erfasst. Aber gerade im Scheitem der verfiigbaren Begriffe, in der Entkonstituierung wiederum derselben durch das Neue, eroffnet sich die Moglichkeit, dieses Neue etwa eines unbekannten Gegeniibers ,intuitiv' zu erfassen, bis diese Intuition dann in relativ adaquate Urteile/Begriffe umgesetzt wird: diese Person ist eine so und solche. [...] Mit einer abschlieBend rationalen Feststellung eines ,Ist', ist das spezifisch intuitive Erfassen Anteil der erweiterten Erfahrung und Urteilsbildung geworden" (Wyss 1992, 143). Krause erwahnt „Leistungen protosymbolischer Art" bzw. ein „protokognitives System des Fremdverstehens", namlich das „Erkennen von Individuen an typischen Proportionen, Bewegungsablaufen einschlieBlich des Stimm- und Mimikausdrucks sowie das Verstehen affektiver Intentionen" (Krause 1996, 579). Grawe (1998) spricht von mittels FAGS erkermbaren regelhaften Ablaufen zwischen den Interaktionspartnem unterhalb der bewussten Wahmehmungsschwelle, die nur moglich seien, „wenn sie praattentiv entsprechende Wahmehmungen gemacht und verarbeitet haben" (Grawe 1998, 245). Es handle sich dabei um primare, emotionale und automatische Reaktionen ohne Beteiligung hoherer kognitiver Prozesse, die eine Kommunikationsfunktion in der sozialen Interaktion hatten (vgl. ebd. 287). Grawe verweist in diesem Zusammenhang auch auf die
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Arbeiten von Le Doux (1989). In den affektiven Regulationssystemen finde sowohl die Signaliibermittlung als auch die Signalverarbeitung in unmittelbarerer Weise statt als bei der symbolischen Informationsverarbeitung im Neokortex, da die Bedeutungen nicht mehr decodiert, sondem unmittelbar gegeben seien. „Signale, die einen dieser Regulationskreise aktivieren, ftihren unmittelbar zu ganz bestimmten Handlungsbereitschaften, noch ehe Zeit fur eine kognitive Bewertung der Situation war. Die primaren Emotionen werden also automatisch, ohne Beteiligung des Bewusstseins ausgelost, fiihren zu physiologischen Reaktionen, bewirken bestimmte Verhaltensbereitschaften und zeigen sich im Ausdrucksverhalten, noch ehe ein Bewertungsprozess ablaufen konnte, in den Inhalte des individuellen Langzeitgedachtnisses eingehen. Die automatisch ausgelosten Affekte ergreifen Besitz vom Bewusstsein und richten die gesamte psychische Aktivitat in eine bestimmte Richtung (z.B. Flucht oder Angriff), aber sie sind kein Produkt bewusster Informationsverarbeitungsprozesse. Sie konnen als eine phylogenetisch altere Form der Verhaltenskontrolle angesehen werden als die willentliche, bewusste Handlungskontrolle" (ebd. 286). Solche Reaktionen bezeichnet Grawe als Affekte im Unterschied zu Emotionen. Die Invarianten emotionaler Erfahrungen werden, so Grawe, als Schemata gespeichert, „die nicht nur die emotionalen Reaktionsbereitschaften, sondem auch die personlich oder durch Beobachtungslemen erfahrenen auslosenden Bedingungen enthalten" (ebd. 287). Diese Schemata sind dem Bewusstsein entzogen und werden durch bestimmte Bedingungen aktiviert und beeinflussen in der Folge das Erleben und Verhalten. Deshalb konnen solche emotionalen Schemata auch nicht allein durch Reden verandert werden (vgl. ebd. 296). FACS habe vor Augen gefiihrt, so Grawe, dass sich im Gesicht des Gegenubers sehr viel mehr zeige, also nonverbal viel mehr gesendet werde, als wir bewusst wahrnehmen. „Das heifit aber nicht, dass wir das Gesendete nicht wahrnehmen und verarbeiten. Die nonverbale Kommunikationsforschung zeigt uns, dass wir darauf sehr wohl reagieren. Wir miissen es also wahrgenommen haben. Der groBte Teil des nonverbal Gesendeten wird implizit wahrgenommen und nicht bewusst verarbeitet. Fiir die zwischenmenschliche Beziehungsregulierung ist der implizite Funktionsmodus von herausragender Bedeutung"(ebd. 301).''^ Besonders bemerkenswerte Unterstiitzung erfahrt der relational Ansatz durch jtingste Ergebnisse neurologischer Forschung. Die oben schon erwahnte Funktionsweise der „mirror neurons" (s. Abschnitt 5.6.3), wie sie von Gallese & Goldmann (1998) und Gallese (2000, 2001, 2005, 2006) beschrieben und auch von anderen Autoren inzwischen aufgenommen wurden (vgl. Hinterhuber 2001, 204; Domes 2002, 316ff), bietet sich als mogliche physiologische Grundlage der angefuhrten Beobachtungen und Reflexionen an. Gallese (2006) geht davon aus „that our capacity to share experiences with others rests on the constitution of a shared meaningful interpersonal space. This 'shared manifold' (Gallese 2001, 2003, 2005a) can be characterized at the functional level as embodied simulation (Gallese (2005a), a specific mechanism by means of which our brain/body system models its interactions
Vgl. dazu auch die differenzierten Fallbeschreibungen von Streeck (2002). 223
with the world. [...] I submit that embodied simulation constitutes a crucial functional mechanism in social cognition" (Gallese 2006, 16). Eine bestimmte Sorte von Spiegelneuronen, die sog. audio-visuellen Neuronen, wird nicht nur durch die Beobachtung der betreffenden Handlung erregt, sondem schon durch das Gerausch, dass bei dieser Handlung produziert wird (vgl. ebd. 15), wie Gallese unter Hinweis auf die Forschung von Kohler et al. (2002) ausfuhrt. Schon die Beobachtung fiihrt zur Erregung des motorischen Systems des Beobachters, also jenes Systems, das fiir die Durchfuhrung der betreffenden Handlung notwendig ist (vgl. ebd. 19). Gallese gesteht allerdings ein: „In particular, we do not have a clear neuroscientific model of how humans can understand the intentions promoting the actions of others they observe" (ebd. 21). Hier konnte der relationale Ansatz weiterfuhren. Gallese spricht von einem neuronalen Mechanismus, von „embodied simulation", die sich im Beobachter der Handlung eines anderen abspiele. Dadurch verstehen wir den Affekt des Anderen unmittelbar. „When we see the facial expression of someone else, and this perception leads us to experience a particular affective state, the other's emotion is constituted, experienced and therefore directly understood by means of an embodied simulation producing a shared body state. It is the activation of a neural mechanism shared by the observer and the observed to enable direct experiential understanding. A similar simulation-based mechanism has been proposed by Goldman and Sripada (2005) as 'unmediated resonance'" (ebd. 24). Die Spiegelneuronen feuem also in gleicher Weise beim Beobachter einer Handlung wie bei demjenigen, der die Handlung ausfuhrt. Im Beobachter wie im Akteur ist der gleiche neuronale Mechanismus aktiv und diese unvermittelte, d.h. unmittelbare Resonanz des Anderen im Einen ermoglicht, so Gallese, dessen direktes auf Erfahrung beruhendes Verstehen. Schon die Beobachtung vermittelt uns, so legt ihre Funktionsweise nahe, wie sich eine bestimmte Handlung anfiihlt. Was Buytendijk hinsichtlich Mungo und Kobra iiber die Geschwindigkeit sagte, wiederholt Domes analog in Bezug auf den Menschen. Die Reaktion unterschreitet jede bekannte Latenz. „Die Antwort (Response) ist oft in einem MaBe gleichzeitig und synchron auf den Reiz abgestimmt, dass der Eindruck eines gemeinsamen Tanzes entsteht und nicht der einer linearen, nacheinander ablaufenden Sequenz" (Domes 1999, 38). Die Spiegelneuronen wiirden verstandlich machen, wamm hier eine so hohe Geschwindigkeit vorliegt, dass der Eindmck der Gleichzeitigkeit, des Tanzes entsteht. Nur ein Teil der einlangenden Informationsmenge wird bewusst verarbeitet. Entscheidend sind die neuronalen Verschaltungen, die sich durch Informationsverarbeitung herausgestalten. Die AuBemngen des menschlichen Gesichtes in eins mit anderen AuBerungen werden aufgmnd der kreuzmodalen Wahmehmung in ihrem groBen Variantenreichtum innerhalb kiirzester Zeit erlemt, d.h. entsprechende Verschaltungen werden eingerichtet. Dies hatte schon die FACS-Forschung gezeigt (s. Abschnitt 4.3.3.2). Aufgrund der Haufigkeit des Einiibens, be-
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gunstigt durch eine genetisch bedingte Praferenz fur das menschliche Gesicht, werden diese Verschaltungen besonders stabil und schnell. Angesichts dessen muss man nicht mehr erklaren, wie es noch die „Einfuhlungstheoretiker" zu Anfang des 20. Jhdts. versucht hatten (s. Abschnitt 4.3.1), wie der Andere in den Einen kommt, sondem indem der Andere wahrgenommen wird, ist er immer schon im Einen. Wenn ich die Handlung des Anderen erkenne, dann ist vorstellbar, dass ich auch reagieren kann, ohne dass dieser Vorgang ins Bewusstsein kommt. Mit der triadisch-relationalen Bestimmtheit des Menschen und seinem darin ausgedriickten Angewiesensein auf gelingende Kommunikation korrespondiert, dass wir auch physiologisch sichtlich auf differenzierteste Kommunikation hin angelegt sind, was einen weiteren Beleg fiir die existentielle Bedeutsamkeit der zwischenmenschlichen Kommunikation darstellen kann. Dagegen spricht auch nicht, dass diese Fahigkeit aus individuumszentrierter Sicht auch im Dienste des absoluten Subjekts gegen den Anderen eingesetzt werden kann. Dieser Sachverhalt fuhrt zu einer weiteren Uberlegung. Die Geschwindigkeit, mit der wir aufeinander reagieren, liegt unterhalb der Latenzzeit. Unsere Wahmehmung ist kreuzmodal, d.h. wir machen einen Abgleich zwischen den sinnesspezifischen Signalen und merken, wenn die Signale nicht zueinander passen, z.B. wenn die Stimme nicht synchron zur Mundbewegung zu horen ist. Angesichts dessen ist die Annahme plausibel, dass eine Tduschung des Anderen kaum mogUch sein kann. Mit „Tauschung" meine ich das Tamen der eigentUchen BefmdUchkeit oder auch das Verschleiem oder Verbergen der eigentUchen Intentionen des Einen gegentiber dem Anderen. Jeder Mensch hat sein eigenes Kommunikationstempo, abhangig von seinem durchschnittUchen Gesamtantrieb. Jede bewusst gesteuerte Handlung, jede Mimik und Gestik, jeder gezielte Verschleierungsversuch andert das individuelle Kommunikationstiming. Dies registrieren wir in der Kommunikation, wobei uns das allerdings nicht reflex bewusst werden muss. Eine solche Tempoveranderung in der Kommunikation muss nicht nur spezifisch fur Verschleierungsversuche sein, sie kann z.B. auch ein Zeichen mangelnder Konzentration, von Miidigkeit, anderen Befmdlichkeitsstorungen oder auch schon eine Reaktion auf Signale des Anderen darstellen. Zudem sind es nicht nur die offenkundigen Diskrepanzen zwischen Mimik und Emotion, zwischen Mimik und Gestik, die uns darauf aufmerksam machen, dass die Kommunikation des Anderen vom Erwarteten abweicht. Wir registrieren dies auch in feinsten Graden. Einerseits versuchen wir zu tauschen, obwohl es angesichts der bisherigen Forschungsergebnisse sehr unwahrscheinUch ist, dass das unbemerkt bleiben kann. Andererseits wissen wir aus der Erfahrung, dass wir Tauschungen durchaus erliegen konnen. 6.2.3 Die Bedeutung des „Dritten" in der Kommunikation Der Blick auf das Phanomen macht deutlich, dass die Face-to-face-Kommunikation immer ein Ereignis zwischen zwei Personen darstellt. Genauer betrachtet zeigt sich jedoch, dass sich Kommunikation immer in einem triadischen, d.h. mehrrelationalen System, ereignet, auch 225
wenn die konkrete hier und jetzt stattfindende Kommunikation nur zwischen zwei Personen geschieht. Jeder dieser beiden Kommunizierenden ist ein in und durch vielfaltige Kommunikation Gewordener. Beide haben ihre Bezogenheit schon in unzahligen Kommunikationsituationen aktualisiert und sich darin zu dem entwickelt, was sie jeweils geworden sind. Wir warden also in Kommunikation iiber die Zeit, in Beziehungen, und als so Gewordene kommunizieren wir wiederum mit anderen. Der Niederschlag bisheriger Kommunikationserfahrungen der beiden Kommunizierenden beeinflusst auch jede aktuelle Kommunikation. Keine Kommunikation ist nur eine zwischen zwei lebendigen Kommunikanten, vielmehr sind auch immer „Dritte", genauer „unpers6nHche Dritte"^*^, in die Kommunikation involviert. Sie stellen den Niederschlag der gesamten bisherigen Kommunikationserfahrungen in Form von intemalisierten Sozialisationserfahrungen dar, z.B. als Normen, Rollen, Traditionen, Einstellungen, Konventionen und Kommunikationsmustem und beeinflussen die Kommunikation. Es sind diejenigen Elemente, die auf die Kommunikation einwirken, aber nicht Teil des Kommunikationssystems sind, weil sie sich nicht als Personen an der Kommunikation beteiligen. Sie beeinflussen die Kommunikation nur durch ihre Ubemahme durch die Kommunizierenden. So scheint auch die individuumszentrierte Sicht des Menschen eine Einstellung zu sein, die sich als unpersonlicher Dritter wesentlich auf die Kommunikation auswirkt. Aber auch „personliche Dritte" nehmen Einfluss auf die dyadische Kommunikation. In einer Gruppe z.B. ist jeder Teilnehmende allein durch seine Anwesenheit am gesamten Prozess der Kommunikation beteiligt, damit immer Dritter fur die anderen Dyaden, weil er nicht nicht kommunizieren kann. Er meldet jeder Dyade die Wirkung ihrer Kommunikation, verbal und nonverbal, unvermeidlich zuriick. So verstanden kann in einer gruppalen Situation niemand gegeniiber irgendeinem Gruppenmitglied „neutral" sein (vgl. Rothe 2003). Diese personlichen und unpersonlichen Dritten nehmen also in unterschiedlicher Weise Einfluss auf die Kommunikation. Hier wird noch mehr ersichtlich, dass Kommunikation nie allein Sache der Dyade sein kann, sondem immer in einem sozialen Kontext geschieht und nur in diesem richtig geortet werden kann. Somit diirfte klar sein, dass der Unterschied zwischen einem „lebendigen" und einem „unpers6nlichen" Dritten in der Art der Beeinflussung der Kommunikation besteht. Im Falle des lebendigen Dritten ist dieser an der Kommunikation notwendigerweise selbst beteiligt, er ist in die jeweils konkrete dyadische Kommunikation eingebunden.
''^ Ahnliches konnte auch Thoma (1999) meinen, wenn er die analytische Dyade als eine „Triade minus 1" bezeichnet. Der oder die abwesende ,Dritte' enthalt die gesamte unabhangig existierende Lebenswelt eines Patienten" (Thoma 1999, 849). Thoma verweist hier auch noch auf Ogdens Rede vom „analytic third", dass durch das unbewusste Zusammenspiel von Analytiker und Analysand geschaffen werde (vgl. ebd. 850). Bei Kernberg ist der „dritte ausgeschlossene Andere" das beobachtende Ich des Analysanden wie des Analytikers, „das symbolisch die intrapsychische, durch die psychoanalytische ,Drei-Personen-Psychologie' geschaffene Triangulierung reflektiert" (Kemberg 1999, 891).
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6.2.4 Kongruente und inkongruente Kommunikation Es gilt nun, auf dem Hintergrund des triadisch-relational bestimmten Sozialitatsverstandnisses und mit Blick auf die dargelegten Forschungsergebnisse und Kommunikationstheorien eine Klarung des Phanomens „zwischenmenschliche Kommunikation" in seinen Grundstrukturen zu versuchen. Zwischenmenschliche Kommunikation ereignet sich zwischen zwei triadischrelational bestimmten Personen, die physisch einzeln mit jeweils unterschiedlichen Befmdlichkeiten und Verfassungen existieren und die gemeinsame Handlungen setzen konnen. Die alltagliche Kommunikation (s. Abschnitt 2.1.1) lasst sich bildlich auch als ein Prozess verstehen, der sich qualitativ auf dem Kontinuum zwischen Gelingen bzw. Misslingen als seinen beiden Endpunkten ereignet, wobei diese Qualitaten noch genauer zu prazisieren sind. Zur Bezeichnung dieser beiden Kommunikationsqualitaten scheinen mir die Begriffe „kongruent" bzw. „inkongruent" geeignet. Der Georges kennt dafiir folgende Bedeutungen: 1. congruens: mit einem andern iibereinstimmend, passend, dazu schicklich, ihm angemessen, aber auch: mit sich selbst in alien Teilen iibereinstimmend, gleichformig, proportioniert; einstimmig. 2. congruentia: Ubereinstimmung, Harmonic, Symmetric, Proportion. 3. congruere: zusammenlaufen, zusammentreffen, zusammenkommen; zusammenpassen, zutreffen, stimmen; dem Wesen, der Gesinnung nach zusammenstimmen, iibereinstimmen, mit ihm im Einklang stehen, harmonieren. Das Gesamt unserer Kommunikation ereignet sich auf dem Kontinuum zwischen Kongruenz und Inkongruenz in alien graduellen Abstufungen. Aufgrund der relationalen Verfasstheit ist Kommunikation immer eine gemeinsame Handlung. Daher kann keiner der Kommunizierenden die Kommunikation einseitig und beliebig herstellen. Beide sind folglich fiir die Qualitat ihrer Kommunikation, also ihren Kongruenzgrad, verantwortlich bzw. von ihm betroffen.^'^ „Kongruenz" bzw. „Inkongruenz" sind also Bezeichnungen fur die gemeinsam geschaffene Kommunikationsqualitat und beziehen sich nicht auf das Verhalten des einzelnen Kommunizierenden, wenn er beispielsweise etwas anderes sagt als er eigentlich meint, wie dies sonst iiblicherweise, z.B. bei Rogers, geschieht (s. Abschnitt 5.2). Ob nun einer in diesem herkommlichen Sinne inkongruent ist oder beide dies sind: betroffen davon ist immer die eine und gemeinsame Kommunikation. Deshalb kann keinem der beiden Kommunikanten allein die Kongruenz zugeschrieben noch die Inkongruenz der gemeinsamen Kommunikation angelastet werden. Die individuelle Schuldzuweisung, also der Vorwurf der Inkongruenz im herkommlichen Sinne, bringt dem Kommunikationspartner zwar eine augenblickliche kurze Entlastung, andert aber nichts am Scheitern ihrer gemeinsamen Kommunikation. Das gilt gleichermaBen fiir die berufliche wie private Kommunikation.
Daher geniigt der Ausdruck „communicamus ergo sum", wie ihn Gergen (s. Abschnit 2.2.2.2) formuliert hat, ftir den gemeinten Sachverhalt bei weitem nicht. Relational gesehen reicht nicht einmal „communicamus ergo sumus" aus, weil damit noch keine Kommunikationsqualitat ausgesagt wird. Lediglich „existieren" kann man natUrlich auch in inkongruenten Beziehungen.
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6.2 AA Kongruente Kommunikation Wenn sich auch die alltagliche Kommunikationserfahrung zwischen Kongnienz und Inkongruenz ereignet, so ist doch die Kongruenz die eigentliche und urspriingliche, dem Menschen als einem triadisch-relational verfassten Wesen adaquate Kommunikationsqualitat. BezogenSein heiBt, grundlegend auf kongruente Kommunikation mit dem Anderen hin angelegt zu sein. In ihr als einer von beiden Kommunikanten gleichermaBen bestimmten Handlung kommt die triadisch-relationale Verfasstheit des Menschen angemessen zum Ausdruck. Kommunikation als Ausdruck triadisch bestimmter Relationalitat heiBt dann, dass wir uns ohne Kommunikation mit dem Anderen in kongruenter Qualitat nicht entwickeln konnen. Das betrifft aber nie einen alleine, sondem immer beide gemeinsam. Die Entwicklung als unverwechselbare, einzigartige Person geschieht iiber die gesamte Lebensspanne hinweg in Abhangigkeit von der Kommunikation mit anderen Menschen. Das Werden des Einen ist notwendig mit dem des Anderen gekoppelt. In diesem Sinne sind beide existentiell voneinander abhangig (vgl. Sbandi & Vogl 1988, 321). In der kongruenten Kommunikation geschieht gegenseitige Bejahung der unaufhebbaren Verschiedenheit der Kommunikanten, des Anderen als Anderen, als einmalige Person. Eine solche Kommunikationsqualitat ist unabdingbar fur die Entfaltung des je eigenen Potenzials und bildet so die Grundlage der menschlichen Entwicklung. Im Sinne der WHO bringt sie ein umfassendes „soziales Wohlbefmden" und psychische Gesundheit mit sich. 6.2.4.2 Inkongruente Kommunikation Zwischenmenschliche Kommunikation ist Leben in bestimmter Qualitat. Leben ist immer Veranderung, Instabilitat. Wo das Leben beeintrachtigt ist, z.B. durch eine Erkrankung (vgl. Abschnitt 2.1.2.2), wird auch die Kommunikation in Mitleidenschaft gezogen. Gleiches gilt auch umgekehrt: wo die Kommunikation inkongruent wird, wo die Kommunikation verweigert wird, abbricht, wo sie in endlosen Wiederholungen paralysiert erscheint, erfahrt die Lebensqualitat eine Minderung.^^^ Dies kann auch schon durch die Antizipation eines solchen Ereignisses, durch die Angst davor, der Fall sein. Wenn Kommunikation Veranderung bedeutet und wenn wir grundlegend voneinander abhangig sind, dann ist zu fragen, warum wir als relational Bezogene im iiberwiegenden MaBe dauerhaft inkongruent kommunizieren, was uns eigentlich an kongruenterer Kommunikation hindert. Das im Verlauf dieser Arbeit immer wieder kritisierte individuumszentrierte Menschenbild, das Verstandnis des Menschen als autonomes, absolutes Subjekt, zieht sich, so konnte gezeigt werden, nicht nur als Grundlage verschiedenster Theorien im Laufe der Jahrtausende,
' Dass der Kommunikationsabbruch, voriibergehend oder endgultig, als existentielle Bedrohung erlebt wird, davon zeugen beispielsweise Abschiedsrituale und der Umgang mit dem Tod. Der Abschied ist zugleich ein Kommunikationsabbruch. Abschiedsformeln werden beiderseits wiederhoit gesagt, man beginnt noch einmai ein kleines Gesprach, verabschiedet sich wieder, tragt GriiBe an andere auf, hat das Gefuhl, dass man noch vieles sagen musste.
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sondem als dominantes Menschenbild durch die abendlandische Geistesgeschichte. Es ist aber auch Leitmotiv des alltaglichen Erlebens und Handelns. Unsere gesamte Sozialisation und Kultur orientiert sich am individuumszentrierten Menschenbild in seinen unterschiedlichsten Auspragungen. Wie nichts anderes wirkt es sich daher auf die zwischenmenschliche Kommunikation aus und hat wesentlichen Anteil an der alltagUchen inkongruenten Kommunikation. Eine individuumszentrierte Einstellung in der Kommunikation bedeutet, dass der triadischrelational bestimmte Mensch sich in der Kommunikation mit dem Anderen als absolutes Subjekt setzt. Als solches muss es aber die existentielle Angewiesenheit auf den Anderen leugnen, well es sonst nicht absolut ware. Damit vollzieht es einen Selbstwiderspruch, denn die Behauptung seiner absoluten Autonomic ist zugleich die Negation seiner Grundbezogenheit, seiner eigentlichen Natur. Sic ist eine Illusion. Dies wirkt sich mindemd auf die Kommunikationsqualitat aus. Wenn Kommunikation Leben, Veranderung und zudem unvermeidbar ist, dann ist sie als solche immer schon eine Infragestellung der Absolutheit. Das vollkommene Subjekt kommuniziert nicht perfekt, sondem gar nicht, wie Wyss dargelegt hat (s. Abschnitt 5.3). Inkongruente Kommunikation steht im Dienste der Absicherung der Absolutheit, was zugleich auch die Abwehr des Absolutheitsanspruches des Anderen bedeutet. Die Aufhebung der Einmaligkeit des Anderen reduziert diesen auf bestimmte Funktionen, auf seine Ntitzlichkeit, auf ein Mittel zum Zweck und macht ihn damit austauschbar, ersetzbar durch andere.^^^ Der Andere wird zur Erganzung oder Bedrohung meiner selbst, d.h. er existiert nicht mehr als Anderer. Wer das Funktionalisiertwerden erdulden muss, wird jede Gelegenheit ergreifen, dem Starkeren zu zeigen, dass er in bestimmten Bereichen gar nichts machen kann, also nicht wirklich absolut ist, z.B. im Dienst nach Vorschrift, im willentlichen Missverstehen des subtil Kommunizierten. Untersttitzt wird die individuumszentrierte Einstellung nicht nur durch die Sozialisation, sondem auch die Tatsache, dass wir physisch als einzelne existieren. Leiblich sind wir auf uns selbst zuriickgeworfen, im Leibe sind wir einzelne. Das absolute Subjekt geht von der „Machbarkeit" der Kommunikation aus und nutzt dafiir gezielt die differenzierte Kommunikationsfahigkeit. Sie dient dazu, die Funktionalisiemng des Anderen zu tamen, seine Manipulation nicht als solche erscheinen zu lassen. Das Gelingen der Funktionalisierung und ihrer erfolgreichen Tamung ist aus einer individuumszentrierter Einstellung heraus „gelungene" Kommunikation. Eine solche Kommunikation kann nichts anderes als inkongment sein. Sie reduziert nur scheinbar die Reibungsverluste, die die Kommunikation zweier Subjekte mit Absolutheitsanspriichen bedeutet. Die andauemde inkongmente Kommunikation im AUtag kann so als ein permanenter Kampf zwischen zwei sich absolut setzenden Subjekten verstanden werden, die ihre eigentliche relationale Verfasstheit leugnen.
Der Andere wird hier zum „anderen".
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6.2.4.3 Formen inkongruenter Kommunikation Im Folgenden soil exemplarisch gezeigt werden, wie verbreitet inkongruente Kommunikation in unserer Kultur ist und vor allem, welche entscheidende Rolle dabei die individuumszentrierte Einstellung spielt. 6.2.4.3.1 Personlichkeitsstorungen als Kommunikationsstorungen Im DSM-IV (vgl. 301.00ff) werden „Pers6nlichkeitsst6rungen", eine Gruppe genau umschriebener psychischer Storungen, folgendermaBen defmiert: „Eine Personlichkeitsstorung stellt ein iiberdauemdes Muster von innerem Erleben und Verhalten dar, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, seinen Beginn in der Adoleszenz oder im frtihen Erwachsenenalter hat, im Zeitverlauf stabil ist und zu Leid oder Beeintrachtigungen fiihrt" (DSM-IV, 711). Fiir Moller et al. (1996) sind Personlichkeitsstorungen „in der Kegel auch Storungen der zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation" (Moller et al. 1996, 330). Streeck bemerkt dazu kritisch, dass jene Merkmale, die fur eine solche Diagnose ausschlaggebend sind, immer noch als Eigenschaften des Individuums verstanden werden, obwohl sie doch „in Wirklichkeit interpersonelle Verhaltnisse beschreiben" (Streeck 2004, 46). Anhand von Beispielen aus dem ICD-10 weist er auf, dass das, was als eine solche Personlichkeitsstorung bezeichnet wird, sich vorrangig als Verhalten manifestiert, „das von sozialen Normen abweicht, wrerpersonell also und nicht primar als Eigenschaft, die in der Person oder in der Personlichkeit lokalisiert ist. Ein Geschehen, dass sich zwischen Personen ereignet, erscheint als Beschreibung einer Person oder Personlichkeit. Keine dieser Beschreibungen bezieht sich nur auf eine Eigenschaft, die der Patient unabhangig von der Bezugnahme auf andere zeigt. Immer ist dabei Verhalten im Kontakt mit anderen und damit ein Verhaltnis zwischen Personen angesprochen" (Streeck 2004, 46f). Erste Uberlegungen lassen es plausibel erscheinen, einige Personlichkeitsstorungen als Ausdruck der Zuspitzung des zuvor genannten Dilemmas zu betrachten, namlich als Widerspruch zwischen der Presentation als autonomes Individuum und seinem Bediirfnis nach kongruenter Kommunikation. Sie erscheinen als verschiedene Formen des Umgangs mit diesem Widerspruch, ohne ihn jedoch aufheben zu konnen. Bei der „Paranoiden Personlichkeitsstorung" herrscht das Misstrauen gegeniiber dem Anderen vor, dem gegenuber dann verstarkt die Autonomic zur Geltung gebracht werden muss. Wer grundsatzlich misstrauisch ist, vermeidet dadurch jegliches Risiko. Ein schizoid gestorter Mensch zeigt kein Bediirfnis mehr nach sozialen Kontakten. Damit kann ein solcher Mensch keine Ablehnung mehr erfahren, allerdings zugleich auch keine Bereicherung mehr durch eine kongruente Kommunikation. In der „Borderline Personlichkeitsstorung" zeigt sich groBe Angst vor vermeintlichem oder tatsachlichem Verlassenwerden, die sich in extremen Wutanfallen, auch gegen sich selbst, auBem kann. Auffallend sind dabei extreme Stimmungs-
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schwankungen zwischen Idealisierung und Abwertung des Anderen, Der Andere als gleicher erscheint als Bedrohung. Menschen mit „Histrionischer Personlichkeitsstorung" demonstrieren eine iibertriebene Emotionalitat und iibermaBiges Streben nach Aufmerksamkeit, d.h. sie sehen sich im Zentrum ihrer Welt und funktionalisieren den Anderen fiir ihre Bedurfnisse. Ahnlichkeiten damit weisen auch Menschen mit einer „Narzisstischen Personlichkeitsstorung" auf. Sie zeigen ein grofies Bediirfnis nach Bewunderung, Selbstiiberschatzung und mangelndes Einfuhlungsvermogen in den Anderen und zelebrieren ihre Widerspriichlichkeit. Sie signalisieren den Wunsch nach Anerkennung und vemeinen aber zugleich die Bedeutung des Anderen fiir sie. Menschen mit einer „Vermeidend-selbstunsicheren Personlichkeitsstorung" fuhlen sich in zwischenmenschlichen Kontakten gehemmt, minderwertig im Vergleich zu anderen und zeigen sich uberempfmdlich gegeniiber Kritik bis hin zu tief greifenden Angsten vor sozialen Kontakten. Jede Kritik fiihrt ihnen ihre UnvoUkommenheit vor Augen, d.h. dass sie kein absolutes Subjekt sind. Damit schreiben sie dem Anderen Autonomic ihnen gegenuber zu, funktionalisieren sich selbst gegenuber dem Anderen und furchten sich zugleich vor dessen Vernichtungspotenzial. Fiir einen Menschen mit einer „Zwanghaften Personlichkeitsstorung" ist Ordnung und Perfektion sehr wichtig, vor allem die psychische und soziale Kontrolle. Das absolute Subjekt ist hier das perfekte, fehlerlose Subjekt. Wer eine perfekte Leistung, und das kann auch die auBere Erscheinung sein, erbringt, ist per defmitionem unkritisierbar, d.h. der Andere hat keinen vemunftigen Grund, „Nein" zu diesem Menschen zu sagen, z.B. durch Kritik. Durch die demonstrierte Perfektion wird einseitig die Anerkennung der eigenen Absolutheit durch den Anderen erzwungen. Dadurch wird auch das Risiko aus der Kommunikation ausgeschlossen, das Risiko, das in der Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Anderen besteht.'^^ Perfektionismus erzwingt gewissermaBen die Anerkennung scheinbar nur von der Sache her, ohne sie selbst geben zu miissen. Das Bediirfnis nach Anerkennung wird nicht direkt ausgedriickt, also besteht scheinbar auch kein Risiko. 6.2.4.3.2 Machbarkeitsbestrebungen hinsichtlich der psychotherapeutischen Kommunikation Es scheint ein Problem der verschiedensten therapeutischen Verfahren zu sein, dass sie eine gute Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten fiir notwendig erachten, fur die dann aber der Therapeut mehr oder weniger allein verantwortlich sein soil. Klaus Grawe gibt in seiner „Psychologischen Therapie" (vgl. Grawe 1998, 31 Iff) eine genaue Anleitung fur ein iiberzeugend wirkendes Kommunikationsangebot des Psychotherapeuten an seinen Patienten, denn dieser sei allein fiir eine „fbrderliche Therapiebeziehung" (ebd. 327) verantwortlich.
• Vermutlich resultiert von daher auch die Defizitorientierung der Psychotherapie und Medizin uber die langste Zeit. Beispielsweise werden dann Behinderte, Sauglinge oder Kranke nur als Menschen mit Defiziten betrachtet, gemessen am reifen erwachsenen Menschen.
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Grawe zieht vor allem aus den Forschungsergebnissen von Krause und Mitarbeitem den Schluss, dass der Psychotherapeut sein nonverbales Kommunikationsverhalten systematisch schulen musse. „Therapeuten sollten mit dem Oberkorper zum Patienten hingeneigt sitzen, die Arme offen, die Hande locker im SchoB und, wahrend der Patient spricht, immer wieder mit dem Kopf nicken. Eigene AuBerungen solite der Tlierapeut mit Gesten unterstreichen, denn lebhafte Gestik wird als positiv wahrgenommen. Therapeuten, die das tun, werden von ihren Patienten viel positiver beurteilt als Therapeuten, die nach hinten gelehnt und mit vor der Brust verschrankten Armen dasitzen. Die Beine sollten eher offen als iibereinandergeschlagen sein. All diese Verhaltensweisen sind getrennt untersucht worden. Es wurden dabei auch Wechselwirkungen zwischen ihnen gefunden. [...] Es kommt also nicht nur auf das einzelne Verhalten fiir sich an, sondem auch auf die Konsistenz des Verhaltens" (Grawe 1998, 31 If). Fiir sehr wichtig halt Grawe auch einen „professionell/kompetenten Tonfall" (ebd. 313), der zur Induktion positiver Besserungserwartungen auf Seiten des Patienten beitragen korine. Die nonverbalen Verhaltensaspekte „laufen in der Regel automatisiert und unbewusst ab. Therapeuten in Ausbildung miissen, wenn sie sich nicht ohnehin nonverbal so verhalten, diese Verhaltensaspekte bewusst kontrollieren lemen, bis sie sie automatisch realisieren. Der EinfluB dieser nonverbalen Signale ist viel zu machtig, als dass er auBer Acht gelassen werden diirfte. Therapeuten konnen inhaltlich noch so Kluges sagen, wenn sie ihrem Patienten nicht gleichzeitig nonverbal die eben beschriebenen Botschaften senden, wird vieles von ihrer inhaltlichen Miihe vergebens bleiben. Diese Vorgange konnen beiden Interaktionspartnem vollig unbewuBt sein, erklaren aber einen erheblichen Teil des schlieBlich resultierenden Therapieergebnisses (Krause, 1997). Ich nehme an, dass die beschriebenen nonverbalen Signale an den Patienten sehr wesentlich sind fur seine Aufnahmebereitschaft und diese hat sich als ein wichtiges Bindeglied zwischen therapeutischen Interventionen und Therapieergebnis erwiesen (Ambiihl, 1991; Orlinsky, Grawe & Parks, 1994)" (ebd. 314). Aus der Tatsache, dass das Interaktionsgeschehen der ersten psychotherapeutischen Sitzung hoch mit dem Therapieergebnis korreliert, schlieBt Grawe, dass der Therapeut schon ganz am Anfang die relevanten Kommunikationsmuster einzufuhren hat. Daher musse gerade die erste Sitzung sorgfaltigst geplant werden. „Ideal ware es, wenn ein Therapeut moglichst schon vor der ersten Therapiesitzung einschlagige Informationen iiber das Beziehungsverhalten des Patienten hatte. So etwas ware im Prinzip iiber Videoaufnahmen aus diagnostischen Aufnahmeuntersuchungen realisierbar. Er konnte sich dann innerlich darauf einstellen, in welche ungiinstigen Beziehungsmuster er hineingezogen werden konnte, und sich eine reflektierte Beziehungsstrategie zurechtlegen, die ihn und den Patienten davor schiitzt. Die Verantwortung dafiir, dass es in dieser Hinsicht zu einer forderlichen Therapiebeziehung kommt, liegt ganz beim Therapeuten, und er muss sie im Interesse des Patienten wahmehmen, auch wenn das bedeutet, dass er ihm unangenehme Gefiihle machen muss. Dem Patienten sind solche Vorgange zunachst vollig unbewusst. An ihn kann daher keinerlei Verantwortung fiir diesen Aspekt der Beziehungsgestaltung delegiert werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass nicht alle erfolgsrelevanten Aspekte einer Therapie von Anfang an dem Patienten transparent gemacht werden konnen. Ein Therapeut kommt nicht umhin, Verantwortung fiir den Patienten zu iibemehmen, die dieser noch nicht selbst iibernehmen kann" (ebd. 327).
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Gleichzeitig begibt sich Grawe aber in einen Selbstwiderspruch, denn er hat wenige Seiten zuvor noch behauptet, dass z.B. die unwillkiirliche Mimik nicht kontrollierbar, hochstens uberlagerbar sei (vgl. ebd. 302). Obwohl Grawe also eigentlich weiB, dass die Manipulation nicht gelingen kann, will er die kiinftigen Therapeuten entsprechend trainieren. Man weiB sich letztlich nicht anders zu helfen, als auf verschiedensten Wegen und mit den verschiedensten Mitteln den Anderen dazu zu bringen, dass er in bestimmter Weise kommuniziert. Zugleich muss aber unbedingt der Eindruck erweckt werden, dass genau dies nicht der Fall ist. 6.2.4.3.3 Computervermittelte Kommunikation als „risikofreie" Kommunikation Die oben (s. Abschnitt 4.5) schon diskutierte computervermittelte Kommunikation kann gewissermaBen als „modemste" Form des Versuchs gelten, die der individuumszentrierten Kommunikation immanente Bedrohung durch den Absolutheitsanspruch des Anderen auszuschalten und trotzdem „nahe" zu kommunizieren (vgl. Rothe 2004). Gerade die „Machbarkeit" wird in dieser Diskussion als ihr „Vorteir' gegentiber der Face-to-face-Kommunikation angeflihrt. Machbarkeit heiBt in dieser Kommunikationsform, dass ich jederzeit die Kommunikation beherrsche, also auch nach Gutdunken abbrechen kann, was in der Face-to-faceKommunikation tatsachlich erheblich schwieriger ist. Allerdings handelt es sich dabei um einen Scheinvorteil, insofem dieser sich selbst aufhebt, wenn er jedem gegenuber jedem zukommt. Nicht nur der Andere ist meinem autonomen Handeln ausgeliefert, das gilt auch umgekehrt fiir mich. Zudem wird im Vollzug dieser Vorteil noch einmal sabotiert, wenn man laufend versucht, die Defizite der computervermittelten Kommunikation im Vergleich zur Face-to-face-Kommunikation zu kompensieren. Es erscheint als Erleichterung, seine Identifizierbarkeit zu vermeiden, sich fiir den Anderen als einen ganz Anderen zu erschaffen, sich also hinter Anonymitat oder Pseudonymitat verstecken zu konnen, und zugleich wird aber viel Zeit aufgewandt, um das Vermiedene doch zu prasentieren bzw. entsprechende Informationen dariiber zu erhalten. Was als Vorteil benannt wird, versucht man zugleich wieder aufzuheben. Trafe die postulierte Autonomic zu, dann ware nicht zu verstehen, warum der Mensch nicht mit dieser Kommunikationsform zufrieden ist, sondem eine Vielzahl von Anstrengungen untemimmt, ihre in der Abwesenheit der leiblichen Dimension begrtindeten Defizite zu kompensieren. Ganz deutlich wird das Dilemma dieser „Freiheit", wenn sich die Frage nach einem Faceto-face-Kontakt stellt. Der herausgestellte Vorteil wird plotzlich zum Nachteil, well man nicht mehr sicher ist, ob der bisherige Kontakt auch einer Face-to-face-Kommunikation gewachsen bleibt. Die Freiheit, jederzeit Netzkontakte abbrechen zu konnen, scheint die Autonomic des Subjekts zu vollenden. Es braucht sich mit der Antwort des Anderen auf den Abbruch nicht mehr zu befassen, denn diese erreicht ihn gar nicht mehr. Die Funktionalisierung des Anderen erscheint hier perfekt moglich - sofem man vergisst, dass dem Anderen dieses Verhalten gleichermaBen moglich ist. In der Face-to-face-Kommunikation bleibt dem Anderen die Moglichkeit, mich zu verletzen oder gar zu vemichten in einem unvergleichlich hoheren MaBe als 233
in der computervermittelten Kommunikation. Dieser Selbstschutz ist zugleich die Distanz zum Anderen, die ich aber doch gerade reduzieren will. Fiir diesen Selbstschutz in Form eines verringerten Risikos wird dann aber mit der fehlenden Kommunikationsqualitat bezahlt. 6.2.4.3.4 Individuum vs. Team Es gibt heute kaum Stellenausschreibungen, vor allem im Dienstleistungsbereich, in denen nicht ritualmaBig Kommunikations- und Teamfahigkeit von potenziellen Bewerbem erwartet wird. Komplexe Aufgaben konnen nicht mehr von Einzelgangem bewaltigt werden und machen daher ihre Bewaltigung in Teams erforderlich. Bin Team betrachtet Kellner (1997) als Gruppe gleichwertiger Personen, die gemeinsam zu einem Arbeitsergebnis kommen sollen, was ihrer Meinung nach aber ohne hierarchische Fuhrung nicht gelingen kann. Kellner stellt in ihrer eher popularpsychologisch gehaltenen Arbeit „Die Teamluge" lapidar fest: „Besonders im Hinblick auf ,Teamfahigkeit' lasst sich beobachten, dass ausgerechnet jene Kollegen, die sich am meisten fur das Team einsetzen, denen das Team am meisten zu verdanken hat, letztlich in den unteren Rangen der Hierarchic hangen bleiben, wahrend die teamunfahigen Einzelganger oder Egoisten kontinuierlich die Karriereleiter hinaufsteigen" (Kellner 1997, 96). Selbstgesteuerte Teamprozesse scheiterten regelmai3ig, weil der Mensch gar nicht daftir gemacht sei. „Hinter der Team-Ideologie steckt im Grunde nichts anderes als die Nutzung uralter Herden- oder Hordeninstinkte, die wir alle von den Huhnem, den Wolfen, den Klihen oder Pavianen, oder wer sonst noch vor uns war, geerbt haben" (ebd. 60). Viele Vergleiche zwischen dem menschlichen Verhalten und dem Tierreich verwiesen auf die Naturgegebenheit von Rangordnungskampfen und der „naturlichen" Teamunfahigkeit von Fiihrungskraften. Demzufolge sind fiir sie Top-Manager absolut teamunfahig, genauso wie Adler, die auch nur ihrer Natur folgten. Vorgesetzte sahen ihre Mitarbeiter lediglich als verftigbare Planungseinheiten ohne eigene Anspruche, und das sei gewissermafien ein Naturgesetz in solchen Positionen(vgl. ebd. 145). Ihre „L6sung" fiir erfolgsbewusste Menschen, im Sinne des hier dargelegten Kommunikationsverstandnisses, ist eine klare Empfehlung zur inkongruenten Kommunikation. Fiir Kellner gibt es Menschen, die sich im Team wohl fiihlen und deswegen auf Karriere verzichten. Wer aber das nicht will, fiir den muss die Teamarbeit immer nur Mittel zum Zweck bleiben (vgl. ebd. 216). „Es mag manche anwidem, dass jemand durch gezielt trainierte Verhaltensweisen in der inoffiziellen und spater auch offiziellen Hierarchic aufsteigt. Aber so funktioniert das unter Menschen nun mal" (ebd. 228). Die entsprechenden Regeln lauten: Nehmen Sie immer viel Raum ein. Seien Sie schneller als die anderen, ohne dabei gehetzt zu wirken. Verschaffen Sie sich Gehor. Legen Sie Regeln fur andere fest. Umgeben Sie sich mit Symbolen von Macht, Uberlegenheit, Prestige (vgl. ebd. 232ff). Fiir jeden, der noch den Teamgedanken verfolgt, muss nach Kellner klar sein, dass Beurteilungen, Beforderungen, Zeugnisse immer fur Einzelleistungen ausgestellt werden. Ebenso werde auch nicht ein Team, sondem immer nur der einzelne befordert. Daraus folgt fiir Kellner: „Wenn Sie Spitzenleistungen an234
streben und beruflichen Aufstieg, dann muss das Bekenntnis zum Teamwork unbedingt ein Lippenbekemitnis bleiben" (ebd. 239). Was Kellner hier plastisch vor Augen fiihrt, ist nichts anderes als das absolute Subjekt, das sich selbst als ein solches versteht und entsprechend handelt. Es sieht sich selbst im Zentrum seines Handelns und Erlebens. Dort, wo es steht, ist zugleich kein Platz ftir einen anderen Menschen. Dieser ist immer ein potenzieller Rivale um die knappen Giiter. Hierarchiekampfe sind daher unvermeidbar. Kompromisse sind, verglichen mit dem maximal Erreichbaren, immer ein Minus. Wenn nur das Individuum zahlt, dann gibt es keinen vemtinftigen Grund, seine Kraft in Gruppen und Teamarbeit zu investieren, wenn zugleich zur Leistungssteigerung das Rivalitatsprinzip offen forciert wird. Teamwork ist notwendig zur Bewaltigung bestimmter Aufgaben, aber nur die Nicht-Karriereorientierten glauben daran, dass sich dadurch das Arbeitsleben verbessem lasst. Wer Karriere will, wird sich offentlich zum Team bekennen, tatsachlich aber nur die eigenen Plane verfolgen. Wer emsthaft fiir das Team argumentiert, hat entweder schon auf die Karriere verzichtet oder macht nur einen Versuch, die anderen zu seinen eigenen Gunsten auszubeuten. Das Team ist quasi etwas Widematiirliches, und selbst Schuld ist, wer darauf reinfallt. Jeder steht immer zum Anderen in Konkurrenz. Deutlicher kann man die Konsequenzen eines sich absolut und autonom verstehenden Subjektes kaum formulieren. Zumindest muss man Kellner ihre Offenheit, mit der sie die sog. Teamfahigkeitsanforderung in ihrer Doppeldeutigkeit entlarvt, zugute halten. Deutlich ist zudem auch, dass inkongruente Kommunikation sozusagen zum Mittel der Wahl wird. Wenn wir aber grundlegend relational Bezogene sind und daher auf kongruente Kommunikation angewiesen sind, dann wird klar, welchen Preis diese Einstellung im Alltag von uns alien fordert. Die individuumszentrierte Einstellung macht zudem aus unterschiedlichen Funktionen im Berufsalltag eine Hierarchic mit unterschiedlichem Machtanspriichen, die dazu missbraucht wird, den einzelnen in seinem Anspruch als absolutes Subjekt abzusichem. Es geht dann nicht mehr um die Ausubung von notwendigen Funktionen, sondem um die Absicherung des absoluten Subjekts, was in der Folge zu ungeheuren Reibungsverlusten fuhrt. Die Absolutsetzung macht die Kommunikation unausweichlich inkongruent. Eine besondere Form solcher destruktiven Kommunikation stellt .Mobbing'' dar (vgl. Rothe 2003). Mobbing ist eine extrem inkongruente Kommunikation iiber einen langeren Zeitraum zwischen mehr als zwei Personen mit dem Ziel des Ausschlusses von Menschen aus der Kommunikation, der Exkommunikation. Hier soil jemand durch diese Kommunikationsform aus der nachsten Umgebung verschwinden, praktisch inexistent werden. Kommunikation wird dazu missbraucht, um jemanden aus der Kommunikation auszuschliefien. Gemobbt wird, wer zwischen sich und anderen eine unertragliche Diskrepanz zwischen informellen und formellen Normen eroffnet. Der Gemobbte weicht von der informellen Norm ab, ist aber in seinem Verhalten durch die Einhaltung der formellen Norm voll gerechtfertigt. Das Abweichen von der informellen Norm stellt diese in Frage. Dadurch fuhlen sich die anderen in ihren Privilegien 235
beeintrachtigt und gefahrdet. Was eigentlich Lebenselement und Entwicklung bedeutet, wird hier in sein Gegenteil verkehrt: es wird zu seiner eigenen Vemichtung gebraucht. Die Kommunikation wird durch den Missbrauch von Kommunikation vemichtet. Ein wesentliches Merkmal von Mobbing ist, dass iiber diese Kommunikation nicht kommuniziert werden darf, d.h. es erfolgt eine Einschrankung der Kommunikation. Es wird geleugnet, dass in der genannten Form mit dem Gemobbten kommuniziert wird. Andemfalls ware das Mobbing beendet. Darin liegt auch der Unterschied zwischen Einzelereignissen und einem prozesshaften Geschehen mit ganz eigener Dynamik. Es gehort mit zum Mobbingprozess, den Gemobbten fur paranoid zu erklaren, wenn er aus Einzelereignissen ein vermeintlich prozesshaftes Geschehen macht. Vermutlich wird Mobbing in seiner Destruktivitat nur noch durch die physische Totung iibertroffen, die definitive Beendigung jegUcher Kommunikation ab sofort und endgiiltig. Als lediglich eine Stufe davor kann aber auch Mobbing zum Tode fiihren, entweder durch Suizid des Gemobbten oder als Endpunkt einer lang andauemden psychosomatischen Erkrankung. 6.2.4.4 Der Verzicht auf den Absolutheitsanspruch als Voraussetzung kongruenter Kommunikation Kommunikation ist Leben und endet wie dieses endgiiltig mit dem Tod. Kongruente Kommunikation ist so Entwicklung, Veranderung im Horizont des Todes. Jede Kommunikation ist ein Risiko, unterliegt dem Einfluss von Unwagbarkeiten. In jedem Abschied, Kommunikationsabbruch wird das Ende vorweggenommen. Der Tod ist das auBerste Alleingelassen werden, gegen das wir uns nicht versichem konnen. Insofem jede Kommunikation daher ihrer Natur nach zunachst auf Veranderung abzielt, ist sie von vomherein mit dem absoluten Subjekt inkompatibel, denn als solches kann es sich nicht andem, ohne diesen Absolutheitsanspruch aufzugeben. Hier ist unsere Sozialisation gegenlaufig zu unserer eigentlichen Verfasstheit. Wenn die Entwicklung der Person nur in der Bejahung der Relationalitat geschehen kann, dann wirkt sich die individuumszentrierte Perspektive hemmend darauf aus, d.h. sie fiihrt zum Qualitatsverlust in der Kommunikation. Inkongruente Kommunikation hat das Wachstumspotenzial der kongruenten Kommunikation verloren. Man existiert nur noch, und im Mobbing wird im Extremfall sogar die bloBe Existenz bekampft, hat aber aufgehort, sich in der Kommunikation mit dem Anderen zu entwickeln. Man glaubt existieren zu konnen, ohne sich verandem zu miissen. Wo die Entwicklung aufhort, wird das Leben auf die reine Existenz reduziert. Hier wird eigentlich das Ende schon vorweggenommen. Das Leben und damit die Kommunikation ist ein grundlegendes Risiko, weil der Tod alles Leben und jede Kommunikation beendet. Das sich absolut verstehende Individuum eliminiert in der inkongruenten Kommunikation gewissermaBen das Leben, die Entwicklungsmoglichkeiten, und nimmt damit den Tod schon vorweg. Die Illusion der Autonomic ist letztlich die Vorwegnahme des Todes.
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Dies erfahren die Betroffenen in Form einer permanenten Infragestellung ihres Absolutheitsanspruches, beginnend mit andauemden gegenseitigen Funktionalisierungsversuchen bis hin zur gegenseitigen psychischen oder gar physischen Vemichtung. Dabei wird die differenzierte Kommunikationsfahigkeit als eine trainierbare Waffe gegen die Anspruche des Anderen eingesetzt, gegebenenfalls wird sie sogar zum Vemichtungsinstrument wie z.B. in einem Mobbingprozess. Der Andere soil die kommunikative Tauschung fur bare Miinze nehmen, sie schweigend, ohne Widerspruch hinnehmen, wobei nach dem bisher Gesagten eine echte Tauschung kaum moglich erscheint. Das vermeintlich autonome Individuum signalisiert kommunikativ unweigerlich seinen Absolutheitsanspruch und bedroht damit den Anderen. Es gehort zur inkongruenten Kommunikation, dass eine Kommunikation uber sie selbst tabuisiert wird. Die Kommunikanten „wissen" um die Inkongruenz ihrer Kommunikation und leugnen dies zugleich. Der wohl einzige Weg zu kongruenterer Kommunikation besteht im Verzicht auf die als notwendig geglaubte Absolutheit, und d.h. in der Anerkennung der Relationalitat, der existentiellen Abhangigkeit vom Anderen, der einer ist wie man selbst. Ein solcher Verzicht erscheint dem absoluten Individuum als groBes, als auBerstes Risiko, weil es sein Ende bedeutet. Er ist vielmehr die Auslieferung an die Unwagbarkeit und Unvorhersehbarkeit des gemeinsamen Kommunikationsprozesses, der Verzicht auf das einseitige Machen und damit auf die Kontrolle der Kommunikation, auf die vermeintliche Sicherheit inkongruenter Kommunikation wie auch auf einseitige Schuldzuweisung, es heiBt Sich-Einlassen auf das Leben. Zugleich ist er aber auch Entlastung in dem Sinne, nicht allein fur die Kommunikation verantwortlich zu sein. Der Verzicht auf die Autonomic als Voraussetzung kongruenter Kommunikation heiBt, dass sich das absolute Subjekt aus seiner Perspektive im Kern aufgeben muss, um Veranderung iiberhaupt erst moglich zu machen. Aus der Sicherheit des Absolutseins ist keine kongruente Kommunikation moglich. Zugleich gibt es keine Sicherheit, dass der Andere den Einen nicht doch reinlegt. Die Moglichkeit des Einbruchs der individuumszentrierten Perspektive, der Verabsolutierung der Differenz, unterstiitzt durch die Tatsache, dass wir physisch immer als einzelne existieren, bleibt unaufhebbar. Hier bedeutet die individuumszentrierte Einstellung kurzfristig Sicherheit, weil sie genau dieses Risiko vermeidet, vor allem in einem hierarchischen System, wenn der Andere sich in seinem Absolutheitsanspruch durch Dritte unterstiitzt weiB. Sie ist Absage an die Kontingenz als Kennzeichen der Bezogenheit. Aufgrund der triadisch-bestimmten Relationalitat gilt aber: entweder riskieren beide Kommunizierenden gleichermaBen den Verzicht auf ihren jeweiligen Absolutheitsanspruch oder aber sie mtissen beide die Inkongruenz ihrer gemeinsamen Kommunikation ertragen. Wir sind grundlegend triadisch-relational verfasste Wesen und darin liegt der Grund, dass unsere Kommunikation nicht nur inkongruent verlauft, sondem immer wieder auch hohere Kongruenzgrade zeigen kann. Das ist dann der Fall, wenn die Kommunizierenden auf das Absolutsein-Mussen verzichtet haben. Als lebendiges Geschehen zeigt sich keine Kommuni237
kation in immer gleich bleibender Qualitat, sondem in unterschiedlichen Graden kongruent bzw. inkongruent. Einzelne inkongruente Phasen sind nicht von entscheidender Bedeutung. Bedeutsam wird Inkongruenz erst dann, wenn sie eine ubermaBige Intensitat iiber einen bestimmten Zeitraum hinweg zeigt. Die gesamte Qualitat einer Kommunikation offenbart sich in erster Linie nicht darin, dass sie keine inkongruenten Momente enthalt, sondem darin, dass die Beteiligten fahig sind, inkongruente Phasen immer wieder zu tiberwinden. Daher konnen letzthch auch nur die Beteiligten feststellen, was sich in der Kommunikation zwischen ihnen wirklich ereignet hat. Kommunikation ist Leben, damit standige Veranderung, dem tragt das Verstandnis ihrer Qualitat als auf einem Kontinuum bestimmbar, Rechnung. Wie konnen wir also verschieden sein, ohne uns dabei verabsolutieren zu mlissen, ohne zugleich iiber das Mehr oder Weniger der eigenen Person im Vergleich zum Anderen entscheiden zu miissen? Ein Beispiel: Bin Gremium hat iiber die Gesamtqualifikation eines Kandidaten anhand bestimmter vorgegebener Kriterien zu urteilen. Das Prozedere sieht u.a. die Einholung entsprechender Fachgutachten zu den verschiedenen fraglichen Fahigkeiten vor. Wenn nun ein Teil der Gremiumsmitglieder von vomherein der Auffassung ist, dass diese Gesamtqualifikation in keinem Fall gegeben sein darf, weil sich daraus personalpolitisch unerwiinschte Konsequenzen ergeben wiirden, dann wird dies zwangslaufig zu inkongruenter Kommunikation in diesem Gremium flihren, wenn die betreffenden Gremiumsmitglieder ihre personalpolitischen Interessen einerseits verbergen, andererseits aber unbedingt durchsetzen mussen. Eine solche Inkongruenz kann nur dadurch verringert bzw. bewaltigt werden, indem beispielsweise die nicht sachgemafie Argumentation deutlich angesprochen wird und in der letzten Entscheidung eine Absage bekommt. Dies bedeutet im Rahmen des hier vorgestellten Ansatzes, sich dem Absolutheitsanspruch des sich fur absolut haltenden Subjekts - und das konnen konkret auch mehrere sein - eine Absage zu erteilen. Das ist in der Regel mit viel Angst verbunden, derin in einem hierarchischen System werden zur Durchsetzung von Absolutheitsanspriichen entsprechende Sanktionen eingesetzt. Gelingt dies nicht, dann ist davon auszugehen - weil Tauschung letztlich nicht moglich ist - dass alle Beteiligten sehr genau wissen, dass sie ihrem Auftrag wissentlich nicht gerecht geworden sind.
6.3 Fazit und Ausblick 6.3.1
Vom absoluten Subjekt zur triadisch bestimmten Relationalitat: ein notwendiger Paradigmenwechsel
Diese Arbeit hatte sich auf die Suche nach einer iiberzeugenderen Erklarung zwischenmenschlicher Kommunikation gemacht. Das erforderte in eins notwendig die Klarung dessen, was Sozialitat ist, wie das Verhaltnis zwischen dem Einen und dem Anderen verstanden werden kann. Die individuumszentrierte Sichtweise des Menschen, dessen Kern das Verstandnis vom Menschen als einem absoluten und autonomen Subjekt darstellt, erwies sich als unver-
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einbar mit den Erfahrungen zwischenmenschlicher Kommunikation, die zu einem triadischrelational verstandenen Menschenbild fiihren. Im Widerspruch dazu stehen auch Ergebnisse empirischer Forschungen. Auf diesen Uberlegungen basiert die vorgestellte Skizze einer Kommunikationstheorie, die allerdings noch weiterer Reflexionen bedarf. Das Gesamt der Kommunikation ereignet sich in alien graduellen Abstufungen auf dem Kontinuum zwischen Kongruenz und Inkongruenz, wobei Kongruenz die dem Menschen als einem triadisch-relational verfassten Wesen adaquate und von den Kommunikanten immer gemeinsam geschaffene Kommunikationsqualitat ist. Erst sie ermoglicht die Entwicklung als einmalige und unverwechselbare Person iiber die Lebensspanne hinweg, wobei das Werden des Einen unlosbar an dasjenige des Anderen gekoppelt ist. Lebensqualitat und Qualitat der zwischenmenschlichen Kommunikation sind so nicht voneinander zu trennen. Das seit Jahrtausenden dominierende individuumszentrierte Menschenbild wissenschaftlicher Theorien als auch des alltaglichen Erlebens und Handelns, die Behauptung der absoluten Autonomic des Subjekts, ist als spezifische Einstellung wesentlich fur die verbreitete Inkongruenz zwischenmenschlicher Kommunikation und die entsprechenden Folgen verantwortlich. Diese Inkongruenz ist Ausdruck eines Selbstwiderspruchs im VoUzug, der Negation der Relationalitat. Kongruenz bzw. Inkongruenz sind so die zentralen Momente des Wohl- bzw. Unwohlbefmdens. Das absolute Subjekt reduziert den Anderen auf bestimmte Funktionen, auf seine Nutzlichkeit, iiber die der differenzierte Gebrauch der Kommunikation hinwegtauschen soil. Die permanente alltagliche inkongruente Kommunikation ist ein andauemder Kampf zwischen zwei sich absolut setzenden Subjekten, die ihre eigentliche relational Verfasstheit leugnen. Verstandlich wird von daher, warum eine inkongruente Kommunikation zu solchen Frustrationen fiihrt, und vor allem, warum eine solche unangenehme und unbefriedigende Situation nicht einfach verlassen werden kann. Beide Paradigmen - das individuumszentrierte und das triadisch-relationale - schlieBen einander aus. Die Absolutsetzung des Subjekts ist weder philosophisch noch empirisch zureichend begriindet worden. Daher scheint ein Paradigmenwechsel unausweichlich zu sein. Ein wirklicher Paradigmenwechsel wird sich durch eine entsprechende Anderung der Grundeinstellung, namlich dem Verzicht auf den Absolutheitsanspruch und dessen Auswirkung auf das Kommunikationsgeschehen, zeigen. 6.3.2 Die Fraglichkeit bestimmter Kommunikations-„Tools^' Wie kann ein solcher Paradigmenwechsel initiiert werden, wenn er ja nicht nur theoretisch geschehen, sondem praktisch in der Kommunikation wirksam werden soil? Fragwurdig erscheinen alle diesbezuglichen FortbildungsmaBnahmen, die auf dem Hintergrund eines individuumszentrierten Menschenbildes zwischenmenschliche Kommunikation fur machbar halten. Inwieweit sorgen, provokativ gefragt, Kommunikationstrainings herkommlicher Art, wie auch Coaching oder Supervision, zumindest in ihren theoretischen Konzeptionen nicht ftir ei239
ne Perpetuierung inkongruenter Kommunikation, wenn sie Kommunikationsprobleme aus individuumszentrierter Sicht bewaltigen wollen? Sind sie nicht vielfach Trainings, die darauf ausgerichtet sind, das absolute Subjekt in der Funktionalisierung des Anderen zu unterstiitzen, seine „Kriegsfuhrung" zu verbessem? Der Versuch, Kommunikation einseitig zu machen, ist zugleich ihre Destruktion. Das gilt fur jede Art von „Kommunikationstraining", das den Anderen dazu zu bringen versucht, in bestimmter Weise zu kommunizieren, und das zugleich aber unbedingt den Eindruck erwecken will, dass es genau dies nicht tut. Die „Qualitat" der diversen Angebote an Kommunikationstrainings misst sich dann daran, wie uberzeugend sie ihre Manipulation leugnen konnen. Okonomisch geht es dabei um einen groBen Markt. Die Leugnung der Relationalitat durch die Absolutsetzung des Subjekts lasst Krieg als unvermeidlich erscheinen, stellt unlautere Konkurrenz als Erfolgsmittel dar und verkauft kostenintensive Manipulationsanleitungen als Kommunikationsverbesserungen. Die Demotivation der Mitarbeiter infolge solcher wiederholten „Trainings" wird dabei als eminenter Kostenfaktor nichts ins Kalkiil gezogen. Die individuumszentrierte Einstellung druckt sich femer in den diversen Ratgebem zur Handhabung der verschiedensten Kommunikationsschwierigkeiten aus. Sie unterstiitzen so lediglich die Fortschreibung der Probleme. Es bleibt dann nur noch der Appell an die Vernunft Oder aus weltanschaulich fundierten ethischen Motiven heraus an den Anderen, deren Nutzlosigkeit aber immer wieder, gerade auch bei der Arbeit mit Gruppen, klar zutage tritt. Sie miissen ohne Paradigmenwechsel wirkungslos bleiben. Im giinstigsten Fall verzichtet man auf kongruente Kommunikation, versucht es mit dem vernunftigen Standpunkt eines „do ut des" und verfallt angesichts dessen bestenfalls in milde Depression. 6.3.3 Die Bedeutung der Gruppe Zentral bleibt die Frage, wie inkongruente Kommunikation in Richtung Kongruenz verandert werden kann, wenn dies nicht einfach „machbar" ist. In jedem Fall kann die Veranderung der Kommunikation nur durch die Kommunikation selbst erfolgen. Wesentlich im Sinne des vorgestellten Ansatzes ist eine Einstellungsanderung hin zu einem relationalen Menschenbild. Einstellungen sind, sozialpsychologisch gesehen, aber nicht eine Sache des Einzelnen, sondem ereignen sich sozial. Hier wird die Gruppe relevant, derin im eigentlichen Sinne existieren wir gruppal. Die Bedeutung des Dritten ist eminent flir die Veranderung der Kommunikation zweier sich absolut verstehender Subjekte. In der Gruppe ist jeder ein Dritter gegeniiber den anderen Dyaden. Weil auch er als relational Bezogener nicht nicht kommunizieren kann, wird er die Kommunikation unweigerlich zuriickmelden und damit die Kommunikation der Dyade beeinflussen. Der Dritte hat hier aus einer triadisch-relationalen Einstellung heraus die Moglichkeit, die Kommunikationsblockade, die Inkongruenz, den beiden erkennbar zu machen und ihnen damit zu kongruenterer Kommunikation zu verhelfen. Er kann allerdings auch mit einem der beiden ein absolutes Subjekt gegen den Anderen bilden und damit die Inkongruenz noch verstarken. Hier konnte die Gruppe eine enorm hilfreiche Rolle spielen, wenn die 240
Gruppenmitglieder sich wirklich als Dritte und nicht als Parteiganger verstehen, d.h. wenn sie selber kongruente Kommunikation anstreben wurden. Die dyadische Kommunikation ist sowohl in groBerer Gefahr, der Inkongruenz zu verfallen, als auch zwei sich viel schwerer allein daraus befreien konnen. Die Weiterentwicklung dieses Kommunikationsansatzes muss konsequenterweise in Richtung einer neu verstandenen Gruppenpsychologie gehen. „Gruppendynamik" ist dann zu verstehen als Dynamik der Kommunikation einer Gruppe. In der Gruppe erhoht sich das kommunikative Risiko, zugleich kann sie aufgrund vielfaltiger Riickmeldungsmoglichkeiten hilfreicher sein, kongruentere Kommunikation zu erreichen. Die Gruppe ist der Ort, wo sich am ehesten kommunikative Veranderungen ereignen konnen bzw. inkongruente Kommunikation bewaltigt werden kann (vgl. Rothe & Sbandi, in Vorbereitung). Beispielsweise lieBen sich von diesem Ansatz aus die in den 1960er Jahren kreierten SensitivityTrainings als Klarung der Kommunikation durch Kommunikation verstehen. H.E. Richters Buch iiber „Das Ende der Egomanie" (2002) ist meines Erachtens ein gutes Beispiel dafur, dass notwendige gesellschaftliche Veranderungen ohne einen solchen Paradigmenwechsel, wie er hier vorgeschlagen wurde, nicht moglich sind. Es geht dabei um Anderungen sowohl im Bereich der Philosophic, der Naturwissenschaft, der Erziehung, des Rechts, der Medizin, der Religion als auch der Wirtschaft und weltweiten Giiterverteilung. Beispielsweise kann eine so wichtige Branche der Weltwirtschaft wie die Waffenproduktion nicht unangetastet bleiben. Waffenproduktion bedeutet Kriegsproduktion, also Vemichtung des Anderen, und das lasst sich weder relational denken, noch ist es mit einer Auffassung der kongruenten Kommunikation als Lebensprinzip vereinbar. Gesellschaftliche Konventionen, die durch bestimmte Normen und Werte Inkongruenz fordem, miissen neu iiberdacht werden. Die Austauschbarkeit von Sein und Eines-Sein, im Sinne des Grundprinzips der scholastischen Philosophic ens et unum convertuntur, wird aus triadisch-relationaler Perspektive fraglich. Die Konsequenzen eines solchen Paradigmenwechsels fur den privaten, beruflichen und wirtschaftlichen Bereich bis hinein in die Politik losen verstandlicherweise mulmige Geftihle aus, betreffen sie doch das Selbstverstandnis des heutigen Menschen im Kern. Doch ist auch der Preis einer weiterhin individuumszentrierten Sichtweise okonomisch, sozial wie auch psychisch fiir den einzelnen und die Gesellschaft nicht mehr zu vertreten.
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