Historische Semantik
Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte Herausgegeben von Hans Ulrich Schmid · Arne Ziegler
Band 2 · 2011
De Gruyter
Historische Semantik Herausgegeben von Jörg Riecke
De Gruyter
Wissenschaftlicher Beirat: Elvira Glaser (Zürich), Rüdiger Harnisch (Passau), Nikolaus Henkel (Hamburg), Thomas Klein (Bonn) Jarmo Korhonen (Helsinki), Maxi Krause (Caen), Alexandra Lenz (Wien), Claudine Moulin (Trier), Stephan Müller (Wien), Damaris Nübling (Mainz), Uta Störmer-Caysa (Mainz), Jaromír Zeman (Brünn)
ISBN 978-3-11-023659-0 e-ISBN 978-3-11-023662-0 ISSN 1869-7038 e-ISSN 1869-7046 %LEOLRJUDÀVFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUDÀHGHWDLOOLHUWHELEOLRJUDÀVFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHW über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen *HGUXFNWDXI VlXUHIUHLHP3DSLHU Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Gerd Fritz Historische Semantik – einige Schlaglichter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Oskar Reichmann Historische Semantik: Ideen, Realisierungen, Perspektiven . . . . . . . . 20 Carsten Dutt Historische Semantik als Begriffsgeschichte. Theoretische Grundlagen und paradigmatische Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . 37 Bernhard Jussen Historische Semantik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft . . . . . 51 Anja Lobenstein-Reichmann Historische Semantik und Geschichtswissenschaften – Eine verpasste Chance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Christoph Burger Historische Semantik in der Theologie. Luthers Neubestimmung von Marias Demut (humilitas) in seiner Übersetzung und Auslegung des „Magnifikat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Albrecht Greule Etymologie und Theolinguistik. Über den Erkenntniswert etymologischer Erforschung religiöser Begriffe am Beispiel des Theolexems nhd. weih . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Marie-Luise Sessler Sinnliche Erfahrungen des Absoluten. Tendenzen der semantischen Erweiterung in den deutschen Predigten Meister Eckharts . . . . . . . . 101
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Andreas Deutsch Historische Semantik aus Sicht der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . 111 Jörg Meier Heimat – Zur Semantik eines schwierigen Begriffs . . . . . . . . . . . . . . 128 Marcus Müller Historische Semantik aus der Sicht der Kunstgeschichte – sowie aus der Sicht auf die Kunstgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Edgar Radtke Historische Semantik und die Ausgliederung der Romania. Zur Neubewertung der Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Rosemarie Lühr Wortfeldvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Volker Harm/Marco Scheider Modul statt Monument? Zur Perspektive der historischen Lexikographie nach dem Ende der DWB-Neubearbeitung . . . . . . . . 179 Ulrich Knoop Der Klassikerwortschatz: Das Klassikerwörterbuch (KWB) und seine Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Stefaniya Ptashnyk Das Deutsche Rechtswörterbuch und sein Nutzen für die historische Semantik-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Dana Janetta Dogaru Frühneuzeitlicher Fachwortschatz aus Siebenbürgen und seine Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Angelika O’Sullivan Althochdeutsche Gerätebezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Torsten Woitkowitz Zur althochdeutschen Musikterminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Anna Volodina Null ist nicht gleich Null: Zur diachronen Entwicklung von Nullsubjekten im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Inhalt
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Renata Szczepaniak Zum Stand des Jespersen-Zyklus im Nibelungenlied (HS A): Starke und schwache negativ-polare Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Daniel Solling Zur Problematik der Unterscheidung zwischen pränominalem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum im Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . 294 Jessica Nowak Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Antje Dammel Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Damaris Nübling Von der ‚Jungfrau‘ zur ‚Magd‘, vom ‚Mädchen‘ zur ‚Prostituierten‘: Die Pejorisierung der Frauenbezeichnungen als Zerrspiegel der Kultur und als Effekt männlicher Galanterie? . . . . . . . . . . . . . . 344
Vorwort des Herausgebers Das große Interesse, das die zweite Jahrestagung der „Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte“ hervorgerufen hat, zeugt eindrucksvoll von der wiedergewonnenen Strahlkraft der historischen Sprachwissenschaft. Dabei verwundert es nicht, wenn es gerade die „Historische Semantik“ ist, die hier im zweiten Jahrbuch stellvertretend für diesen Aufschwung steht. Gerade die Öffnung der Historischen Sprachwissenschaft zur Semantik und Pragmatik – bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer sprachstrukturellen und philologischen Grundlagen – macht einen großen Teil dieser neuen Attraktivität aus. Unter diesen Vorzeichen haben sich vom 7. bis 9. Oktober 2010 in Heidelberg 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus sechs Ländern zusammengefunden, um an drei sonnigen Tagen über semantische Fragen, Probleme und Forschungsvorhaben zu diskutieren. Der Herausgeber hat im Vorfeld versucht, den vielfältigen Interessen durch ein breites Themenspektrum entgegenzukommen. Daher enthält das Jahrbuch, wie schon die Tagung: 1. Durchblicke in Form von grundsätzlichen Stellungnahmen zu den Gegenständen der „Historischen Semantik“ 2. Seitenblicke aus anderen und in andere Fachkulturen und ihre Methoden 3. Einblicke in laufende Forschungsvorhaben sowie 4. Ausblicke in Grenzbereiche zur Morphologie und Syntax. Zwar konnten letztlich nicht alle Vorhaben realisiert und in Gestalt eines Vortrags Teil der Fachtagung werden, auch konnten hier nicht alle Vorträge aufgenommen bzw. rechtzeitig für den Sammelband fertig gestellt werden. Aber es kristallisiert sich aus der Gesamtmenge der Beiträge, die einen willkommenen Überblick über die Facetten der Historischen Semantik bieten, doch ein Kern von Themen heraus, die im engeren Sinne zu den Aufgaben der germanistischen Sprachgeschichte gehören. Dazu zählt ohne Zweifel der Dialog mit den anderen historisch und sprachhistorisch ausgerichteten Fachkulturen einerseits und mit der Allgemeinen Sprachwissenschaft andererseits. Germanistische Aufgabenfelder entstehen dann wohl immer dort, wo das Erkenntnisinteresse der Beiträge primär auf die Analyse deutschsprachiger Texte und deutschsprachiger sprachli-
X cher Strukturen abzielt. Der vorliegende Sammelband vereinigt in diesem Sinne Texte aus dem Zentrum sprachgermanistischer Forschungen und Texte, die weiter an den Rändern liegen. Auch dadurch mag er dazu beitragen, das Profil der „Historischen Semantik“ in der Sprachgermanistik weiter zu schärfen. Für die großzügige finanzielle Förderung der Tagung sei der Fritz-Thyssen-Stiftung an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich gedankt, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zudem für die freundliche Bereitstellung ihrer Räumlichkeiten. Mai 2011
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Historische Semantik – einige Schlaglichter 1. Grundlagen Blütezeiten erlebte die historische Semantik besonders in Phasen, in denen ein besonderes sprach- und bedeutungstheoretisches Interesse der Forscher mit einer starken Datenorientierung zusammentraf. Dies gilt einmal für die Periode am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die für uns durch Wissenschaftler wie Michel Bréal, Hermann Paul oder – mit etwas anderem Schwerpunkt – Otto Behaghel und deren Schüler vertreten ist. Die manchmal als positivistisch belächelte Materialfreude, die sich beispielsweise auch in den dicken Bänden des Grimmschen Wörterbuchs zeigt, führte oft zu einer bemerkenswerten Datenkenntnis, die vor vorschnellen Hypothesen schützte und von der wir heute noch profitieren. Ähnliches gilt aber auch für Jost Triers Projekt einer umfassenden Beschreibung des „deutschen Wortschatzes im Sinnbezirk des Verstandes“ (Trier 1931), in dem sich die Programmatik einer frühen strukturellen Semantik mit einer vorzüglichen Kenntnis alt- und mittelhochdeutscher Texte verband. Auch wenn wir Teile seiner theoretischen Konzeption und seine manchmal vage und metaphorische Beschreibungssprache heute vielleicht befremdlich finden, ist die Lektüre seiner Materialzusammenstellungen weiterhin lehrreich. Nach einer gewissen Dürrephase in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen die meisten Sprachwissenschaftler sich mit anderen Dingen beschäftigten, die aber später der historischen Semantik zu Gute kamen (Syntax, Bedeutungstheorie, Kommunikationsanalyse, Soziolinguistik), haben sich seit den 80er Jahren wieder zahlreiche Forscher unterschiedlicher Herkunft mit historisch-semantischen Fragen beschäftigt, manchmal unter ganz anderen Labels, wie etwa der Grammatikalisierungsforschung, der historischen Pragmatik oder der Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs. Auch lexikalische Projekte wie das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch, die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs und das Mittelhochdeutsche Wörterbuch sind hier zu nennen. Ein bedeutender Anstoß kam aber auch von Arbeiten, die die historische Semantik als
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einen Prüfstein und als ein Anwendungsfeld für bedeutungstheoretische Konzeptionen nutzten, insbesondere aus dem Bereich der pragmatischen Semantik in ihren verschiedenen Varianten Gricescher und/oder Wittgensteinscher Provenienz und der verschiedenen Versionen einer kognitiv orientierten Semantik, insbesondere der Prototypensemantik (vgl. Geeraerts 1997). Dass heute sogar Vertreter einer formalen Semantik, die Fragen der semantischen Flexibilität und der historischen Dynamik sonst eher distanziert gegenüberstanden, sich historisch-semantischen Fragestellungen öffnen (vgl. Eckardt 2006), ist bemerkenswert. Berücksichtigt man dann noch, dass die auch für das Deutsche zunehmend verfügbaren historischen Korpora die Arbeit mit größeren Datenmengen jetzt schon erleichtern und in Zukunft noch weiter erleichtern werden, so sehen wir genau die Kombination von Faktoren, die eine neue Blüte der historischen Semantik begünstigen könnte. In diesem Beitrag möchte ich zunächst einige Beobachtungen zu theoretischen Grundfragen der historischen Semantik machen und dann auf einige empirische Fragen eingehen, insbesondere die Nutzung von Korpora und die Untersuchung von Diskursen unter historisch-semantischer Perspektive. Ich beginne mit einigen Bemerkungen zu einschlägigen Entwicklungen im Bereich der Bedeutungstheorie.1 Die beiden Typen von Bedeutungstheorien, die derzeit in der historischen Semantik am meisten vertreten werden, sind, wie schon erwähnt, Versionen einer pragmatischen Semantik (handlungstheoretischen Semantik, Gebrauchstheorie) und Versionen einer kognitiven Semantik. Bei den Forschern, die mit diesen theoretischen Konzeptionen arbeiten, gibt es unterschiedliche Einstellungen zum Verhältnis der beiden Theorierichtungen. Drei Grundeinstellungen, die man finden kann, lassen sich folgendermaßen charakterisieren: (i) Pragmatische Semantik und kognitive Semantik sind in ihren Grundannahmen unverträglich. Man muss sich entscheiden, in welchem Theorierahmen man arbeiten will. (ii) Man sollte opportunistisch diejenigen Aspekte der beiden Theorierichtungen nutzen, die produktiv erscheinen. (iii) Man sollte prüfen, ob Konvergenzen zwischen den beiden Theorierichtungen möglich sind und ggf. welche. Auf diese drei Standpunkte möchte ich kurz eingehen. Die grundlegende Divergenz zwischen den beiden Theorierichtungen ist nicht zu übersehen. Die Versionen einer pragmatischen Semantik sind
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Eine ausführlichere Diskussion von unterschiedlichen Bedeutungstheorien im Zusammenhang mit Theorien des Bedeutungswandels bietet Fritz (im Druck).
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instrumentalistisch, die kognitive Semantik ist repräsentationistisch (vgl. Meggle 1987, Keller 1995).2 Im ersten Fall versteht man unter Bedeutung die sozialen Regeln oder Routinen des Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke, im zweiten Fall versteht man unter der Bedeutung eines Ausdrucks das mentale Konzept bzw. die Konzeptualisierung, für das bzw. für die der Ausdruck steht.3 Der erste Theorietyp ordnet sich dem Bereich der Handlungstheorie zu, für die zweite ist die kognitive Psychologie die entscheidende Bezugswissenschaft. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die Arbeiten der ersten Generation der kognitiven Semantiker methodisch eher introspektiv waren und nicht experimentell bzw. generell datenbasiert, wie man eigentlich hätte erwarten sollen (vgl. Geeraerts 1999: 163). Darin kann man einen Reflex der generativistischen Herkunft von Protagonisten der kognitiven Semantik sehen (z. B. Lakoff und Langacker). Wie bei manchen Generativisten ist auch bei kognitiven Semantikern mit der introspektiven Methode (sonderbarerweise) bisweilen die Tendenz verbunden, eher universale kognitive Prinzipien zu suchen als historisch-kulturell determinierte Wissensbestände und sprachliche Strategien. Drei Einwände gegen kognitivistische Bedeutungstheorien möchte ich erwähnen, ohne sie näher zu diskutieren. Es sind dies der Einwand des Subjektivismus, der Einwand der fehlenden Klärung des Begriffs des „Stehens-für“ und der Einwand potenzieller Zirkularität. Der erste Einwand wird beispielsweise von dem Sprachpsychologen Sinha (1999: 228) formuliert und diskutiert: “[…] the weakness of cognitive semantics, as long as it is implicitly based on the Aristotelian theory that words stand for ideas, is its vulnerability to charges of Subjectivism”.4 Der zweite Einwand wird von Tugendhat (1976: 337ff.) aus sprachanalytischer Sicht vorgebracht: „[…] daß der gegenstandstheoretische Ansatz wahrscheinlich – wir werden das prüfen müssen – nicht in der Lage ist verständlich zu machen, was es denn heißt, daß ein Ausdruck für einen Gegenstand steht“. Und schließlich der Einwand der Zirkularität aus gebrauchstheoretischer Sicht: Kognitive Semantik „erklärt“ Bekanntes mit Unbekanntem. Das heißt aber mit anderen Worten: Unter der Bezeichnung cognitive semantics wird diachrone und synchrone Semantik betrieben, und die Erkenntnisse über die semantische Struk-
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Zu Entwicklungen und Problemen der handlungstheoretischen Semantik vgl. Gloning (1996). Diese Mehrheitsauffassung wird aber nicht von allen kognitiv orientierten Semantikern geteilt. Blank (1997: 410f.) zum Beispiel kritisiert die etwa von Lakoff propagierte „Gleichsetzung von Wort und kognitiver Kategorie“. Der Einwand des Subjektivismus findet sich analog schon in Freges und Wittgensteins Kritik der Vorstellungstheorie der Bedeutung (vgl. Frege 1892/1969: 43f., Wittgenstein 1967: §§ 394ff.).
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tur der Sprache (die hier nicht geschmälert werden sollen) werden als Erkenntnisse über die kognitive Struktur ihrer Sprecher ausgegeben. Kognitive Semantik erweist sich somit als eine façon de parler, als eine Art und Weise, in kognitivistischen Metaphern über Gebrauchsregeln zu reden. Die Argumentationsstruktur ist in ihren zentralen Punkten die der petitio principii (Keller 1995: 86).
Diesen Einwänden sieht sich die pragmatische Semantik nach Auffassung ihrer Vertreter nicht ausgesetzt. Bei der Gebrauchstheorie stehen im Zentrum des Interesses das funktionale Verwendungspotenzial von Ausdrücken und damit verbunden die Ressourcen für die Verwendung von Ausdrücken, z. B. die bei der Verwendung vorausgesetzten Wissensbestände. Dabei neigt der Gebrauchstheoretiker dazu, in Bezug auf die Vorgänge im Kopf eher agnostisch zu sein. Welcher Art die kognitiven Prozesse beim metaphorischen Reden sind, ob es Transformationen von Bildschemata (Lakoff ) oder Formen des Blending von „mental spaces“ sind (Fauconnier), wird er zunächst einmal offen lassen. In Bezug auf ältere historischsemantische Entwicklungen wird man diese Frage ohnehin nicht empirisch klären können. In dieser Abstinenz wird der kognitive Semantiker nun gerade ein Defizit sehen, weil mit dieser Auffassung kein Beitrag zur Erhellung der kognitiven Prozesse geleistet wird, die beim Gebrauch der Sprache eine Rolle spielen. Mit dem Hinweis auf diese wechselseitigen Einwände lässt sich die Tiefe des Grabens zwischen pragmatischen und kognitivistischen Bedeutungstheorien andeuten. Die zweite, eher opportunistische Einstellung scheint sich bei Autoren zu zeigen, die Elemente einer Griceschen Semantik mit kognitiv-semantischen Auffassungen verbinden, wie es etwa bei Sweetser (1990) oder in verschiedenen Schriften von Traugott zu beobachten ist: „We take as fundamental the notion that meaning is both cognitive and communicative“ (Traugott/Dasher 2002: 7).5 Für den Hausgebrauch scheint dieser „bestof-both-worlds“-Standpunkt nicht unpraktisch zu sein. Der theoretischen Klärung dient er nicht. In den letzten Jahren gibt es – und hier sind wir bei der dritten Sichtweise des Theoriestandes – verschiedene Versuche, mögliche Konvergenzen zwischen diesen beiden Theorietypen auszuloten (z. B. Geeraerts 1999, Sinha 1999, Busse 2008). Um das Potenzial für Konvergenzen ein wenig abzutasten, möchte ich eine Reihe von Aspekten erwähnen, die für die Suche nach Konvergenzen interessant sein könnten und die m.W. noch nicht im Überblick dargestellt wurden:
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Es ist bemerkenswert, dass Geeraerts (2010) Arbeiten von Traugott im Abschnitt über „Cognitive semantics“ behandelt.
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1. Einen ersten Konvergenzbereich könnte man darin sehen, dass beide Theorietypen als „mentalistisch“ in dem Sinne bezeichnet werden könnten, dass mentale Kategorien eine wichtige Rolle in diesen Theorien spielen, nämlich mentale Konzepte (Kategorien, Konzeptualisierungen) bei den Vertretern der Kognitiven Semantik sowie der Begriff der Intention (etwa bei Grice) und der Begriff des Gemeinsamen Wissens in der pragmatischen Semantik (vgl. Punkt 2). Darin unterscheiden sich beide Theorien von einer wahrheitsfunktionalen oder einer strukturellen Semantik. 2. Einen speziellen Konvergenzbereich bildet die Annahme der Bedeutung von Wissensbeständen bei der Verwendung sprachlicher Ausdrücke. In Arbeiten zur pragmatischen Semantik wurde schon früh auf die entscheidende Rolle von gemeinsamen Wissensbeständen in der Kommunikation hingewiesen, etwa mit Strawsons Begriff des „identifying knowledge“ („community of identifying knowledge“, Strawson 1964/1971: 77) oder mit Grices Begriff des „common ground“ (Grice 1989: 65 und 84). Ein theoriespezifisches Gegenstück könnte man in den kognitionstheoretischen „Frames“ sehen, mit denen Strukturen von Wissensbeständen modelliert werden (vgl. neuerdings Ziem 2008). Wiederum fühlt sich der Gebrauchstheoretiker nicht für die kognitiven Prozesse zuständig, die bei der Nutzung und Entwicklung von Frames im Gehirn ablaufen. Dagegen spielt für ihn das Gemeinsame Wissen und der Aufbau des Gemeinsamen Wissens über Gegenstände und Sachverhalte eine zentrale theoretische Rolle.6 3. Ein dritter Konvergenzbereich ist wissenschaftshistorisch bedingt: Die Annahme, dass bei der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken Familienähnlichkeits- und Prototypenverhältnisse eine wichtige Rolle spielen, haben beide Theorietypen von Wittgenstein geerbt, die Gebrauchstheorie direkt, die kognitive Semantik auf dem Umweg über Arbeiten von Psychologinnen wie Rosch (z. B. Rosch/Mervis 1975). 4. Eine vierte Gemeinsamkeit besteht darin, dass man in beiden Theorietypen – im Gegensatz zur strukturellen Semantik – keine Trennung von semantischem und enzyklopädischem Wissen annimmt. Die Begründung ist jeweils theoriespezifisch: Das sog. enzyklopädische Wissen spielt sowohl bei den kognitiven Prozessen als auch bei der Verwendung sprachlicher Ausdrücke in der Kommunikation eine zentrale Rolle. 5. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass Vertreter beider Theorietypen sich besonders für Phänomene wie Metaphorik, Metonymie
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Ziem äußert in einer Fußnote seine Überzeugung, „dass der Graben zwischen dem Programm einer gebrauchsbasierten Kognitiven Linguistik und Wittgensteins Bedeutungstheorie nicht unüberwindbar ist“ (Ziem 2008: 156, Anm. 52).
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und Polysemie interessieren, allerdings aus unterschiedlicher Perspektive. Für Gebrauchstheoretiker ist metaphorisches Reden ein semantisches Verfahren, das unter Nutzung bestimmter Wissensbestände mit bestimmten Funktionen angewendet wird. Für kognitive Semantiker ist Metaphorik ein kognitiver Prozess bzw. „the output of a cognitive process“ (Coulson 2001: 162).7 Die Gemeinsamkeit des Interesses an Fragen der Polysemie, zusammen mit der Familienähnlichkeitskonzeption, zeigt sich auch in der Wahl verwandter Darstellungsformen, z. B. der Verwendung von Netzgraphen bei der Darstellung von Polysemien (vgl. Heringer 1988: 753; Geeraerts 1997: 58). 6. Schließlich zeichnet sich seit einigen Jahren eine Konvergenzlinie an der Stelle ab, wo kognitive Semantiker erkennen, dass man für empirische semantische Untersuchungen die Funktionen und Verwendungszusammenhänge der untersuchten Ausdrücke berücksichtigen muss. 7. Einen letzten Konvergenzbereich bildet die korpusbasierte Methodologie, die generell einen gesunden Trend zur empirischen Validierung theoretischer Auffassungen bedeutet. Wenn man diese Aspekte im Zusammenhang betrachtet, könnte man in Bezug auf die Chancen und Richtungen einer weitergehenden Konvergenz zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Es ist bemerkenswert, dass gerade ein prominenter kognitiver Semantiker folgende Einschätzung der Lage formulierte: I would venture the suggestion that such a process of convergence – if it will take place at all – could find a focal point in a pragmatic, usage-based perspective to lexical semantics. […] In various guises, then, a pragmatic turn characterizes many of the contemporary approaches to lexical semantics (Geeraerts 2002: 40).
Dem könnte ein Gebrauchstheoretiker ohne Probleme zustimmen. Für die historische Semantik könnte das insbesondere bedeuten, dass aussichtsreiche Forschungsziele weniger in der Erhellung der kognitiven Prozesse historischer Sprecher sondern in der Analyse der historischen Verwendungszusammenhänge sprachlicher Ausdrücke und deren Dynamik liegen dürften. Diese Auffassung dürfte insbesondere auch einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der historischen Semantik entgegenkommen. Die eben erwähnten bedeutungstheoretischen Aspekte spielen auch eine Rolle für das Verständnis der Form historisch-semantischer Erklärungen. Aus der Sicht einer kognitiven Semantik müsste eine historische Bedeutungsentwicklung erklärt sein, wenn plausibel gemacht werden kann,
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Vgl. auch: „[…] the locus of metaphor is not in language at all, but in the way we conceptualize one mental domain in terms of another“ (Lakoff 2006: 185).
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auf der Grundlage welcher kognitiver Prozesse diese Bedeutungsentwicklung möglich war. Dies entspricht ganz der Auffassung, die wir häufig in der älteren historischen Semantik finden: “a sense change is adequateley explained if we can explain its happening, as a normal process, in the mind of one person” (Stern 1931: 176). Diese Sichtweise ermöglicht weder eine funktionale Erklärung einer Entwicklung noch den Anschluss an eine invisible-hand-Erklärung, die ja den Begriff der intentionalen Handlung voraussetzt (vgl. Keller, 1990: 83ff.). Auch die Frage der Aufnahme und Verbreitung von semantischen Innovationen kommt nicht ins Blickfeld. Darin könnte man eine gravierende Einschränkung der Reichweite möglicher historisch-semantischer Erklärungen sehen. Unabhängig davon lässt sich feststellen, dass eine aktuelle Analyse der Rolle von „ökologischen Bedingungen des sprachlichen Handelns“ (Keller 1990: 112f.) für historischsemantische Entwicklungen ein wünschenswerter Beitrag zur Theorie des Bedeutungswandels wäre.
2. Datenorientierung und Korpora Soweit historische Semantiker ernsthaft empirisch gearbeitet haben, waren sie in gewissem Sinne schon immer Korpuslinguisten. Wie hätten sie ihren Gegenstand auch sonst erfassen können? Wenn man manche Dissertationen aus dem späten 19. Jahrhundert anschaut oder auch Triers schon erwähnte Habilitationsschrift von 1931, dann muss man die gründliche und umfangreiche Korpusarbeit bewundern. Und das alles ohne digitale Unterstützung! Im Vergleich damit sind wir mit digitalen Korpora und Recherchesoftware heute natürlich in einer sehr guten Lage. Was die Erfindung des Tonbandgeräts für die Konversationsanalyse war, könnten die digitalen Korpora für die historische Semantik sein, nämlich der Auslöser für den Anfang einer neuen Blütezeit. Aufgrund der Arbeit mit größeren Korpora sehen wir vielleicht Dinge, die wir vorher nicht gesehen haben. Vielleicht können wir mit großen Datenmengen auch die sanften Bedeutungsübergänge, die immer ein Problem der historischen Semantik waren, besser beobachten – wie unterm Mikroskop – und auch plausibler darstellen (vgl. Heringer 1993: 96f., Fritz 2006: 53f.). Ich werde im nächsten Abschnitt zwei einschlägige Beispiele aus meiner eigenen Praxis anführen. Auf jeden Fall können wir mit größerer Sicherheit Fragen der Verwendungskontexte und der Gebräuchlichkeit von Ausdrücken und Verwendungsweisen beantworten. Dabei gibt es natürlich viele methodische Fragen wie
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die Frage der Auswahl eines geeigneten Korpus für eine bestimmte Untersuchung, – die Frage der Repräsentativität der Daten, – Fragen der Annotation – oder die Frage, wie groß ein Kontext für eine semantische Beschreibung sein muss. Darauf möchte ich hier nicht eingehen. Ein Caveat möchte ich aber doch erwähnen: Auch wenn wir solche erstaunlichen Hilfsmittel haben, bleibt uns Eines nicht erspart: Als Semantiker müssen wir letzten Endes jeden einzelnen Beleg verstehen, und oft sind gerade die entscheidenden Belege schwierig zu deuten. Hier sind eine Beleglehre und eine Beleghermeneutik gefragt. Ein wichtiges Desiderat, gerade für die historische Semantik, ist die Entwicklung und Nutzung von Recherche- und Analysestrategien, die die Korpusarbeit erst fruchtbar machen. Ich will nur zwei Punkte erwähnen. Der erste Punkt betrifft das außerordentlich nützliche Werkzeug der Darstellung von „Keywords in Context“ (KWIC), wie sie etwa das COSMASSystem des IdS liefert. Schon ein kurzer Blick in eine solche Darstellung, beispielsweise von Daten aus dem Goethe-Korpus des IdS, beschert vielfache Einsichten in Kollokationen, die für das Verständnis des Spektrums der Verwendungsweisen eines Ausdrucks grundlegend sind. Diese Form der Datendarstellung ist sicherlich eines der wichtigsten digitalen Werkzeuge des historischen Semantikers, aber die schönen distributiven Daten entheben den Forscher nicht der Aufgabe, sie auch semantisch zu deuten, was häufig methodische Filigranarbeit bedeutet. Der zweite Punkt, der auch mit dem ersten zusammenhängt, betrifft eine spezielle Art von historisch-semantischen Aufgaben, nämlich das systematische Auffinden von innovativen Verwendungen, also beispielsweise von bestimmten Typen metaphorischer oder metonymischer Verwendungen. Hier gibt es keine einfachen Suchroutinen, so dass man u.U. raffinierte Verfahren ersinnen muss, um eine mechanisierte Suche zu ermöglichen. Erste Versuche dieser Art, die andeuten, welche Arten von Schwierigkeiten hier zu überwinden sind, finden sich in einem Sammelband, der dieses Problem für englische Daten angeht (Stefanowitsch/Gries 2006). Es folgen nun die zwei angekündigten Beispiele zum Thema Korpusnutzung. Das erste Beispiel betrifft die historische Semantik der Modalverben des Deutschen. Im Rahmen eines DFG-Projekts zu den ersten deutschen Zeitungen im 17. Jahrhundert erstellten wir 1987 an der Universität Tübingen mit Hilfe unseres Kollegen Manfred Muckenhaupt und der fleißigen Sekretärinnen des Instituts ein digitales Zeitungskorpus, bestehend aus zwei Teilkorpora von insgesamt ca. 500000 Wörtern, eines für den Zeitschnitt 1609 („Aviso“ und „Relation“) mit knapp 200000
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Wörtern und eines für 1667. Mehr durch Zufall fiel mir auf, dass es in den Zeitungstexten viele interessante Belege für die Verwendung von Modalverben gab, insgesamt 3500 Belege für den ersten Zeitschnitt, davon viele für sog. epistemische Verwendungsweisen, wie sie in der Gegenwartssprache etwa durch folgendes Beispiel repräsentiert werden: (1)
Er kann, mag, dürfte, wird, muss, soll, will in Frankfurt gewesen sein.
Nach dem damaligen Stand der Kenntnis war man der Meinung, dass sich ein differenziertes System von epistemischen Verwendungsweisen erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts eingespielt habe. Nun sind die Korrespondentenberichte der Zeitungen Texte, in denen häufig Vermutungen über den Stand der Ereignisse und Hinweise auf Informationen aus zweiter Hand gegeben werden, d. h. diese Texte erweisen sich als Fundgrube für epistemische Verwendungsweisen. Ein vollständiger Überblick über alle Modalverbverwendungen zeigte Folgendes: 1. Um 1600 gibt es schon ein komplexes System von epistemischen Verwendungsweisen. Dazu gehören die Ausdrücke: kann, darf /dörffte, mag, möchte, wird, mus (sowie soll und will). 2. Das bei weitem häufigste Modalverb zum Ausdruck einer Vermutung ist in dieser Zeit möchte. (2)
möchte also diß wesen allem ansehen nach / ohn blutvergiessen nit abgehen (Relation 118: 9f.).
3. Um 1600 kann auch der Indikativ darf zum Ausdruck einer Vermutung verwendet werden (wie der Konjunktiv dörffte), was heute nicht mehr möglich ist. (3)
dieses darff wol die OberEnsische Huldigung einstellen (Relation 86: 34)
4. Die Verwendung von dörffte ist im Korpus von 1609 ziemlich selten (drei Belege). Im Korpus von 1667 gibt es zehnmal so viele Belege. Das ist kein eindrucksvoller quantitativer Befund, aber er deutet eine Entwicklung an. 5. Die Verwendung von sollen zum Hinweis auf Berichte aus zweiter Hand ist schon außerordentlich häufig. (4)
Der Stendt Volck soll gar wol geputzt vnnd ansehnlich sein (Aviso 21: 23)
6. Es gibt eine Reihe von Verwendungsweisen von wollen, die wir heute nicht kennen. (Er will, daß ‚er behauptet‘ oder Das Haus will einstürzen ‚war im Begriff einzustürzen‘, die sog. ingressive Verwendungsweise)
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Zusammengefasst: Das Zeitungskorpus zeigte mir aufgrund seiner Textsortenspezifik etwas, was ich durch verstreute Lektüre frühneuhochdeutscher Texte nicht hatte sehen können und was offensichtlich auch andere Leute noch nicht gesehen hatten. Und die Ergebnisse dieser Momentaufnahme gaben auch interessante Hinweise auf die Entwicklungsgeschichte der Modalverben.8 Ein zweites Beispiel betrifft eine Untersuchung zur Polysemie von Adjektiven im Deutschen und deren Geschichte. Bei einer Untersuchung des Gebrauchs des Adjektivs scharf, das durch eine besonders extreme Polysemie ausgezeichnet ist, kam ich zu dem Ergebnis, dass man die Struktur dieser Polysemie als ein System von metaphorischen und metonymischen Verknüpfungen beschreiben kann (Fritz 1995). Ausgehend von der prototypischen Kollokation scharfes Messer findet man metaphorische Verknüpfungen zu Verwendungen wie scharfes Gewürz, scharfe Augen, scharfer Verstand und scharfe Kritik. Andererseits gibt es metonymische Verknüpfungen zu Verwendungen wie scharfer Schnitt und scharfer Schmerz. Um einen Eindruck von der historischen Entwicklung dieses Spektrums von Verwendungsweisen zu gewinnen, stellte ich mir ein kleines Korpus von Texten aus der Zeit von 1180 bis etwa 1550 zusammen, aus unterschiedlichen Textsorten, vom Versepos bis zum Kochbuch. Auf dieser Grundlage deutete sich folgendes Ergebnis an: Schon im Mhd. scheint die Kollokation von scharf mit Messer oder Schwert prototypisch zu sein. Und daran schließen sich viele der uns vertrauten Verwendungsweisen an wie scharfe Zähne, scharfe Augen, scharfe Töne, scharfes Gewürz, scharfer Wind, scharfer Schmerz oder scharfe Worte. Daneben gibt es aber Belege für Kollokationen, die uns fremd erscheinen: ein scharfer, d. h. unebener Weg, eine scharfe, d. h. schmerzhafte Wunde, ein scharfer, d. h. scharfsinniger Gelehrter, ein scharfer Punkt, d. h. ein subtiles Problem, ein scharfer Winkel, d. h. ein spitzer Winkel oder ein scharfer, d. h. wilder Eber usw. Es scheint sich also folgendes Bild zu ergeben: Spätestens seit dem Mhd. ist für den Gebrauch von scharf ein produktives System von metaphorischen Verwendungen und metonymischen Mustern erkennbar, das dem heutigen nicht unähnlich ist, dessen Potential aber in verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgeschöpft wird. Insgesamt erschien mir das Bild der Zusammenhänge der Verwendungsweisen in den einzelnen Texten und Perioden aber noch etwas undeutlich. Einer der Gründe dafür war offensichtlich der, dass das Korpus doch etwas klein geraten war. Diese Vermutung wurde mir zur Gewissheit, als ich zum Vergleich eine synchronische Untersuchung des Gebrauchs von Adjektiven
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Eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse dieser Untersuchung findet sich in Fritz (1991, 1997).
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wie hart, weich, grob und sanft heranzog, die von Iris Bons mit umfangreichem Datenmaterial durchgeführt worden war (Bons 2009).9 Auf der Grundlage von ca. 38000 Belegen für hart konnte sie hier sehr schön das feine Netz der Verknüpfung von Verwendungsweisen zeigen, dessen historische Entstehung man gerne einmal anhand vergleichbar großer Korpora beobachten würde. Diese Untersuchung steht noch aus. Zum Ende dieses Abschnitts über methodische Fragen möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der ebenfalls noch als ein Desiderat der historischen Semantik gelten kann, nämlich die Frage der Darstellungsformen für historisch-semantische Befunde. Während es über das Format von (historischen) Wörterbucheinträgen in den letzten Jahren vielfältige Reflexionen gab, ist das allgemeinere Problem semantischer Darstellungsformen noch wenig bearbeitet. Hier ist man in der Wahl der Mittel auch viel freier, da der Kondensierungszwang von Wörterbüchern im Printformat wegfällt. Beim Nachdenken über Darstellungsformen ist der Zusammenhang zwischen theoretischen Sichtweisen und Darstellungsformen ein wichtiger Gesichtspunkt, denn Darstellungsformen sind zumeist nicht nur oberflächliche Eigenschaften wissenschaftlicher Beschreibungen. Wenn man annimmt, dass das Spektrum von Verwendungsweisen eine netzartige Struktur hat, dann bietet sich als Darstellungsform auch ein Netzgraph an, wie wir schon gesehen haben. In strukturalistischen Arbeiten finden wir normalerweise keine Netzgraphen, wohl aber Matrixdarstellungen und Baumgraphen. Wenn man annimmt, dass es keine Unterscheidung zwischen semantischem und enzyklopädischem Wissen gibt, wird man Darstellungsformen suchen, die genau das zeigen, beispielsweise die „semantischen Plots“ und „semantischen Szenen“, die Heringer (1999) entwickelt hat. Wenn man der Auffassung ist, dass die Gebrauchsweisen von sprachlichen Ausdrücken in ihren textuellen Zusammenhängen untersucht und gezeigt werden müssen, dann muss man Darstellungsformen suchen, die genau das leisten, beispielsweise (Familien von) „Wortportraits“ als Hypertexte (mit Netzdarstellungen), in denen einzelne Verwendungsweisen mit charakteristischen Textausschnitten verlinkt sind. Dasselbe gilt verstärkt für die Darstellung historischer Entwicklungen. Eine Lehre von den historisch-semantischen Erzählweisen10 und anderen Darstellungsformen für sprachliche Dynamik ist weiterhin nicht entwickelt.11
9 Die Arbeit ist online verfügbar unter der URL: http://geb.unigiessen.de/geb/volltexte/2009/7356. 10 Einige vorläufige Überlegungen zur Frage des historisch-semantischen Erzählens finden sich in Fritz (2006: 28ff.). 11 Schon die Darstellung der historischen Dynamik von netzförmigen Strukturen ist keine einfache Darstellungsaufgabe, wie die erwähnte Darstellung in Geeraerts (1997: 58) zeigt.
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3. Diskurse – Kontroversen In den letzten Jahren ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass als Datengrundlage für historisch-semantische Untersuchungen ganze Diskurse herangezogen werden sollten.12 Dem kann man gerade aus der Sicht einer Gebrauchstheorie zustimmen, und ich möchte in diesem Abschnitt zwei Beispiele für die Anwendung dieses Prinzips geben. Und zwar möchte ich das am Beispiel der Untersuchung von Kontroversen tun. Kontroversen bilden einen Prototyp von Diskurs, in dem Verfasser einer größeren Zahl von Texten sich mit einem bestimmten Themenkreis auseinandersetzen, sich aufeinander beziehen und komplexe Formen der Intertextualität praktizieren. Und natürlich bildet ein Streitschriftenensemble ein naturwüchsiges Korpus. Kontroversen kann man zunächst einmal unter dem Aspekt der Geschichte von Kommunikationsformen und Textsorten betrachten, wobei für die Zeit von 1600 bis 1800 Streitschriften eine zentrale Textsorte darstellen. Aber für den Gebrauchstheoretiker ist natürlich die Geschichte des Wortgebrauchs ein Teil der Geschichte von Kommunikationsformen, so dass Beobachtungen zum Wortgebrauch naturwüchsig zu einem solchen historisch-pragmatischen Projekt gehören.13 Die nun folgenden beiden Beispiele beziehen sich auf die berühmte Pietisten-Kontroverse um 1700 und eine Kontroverse zu Astrologie und Astronomie aus der Zeit um 1600, an der u.a. Kepler beteiligt war. Die Pietistenkontroverse am Ende des 17. Jahrhunderts war eine Auseinandersetzung zwischen orthodoxen Protestanten und verschiedenen protestantischen Theologen und Gruppierungen, die eine Erneuerung der Kirche und eine Stärkung der persönlichen Frömmigkeit suchten. Die Orthodoxen empfanden diese Strömungen als eine Bedrohung ihrer Position und bekämpften sie als Abweichler und potenzielle Ketzer. Die Angegriffenen wehrten sich mit verschiedenen Mitteln, juristisch, aber auch mit Streitschriften, Streitpredigten usw. So ergab sich in der ersten Phase dieser Auseinandersetzung von 1689 bis 1697 ein Streitschriftenkrieg mit mehr als 50 umfangreichen Streitschriften in unterschiedlichen Streitzweigen. Diese Phase wurde von dem Historiker Martin Gierl in seinem Buch „Pietismus und Aufklärung“ von 1997 scharfsinnig und in großem Detail beschrieben. Einer der Protagonisten der Pietistenkontroverse, mit dem wir
12 Als Beispiele – unter vielen – für dieses Forschungsinteresse greife ich heraus die Beiträge zu Busse/Hermanns/Teubert (1994) und, in neuerer Zeit, Gloning (2003) und Kämper (2006). 13 Zum Stand der historisch-pragmatischen Kontroversenforschung vgl. Fritz (2010).
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uns näher beschäftigt haben, war August Hermann Francke (1663–1727), auf den ich noch besonders eingehen werde. Unter dem Gesichtspunkt der Verwendung des Wortschatzes könnte man zur Pietistenkontroverse vielfältige Beobachtungen mitteilen, etwa zum Gebrauch von Ausdrücken wie Erweckung, Erbauung, Heiligung, Schwärmer, Sanftmütigkeit, Gottseeligkeit usw. Hier könnte man auch an die Arbeiten von August Langen zum Wortschatz des deutschen Pietismus (z. B. Langen 1974: 67–72) anknüpfen. Ich möchte mich aber auf den Gebrauch eines Zentralausdrucks dieser Kontroverse und seine Dynamik beschränken, nämlich den Ausdruck die Pietisten selbst.14 Für die Verwendung dieser Kennzeichnung und ihre Reflexion in der Kontroverse selbst gibt es umfangreiches und sehr interessantes Quellenmaterial, aus dem ich nur einige wenige Belege vorführen kann. Man kann drei Facetten des Gebrauchs dieses Ausdrucks unterscheiden: Erstens wurde der Ausdruck als eine Art allgemeines Schimpfwort verwendet, um Leute, die man der übertriebenen Frömmigkeit verdächtigte, lächerlich zu machen. Zweitens gab es eine konkurrierende, positiv charakterisierende Verwendungsweise, die man etwa in folgendem Leichengedicht des Professors Joachim Feller aus dem Jahre 1689 erkennen kann (Francke 1981: 124): Es ist jetzt Stadt-bekandt der Nam der Pietisten / Was ist ein Pietist? Der GOttes Wort studirt / und nach demselben auch ein heilig Leben führt / Das ist ja wohl getan / ja wohl von jedem Christen.
Und schließlich kann man eine strategische Form der Verwendung des Ausdrucks erkennen, mit der orthodoxe Kontroversenteilnehmer die Existenz einer festen Gruppierung von Personen mit sektiererischen oder sogar ketzerischen Tendenzen suggerierten, was natürlich für die Verdächtigten eine starke Bedrohung darstellte. Auf diese Art der Verwendung reagierte August Hermann Francke in einer Streitschrift von 1707 wie folgt: Es hat ja der Läster-Geist vor einigen Jahren den Pietisten-Namen auf die Bahn gebracht / die Lehre von der Gottseligkeit damit zu beschmeissen / und diejenigen / so auf ein rechtschaffenes thätiges Christenthum dringen / einer Ketzerey und Sectirerey / […] durch solchen Namen schuldig zu machen. […] Niemand hat bis diese Stunde eine wahrhaffte Definition geben können / was denn der Pietismus sey / sondern wenn sich nur etwas böses / irriges / ungereimtes / ja greuliches und schändliches gefunden / so man auf einige Weyse herbey ziehen zu können vermeynet; so hat man die / so dessen schuldig gewesen / oder doch beschuldiget worden / Pietisten genennet (Francke, „Antwort=Schreiben“, 1707/1981: 225f.).
14 Ein vergleichbares Forschungsinteresse findet sich beispielsweise in Bering (1978) zum Ausdruck die Intellektuellen oder in Musolff (1995) zu Sympathisanten.
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Insgesamt zeigt sich: Der Gebrauch des Ausdrucks die Pietisten ist auf subtile Art mit den Grundfragen der Kontroverse verknüpft und dient in vielen Punkten als Aufhänger für die Klärung der Frage, worum es in der Kontroverse eigentlich geht. Gierl schreibt in seinem Pietismusbuch, „daß die Geistesrichtung ‚Pietismus‘ erst im Refutationsfluß der Kontroverse entsteht“ (Gierl 1997: 256), was auch heißt, dass sich mit der Klärung der Positionen in der Kontroverse auch der Gebrauch des Ausdrucks Pietist entwickelte. Mein nächstes und letztes Beispiel stammt aus einer Kontroverse, die etwa einhundert Jahre früher stattfand, nämlich eine Kontroverse zwischen dem Mathematiker und Astronomen Johannes Kepler und dem Arzt und Astrologen Elisäus Röslin, dem Pfarrer und Astrologen Melchior Schärer sowie dem Arzt Philipp Feselius, einem strikten Gegner der Astrologie. Gegenstand der Kontroverse war der wissenschaftliche Status der Astrologie, eine Frage, die auf vielfältige Art verknüpft war mit allgemeinen Fragen der Kosmologie, mit Qualitätskriterien für die Wissenschaft und dem aktuellen Stand der astronomischen Forschung. Ein zentrales Werk dieser Kontroverse ist die 1610 erschienene Streitschrift Keplers, der „Tertivs Interveniens. Das ist/ Warnung an etliche Theologos, Medicos vnd Philosophos, sonderlich D. Philippum Feselium, daß sie bey billicher Verwerffung der Sternguckerischen Aberglauben/ nicht das Kindt mit dem Badt außschütten (...)“. Man könnte nun nach dem damaligen Fachwortschatz der Astronomie und Astrologie fragen, wobei hier das Verhältnis von deutschem und lateinischem Wortschatz ein interessanter Gesichtspunkt sein könnte. Ich möchte dagegen kurz auf den allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauch der Zeit eingehen, der für solche Auseinandersetzungen in deutscher Sprache verwendet wurde, wenn eine Kontroverse nicht auf Latein geführt wurde. Generell kann man sagen, dass für diese kommunikative Aufgabe schon sehr differenzierte sprachliche Mittel verfügbar waren. Ich nehme bei dieser Untersuchung eine onomasiologische oder, wie ich lieber sage, funktionale Perspektive ein und frage: Welches sprachliche Repertoire hatten die Kontroversenteilnehmer damals zur Lösung ihrer spezifischen kommunikativen Aufgaben?15 Ich führe nur drei Beispielbereiche mit wenigen ausgewählten Belegen an, um anzudeuten, wie eine solche Untersuchung vorgehen kann. 1. Der Schreiber möchte explizit machen, dass er eine bestimmte Position kritisiert. In diesen Kontroversen wird der Ausdruck kritisieren noch
15 Das neuere Interesse an onomasiologischen Fragestellungen ist dokumentiert in Blank / Koch (2003) und Grondelaers / Geeraerts (2003).
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nicht verwendet, dagegen straffen, tadeln und taxieren, wie folgende Belege zeigen: (1) Hierin hab ich Kepplern zu straffen (‚in diesem Punkt muss ich Kepler kritisieren‘; K 1609: 122.4) (2) Ich hab an diesem andern theil der argumentation nichts zu tadeln (‚Ich habe […] nichts zu kritisieren‘; K 1609: 124.9) (3) diejenigen Fantastereyen / welche hie Feselius taxiret (K 1610: 226.20) 2. Der Schreiber möchte auf einen Einwand Bezug nehmen und ihn explizit als solchen charakterisieren. Hier kann er verwenden Einrede, Einwurff, Gegenwurff – eine direkte Nachbildung von lateinisch ob-iectio – und Obiection: (5) so gilt diese Einred nicht (K 1610: 139.10) (7) Die fürnembste Einwürff (S 1611: 204) (8) Einreden vnd Gegenwürff … ablehnen (S 1611: 68) (9) Es wirdt auch D. Feselius nunmehr mercken / dass diese Obiection nichts gelte (K 1610: 205.29) 3. Der Schreiber möchte eine eigene oder eine fremde Auffassung wiedergeben. Hier eignen sich vor allem die Ausdrücke halten, darfür halten: (11) Kepplerus sagt vnd helt / das sich Gott dieser Cometen vnd zaichen gebrauche / den Menschen etwas darmit anzuzaigen (K 1609: 124.04) (‚Kepler ist der Auffassung‘) Wenn er nun speziell signalisieren möchte, dass er die Auffassung des Opponenten für verfehlt hält, könnte er die Wiedergabe dieser Auffassung mit er meynet oder er vermeynet einleiten, wie es Kepler in folgenden Beispielen tut: (12) Er meynet […] Es ist aber weit fehl (K 1610: 194.23) (13) Feselius vermeynet (‚nimmt irrtümlich an‘, K 1610: 190.24) Es gäbe noch vielfältige kommunikative Aufgaben und die einschlägigen Ausdrucksformen zu beschreiben, aber ich breche hier ab.16 Mit dieser Beschreibung von kommunikativen Aufgaben und ihrer sprachlichen Lösung habe ich eine Möglichkeit angedeutet, wie die historische Semantik einen Beitrag zur Geschichte von Kommunikationsformen leisten kann, in diesem Fall zur Geschichte der Kontroverse. Die Geschichte des Kontroversenwortschatzes ist übrigens ein weiteres Desiderat der historischen Semantik des Deutschen. Es gibt dazu bisher einen schönen Aufsatz von
16 Eine ausführlichere Beschreibung der sprachlichen Mittel für wissenschaftliche Kontroversen um 1600 findet sich in Fritz (2008).
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Peter von Polenz (v. Polenz 1988) und verstreute Beobachtungen.17 Auch hier liegt also noch viel Arbeit vor uns.
4. Schlussbemerkungen Mit den vorliegenden kurzen Beobachtungen zu aktuellen Problemen und Trends in der historischen Semantik habe ich einige Bereiche der historischen Semantik angedeutet, in denen in den letzten Jahren Fortschritte erzielt wurden oder in denen Desiderate und Zukunftsperspektiven zu erkennen sind. Einen Gesichtspunkt möchte ich zum Schluss noch erwähnen, der für die Jahrestagung der GGSG 2010 namengebend war: „Historische Semantik im Dialog der Fachkulturen“. Es gibt eine Tendenz in den Einzelfächern – z. B. Anglistik, Germanistik, Romanistik und Geschichte –, historische Semantik jeweils im Rahmen eigener Fachtraditionen und Initiativen zu betreiben.18 Dies ist forschungspragmatisch sicherlich wohlbegründet, es lässt sich aber leicht zeigen, dass der Blick über die Fächergrenzen hinaus vielfältige Anregungen ermöglicht, Einseitigkeiten vermeiden hilft und Umwege erspart. Es ist also zu wünschen, dass der angestoßene Dialog der Fachkulturen in der historischen Semantik fortgeführt wird.
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17 Vgl. auch Gloning (2003: 27ff.). 18 Zur historischen Semantik im Bereich der Romanistik vgl. beispielsweise Lebsanft / Gleßgen (2004). Dort gibt es auch Hinweise auf Beziehungen zur germanistischen Forschung.
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S 1611 = Verantwortung vnd Rettung der ARgumenten vnd Vrsachen/ welche M. Melchior Schęrer/ in den Vorreden seiner zweyen Prognosticorum verschiener 1608. vnd 1609. Jahren (...) eingeführet: Wider (...) Philippum Feselium (...). Beschrieben durch M. Melchiorem Schærerum, Pfarrern zu Mentzingen. O.O. (Böhem/Fuhrmann) 1611.
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Oskar Reichmann (Heidelberg)
Historische Semantik: Ideen, Realisierungen, Perspektiven 1. Erlauben Sie mir1 zur Einführung die folgende Fiktion: Irgendwann in einem logischen Moment der Menschheitsgeschichte richten sich irgendwelche Geschöpfe irgendeiner Horde menschenähnlicher Wesen in der afrikanischen Savanne stärker auf, als sie das bis dahin getan hatten; ihr Kopf steht nun räumlich über den Gegebenheiten ihrer Umwelt, nicht mehr auf gleicher Höhe mit ihnen. Die gemeinten Geschöpfe, in diesem Moment schon Menschen, stehen nun vor der Frage, wie sie sich in der neuen Situation einrichten sollen. Sie haben mindestens zwei Möglichkeiten: Einmal schaut jeder einzelne für sich aus erhöhter Position auf die Dinge unter ihm, benennt sie, stellt fest, was der Unterschied zwischen ‚Löwe‘ und ‚Hyäne‘, ‚Baum‘ und ‚Strauch‘, ‚Zweig‘ und ‚Ast‘, ‚Dolde‘ und ‚Wipfel‘ ist, erkennt oder setzt möglicherweise bestimmte Beziehungen zwischen den Gegenständen unter sich, kurzum: Er vermisst gliedernd die ihm zu Füßen liegende Welt und hofft, dass Andere seine Ergebnisse übernehmen. Oder er schaut gerade aus, nimmt wahr, dass er nicht allein ist, sondern dass es in seiner Umgebung weitere, ihm ähnliche Exemplare gibt, denen er auf gleicher Höhe ins Auge zu blicken vermag, und mit denen er genau in dem Maße, in dem er sie anblickt, die vorhin angenommene ‚Horde‘ zur sozialen ‚Gruppe‘ werden lässt, innerhalb derer es zu kooperieren gilt. Dies schließt nicht aus, dass das eine Gruppenmitglied auf einige andere herabschaut und zu wieder anderen aufschaut. 1.1. Ich behaupte nun, dass der fingierte logische Moment schlaglichtartig die Situation vor Augen führt, in der man Semantik seit jeher betrieben hat und immer betreiben wird, deren man sich also selbst in der abgehobensten wissenschaftlichen Situation bewusst sein sollte. Im Visier sind mindestens folgende Gegebenheiten: – die Welt der Dinge, – der einzelne, individuelle Mensch,
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Der Vortragsduktus des vorliegenden Beitrags ist weitgehend beibehalten.
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andere in räumlicher Nähe, gleichsam im Glockenhall lebende Menschen, die Menschengruppe, die jeweils einmalige Situation, die Notwendigkeit, sich zu verhalten, darunter zu handeln, die der Gattung ‚Mensch‘ eigene biologische Fähigkeit, dies auch zu können, weil man zur Bildung von Zeichensystemen, darunter einer Sprache, fähig ist.2
1.2. Und es deutet sich Weiteres an: Ich meine den Urkonflikt zwischen mindestens zwei Realisierungen von Semantik, einmal derjenigen, deren Vertreter „die Welt vermessen“, bildlich gesprochen: ihr Leben mit gekrümmtem Rücken, von oben nach unten blickend, vor dem Mikroskop verbringen und den Sinn ihrer Tätigkeit in einer der Situationszwänge enthobenen, maximal genauen, erkenntnisgeleiteten Gegenstandsbeschreibung sehen. Es ist wohl nachvollziehbar, wenn ich sage, dass diese – im Sinne K. Bühlers rein darstellungsfunktional ausgerichtete – Semantik dazu tendiert, relevante Züge meines logischen Momentes auszublenden: etwa die Situationsverhaftetheit jedes Sprechens, seinen Handlungscharakter, die Gruppenabhängigkeit und Gruppengestaltung des sprachlich Handelnden in ihrer Wechselseitigkeit, die Frage nach der sozialen Relevanz des Entdeckten. Pointierter gesagt: Sie tut sich schwer, den Weg von der behandelten Sache zu den Sprechenden zu finden. Im Grunde genommen ordnet sie dem Sachbezug die Kommunikation nach. – Die andere Richtung der Semantik – ich verstehe sie zusammenfassend als handlungs-, darunter beziehungstheoretisch orientiert – kann nach dem Vorgetragenen nur wie folgt erscheinen: Sprechen ist partnerbezogenes intentionales Handeln, der Sprechende vollzieht es teils individuell, teils gruppenbestimmt; es ist immer aus der Situation geboren und auf das Funktionieren der Gruppe gerichtet. Die Verhältnisse kreuzen sich also: Einmal droht vor lauter Sachbezug die Handlungskomponente und ein anderes Mal vor lauter partnerbezogener Handlung die Sachkomponente in den Hintergrund zu rücken. – Und es gibt weitere Cruces. Einige von ihnen seien angedeutet: Wie schaffe ich – erstens – einen überzeugenden Zusammenhang zwischen Gegenstandsbezug einerseits und Handlungsstruktur einer Gruppe andererseits? Und wie komme ich – zweitens – von der Handlung mit ihrer stark situativen Einbindung zu einer Handlungsund Beziehungs‚grammatik‘, d. h. zu sprachlichen Ausdrücken, die System 2
Bei F. Nietzsche heißt das, „dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins – durch den gebietenden ‚Genius der Gattung‘ – gleichsam majorisiert und in die Herden-Perspektive zurück-übersetzt wird. [ …]. Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus“ (1882, S. 592).
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haben? Drittens: Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen dem Sprechen einer Einzelsprache, etwa Deutsch, und einer Handlungsgrammatik, die sich zwar in einer Einzelsprache vollzieht, aber doch wohl nicht deckungsgleich mit ihr ist? Und schließlich ein philosophisches Problem: Betrachte ich jede Einzelsprache als ein Zeichen- und Regelsystem, das natürliche Vorgegebenheiten nur ein bisschen anders kodiert als jedes andere der rund 6000 ähnlichen Systeme der Erde? Das hätte die Folge: Alles ist im Grunde in jedem dieser Systeme sagbar, das Übersetzen zum Beispiel wäre letztlich kein Problem. Oder ist jedes dieser Systeme gleichsam eine symbolische Form im Sinne E. Cassirers, eine je eigene zeichenkonstituierte Weise nicht der Kodierung von diskret Vorgegebenem, sondern der Schaffung von Sichten, die bei hinreichender Allgemeingültigkeit die Realität „sind“? Übersetzen wäre dann eigentlich gar nicht möglich. Verschärfend kommt hinzu: Es „gibt“ auf sprachlicher Ebene nur solche Systeme, keine irgendwie kommunikativ reale Hintergrundgröße, die als metaphysische Messlatte etwa für Deutsch plus Suaheli fungieren würde. Auch hier lauert die Frage nach dem Verhältnis von Einzelsprache und Handlungssystem im Hintergrund. 2. Ich gehe Fragen dieser Art aus der Sicht eines Germanisten an, also eines Linguisten und Historikers einer Einzelsprache, und zwar nicht unter beschreibungstechnischen Aspekten, sondern selbstreflexiv, auch nicht unter Aspekten der Allgemeinen Sprachwissenschaft oder anderer linguistischer Disziplinen mit einer nicht einzelsprachbezogenen Gegenstandssetzung. Ich verfahre dabei so, dass ich drei Einzelgegenstände aus dem Interessefeld der Germanistik herausgreife und diese – als schlaglichtartige Fälle – auf meine Fragestellungen hin analysiere. Ich bin deshalb auf Einzelfälle zurückgeworfen, weil es eine Geschichte der Semantik des Deutschen nicht gibt, im Gegensatz etwa zu Laut-, Formen-, Syntaxgeschichten, die gleich dutzendweise auf dem Markt sind. 3. Ein erstes Schlaglicht: Ziemlich genau um das Jahr 1300 schreibt Meister Eckhart oder ein Anonymus aus seinem engsten Kreis ein Gedicht mit folgenden Anfangsversen: In dem begin Ho über sin Ist ie daz wort. Neuhochdeutsch: Am Anfang, hoch über alles Begreifen, ist zu aller Zeit das Wort. Man hat diesen Text nach Ausweis von 11 erhaltenen Handschriften mehrfach abgeschrieben; er muss nach der sprachlichen Gestalt der Text-
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zeugen regional weit verbreitet gewesen sein; er wurde auch mehrfach, und zwar wiederum in verschiedenen Landschaftssprachen, ausführlich kommentiert. Wahrscheinlich hat die Thematik des Textes sogar schon vor seiner gebundenen Fassung in einer kommentarähnlichen Form vorgelegen. Die Kopisten – abgesehen von einem – ersetzten die Präsensform des Prädikates ist durch was, also durch das Präteritum nhd. ‚war‘; sie brachten den Text also in Übereinstimmung mit dem Johannesevangelium, in dem es ja heißt, dass das Wort am Anfang „war“. Offensichtlich taten sie das in dem Bewusstsein und mit der Spitze, dass das die korrektere Aussage sei. 3.1. Dieser Fall – ich verdanke ihn der Eckhart-Monographie von Kurt Ruh – ist nun im Sinne meines Vortragsthemas auszuwerten: Es geht dabei inhaltlich um eine Erscheinung der Morphologie, und zwar nicht um irgendein ausdrucksseitiges Problem, etwa der Art, dass da was statt war steht und dass man dies mit dem Blick auf die Geschichte des grammatischen Wechsels oder des Ausgleichs der Präteritalformen behandelt, sondern um den Wechsel vom biblischen und gewohnten Präteritum zum unbiblischen und ungewohnten Präsens. Der Kommentator, der das ist Eckharts beibehalten hat, fragt nun (Zitat in der Übersetzung K. Ruhs), „warum unser Verfasser ‚ist‘ setzt, d. h. das Zeitwort der Gegenwart, Johannes aber doch das Zeitwort der unvollendeten Vergangenheit“ gebraucht habe. Dies Letztere scheint – so der mittelalterliche Autor – unter gewissen Aspekten, die auch ausgeführt werden, das Bessere zu sein. Dann aber folgt auffallend unvermittelt: Unser ‚gestern‘, ‚morgen‘ und ‚einst‘ ist für Gott immer ‚jetzt‘ und dasselbe. Deshalb sei das Zeitwort mit Recht in der Form der Gegenwart angesetzt worden, weil „dem Begriff der Ewigkeit die Zeitform der Gegenwart am nächsten kommt“. Die Hinzufügung des Adverbs ie ‚zu aller Zeit‘, das sich im weiteren Text dann auch noch wiederholt, verstärkt diese Aussage. – Was ist hier geschehen? 3.2. Ein mittelalterlicher Autor betreibt – wohlgemerkt mit Bezug auf einen objektsprachlich vorliegenden Einzeltext – morphologische Semantik, also: Was bedeutet – in darstellungstheoretischer Perspektive – der Indikativ Präteritum in dem behandelten Text im Unterschied zum Indikativ Praesens? Das ist in handlungstheoretischer Perspektive die Frage: Was tue ich, wenn ich nicht nur die eine Form gegen die andere austausche, sondern wenn ich damit die Aussage verändere? Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Gesagte nicht für eine bestimmte Zeit gelte, auch wenn diese „noch nicht vollendet“ ist, sondern dass es für immer und ewig, eben ie, gilt. Er gestaltet damit die eher heilsgeschichtliche Aussage des JohannesEvangeliums zu einer eher heilsontologischen Aussage, und zwar zu einer urmystischen und ureckhartischen Aussage, er klinkt das Sein des Wortes
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also aus dem Zeitablauf heraus und definiert seine Existenz als zeitüberhoben. Er setzt insofern neue Glaubensrealitäten und verbindet diese – damit nun sprachlich Handelnder, Stellung Beziehender – mit der Aufforderung zu einer neuen Spiritualität (um beschäude ‚visionäre Gottesschau‘, abgescheidenheit, Aufgabe des Selbst herum) und zu neuen Lebensformen, die damit in dem Glockenhall, dem Wirkungsbereich von Texthandlungen, zu vollziehen sind, heute würde man sagen, die die Situation zum mindesten mitdefinieren: Heraus aus der Unverbindlichkeit der Rhapsodensituation, hinein in eine der religiösen Existenzen der Zeit. Indem er diese Möglichkeit im Sinne seiner Überzeugungen nutzt, gibt er sich auch symptomfunktional als Angehöriger der Gruppe zu erkennen, die – immer am Rande der Bestrafung – höchst merkwürdige, halbketzerische, niemandem wirklich verstehbare, aber doch breit rezipierte Spekulationen betreibt. Der Kern jeder Narrativik, der in der Aussage Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort ja drinsteckt, verliert also tatsächlich seine rhapsodisch-unterhaltende und belehrende Funktion und mutiert durch den Tempuswechsel zu einer in den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit höchst brisanten Seinsfrage: Inwieweit entspricht die Eckhartsche Mystik der Lehre der Kirche bzw. inwieweit ist sie eine Form der mit strengsten Strafen zu ahndenden Ketzerei? Im übrigen tut der Kommentator das alles zum Teil auch relativierend, so als wolle er sich entschuldigen. Ich erinnere daran, dass er komparativisch sagte, die war-Lesung scheint die bessere Lesung zu sein. Er weiß ganz genau, dass war nicht die vollendete Vergangenheit meint, sondern die unvollendete, die „noch nicht völlig vorüber gegangen“ und somit auch irgendwie noch Gegenwart ist. Das Ergebnis lautet: Die morphologische Semantik ist teils die fordernde, teils – mit Rücksicht auf die Brisanz der Situation – die sich vorsichtig absichernde Setzung einer Ontik, hier: die Seinsweise des Wortes in dem Sinne betreffend: „Das Wort ist immer“. Sie ist außerdem ein gestaltender Eingriff in die herrschende Spiritualität und in die damit verbundenen Lebensformen in dem deontischen Sinne: „Ihr habt Euch gefälligst danach zu richten“. Das ist die Ansprache an die Gruppe der Beteiligten. Es gibt nicht hier eine Erkenntnisaussage über das Sein des ‚Wortes‘ und dort ein bestimmtes soziales Handeln, sondern in diesem Fall beides in einem. Und es gibt auch nicht hier eine Gesamtheit von Erkennen und Handeln und dort die Gruppe, sondern beides im Wechselbezug. 3.3. Interpretationen der vorgetragenen Art sind in der heutigen Grammatikschreibung durchaus wiedererkennbar. Sie werden z. B. die schon mittelalterliche Redeweise von vollendeter und unvollendeter Vergangenheit ohne Schwierigkeiten auf heutiges grammatisches Reden bezogen haben. Am Beispiel der Grammatik von P. Eisenberg sei das noch einen Augen-
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blick lang weiter geprüft: Eisenberg unterscheidet bei der Suche nach der Bedeutung des Praesens bekanntlich drei Zeiten: die Aktzeit, die Sprechzeit und die Betrachtzeit. Er versteht die Aktzeit als „die nicht abgegrenzte zeitliche Erstreckung“ (1994: 120), die Sprechzeit und Betrachtzeit in je anderer, hier nicht behandelbarer Weise. Interessant an Eisenbergs Betrachtung scheint mir nun Folgendes zu sein: Es gibt nicht einmal ansatzweise so etwas wie eine ontische Unterscheidung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, aus der sich dann alle weiteren Differenzierungen (das Deutsche hat ja 6 Tempora) gleichsam sachnotwendig ergeben, sondern alles wird auf den Zugriff des einzelsprachlichen Menschen bezogen. Ich erinnere an die gerade vorhin gebrauchten Termini Akt-, Sprech- und Betrachtzeit: Die determinierenden Ausdrücke Akt-, Sprech- und Betrachtweisen alle drei, in versteckter Weise also auch Akt-, auf Zugriffe, und zwar auf die Bestimmung des Praesens als „unmarkierte“ Tempuskategorie. Das Praesens wäre demnach „weder vergangen noch zukünftig“, gleichsam der Atemporalis oder das Tempus, das „die relative Lage von Sprechzeit und Betrachtzeit nicht festlegt“ (Zifonun / Hoffmann / Strecker 1997: 1692) oder das Tempus, das „keine zeitliche Begrenzung“ aufweist (Grundzüge 1981: 508). Die Brücke zur mystischen Deutung der ist-Form des zitierten Gedichtes liegt auf der Hand. Auch alle weiteren Unterscheidungen und Bezugsetzungen Eisenbergs und anderer Grammatiker (zu den Aspekten, zur Aktiv-Passiv-Diathese, zum Modus, zu Adverbien usw.) wären analog zu dem angedeuteten Sinne zu verstehen: Der Tempusgebrauch unterliegt Regelungen, die jeden Sachverhalt, über den wir sprechen, entweder unter eine dem jeweiligen kommunikativen Anliegen entsprechende, auf dieses Anliegen hin funktionalisierte Zeit hineinstellen oder ihn aus der Zeitbindung herausheben, was dann ebenfalls Zeichenwert hat. Jedes Bezugsgeschehen jedes Einzeltextes enthält damit eine nach den Regeln einer Einzelsprache oder einer einzelsprachlichen Varietät gestaltete temporale Fiktion durchaus in der Nähe zur poetischen Fiktion der Literaturwissenschaft. Ich hätte auch sagen können: Jede textliche Realität unterliegt einer tempusfiktionalen Prägung. Und es gibt – wie schon gesagt – geschichtstypisch „nur“ solche Prägungen, von Text zu Text (wie man in der Literaturwissenschaft weiß), von Varietät zu Varietät, von Sprache zu Sprache und von Sprachgruppe zu Sprachgruppe je anders. Eine logische Übergröße „gibt“ es nicht in dem Sinne, wie es den Eckhartschen Tempusgebrauch gibt, sie kann aber konstruiert werden; sie hat dann allerdings eine völlig andere Existenzform (als die Eckhartsche Zeitfiktion seines Einzeltextes). 4. Nun das zweite Schlaglicht: F. Nietzsche hat um 1870/1873 (Wahrheit und Lüge) herum die damals geltende Begriffsgläubigkeit wie folgt angegriffen: Es gebe (Zitatmontage) das ganz und gar individualisierte, niemals
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gleiche, immer einmalige, unmittelbar sinnliche Urerlebnis. Diesem – also meiner Savannensituation – setze man durch Weglassen, Fallenlassen, Verallgemeinern, Entfärben usw. eine kognitive Größe zur Seite, und zwar den Begriff. Diesen Begriff ordne man überdies noch in Hierarchien, Pyramiden, Dome mit all ihren „regulierenden und imperativischen“ Qualitäten ein. Das kann er natürlich nicht ändern und kommt folglich um die Abstraktion nicht herum. Er gibt ihr aber eine neue, vorwärts weisende Interpretation: Sie sei nämlich auch ein Bilden, ein Aufbauen, ein künstlerisches Schaffen, ein Gestalten, ein freies Dichten und Erfinden, in dem der Mensch zum künstlerischen Subjekt mit ästhetischem Verhalten werde. Das sind alles fast bildungsreligiöse Schlagworte seiner Zeit, sie laufen auf die Propagierung der Kunst (im weitesten Sinne) als des metaphysischen Fluchtpunktes des Menschen hinaus. Das Ergebnis sei dann zwar auch ein Begriff, aber ein solcher, der selbst in Fällen wie dem ‚Würfel‘ noch das Residuum einer Metapher, einen Rest von Anschaulichkeit und (an anderer Stelle:) des Mythos, also des Denkens in Bildern, enthalte. 4.1. Sie haben vermutlich längst bemerkt, dass die hintergründige Frage zu diesem Fall darauf zielt, was Lexikographen auf der Metaebene – nun also nicht mehr Morphologen auf der Objektebene – eigentlich tun, wenn sie etwa 500 Belege zu irgendeinem Wort bearbeiten und ihnen im Zentrum ihres Tuns Bedeutung bzw. Bedeutungen zuschreiben. Werden diese Bedeutungen als ‚Begriffe‘ gestaltet, „sind“ sie gar Begriffe oder sind sie irgendetwas anderes? Sie erkennen: Ich bringe hier die Lexikographen ins Spiel, zweifellos eine der Speerspitzen der Semantik. Von ihrem Gegenstand, den Wörtern, sagt man ja auch, dass sie viel enger als z. B. Satzmuster in Bezug zu den ‚Gegenständen‘ stünden. 4.2. Wären Bedeutungen Begriffe, kämen sie in deren Nähe oder würden sie so behandelt, dann wären sie logisch bestimmte Größen. Sie müssten folglich eine lexikographische Darstellung im Sinne von ‚Definition‘ erfahren. Diese würde sich zumindest tendenziell nach dem Muster der Angabe eines Genus und der Nennung eines oder mehrerer Specifica gestalten. Und in der Tat lässt sich dieses Muster auf jeder Seite jedes Wörterbuches nachweisen. Ich bringe ein unmittelbar einsichtiges Beispiel: Das Substantiv Eigentum wird im Großen Duden semantisch unter der Position 1. a) beschrieben als: „Sache, über die jemand die Verfügungsund Nutzungsgewalt, die rechtliche (aber nicht unbedingt die tatsächliche) Herrschaft hat“. Diese Formulierung könnte genau so oder in ähnlicher Fassung auch in einem Fachlexikon der Rechtswissenschaft stehen: Sache = Genus, dann der spezifizierender Relativsatz „über die jemand […]“ usw. Solche For-
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mulierungen sind ein unersetzbarer lexikographischer Erläuterungstyp mit hohem Orientierungswert und werden dies weiterhin sein. – Nun ist es allerdings so, dass Definitionen des vorgeführten Typs in den Wörterbüchern auf vielfache Weise unterlaufen werden, auch bei Eigentum, und zwar in eine Richtung, deren prototypische Form ich mit einem Beispiel aus meiner eigenen lexikographischen Praxis vorführe, dem Substantiv gleichheit in einem von 9 Bedeutungsansätzen (FWB 6, 2327): gleichheit, […]. 6. >Gleichheit, Ähnlichkeit, Analogie zwischen Gott und den Engeln, dem Menschen, der Seele sowie den Dingen<, damit umgekehrt: >Möglichkeit / Tastsächlichkeit der Gleichheit, Ähnlichkeit des Menschen, der Seele, des Geistes mit Gott<; speziell: >ontische Ähnlichkeit des Leibes und Blutes Christi mit dem Brot und Wein des Abendmahls<. – Die so verstandene gleichheit vollzieht sich als gnade 1; sie wird in verschiedenen Metaphernfeldern gedacht und textlich vermittelt: oft als bilden, formen, fliessen, giessen, gebären, incorporieren, einerleuchten (einerleuchtung), gemeinen (und Wortbildungen), vereinen (und Wortbildungen), wirken (Gottes), empfangen, inkeren (von seiten des Menschen). Sie erscheint in Gradierungen folgender Art: den Engeln kommt erhöhte gleichheit zu; von seiten des Menschen sind abgescheidenheit, demütiges herz, einfaltigkeit, gelassenheit, leiden (das) 2, leiden (V., unr., abl.) 2, liebe, minne, nachfolgen, lauterkeit 3; 4, reinekeit (und entsprechende Adjektive) Voraussetzung; […].
4.3. In dieser Erläuterung sind einerseits strukturierende Elemente der Beschreibung nach genus und differentia specifica erkennbar, etwa: ‚Analogie‘ (als Genus) und spezifizierendes ‚zwischen Gott und den Engeln (usw.)‘. Dennoch wird kein Wörterbuchbenutzer die in Frage kommende Bedeutung aufgrund ihrer Formulierung als wohldefinierten Begriff mit scharfen Rändern und oppositiver Abgrenzung gegen gleich-, über- oder untergeordnete begrifflich-abstrakte Einheiten lesen, sondern als sprachlich-sozialen Inhaltsbestand mit all den Offenheiten, der Aufladung mit Anschauungselementen, den Bildern, die für Einheiten dieser Art kennzeichnend sind. Ich verweise auf Folgendes: – auf die nur partielle Synonymie zwischen Gleichheit, Ähnlichkeit und Analogie in der Formulierung der Erläuterung, – auf den Wechsel zwischen Mensch und Seele sowie Geist des Menschen, – auf die Konverse der gleichheit (sowohl Gott zu Mensch wie Mensch zu Gott), – auf die als Metonymie zu verstehende Kontiguität von Gleichheit als Inhalt und Gleichheit als Möglichkeit (damit als Handlungsaufforderung) bzw. als erreichbare und folglich verpflichtende Tatsächlichkeit, – schließlich auf die als Spezialisierung auffassbare ontische Ähnlichkeit zwischen dem Leib und Blut Christi einerseits und den beiden Gestalten des Abendmahls andererseits.
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4.4. Damit ist die Liste von Überlagerungen, Assoziationen, Kontiguitäten und Widersprüchen (die jedem Autor eines Sach- oder sog. Begriffslexikons ein Greuel sein müssten und die er – ohne es zu sagen – wegdefiniert) aber nicht erschöpft, denn gleichheit wird in gnade 1 vollzogen, die genannte Konverse damit logisch gesehen aufgehoben; sie wird außerdem in bestimmten Metaphernfeldern gedacht und insofern einer Vergleichsbeziehung oder gar einer Gleichsetzung unterworfen; diese Felder variieren zwischen Bereichen wie bilden, fliessen, gebären, gemeinen, die ihrerseits wieder aufeinander bezogen werden können. Im Übrigen wird mit abgescheidenheit (usw.) nochmals auf den Orientierungsrahmen verwiesen, in dem der Mensch gleichheit realisieren kann, womit sie von einer ontischen Gegebenheit zu einer spirituellen Aufgabe im Sinne des Imitatio-Gedankens mutiert. Indem das FWB – freilich pro Lemmazeichen unterschiedlich – Bedeutungen als Inhaltsbestände sozialsprachlicher Seinsweise zu beschreiben versucht, verfolgt es das Ziel, die je geschichtstypische Prägung der Bezugnahme auf Realität bzw. die Konstitution möglicher Welten wieder als inhaltliche Fiktionen in der Nähe zur Poesie zu vermitteln. Das wäre gleichzeitig die Nähe zu einer Geschichtsschreibung, die ihre Aufgabe nicht im Abbilden dessen, was und „wie es eigentlich gewesen ist“ (so das bekannte Dictum L. Rankes), sondern darin sieht, wie man Realität kommunikativ konstituiert und wie man mit diesen Konstituten gehandelt hat. Nimmt man die vorhin gemachte Aussage ernst, dass dies im Nähebereich, den ich als Glockenhall – einem frnhd. Ausdruck (FWB 6, 2412) – bezeichnet habe, dann ist dieser Bereich anzugeben. Er lautet für gleichheit 6: „Gehäuft älteres Frnhd.; Texte der Sinnwelt ‚Religion‘, oft der Mystik“. 4.5. Nun werden Sie vermutlich einwenden, der Beispielwert von ‚gleichheit‘ sei nicht gegeben. Ich habe mir vielmehr einen Einzelfall herausgegriffen, der – wenn überhaupt – nur sehr bedingt generalisiert werden könne. Ich halte einem solchen Einwand z. B. den Bildungs- und Sozialwortschatz, die Rechtsterminologie, den religiösen Wortschatz, den gesamten Beziehungswortschatz, alle epistemisch verwendeten Ausdrücke entgegen, im Grunde all diejenigen Bereiche, die – im Unterschied zu ‚Fenster‘, ‚Hund‘ oder ‚Katze‘ – nicht durch eine vernünftigerweise unbestreitbare Realität begründet sein dürften. Ich will das Gemeinte an einem weiteren (fiktiven) lexikalischen Beispiel veranschaulichen, dies auch, um anzudeuten, dass nicht nur der objektsprachlich handelnde, sondern auch der Semantiker in der Tatsächlichkeit und in der Aufgabe des stetig weiteren Vollzugs der Gruppenkonstitution steht.
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4.5.1. Es gibt im Schul- und speziell im Fremdsprachenunterricht, für den wir ja ausbilden, immer wieder Lehreinheiten, die man als Wortfeldübungen bezeichnet. Man geht dann von irgendeinem Punkt des Wortschatzes aus und fragt nach Ausdrücken, die in diesen Bereich gehören. So kann man z. B. seine Schüler / Studierenden bitten, doch mal alle Ausdrücke für ‚geistige Fähigkeiten‘ zusammenzustellen. Dann erhält man etwa Verstand, Vernunft, Geist, Esprit, Witz, Intellekt, Krips und Weiteres. Jeder Gruppenangehörige weiß diese Ausdrücke normgerecht zu gebrauchen und denkt in der Praxis sprachlichen Handelns meist nicht darüber nach, was er tut, wenn er sie gebraucht. Wenn man nun fragt, was denn den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft oder Intellekt ausmache, dann gerät die Gruppe in Schwierigkeiten. Vielleicht kriegt man heraus, dass Verstand eher (komparativisch wie beim Eckhart-Kommentator) mit ‚Analysefähigkeit‘ verbunden werde als das eher mit Synthesefähigkeit assoziierte Vernunft, oder irgendjemand sagt, ‚Intellekt‘ sei doch wohl, etwa im Vergleich zu ‚Verstand‘ und ‚Geist‘, ein bisschen kalt, im übrigen werde Intellekt praktisch nie mit Bezug auf Kinder, Handwerker usw. und vermutlich seltener für Frauen als für Männer gebraucht, eher für Mathematiker oder Finanzanalisten. – Sie erkennen: Es gibt eine Vielfalt von Gebrauchsdimensionen; Wertungen (Hochwertung von ‚Geist‘ versus Geringerwertung von ‚Verstand‘) mischen sich mit scheinbar neutralen Inhalten; schlechtbestimmte Abgrenzungen, Überlagerungen sind die Regel; die vorhandenen Ausdrücke sind auch hier nicht auf eine wie auch immer geartete Realität beziehbar, die Berechtigung bestimmter Ausdrücke, etwa des Fremdwortes Esprit, kann nicht an einer Realität gemessen werden; jede Aussage darüber, wie viele Ausdrücke man idealer Weise braucht, um einen angenommenen Wirklichkeitsausschnitt sprachlich adäquat zu fassen, geht ins Leere. Wichtig ist weiter: All dasjenige, was man an Unterscheidungen, Klassifizierungen, Ähnlich- oder Äquivalentsetzungen aus einer Gruppe von Befragten herausholt, gilt nur relativ zum jeweils verfügbaren Sprachspiel, in Gruppen wie den vorausgesetzten sicher nur für die Hochsprache. Falls die Unterscheidung von ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ überhaupt vorgenommen wird: Es klingt ja Immanuel Kant an, der ist aber nun nicht gerade priorisierter Gegenstand dialektalen Sprechens, deshalb wird man ‚Vernunft‘ und ‚Verstand‘ wohl kaum in einem Dialekt unterschieden finden. Das heißt natürlich auch: Das lexikalische Inhaltsgefüge ist eine Gegebenheit des Einzeltextes, einer Textfolge, eines Sprachspiels, einer sozialen Varietät, vielleicht auch mal einer Sprache. Es gibt dieses Gefüge demnach in genau gleicher Form in keinem anderen Text (usw.), ich kann Verstand im Text a also nicht unbehauen in einen anderen Text oder ein anderes Sprachspiel übernehmen, und ich kann für eine deutsche Inhaltseinheit ‚x‘ im Niederländischen oder Ungarischen
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keinen inhaltlich deckungsgleichen Ausdruck im Sinne von deutsch x = Niederländisch y = Ungarisch z finden. Ich füge allerdings hinzu, dass eine Vermittlung möglich ist, und zwar genau in dem Maße, in dem zwei Verständigungsmittel, also etwa Sprachen, über ähnliche Text- und Kommunikationsgeschichten verfügen. 4.5.2. Mit dem gerade Vorgetragenen habe ich nun nur die Spitze des Eisberges ‚sprachlich-soziale Inhaltseinheit‘ angesprochen. Ich habe ja so getan, als habe ein Wort wie Geist nur eine Bedeutung, etwa (nach Duden): ‚denkendes Bewusstsein des Menschen‘. Es hat aber auch noch andere Bedeutungen, darunter ‚Einzelmensch mit bestimmten Eigenschaften‘ (der gute Geist des Hauses), ‚Geist alkoholischer Getränke‘ (Weingeist) oder ‚Gespenst‘ (du siehst aus wie ein Geist). Nun ist es natürlich nicht so, dass es die eine Bedeutung unabhängig von der anderen gebe; vielmehr spielen in jede dieser sogenannten Einzelbedeutungen (Sememe) immer Facetten einer anderen Bedeutung des gleichen Wortes hinein. – Damit sind wir aber nicht am Ende der Komplexität semantischen Vernetzungen sprachlicher Verständigungsmittel: Es hat also nicht nur jede sprachliche Einheit systematisch verschiedene Bedeutungen, sondern es kann auch alles, über das wir sprechen wollen, systematisch verschieden ausgedrückt werden, also mittels z. B. lexikalischer Einheiten, deren jede wiederum verschiedene Bedeutungen hat usw. Und um das Maß in die Nähe des Überlaufens zu bringen, aber keineswegs voll zu machen: Viele sprachliche Einheiten, zumindest alle wortgebildeten, stehen in motivationellen Zusammenhängen; und über jede dieser Einheiten werden im Gebrauch je unterschiedliche Aussagen und Aussageverdichtungen gemacht, womit ich in Bereiche wie den Frame oder in das ‚Semagramm‘ der niederländischen Bearbeiter des neuen (digitalen) „Woordenboek der Nederlandsche Taal“ käme, oder auch in Bereiche wie den mehrfachen Schriftsinn des Mittelalters. 4.5.3. Zusammenfassend: Sieht man den Fall gleichheit und die Verstandeswörter als beispielhaft oder gar prototypisch für den Aufbau des Lexikons an, dann ergibt sich ein Bild, das in Analogie zu dem für die Zeitmorphologie gezeichneten gestellt werden kann: Der Wortschatz einer Sprache wäre demnach ein je geschichtstypisches Netz mit gewissen als Knoten metaphorisierbaren und sich mannigfach überlagernden sozialen Inhaltseinheiten, in denen man spricht, denkt, handelt, sich wechselseitig kennzeichnet; und es gibt keine anderen Netze, jedenfalls keine, die entsprechend fundamental und leistungsfähig wären. 5. Nun mein dritter Fall: G. E. Lessing äußert sich 1766 (94ff.) in seinem „Laokoon“ über die Grenzen von Mahlerey und Poesie: In beiden
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würden Zeichen gebraucht; in der Malerei seien das (verkürzt gesprochen): Figuren und Farben für ‚Körper‘ im Raum; in der Poesie seien es artikulierte Töne für ‚Handlungen‘ in der Zeit. Wenn man nun – wie Lessing sagt – ein bequemes Verhältnis der Zeichen zu dem Bezeichneten annimmt, dann ergibt sich: Nebeneinander geordnete Zeichen können nur Gegenstände ausdrücken, die neben einander existiren, aufeinander folgende Zeichen nur Gegenstände, die auf einander folgen. Logisch würde daraus eine klare Scheidung der Leistung beider Zeichensysteme Malerei und Poesie folgen. Das bedarf natürlich der Differenzierung. Insofern meint er: „alle Körper (als eigentliche Gegenstände der Malerei, O. R.) existiren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit“. Umgekehrt: alle Handlungen bestehen nicht in sich selbst, sondern müssen gewissen Wesen, also Körpern, anhängen. Daraus wiederum ergibt sich eine komplizierte Konstruktion des Ineinandergreifens beider Zeichensysteme bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer kategorialen Unterschiede. – Im Übrigen stehen natürlich Bildsysteme in einem anderen Zusammenhang mit den vorhin bemühten Handlungsgrammatiken als Sprachsysteme. 5.1. Lessing schreibt den beiden Kultursystemen, die er behandelt, also der Malerei und der Poesie, je eine kategoriale Leistung zu. Anschließend werden bestimmte Kombinationen diskutiert. Man könnte den Text Lessings insofern als eine Bestätigung der bisher vorgetragenen These von der fiktionalen Leistung sprachlicher Verständigungsmittel auffassen, nur jetzt ausgedehnt auf die Kunst. Allerdings gibt es in dem Text Lessings einige Formulierungen, die aufhorchen lassen. Er redet nämlich von einem bequemen Verhältnis der Zeichen zu dem (offensichtlich vorgängigen) Bezeichneten, und er gebraucht die Verben ausdrücken und existieren. Zeichen drücken also etwas aus, das als real existierend präsupponiert wird, und außerdem noch in einem bequem, d. h. ‚angemessen, ähnlich, analog, ikonisch‘ gedachten Verhältnis zu ihnen steht. 5.2. Das ist nicht der Ton, der meine bisherigen Ausführungen bestimmte, denn ich habe ja dauernd gesagt, dass es ‚Zeit‘ nur in der semantischen Fassung von z. B. Morphemen und lexikalische ‚Inhalte‘ nur als Bedeutungen in einem mannigfach dimensionierten, z. B. semasiologisch, onomasiologisch, wortbildungsmotivationell, tropologisch, syntaktisch usw. vernetzten Systemoid von Einheiten gebe, und dass diese Bedeutungen aus dem sozialen und historischen Kopf geschichtlicher Menschen dann in die Realität transponiert würden. Bei Lessing dagegen schimmert die Auffassung durch, dass es vor jeder Sprache, vor jeder Wahrnehmung und vor der kognitiven Verarbeitung der Wahrnehmungsdaten eine Gegenstandswirklichkeit gebe, der man als dem Natürlichen nachzuspüren habe
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und die man dann in ihrer sog. direkten, natürlichen Ordnung abzuschildern, zu copieren, zu wiederholen, auszudrücken habe (das alles sind Verben aufkärerischer linguistischer Texte; Zitiernachweise bei O. Reichmann 1996). Dabei sei stets Sorge zu tragen, dass man der Sache als solcher und in ihren Beziehungen gerecht bleibe, die augenscheinliche Ähnlichkeit von Original und Vorstellung bei der Textkonstitution im Auge behalte. Man versteht Sprechen und Schreiben als Funktion vorhergehender Erkenntnis und nicht umgekehrt die Erkenntnis als Funktion des Sprechens und Schreibens. Bezeichnenderweise sind denn auch die Verben, die ich gerade zitiert habe, mit affizierten Objekten verbunden. Interessant ist, dass die Erscheinungen, in denen Sprache am sprachlichsten ist, bei der vorgetragenen metaphysisch-realistischen Sicht der Dinge den Status von Zugeständnissen erhalten: Tropen, Figuren, Inversionen, Witz, alles das, was in den Poetiken wie in jedem Aufsatzunterricht gelehrt wird, ja, aber bitte mit Maß, nicht zu kühn, nicht zu verstiegen. Und Wahrscheinliches, Mögliches, Wunderbares ja, aber die Krone der Texte bilden doch die rational kontrollierten, schriftsprachlich gemusterten, wissenschaftlichen, philosophischen Texte. 6. Ich breche die Darstellung einiger Ideen zur Semantik und ihre Exemplifizierung an Beispielen hier abrupt ab und komme zu einigen Schlussfolgerungen, die ich auch als perspektivische Möglichkeiten einer einzelsprachbezogenen historischen Semantik verstehe. 6.1. Sprachliches Handeln, jeder textliche Niederschlag dieses Handelns und jeder Baustein jedes dieser Niederschläge hat nicht nur ‚Bedeutung‘ in dem üblichen landläufigen und oberflächlichen Sinne, sondern ist ausschließlich zum Zwecke von Bedeutung da. Eine offene Liste bedeutungskonstitutiver Mittel ist zwar angebbar, aber höchstens zu Lernzwecken sinnvoll. Selbstverständlich gehören alle signifikativen Einheiten und ebenso selbstverständlich alle Kombinationen dieser Einheiten dazu, die im Vergleich zu anderen solcher Einheiten irgendwie auffallen. Eine besondere Rolle in diesem Zusammenhang spielen unter Langue-Aspekten die sog. Kategorialbedeutungen, d. h. verallgemeinerte grammatische Bedeutungen sprachlicher Bauteile wie des Substantivs, des Satzes schlechthin, aber auch grammatikalisierter Bauteilkombinationen, und schließlich festgewordene Textgestalten; unter Norm- und Parole-Aspekten wären die sog. Stilmittel zu nennen, unter ihnen Tropen und Figuren, unter den Tropen z.B. die Metapher, unter dieser die bereits romantische Metapher der Metapher und die Metapher der Metapher der Metapher oder der vierfache Schriftsinn als einer der Semantiktypen des Mittelalters, in dessen Licht die vorhin bemühte Katze bzw. der Hund dann eben nicht mehr nur Katze oder Hund sind.
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6.2. Der gerade vorgetragene Punkt (1) enthält eine unterschwellige Kritik: Er richtet sich gegen eine Sprachgeschichtsschreibung, die sich in der ausdrucksseitig orientierten Untersuchung bestimmter Einheiten, Paradigmen und grammatischen Strukturen erschöpft, ohne deren semantische Begründung zum Zweck ihrer Erforschung zu erheben. Ich meine Tatsachen wie die Fixierung ganzer Generationen von Studierenden auf das Erlernen von Lautentwicklungen und Flexionsparadigmen, die weitgehende Ausblendung der lexikalischen Semantik aus der Wortgeschichtsschreibung, die geradezu rituelle und leitbildhafte Betonung der ausdrucksseitigen Differenzierungen im Laufe der Geschichte. 6.3. Ich habe ‚Bedeutung‘ in meinem Beitrag in einem sehr allgemeinen Sinne, meist im Sinne der Bühlerschen Funktionentheorie verwendet. Das reicht natürlich absolut nicht aus. Hier stellt sich die Aufgabe einer Typologie des Sprachzeichens, damit eine Öffnung der einzelsprachbezogenen Linguistiken in die Allgemeine Sprachwissenschaft. 6.4. Ich habe nur mit Bezug auf Lessing ein nichtsprachliches Zeichensystem ins Spiel gebracht. Das Beispiel zeigt jedoch, dass Zeichensysteme verschiedener Art immer zusammen auftreten und dass die Linguistik eines gewissen Reduktionismus auf das streng Systematische zwar nicht entraten kann, sich ihrer selbstverschuldeten Beschränkungen aber kritisch bewusst bleiben sollte. 6.5. Von den drei genannten Schlaglichtern ging das erste von einem Einzeltext aus, das ‚Gleichheits‘-Beispiel stand unter dem Zweck, aus der üblichen lexikographischen Weglassungsabstraktion so viel wie möglich an Anschaulichkeit zu retten. Das war eine bewusste Beschreibungsbewegung von der eingespielten Behandlung der Bedeutung als ‚Begriff‘ weg zur Behandlung als sozialsprachlicher Inhaltsgestalt hin, damit auch zur Berücksichtigung der Textbelege als der methodisch-empirischen Primärdaten der Semantik hin. 6.6. In diesem Zusammenhang sei an die ontische Priorität der Savannensituation erinnert, also daran, dass Eltern ihren Kindern in der Wiege nicht sachbezogen Unterscheidungen wie ‚gesund‘ versus ‚krank‘ oder ‚weiß‘ versus ‚farbig‘ beibringen, sondern durch fortwährendes Sprechen in einer Situation. Wo findet man eigentlich Gegenstände wie ‚Arbeit‘, ‚Ehre‘, Spiel‘, ‚Vernunft‘, ‚Staat‘, oder selbst so etwas wie ‚den Baum‘ oder ‚den Menschen‘ in der Realität? Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Wilhelm von Humboldt mit seinem Urteil, die Sprache verliere alle Würdigung, wenn man annähme, „dass das Bezeichnete ein von seinem
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Zeichen unabhängiges Dasein habe“ (1824 / 26: 428). Diese ‚Wiegensituation‘ gilt auch für den Erwachsenen der Gegenwart: Wenn ich unseren Studierenden erklären will, was arebeit im Althochdeutschen oder minne im Mittelhochdeutschen bedeutet, dann tue ich das nicht, indem ich ihnen die Arbeitspraxis oder bestimmte Formen eines höfischen Ritus erkläre, sondern indem ich die Texte vorführe und behandle, die mittelalterliche Sprecher und Schreiber produziert haben, die die Sprachhistoriker des 19. Jahrhunderts dann interpretiert haben und für deren Vermittlung ich als heutiger Historiker die lexikalischen Einheiten meiner Muttersprache benutze. Das ist Horizontverschmelzung vom Programm her, gleichsam als Bedingung der Möglichkeit historischen Erkennens, nicht Erkenntnisdefizit. Das gilt auch für den Linguisten. 6.7. Ins Positive gewendet kann das nur heißen: Ich tendiere – gerade als Linguist – dazu, die fiktionale Leistung, die auch dem alltäglichen Sprachgebrauch eigen ist, gegenüber jeder Form des Abbildgedankens besonders zu betonen: Indem wir sprechen und schreiben, bauen wir ‚Welten‘, ‚Realitäten‘ auf, stellen sie her, wir ersprechen, ertexten, konstituieren, bilden, schaffen, gestalten fortwährend Neues und je Anderes, wir tun das in Anknüpfung und in kritischer Auseinandersetzung mit der Weise, wie man das in der Gruppe schon immer getan hat und selbst dann, wenn man das an den Dingen überprüfen kann und tatsächlich überprüfen würde, nicht primär erkenntnis-, sondern interessegeleitet. 6.8. Im Lichte dieser Aussage verliert die Unterscheidung von Gebrauchssprache und poetischer Sprache zumindest an Gewicht oder löst sich gar auf. 6.9. Hier kommt der schon mehrfach gebrauchte Terminus Gruppe ins Spiel: Sich in die Augen zu sehen und – akustisch gesprochen – sprachlich im ‚Glockenhall‘ zu bleiben, heißt natürlich auch, dass der in der Gruppe Stehende gruppenbezüglich handelt. Damit ist jeder Akt der Semantisierung von irgendetwas immer ein Akt der je sozialen und geschichtlichen Prägung. Dabei kann es Symmetrien und Asymmetrien geben, man kann dem anderen – wie gesagt – auf gleicher Höhe in die Augen schauen, man kann aber auch zu ihm aufschauen und auf ihn herabschauen und ihn tendenziell zum Gegenstand machen. Das heißt: Man schafft Hierarchien. Hier weitet sich der Blick in die Sprachsoziologie und in die soziologisch orientierte Pragmatik. Bedeutungskreationen – sowohl die gegenstandsbestimmenden wie die soziale Beziehungssysteme aufbauenden – sind Entitäten der Gruppe und insofern ein Gegenstand der Soziologie, und zwar über die Symbolsysteme (im Sinne Lessings) hinweg. Und Gruppen sind Entitäten von Bedeutungskreationen.
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7. Ich könnte noch eine Weile fortfahren, um mein Anliegen zu vertreten. Es läuft darauf hinaus, Semantik als das Kernstück der Sprachwissenschaft zu betrachten, historische Semantik wäre dann derjenige Bereich, in dem wir alle aufgeführten Dimensionen gleichsam vor Ort, vor der eigenen Haustür studieren können. Das alte rhetorische tua res agitur mag helfen, uns selber als Teil des Semantisierung – es ist der Bereich kultureller Gestaltung – zu verstehen. Dass eine historische Grammatik der kommunikativen Beziehungen und damit eine Überwindung der Spaltung von Sprach- und Geschichtswissenschaft sowie von Sprachgeschichtsschreibung und Literaturgeschichtsschreibung zu meinen Träumen gehört, dürfte ohnehin klar geworden sein.
Literatur Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena. Cassirer, Ernst (1923): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Darmstadt 1956. Duden (1999): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden, 3., völlig neu bearb. Aufl. […], Mannheim. Eisenberg, Peter (1994): Grundriß der deutschen Grammatik, 3., überarb. Aufl., Stuttgart/Weimar. FWB = Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (2003–2010): Ulrich Goebel/Anja Lobenstein-Reichmann/Oskar Reichmann (Hg.), Bd. 6, bearb. v. Oskar Reichmann/Joachim Schildt, Berlin/New York. Grundzüge einer deutschen Grammatik (1981): von einem Autorenkollektiv unter der Leitung v. Karl Erich Heidolph/Walter Flämig/Wolfgang Motsch, Berlin. Lessing, Gotthold Ephraim (1766): Laokoon: Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. 3. Aufl. bes. durch F. Muncker, Bd. 9). Nietzsche, Friedrich (1870/73): Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Ders. (Hg.), Die Geburt der Tragödie […], München/Berlin/New York. (= Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, 1). Nietzsche, Friedrich (1887): Die fröhliche Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, München/Berlin/New York. (= Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, 3). Ranke, Leopold (1824): Vorrede zu den ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker‘ von 1494 bis 1535, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München, 42–47. (=dtv wissenschaft 4546). Reichmann, Oskar (1996): Der rationalistische Sprachbegriff und Sprache, wo sie am sprachlichsten ist, in: Michael S. Batts (Hg.), Alte Welten – neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 1: Plenarvorträge, Tübingen. Ruh, Kurt (1989): Meister Eckhart. Theologe. Prediger. Mystiker, 2., überarb. Aufl., München.
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Oskar Reichmann
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Carsten Dutt (Heidelberg)
Historische Semantik als Begriffsgeschichte. Theoretische Grundlagen und paradigmatische Anwendungsfelder Während sie sich anschickt, im europäischen und außereuropäischen Ausland als history of concepts, histoire des concepts oder historia conceptual Karriere zu machen1, sieht sich die begriffsgeschichtliche Forschung in Deutschland, ihrem Ursprungsland, mit ersten Versuchen zu ihrer Historisierung konfrontiert: Die Historie der Begriffe wird inzwischen selbst zum Gegenstand historischer, nämlich wissenschaftshistorischer Bemühungen – einschlägige Tagungen und Workshops haben stattgefunden2, universitäre und außeruniversitäre Forschungsprojekte sind installiert oder beantragt3, Dissertationen in Arbeit.4 Anlässe hierzu gab es in den letzten Jahren genug: Die mit der Publikation seines 13., des Registerbandes nach über vierzigjähriger Arbeit erreichte Vollendung des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ im Jahr 2007 war so ein Anlass, und man hat ihn denn auch genutzt, um im Deutschen Literaturarchiv Marbach eine „Bilanz der Begriffsgeschichte“ zu ziehen5, wobei die Organisatoren der damaligen Veranstaltung zugunsten titelsprachlicher Prägnanz auf den präzisierenden Zusatz „Bilanz der philosophischen Begriffsgeschichte“ verzichtet hatten. Indessen war es
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Für den englischsprachigen Raum vgl. die halbjährlich in New York erscheinenden “Contributions to the History of Concepts der History of Political and Social Concepts Group” (http://www.hpscg.org/). Zur Rezeption der begriffshistorischer Erkenntnisziele und Untersuchungsverfahren in der spanischsprachigen Welt siehe die Beiträge in: Oncina (2010). So zuletzt an der TU Berlin die Tagung „Internationales Forum Begriffsgeschichte: Theorien und Praktiken der Begriffsgeschichte“, 7.–9.6.2010. So das am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin von Lothar Müller und Falko Schmieder geleitete Projekt „Theorie und Praxis einer interdisziplinären Begriffsgeschichte“. So die am Historischen Seminar der Universität Tübingen von Anselm Doering-Manteuffel betreute Arbeit Peter Tietzes: „Begriffsgeschichte. Methodische Innovation und Selbstreflexion der Geisteswissenschaften 1920–1970“. Vgl. http://www.dla-marbach.de/fileadmin/redaktion/aktuelles/presse/2007/Texte/ Programm_Homepage.pdf (Stand: 30.3.2011).
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doch exklusiv diese durch das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ repräsentierte Spielart der Begriffshistoriographie, die in Marbach nach ihren Leistungen und Versäumnissen, nach erledigten wie noch unerledigten Aufgaben und deren wissenschaftspraktischer Einlösbarkeit befragt wurde. Unvorteilhafterweise stand man dabei unter dem Eindruck des Augurenwortes vom Ende der begriffsgeschichtlichen Bewegung, das Hans Ulrich Gumbrecht wenige Monate zuvor mit sicherem Gespür für geisteswissenschaftspublizistische Effekte hatte drucken lassen (Gumbrecht 2006) – lautverstärkend gekoppelt mit der von Anselm Haverkamp übernommenen Meinung, dass die begriffszentrierte historische Semantik nach Art des von Joachim Ritter begründeten „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ die in die Dimension des Vor- und Unbegrifflichen zurückfragende Metaphorologie Hans Blumenbergs aus Gründen sprach- und bedeutungstheoretischer Inkompatibilität ausgeschlossen hätte – und zwar auf derart rigide wie überdies erkenntnispraktisch schädliche Weise, dass nun, nach dem durch die Fertigstellung des letzten ihrer lexikalischen Großwerke markierten Abebben des Booms der Begriffsgeschichtsschreibung in Deutschland eine Wende fällig sei, nämlich die Wende zum vermeintlichen Gegenprogramm der Blumenbergschen Metaphernforschung und damit zu „jenem Sein“, das – so Gumbrechts ontologisierende Programmformel – „nicht vollends zur Sprache werden kann, weil es nie ganz zu verstehen ist“ (ebd.: 23). Die Aufgabe, das schroffe Zukunftsdementi und die doppelt – systematisch wie historisch – falsche Entgegensetzung von Begriffshistorie und Metaphorologie6 zurückzuweisen, rückte also ins Zentrum der damaligen Marbacher Diskussionen – um den Preis des Verzichts auf eine Binnendifferenzierung innerhalb des von der einen Bezeichnung Begriffsgeschichte umgriffenen Forschungsfeldes der Historischen Semantik, die anlasshalber nicht minder fällig gewesen wäre. Die Heidelberger Tagung der GGSG bietet nun die Gelegenheit, das damals Versäumte ein Stück weit nachzuholen und die Praxis der philosophischen Begriffshistorie auf jene Form geschichtswissenschaftlicher Forschung zu beziehen, die nicht anders als ihre philosophische Schwesterdisziplin Begriffsgeschichte heißt. Auch dieser Zweig der Begriffshistoriographie hat ja ein einschüchternd umfängliches lexikalisches Großwerk hervorgebracht, das für die Fachhistoriker wie für die gebildete Öffentlichkeit emblematisch das repräsentiert, was in geschichtswissenschaftlichen Kontexten unter Begriffsgeschichte verstanden wird: Ich meine natürlich die seit 1997 kompletten, in sieben Textbänden und gleich zwei voluminösen Register-
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Zur Kritik dieser Entgegensetzung vgl. Dutt 2007a, Gumbrecht 2007, Dutt 2007b und Beck Lassen 2009.
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bänden vorliegenden „Geschichtlichen Grundbegriffe“, das „Historische Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland“, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, letzterer bekanntlich der eigentliche Architekt und spiritus rector des Unternehmens. Für die gegenwärtig einsetzenden Anstrengungen zur wissenschaftshistorischen Aufarbeitung der Begriffshistorie im deutschsprachigen Raum dürfte ein gründlicher Vergleich der beiden Werke, dürfte zumal ein Vergleich der zahlreichen lemmaidentischen Artikel im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ einerseits, in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ andererseits von größtem Nutzen sein. Man denke an Artikel wie „Demokratie“, „Entwicklung“, „Fortschritt“, „Geschichte“, „Revolution“, „Staat“, „Vertrag“, „Toleranz“ und „Kultur/Zivilisation“. In Orientierung an welchen begriffstheoretischen und welchen begriffsgeschichtstheoretischen Prämissen, so wäre in einer solchen Untersuchung vergleichend zu fragen, greifen die lemmaidentischen Artikel beider Werke wie auf ihre Gegenstände, die Begriffe, zu? Anhand welcher Quellentexte und welcher Arten von Quellentexten werden sie der Begriffe mittels welcher Untersuchungsverfahren habhaft? Wie verbinden sich dabei Wortgebrauchsforschung, Textinterpretation und Begriffsanalyse? Inwiefern berücksichtigen die Artikel Gegen-, Neben-, Ober- und Unterbegriffe, also die verschiedenartigen Positionen und Relationen jener mehr oder minder komplexen Begriffsnetze, deren Bestandteil Begriffe ausnahmslos sind? Inwiefern werden in den Begriffsgeschichtsrekonstruktionen der Wörterbuchartikel fremdsprachige Äquivalente und/oder Vorgängerbegriffe (z.B. ʌȓįȠıȚȢ, progressus und progrès für Fortschrittt oder ݨıIJȠȡȓĮ, historia und histoire für Geschichte) herangezogen, inwiefern überhaupt Übersetzungsvorgänge thematisiert, die Begriffe bzw. Begriffsnetze, einmal gebildet, unter Bewahrung oder signifikanter Änderung ihrer Identität durchliefen? An welchen – ausdrücklich begründeten oder unerörtert vorausgesetzten – Identitätskriterien für Begriffe bzw. Begriffsnetze orientieren sich die entsprechenden Befunde? Und schließlich: Im Rekurs auf welche Faktoren und Faktorentypen (Idealfaktoren oder Realfaktoren, reflektierte Gründe oder a tergo wirksame Ursachen) erklären die Artikel des „Historischen Wörterbuchs“ einerseits, die Artikel der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ andererseits die Konstitution, Transposition und Transformation von Begriffen? Das Projekt einer interdisziplinären Wissenschaftsgeschichte der Begriffsgeschichte eindringlich zu verfolgen hieße, diesen und weiteren Fragen geordnet nachzugehen. Man würde insoweit übrigens keineswegs selbstgenügsamer Gelehrsamkeit huldigen, vielmehr der wissenschaftspraktischen Orientierung von Begriffshistorikerinnen und Begriffshistorikern dienen, die ja wohl auf beiden Seiten der zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaft verlaufenden Disziplingrenze ein lebhaftes Interesse
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daran haben dürften, sich gemeinsamer Erkenntnisziele, Untersuchungsund Darstellungsstandards zu versichern, aber auch entscheidende Unterschiede in ihren Arbeitsweisen zu verstehen – idealerweise um daraus für eine umsichtigere Fortsetzung ihrer jeweiligen Forschungspraxis zu lernen. Ich selbst vermag einen in dieser Weise orientierungsdienlichen Vergleich zwischen dem „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ und den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ hier nur durch die aufgefächerten Fragen anzuregen, nicht auch schon anhand eines materialen Beitrags durchzuführen. Was ich stattdessen versuchen will, ist von bescheidenerem Zuschnitt und wird sich in drei Abschnitten erledigen lassen: In einem ersten Abschnitt erinnere ich kurz und ungeschützt thetisch an Prämissen, die für das philosophische und das geschichtswissenschaftliche Anwendungsfeld der Begriffshistoriographie gleichermaßen gelten, an den Felsgrund des ganzen Unternehmens gewissermaßen (1). In einem zweiten Abschnitt vergegenwärtige ich anhand eines einschlägigen Begriffsbeispiels zentrale Funktionen philosophischer Begriffsgeschichtsschreibung, die, recht verstanden, eine Zugriffsweise philosophischer Theoriegeschichtsschreibung ist und sich in unter diesem Gesichtspunkt als subsidiäre Methodik für die Erledigung der eigentlichen Theorieaufgaben der Philosophie legitimieren kann, welche in erster Linie Aufgaben der Begriffsklärung sind (2). In einem dritten Abschnitt hebe ich das Forschungsprogramm der geschichtswissenschaftlichen Begriffsgeschichtschreibung à la Koselleck von den theoriegeschichtlich begrenzten Aufgaben der philosophischen Begriffsgeschichtsschreibung ab. Ich verbinde das mit zwei Empfehlungen, deren aktueller Anlass der Vorschlag ist, das Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, dessen Erfassungszeitraum mit der Ausnahme einiger weniger Artikel bekanntlich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert endet, für das 20. Jahrhundert fortzuschreiben.7 Von der Bewältigung immenser forschungsorganisatorischer Aufgaben abgesehen, wird ein solches Unternehmen erstens darauf angewiesen sein, den von Koselleck entwickelten Kriterienkatalog modernitätskonstitutiven Wandels politisch-sozialer Begriffe heuristisch fortzubilden, und es wird zweitens weitaus entschiedener, als dies in den Artikeln der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ realisiert worden ist, Kosellecks zentrale Intention umzusetzen haben, politisch-soziale Begriffsgeschichte nicht allein als historische Semantik, sondern auch als historische Pragmatik zu betreiben (3).
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Vgl. Geulen 2010, der völlig zu Recht dafür plädiert, „Entwicklungstendenzen oder übergreifende Merkmale [zu] benennen, die einen Strukturwandel in der Semantik politischsozialer Selbstreflexion im 20. Jahrhundert anzeigen“.
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1. Damit zu den disziplinübergreifend geltenden Prämissen begriffshistorischer Arbeit. Ich meine, diese Prämissen ließen sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Begriffe werden in Texten gebildet, und zwar typischerweise so, dass bestimmte Wörter, die den untersuchungsgegenständlichen Begriffen als Begriffsnamen zuzuordnen sind, in einer Reihe zusammenhängender Aussagen verwendet oder erwähnt werden. Definitionen sind dabei nur eine (und sicherlich nicht die häufigste) Form textuell vollzogener Begriffsbildungen – gerade auch in philosophischen Kontexten nicht. In Texten vollzogene Begriffsbildungen lassen sich anhand dieser Texte rekonstruieren8 und im Resultat solcher Rekonstruktionen sowohl unterscheidungstauglich kennzeichnen als auch erklären – aus Begriffsbildungsinteressen nämlich, die ihrerseits unterschiedlicher Art sein können. Erkenntnisabsichten bilden eine Klasse von Begriffsbildungsinteressen, politische Wirkungsabsichten eine andere; allerdings können beide in einer Begriffsbildung zusammenwirken – man denke beispielweise an Marx’ und Engels Klassenkampf. Rekonstruktiv erarbeitete Kennzeichnungen textuell vollzogener Begriffsbildungen sind deskriptiv optimierbare Kennzeichnungen, das heißt: sie sind mehr oder weniger (und je nach Kennzeichnungszweck hinreichend oder nicht hinreichend) genau. So ist beispielsweise die Kennzeichnung, dass der von Dilthey in einer Reihe von Texten, philosophischen Abhandlungen nämlich, gebildete Begriff des Verstehens ein epistemischer Erfolgsbegriff ist, zutreffend9, aber deskriptiv optimierbar; sie ist im Interesse begriffsbildungsrekonstruktiver Vollständigkeit zu ergänzen. Hierzu gleich beispielbezogen noch mehr. Zuvor jedoch eine letzte, die eigentlich entscheidende Prämisse aller begriffshistoriographischen Arbeit. Sie lautet: In Texten vollzogene Begriffsbildungen, die sich ein und desselben Begriffsnamens bedienen, bilden typischerweise eine Abfolge, sie sind so oder so, in diesen oder jenen Sukzessionsformen der Begriffsbildung, aufeinander bezogen und können eben deswegen zu Gegenständen oder, wenn man einen technischeren Ausdruck bevorzugt, Referenzobjekten von Begriffsgeschichtserzählungen werden. Wie alle Geschichtserzählungen handeln Begriffsgeschichtserzäh-
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Vgl. hierzu Koselleck 1979: 108, der betont, dass die Ergebnisse begriffsgeschichtlicher Untersuchungen „immer wieder durch Textexegesen überprüfbar und auf diese zurückzuführen sind“. „Verstehen fällt unter den Allgemeinbegriff des Erkennens“ (Dilthey 1957: 332). Zur Stellung des Verstehensbegriffs im Netzwerk epistemischer Erfolgsbegriffe vgl. Cooper 1994 und Scholz 1999: 4 und 7f.
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lungen von Veränderungen in der Zeit. Nennen wir diese entscheidende Prämisse die der Erzählbarkeit von Begriffsgeschichten. 2. Damit komme ich zur Vergegenwärtigung einiger zentraler Funktionen philosophischer Begriffsgeschichtsschreibung. Ich nenne, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vier dieser Funktionen. In der Philosophie dient die Historie der Begriffe 1. der Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz, 2. der Rekonstruktion komplexer theoretischer Begriffsnetze, 3. der Erklärung von Begriffswandel, 4. der Unterstützung systematischen Philosophierens durch ein historisches Reflexionsmedium der Begriffsklärung. Hierzu einige Erläuterungen: Wenn sich Philosophen – nennen wir sie nicht Schleiermacher oder Dilthey, Gadamer oder Ricœur, sondern schlicht A und B –, wenn sich die Philosophen A und B des Wortes Verstehen bedienen und in Texten eine Reihe von Aussagen über das Verstehen machen – in der Regel bekanntlich eine ziemlich lange, Aufsatz- oder gar Buchlänge erreichende Reihe von Aussagen –, so werden sie trotz der sich durchhaltenden Identität des Wortes Verstehen, trotz der Konstanz des Begriffsnamens also, schwerlich ein und denselben Verstehensbegriff bilden. Ihre Verstehensbegriffe werden mehr oder minder stark voneinander abweichen. So jedenfalls ist in Orientierung an der für begriffsgeschichtliche Untersuchungsgänge grundlegenden Unterscheidung von Wort und Begriff zu vermuten. Zur methodologischen Normierung begriffshistorischer Quellenkritik und Textanalyse hat diese Unterscheidung wohl am bündigsten Quentin Skinner formuliert: „the persistence of […] expressions tells us nothing reliable at all about the persistence of the […] concepts“ (Skinner 1969: 39). Inwiefern die Verstehensbegriffe von A und B nun übereinstimmen und inwiefern sie voneinander abweichen, ermittelt der Begriffshistoriker, indem er untersucht, wie einerseits A und andererseits B das Wort Verstehen (als Subjektausdruck oder als Prädikat, als Explicandum oder als Explicans) verwenden. Denn wie anders als wortgebrauchsanalytisch sollte man den fraglichen Begriff bei A einerseits, bei B andererseits dingfest machen können? Diese Beschreibung des Zusammenhangs von Wortgebrauchsanalyse und Begriffsbildungsrekonstruktion ist nun gewiss keine falsche, allerdings auch keine zureichende Beschreibung der Methode begriffshistorisch verfahrender Philosophiegeschichtsschreibung. Wäre es doch eine grobe Verkürzung zu behaupten, dass der Verstehensbegriff von A und der Verstehensbegriff von B in nichts anderem als in der jeweiligen Verwendungsweise des sprachlichen Ausdrucks Verstehen durch A bzw. B be-
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stehen. Höchstens könnte man sagen, dass ihre Verstehensbegriffe auch darin bestehen. Für die jeweils konstituierten Verstehensbegriffe ist nämlich nicht nur entscheidend, was A bzw. B unter Verwendung des Wortes Verstehen über das Verstehen aussagen, es ist nicht minder belangvoll, was A bzw. B über Erkennen, Erklären und Interpretieren, über Bedeutung und Sinn, Referenz und Wahrheit, Rationalität und Geschichte, Mißverstehen und Nichtverstehen, Horizontabhebung, Horizontverschmelzung und vieles andere mehr zusammenhängend aussagen. So nämlich präzisieren, ergänzen und erweitern sie ihre Aussagen über das Verstehen. Begriffstheoretisch gewendet heißt das: Philosophische Begriffe sind – wie alle in Theoriezusammenhängen gebildeten Begriffe – je und je Elemente diskursiv strukturierter Begriffsgefüge. Sie sind Knotenpunkte in Netzen von Begriffen, die als Ober- oder Unter-, Gegensatz- oder Korrelativbegriffe in wechselseitiger Bestimmung aufeinander bezogen sind. Und diese komplexen, durch eine Vielzahl verschiedenartiger Relationen verknüpften Begriffsnetze sind ihrerseits Funktionen jener komplexen Aussagensysteme – jener Theorien –, die es zu rekonstruieren gilt, wenn die mit ihnen vollzogenen Begriffsbildungen oder Begriffsumbildungen angemessen erfasst werden sollen. „Begriffe“, so hat es der als Theoretiker der Begriffe und ihrer Historie zu Unrecht in Vergessenheit geratene Philosoph Nicolai Hartmann einmal gesagt, sind überhaupt keine selbständigen Gebilde. […] Der Begriff, als einzelner für sich genommen, ist immer arm an Bestimmtheit. Selbst die Definition, die seinen Gehalt explizieren soll, hilft hier nur wenig zurecht. Eine kurze Formel, selbst wenn sie nicht bloß Nominaldefinition ist, kann die fehlende Mannigfaltigkeit greifbarer Bestimmtheit nicht ersetzen. Die wirklich erschöpfende Begriffsbestimmung liegt einzig im weiteren Inhaltszusammenhang. Sie ist nirgends zu gewinnen als am Ganzen der […] Gedankenarbeit, in der der Begriff geprägt ist. Der Begriff hat eben seine Bestimmtheit außer sich (Hartmann 1949: 502f.).
Gute Begriffsgeschichtsschreibung weiß das und versteht sich daher als eine Form des Zugriffs auf Theoriegeschichte. Sie setzt ein beim theoretischen Detail: dem Begriff, zum Beispiel beim Begriff des Verstehens, um dieses Detail gut hermeneutisch aus dem Ganzen der Theorie des Verstehens zu rekonstruieren, der es – von ihr bestimmt und sie zugleich (mit-)bestimmend – angehört. Liefert aber die Abfolge der in der skizzierten Weise theorierekonstruktiv durchgeführten Analysen der Verstehensbegriffe der Philosophen A, B, C und D – nennen wir sie Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Ricœur –, schon eine Begriffsgeschichte? Was sie immerhin liefert, liegt auf der Hand. Sie liefert Differenzbefunde: unterscheidungstaugliche Kennzeichnungen von Begriffsbildungen, die in diachroner Aufschichtung
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begrifflichen Wandel sichtbar machen, wobei Begriffshistorikerinnen und Begriffshistoriker immer wieder neu vor der Alternative stehen dürften, die Stationen des Wandels von A zu B zu C zu D usw. entweder als Umbildungen an einem Begriff zu beschreiben – der dann zumindest als methodisches Subjekt einer Begriffsgeschichte unterstellt wird –, oder aber als Bildungen jeweils neuer Begriffe, die alle mit dem einen Begriffsnamen „Verstehen“ (bzw. seinen fremdsprachigen Äquivalenten) belegt worden sind und überdies in theoriegeschichtlich wohlbestimmten Relationen zueinander stehen. Wie immer man hier begriffstheoretisch und begriffsgeschichtstheoretisch optiert, ob für die Auffassung, es gebe die Geschichte eines verschiedene Gestalten durchlaufenden Begriffs, oder – an strengen Identitätskriterien für Begriffe orientiert – für ein Geschichtsmodell des Nach- und Nebeneinander unterschiedlicher Begriffe, die alle mit ein und demselben Begriffsnamen verknüpft worden sind, wichtig ist, dass die Differenzen zwischen den jeweils begriffsbildenden Aussagensystemen so präzise und übersichtlich wie möglich herausgearbeitet werden; und entscheidend für die Anwendbarkeit einer anspruchsvollen Rede von Begriffsgeschichte ist, dass einschlägige Unterschiede nicht nur konstatiert, sondern auch erklärt werden: Weshalb ändert sich bei welchen Philosophen was am Verstehensbegriff? Oder anders – den Wandel der Begriffe als ihren Wechsel interpretierend – formuliert: Aus welchen Gründen bildet C im Horizont des Verstehensbegriffs von A und B einen anderen, nämlich seinen Verstehensbegriff? Gute Begriffsgeschichten geben genau hierauf Antwort. Sie sind – in der Philosophie wie in anderen Disziplinen auch – erklärungsdichte Geschichten. Gute Begriffsgeschichten sagen uns beispielsweise nicht nur, dass Dilthey anders als vor ihm Schleiermacher ‚Verstehen‘ als Grundbegriff geisteswissenschaftlicher Erkenntnis zum Gegenbegriff von ‚Erklären‘ als Grundbegriff der induktiven Logik der Naturwissenschaften stilisierte.10 Gute Begriffsgeschichten erklären uns auch, wie es dazu kam. Sie arbeiten die wissenschaftsgeschichtlichen, die philosophiegeschichtlichen und die im weiteren Sinne geistes- und kulturgeschichtlichen Bedingungen wie überdies das argumentative Fundament, die Gründe, der Diltheyschen begriffs(um)bildenden Entscheidung heraus.11 Ob freilich Diltheys
10 „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. […] Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, vermittels derer wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren, von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt“ wird. So Dilthey in seinen 1894 publizierten „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“ (Dilthey 1957: 144). 11 Karl-Otto Apel hat dies im Artikel „Verstehen“ des Historischen Wörterbuchs der Philosophie auf vorbildlich erklärungsdichte Weise getan. Vgl. Apel 2001.
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Gründe, den epistemischen Erfolgsbegriff des Verstehens in einen wissenschaftstheoretischen Oppositions- und Dichotomisierungsbegriffs zu transformieren, gute Gründe waren, Gründe, die sich teilen lassen, ist eine andere Frage, die an dieser Stelle nicht zu diskutieren ist12, mich aber zu der für das Thema dieses Aufsatzes wichtigen Frage führt, wozu die begriffshistorische Aufarbeitung philosophischer Theoriegeschichte für Philosophen denn eigentlich gut sei. Inwiefern nützt sie ihnen? Darauf gibt es zwei Antworten. Eine historisch-antiquarische Antwort, die eigentlich gar keine Antwort, sondern das Abblocken der Frage ist, lautet: Es ist gut, wenn man als Philosoph theoriegeschichtlich und also auch begriffsgeschichtlich gebildet ist. Man sollte einfach wissen, wie es ehedem gewesen ist – mit den Theorien und ihren Begriffen. Eine andere, nicht nur für Historiker, sondern für Philosophen interessante Antwort hat Joachim Ritter im Vorwort zum ersten Band des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ gegeben. Ritters Antwort lautet, daß die Zuwendung zur Geschichte der Philosophie nicht mehr nur als antiquarische Forschung verstanden wird, sondern positiv zur erinnernden Vergegenwärtigung geworden ist, in der antike und spätantike Philosophie, Patristik und Scholastik ebenso wie die Erneuerungsbewegung der Philosophie in Humanismus und Aufklärung seit dem 16. und 17. Jahrhundert und auch die spekulativen Theorien des Idealismus nach Kant in ihren Begriffen und Theorien eine noch nie erreichte Präsenz gewonnen haben als das, wovon und worin die Philosophie in ihren gegenwärtigen Aufgaben sprachlich und begrifflich lebt. Die Scheidewand zwischen System und Philosophiehistorie ist durchlässig geworden. Was diese erarbeitet, geht in die Bewegung des philosophischen Gedankens als ein ihm in seiner Gegenwart Zugehöriges ein (Ritter 1971: VI).
Ritter versteht die Rekonstruktions- und Erklärungsleistungen der Begriffshistoriographie mithin als Instrument, als Reflexionsmedium systematischen Philosophierens. Im Beispielfall heißt das: Wer sich heute anschickt, als Philosoph verstehenstheoretisch zu arbeiten, wer sich anschickt, einen tragfähigen Begriff des Verstehens auszuarbeiten, der dem komplexen Gefüge jener kognitiven Kompetenzen und Leistungen angemessen ist, auf die wir uns beziehen, wenn wir von ‚Verstehen‘ sprechen, tut gut daran, sich verlässliche Orientierung darüber zu verschaffen, welche Fassungen des Verstehensbegriffs in welcher wie zu erklärenden Abfolge in der Geschichte der Philosophie erarbeitet, ergänzt, umgebaut und – zu Recht oder Unrecht – außer Geltung gesetzt worden sind. Ich finde diesen Gedanken ohne weiteres überzeugend und werde daher nicht weiter für ihn
12 Zur Kritik der dichotomisierenden Begriffsbildung Diltheys vgl. Patzig 1973 und Lübbe 2006.
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argumentieren. Nur eine Ergänzung sei noch angebracht, da Ritters These von der Gegenwartszugehörigkeit begriffsgeschichtlich rekonstruierter Theoriezusammenhänge auf unbefriedigende Weise vage bleibt. Soll die von Ritter reklamierte Zugehörigkeit keine unkritisch traditionalistische sein, so kann das Element, in dem sie sich herstellt und für jede philosophische Gegenwart erneuert, nur das eines begriffsbildungskritischen Dialogs gleichberechtigter Partner sein. Exemplarisch heißt das: Ich stelle meinen Begriff, mein Verständnis von Verstehen auf den Prüfstand der begriffshistoriographisch übersichtlich gemachten vergangenen und gleichwohl erwägenswerten Fassungen des Begriffs – und umgekehrt. Wo sie in dieser Weise dialogisch und begriffsbildungskritisch rezipiert wird, leistet die philosophiehistorische Begriffsgeschichtsschreibung einen produktiven Beitrag zur philosophischen Arbeit der Begriffsklärung selbst. 3. Dass das Forschungsprogramm des Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe“ keine bloße Parallelaktion philosophischer Begriffsgeschichtsschreibung repräsentiert, liegt auf der Hand. Verstand sich doch Kosellecks und seiner Mitstreiter Unternehmen ganz ausdrücklich als Transgression bloßer Theoriegeschichte und mithin als Verabschiedung der kontextvergessenen Ideen- und Geistesgeschichte alten Stils. Wie vernünftigerweise die philosophische Begriffshistorie für ihre theoriegeschichtlichen und theorieunterstützenden Zwecke auch behandelt Kosellecks geschichtswissenschaftliche Begriffshistoriographie dabei nicht die Geschichte von Begriffen, die sich isolieren ließen, sondern die Geschichte eines komplexen Begriffsnetzwerks, das ihr als Netzwerk jener „politischen und sozialen Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung“ gilt, „die, in der Folge der Zeiten, den Gegenstand der historischen Forschung ausmacht“ (Koselleck 1972: XX). Als Synonym für die zitierte Gegenstandskennzeichnung – „die geschichtliche Bewegung in der Folge der Zeiten“ – hat Koselleck wiederholt den Ausdruck „Sachgeschichte“, daneben auch die umfassenden Gegenstandsbegriffe „geschichtliche Realität“ oder „geschichtliche Wirklichkeit“ eingesetzt (Vgl. Koselleck 1972; Koselleck 2006: pass.). Unbeschadet der wechselnden Termini versteht Koselleck in allen einschlägigen Darlegungen „geschichtliche Wirklichkeit“ als einen hochkomplexen Interdependenzzusammenhang aus sozialgeschichtlichen, politikgeschichtlichen, wirtschaftsgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen, erfahrungs- und bewusstseinsgeschichtlichen Realitätsanteilen. Die Geschichte dieses hochkomplexen Interdependenzzusammenhangs im Spiegel der ihm durch begriffsbildende, begriffstransportierende und begriffstransformierende Texte vielerlei Art einverwobenen Bedeutungseinheiten zu erfassen, bildet das eigentliche Erkenntnisziel der begriffshistorisch ansetzenden Geschichtsschreibung Koselleckscher Prägung. Dass ihr zugleich ein theoretisch-
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methodologisch hoch reflektierter Gegenwartsbezug zugrundeliegt, dass Koselleck Begriffsgeschichte vorrangig als Historie der Moderne verstand und betrieb, muss ich an dieser Stelle nicht aufwendig rekapitulieren. Ich erinnere nur an den heuristischen Vorgriff der Lexikonarbeit der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, an die untersuchungsleitende „Vermutung“, dass sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen hat, daß alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind. Der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine Sattelzeit ein, in der sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt (Koselleck 1972: XVIII).
Um die Sattelzeit der Moderne auszumessen hat Koselleck – soweit ich sehe als einziger unter den großen Begriffshistorikern unserer Zeit – einen Kriterienkatalog modernitätskonstitutiven Wandels begrifflich kondensierter Bedeutungseinheiten bereitgestellt. Man erinnert sich: Die ‚Demokratisierung‘, die ‚Verzeitlichung‘, die ‚Ideologisierbarkeit‘ und die ‚Politisierung‘ der (geschichtlich überkommenen oder neuzeitlich allererst geprägten) Begriffe sind es, die Koselleck zufolge der politisch-sozialen Sprache der Moderne im Kontrast zum Begriffshaushalt der alteuropäischen Welt ihr spezifisches Gepräge geben (vgl. Koselleck 1972: XXI-XIII). Koselleck selbst hat freilich nachdrücklich betont, dass die genannten Kriterien allesamt zu empirischer Erprobung aufgegeben seien und dass mit ihnen keinerlei Anspruch auf kriteriologische Vollständigkeit erhoben werde.13 Dieser Hinweis scheint mir nun wichtig zu sein im Hinblick auf die in jüngster Zeit vermehrt öffentlich werdenden Ambitionen auf eine Fortschreibung der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ für das 20. Jahrhundert. Ist es doch offensichtlich, dass Kosellecks Kriterienkatalog ganz auf den
13 Vgl. Koselleck 1972: XVI-XIX. Zusammenfassend heißt es dort zum untersuchungspraktischen Status dieses Kriterienkatalogs: „Alle genannten Kriterien, die Demokratisierung, die Verzeitlichung, die Ideologisierbarkeit und die Politisierung bleiben unter sich aufeinander verwiesen. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit behalten sie heuristischen Charakter, um den Gebrauch neuzeitlicher Terminologie gegen deren vorrevolutionäre Zusammenhänge abgrenzbar zu machen. Aus dem heuristischen Vorgriff folgt nun keineswegs, daß ihn die Geschichte jedes Begriffs bestätigen müßte. Vielmehr gibt es zahlreiche Konstanten, die sich über die Schwelle von etwa 1770 hinweg durchhalten. Um die Ausdrücke in ihrer Andersartigkeit – oder Gleichartigkeit – während der Zeit vor rund 1770 zu erkennen, bedarf es deshalb des Rückgriffs in die Vorvergangenheit, die wieder ihre eigene Geschichte hat. Diese mag von Wort zu Wort verschieden sein und wird deshalb in zeitlich unterschiedlicher Tiefe zurückverfolgt. Die Entstehung der Neuzeit in ihrer begrifflichen Erfassung ist nur nachvollziehbar, wenn auch und gerade die früheren Sinngehalte der untersuchten Worte oder wenn die Herausforderung zu Neubildungen mit in den Blick gerückt werden“ (XVIIIf.).
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„Umwandlungsprozeß zur Moderne“ abstellt, die begriffsgeschichtlichen Umwandlungsprozesse innerhalb der Moderne zu erfassen jedoch nicht anstrebt. Aber selbstverständlich waren die begriffsgeschichtlichen Umwandlungsprozesse innerhalb der Moderne, also innerhalb „unserer Präsenz“, von der Koselleck in der Einleitung zum ersten Band der „Grundbegriffe“ bei aller Betonung von Beschleunigung bisweilen wie von einer semantisch stabilen, einer in sich unbewegten Einheit spricht, durchaus erheblich und folgenschwer. Sie zu untersuchen, bedürfte es einer Ergänzung des Koselleckschen auf die Sattelzeit des 18. Jahrhunderts abzielenden Katalogs epochaler Trends und Tendenzen im politisch-sozialen Begriffshaushalt. Dazu würde etwa das Tendenzmerkmal einer exponentiell wachsenden ‚Szientifizierung‘ politisch-sozialer Begriffe gehören, die in der entfalteten Moderne eben nicht nur von staatlichen und gesellschaftlichen Handlungseinheiten benutzt, sondern parallel dazu auch von wissenschaftlichen Beobachtungsinstanzen reflektiert werden, wobei die institutionalisierte wissenschaftliche – zum Beispiel politikwissenschaftliche oder rechtswissenschaftliche – Reflexion der politisch-sozialen Begriffe unter den kommunikativen Bedingungen der Mediengesellschaft ihrerseits in den politischen Handlungsraum einstrahlt und wirkt.14 Ferner wäre zur Ergänzung der Koselleckschen Kategorie der Verzeitlichung von Begriffen, also ihrer Aufladung mit den Erwartungsmomenten futurisch orientierter Geschichtsphilosophie, über die Kategorie der ‚Entzeitlichung‘, verstanden als Auflösung oder Abschwächung ehedem dominant gewesener futurischgeschichtsphilosophischer Begriffsbesetzungen, nachzudenken. So hat etwa der im 18. und 19. Jahrhundert durch und durch futurisch-geschichtsphilosophisch geprägte Begriff des ‚Fortschritts‘ in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine unverkennbare Entzeitlichung erfahren: ablesbar an der semantischen Entkoppelung lokaler Fortschritte (im Plural) von der Zielgerichtetheit des einen Fortschritts futurischer Geschichtsphilosophie (im Singular). Es dürfte sich lohnen, analoge Entzeitlichungen im Begriffshaushalt der politisch-sozialen Sprache des 20. Jahrhunderts zu erkunden. Abschließend soll hier indessen noch von einer anderen, der m.E. weittragendsten theoretisch-methodischen Innovation Kosellecks für die Begriffsgeschichtsschreibung die Rede sein. Als Historie der durch die Aufklärung, die Französische und die industrielle Revolution und beider Folgelasten geprägten Heraufkunft der Moderne ist die Begriffshistorie Koselleckscher Prägung zentral Historie konfliktgeborener und ihrerseits konfliktträchtiger Auslegungen politisch-sozialer Begriffe, die von Koselleck denn auch in einem Doppelstatus gesehen werden: als Indikatoren
14 Ausführlicher hierzu Dutt 2010 und – empirisch gesättigt – Geulen 2010.
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wie als Faktoren geschichtlicher Lagen (vgl. Koselleck 1972: 122). Die methodisch belangvolle Konsequenz hieraus ist, dass die Historie politisch-sozialer Begriffe nicht nur historische Semantik, sondern zugleich historische Pragmatik der von ihr untersuchten Einheiten zu sein hat. Als historische Pragmatik ermittelt die Begriffshistorie den geschichtlich sich wandelnden Handlungssinn, die kommunikative Funktion von Begriffen in situierter Verwendung: vom Flugblatt über das Parteiprogramm und die Parlamentsrede bis hin zum zeitdiagnostischen Essay und zum kulturkritisch ambitionierten Roman. Es versteht sich in diesem Zusammenhang, dass die Rekonstruktion der pragmatischen Dimension von Begriffen den Weg über die Rekonstruktion der pragmatischen Dimension derjenigen Texte zu nehmen hat, in denen die jeweils untersuchungsgegenständlichen Begriffe gebildet oder transportiert oder transformiert und so oder so zum Einsatz gebracht werden. Man vergegenwärtige sich die lange Liste der einschlägigen Begriffsfunktionscharakteristiken, für die Koselleck einprägsame Etiketten gefunden hat: Aktionsbegriff, Bewegungsbegriff, Erfahrungsregistraturbegriff, Erfahrungsstiftungsbegriff, Erwartungsbegriff, Feindbegriff, Identifikationsbegriff, Integrationsbegriff, Kampfbegriff, Kompensationsbegriff, Legitimationsbegriff, Vorgriff, Zielbegriff und weitere mehr.15 Es kann hier nicht darum gehen, das neuzeitgeschichtlich realisierte Spektrum der Pragmatik politisch-sozialer Begriffsbildungen und Begriffsverwendungen illustrierend auszubuchstabieren und seine Beschreibung auf der Grundlage des von Koselleck in vielen Einzeldurchführungen Geleisteten zu systematisieren. Vielmehr kommt es mir darauf an, das von Koselleck bereitgestellte Kategoriengerüst auch dem Projekt einer politisch-sozialen Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu empfehlen. Will die geschichtswissenschaftliche Begriffshistoriographie den Spielraum ihrer Erkenntnismöglichkeiten konsequent ausschreiten, so hat sie eine konsequente, ihre weitere Arbeit verpflichtende Methodisierung der Reflexion auf die pragmatische Dimension von Begriffen in Angriff zu nehmen.
15 Vgl. hierzu die einschlägigen Auffächerungen des Begriffs- und Sachregisters in Koselleck 2006.
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Carsten Dutt
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Bernhard Jussen (Frankfurt/Main)
Historische Semantik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft Der folgende Beitrag wird mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Anmerkung beginnen, dann aktuelle Arbeitsweisen in der Mittelalterforschung skizzieren und abschließend die gegenwärtigen Probleme benennen.
1. Eine wissenschaftsgeschichtliche Anmerkung Wissenschaftsgeschichtliche Darstellungen der Historischen Semantik in der Geschichtswissenschaft laufen normalerweise, und mit gutem Grund, rückblickend auf Quentin Skinner und John Pocock für die anglophone und Reinhard Koselleck für die germanophone Tradition zu. Es ist nicht zu übersehen, dass mit diesen Forschern die historisch-semantische Neugierde theoretisiert und die Forschungsrichtung, die wir heute Historische Semantik nennen, institutionalisiert worden ist. Gleichwohl scheint es mir angemessen, die Ahnenreihe noch eine Generation zurückzuverlegen, und die Wissenschaftsgeschichte der Historischen Semantik bis zu Ernst Kantorowicz‘ berühmtem Werk „The king’s two bodies“ von 1957 zurückzuführen (vgl. Jussen 2009). Kantorowicz hat nur einmal – im letzten Teil des Buches – sein zentrales Interesse bezeichnet als “what may perhaps be termed constitutional semantics” (Kantorowicz 1957: 354). Diese vereinzelte Formel aus den letzten Seiten des Buches herauszupicken, mag insofern nicht ganz illegitim sein, als Kantorowicz die Formel anscheinend gelungen fand; jedenfalls hat er sie in das Buch übernommen aus einem seiner Aufsätze des Jahres 1954 (Kantorowicz 1954: 502). Grosso modo allerdings hat „The king’s two bodies“ bei Kantorowicz‘ zeitgenössischen Lesern kaum einmal das Schlagwort „Semantik“ oder (wie in Edwart Lewis‘ Rezension von 1958) „politische Semantik“ ausgelöst. Sein sehr vorsichtiger Vorschlag eines akademischen Labels – constitutional semantics – ist ein guter Hinweis auf die Probleme, mit denen Kantorowicz gekämpft hat: Das akademische Feld, das er in diesem Buch
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abschreitet, konstitutionelle Semantik oder politische Semantik vor der Erfindung des Staates, ist erst durch die Generation nach ihm theoretisiert worden – durch Reinhard Koselleck, Quentin Skinner, Jacques Guilhaumou und andere. Und erst heutige Forscher haben die Mittel, um mittelalterlichen Texten die Informationen zu entlocken, für die Kantorowicz sich interessiert hat. Kantorowicz sprach in dem Buch unentwegt über „political language“ und „concepts“, über „formulas“, „patterns“ und „texture“, über „notions“ und ihre „significance“, über den besonderen Sound („peculiar ring“) oder „undertone“ von „nomenclature“ und „terminology“, über „idioms“ oder „ciphers.“ Er konzentrierte sich auf „slight variation“, auf „seemingly insignificant shifts“ und die Art, wie sie eindrangen („penetrated“) in kollektive Vorstellungen. Oft benutzte er Formeln wie „Sprache und Denken“ oder „Sprache und Theologie“, ganz so, als schriebe er ein Buch über die Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten. Sein besonderes Augenmerk galt den Reservoirs für die Rekrutierung von politisierbaren Termini. Es galt den shifts in late medieval nomenclature, often hardly perceptible and yet very telling, [that] were on the surface symptoms of evolutions in far deeper strata of Western religious sentiments (Kantorowicz 1957: 93).
Wir würden heute Nomenklatur nicht länger als ein Phänomen on the surface bezeichnen, aber grosso modo sind Kantorowicz’ Formulierungen nur leicht verschieden von einem heutigen geschichtswissenschaftlichen Interesse an semantischen Figurationen, Diskursen oder mentalen Orientierung. Allerdings kollidierte Kantorowicz‘ methodisches Interesse an konstitutioneller Semantik mit seinem akademischen Training und seinen Fähigkeiten als Ideengeschichtler. Er war weit entfernt von einer empirischen Strategie, die slight shifts in notions, sound oder einen peculiar ring hätte erforschen können. Es sieht so aus, als sei er gefangen gewesen in den Techniken der Ideengeschichte, als seine Interessen sich Feldern zuwandten, die damals völlig unbeackertes Neuland waren (vgl. Jussen 2009). Heute ist Kantorowicz’ Neugierde an linguistischen Formationen ein institutionalisiertes akademisches Feld, das man im deutschen Sprachraum „Historische Semantik“ nennt. Zu seiner Zeit war dies nicht der Fall, für mehrere Jahrzehnte fehlte dem Buch der akademische Resonanzraum. Insofern scheint mir, dass „Die Zwei Körper des Königs“ als ein Pionierwerk der Historischen Semantik anzusehen sind, geschrieben lange bevor die Impulse von Reinhart Koselleck oder Quentin Skinner unter Historikern produktiv wurden. Michel Foucault, der Kantorowicz‘ Buch berühmt gemacht hat, mag nicht nur von dem zentralen Bild des doppelten Körpers angezogen worden sein, sondern auch von dem zentralen Anliegen der Institutionalität der Sprache.
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Dieser Aspekt der Disziplingeschichte der Historischen Semantik wäre noch nachzutragen. Die Hauptgeschichte – beginnend mit Skinner und Koselleck in den 1970er Jahren über die Diskussionen bis zur Jahrtausendwende (summiert von Reichardt 1998, Lüsebrink 1996 oder Lottes 1998) bis zu den aktuellen Diskussionen, beginnend mit Steinmetz‘ „Das Sagbare und das Machbare“ (Steinmetz 1993) – ist oft genug erzählt worden, zuletzt von Willibald Steinmetz (vgl. Steinmetz 2008). Anzumerken bleibt lediglich, dass die Historische Semantik sich in der Geschichtswissenschaft gegenwärtig von einer auf Sprache bezogenen Wissenschaft entwickelt zu einer vergleichenden Wissenschaft Bedeutung erzeugender Medien. Schon Koselleck und Skinner haben damit gerungen, ihre Ansätze auch auf visuelle Medien zu übertragen, Koselleck mit Blick auf den politischen Totenkult (vgl. Koselleck/Jeismann 1994 sowie Koselleck 1998), Skinner insbesondere mit Blick auf Ambrogio Lorenzettis berühmte Allegorie der guten und schlechten Regierung in Siena (vgl. z. B. Skinner 2009). Erst die Diskussionen um die Notwendigkeit eines iconic turn in der Geschichtswissenschaft haben diese schon früh angelegte Erweiterung zu einer breit geteilten Haltung gemacht (zu den Pionierwerken gehört Herding und Reichardt 1989; vgl. jetzt die Bände der Reihe „Historische Semantik“ bei Vandenhoeck & Ruprecht).
2. Gegenwärtige Diskussionen Mit Blick auf die aktuelle Situation ist zunächst zu konstatieren, dass die Historische Semantik in der Geschichtswissenschaft bis in die aktuelle Generation der Hochschullehrer und -lehrerinnen hinein eine zwar etablierte, aber randständige Position gewesen ist. Dies ändert sich gegenwärtig rapide. Derzeit schließt eine Alterskohorte ihre Dissertationen ab, für die – bei aller Diffusität – das Konzept Diskurs zur akademischen Frühsozialisierung und zu den fraglos konstitutiven Perspektiven historischen Arbeitens gehört. Die aktuellen Absolventen von Promotionen sind die erste Generation, für die die Termini Diskurs und Habitus zum akademischen Grundwortschatz gehören und für Kerntechniken der Quellenkritik stehen. Damit gehören auch linguistische Beobachtungen erstmals zum Normalbestand historischen Beobachtens. Noch in meiner Generation kamen die Worte Diskurs und Habitus im Geschichtsstudium praktisch nicht vor und erforderten in Dissertationen einen Verteidigungsaufwand, wenn sie nicht gar Gefahr bargen. Die jüngst Promovierten sind die ersten, für die der immense Aufwand der Digitalisierung großer Quelleneditionen nicht nur die Bequemlichkeit erhöht, sondern auch die Methoden verändern soll. Zur Erinnerung: Mi-
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gnes „Patrologia Latina“ ist erst seit 1995 vollständig digital verfügbar, anfangs zu einem Verkaufspreis, den sich die meisten Institutionen nicht geleistet haben. Die Nationallizenzen gibt es erst seit wenigen Jahren, erst sie machen das Material wirklich zugänglich. Kurzum: Seit nicht einmal 15 Jahren – seit der mengenweisen Bereitstellung von Digitalisaten – gibt es die Chance, eine fundamentale Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft, die schon vor Jahrzehnten entwickelt worden ist, in eine Fachkultur zu übersetzen. Garant dafür ist eine Forschergeneration, in der – etwa mit Diskurs und Habitus – Konzepte der Quellenkritik zum Normalformat geworden sind, die die Distanz zwischen so genannter Realgeschichte und Ideengeschichte abschaffen. Noch in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ standen diese beiden Perspektiven unverbunden nebeneinander. Auch ein weiterer forschungspraktisch sehr wichtiger Impuls gehört erst in neueren Doktorarbeiten zum unbefragten intellektuellen Normalformat – die Transdisziplinarität. In diesem einen Punkt immerhin hat der förderpolitisch erzwungene Trend zur Verbundforschung in Sonderforschungsbereichen etwas Gutes bewirkt, und es hat drei Jahrzehnte gedauert, bis nach der Einführung dieses wissenschaftlichen Förderinstruments die Transdisziplinarität in der Universität als Normalform des Diskutierens und Lehrens angekommen ist. Dies war zu Kosellecks Zeit nicht der Fall. Noch als Gerd Fritz sein Buch über Historische Semantik geschrieben hat (1998), kam die geschichtswissenschaftliche Diskussion nach Koselleck nicht vor. Auch seine Generationsgenossen in der Geschichtswissenschaft, Günter Lottes, Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt, haben in ihren etwa zur gleichen Zeit publizierten Bilanzen des state of the art keinen allzu intensiven Blick auf die Nachbarfächer geworfen (vgl. Fritz 1998 sowie Lottes 1998, Lüsebrink 1996 und Reichardt 1998). Jetzt erst läuft die Transdisziplinarität langsam besser. Was den gegenwärtigen Stand der Historischen Semantik in der Geschichtswissenschaft angeht, so dürfte das Auffälligste zunächst die Wendung der Historischen Semantik ins Kulturwissenschaftliche sein. Seit 2003 wird dieses Konzept etwa erprobt in der Reihe „Historische Semantik“ bei Vandenhoeck & Ruprecht, hg. von dem Literaturwissenschaftler Christian Kiening, dem Kunstwissenschaftler Klaus Krüger, dem Modernehistoriker Willibald Steinmetz (seit 2008), und den Mittelalterhistorikern Gadi Algazi (bis 2008), Ludolf Kuchenbuch (bis 2008) und Bernhard Jussen. Ziel ist einerseits, Historische Semantik stärker als geschichtswissenschaftliches Normalformat zu etablieren, andererseits aber, Historische Semantik umzudefinieren. Der Literaturwissenschaftler Klaus Grubmüller sah in der Reihe „die Entleerung des Semantik-Begriffs zum Schlagwort“ (Grubmüller 2003: 48), andere – etwa Manuel Braun (vgl. Braun 2006) – halten
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die Reihe für die Wendung zu einem kulturwissenschaftlichen Konzept von Historischer Semantik. Der kleine Programmtext der Reihe skizziert die Weitung des Konzepts sowie die Öffnung zu wichtigen Diskussionen in der Geschichtswissenschaft der letzten Dekaden. Er sei kurz erläutert: Historische Semantik erforscht die Bedingungen, Medien und Operationen der Sinnerzeugung in vergangenen Gesellschaften. Dies ist von einem linguistischen Konzept recht weit entfernt. Sie fragt nach den Voraussetzungen jener Bedeutungsgeflechte, mit denen Kulturen ihr Wissen, ihre Affekte und Vorstellungen ausdrückten. Historische Semantik richtet den Blick auf die Verschiedenheit sprachlicher und textlicher, bildlicher und klanglicher, ritueller und habitueller Ausdrucksmittel. Im Zentrum steht also der Versuch, verschiedene Medien der Bedeutungserzeugung zusammen zu beobachten. Sie durchleuchtet das Mit- und Nebeneinander der Medien kultureller Orientierung und Wissensorganisation, ihre unterschiedlichen Potentiale und Semantisierungsmöglichkeiten. Dieser Anspruch zielt auf einen noch kaum begangenen Forschungsweg, der von der an sich simplen Annahme ausgeht, dass Kulturen sich stark unterscheiden in der Gewichtung ihrer Ausdrucksmittel (Sprache, Text, Bild, Klang, Ritual, Tanz, Habitus) und im spezifischen Einsatz der Ausdrucksmittel – zum Beispiel zur Traditionsbindung einerseits oder zur Überschreitungserprobung andererseits. In Russland beispielsweise war Malerei bis ins 18. Jahrhundert ein Medium der Traditionsbindung (Ikonen), im lateinischen Europa ein Medium der Überschreitungserprobung spätestens seit der Renaissance. Ein für Historiker besonders wichtiger Aspekt dieses revidierten Konzepts von Historischer Semantik nimmt ein Problem in den Blick, das Luhmann unter dem Titel „Semantik und Sozialstruktur“ vermessen hat: Historisch spezifische Semantiken sind immer als Dimensionen von Sozialstrukturen erforschbar. In den Blick rücken damit die Techniken und Diskurse, Regeln und Strategien, mit denen Bedeutungen jeweils erzeugt, durchgesetzt oder bekämpft, reguliert, stabilisiert, marginalisiert oder transformiert wurden. In der Geschichtswissenschaft ist die Beziehung von Semantik und so genannter Sachgeschichte seit den Anfängen der Historischen Semantik als besonderes Problem wahrgenommen worden (vgl. Steinmetz 2007). Die Aneignung der Luhmann’schen Konzepte verläuft schleppend, auch die Konzepte Diskurs und Habitus haben sich erst seit den 1990er Jahren durchgesetzt, ebenso – angeregt durch die Sozialanthropologie – die theoretische Durchdringung des Ineinander von Mikro- und Makroperspektive. Der Historischen Semantik gibt die Aneignung dieser Konzepte neuen Schub, da die semantische Analyse der Königsweg ist, um die in Diskurs und Habitus methodisch gefasste Form kultureller Institutionalität auch empirisch zu fassen. Ständig neu ausgehandelt zwischen situativer Vielfalt und diskursiver Fixierung, sind Bedeutungen zugleich mikrohistorische
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und makrohistorische Phänomene. Sie fordern dazu heraus, mikroskopische Tiefenbohrung und makroskopischen Kulturvergleich zu kombinieren. Die Herausforderung sowohl für die Erkenntnis als auch für die Darstellung besteht darin, historische Zustände so zu beschreiben, dass sie zugleich als instabil (in jeder Situation) und als stabilisiert (im Diskurs für eine gewisse Zeit) erscheinen. Eine besondere Herausforderung ist für Historiker zudem, dass erst in den letzten beiden Jahrzehnten die Akteurszentrierung des historischen Arbeitens durchgesetzt worden ist. Wie, so mag man das Problem umschreiben, erforscht man kulturelle Stillstellung von Bedeutung, wenn diese per Definition (1) nicht in einer einzelnen Situation greifbar ist und (2) keinem steuernden Akteur folgt. Es geht hier um die Integration von Emergenzphänomenen in die geschichtswissenschaftliche Methodendiskussion.
3. Corpuslinguistische Fundierung Digitale Editionen sind erst der halbe Weg. Die andere Hälfte des Weges sind elaborierte Programme zur semantischen und syntaktischen Auswertung von Corpora. Bislang wurden die meisten Programme von Forschenden mehr oder weniger improvisiert für den eigenen Bedarf, nicht aber als grundsätzliches Arbeitsinstrument entworfen, das es dem Fach erlaubt, schnell, einfach und zuverlässig semantische Beobachtungen zu machen. Mit dem 1993–1995 publizierten digitalen Migne – einem Pionierwerk – lassen sich bis heute keine semantischen Auswertungen machen. Digitale Editionen werden durchweg mit einer Retrieval-Software angeboten, die nicht mehr erlaubt als eine angenehme Suche nach Belegstellen. Allgemein zugängliche Programme zur Auswertung etwa von Kookkurrenzen gibt es bis heute nicht. Uns stehen zwar die digitalen Texte zur Verfügung, aber erst in Ansätzen die Auswertungsinstrumente. Dieses Desiderat, das Fehlen von Auswertungsinstrumenten für digitale Texte, ist für die geschichtswissenschaftliche Historische Semantik derzeit das gravierendste. Die Universität Frankfurt hat soeben die Möglichkeiten geschaffen, derartige Auswertungsinstrumente in Kooperation von Geisteswissenschaftlern und Informationstechnologen zu erarbeiten – zunächst durch die Einrichtung einer Arbeitsstelle für geisteswissenschaftliche Fachinformatik im Historischen Seminar, dann durch Umwandlung dieser Arbeitsstelle in eine neue Professur für geisteswissenschaftliche Fachinformatik, insbesondere Texttechnologie (Alexander Mehler), und eine entsprechende Juniorprofessur. Die Frankfurter Verbundforschung zu Digital Humanities ist weitgehend auf die von dieser neuen Professur
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geleistete Forschung im Bereich Corpusmanagement und Texttechnologie zugeschnitten. Der Kern der Kooperation zwischen Geschichtswissenschaft und Fachinformatik im Bereich der textbezogenen Forschung ist das Programm Historical Semantics Corpus Management (HSCM). Das Programm greift auf ein umfangreiches und beliebig erweiterbares Reservoir an – zunächst lateinischen – Texten zu, aus denen sich einzelne Benutzer oder Benutzergruppen Corpora zusammenstellen (im Corpus Manager) für die kontrollierte, korpusbezogene Untersuchung von Kookkurrenzen. Die Qualität der Ergebnisse hängt natürlich nicht zuletzt von der Qualität der digitalen Editionen ab. Zum Aufbau des Systems wurden zunächst die Texte der Migne Patrologia Latina verwendet, nun müssen sukzessive neuere Editionen eingebaut werden. Für die informationstechnologische Erörterung des Programms verweise ich auf die Aufsätze der beteiligten Kollegen (Jussen et al. 2007, Mehler et al. 2009, Mehler et al. 2010, Gleim et al. 2009). Zunächst liefert das Programm Trefferlisten, wie man sie aus kommerziellen Angeboten kennt (jeweils ganze Sätze, die die gesuchten Worte enthalten). HSCM erlaubt dann aber, diese Trefferlisten weiter zu verarbeiten. Als Beispiel mögen die 836 Sätze aus dem Dialogus des Wilhelm von Ockham dienen, in denen eine Form des Lemmas auctoritas vorkommt. HSCM transformiert diese Sätze zunächst in eine Kookkurrenztabelle. Diese zeigt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Wort im gleichen Satz auftaucht wie auctoritas. Der größte Nutzen des Programms ist die Möglichkeit, diese Kookkurrenztabelle mit einer oder mehreren weiteren Tabellen zu vergleichen, zum Beispiel mit einem anderen Wort (etwa potestas) im selben Text oder mit dem gleichen Wort auctoritas in einem anderen Text, z.B. im Policraticus des Johannes von Salisbury (112 Treffer). Der Vergleich liefert in diesem Beispiel folgende Beobachtungen zu den Kookkurrenten von auctoritas in Wilhelms Dialogus und Johannes von Salisbury’s Policraticus (siehe Abb. 1). Die obere Gruppe zeigt Kookkurrenten, die bei Johannes häufiger als bei William zusammen mit auctoritas gebraucht werden, die mittlere Gruppe zeigt Termini, die annähernd gleich präsent bei beiden Autoren sind, und die untere zeigt solche, die bei William als Kookkurrenten von auctoritas präsenter sind als bei Johannes. Sinnvoll werden solche Tabellen erst durch die gewohnte hermeneutische Arbeit, allerdings liefern die Tabellen eine empirische Basis für Aussagen über Sprachgewohnheiten, die für eine Großzahl von Interpretationen bedeutend sein dürfte. Mit Strukturbeobachtungen dieser Art in der Sprache werden hermeneutisch erzielte, fest verankerte Narrative (z.B. der politischen Ideengeschichte) überprüfbar und korrigierbar. Im Idealfall finden sich Beobachtungen, die in keiner Weise – weder bestätigend noch korrigierend – auf die Ideenge-
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Abb. 1: Kookkurenten von auctoritas in William von Ockhams Dialogus und in John of Salibury’s Policraticus
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schichte verweisen, sondern für die geschichtswissenschaftliche Mediävistik neue Felder öffnen. Ein Beispiel (vgl. Jussen 2006): Wer in dem Standardwerk „Geschichtliche Grundbegriffe“ den Artikel Stand, Klasse aufschlägt, findet die Annahme, dass ordo, status und gradus austauschbare Termini waren. So steht es auch in allen anderen Handbüchern und Lexika. Wer eine semantische Untersuchung in der vorgestellten Art macht, wird beobachten, dass diese Aussage zwar grundsätzlich stimmt. Die drei Termini waren prinzipiell austauschbar und sind auch manchmal ausgetauscht worden. Aber statistisch gesehen wurden sie in sehr verschiedenen Zusammenhängen benutzt – ordo im Kontext metaphysischer Spekulation, gradus im Kontext religiöser Mahnrede. Die prinzipiell austauschbaren Worte wurden faktisch nicht ausgetauscht, was so lange uninteressant war, wie diese Stelle der politischen Semantik nicht belastet wurde. Zwischen den beiden Worten war ein kleiner, unsichtbarer Riss, der erst im Konfliktoder Bedarfsfall relevant wird – etwa (dies ist im Moment eine Hypothese) in den Stadtrepubliken, die sich nicht mehr über ordo-Konzeptionen legitimierten. Ein corpuslinguistisch agierender Ansatz muss manches von dem offen legen, was ein hermeneutischer Ansatz verdeckt halten kann.
4. Probleme Wo sind derzeit die Probleme? Das (aus der Sicht der Historiker) größte Problem sind die Lexika, also jene Datenbanken, die jeder Wortform eine lexikalische Grundform und eine syntaktische Markierung zuweisen. Programme zur Ko-Okkurrenz-Analyse sind nur so gut wie die Lexika im Hintergrund (also die Beziehung der Wortformen auf eine lexikalische Grundform sowie die Kapazität des Programms, die syntaktische Konstruktion zu verstehen). Der Aufbau eines lateinischen Lexikons durch die Arbeitsgruppe um Alexander Mehler schreitet derzeit sehr gut voran. Ein weiteres Problemfeld sind Parallelcorpora. Aus Sicht der Althistorie und der Frühmittelalterforschung ist es vielversprechend, dass der Frankfurter Verbund soeben damit begonnen hat, auch griechische Texte einzubeziehen und ein griechisches Lexikon aufzubauen. Dabei geht es darum zu beobachten, was sich in der Spätantike des vierten und fünften Jahrhunderts durch die Übersetzung der griechischen Kirchenschriftsteller ins Lateinische auf der semantischen Ebene verändert hat. Das Nadelöhr wird auch hier der Aufbau des griechischen Lexikons sein (Jussen, Leppin, Mehler). Besonders problematisch ist die Corpuskontrolle. Die Notwendigkeit der Corpusbasierung war an sich nie umstritten (schon in Kosellecks
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Einleitung zu den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ nicht), wurde aber kaum eingelöst. Das besondere Bedürfnis von Historikern – im Gegensatz etwa zum Leipziger Wortschatz ist, dass Historiker eine diachrone Staffelung brauchen. Die Frage, wie ein sinnvoll zugeschnittenes Corpus aussehen muss, habe ich für die von mir verantworteten Projekte vorerst so beantwortet, dass ein Corpus immer nur ein Text ist (oder eine Brief- oder Predigtgruppe eines Autors). Nur so kann ich dem Vorwurf der Beliebigkeit entgehen. Diese Corpora, die nach hermeneutischen Kriterien als kohärente Einheiten akzeptiert werden können, lassen sich in diachrone Reihen von Texten einer Gattung sortieren: etwa eine Reihe von Apokalypsekommentaren von der Patristik bis ins Späte Mittelalter, eine Reihe Sermones, eine Reihe Chroniken und so weiter. Ein Wort, ein Lexemverband oder eine Phrase kann auf diese Weise durch ein nach Zeiten und Textsorten differenziertes Raster von Texten verfolgt werden. Da das Programm HSCM erlaubt, die verschiedenen Kookkurenztabellen miteinander zu vergleichen, sind semantische Veränderungen zwischen Zeiten und Textsorten leicht zu beobachten. Dies alles ist ohne Zweifel erst ein Anfang. Große Fortschritte wird zum Beispiel (1) die Ergänzung der Kookkurenztabellen durch Graphen bringen, die nicht nur die Relation der Kookkurenten zu einem Schlüsselterminus erkennen lassen, sondern auch die Relation der Kookkurenten untereinander, (2) die Ergänzung der Arbeit mit Lexemen um die Arbeit mit Lexemverbänden oder Phrasen, oder (3) die Verbesserung der zu Grunde liegenden Editionen.
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Anja Lobenstein-Reichmann (Heidelberg / Mannheim)
Historische Semantik und Geschichtswissenschaften – Eine verpasste Chance? Hans-Jürgen Goertz schreibt in seiner „Einführung in die Geschichtstheorie“ (Goertz 1995: 148). Geschichte ist nicht Sprache, und doch existiert sie für uns nur, indem sie zur Sprache gebracht wird. […]. Das ist ein Dilemma: Sprache verstellt uns Geschichte, wie jede Vermittlung, Übertragung und Übersetzung einen Verlust an Ursprünglichkeit darstellt. Aber Sprache erschließt uns auch Geschichte. Sprache ist übrigens nicht nur das Mittel, das wir einsetzen, um zur Erkenntnis von Geschichte zu gelangen. Sie ist sogar nicht in erster Linie Medium, sondern der Modus, in dem Geschichte uns entgegentritt. So ist Sprache kein beiläufiges Thema der Geschichtstheorie, um so erstaunlicher ist, daß sie in den einschlägigen Werken zur Geschichtstheorie kaum Beachtung gefunden hat.
Er begründet dieses Fehlen, indem er u. a. auf K.-G. Fabers „Theorie der Geschichtswissenschaft“ (1972, 147) verweist. Faber ist sich […] der Schwierigkeit bewußt, in die Historiker geraten, wenn sie sich dem Problem der Sprache stellen, nämlich „zwangsläufig in das Labyrinth semantischer und sprachphilosophischer Auseinandersetzungen“ entführt zu werden. Das erklärt die Zurückhaltung, die Historiker sich auferlegt haben, wenn Sprache zur Diskussion steht.
Schon die erste Aussage des Zitates von Goertz, dass Geschichte nicht Sprache sei, ist textlinguistisch nur dann als sinnvoll zu verstehen, wenn man annimmt, was mit der Negation auch präsupponiert wird, dass es Menschen gibt, die meinen, ‚Geschichte‘ und ‚Sprache‘ seien im Grunde eins. Dieser These zufolge würden die beiden Disziplinen ihren Gegenstand verlieren und in einem allgemeinen Komplex gesellschaftsbezogener (kultur)wissenschaftlicher Tätigkeit aufgehen, die man als kulturhistorische Textwissenschaft bezeichnen könnte. Das Unbehagen des Autors über eine solche Möglichkeit ist offensichtlich. Trotz der als Prämisse eingeführten Abwehr gegen diesen Gedanken folgt etwas verräterisch: ‚Geschichte‘ existiert nur, indem sie „zur Sprache gebracht“ wird. Die Partikeln doch
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und nur weisen der Sprache zwar eine hohe Rolle zu, aber auch diese Gewichtung wird sofort wieder reduziert, indem die Leistung der Sprache darin bestehen soll, etwas, nämlich ‚Geschichte‘, zur Sprache zu bringen. Das heißt, dass vor jedem sprachlichen Handeln etwas vorhanden ist, das irgendwie verpackt und dadurch evident gemacht wird. Das ist Realismus: Das Sein ist vor jeder menschlichen Befassung mit ihm existent. Nun sieht Goertz natürlich selber, dass das zu einfach ist; es gibt also ein Dilemma: Sprache und sprachliches Handeln, darunter Vermittlung, Übertragung, Übersetzung, bedeuten sowohl einen Verlust wie einen Gewinn. Der Verlust betrifft die Ursprünglichkeit, das ist wohl das vorsprachlich und vorkognitiv Vorhandene. Sprache und Sprechen als die fundamentalsten Gegebenheiten, die den Menschen ausmachen, werden dann zur Folie, die die historische Erkenntnis des Vorsprachlichen und eigentlich Geschichtlichen blockiert. Obwohl Sprache somit eigentlich aus jeder positiven Wertung ausgeschlossen ist, wird dennoch ein Gewinn ausgemacht: Er läge, so Goertz, im ‚Erschließen‘. Das Verb erschließen unterscheidet sich semantisch von dem Funktionsverbgefüge etwas zur Sprache bringen durch eine feine, kaum merkbare Verschiebung des Objekttyps: zur Sprache bringen bezieht sich tatsächlich auf etwas irgendwie Vorhandenes, mit Erschließen könnte ein Hauch der Vorstellung ins Spiel kommen, dass das, was da erschlossen wird, jeweils nur in der Weise existent werde, in der es erschlossen wird. Die folgenden Sätze lassen diese Nuance allerdings wieder in den Hintergrund treten: Wenn von ‚Sprache‘ als einem ‚Mittel‘, synonym von einem ‚Medium‘ und auch noch von einem ‚Modus‘ gesprochen wird, das / der sie gar nicht mal in erster Linie ‚sei‘, und wenn ‚Geschichte‘ ‚erkannt‘ wird, und vor allem: wenn sie uns entgegentritt, dann ist sie real existent, und dann ist Sprache eine Sache der Kodierung, die selbstverständlich auf verschiedene Weise, z. B. besser und schlechter, mehr oder weniger vollständig, verzerrt und objektiv vorgenommen werden kann. Damit kein Leser des Textes auf die Idee kommt zu sagen, dass Sprache der Geschichte damit definitiv nachgeordnet, beiläufig, werde, muss Goertz natürlich mit einer Partikel, die eine logische Schlussfolgerung suggeriert, betonen, dass Sprache eben doch mehr Beachtung verdient. Diese Partikel lautet so und bedeutet im Textzusammenhang ‚folglich‘. Wen wundert es, dass Faber von einem „Labyrinth semantischer und sprachphilosophischer Auseinandersetzungen“ schreibt, sitzt man doch schon mit der eigenen Beschreibungssprache mitten drin. Das Ziel dieses Aufsatzes soll es nun sein, die selbst auferlegte Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive zu hinterfragen und auf die damit verbundenen Prämissen und Folgen aufmerksam zu machen. Zwei Probleme stehen im Focus, einmal ein Problem sprach- und geschichtsphilosophischer Art und zum anderen
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ein Problem methodischer Art. Beide sollen in ihrem Zusammenspiel reflektiert und dadurch auf eine wissenschaftstheoretische Ebene gehoben werden, die Sprach- und Geschichtswissenschaft statt in einen Gegensatz in einen Zusammenhang rücken würden. Trotz einer schon immer bewussten Nähe beider hier diskutierter Disziplinen sind die Gräben zwischen Sprach- und Geschichtswissenschaften offensichtlich. Ein Teil der Verantwortung hierfür liegt bei derjenigen Ausrichtung der Sprachwissenschaft, die sich auf die Beschreibung des Ausdruckssystems der Sprache bzw. der formalen Gestalt von Texten bezieht. So fürchten sich manche Sprachwissenschaftler davor, Semantik über die Grundfragen eines als Ausdruckswandel verstandenen Sprachwandels hinaus zu betreiben, weil man ihnen sonst vorwerfen könnte, eigentlich Literaturwissenschaftler oder eben auch Historiker zu sein. Tatsächlich wird dieser Vorwurf immer öfter gegen begriffs- und diskursgeschichtliche Arbeiten eingesetzt. Vor allem in der Sprachgeschichtsschreibung trifft man zudem auf Tendenzen, das Inhaltlich-Semantische auszuklammern und die praktische Semantik den Nichtsprachwissenschaftlern, z. B. Literaturwissenschaftlern, Historikern oder Politologen zu überlassen. Möglicherweise äußert sich so eine Furcht der ausdrucksorientierten Linguistik vor der fachlichen Auflösung innerhalb einer interdisziplinär orientierten Kulturwissenschaft, in der Semiotik, Pragmatik und Semantik und nicht mehr Lautgeschichte und Flexionsmorphologie die Hauptrollen spielen. Auf der anderen Seite des Grabens stehen die Historiker. Von ihnen erhält man zum einen den Eindruck, als befürchteten sie bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Sprache, zwischen Faktizität und Fiktionalität nicht mehr unterscheiden zu können und damit ihren Bezugsgegenstand bzw. ihr konstitutives Profil zu verlieren. Und zum anderen stellt man fest, dass sie nur sehr ungern in die sprachanalytischen bzw. textanalytischen Niederungen herabsteigen bzw. die dazu notwendigen Methoden und erst recht bestimmte theoretische Prämissen nicht reflektieren wollen. Interessant ist hierzu ein Blick auf einige methodische Einführungen. Nahezu obligatorisch sind Darlegungen quellenkundlicher und vor allem quellenkritischer Art, natürlich auch Nennungen und Charakterisierungen aller möglichen Hilfswissenschaften. Häufig findet man den Hinweis auf J. G. Droysens „Grundriss der Historik“ aus dem Jahre 1857, wo es heißt (1977: 22), „das Wesen der geschichtlichen Methode [sei] forschend zu verstehen, [sei] die Interpretation“. Hinsichtlich des Ausdrucks Interpretation und des Interpretationsverfahrens wird man auf Dilthey, Gadamer u. a. verwiesen. Danach ist das hermeneutische Verstehen von Texten zugleich Aufgabe und Methode des Historikers. Wie dieses hermeneutische Verstehen tatsächlich verläuft und wie es einigermaßen methodengeleitet vollzogen werden kann, bleibt im Dunkeln. Letztlich
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wird hier das normalsprachliche Spiel, und zwar als Intertextualitätsspiel, gespielt: Man sagt etwas, das hoch wissenschaftlich, differenziert, abwägend klingt, auch natürlich der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers als eines Gelehrten dient, und verweist für mögliche Rückfragen auf Autoritäten, die wiederum auf Autoritäten referieren. Man befindet sich also in einer Textspirale, in der das eine das andere und das andere das eine und ein Drittes verständlich macht. Die Studierenden werden auf ein Textverstehen zurückgeworfen, das genau in dem Maße und in der Art vorhanden ist, wie sie textlich sozialisiert sind. Jedenfalls wird man nicht behaupten können, dass die gängigen Einführungen in die Geschichtswissenschaft sich obligatorisch und substantiell mit dem Problem des Verhältnisses von Sprache und Geschichte befassen würden, geschweige denn Analysemethoden oder wenigstens Hilfen zur Interpretation lieferten. Natürlich gibt es immer wieder Hinweise auf die Geschichtlichkeit etwa des Wortschatzes, speziell der Wortbedeutung (vgl. Sellin 2001, 137f.), auf das Arsenal an stilistischen Mitteln, an historischen Textformularen, auf die Zeitgebundenheit des Textsortenspektrums usw., aber das alles oft nur sehr randständig. Es ist unter sprachphilosophischen Gesichtspunkten auch nicht das zentrale Problem. Dieses spricht Lutz Raphael an, wenn er schreibt (2003, 233): Das Gewicht der Sprache als omnipräsentes und nicht transzendierbares Medium aller von Historikern genutzten Spuren der Vergangenheit. Dass „Texte“ die wesentliche Grundlage historischer Forschungsarbeit sind, wurde damit in neuer Weise thematisiert. Die Quellen eröffneten in dieser Sichtweise aber nicht mehr den Blick auf die Tatsachen der Geschichte, sondern können nur noch als Elemente vergangener sprachlicher Kommunikation über die Vergangenheit gelten. Mit diesem >>linguistic turn<< traten sprachliche Kodierungen, semiotische Systeme an die Stelle von Fakten.
In dieser Aussage erscheinen einerseits ‚Tatsachen‘, ‚Fakten‘ und ‚die Geschichte‘ sowie ‚die Vergangenheit‘, folglich kann Raphael auch von ‚den‘ Tatsachen der Geschichte sprechen. Andererseits erwähnt er die vergangene Kommunikation, wie sie in den Quellen eröffnet wird. Zwischen beidem, den Fakten / Tatsachen und den Quellen, stehen „sprachliche Kodierungen, semiotische Systeme“, und zwar: „an Stelle von Fakten“. Und auf diesen wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Ersatz bezieht er sich mittels des Ausdrucks linguistic turn. Wenn man diesen turn ernst nimmt, dann haben wir als Gegenstand der Geschichtswissenschaft nicht mehr ‚Fakten‘, sondern ‚Quellen‘, und zwar als omnipräsentes und nicht transzendierbares Medium. Man muss sich dann fragen, welche Rolle die Quellen spielen. Sind sie – wie bei Goertz, der in diesem Punkt nicht recht deutlich ist –, das Medium, das die Erkenntnis der Fakten beeinträchtigt? Oder sind sie tatsächlich der neue Gegenstand der Geschichtswissenschaft, der Gegen-
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stand „an Stelle von Fakten“? Und was heißt Medium? Dieser Ausdruck lässt ebenso wie die leicht jargonhaft zu einer Doppelformel verbundenen Attribute omnipräsent und nicht transzendierbar alle Interpretationen zu, die man gerade haben will. Heißt ‚Medium‘ so viel wie ‚Botschaft‘ selber? Oder heißt es nur so viel wie ‚Verpackung‘ der Botschaft? Wie spiegeln sich diese Fragen in der täglichen Arbeitspraxis? Statt einer Antwort möchte ich den Ethnologen Clifford Geertz zitieren. Geertz (1983: 9) schreibt, sein Kulturbegriff sei wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist. [...]. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, [...] sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen.
Die hier vertretene Stoßrichtung ist deutlich: Gegenstand ist das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“, das natürlich in Ausdrucksformen, darunter sprachlichen, vorliegt, deren Bedeutungen zu suchen sind. Doch was genau sind ‚selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‘? Jedes dieser Wörter enthält eine programmatische Stellungnahme: selbstgesponnen heißt: ‚nicht systembedingt‘, gesponnen präsupponiert ‚von Menschen gemacht‘, aber nicht unbedingt wirklichkeitsbezogen, Bedeutung verweist sowohl auf die Aspekte ‚Relevanz‘ wie auf Sinnstiftung und vor allem auf Semantik, und das Wort Gewebe spiegelt das mehr oder minder materielle Produkt des Spinnens, das heißt des / der handelnden Menschen. Im Peirce’schen bzw. Eco’schen Sinne handelte es sich dabei um das Resultat der Semiose. Allerdings gibt es auch bei Geertz Formulierungen, die zu denken geben, etwa diejenige vom Verstricktsein in Bedeutungsgewebe. Kann man tatsächlich sinnvoll sagen, dass man in dasjenige, was den Menschen ausmacht, für ihn nicht transzendierbar ist, also in die Zeichenbildung, ‚verstrickt‘ sei. Oder schlägt hier ein letztes Zucken des Bedauerns über den Verlust aufklärerischer Erkenntnissicherheiten durch? Auffallend ist auch die Rede vom Suchen von Bedeutungen. Kann man Bedeutungen wirklich suchen? Immerhin hat Geertz nicht gesagt, man suche die Bedeutungen. Man kann dem Labyrinth der Sprache einfach nicht entrinnen. Historiker wie Sprachhistoriker und Sprachwissenschaftler haben demnach die Aufgabe, die vergangenen wie die gegenwärtigen Bedeutungsgespinste in ihren semiotischen Prozessen, ihrer jeweiligen semiotischen Konstruktion, in ihrer Nichttranszendierbarkeit, in ihrer Zeichenfassung und durch diese zu untersuchen und zu reflektieren. Das wichtigste Zeichensystem, in dem die Semiose vollzogen wird, vor allem das entscheidende Konstruktions- und Interpretationsinstrument der Semiose ist zweifellos die Sprache. Doch während Historiker dazu neigen, diese Tatsache
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aus den Augen zu verlieren, haben Sprachwissenschaftler die Semantik allzu oft an den Rand gedrängt. Bezeichnenderweise gab es auf dem IVGKongress 2010 keine einzige Sektion zur Lexik und keine zur Semantik. Das Ergebnis dieser Zurückhaltung in der Sprachgeschichte ist, dass man den sich ebenfalls zurückhaltenden Historikern das Feld überlässt. Und damit kommen wir zu den Folgen. Obwohl das Verstehen geschichtlicher Texte zu den zentralen Aufgaben der historischen Textwissenschaften gehört, ist das Wie der Interpretation kaum Thema, oder es bleibt, wie Goertz konstatiert hat, in der Regel im Dunkeln. Es gibt Aufsätze, Buchkapitel, gar eigene Monographien über die Sprache und Texte der Geschichtsschreibung (vgl. z. B. Trabant / Müller-Luckner 2005; White 1990; 1991; 2000), aber kaum etwas über die Sprache als methodisch vorgegebenen Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft, geschweige denn Einführungen in die Sprach- und Textanalyse für Historiker. Solche Einführungen wären eine der vielen Gelegenheiten, die verpassten Chancen zwischen den beiden textwissenschaftlichen Disziplinen zu heilen. Doch man verlässt sich darauf, dass es die Sozialisation der Studierenden ermöglicht, alles Notwendige im Laufe der vor ihnen liegenden Textarbeit in Form eines learning by doing zu erlernen. Beim Auflisten der sich daraus ergebenden methodischen Probleme müssen vor allem die Stichwörter Onomasiologie und Semasiologie (damit Polysemie) fallen, und zwar in synchroner wie in diachroner Perspektive. Liest man von Historikern verfasste bedeutungs- bzw. begriffsgeschichtliche Literatur, so bekommt man im Hinblick auf die Diachronie den Eindruck einer semantischen „translatio imperii“, bei der die eine Wortbedeutung die andere ablöst, im Hinblick auf synchrone Verhältnisse den einer zeitspezifischen Monosemie, also die Verwendung von nur einer einzelnen genau identifizierbaren Bedeutung. Als ob jede Zeit ihre eine eigene Bedeutung hätte, die dann im Ernstfall sogar zur periodischen Differenzierung herangezogen werden kann. Außerdem ist es auffällig, dass hoch ideologische Ausdrücke, da sie alltagsweltlich bezogen sind, nicht in ihrer historischen Brisanz erkannt werden. Das Vorgetragene soll im Folgenden an einigen üblichen Arbeitsabläufen demonstriert werden, wie sie in geschichts- und sprachwissenschaftlichen Publikationen begegnen. Es geht mir dabei nicht um Kritik, sondern ausschließlich um das Aufweisen eines Problems. Bedauerlich ist es gewissermaßen, dass ich dazu gerade denjenigen Historiker heranziehen werde, der, so seine Worte „mit dem Hissen der Parlamentärsflagge“ (416), auf die Germanisten zugehen möchte, nämlich Ernst Schubert. In seinem Artikel über Vaganten und Spielleute (2003: 411) schreibt er:
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Die Abgrenzung gegenüber dem Fremden ist den mittelalterlichen Menschen, die zumeist selbst die Fremde erfahren hatten, fremd. Das „Befremden“ oder das Adjektiv „befremdlich“ begegnen erst mit einer neuen Einstellung zur Mobilität in der Frühen Neuzeit. Dieser Einstellungswandel ist zu berücksichtigen, um der Gefahr des Anachronismus zu begegnen, um nicht das mittelalterliche Vagantentum durch die Brille der Neuzeit zu sehen.
Es wird hier behauptet, dass der „Ausdruck des tiefgreifenden Wandels“ der Einstellung zur Mobilität und zur Lebensform des Fahrens in der beginnenden Neuzeit die „veränderte Einstellung zur Fremde und zum Fremden“ sei. Dann folgt – gleichsam als Beweis oder als Begründung, aber ohne dass der Sprechakt explizit genannt würde – die Aussage: „Das „Befremden“ oder das Adjektiv „befremdlich“ begegnet erst mit der neuen Einstellung zur Mobilität“. Es wird demnach ein Einstellungswandel diagnostiziert, und zwar inhaltlich durchaus plausibel, allerdings so, als ob es ihn als geschichtliche Größe tatsächlich gegeben habe, die lediglich aufzudecken gewesen sei. Das ist übliches historisches Reden und Schreiben. Der Beweis wird nicht eigens als solcher klassifiziert. Es wird ein behaupteter historischer Vorgang damit begründet, dass es zwei Wortbildungen – befremden und befremdlich – gebe, die erst zu einem bestimmten Zeitpunkt begegneten. Das ist nach Aussage des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (FWB) und des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm (DWB) erst einmal richtig. Tatsächlich stammt der früheste Beleg für befremden im Sinne von ‚jn. (etw.) befremden, (jm.) sonderbar vorkommen, jn. fremd anmuten, jn. in Erstaunen versetzen; sich wundern‘ (häufig auch subst. gebraucht), aus dem Jahre 1466. Aber was besagt diese lexikbezogene Argumentation eigentlich? Kann man anhand des Fehlens zweier Wörter tatsächlich so ohne Weiteres von einem Einstellungswandel innerhalb einer Gesellschaft sprechen? Das wäre eine conclusio e silentio. Ich denke: nein. Um solche Aussagen machen zu können, muss das komplette onomasiologische Feld des Fremdseins festgestellt und abgeklopft werden. Das hat Schubert nicht getan. Als Ersatzwörter für befremden kämen nämlich z. B. frnhd. beseltsamen oder ver- bzw. bewundern (und andere) in Frage. Hinzu kommt, dass alle Wortbildungen mit -fremdsemantisch im Bereich des Wunderlichen liegen, über das man staunt. Dies kann man nun mit fremd im Sinne von ‚unbehaust‘ oder im Sinne der heutigen Bedeutung ‚nicht bekannt‘ zwar assoziieren, muss es aber auch nicht. Vor allem betreibt Schubert damit genau das, was er selbst kritisch anmerkt, nämlich aktive Horizontverschmelzung: Man will etwas Frühneuzeitliches dadurch beweisen / begründen / plausibilisieren, dass man nach demjenigen einzelnen Wort im Frnhd. sucht, das einem von seiner heutigen Sprachkompetenz her zur Verfügung steht. Notwendig wäre jedoch ein onomasiologisch orientierter Suchvorgang, der eine Ge-
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samtheit von Ausdrücken zusammenstellt, mit denen man auf ‚Fremdheit‘ Bezug genommen hat, und der den Frame von offenen und versteckten, eigentlichen, uneigentlichen und bildlichen Prädikationen über ‚Fremdheit‘ dokumentiert hätte und der vor allem auch die Textsorte ins Visier genommen hätte, in dem die gefundenen Ausdrücke begegneten. Dass das nicht bzw. zu wenig geschehen ist, bezeichne ich hier mal mittels einer Synekdoche als das Onomasiologieproblem. Es ist bis zu diesem Punkt der Argumentation ein vorwiegend methodisches Problem. Das damit Angesprochene hat aber auch eine theoretische Dimension, die ebenfalls an einem Beispiel dargestellt werden soll: Die Wolfenbütteler Barocktagung von 2003 trug den Titel „Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit“. Von den Ausdrücken, die in diesem Titel erscheinen, begegnen in frnhd. Zeit affect und passion sowohl als Simplizia wie als Bestandteil von Wortbildungen. Das Morphem leid ist geradezu eine der fruchtbarsten Inventareinheiten der Zeit; es begegnet allein in der im FWB bearbeiteten leid-Strecke in insgesamt etwa 70 angesetzten / lemmatisierten Wortbildungen. Das Wort Leidenschaft kommt dagegen nicht vor; es ist erst für das dritte Drittel des 17. Jahrhunderts belegt (um 1669). Man setzt es trotzdem in einen Tagungstitel. Und ich ergänze: Man macht es im Historischen Wörterbuch der Rhetorik und vergleichbaren sog. Begriffslexika zum Stichwort, unter dem alles zwischen Antike und einigen modernen Bildungssprachen abgehandelt wird, was man heute unter einem einzigen deutschsprachigen Lexem fassen zu können meint, streng gesprochen unter einem einzigen von mehreren Gebräuchen von Leidenschaft. Laut Duden sind es übrigens drei, und den frühneuzeitlichen Gebrauch kann ich in diesen dreien nur mit sehr viel Wohlwollen identifizieren. Das kann doch nur heißen: Man hat einen nhd. lexikalischen Ausdruck: Leidenschaft. Diesen erklärt man zum Begriff bzw. man behandelt ihn als Begriff. Damit „hat“ man dann einen gegenwartssprachlichen Begriff ‚Leidenschaft‘. Diesen projiziert man nach rückwärts in die Frühe Neuzeit und „hat“ dann einen historischen Begriff. Dabei nimmt man wohl an, dass der Inhalt des nun auch frnhd. ‚Begriffes‘ irgendwie an die Bedeutung irgendwelcher Ausdrücke gebunden sein muss, obwohl die Bedeutungsformulierungen, die der Duden für den Ausdruck Leidenschaft angibt, im vermuteten frnhd. Sprachgebrauch welcher Lexeme auch immer (leidenschaft existiert ja nicht) kaum wiederzuerkennen ist. Und dann findet man sogar griechische, lateinische, italienische (usw.) und eben auch deutsche Ausdrücke, die irgendwie mit ‚Leidenschaft‘ in einem der Sinne des nhd. Ausdrucks in Verbindung gebracht werden können. Im Zusammenhang mit dem Anliegen dieses Beitrages kann das nur bedeuten: Man setzt eine vage und hinsichtlich ihres Status kaum reflektierte Ausdrucks- und zugleich Inhaltseinheit an, man tut das in der anerzogenen und angelesenen
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Überzeugung, dass diese Einheit über 2500 Jahre europäischer Geistesgeschichte trotz aller inhaltlicher Veränderungen und trotz aller in den Einzelzeiten und Einzelsprachen begegnenden Varianten letztlich doch einen identifizierenden Kern hat, um den herum sich alles Mögliche an Varianten bewegt. Und diesen Kern schält man wissenschaftlich dadurch heraus, dass man genau diejenigen einzelsprachlichen und kulturtypischen Bedeutungen und Bedeutungsnuancen aller Leidenschaftswörter aller berücksichtigter Sprachen bzw. Sprachstufen und Sprachvarianten, die zu dem vorausgesetzten Kern nicht passen, entweder so lange behaut, bis sie passen oder, wenn das dann doch zu abenteuerlich wird, einfach ignoriert. Das zugegebenermaßen polemisch Formulierte ist trotz des sarkastischen Untertons deskriptiv gemeint. Man muss prinzipiell fragen: Inwieweit ‚beschreibt‘ man mit hoher wissenschaftlicher Methodik tatsächlich ein sprachliches Faktum, nämlich ‚Begriffe‘ (was immer das letztlich auch ist) in ihren Wandlungen von der Antike bis zur Gegenwart? Oder umgekehrt: Inwieweit stellt man Höhenkämme im Sinne von F. Nietzsches monumentalischer Geschichtsschreibung her, schafft sich also Übereinstimmungen, etwa als „Mittel gegen die Resignation“, als Protest gegen den „Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit“ (1, 1999, 258ff.), indem man „dem Leben alle Schärfen und Kanten“ abreibt (3, 1999, 155) und die „scharfen Ecken und Linien zugunsten der Übereinstimmung zerbrochen werden!“ (1, 1999, 261) Auch im nächsten Beispiel soll es um die Konstruktion von Höhenzügen gehen, neutraler gesagt: von Ketten (Nietzsche 1, 1999, 259) des Bedeutsamen. Es liegt in der Logik solcher Konstruktionen, dass man weglässt oder zumindest ausblendet, was nicht passt. Zur Veranschaulichung des Verfahrens greife ich auf das frnhd. Phrasem gerende leute und das Adjektiv arm zurück. Auch dieses Beispiel verdanke ich Schubert (2003: 419): Jahrmärkte als Treffpunkte der Fahrenden sind zugleich Treffpunkte von Bettlern und nicht zuletzt auch Treffpunkte zweifelhaften Volkes. […] Wer an solchen Stätten sein Brot suchen musste, durfte sich nicht wundern, wenn er von seinen Mitmenschen über die Schulter angesehen wurde. Im 15. Jahrhundert, als der Jahrmarkt immer mehr zur Erwerbsstätte der Vaganten wird, kommt – bezeichnenderweise – der Ausdruck gernder man, dem durchaus auch ein achtender Sinn anhaften konnte, außer Kurs.
Das Phrasem gerende Leute setzt sich zusammen aus dem Partizip Präsens des Verbs geren ‚begehren‘, einem im FWB als mittelgradig, nämlich fünffach polysem interpretierten Verb, und dem Substantiv Leute, letzteres ist allgemein bekannt; es wurde im FWB als hochgradig, nämlich sechzehnfach polysem interpretiert. Schon allein die beiden Phrasemkomponenten
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sind also hochgradig polysem. Man male sich zum Zwecke selbstmotivierenden Staunens nur aus, was rein rechnerisch alles an Kombinationen von fünf Bedeutungen von geren mit 16 Bedeutungen von leute möglich ist. Damit ist das ‚Semasiologie- oder Polysemie-Problem‘ angedeutet, um das es im Folgenden gehen soll. Ich nenne es ein Problem, weil man einerseits natürlich nicht bestreiten kann, dass tendenziell alle sogenannten Sememe eines lexikalischen Zeichens semantisch mehr oder weniger locker miteinander vernetzt sind. Diese Vernetzungen kann man nicht dauernd in der Argumentation halten, vor allem dann nicht, wenn man – in realistischer Redeweise – diachrone semantische Ketten nachweisen oder – in konstruktivistischer Redeweise –: bauen, herstellen, bilden, gestalten will. Das führt dazu, dass man für die ‚gernden leute‘ das semasiologische Feld auf einen semantischen bzw. synchronen Punkt reduziert, dann noch einen Wechsel in der Wertung der ‚gernden‘, genau gesprochen eine Pejorisierung, behauptet (Schubert, s. o.) und damit auch das Verschwinden einer Einstellung bzw. Mentalität insgesamt unterstellt. Solche Ersatzvorgänge sind vor allem dann plausibel beschreibbar, wenn man monosemistisch denkt und somit von der Polysemie als den Regelfall in der Sprache absieht. Hinzu kommt, dass das Verschwinden eines Ausdrucks oft nur ein Ersetzen des einen Ausdrucks durch einen passenden anderen, eine Verschiebung im Wortfeld darstellt. Im nachfolgenden Beleg werden die Lotterer als Synonym explizit genannt. Behrend, Magd. Fragen 1, 131, 34 (omd., um 1400): Eczliche lute dy heissen rechtelosz, das ist anrechtig, also das ir recht nicht also volkomen ist als ander luthe unde sy mogen keynem manne behulffen syn zcu syme recht, also spelluthe [Var. 16.Jh.: gerende l.] und lotterer adir dy unelich geborn syn.
Bezeichnenderweise ist im vorliegenden Beleg die Situation anders als von Schubert behauptet, da die Variante gerende leute die spätere, das allgemeinere spielleute die frühere ist. Man könnte fast vermuten, dass gerade die Negativkonnotation für die Ersetzung im 16. Jh. gesorgt hat. Aber dann stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die Negativvariante aussterben soll, wenn sie die Einstellungsveränderung der Zeit zum Ausdruck bringt. Feldveränderungen haben aber sprachsystematisch betrachtet viele Ursachen: Regionale Gebundenheit, Fachwortbezogenheit, Konnotationswandel, Kommunikationswandel, ganz sicher sind sie auch Ausdrucksformen eines Mentalitäts- bzw. Einstellungswandels. Beim semasiologischen Feld des Adjektivs arm lassen sich die Folgen einer Polysemieverweigerung durch geschichtswissenschaftliche Texte noch deutlicher erkennen. Stellvertretend sollen die Ausführungen des Historikers Gerhard Schäfer (2008: 221ff.) diskutiert werden. Schon in der Spätantike könne man, so Schäfer, zwei parallele Begriffslinien von Armut
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nachzeichnen, zum einen die rechtshistorisch relevante Sozialkonnotierung des Codex Iustinianus (aus dem Jahr 529), die eine Unterscheidung zwischen arbeitsunfähigen unterstützenswerten Armen und starken, d. h. arbeitsfähigen Armen mache. Die andere, eindeutig positiv konnotierte Linie entstamme der theologischen Tradition. Besonders Augustinus habe aus den Evangelien heraus ein Armutsideal begründet, das die freiwillige spirituelle Armut, als Möglichkeit, Gott nahe zu kommen, zum festen Bestandteil der christlichen Demutstheologie gemacht habe. Dieser freiwillige Verzicht wird in den Ordensregularien der späteren Bettelorden seinen Niederschlag finden und von dort aus eine besondere Würde der Armen propagieren. Doch noch im frühen Mittelalter, so wird nun linguistisch argumentiert, habe das Adjektiv pauper gar nicht im Gegensatz zu ‚reich an Gütern und materiellem Besitz‘, sondern im Gegensatz zu potens ‚mächtig, waffentragend‘ gestanden und damit vorwiegend den Aspekt der gesellschaftlichen Ohnmacht und Wehrlosigkeit betont. Erst mit dem Bevölkerungswachstum des 11. Jahrhunderts, dem Aufblühen der Städte und der Geldwirtschaft gewinne schließlich das Gegensatzverhältnis von arm (miser / pauper) und reich (dives) an Bedeutung. Die soziale Frage werde mit dem Entstehen der Lohnarbeit zur gemeinschaftlichen Herausforderung an die liberalitas, also an die Großzügigkeit der reichen Zeitgenossen. Theologen wie Thomas von Aquin propagierten zwar das Almosengeben als christliche Grundhaltung, doch mit der Schwarzen Pest (1348) komme es zu einem umgreifenden Wandel im Armutsdiskurs und schließlich zur Stigmatisierung der Armen. Jetzt würden die als unwürdig kategorisierten Armen einem negativen, in der Regel kriminalisierenden Prädizierungshandeln unterworfen. Die repressive Sozialdisziplinierung derjenigen Menschen, die als „unwürdig“, da arbeitsfähig, aber arbeitsunwillig eingeordnet werden, beginnt. Schäfer (2008, 234ff.) resümiert: Die Zeitspanne zwischen 1348 und ca. 1520 ist wesentlich dadurch charakterisiert, dass sich in dialektischem Wechselspiel von Armutsrealität und Armutsbewertung das Stereotyp vom lästigen, Furcht einflößenden und unwürdigen Armen herausbildete. Dieses Stereotyp dominierte in immer stärkerem Maße das gesellschaftliche Bild des Armen. Die religiöse Identifikation der Armen als pauperes Christi wurde verdrängt durch die Figur des hässlichen und kriminellen Armen, die zu einem verbreiteten literarischen Topos avancierte.
Das hier Beschriebene ist der Normalfall in der Geschichtsschreibung. Ganz im Sinne des historischen Selbstverständnisses, das Gewordensein zu reflektieren, wird eine diachrone Linie gezogen von arm im Sinne von ‚nicht waffentragend‘, das heißt ‚machtlos‘ über die Würde der Armut bis hin zur frühneuhochdeutschen Kriminalisierung. Die Linienzüge sind klar, sie gehen über die Einzelsprachen hinweg, die Geschichte von arm
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ist keine deutsche, sondern eine europäische Tatsache. Merkwürdig ist, dass in diese Linien auch das beschreibungssprachliche Adjektiv waffentragend hineinschlägt, obwohl weder das Leipziger Ahd. Wb., noch das neue Mhd. Wb., noch des FWB diesen Ausdruck verwenden. Ist das etwa eine Projektion auf Interessenschwerpunkte konservativer Geschichtsschreibung? Verben wie herausbilden und verdrängen jedenfalls suggerieren Ersetzungen und ein Nacheinander der Semantiken, also eine Art semantische ‚translatio‘, die es so nicht gibt. Denn die semasiologischen Felder der Wörter arm und Bettler demonstrieren mit aller lexikographischen Deutlichkeit nicht den Wechsel der Bedeutungen, sondern – und das ist mein Punkt – die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, den semantischen Variationsreichtum über alle soziologischen, fachsprachlichen oder regionalgebundenen Varietäten einer Sprache hinweg. Das semasiologische Feld von arm gliedert sich (in Kurzformulierung) folgendermaßen (FWB Bd. 2, 1, s. v. arm): 1. ‚arm, bedürftig, besitzlos, ohne die zum Lebensunterhalt erforderlichen finanziellen und sonstigen Mittel‘; sehr oft im Ggs. zu reich gebraucht. […]. 2. ‚(eines Besitzes, einer Fähigkeit) beraubt, um etw. gekommen‘. […]. 3. ‚aus eigener Entscheidung in Armut lebend, freiwillig arm, innerlich von allem Besitz und allem Vertrauen auf die eigenen Kräfte gelöst, sich selber verlierend, um der höchsten Vereinigung mit Gott fähig zu werden‘. […]. 4. [arm] dient der Kennzeichnung von Personen, die in irgendeiner Form der Abhängigkeit, Unfreiheit oder Leibeigenschaft stehen; das sind meistenteils die unteren Sozialschichten auf dem Lande, aber auch in den Städten und in den frühen Industriebetrieben; daneben können vereinzelt auch Personen höherer sozialer Schichten, Angehörige von Gruppen (z. B. Klostergemeinschaften), gemeine Soldaten, jeweils soweit sie unter einer Ordnung stehen oder sich dorthin gestellt sehen, sowie die Juden als von der jeweiligen obrigkeitlichen Gesetzgebung Abhängige als arm bezeichnet werden; auch auf Tiere wird das Wort angewendet: >abhängig, unfrei, untertan; leibeigen; zins-, abgabepflichtig; den unteren Sozialschichten zugehörig, in ärmlichen Verhältnissen lebend, verelendet; bäuerlich, einfach, gering, klein<; […]. 5. ‚als Bettler im Lande umherziehend‘. […]. 6. ‚untreu, böse, unehrlich‘ als eine dem Armen (im Sinne von 4) zugeschriebene Qualität. […]. 7. ‚erbärmlich, verachtenswert (von Handlungen)‘. […]. 8. […]. 9. […]. 10. ‚bemitleidenswert, bedauernswürdig, erbarmenswert‘; die Gründe können unterschiedlich sein: Verlassenheit, Mißhandlung, hilfloses Ausgesetztsein, religiöse Sachverhalte, dementsprechend kann auch ‚verlassen; mißhandelt; ausgesetzt; ohne geistlichen Trost‘ u. ä. angesetzt werden […]. 11. ‚ohnmächtig, hilflos, gebrechlich, schwach, gering (von Menschen, menschlicher Kraft, natürlichen Gegenständen gesagt)‘; […]. 12. ‚krank, schwach, gebrechlich‘; speziell zur Kennzeichnung der in einem Siechenhaus Untergebrachten. […].
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13. für Personen gebraucht, die der Folterung unterliegen, vor der Verurteilung stehen oder bereits verurteilt wurden: ‚gefoltert, angeklagt, verurteilt‘; von Christus: ‚gekreuzigt‘. […]. 14. ‚sündig, erbarmenswürdig, erlösungsbedürftig, verloren (jeweils im Sinne der christlichen Religion); dem Fegefeuer ausgesetzt; zur Hölle verdammt‘. -Vorw. religiöse und didaktische Texte. […]. 15. ‚armselig, kläglich, schlecht, das übliche Maß an Größe, Qualität usw. nicht erreichend‘; je nach Bezugsgröße z. B.: ‚abgetragen‘ (von Kleidern, dazu bdv.: vgl. abhäre); ‚geringhaltig‘ (von Erzen, dazu bdv.: schlecht, gering; Ggs.: mächtig, reich); ‚schlecht‘ (von Wein); ‚klein‘ (von Häusern, Gebrauchsgegenständen, dazu bdv.: klein); hierher phrasematisch: die arme scheibe salz ‚Scheibe (Maßeinheit) halleinischen Salzes‘. […].
Neben den materiell Bedürftigen (Bed. 1, im Unterschied zu reich) und den freiwillig Armen (Bed. 3), die vorwiegend in den mystischen und didaktischen Texten des 14. und 15. Jhs. semantisiert werden, gibt es also immer auch noch arm im Sinne von ‚sozial machtlos‘. Damit sind Personen gemeint (s. o. Bed. 4), „die in irgendeiner Form der Abhängigkeit, Unfreiheit oder Leibeigenschaft stehen; […].“ Der Gegensatz arm und mächtig ist demnach auch noch im Frnhd. üblich. Er offenbart allerdings die frnhd. gesellschaftlichen Verhältnisse, das heißt konkret, die zeitgenössische Art der Machtlosigkeit. Auch wenn diese soziale Machtlosigkeit nicht mehr wie im Ahd. im Gegensatz ‚zu Waffen tragend‘ beschrieben werden kann,1 – wobei sich mir die Frage stellt, ob dies in ahd. Zeit nicht schon metaphorisch gemeint war – entspricht sie genau dieser Vorstellung. Die Gegenüberstellung von armer Bettler und gewaltiger Herr im folgenden Beleg zeigt dies auch kontext- und wortfeldspezifisch. Roloff, Naogeorg / Tyrolff. Pamm. 247, 2304 (Zwickau um 1540): Kein stoltzer ding nicht wol kan sein auff erdn / Denn so arm Betler gewaldig herren werdn.
Gewaltig 5 als Antonym zu arm bedeutet: ‚mächtig, im Besitz politischer, militärischer, sozialer Macht (meist von Amtsträgern); einflußreich (von Person); über Sachen / Personen gebietend‘. Es kann also keine Rede sein von einer Entwicklung weg von der Machtlosigkeit hin zur Besitzlosigkeit, vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass das eine schon immer mit dem anderen einherging. Jede Trennung der beiden Bedeutungslinien ist rein analytisch. In der Darstellung Schäfers werden also Linien gezogen, die übersehen, dass all dasjenige, was für eine spätere Zeit behauptet wird, schon in frü-
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Vgl. dazu 2gewer: Phrasem: jm die gewer verbieten als Zeichen der Entehrung bzw. die gewer abbekennen ‚jm. das Recht auf Tragen von Waffen aberkennen‘, wobei die ‚gewere‘ als Zeichen der Würde betrachtet wurde (vgl. die 2. Bed.).
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herer Zeit, nämlich im Ahd., da war, und dass all das, was mit irgendeiner soziokulturellen Erscheinung angeblich irgendwann verschwand, immer noch da ist. Die von ihm gezogenen Linien verdanken ihre Existenz – so lautet meine These – im Kern einem natürlich mehr oder weniger stark ausgeprägten monosemistischen Denken: Nur wenn man hinreichend ausblendet, ergeben sich klare Linien. Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, wie sie in der systematischen Polysemie aller Zeichentypen auf allen hierarchischen Rängen der Sprache greifbar wird, fällt der Konstruktion von Bildern zum Opfer, die überschaubar sind und schon deshalb, aber auch aufgrund gesellschaftsaffiner Inhalte, rezipiert werden. Monosemistische Beschreibungen suggerieren eine nicht vorhandene Eindeutigkeit von Ausdrücken, die es so nur in rationalistischen Theorien, aber nicht in der flexiblen, auf Polysemie ausgerichteten Sprache gibt. Das semasiologische Feld eines Wortes kann zum einen den diachronen Prozess dadurch spiegeln, dass es das Frühere und das Spätere gleichzeitig im Gebrauch hat, und zum anderen dadurch, dass scheinbar gegensätzliche Bedeutungen und Bewertungen im Spiel sind. Beide Phänomene ließen sich auch beim Wortfeld zu betler nachzeichnen. Mit demselben Wort wird der kriminalisierte Bettlergauner wie der würdige Arme wie der Heilige bezeichnet. Neben den sicherlich immer frequenter werdenden negativen Gebräuchen bleibt also auch hier die positiv konnotierte Diskurslinie von der Würde der Armut durchaus lebendig. Sie wird allerdings mit wenigen Ausnahmen auf theologische Textsorten zurückgedrängt, in denen es um eine christliche Idealwelt geht und nicht um den frnhd. Alltag.2 Denn dass vor Gott alle Menschen gleich sind, hat sich in der frnhd. Lebenswelt kaum als Handlungsmotiv durchsetzen lassen. Jostes, Eckhart 80, 21 (14. Jh.): und biten um die almusen von got. In der weis sei wir alle betler. Hübner, Buch Daniel 1802 (omd., Hs. 14. / A. 15. Jh.): Bischove, vrien, greven, | [...], | Pfaffen, munche, voyte ho, | Burger, betler glich also, | Vogle, tiere, swie sie sint, | Ezit des bumannis kint. Luther, WA 41, 502, 7 (1536): Jn Christo hin fort gilt knecht so viel ut herr, betler ut Rex, quia est unus Christus.
Die Textsortenexplosion, die der Erfindung des Buchdrucks folgte, geht mit der semantischen und bewertenden Ausdifferenzierung in weltliche und religiöse Textsorten und Textwelten einher. Parallel dazu verläuft die Ausdifferenzierung der textsortenspezifischen Bedeutungsverhältnisse, wie
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Das Armutsideal der Bettlerorden wie der Franziskaner wurde bereits angedeutet. Mit der Reformation werden auch diese negativ konnotiert (vgl. WA 38, 103, 4).
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sie oben angedeutet wurde. Doch die Bestimmung unterschiedlicher Textwelten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass positive wie negative Bewertungen im Bewusstsein der Menschen gleichwohl nebeneinander existieren konnten. Derselbe Luther, der Christus als Bettler bezeichnete und die Würde der Armut predigte, konnte das Wort Bettler auch ausgiebig als Schimpfwort in der konfessionellen Polemik nutzen. All das müssten auch Historiker in ihren Beschreibungen berücksichtigen. Zwischen der Sprachwissenschaft und der Geschichtswissenschaft gibt es nach dem Ausgeführten eine Reihe verpasster Chancen. Diese betreffen vor allem sprachphilosophische, semantische und textlinguistische Bereiche, sie sind theoretischer wie methodischer Natur. Die methodischen Defizite, die im zweiten Teil dieses Beitrags aufgeführt wurden, wären relativ leicht behebbar und in die Forschungsrealität dadurch umzusetzen, dass man sich dem Problem der Sprache (wie Faber es oben nennt) nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch stellt. Dazu könnte zum einen eine kooperativ verfasste Einführung zur Analyse historischer Texte beitragen, in der vor allem auf die angesprochenen semantischen Stolperfallen hingewiesen wird. Synchrones oder diachrones monosemistisches Denken könnte dadurch ebenso vermieden werden wie eine Vernachlässigung der onomasiologischen Verhältnisse. Schwieriger ist die theoretische Problematik, d. h. die Gesamtheit von Vorannahmen letztlich nicht verifizierbarer weltanschaulicher Art: Reden wir über die Dinge, wie sie sind, also ontologistisch? Oder reden wir über die Dinge so, wie man schon immer, und zwar pro soziale und historische Formation, jeweils verschieden, über sie geredet hat? Das letztere würde bedeuten, dass die mediale Fassung die Botschaft entweder sei oder die Botschaft so präge, dass sie sie tendenziell konstitutiv bestimme. Gerade in der modernen Geschichtswissenschaft hat sich mit dem linguistic turn, auch mit dem Poststrukturalismus, immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass Wirklichkeit ein sprachliches Artefakt ist (Lynn Hunt, in Goertz 2005: 674), nicht eine Realität, die man als Historiker einfach erforschen und dann ‚abbilden‘ kann. Und mit dem Abschied vom für die Geschichtswissenschaft konstitutiven Wirklichkeitsbezug bzw. zumindest der Relativierung desselben kam auch Hayden Whites provokative Narrativitätstheorie, bei der Clio sogar selbst dichtet. Also nicht nur die Geschichte als geschichtliche Realität ist ein Artefakt, auch die Geschichtswissenschaft ist ein narratives Produkt. Oder wie es Heinz Dieter Kittsteiner (2005, 79) im Verweis auf Humboldt ausdrückt: „Die innere Wahrheit alles Geschehenen beruht gerade auf jenem ‚unsichtbaren Teil‘, den der Geschichtsschreiber ‚aus eigener Kraft‘ bildet.“ Das Verb bilden ist das Schlüsselwort, denn es ist ein narratives, ja sprachliches bzw. etwas allgemeiner gefasst semiotisches Bilden. Doch stellen wir mit Kittsteiner die alles entscheidende Frage: „dichtet Clio wirklich?“. Seine
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Antwort lautet: „Im Aufschreiben wird alles zurechtgebracht. Wenn das gelingt, kann der Text des Historikers das Bild des Vergangenen vor dem Auge des Lesers wieder erstehen lassen. Das ist eine „Ahndung“ des verschwundenen Zusammenhangs des Gewesenen – nur eines ist es nicht: Dichtung. Clio dichtet nicht“ (85). Kittsteiners Fazit ist keine Rolle rückwärts, denn auch für ihn vollzieht der Historiker einen konstruktiven Akt, er schafft ein Bild, das eben nur eine Humboldt‘sche „Ahndung“, aber kein Abbild der Vergangenheit ist. Das Ringen oder – wie Kittsteiner diagnostiziert – die „Krise der Geschichtsphilosophie“ (80) hat viel mit dem Einbruch der Sprache und ihres Konstruktionscharakters zu tun. Doch hiermit kommen wir wieder zum Ausgangspunkt dieses Aufsatzes zurück, wird sie deswegen als Täterin oder Handelnde oder gar als grundlegender Gegenstand genannt? Nein. Der Hinweis auf die Texte genügt, macht die Sprache als das Textkonstitutive auch für ihn wieder überflüssig. Nun gibt es aber tatsächlich Bereiche, in denen es keinen Sinn ergibt, dass alles, über das wir reden, sprech- und sprachbedingt sei. Wir werden also einerseits durchaus von der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, von der lexikalischen Konstitution von Bedeutungen, von der Fiktionalität von Textinhalten, von der textlichen Konstruktion einer Weltanschauung, vom Dichten der Geschichtswissenschaftler reden können. Das heißt: der gesamte Bereich der Begriffsgeschichte, von Weltanschauung, von geistiger, politischer, wohl auch rechtlicher Kultur, von sozialen Beziehungen, wäre nach meiner Auffassung besser mit einer Zeichentheorie zu beschreiben, die der Konstitutionsleistung sprachlichen Handelns mit Bezug auf ‚Realität‘ verpflichtet ist. In diesen Bereichen würde historische Semantik, wie sie von der Germanistik betrieben würde, in die Nähe derjenigen kommen, die die verschiedenen Sparten der Kulturgeschichtsschreibung betreiben oder betreiben könnten. Es gibt aber andererseits auch Bereiche, in denen mir dies kaum möglich erscheint: Ich kann zum Beispiel über die Geschichte der Sachkultur, über Zeit- und Raumgegebenheiten, über Kriegszüge und Personen, über Staaten und Ereignisse, über eine Reihe von fachlichen Gegenständen nicht gut so reden, als sei das alles eine Konstruktion. Dementsprechend werden wir weiter eine Geschichtsschreibung haben, in der die Sache, so wie sie „eigentlich gewesen ist“ (Ranke), das eine und die Sprache das andere ist. Und Darstellungen dieser Art werden etwas Anderes bleiben als diejenigen, die sich einer dem linguistic turn verpflichteten Historie verschrieben haben. Doch die Grenze zwischen beiden Formen der Geschichtsschreibung ist nicht bestimmbar. Genau dies verlangt nun eine fortwährende Besinnung auf dasjenige, was wir tun. Wir müssen nicht nur in den Vorspannen unserer Publikationen, sondern in jeder inhaltlichen Aussage zu erkennen geben, auf welcher theoretischen Basis wir arbeiten. Das heißt für die ontikbezogene Historie,
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dass sie eine als unbezweifelbar angenommene Realität als Messlatte für Richtigkeit, Genauigkeit, Differenziertheit nutzt, es aber auch als solches zugibt. Und es heißt für die lingualistische Historie, dass sie sich zwar zum Konstruktionsgedanken bekennt, also sagt: Ich will ‚Armut‘ oder ‚Leidenschaft‘ als evolutionäre oder teleologische Größen konstituieren oder zum Beispiel als europäische vs. national-deutsche behandeln, aber zugibt, dass sie dazu all dasjenige wegstreicht, was sie nicht im Focus hat. Dabei muss sie dann aber begründen, warum sie dazu berechtigt ist, welche Ideologie sie verfolgt und was sie damit zeigen will. Da eine metaphysische Bezugsgröße wie ‚die Realität‘ fehlt, kann nur die Gesellschaft den Bezugsrahmen bilden. Und dieser Rahmen ist selber historisch. Geschichte und Bedeutungsgeschichte werden damit zum Feld semantischer Kämpfe, zum Feld von sog. Begriffsbesetzungen, und damit zum Arbeitsgebiet der Sprachwissenschaft.
Literatur Droysen, Johann Gustav (1977): Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriss der Historik in der ersten handschriftlichen (1857 / 1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). [Historisch-kritische Ausg.], Stuttgart. (Historik, Band 1). Faber, Karl-Georg (1982): Theorie der Geschichtswissenschaft, München. Geertz, Clifford (1983): Dichte Beschreibung, Frankfurt. Goertz, Hans-Jürgen (1995): Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek bei Hamburg. Goertz, Hans-Jürgen (2005): Geschichte. Ein Grundkurs. 2. Aufl. 2001, Reinbek bei Hamburg. (rowohlts enzyklopädie 55576). Hunt, Lynn (2005): Psychologie, Ethnologie und „linguistic turn“, in: Goertz 2005, 671–693. Kittsteiner Heinz Dieter (2005): Dichtet Clio wirklich?, in: Sprache der Geschichte. Hg. von Jürgen Trabant unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München, 77–85. Nietzsche, Friedrich (1999): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Neuausgabe, Berlin / New York. Bd. 1, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. S. 241–334; Bd. 3, Morgenröte, S. 9–331. Raphael, Lutz (2003): Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München. Sellin, Volker (2001): Einführung in die Geschichtswissenschaft. 2., durchges. Aufl., Göttingen. Schäfer, Gerhard K. (2008): Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis, in: Ernst-Ulrich Huster / Jürgen Boeckh / Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 1. Aufl., Wiesbaden, 221–242.
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Christoph Burger (Amsterdam)
Historische Semantik in der Theologie. Luthers Neubestimmung von Marias Demut (humilitas) in seiner Übersetzung und Auslegung des „Magnifikat“ 1. Auch Theologen sind verliebt in Sprache Umgang mit Sprachen und Nachdenken über Sprache haben in der Theologie der westlichen Hälfte des Römischen Reiches, des Abendlandes, eine ehrwürdige Tradition. Bis zu Beginn der Frühen Neuzeit dachte und schrieb man dort als Theologe in erster Linie Latein. Das begann in der Schule und setzte sich an der Universität fort. Wer im Mittelalter nicht einfacher Priester, sondern akademisch geschulter Theologe werden wollte, mußte zunächst einmal Magister artium werden und setzte dann sein Studium in der Theologischen Fakultät fort. In den Universitäten Europas war Latein die lingua franca. Bis etwa zum Jahr 1700 blieb Latein für Universitätstheologen die dominante Sprache. Seit der Reformationszeit, die den Ruf der Renaissance-Humanisten zu den biblischen Quellen aufgenommen und verstärkt hat, spielen jedoch im Universitätsstudium der Evangelischen Theologie in Nordwesteuropa für die Auslegung des Alten Testaments Hebräisch und Aramäisch und für die Exegese des Neuen Testaments Koiné-Griechisch eher noch wichtigere Rollen als die lateinische Sprache (als evangelischer Theologe möchte ich mich im Folgenden auf Aussagen über Lehrende und Studierende der eigenen Fakultät beschränken). Aber auch wenn Sprache und Sprachen bei der akademischen Ausbildung evangelischer Theologen eine erhebliche Rolle spielen, ist es für den normal begabten Theologen kaum mehr möglich, mit den enormen Erkenntnisschritten mitzuhalten, die Germanisten auf dem Gebiet der Historischen Semantik bereits getan haben und täglich weiterhin tun. Auf diesem Forschungsfeld können Theologen von den Germanisten viel lernen. Dennoch will ich versuchen, hier an einem Beispiel zu verdeutlichen, welche wichtige Rolle die historische Semantik auch in der Evangelischen
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Theologie spielt, obwohl diese Fakultät nach meiner Einschätzung kein so verfeinertes Instrumentarium für dieses Forschungsfeld entwickelt hat wie die Germanistik.
2. Wer sich an Sinndeutung wagt, bekommt mit Widerständen zu tun Gerade in der Theologie können mit der Auseinandersetzung um die Deutung zentraler Begriffe enorme Belange verbunden sein. Eine bestimmte Verwendung eines Begriffes kann ja in einem für eine Kirchengemeinschaft zentralen Thema eine wichtige Rolle spielen. Die für diese Verwendung vorausgesetzte gemeinsame Überzeugung ist in solchen Fällen emotional abgesichert. Geht es doch um die Exegese der Bibel und um Konsequenzen aus dieser Auslegung für die Gestaltung des täglichen Lebens, reflektiert Theologie doch auf Überzeugungen und daraus folgende Lebensgestaltung. Ist doch mit Exegese der Bibel, mit Glaubenslehre und christlicher Ethik immer auch Sinndeutung verbunden. Und Sinndeutung ist nun einmal umstritten. Der scharfsinnige Theologe Franz Overbeck hat geschrieben: „Es ist das grösste Unglück, das einem Text passiren kann, ausgelegt zu werden, und je eifriger man sich seiner in diesem Sinne annimmt [je eifriger man ihn also deutet], um so grösser ist das Unglück“ (zitiert nach Jüngel 2003: 473f.). Das ist hart ausgedrückt, aber gerade deswegen auch besonders nachdenkenswert. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts bemühten sich engagiert um Deutung der Bibel. Gerne gingen sie bei Humanisten in die Lehre, die ja auch ihrerseits oft biblische Texte übersetzten und deuteten und Editionen von Texten der Kirchenväter herstellten, die wesentliche Fortschritte gegenüber dem bisherigen Kenntnisstand bedeuteten. Wenn nun die Reformatoren, gewappnet mit humanistischen Mitteln, die Auffassung durchzusetzen versuchten, Jesus Christus sei der alleinige Mittler zwischen Gott und den Menschen, dann gefährdete diese theologische Auffassung die Grundlage der mittelalterlichen Adelskirche, die sich im Westen des ehemaligen Römischen Reiches etabliert hatte. War doch die Überzeugung, die hierarchisch verfaßte Kirche vom Stellvertreter Jesu Christi auf Erden auf dem Stuhl Petri an der Spitze bis hinunter zum schlecht bezahlten Kaplan, der nur an einem einzigen Altar Messe lesen durfte, vermittle Heil und verfüge über den Schlüssel zur Seligkeit, fundamental bedroht, wenn Reformatoren und deren Anhänger die Deutungshoheit der päpstlich geleiteten Kirche in Frage stellten. Semantik spielte dabei eine wichtige Rolle.
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Auch moderne Theologen haben vielfach mit solchen Belangen zu tun, wenn sie sich mit der historischen Semantik beispielsweise auf dem Gebiet der Bibelexegese der Reformatoren des 16. Jahrhunderts beschäftigen. Ausdrücklich vermerken will ich dabei, dass ich dann, wenn ich behaupte, dass für evangelische Theologen große Belange auf dem Spiel stehen, wenn es um Sinndeutung geht, Theologen im Auge habe, die eine gewisse Affinität zu einer der großen Reformationskirchen haben. Die für diese Kirchen maßgeblichen Theologen früherer Jahrhunderte werden von solchen Theologen der Gegenwart meistens nur ungern relativiert, wenn sie denn überhaupt bereit sind, auch deren Schwächen einzugestehen. Welcher mit Luthers Bibelübersetzung erzogene Kirchenhistoriker bleibt emotional vollständig kühl, wenn es um die Bedeutung Martin Luthers für die Herausbildung der frühneuhochdeutschen Sprache geht? Nur allzu leicht wird ein lutherischer Theologe dann zum Apologeten Luthers. Welcher einer lutherischen Kirche nahestehende Theologe liest schon gerne, Luther habe zwar die Bibel sprachgewaltig ins Deutsche übersetzt, aber unter die Leute gebracht hätten die Bibel erst die Pietisten, denn Luther selbst habe den Katechismus für einfache Gemeindeglieder zureichend gefunden? (vgl. Wallmann 1994: 11–27; Péter 1999: 7–38). Welcher lutherisch gesonnene Theologe läßt sich schon gerne sagen, die Behauptung, Gott berufe nicht allein Männer ins Priesteramt oder in ein Kloster, sondern Gott berufe auch Frauen und Männer zu so weltlichen Aufgaben wie etwa zum Melken von Kühen oder zum Wechseln von Windeln, sei von Luther lediglich wirkungsreich verkündet, aber inhaltlich bereits von Berthold von Regensburg vertreten worden? (vgl. Paulus 1911: 735). Welcher Theologe, der sich außer der Wissenschaft beispielsweise auch einer lutherisch geprägten Kirche verbunden und verpflichtet fühlt, hört es gerne, wenn ein Sozialhistoriker versichert, Luther sei auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Ordnung in seiner eigenen Zeit alles andere als auf der Höhe seiner Zeit gewesen: “It is perfectly fruitless to seek in his thought a great turning point in the history of European ideas about economy, society and the State”? (Brady 1985: 211). Und Luther ist beileibe nicht der einzige Reformator, der so verehrt wird. Ihrer jeweiligen Kirche nahestehende Calvinforscher denken über den Genfer Reformator ähnlich positiv. In den Niederlanden bekommt man oft genug zu hören, erst Calvin habe die Reformation wirklich konsequent durchgeführt, während Luther der altgläubigen Kirchenlehre noch viel zu sehr verhaftet geblieben sei. Wenn Theologen, die sich einer der aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Kirche verbunden fühlen, auf dem Gebiet der historischen Semantik tätig werden wollen, dann müssen sie also ganz besonders sorgfältig auf ihre je eigenen Prägungen reflektieren. Denn sonst
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schleichen sich ihre Neigungen oder Abneigungen in ihre Forschungsergebnisse ein. Ich versuche als von Luther faszinierter evangelischer Theologe dennoch, den Versuch Luthers nachzuzeichnen, die zu seiner Zeit in seinem Umfeld emotional hoch besetzte lateinische Vokabel humilitas und deren deutsches Äquivalent Demut inhaltlich anders zu füllen. Luther hatte sich ja mühsam dazu durchgerungen, die Rechtfertigung des gottlosen Menschen als befreiende Zentralaussage der Bibel zu betrachten. Und damit war es nicht vereinbar, dass ein Mensch, und sei es auch Maria, sich Gott gegenüber auf verdienstvolle Tugend sollte berufen können. Deswegen hat Luther beispielsweise in seiner Übersetzung und Auslegung des „Magnifikat“ den in der christlichen Tradition hoch angesehenen Begriff der Demut als einer verdienstlichen Tugend radikal umzudeuten versucht.
3. Marksteine der Herausbildung der „Demut“ als Tugend in der Alten Kirche Tugend läßt sich definieren als „eine Disposition oder Eigenschaft des Charakters, der Bewunderung und Lob gebührt“ (Porter 2002: 184, Z. 5f.). Die als Tugend betrachtete Demut spielte für christliche Theologen deswegen eine so wichtige Rolle, weil sie den Hochmut als Wurzel des Sündenfalls definierten. „Sein wollen wie Gott“ hat schon der alexandrinische Theologe Origenes im 3. Jahrhundert als die Ursünde verstanden, und dadurch konnte er Demut im Gegenzug als diejenige Haltung definieren, die das Geschöpf wieder in die angemessene Position zu seinem Schöpfer bringt (vgl. hierzu und zum Folgenden Rehrl 1981: 466–468). In seinem Kommentar zum Johannesevangelium bezeichnete Origenes die Demut Christi als die Wurzel der Erlösung. Die Demut Marias, von der nach seiner Exegese in Lukas 1, 48 die Rede ist, identifizierte er mit den vier platonischen Haupttugenden (vgl. Dihle 1957: 755). Freiwillige Selbsterniedrigung sowohl in äußeren Werken der Buße als auch in der inneren Gesinnung des Sich-Geringachtens wurde unter dem Einfluß des Origenes als tugendhaft gepriesen. Sehr wirksam wurde diese Hochschätzung der Demut als einer zentralen christlichen Tugend dann auch im Mönchtum der östlichen Reichshälfte. Schon Pachomius, der Begründer des Zusammenlebens in Klöstern zu Beginn des vierten Jahrhunderts in Ägypten, verstand den Gehorsam gegenüber dem Abt als den vornehmsten Ausdruck der Demut, die der Mönch zu leben habe. Im Westen des Römischen Reiches war es ganz besonders Augustinus, der die Antithese zwischen Hochmut und Demut geradezu zur grund-
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legenden Aussage über christliche Lebensgestaltung machte. Demut ist bei Augustin Anfang, Weg und Ende jeder Hinwendung zu Gott. Sie soll das Fundament christlicher Lebensgestaltung bilden. Gerne verwies er darauf, dass der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinde in Philippi einen Hymnus zitiert, der aussagt, Jesus Christus habe sich selbst erniedrigt, lateinisch: humiliavit semetipsum (Philipper 2, Vers 8). Es lag dann natürlich nahe, an die humilitas Marias zu denken, auf die Gott laut Lukas 1, 48 hingesehen hat. Wenn ein Christ sich vor Gott sieht, dann soll er sich geradezu verachten. Er riskiert ja nicht, in dieser Situation bleiben zu müssen, wird er doch von Gott zum Gotteskind erhoben. Auch im Mönchtum im Westen des Römischen Reiches wird der Tugend der Demut ein zentraler Platz eingeräumt: Benedikt von Nursia schärfte in seiner Regel, die Jahrhunderte später sehr einflußreich wurde, die Bedeutung der Demut ein, auch wenn er daneben Gottesfurcht und Gottesliebe betonte. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass Demut schon von maßgeblichen Theologen der Alten Kirche als zentrale christliche Tugend gepriesen worden ist. Diese Wertschätzung der Demut als einer Tugend konnte man nun in einem der neutestamentlichen Gesänge, Marias Lobgesang, dem „Magnifikat“, als Eigenschaft der Maria finden.
4. Die Vokabel humilitas im Canticum der Maria, dem „Magnifikat“ Bei diesem Text handelt es sich um einen Lobgesang Marias. Sie antwortet damit auf zwei Botschaften: zum ersten auf die Worte des Engels, der ihr verkündigt hat, sie solle ein Kind gebären, das ein Sohn des Höchsten genannt werden solle, zum zweiten auf eine vom Heiligen Geist inspirierte Aussage ihrer Verwandten Elisabeth, die sie „gebenedeit“ genannt hat. Der Text steht im Evangelium des Lukas, Kapitel 1, in den Versen 46b–55. Das Lied trägt den Namen „Magnifikat“, weil sein Text in der Biblia Vulgata mit dem Wort Magnificat beginnt. Übersetzen kann man diese Verbform und das zugehörige Subjekt (anima) beispielsweise als: „meine Seele macht groß“ oder als „meine Seele erhebt“. Schon im 6. Jahrhundert hat Benedikt von Nursia diesem Canticum in seiner Regel des Benediktinerordens die zentrale Rolle in einem der täglichen Stundengebete der Mönche, der Vesper, zugewiesen (vgl. Jenny 1981: 626, Zeilen 33–35). Innerhalb dieses Stundengebets bildete es sogar den Höhepunkt (vgl. Kirsch 1980: 495). In diesem Lobgesang sagt Maria, wenn man den griechischen Urtext wörtlich übersetzt: „[Gott,] der Herr … hat hingesehen auf die Niedrigkeit seiner Magd“ (Lk. 1, 48a. – Übersetzungen in diesem Artikel stammen vom
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Autor). Den griechischen Urtext aber konnten im Abendland auch unter den Gebildeten (auch noch nach dem Fall Konstantinopels) nur ganz wenige lesen. Den Lateinkundigen vertraut war vielmehr die Textfassung der lateinischen Biblia Vulgata: „respexit humilitatem ancillae suae.“ Von großer Bedeutung war es bei einem Text, der diese zentrale Bedeutung erlangte, was ein betender Mönch, eine die Vesper feiernde Nonne, ein Weltkleriker, der sein Brevier betete, unter humilitas verstand, und was den Laien in Predigt und Katechese vermittelt wurde.
5. Was sagt Maria damit, dass Gott auf ihre humilitas hingesehen habe? Ist hier die Rede von materieller Armut oder von Demut? Die Auslegungstradition zu diesem biblischen Vers kann man, wenn man eine gewisse Vergröberung nicht scheut, in drei Stränge scheiden. Der erste Strang der Interpretation sieht in Maria eine materiell arme Frau, die diese soziale Lage im Vertrauen auf Gott akzeptiert. Diese Sichtweise vertritt schon Origenes (vgl. zum Folgenden Vogt 1969: 252, 256 und Burger 2002: 17–20). Etwa ein Jahrhundert später schreibt Hieronymus, Maria habe ihren Lebensunterhalt durch ihrer Hände Arbeit verdient. Im Mittelalter kann man beispielsweise den Pariser Kanoniker Petrus Cantor († 1197) oder später den Erzbischof von Florenz Antoninus († 1459) als Vertreter dieser Sichtweise namhaft machen. Eine Erklärung der Messe, die 1484 in Augsburg gedruckt worden ist, spricht von Maria als von einer armen Näherin. Der zweite Strang der Interpretation deutet Maria als hochadlige, reiche, mächtige Herrscherin. Er ist bereits im zweiten Jahrhundert im sogenannten Protoevangelium des Jakobus nachweisbar. Im feudalen Zeitalter ist die christliche Kirche in die Gesellschaft gut integriert und spiegelt denn auch weitgehend deren Normen, wenn auch immer wieder Proteste gegen diese Anpassung laut werden. Dem entspricht es, dass fränkische Bischöfe schon um 800 erklären, selbstverständlich sei Maria adelig gewesen. Eine sozial niedrig stehende Gottesmutter paßte einfach nicht in die Adelskirche. Innerhalb dieses Deutungsstrangs muß humilitas zwangsläufig als Tugend gedeutet werden, weil eben eine sozial niedrige Position Marias nicht akzeptabel ist (vgl. Schreiner 1994: 551, Anm. zu 297). Der dritte Strang der Interpretation von „humilitas“ Marias ist bei weitem der verbreitetste. Seine Vertreter sehen Maria als eine eben durch ihre Demut erhabene Gottesmutter. Sie wird dann zum Antitypos der Eva erklärt: Eva zerstörte beim Sündenfall durch Hochmut das Verhältnis
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zwischen Schöpfer und Geschöpf. Maria stellte durch ihre Demut dieses Verhältnis wieder her. Schon im 2. Jahrhundert vertritt Irenäus von Lyon diesen Gedanken. So früh beginnt demnach das Bestreben, Maria neben Christus zur Miterlöserin zu erklären. Origenes, der doch einerseits die niedrige soziale Position Marias behauptet hatte, bringt andererseits auch ihre demütige Haltung zur Sprache. Augustin formuliert prägnant: „Durch eine Frau kam der Tod, durch eine Frau kam das Leben“ (Augustin: Sermo 232, 2, 2; Migne Patrologia Latina 38, 1108). Bernhard von Clairvaux fordert Nachfolge Marias in tugendhafter Demut in einer seiner Predigten „Zum Lob der jungfräulichen Mutter“: Wenn du schon nicht die Jungfräulichkeit in Demut nachahmen kannst, so ahme doch die Demut der Jungfrau nach! Jungfräulichkeit ist eine lobenswerte Tugend. Doch Demut ist notwendiger. Jene wird lediglich angeraten. Diese ist geboten. (…) Du kannst gerettet werden, ohne ein jungfräuliches Leben geführt zu haben. Ohne demütig gewesen zu sein, kannst du es nicht (…) Wäre Maria nicht demütig gewesen, hätte der Heilige Geist nicht auf ihr geruht (Bernhard von Clairvaux: In laudibus virginis matris, homilia I; Editiones Cistercienses 4, 17, Z. 23–25; 18, Z. 1. 5f. ).
In einem Liedtext, der Maria als Himmelskönigin anspricht, heißt es: „Der, den du zu tragen verdient hast, ist auferstanden …“ (Regina coeli, laetare: ediert bei Wackernagel, Bd. 1, 193, Nr. 301). Ein anderer Liedtext geht sogar so weit, auszusagen, der dreieinige Gott preise Maria: „Es erhebt dich, Maria, die Monarchie der Trinität“ (Magnificat te, Maria trinitatis monarchia: ediert bei Wackernagel Bd. 1, 193, Nr. 300). Die Hochschätzung tugendhafter Demut der Maria führte also dazu, sie neben ihrem Sohn, der ja nach herrschender Überzeugung als ein neuer Adam die Entfremdung zwischen Gott und Menschen beseitigt hat, als die neue Eva zu betrachten, die am Erlösungswerk Anteil gehabt hat. Zweifel an Marias Miterlöserschaft zu äußern traf auf erheblichen Widerstand. So meinte beispielsweise der aus Leutkirch in Süddeutschland gebürtige und mit dem Schweizerdeutschen nicht vertraute Generalvikar der Diözese Konstanz, zu der Zürich gehörte, den Zürcher Leutpriester Zwingli dabei ertappt zu haben, Maria zu wenig Ehrerbietung zu erweisen. Hatte Zwingli Maria doch als magt bezeichnet. Doch im Schweizerdeutschen bedeutete magt eben ‚Jungfrau‘, während es sonst hochdeutsch ‚Dienstmädchen‘ bedeutete. In Fabris süddeutscher Heimat war es gerade umgekehrt, und Zwinglis Anhänger wiesen Fabri höhnisch auf seinen Mangel an Kenntnis hin (vgl. Campi 1997: 112f., Anm. 31). Viel grundsätzlicher als Zwingli übte jedoch Martin Luther Kritik an der Marienverehrung der Kirche seiner Zeit.
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6. Der Protest Martin Luthers: Humilitas bedeutet nicht etwa tugendhafte Demut! Weil Martin Luther fest davon überzeugt war, dass Jesus Christus allein zwischen Schöpfer und Geschöpfen vermittelt habe, war er der Ansicht, dass von einer Rolle Marias als ‚Mit-Erlöserin‘ keine Rede sein könne. Diese Überzeugung wirkte sich unter anderem darin aus, dass er der Deutung, in Lukas 1, 48 sei die Rede von tugendhafter Demut Marias, die gar Evas Beitrag zum Sündenfall neutralisieren könne, keinesfalls zustimmen wollte. 6.1. Luther zum Thema „wahre und falsche Demut“ Luther predigte wiederholt über das „Magnifikat“, und 1520/1521 verfasste er eine ausführliche Übersetzung und Auslegung dieses biblischen Textes in der deutschen Sprache. In einer modernen Edition nimmt diese Schrift 50 Seiten in Anspruch. Luther begann damit, ehe er sich auf dem Reichstag zu Worms vor Kaiser und Reich verantworten mußte, und er beendete seine Schrift, als ihn sein Kurfürst auf der Wartburg in Schutzhaft genommen hatte (vgl. Burger 2007: 7–9). Ich lege den folgenden Ausführungen diese Schrift zugrunde, komme aber zum Schluß auch auf Predigten Luthers zu Lukas 1, 46b–55 zu sprechen, die er vor und nach Fertigstellung dieser Übersetzung und Auslegung des „Magnifikat“ gehalten hat. Luther übersetzt den biblischen Text des Lobgesangs der Maria in seiner Schrift mehrfach. Zu Beginn bietet er eine Übersetzung aller neun Verse. Hier überträgt er das griechische Substantiv tapeinosis, das in der lateinischen Biblia Vulgata eben mit humilitas übersetzt worden war, und den davon syntaktisch abhängenden Genetiv tes doules autou nicht, wie es nahe läge, mit: „Niedrigkeit seiner Magd“, sondern mit „seine geringe Magd“ (Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 316, Zeile 15; WA 7, 546, Z. 4). Vor der Einzelexegese des Verses 48 heißt es dagegen in Luthers Übersetzung: „die Nichtigkeit seiner Magd“ (Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 328, Z. 34f.; WA 7, 559, Z. 29). Ein Jahr später, 1522, wird er in seiner Gesamtübersetzung des Neuen Testaments, dem sogenannten September-Testament, schreiben: „die Niedrigkeit seiner Magd“ (Luther, September-Testament, WADB 6, 212). Worum es ihm geht, formuliert Luther folgendermaßen: Das Wörtlein humilitas haben manche Leute an dieser Stelle zur ‚Demut‘ gemacht, als hätte die Jungfrau Maria ihre Demut erwähnt und sich ihrer gerühmt. Daher kommt es, dass manche Prälaten sich auch humiles nennen, was sehr weit
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von der Wahrheit abweicht. Denn vor Gottes Augen kann sich niemand eines guten Dinges rühmen, ohne sich in Sünde und Verderben [zu stürzen] (Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 328, Z. 37–329, Z. 2; WA 7, 559, Z. 31–560, Z. 1).
Sich seiner eigenen Demut zu rühmen, ist nach Luthers Überzeugung ein Zeichen höchster Vermessenheit: Wie könnte man dieser reinen, wahrhaftigen Jungfrau derartige Vermessenheit, solchen Hochmut zuschreiben, als ob sie sich vor Gott ihrer Demut rühmte, die doch die allerhöchste Tugend ist, und [da doch] niemand sich für demütig hält oder dessen rühmt, als wer der Allerhochmütigste ist? (Luther, MagnifikatAuslegung, StuA 1, 329, Z. 7–10; WA 7, 560, Z. 7–10).
Ausdrücklich sagt Luther, wie er „humilitas“ in Lukas 1, 48 verstanden sehen will: „Ich habe das Wörtlein ‚humilitas‘ verdeutscht als ‚Nichtigkeit‘ oder ‚unansehnliches Wesen‘, so dass die Aussageabsicht Marias die sein soll: ‚Gott hat auf mich armes, verachtetes, unansehnliches Mädchen hingesehen …‘“ (Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 329, Z. 35–37; WA 7, 560, Z. 35–561, Z. 1). Wer ihm die philologische Unterbauung für seinen Protest lieferte, das sehen von Erasmus begeisterte Erasmuskenner und von Luther faszinierte Lutherforscher verschieden. 6.2. Ist Erasmus der „ghostwriter“ Luthers? Erasmuskenner weisen mit Recht darauf hin, dass Luther schon die erste Edition des „Novum Instrumentum“ des Erasmus benutzt hat, seiner philologisch getreuen Übersetzung des griechischen Neuen Testaments ins Lateinische, die 1516 erschien (vgl. Brecht 1981: 162). Darin konnte Luther zu Lukas 1, 48 die (in lateinischer Sprache formulierte) Bemerkung des Erasmus finden: Humilitatem ancillae. Tapeinosin. Unter tapeinosis gilt es zu verstehen: geringer Stand [parvitatem], nicht: Tugend des Sinnes [animi virtutem]. Die [letztgenannte Tugend] bezeichnen die Griechen mit ihrer Vokabel ‚tapeinophrosyne‘. Es heißt auch nicht: ‚Gott sah hin auf ihre Demut‘ [respexit humilitatem], sondern: ‚er richtete sein Auge auf ihren geringen Stand‘ [aspexit ad humilitatem]‘ (Erasmus, Annotationes in Novum Testamentum, in: Opera omnia …, Band VI/5, 464, Z. 516–520).
Hier fand Luther Munition, die er brauchen konnte. Aber brauchte er diese Information in dem Sinne, dass er ihrer bedurfte? Oder war Erasmus‘ Hinweis auf die Bedeutung der Vokabel im griechischen Urtext von Lukas 1, 48 nur eine willkommene Unterstützung für eine Einsicht, die Luther ohnehin schon gewonnen hatte? Lutherforscher
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verweisen darauf, dass Luther den gesamten Psalter in einer Vorlesungsreihe in den Jahren 1513–1515 ausgelegt hatte, dass er 1519–1521 erneut darüber las, wenn er auch diesmal nur bis Psalm 22 kam, und dass in den Psalmen gerade der arme Israelit wiederholt zur Sprache kommt als der, dem Gott hilft. Sieht man die Sachlage so wie diese Lutherforscher, dann bedurfte Luther der philologischen Hilfe des Erasmus nicht, sondern sie war ihm lediglich hochwillkommen. Letzte Sicherheit ist hierin nicht zu gewinnen, scheint mir. Jedenfalls aber protestierte Luther ausführlich gegen die Sichtweise, die in Lukas 1, 48 die Auffassung sehen wollte, Maria habe es durch ihre tugendhafte Demut geradezu verdient, dass Gott sie zur Mutter seines Sohnes machte. Weil er weiß, wie verbreitet die Deutung von humilitas an dieser Stelle als „tugendhafte Demut“ ist, wehrt Luther dieses Verständnis mit Rückgriff auf den griechischen Urtext ausdrücklich ab und formuliert hier sehr ähnlich wie vor ihm Erasmus: ‚Demut‘ nennen wir im Deutschen, was der heilige Paulus auf griechisch ‚Tapeinophrosyne‘ nennt. Dem [entspricht] auf lateinisch ‚affectus vilitatis‘ oder ‚sensus humilium rerum‘. Damit ist ein Wille und eine Orientierung hin auf geringe, verachtete Dinge gemeint.“ (Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 330, 15–18; WA 7, 561, Z. 23–26).
Wer auf die rechte Weise demütig sei, der sei sich seiner Demut niemals bewußt (vgl. Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 331, 5; WA 7, 562, Z. 19f.). Wer dagegen auf falsche Weise demütig sei, der wisse nie, dass er hochmütig sei (vgl. Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 331, 17; WA 7, 562, Z. 32). Das Problem liege eben nicht darin, dass man klug, mächtig, reich oder schön sei, sondern in der Einstellung dazu. Es gehe um das Gemüt, den Sinn, um das Herz, in dem die Entscheidungen fallen (vgl. Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 331, 38. 41; WA 7, 563, Z. 18. 22). 6.3. Luthers Definition van echter Demut Die Folgerung, die Luther für seine Leserinnen und Leser zieht, ist die, dass sie es getrost ertragen sollen, falls sie sozial schwach und entsprechend gering geachtet sind. Sie sollen ihre Lage nicht etwa als Zeichen göttlichen Mißfallens deuten, sondern auf Gottes Gnade hoffen (vgl. Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 332, 20–24; WA 7, 564, Z. 9–13). Entscheidend sei die Einstellung, nicht die soziale Position. Luther nennt den Erzvater Abraham, König David und Königin Esther als Beispiele dafür, dass auch Reiche und Mächtige Gott gefallen können, weil sie eben
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ihre privilegierte Position nicht ihrer eigenen Vortrefflichkeit zuschreiben. Während der biblische Text des „Magnifikat“, wenn ich recht sehe, eindeutig von Gottes Eingreifen zugunsten der Gottesfürchtigen, Niedrigen, Hungrigen und Armen gegen Hochmütige, Mächtige und Reiche redet, deutet Luther um. Er stellt wahre Demut gegen falsche Demut. Wahre Demut sieht er darin, dass jemand seine Lage gerne annimmt (vgl. Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 330, 32–331, 4; WA 7, 562, Z. 5–18). Es gehe in Lukas 1, 48 darum, dass Gott den Menschen gnädig ansieht. Wer also Maria recht ehren wolle, der müsse sie nicht nahe an Gott heranrücken, sondern sie weit unter Gott stellen, der müsse Gottes Ehre mit ihrer Nichtigkeit kontrastieren (vgl. Luther, Magnifikat-Auslegung, StuA 1, 337, 16–21; WA 7, 569, Z. 31–570, Z. 3). 6.4. Luther selbst spricht in Predigten erneut von der Demut als von einer Tugend Man sollte meinen, Luther sei durch seine eigenen sehr sorgfältig erwogenen Definitionen echter und falscher Demut in seiner Monographie zum „Magnifikat“ davor gefeit gewesen, jemals in eine vergleichsweise naive Sichtweise der verdienstvollen Demut Marias zurückzufallen. Das ist aber nicht der Fall. Er selbst drückt sich vielmehr in späteren Predigten über das „Magnifikat“ so aus, dass man den Eindruck gewinnt, Demut sei seiner Meinung nach eben doch eine tugendhafte Haltung, die Belohnung verdiene. In einer Predigt vom 2. Juli 1531, dem Festtag der Heimsuchung Marias, wird Luther sagen: „Wer also demütig ist, soll Bestand haben. Die anderen scheitern und gehen zu Boden …“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, nachmittags, 2. 7. 1531; frei übersetzt; WA 34/I, 570, 7f. Vgl. Burger 1990, 282). Ein Jahr später, 1532, verstärkt sich dieses positive Reden von Marias Demut bei Luther noch: „Da sieht man die Demut in der Jungfrau Maria, dass sie von der Ehre, die sie hat, nicht stolz wird: dass sie Gottes Mutter ist, [dass sie] den Sohn Gottes gebären soll. Es wäre nicht erstaunlich gewesen, wenn sie in größere Hoffart gefallen wäre als Lucifer und alle Engel.“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, im Hause, 2. 7. 1532; WA 36, 207, Z. 23–26. Die Aussage, Lucifer sei der vornehmste aller Engel gewesen und durch Hochmut gefallen, geht auf eine Kombination zweier biblischer Texte zurück: auf ein Triumphlied über den König von Babel und auf Aussagen in Genesis). Luther empfiehlt seinen Hörerinnen und Hörern nun eine demütige Haltung: „Das erste ist also die Demut. Die sollen alle Weiber und Männer lernen. Sie sollen dieses Bild in ihr Herz
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aufnehmen und erschrecken, wenn sie stolze, störrische Köpfe sind …“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, im Hause, 2. 7. 1532; WA 36, 208, Z. 29–31). Luther bindet in dieser Predigt ganz im Sinne des Wortlauts des Texts im Lukasevangelium die Zusage des Eingreifens Gottes an die Demut: „Ihr seht es und werdet es [auch künftig] sehen: Alles, was hoffärtig ist, wird gedemütigt, und umgekehrt: Der, der demütig ist [humilis], muß hervor“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, im Hause, 2. 7. 1532; WA 36, 213, Z. 18f.). „Wenn sie nun alle so klug wären und demütigten sich, ließe [Gott] sie dabei bleiben“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, im Hause, 2. 7. 1532; WA 36, 214, Z. 2f.). Nochmals sieben Jahre später, 1539, klingt es in einer Predigt Luthers so: „Auch dies ist ein Wunderwerk, dass die Jungfrau nicht hochmütig wird“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, nachmittags, 2. 7. 1539; WA 47, 832, 2f.). Und in einer Predigt des Jahres 1544: „Das aber ist die Summa, dass Gott Stolz und Hochmut nicht leiden kann, dass er aber denen, die ihn fürchten und demütig sind, gnädig sein will. Danach mag sich jeder richten. Wer es nicht glauben will, der mache die Erfahrung …“ (Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, 2. 7. 1544; WA 49, 492, 23–25). Sein Fazit lautet nun so: „Wer es vermag, der lerne deswegen humilitatem und sei zufrieden im geringen Stand …“ (ebd., WA 49, 498, 16f.). In einer anderen Nachschrift endet diese Predigt so: „Gott wird ihn sehr wohl erhöhen und ihn mit gnädigen Augen ansehen“ (ebd., WA 49, 498, 40f.).
7. Résumée: Luther selbst bleibt nicht konsequent bei seiner Umdeutung Luther lehnte es scharf ab, mit der vorherrschenden Deutungstradition in Lukas 1, 48 eine vorbildliche Demut Marias ausgesagt zu finden. Er betonte stattdessen, es komme auf Gottes gnädiges Hin-Sehen an, nicht auf irgendwelche menschlichen Leistungen, und seien es es auch die Marias. Das lateinische humilitas im Text der Biblia Vulgata, behauptete er, sei wie das griechische tapeinosis als ‚Niedrigkeit‘ oder als ‚Nichtigkeit‘ zu verstehen. Maria akzeptiere ihre niedrige soziale Position im Vertrauen auf Gott. Gerade das ermutige einfache Christen, auch ihrerseits auf Gottes rettendes Eingreifen zu hoffen. Damit setzte Luther sich auch gegen den Wortlaut des biblischen Textes ab, der ja – vereinfacht gesagt – Gott dafür preist, dass er die Hohen erniedrige und die Niedrigen erhöhe. In späteren Predigten hielt Luther an dieser scharfen Abweisung tugendhafter Demut nicht länger fest. Der Befund ist verschieden deutbar.
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Angesichts der Erfahrung mit Hochmut und Überheblichkeit in seiner Predigthörerschaft mag ihm der Wert der Demut erneut wichtig geworden sein. Es kann aber immerhin auch sein, dass Luther voraussetzte, seinen Predigthörern sei mittlerweile klar genug gemacht worden, dass vor Gott kein Verdienst gelte, weil Gott die Gottlosen umsonst rechtfertige, und dass er deswegen erneut so ungeschützt die Demut zu preisen wagte. Es bleibt erstaunlich, dass Luther als ein Protagonist der Reformation einen Begriff von zentraler Bedeutung, den inhaltlich anders zu füllen er sich so bemüht hat, später doch erneut in seiner alten Bedeutung zu verwenden scheint.
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Albrecht Greule (Regensburg)
Etymologie und Theolinguistik. Über den Erkenntniswert etymologischer Erforschung religiöser Begriffe am Beispiel des Theolexems nhd. weih 1. St. Galler Paternoster Die Problematik, die sich für das Theolexem1 nhd. weih in sprachgeschichtlich-etymologischer Sicht ergibt, möchte ich einleitend am Vaterunser verdeutlichen. Den Sprechern der deutschen Sprache der Gegenwart ist das Lexem weih durchaus präsent in Wörtern wie Weih-nachten, Weih-rauch und anderen theolektalen Komposita – und im Verbum weihen ‚durch Weihe heiligen‘ (Duden 2001, DWB 28: 651–760). Dem Namenkundler ist das Lexem weih darüber hinaus geläufig aus dem Markennamen Weihenstephan, der eigentlich ein bayerischer Ortsname ist und neben sich andere Ortsnamen hat wie Weihenlinden, Weihenbronn, Weihenzell, Weihmannsried (bei Gotteszell, Deggendorf ), Weihmichl, Weihmörting, Weihprechting. Es ist leicht zu erkennen, dass diese weih-Namen im Süden Deutschlands (vor allem in Bayern) verbreitet sind und dass Weihenstephan nichts anderes bedeutet als sanctus Stefanus, heiliger Stefan. Im Vaterunser taucht das Lexem weih aber gar nicht auf – wird man einwerfen. Anders ist das, wenn wir uns die ersten deutschen Übersetzungen dieses Gebets anschauen. Die älteste Übersetzung, das St. Galler Paternoster vom Ende des 8. Jahrhunderts, die möglicherweise in Regensburg entstand, bietet für die Bitte sanctificetur nomen tuum nämlich den althochdeutschen Satz uuihi namun dinan, was zwar übersetzt wird mit „weihe deinen Namen“, aber zu viel Diskussion Anlass gab. Zum Beispiel verweist Horst Schlosser (Althochdeutsche Literatur 2004: S. 32f.)
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Mit Theolexem werden Lexeme kategorisiert, die vorwiegend in der Kommunikation über/ mit Gott vorkommen und diese charakterisieren. – Der Vortrag wurde ursprünglich für die Sektion „Theolinguistik“ bei der Tagung der „Gesellschaft für Sprache und Sprachen (Gesus)“ in Freiburg/Breisgau (3.3.2010) konzipiert.
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auf die scheinbar fehlerhafte Übersetzung (nicht als Konjunktiv Präsens Passiv wie im Latein), die aber an Joh 12,28 („Vater, verherrliche deinen Namen“) angelehnt sei. Da auch die nächst ältesten Übersetzungen (Freisinger und Weißenburger Paternoster) das Lexem uuîhi- ‚heiligen‘ aufweisen – allerdings mit dem Versuch, das Passiv wiederzugeben (kauuihit si, giuuihit si) – ist die Frage erlaubt, wie das Lexem weih(en), ahd. uuîhi- in das Vaterunser kommt – wo wir doch heute und schon in der althochdeutschen Übersetzung der Evanglienharmonie des Tatian an der gleichen Stelle das Verb heiligen bzw. ahd. heilagon vorfinden. Ich will dazu die Vermutung äußern, dass die oberdeutschen Vaterunser-Übersetzungen unter dem Einfluss der einige Jahrhunderte zuvor entstandenen Bibelübersetzung des Gotenbischofs Wulfila standen (Eggers 1963:152). Im gotischen Vaterunser lesen wir an der Stelle: weihnai namo Þein, d.h. genau übersetzt „heilig werde dein Name“. Allerdings hatte Wulfila das inkohative Verbum weihnan ‚heilig werden‘ zur Verfügung, während die althochdeutschen Übersetzer vom selben Lexem nur das kausative Verb uuīhen ‚heilig machen‘ kannten. (Anderen, nämlich iro-schottischen Einflüssen ist die Übersetzungstradition ausgesetzt, die nicht weih oder uuīhi anstelle von lat. sanctus sagt und schreibt, sondern heilig/heilag.)
2. Zwei Arten von Etymologie Etymologen suchen nach den Anfängen eines Wortes in einer Sprache, wobei nicht klar ist, wo der Anfang liegt. Im Falle des Theolexems weih ist die Frage nach dem etymologischen Anfang relativ kompliziert; sie führt nämlich zugleich zu den Anfängen der deutschen Sakralsprache. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Denn Etymologie hat zwei Seiten: eine vorwissenschaftliche, die auch gerne als „Volksetymologie“ oder „Gelehrtenetymologie“ bezeichnet wird, und die wissenschaftliche, die die Ergebnisse der historischen Sprachwissenschaft berücksichtigen muss. Der Unterschied lässt sich gut an einer Anfrage an die Sprachberatungsstelle der Gesellschaft für deutsche Sprache (Wiesbaden) verdeutlichen.2 Die Anfrage lautete: „Bei einem Kolloquium in unserer Kirchengemeinde tauchte die Frage auf, woher das Wort Gott komme. Da erinnerte ich mich meines Religionslehrers (…), der sagte, Gott komme von gut. Man war mir dankbar für diese weise Auskunft. Hinterher aber kamen mir Zweifel. Können Sie diese bestätigen oder zerstreuen?“
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Sprachdienst 29, 1985, S. 148f.
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Ich zitiere noch den Anfang der Antwort des Sprachwissenschaftlers auf diese Anfrage: „Es ist natürlich sehr verlockend, die Wörter Gott und gut ihrer Herkunft nach in Verbindung zu bringen. Das scheint vom Klang her (…) nahezuliegen. Und es scheint so, als ob die Theologie (…) eine solche Verwandtschaft auch vom Denkinhalt her stützt: Gott gilt als das höchste Gut, als Summum bonum …“. Das dann folgende „Aber“ in der Antwort ist die wissenschaftliche Auskunft zur „wahren“ Etymologie des Wortes Gott. Ich werde sie gleich ausführen; zuvor aber noch einige Schlussfolgerungen aus der Anfrage an die Sprachberatung. Erstens: es gibt so etwas wie eine curiosité étymologique, eine menschliche Neugierde, die etwas über den Ursprung der Wörter zu wissen versucht, die nach dem Woher fragt. Zweitens: Laien – dazu gehören in diesem Falle auch die Theologen –, die die Wandlungsprozesse, die die Wörter im Verlauf ihrer Geschichte durchmachen, nicht kennen können, weichen auf mehr oder minder plausible und fantasievolle „Erklärungen“ aus. Auch Karl Valentins Sketch von den „Semmelnknödeln“, der die Sprachlogik infrage stellt, gehört dazu. Im Falle des Wortes Gott stehen trotz der semantischen Plausibilität die Lautgesetze im Weg: Das /u/ von gut ist lang und geht auf mhd. guot zurück, während das /o/ in Gott kurz ist und auf einem germanischen Wort *gudan beruht. Drittens ist die Enttäuschung bei den „interessierten Laien“ meist groß, wenn der Fachmann die schöne Laienetymologie als falsch erklärt und die „wahre“ Etymologie vorträgt. Jetzt können wir uns fragen, welche Erkenntnis z. B. die wissenschaftliche Etymologie von Gott dem theologisch Interessierten vermittelt und wie groß der Erkenntniswert und die Aussagekraft im Vergleich zu der Zufallsetymologie für ihn ist, die da verkündet: Gott kommt von gut, denn er ist das Summum bonum. Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass das germanische Wort *gudan, auf das das deutsche, englische usw. Wort für Gott zurückgeht, ein Neutrum ist, also ursprünglich ein Ding, vielleicht ein Bild, bezeichnete. Zum Maskulinum wurde das Wort durch einen vermutlich metonymischen Bedeutungswandel, durch den das Wort vom Götterbild auf einen Gott selbst übertragen wurde. Es ist ganz erstaunlich, dass die Erforscher des Indogermanischen, zu welcher Sprachfamilie auch die germanischen Sprachen gehören, germanisch *gudan sowohl mit altindisch hutám mit der Bedeutung ‚das Geopferte‘ gleichsetzen, als auch mit griechisch chytón ‚das Gegossene‘. Daraus ist etymologisch zu schließen, dass das Wort Gott ein Neutrum des Partizips Perfekt Passiv war, wenn man es auf seine indogermanischen Ursprünge zurückführt (vgl. Kluge 2002). Ich nenne so etwas – ketzerisch – eine „weiter-zurückgeht-es-nicht-Etymologie“. Fassen wir kurz zusammen: Es gibt zwei Antworten auf die Frage nach dem Woher der Wörter: eine sprachwissenschaftlich begründete und
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eine assoziative. Die assoziative Etymologie hat allerdings die philosophische Schule der Stoa, ja sogar Plato, auf ihrer Seite. Die Stoiker wollten das „Etymon“, das Wahre, aus den Wörtern herauslesen. Platon sagt beispielsweise: Der Name des Meeresgottes Poseidon komme daher, dass das Meer seinen (Poseidons) Füßen Fesseln anlegt: griechisch posi-desmos „den Füßen eine Fessel“ (Sanders 1967). Doch ist die assoziative Etymologie in unserem Zusammenhang wohl nur geistesgeschichtlich von Interesse. Ich will daher weiter der Frage nachgehen, welchen Erkenntniswert die wissenschaftliche Etymologie für uns hat.
3. Etymologie von weih Zum Lexem weih geben uns die etymologischen Wörterbücher den Hinweis auf ein germanisches Adjektiv *weiha-, got. weihs, mit der Bedeutung ‚heilig, geweiht, numinos‘, das im Altsächischen und Altisländischen die Bedeutung ‚Tempel‘ und im Altenglischen die Bedeutung ‚Götterbild‘ annahm. Das heißt: Das Adjektiv *weiha- war aus der Sicht christlicher Missionare mit der Numinosität heidnischer Götter verbunden, die noch durch die Existenz eines germanischen Verbs (gotisch) weihan ‚kämpfen‘ verstärkt wurde. Es ist daher umso erstaunlicher, dass dieses „heidnische“ Lexem überhaupt bei der Herausbildung der deutschen christlichen Sakralsprache eine Rolle spielen konnte – welche Rolle, werden wir gleich sehen. Aber zurück zur „wahren“ Etymologe von weih und uuîh! Es wird direkt mit lateinisch victima ‚Opfertier‘ und mit altindisch vinákti ‚er siebt, trennt, unterscheidet‘ (idg. Wurzel *ܜeik-) in Verbindung gebracht (LIV 2001:670). Mit anderen Worten: Mit germanisch *weiha- wurde dasjenige, das für den (religiösen) Dienst an den Göttern separiert worden war, bezeichnet. Über die zweifellos interessante Erkenntnis hinaus, dass *weiha- bereits ein Lexem heidnischer theolektaler Kommunikation war, erfahren wir nichts wesentlich Neues. Interessant wird es erst, wenn wir uns der Strecke der Etymologie zuwenden, auf der Missionare den germanischen Sprachstämmen christliche Inhalte vermitteln wollten, also auf die erste Wegstrecke der Entstehung einer deutschen christlichen Sakralsprache.
4. Adaptation christlicher Begriffe im Althochdeutschen Wir wissen aus intensiven Forschungen zum Deutschen des 8. und 9. Jahrhunderts, dass die Übersetzer christlicher Texte in lateinischer Sprache mehrere Strategien anwandten. Sie konnten erstens auf relativ frühe Lehnwörter zurückgreifen. Diese betreffen in erster Linie die Sachkultur
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(Eggers 1963:111–134). So geht z. B. die Benennung des Gotteshauses als Kirche (ahd. kirihha) auf ein vulgär-griechisch-lateinisches *kirika (griech. kyriakón ‚Haus des Herrn‘) zurück. Die zweite Strategie der Integration christlicher Begriffe wird in der Forschung „Lehnübersetzung“ genannt; es handelt sich um eine Glied-für-Glied-Übersetzung. Sie lässt sich sehr gut an lat. misericordia, einem zentralen Begriff der christliche Ethik, für den es in den germanischen Sprachen keine Entsprechung gab, verdeutlichen. Die Kenner der lateinischen Sprache zerlegten das Wort misericordia in die Bestandteile miser, cors und -ia und setzten dafür die germanischen Entsprechungen arm, herz- und -î (> ahd. armherzî); später wurde diese Kreation im Deutschen an Erbarmen angelehnt und zu Barmherzigkeit verdeutlicht (Eggers 1963:153). Die dritte Strategie ist die der „Lehnbedeutung“. Sie besteht darin, einem bereits vorhandenen germanischen Wort eine christliche Bedeutung quasi unterzuschieben. In diese Kategorie gehört, wie eingangs gezeigt, unser althochdeutsches Lexem uuîh. Um sein Schicksal in der deutschen Sprache gerecht beurteilen zu können, müssen wir abschließend noch eine weitere Tatsache in den Blick nehmen. Es handelt sich um die Missionspolitik im Frankenreich.
5. Zwei Missionen im Frankenreich mit unterschiedlichen Folgen für die Sprache Mindestens zwei unterschiedliche Missionsströme im Reich der Franken (etwa ab dem 7. Jh. n. Chr.) bleiben nicht ohne Einfluss auf die Ausbildung einer deutschen Sakral- und Kirchensprache. Es sind einmal die Mission der Angelsachsen und ihre Auswirkungen auf die Sprache mehr in der Mitte und im Norden Deutschlands und die Auswirkungen der gotisch-arianischen Mission, die im Süden des deutschen Sprachgebiets, besonders in Baiern, bis in den Namenschatz hinein, deutliche Spuren hinterlässt. Sehr deutlich wird die Zweiheit an der Übersetzung von spiritus sanctus: Die süddeutsche Übersetzung ins Althochdeutsche lautet uuîh âtum, eine – wie wir wissen – Formulierung, die sich im Deutschen nicht durchsetzt. Dort setzte sich vielmehr der Übersetzungsversuch heilag geist durch, dessen angelsächsische Herkunft wir noch heute an englisch holy ghost sehen können. Das Schicksal, gänzlich zu verschwinden, bleibt dem althochdeutschensüddeutschen uuîh zum Teil erspart. Es ist zunächst, wie wir gesehen haben, die bairische Variante für die Übersetzung von lateinisch sanctus und steht bei der Herausbildung einer einheitlichen deutschen Sakralsprache in Konkurrenz zu heilag/heilig und blieb angeblich bis ins 19. Jahrhundert
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in der Form weich mundartlich lebendig (DWB 28:473f.). Das Lexem konnte sich allerdings in veränderter Gestalt, nämlich als Weiterbildung zum kausativen Verb weihen „heilig machen“, über die Runden retten. Die Form, in der ich das Theolexem weih als Element der heutigen deutschen Sprache bislang geboten habe, ist genau genommen der Stamm des Verbs weih-en. Er liegt auch vor in Komposita wie Weihbischof, Weihwasser u.a., aber nicht in Weih-nacht ‚heilige Nacht‘ oder Weih-rauch ‚heiliger Rauch‘. Die innersprachlichen Gründe für das völlige Verschwinden des selbständigen Adjektivs weih oder weich sind vielfältig. Erstens musste seit frühneuhochdeutscher Zeit die Homonymie zum Adjektiv weich ‚nicht hart‘ (in Weich-spüler usw., ahd. weih) und zu Weich- in Weichbild (mhd. wîchbilde) vermieden werden. Zweitens haftete an ahd. wîh wohl noch die heidnische Konnotation. Drittens stand der Konkurrent heilag/heilig in deutlichem Zusammenhang mit anderen christlichen Wertbegriffen wie Heiland und heil/Heil, eine Wortfamilie, die weih fehlt.
6. Das Theolexem weih heute Fassen wir zusammen, welche Einsichten wir für die kommunikative Praxis heute gewonnen haben. Das Lexem ist als Regionalismus in der Form weih mit der Bedeutung ‚sanctus‘ in Ortsnamen noch vorhanden; dass die Sprecher/innen darin die Bedeutung ‚sanctus‘ aber erkennen, darf bezweifelt werden. Gleiches gilt für das blockierte Auftreten von weih- ‚heilig‘ in der standardsprachlichen Festbezeichnung Weihnachten. Die anderen Komposita wie Weihrauch gehören der kirchlichen Fachsprache an, ebenso das Verbum weih-en und das zugehörige Nomen Weihe. Sie sind sakral- bzw. kirchensprachliche Technizismen. Man könnte, wenn Sprachgeschichte ein Drama wäre, sagen, dass das germanische Lexem *weiha- ‚sanctus‘ von seinem Konkurrenten heilig aus der einheitlichen Standardsprache völlig in den Hintergrund gedrängt wurde und dort entweder ohne echten Inhalt erstarrte oder auf den Bereich kirchlicher Fachsprache eingeschränkt wurde, also nur noch eine Nebenrolle spielt.
7. Ergebnisse Ich möchte – hinsichtlich des Erkenntniswerts, den uns die Befassung mit der Etymologie von Theolexemen vermitteln kann – folgende Schlüsse ziehen:
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1. Es gibt zwei Arten von Etymologie. 2. Die sprachwissenschaftliche Etymologie kann uns helfen, die heutigen kommunikativen Konditionen eines Theolexems zu klären. 3. Sprachwissenschaftliche Etymologie erstreckt sich über verschiedene geschichtliche Etappen von unterschiedlichem Aussagewert. 4. Unter den Etappen ist die Periode, in der die christliche Begrifflichkeit in die germanischen Sprachen integriert oder an sie adaptiert wurde, besonders wichtig und interessant. Eine andere wichtige Periode ist z.B. die der Reformationszeit. 5. Um die Entwicklung, das Aufkommen oder Verschwinden eines Theolexems richtig beurteilen zu können, ist auch die Kenntnis der bis auf die Grundsprache zurückgehenden (indogermanischen) Herkunft eines Wortes aussagekräftig. 6. Die assoziative Etymologie lässt subjektiven oder nicht sprachwissenschaftlich begründeten Anspielungen und der Phantasie jeglichen Spielraum. Sie ist nicht an Lautgesetze gebunden und daher für die Sprach- und Wortgeschichte von geringem Wert.
Quellen Althochdeutsche Literatur (2004). Mit altniederdeutschen Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar, hg. v. Horst Dieter Schlosser. 2. Aufl., Berlin. Duden (2001). Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweitere Aufl. Hg. von der Dudenredaktion, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854–1971. Kluge (2002), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24., durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin/New York. LIV (2001) = Lexikon indogermanischer Verben. Die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. 2., erweiterte und verbesserte Auflage bearbeitet von Martin Kümmel und Helmut Rix, Wiesbaden.
Literatur Eggers, Hans (1963): Deutsche Sprachgeschichte I. Das Althochdeutsche, Reinbek bei Hamburg. Sanders, Willy (1967): Grundzüge und Wandlungen der Etymologie, in: Wirkendes Wort 17, 361–384.
Marie-Luise Sessler (Heidelberg)
Sinnliche Erfahrungen des Absoluten Tendenzen der semantischen Erweiterung in den deutschen Predigten Meister Eckharts Religion in ihrer ursprünglichen Form operiert nicht mit differenzierten Begriffssystemen und komplexen sprachlichen Inhalten. Sie versucht den Menschen zu seinem Ursprung, zu dem Göttlichen, über Mythos, Kult und Ritual zurückzubinden. Sie berührt ihn in einer psychischen Grunderfahrung, welche Rudolf Otto (vgl. Otto 1917) das Gefühl des Heiligen nennt, eine Art Erfahrung des Transzendenten, ein unbewusstes Wahrnehmen mit der Umgebung verbunden und Teil eines großen Ganzen zu sein, wie es die moderne Psychologie und Hirnforschung umschreiben würde (vgl. u.a. Persinger 1999, Azari 2001, Linke 2002, Blume 2009). In den mystischen Strömungen der mosaischen Religionen ist dieses Erbe bis heute vielleicht am deutlichsten erhalten geblieben. Die historischen Texte, die dieser Tradition zugeordnet werden, zeugen von einer besonderen poetisch-ästhetischen und klanglichen Qualität. Sie stehen im Fokus aktueller Diskussionen innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Einen Interessenschwerpunkt bildet dabei die Untersuchung, wie diese Texte das Moment des Heiligen bzw. die Präsenz des Absoluten durch akustische und rhythmische Reize auf die Ebene sinnlicher Wahrnehmung transformieren und so emotional erfahrbar machen (vgl. u.a. Czerwinski 1993, Gumbrecht 2004, Kasten/Fischer-Lichte 2007, Ghattas 2009, Hasebrink 2009). Obschon die Zugehörigkeit der deutschen Predigten Meister Eckharts, welche der Gegenstand der vorliegenden Überlegungen sein werden, zur christlichen Mystik bis in die neuere mediävistische Forschung hinein als umstritten gilt, so wird wohl niemand die poetisch-ästhetische Qualität dieser Texte anzweifeln wollen. Die deutschen Predigten Meister Eckharts sind das Schönste und Persönlichste, was wir von Eckhart haben. [...] Sie gehören zum Wertvollsten der mittelalterlichen deutschen Literatur, die an Schätzen nicht arm ist, wenn wir ans Nibelungenlied, an Tristan und Isolde und an Wolfram von Eschenbach denken. (Flasch 2010: 232)
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Wenn Kurt Flasch von der Schönheit der Texte spricht und sie in die Reihe der „Schätze“ mittelhochdeutscher Literatur einordnet, dann liegt dies an den in ihnen enthaltenen poetischen Elementen, die sie überhaupt erst zu ästhetisch rezipierbaren Texten machen. Mit Roman Jakobson (1979) kann hier von „Poetizität“ gesprochen werden, die zweifelsohne in den deutschen Predigten angelegt ist und auf eine bestimmte Wirkung beim Rezipienten zielt. Neben einer hermeneutischen Rezeptionsmöglichkeit ist in ihnen auch eine sinnlich, rituell, performative Ebene angelegt, welche in Abhängigkeit des Aktualisierungskontextes und der individuellen religiösen und soziokulturellen Prägungen des Rezipienten steht. Noch heute können wir diese Rezeptionsmöglichkeiten erfahren: Lesen wir dieselbe Predigt Eckharts zum Beispiel im Kontext eines philosophiegeschichtlichen Proseminars, vielleicht in neuhochdeutscher Übertragung, nach Aspekten der darin enthaltenen Traditionslinien, so wird der Ausschmückung des Textes vermutlich nur geringe Aufmerksamkeit und Wahrnehmung zu teil. Wird die Predigt hingegen in der Originalsprache und von einem charismatischen Sprecher vorgetragen, wird der sprachlichen und klanglichen Gestaltung des Textes vermutlich mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Die Möglichkeit einer sinnlich, rituell, performativen Rezeption der Texte soll im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen. Es wird zu zeigen sein, dass diese Ebene erst durch lautes Vortragen oder Vorlesen vollständig erfahrbar wird und ihr darüber hinaus eine besondere Bedeutung in der speziellen Aktualisierung innerhalb des Gottesdienstes zukommt.
1. Entfaltung der sinnlichen Rezeptionsebene im mündlichen Vortrag Für die heiligen Texte fast aller Religionen gilt, dass sie in ihrer ursprünglichen Form als Vortrags- oder Gesangstexte konzipiert und rezipiert wurden. Ihre Anlage zur mündlichen Rezeption, d.h. zum Gehört-Werden, steht seit wenigen Jahren im Interesse verschiedener Religionswissenschaftler und Theologen. An dieser Stelle soll zunächst die These eines Vertreters dieser Diskussion vorgestellt werden. Christof Hardmeier (2005) geht von alttestamentarischen Texten wie dem Pentateuch in der hebräischen Originalform aus, um zu belegen, dass diese Schriften, obschon sie einer höher entwickelten Stufe von Religion entstammen, d.h. einer Stufe von Schriftreligion, die nach Jan Assmann (2000) ja gerade eine Ablösung der Mündlichkeit durch die Schrift bedeutet, immer noch starke Charakteristika des Mündlichen aufweisen. Bei diesen Texten handelt es sich daher
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um verschriftete Mündlichkeit. Die Verschriftung macht die Texte wiederholbar, aktualisierbar und von Generation zu Generation tradierbar. Sie besitzen so „einen genuin performativen Grundzug“ (Hardmeier 2005: 4). Auch die Predigt ist als genuin mündliche Textsorte aufzufassen. Selbst in ihrer verschrifteten Überlieferungsform bewahrt sie ihren Verkündigungscharakter und weist zahlreiche Mündlichkeitssignale auf, wie etwa direkte Hinwendungen zur Gemeinde, die häufige Rede in der ersten Person, rhetorische Fragen und klanglich-rhythmische Elemente. Überträgt man nun die These Christof Hardmeiers auf die deutschen Predigten Meister Eckharts und deren besondere Überlieferungssituation, so trifft die Bemerkung Georg Steers, die Predigten seien „ein für alle Mal verklungen“ (1992) nur zum Teil zu. Obgleich man den deutschen Predigten Eckharts nicht mehr in ihrer Uraufführung innerhalb des Gottesdienstes beiwohnen kann, so muss man doch festhalten, dass es sich bei diesen Texten um keine unautorisierten Nachschriften handelt. Eckhart verschriftete sie selbst „mit einer außergewöhnlichen Energie“ (Sturlese 2008: 3), damit sie aufbewahrt, verbreitet und wiederholt, immer wieder von neuem aktualisiert werden und erklingen können. Sie tragen neben den verschieden Merkmalen des Mündlichen in besonders hohem und schönem Maße Klangfiguren, die nur durch eine viva vox lebendig und erfahrbar werden. Auch wenn man die Texte Eckharts in ihrer literarischen Form primär als Lesepredigten verstehen möchte, so widerspricht dies nicht meiner These. Das mittelalterliche Leseverhalten, im Unterschied zu dessen moderner Ausübungsform, ist in den meisten Fällen ein lautes Vor- und Verlesen innerhalb einer Gemeinschaft. Man geht zudem davon aus, dass der mittelalterliche Leser auch in der privaten Einzellektüre die Lippen bewegte und das Gelesene lautlich abbildete.
2. Produktion von religiösen Emotionen durch akustische Mittel Die Produktion von religiösen Emotionen durch akustische und rhythmisierende Mittel ist ein universales Phänomen, das sich in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und zu unterschiedlichen Zeiten wiederfindet. Werden diese Emotionen durch gesangliche Vorträge oder die Rezitation heiliger Texte hervorgerufen, kann es in ausgeprägten Fällen soweit führen, dass die sprachlichen Laute selbstreferenziell werden und sich der Musik annähern (vgl. Morris 1973). Die sinnliche Rezeptionsebene überlagert die hermeneutische in solchen Fällen gänzlich. Ich gebe drei Beispiele:
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Rudolf Otto (1917) beschreibt dieses Phänomen innerhalb des christlichen Gottesdienstes: Das am intensivsten empfundene Moment des Heiligen innerhalb der Messe sei das Kyrieleis und das Halleluja, weil der Gläubige dieses als archaisch wahrnimmt, es gerade nicht mehr inhaltlich erfasst und es daher als besonders feierlich, ergreifend und eben heilig empfindet. Jan Assmann (2000) hebt die enorme kultische Wirkkraft sogenannter onomata barbara in gräco-ägyptischen Zauberpapyri hervor, welche in ihrem Ursprung nicht bedeutungslos sind, deren Sinn der damalige Hörer und Sprecher aber bereits vergessen hatte. Die Sprache wird als Göttersprache verstanden. „Auch wenn sie uns fremd geworden ist, so vermag sie uns doch, indem wir sie sprechen, zu den Göttern emporzuziehen.“ (Assmann 2000: 159). Auch innerhalb der Islamwissenschaft wird dieses religiöse Erfahren thematisiert. Navid Kermani (2000) führt aus, dass bei der Rezitation des Korans die ersten Hörer, selbst jene, die des Arabischen nicht mächtig waren, so von seiner klanglichen Schönheit verzückt waren, dass sie in Ekstase, Ohnmacht, Staunen, Weinen und Schreien verfielen und sich sofort zum Islam bekannten. Über den Einsatz und die Wahrnehmung akustischer Mittel in der mittelalterlichen Predigt finden sich Belege in vielen zeitgenössischen Abhandlungen zu dieser Textsorte. Obschon in den meisten der predigttheoretischen Ansätze, wie etwa bei Alanus ab Insulis, Wilhelm von Auvergne oder Thomas Waleys (vgl. Roth 1956) die Erzeugung affektiver Rührung beim Hörenden, z.B. durch die Verwendung sogenannter verba comotativa, befürwortet wird, gilt der Einsatz von rhythmischen und klanglichen Elementen als umstritten. Zwar gesteht man ihren Gebrauch in geringem Maße zu, da sich solche Elemente auch in biblischen Büchern, wie den Psalmen finden, aber dennoch schätzt man die sich reimenden Endungen der Teilungsglieder als eine gefährliche Ablenkung des Hörenden vom eigentlichen Inhalt der Predigt ein. Der häufige Gebrauch des color rhythmicus ist für die akademischen, also in der lateinischen Sprache verfassten Predigten Meister Eckharts belegt (vgl. Steer 1992). Sie scheinen ein beliebtes Stilmittel zu sein, welches in den lateinischen Predigten, selbst in denen die Eckhart – um mit Josef Koch zu sprechen – nicht „bis zum letzten ausgearbeitet“ (Koch 1975) hat, trotz ihres Entwurfcharakters die Verwendung des color rhythmicus erkennen lassen: „Er besteht vor allem darin, dass die Gliederungen in Reimprosa gebracht werden, d.h. das wenigstens die letzten Worte gleichklingende Endungen haben.“ (Koch 1975: XXIX) Sie sind ein spezifisch lateinisches Stilmittel und im Deutschen nur schwer bis kaum nachzuahmen. Eckhart ist also veranlasst, in den deutschen Predigten eine sprachspezifische Alternative zu finden. In der deutschen Sprache sind Klangfiguren wie Alliteration, Anapher, Assonanz, Konsonanz, Euphonie,
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Paronomasie, Onomatopöie, phonetische Parallelismen und refrainartige Strukturen realisierbar. Weil sie ähnlich rhythmisierende und rezeptionsästhetische Wirkkraft besitzen, können sie einen Ersatz für das lateinische Stilmittel bilden. Eckhart zielt durch den Gebrauch klanglicher Elemente wohl nicht auf eine vollständige Entsemantisierung der inhaltlichen Ebene zugunsten einer sinnlichen Ebene. Die philosophisch komplexen und vielleicht für einen nicht im monastischen oder universitären Sinn theologisch-philosophisch vorgebildeten Zuhörer innerhalb des Gottesdienstes schwierig fassbaren Theoreme versucht er durch Variationen, Wiederholungen und beispielhaften Erläuterungen darzustellen. Daher könnte man vermuten, dass die akustischen Mittel dem Inhalt bedeutungserweiternd hinzutreten und ihn intensivieren. Ein Exzerpt aus der Predigt 10 ist ein Beleg für die stark ausgeprägte klangliche Schönheit und poetisch-ästhetische Qualität der Predigten Meister Eckharts. Die zentralen Ausdrücke des kurzen Abschnittes got, minne, inne/in und wonen werden mehrfach wiederholt und unterschiedlich kombiniert. Eine Besonderheit ist neben den /g/- und /w/-Alliterationen, das sehr einprägsame klangliche und rhythmisierende Spiel mit den Worten inne und minne, das die letzten Sätze des Auszugs dominiert. Ez sprichet sant Johannes: 冓deus caritas est冔, 冓got ist diu minne冔, und diu minne ist got, 冓und wer in der minne wonet, der wonet in gote und got wonet in im冔. Der dâ in gote wonet, der hât wol gehûset und ist ein erbe gotes, und in wem got wonet, der hât wirdige hûsgenôzen in im. Nû sprichet ein meister, daz der sêle werde gegeben ein gâbe von gote, dâ von diu sêle beweget wirt ze innern dingen. Ez sprichet ein meister, daz diu sêle berüeret wirt âne mittel von dem heiligen geiste, wan in der minne, dâ sich got selben inne minnet, in der minne minnet er mich, und diu sêle minnet got in der selben minne, dâ er sich selben inne minnet,
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und enwære disiu minne niht, dar inne got die sêle minnet, der heilige geist enwære niht. Ez ist ein hitze und ein ûzblüejen des heiligen geistes, dar inne diu sêle got minnet.1
3. Die Predigt als intellektuelles Ritual – eine besondere Form der Aktualisierung innerhalb des Gottesdienstes Die neuere Eckhartforschung ist sich weitgehend einig, dass es sich bei den volkssprachlichen Predigten Meister Eckharts um Messpredigten handelt, da alle – bis auf wenige Ausnahmen – im Kontext der dominikanischen Messliturgie stehen (Theisen 1990, Sturlese 2008). Auch wenn die Rekonstruktion der ästhetischen Wirkkraft historischer Predigten als nicht unproblematisch einzuschätzen ist, soll im Folgenden dennoch der Versuch unternommen werden. Die mündlich vorgetragene Predigt innerhalb der heiligen Messe kann als kultische Rede (vgl. Jungmann 1948) oder intellektuelles Ritual (vgl. Lang 1998) begriffen werden. Sie ist untrennbar mit der Messe und der dazugehörigen Liturgie verbunden, in der sie stattfindet und steht gerade nicht isoliert als moralische Belehrung oder rednerische Unterbrechung außerhalb des heiligen Gesamtgeschehens. Ähnlich wie Gesang, Gebet und Eucharistie ist sie ein integrales Moment des liturgischen Ereignisses. Zielen rituelle Handlungen in einem allgemeinen Sinn darauf, die Gegenwart des Absoluten herbeizuführen – auf welche Weise auch immer dies geschehen mag – so kann die Messe als Ritual begriffen werden, deren gesamter Ablauf auf den Höhepunkt der Eucharistiefeier hin angelegt ist, in der die Präsenz Christi herbeigeführt werden soll. Die liturgische Feier ist in ihrem Ganzen geprägt durch einen gegenwartschaffenden Charakter. Ihre Elemente sind nicht nur darauf hin angelegt, das vergangene Erlösungswerk Christi in Erinnerung zu rufen, sondern es bzw. ihn, also Christus selbst, gegenwärtig zu setzen (vgl. Theisen 1990). In diesem Zusammenhang wird die Predigt in ihrem sakralen Gehalt sodann als initatio, als eine Hinführung zum Mysterium Christi (vgl. Jungmann 1948)
1
Alle Belegstellen aus den deutschen Predigten Meister Eckharts sind nach der Quint’schen Zählung nummeriert und nach der kritischen Gesamtausgabe (siehe Quellenverzeichnis) zitiert. Die Anordnung des Textes und die optischen Hervorhebungen wurden von mir durchgeführt.
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verstanden. Um diese Hinführung zu leisten, ist eine solche Predigt meist vielschichtig angelegt, wobei die einzelnen Funktionen nicht voneinander zu trennen sind. Auf einer ersten Stufe will die Predigt als ethische Predigt den Gläubigen läutern; auf der nächst höheren Stufe will sie belehren und den Gläubigen zur Erleuchtung führen und auf der höchsten Stufe in ihrer erweckenden Funktion die Präsenz Gottes herbeiführen oder sogar die Vereinigung mit Gott initiieren. (vgl. Lang 1998). Auch bei Eckhart sind diese Züge deutlich zu erkennen. Während die ersten beiden Funktionen eher auf konkreten Inhalten fußen, mit rationalen Argumenten oder Autoritätsbeweisen gestützt werden, stößt die letzte Ebene an die Grenze sprachlicher Inhalte. Hier operiert sie nicht mehr mit konkreten Inhalten, sondern versucht den Hörer durch ein diskursiv nicht erfahrbares, emotionales Moment in seiner religiösen Grunderfahrung zu berühren. Auf dieser Stufe gleicht die Predigt mehr einer hymnesis, einem liturgischen Lobgesang auf die Herrlichkeit Gottes (vgl. Bopp 1960). Im Folgenden soll einem Textbeispiel aus den deutschen Predigten Meister Eckharts nähere Aufmerksamkeit geschenkt werden, das auf eine besondere Weise den gegenwartschaffenden Charakter der Predigten repräsentiert. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus der Predigt 76 Videte qualem caritatem dedit nobis pater, ut filii dei nominemur et simus (1. Joh. 3,1), welche Joachim Theisen (1990) auf den zweiten Sonntag nach der Osteroktav 1311, 1316 oder 1322 datiert, also einem historischen Gottesdienst zuordnet. Die Predigt ist dem Thema „Erkenntnis“ gewidmet. Es geht um eine (philosophiegeschichtlich höchst interessante) Realidentität von GottErkennen und Durch-Gott-Erkannt-Werden, die näher ausgeführt und mit anderen Theoremen wie der Gottessohnschaft verknüpft wird. Die Präsenzerfahrung wird hier durch rituelle Wiederholung und rhythmisierenden Klang vorbereitet. Der Anfang der abgedruckten Textpassage, der auch den Beginn der Predigt bildet, setzt sich aus parallel, chiastisch, und umarmend gebauten Sätzen zusammen, die immer wieder Wortformen von bekennen und sehen wiederholen und unterschiedlich kombinieren. Im naturwissenschaftlichen Beispiel der erhellten oder erleuchteten Luft, welches die Erkenntnisthese näher erläutern soll, wird die Aufmerksamkeit des Hörers auf das Wort erliuhtet gelenkt. Es wird innerhalb des Satzes viermal wiederholt. Im zweiten Teil erzeugen die zweisilbigen, ebenfalls chiastisch kombinierten Ausdrücke âne zît, âne stat, âne hie und âne nû eine rhythmisierende Struktur, die durch die viermalige Wiederholung des Ausdrucks al erweitert wird. Hinzukommend ist eine ebenfalls rhythmisierende /a/-Alliteration zu erkennen. Der zweite Teil der Textpassage weist zudem einen steigenden Aufbau auf. Neben dem Schlüsselwort bekennen, ist hier die zahlreiche Verwendung der Kopula und sowie der gleichklin-
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genden Personalpronomina mîn und dîn von besonderer Auffälligkeit. Der inhaltliche Höhepunkt der Predigt, die Sichtbarwerdung des Gottessohnes, auch eine Präsenz des Absoluten, wird auf eine sinnliche Ebene transformiert. Der polysyndetische Charakter der Textpassage wird an dieser Stelle durch den Ausruf sehet brüeder durchbrochen. Der Gottessohn wird an dieser Stelle hörbar und sichtbar. Er manifestiert sich im Vortragenden. Ez ist ze wizzenne, daz daz ein ist nâch dingen: got bekennen und von gote bekant ze sînne und got sehen und von gote gesehen ze sînne. In dem bekennen wir got und sehen, daz er uns machet gesehende und bekennende. Und als der luft, der erliuhtet ist, niht anders enist, wan daz er erliuhtet, wan von dem erliuhtet er, daz er erliuhtet ist, alsô bekennen wir, daz wir bekant sîn und daz er uns sich machet bekennende. […] und diz bekennen ist âne zît und âne stat, âne hie und âne nû. In disem lebene sint alliu dinc ein, alliu dinc gemeine al und al in al und al geeiniget. Got machet uns sich selber bekennende, und bekennende machet er uns sich selber bekennende, und sîn wesen ist sîn bekennen, und ez ist daz selbe, daz er mich machet bekennende und daz ich bekenne. Und dar umbe ist sîn bekennen mîn, als in dem meister ein ist, daz er lêret, und in dem jünger, daz er gelêret wirt. Und wan denne sîn bekennen mîn ist und wan sîn substancie sîn bekennen ist und sîn natûre und sîn wesen, dar nâch volget, daz sîn wesen und sîn substancie und sîn natûre mîn ist. Und wan denne sîn substancie, sîn wesen und sîn natûre mîn ist, sô bin ich der sun gotes. 冓Sehet冔, brüeder, 冓welche minne uns got gegeben hât, daz wir geheizen sîn der sun gotes und sîn冔. […]
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4. Zusammenfassung Zusammenfassend ist zu sagen, dass die deutschen Predigten Meister Eckharts neben einer hermeneutischen auch eine sinnlich, rituell, performative Bedeutungsebene besitzen, welche sich im mündlichen Vortrag entfaltet und eine besondere Form der Aktualisierung innerhalb des Gottesdienstes erfährt. Während die hermeneutische Komponente nach den klassischen Methoden der historischen Semantik auf Wort-, Satz-, Text- und Diskursebene analysiert werden kann, muss für die Bestimmung der Bedeutung der sinnlichen Komponenten ein interdisziplinärer Weg beschritten werden. Eine mögliche Vorgehensweise wurde in diesem Beitrag skizziert.
Quellen Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1. Abteilung: Die deutschen Werke, Josef Quint (Hg.). Meister Eckharts Predigten, Bde. I-III, Stuttgart 1958, 1971, 1976. Und 2. Abteilung: Die lateinischen Werke, Josef Koch et al. (Hrsg.) Bd. IV, Stuttgart 1936–1975.
Literatur Azari, Nina et al. (2001): „Neureal Correlates of Religious Experience“, in: European Journal of Neuroscience 13, 1649–1652. Blume, Michael (2009): Neurotheologie. Hirnforscher erkunden den Glauben, Marburg. Bopp, Linus (1960): Liturgie und Kerygma. Die liturgische Predigt nach Idee und Verwirklichung, Regensburg. Czerwinski, Peter (1993): Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II – Gegenwärtigkeit, Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München. Flasch, Kurt (2010): Meister Eckhart. Philosoph des Christentums, München. Ghattas, Kai Christian (2009): Rhythmus der Bilder. Narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M. Hardmeier, Christof (2005): Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament. Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel, Tübingen. Hasebrink, Burkhard (2009): mitewürker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, S. 62–88.
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Marie-Luise Sessler
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Andreas Deutsch (Heidelberg)
Historische Semantik aus Sicht der Rechtswissenschaft Der Titel des Beitrags mag es schon andeuten – hier schreibt1 ein Jurist, also jemand, der in genau jener Fachsprache und fachspezifischen Denkweise verhaftet ist, über die er eigentlich berichten soll. Ob es dennoch gelingt, einen hinreichend distanzierten und auch für Sprachwissenschaftler nachvollziehbaren Blick auf die Semantik der Rechtssprache zu werfen, darf mit Fug und Recht als ein (sprach)wissenschaftliches Experiment bezeichnet werden. „Fug und Recht“ gilt übrigens als eine in die Allgemeinsprache übergegangene wohl insbesondere seit dem 16. Jahrhundert verbreitete Rechtsformel (Art. „Fug“, DRW III: 1036ff., Art. „Recht“, DRW XI: 261ff., insb. 282ff.). Aber ist sie damit Teil der Rechtssprache? Damit bin ich bei der Fragestellung: Ein Blick auf die historische Semantik aus Sicht der Rechtswissenschaft ist sicherlich primär ein Blick des Rechtshistorikers – und es ist vor allen Dingen ein Blick auf die Semantik von Rechtswörtern, ein Blick auf die Rechtssprache. Doch was ist das eigentlich? Ein Rechtswort? Rechtssprache?
1. Was ist ein Rechtswort? Was ist Rechtssprache? 1.1. Erster Versuch einer Annäherung: Der Blick ins Wörterbuch Vielleicht ist es eine Berufskrankheit, aber ich habe erst einmal ins Wörterbuch gesehen. Leider kennt der Universalduden das Wort „Rechtswort“ überhaupt nicht. „Rechtssprache“ ist danach die „im Rechtswesen gebräuchliche Fachsprache“. Eine – jedenfalls aus meiner Sicht – eher merkwürdige Erklärung: „Fachsprache“ klingt sehr eng. „Rechtswesen“ (laut Duden die „Gesamtheit des organisierten Rechts“) greift hingegen
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Die Vortragsform des Beitrags wurde weitgehend beibehalten.
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eher weit. „Recht“ an sich impliziert sprachliche Strenge und Verbindlichkeit, das Wort „gebräuchlich“ hingegen suggeriert bloße Übung. Das Deutsche Wörterbuch erklärt knapp: „rechtswort, n. terminus juris, vocabulum forense“ (DWB 14, 442 – mit Beleg aus Stieler) sowie dazu übereinstimmend: „rechtssprache, f. termini juridici“ (DWB 14: 437). Die Rechtssprache wäre danach eine Anhäufung von Fachwörtern des Rechts, Rechtswörter aber Fachwörter des Rechts oder vor Gericht gebrauchte Vokabeln. Meinen nächsten Versuch ging ich etwas ängstlicher an: Der Blick ins Deutsche Rechtswörterbuch (DRW), den ich natürlich grundsätzlich nur empfehlen kann. Hier übrigens eine erste sprachliche Falle: „Grundsätzlich“ bedeutet für Juristen: Es gibt Ausnahmen. Immerhin findet sich im DRW ein kleiner Artikel „Rechtswort“ (DRW XI: 447; die umfassenden Ausführungen in der Einleitung zu Bd. 1 des DRW seien hier einmal ausgeklammert) mit der Erklärung „Fachwort der Rechtssprache“ und zwei Belege, die uns zeigen, dass es sich um kein ganz neues Wort handelt: * rechtswort, terminus juris, vocabulum forense, 1691, Stieler 2579 * glossen ... welche erklaerungen dunkeler rechtswoerter enthalten, 1799, RepRecht III 58
Dies bringt uns zugegebenermaßen über die Informationen im „Grimm“ nicht deutlich hinaus. Auch zu „Rechtssprache“ findet sich ein Artikel im DRW (XI, 414f.): I wie Rechtsspruch (I) * noch mynes ... hern vorsigelten rechtissprochen, 1443, MeißenUB. 63 * duss unse ordel, schedinge, erkentnisse, erkleringe und rechtsprake hebben wy ... hertoge to Sassen ... gedan, 1444, Lacomblet,UB. IV 306 II Rechtsterminologie * oberhoefe, das ist, nach heutiger rechtssprache, appellationsgerichte und staedtische obergerichte, 1785, Fischer,KamPolR. II 152 * so gewann die roemische rechtssprache einen fuß im deutschen recht, 1786, Montag, AbteiEbrach 102 * wie denn ... nur jenen auslaendischen woertern, welche gaenzlich in die deutsche rechtssprache uebertragen, und, in ermangelung gleich bestimmter und verstaendlicher deutschen worte unentbehrlich sind, der zugang gestattet ... werden soll, 1803, SammlBadStBl. I 1203.
Keines der beiden Wörter findet sich in Creifelds Rechtswörterbuch. Mein letzter Anlauf galt daher der „Wikipedia“, die das Wort „Rechtswort“ nicht kennt, und mich sogleich aufforderte, einen Artikel darüber anzufertigen, was ich nicht tat. Stattdessen gab ich das Wort „Rechtssprache“ ein und wurde sofort weitergeleitet zum Artikel „Juristische Fachsprache“.
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Dort erfährt man dann im ersten Satz: „Die juristische Fachsprache ist die Fachsprache der Rechtswissenschaften und Rechtsanwender und Forschungsgegenstand der Rechtslinguistik.“ Das größte Internetwörterbuch erklärt mich also für die mir aufgegebene Fragestellung für unzuständig. Warum habe ich nur überhaupt ins Lexikon geschaut? Vielleicht, weil „Lexikon“, wie lateinisch lex – Gesetz, also irgendwie nach Rechtssprache klingt. Vielleicht nehme ich als Information mit, dass griechisch lexis ‚Wort, Ausdruck‘ bedeutet. Eine „lex“, ein Gesetz, ist also letztlich auch nur eine „Wortformel“. Aber was für eine? 1.2. Zweiter Versuch einer Annäherung: Der Blick in Gesetz und Rechtsprechung Im ersten Semester lernen frischgebackene Jurastudenten eine goldene Formel, die sie durch ihr weiteres Berufsleben begleiten wird: „Ein Blick ins Gesetz spart viel Geschwätz!“ Daher mein Versuch, zu Rechtswort und Rechtssprache im aktuellen Recht fündig zu werden. Was ich fand, war jedoch mehr als bescheiden: Laut dem in geringfügigen Abweichungen in verschiedenen Bundesländern gültigen Justizdolmetschergesetz (Zitat aus: § 3 JustDolmG Schleswig-Holstein) bedarf, wer als „Sprachmittlerin oder Sprachmittler allgemein beeidigt“ werden will, als „fachliche Eignung“ neben ausreichenden Sprachkenntnissen auch „sichere Kenntnisse der deutschen Rechtssprache“. Während das Gesetz in Bezug auf die allgemeinen Sprachkenntnisse ergänzt, diese setzten „insbesondere voraus, dass die Antragstellerin oder der Antragsteller sich klar, strukturiert und ausführlich zu komplexen Sachverhalten äußern kann“, fehlt in Bezug auf die Rechtssprache jede Definition. Auch in den aktuellen Kommentaren etwa zum Bürgerlichen Recht konnte ich keine Definition der Rechtssprache finden, was doch ein wenig erstaunt, wenn man bedenkt, wie gerne die Juristen definieren – und wie häufig das Wort „Rechtssprache“ in der Rechtsprechung verwendet wird. Hier zum Beispiel einige Sätze aus einem 2009 veröffentlichten Urteil des Bundesgerichtshofes, in welchem es – was für uns nichts zur Sache tut – um die Drittschuldner-Einziehungsklage in der Rechtsschutzversicherung geht: Die Klausel verwendet zur Kennzeichnung der Vollstreckungskosten auslösenden Maßnahmen, auf die sich die Beschränkung bezieht, mit der Wendung „Anträge auf Vollstreckung oder Vollstreckungsabwehr“ Begriffe der Rechtssprache. Deshalb erfährt der Grundsatz, dass Allgemeine Versicherungsbedingungen so auszulegen sind, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verstän-
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diger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss (st.Rspr., vgl. BGHZ 123: 85), eine Ausnahme. Wenn die Rechtssprache mit dem verwendeten Ausdruck einen fest umrissenen Begriff verbindet, ist anzunehmen, dass darunter auch in Allgemeinen Versicherungsbedingungen nichts anderes zu verstehen ist. In der Begrifflichkeit der Rechtssprache jedenfalls ist – wie auch die Revision einräumt – eine Einziehungsklage aber kein Antrag auf Vollstreckung. Ein abweichendes Verständnis kann allerdings dann in Betracht kommen, wenn das allgemeine Sprachverständnis von der Rechtssprache in einem Randbereich deutlich abweicht oder wenn der Sinnzusammenhang der Versicherungsbedingungen etwas anderes ergibt (Senat, NJW-RR 2007: 749 m.w. Nachw.). Dass den Begriffen „Anträge auf Vollstreckung oder Vollstreckungsabwehr“ nach allgemeinem Sprachverständnis ein von der Rechtssprache abweichender Sinn zukäme, ist nicht ersichtlich (NJW-RR 2009: 323).
In dieser Passage wird die aktuelle Vorstellung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf die Rechtssprache deutlich: Es ist die Fachsprache des Rechts im Gegensatz zur Alltagssprache, die der BGH als „allgemeines Sprachverständnis“ bezeichnet. Es scheint mir bemerkenswert, dass der BGH ganz selbstverständlich – unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung – von Abweichungen zwischen Rechts- und Gemeinsprache ausgeht und Arglose vor daraus resultierenden Missverständnissen schützen will. 1.3. Zwischenergebnisse Sowohl Lexika als auch Gesetzgeber und Gerichte scheuen eine Definition von „Rechtswort“ und „Rechtssprache“. Soweit sich überhaupt ein Eindruck gewinnen lässt, wird „Rechtssprache“ erstaunlich eng aufgefasst – sei es in negativer Abgrenzung zur Alltagssprache wie beim BGH oder schlicht als Fachterminologie des Rechts. Ich spare mir den Rundumblick in der Literatur, wo Rechtssprache auch als Sprache des Gesetzgebers, Advokatensprache oder gar Bürokratensprache verstanden und vielfach belächelt wird (etwa Schönherr 1985; Müller-Dietz 1998; Eichhoff-Cyrus 2009). All dies bringt uns hier nicht weiter. Hans Hattenhauer hat einmal darauf hingewiesen, „daß es heute nicht eine, sondern vielerlei Rechtssprachen gibt“. Neben der Gesetzessprache stehe die der Verwaltung, der Rechtspflege und des Laienverkehrs. Zudem gebe es in der Rechtswissenschaft gleich mehrere, von der Fachrichtung abhängige Sprachen (Hattenhauer 1987: 4f.; ähnl. Münch 2002: 1998). Zweifellos gilt das von Hattenhauer beschriebene Phänomen nicht nur für heute. Klammert man das Zusatzproblem der verschiedenen juristischen Fachrichtungen einmal aus, könnte man die Rechtssprache daher bildhaft mit einer Zwiebel vergleichen:
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1.4. Die Zwiebel Fachtermini der Gesetzessprache Fachtermini der Fachliteratur Allgemeinsprachwörter mit Rechtsgehalt in Gesetzen Allgemeinsprachwörter mit Rechtsgehalt in der Fachliteratur Allgemeinsprachwörter mit Rechtsgehalt in der Alltagssprache
Abb. 1: Das Zwiebelmodell
Den innersten Kern dieser „Zwiebel“ bilden die juristischen Fachbegriffe der Gesetzessprache. Als Haut darum herum lassen sich die von den Juristen in Wissenschaft und Praxis ausgebildeten juristischen Fachbegriffe beschreiben. Jenseits der Termini technici im engeren Sinne gibt es Wörter der Alltagssprache, die im juristischen Kontext eine eigenständige Bedeutung annehmen. Ihnen kommt sicherlich noch ein höherer Grad an Rechtlichkeit zu, wenn sie sich in Normtexten finden. Aber auch in Texten aus der Feder von Juristen können sich solche Wörter finden. Hiervon zu unterscheiden sind – um im Bild zu bleiben als fünfte Haut – Wörter der Laiensprache, die juristischen Bezug durch die Behandlung rechtlicher Inhalte erhalten. Sie sind das Gegenstück zu den vielzähligen „normalen“ Wörtern in Gesetzes- und Juristenschriften, die im Prinzip der Alltagssprache zuzuordnen sind. Anders ausgedrückt: Auch Juristen verwenden Wörter der Alltagssprache und Laien kommunizieren in Kontexten mit rechtlicher Relevanz. Wörter aus dieser Schnittmenge zwischen Fach- und Gemeinvokabular sollten aus dem rechtssprachlichen Vokabular nicht ausgeklammert werden, sofern ihnen in dem rechtlichen Kontext eine besondere Bedeutung zukommt. Sie gehören zur Rechtssprache im weiteren Sinne. Um es mit Heino Speer zu sagen, umfasst Rechtssprache somit nicht nur die Fachsprache im engeren Sinne, sondern auch den Allgemeinwortschatz in seinen rechtlichen Bezügen (Speer 1989: 114; Schmidt-Wiegand
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1990: 345; dies. 1977: 226). Der Sache nach ganz ähnlich formulierte dies bereits Eberhard von Künßberg in seiner unnachahmlich bildhaften Ausdrucksweise: Rechtssprache ist auch die „Sprache des Rechtslebens“ (Künßberg 1930: 381). Naturgemäß sind die Übergänge zwischen den beschriebenen fünf Zwiebelhäuten äußerst fließend. Oft wird nicht festzustellen sein, ob ein Wort ursprünglich aus der Rechtssprache im engeren Sinne stammt und in die Alltagssprache aufgenommen wurde oder ob es umgekehrt zuerst Teil der Allgemeinsprache war und danach erst eine besondere Bedeutung in der Rechtssprache erhielt. Ruth Schmidt-Wiegand wies zudem darauf hin, dass die funktionale Bedeutung der Rechtssprache als (um bei Künßbergs Formulierung zu bleiben) „Sprache des Rechtslebens“ ein besonders enges Verhältnis zur Gemeinsprache bedingt, was sie von allen anderen Fachund Wissenschaftssprachen grundlegend unterscheide (Schmidt-Wiegand 1990: 345). Die Rechtssprache schöpft aus der Alltagssprache, um dieser gegenüber anschlussfähig zu bleiben – um, soweit möglich, allgemeinverständlich zu sein. Denn entgegen allen Unkenrufen ist es schon seit Jahrhunderten ein zentrales Ziel für Juristen, und ganz besonders für Gesetzgeber, in den gewählten Formulierungen allgemeinverständlich zu sein. Dieses Ziel begegnet uns spätestens im 16. Jahrhundert, man denke nur an die berühmte Constitutio Criminalis Carolina von 1532, die ihre schlichte deutsche Sprache freilich vor allem deshalb erhielt, damit sie unstudierten Laienrichtern verständlich sei. Das Postulat der Allgemeinverständlichkeit erfuhr dann in der Aufklärung einen ersten Höhepunkt, um seither ein Dauerbrenner des wissenschaftlichen und politischen Diskurses zu bleiben. Carl Anton von Martini (1726–1800), die prägende Persönlichkeit der 1797 fertiggestellten Urfassung des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, in gewisser Weise der ältesten heute noch in Teilen gültigen Kodifikation der Welt, formulierte bereits 1783 über die „bürgerlichen Gesetze“: Sie müßen 1) in der Landessprache abgefaßt, und allgemein bekannt gemacht werden. Wie könnten sie sonst diejenigen verbinden, denen sie weder einmal bekannt werden können? … 3) Müssen sie kurz, in einer leichten und faßlichen Schreibart aufgesetzt seyn, wie sie der göttliche Gesetzgeber in den zehen Geboten gegeben hat. Denn allen ist weder gleiches Gedächtniß, noch eine gleich Urtheilskraft verliehen worden. 4) Müssen sie deutlich, und bestimmt seyn, damit sie durch schiele Auslegungen nicht können verdrehet werden … (Martini 1783: 42).
Grundlegend geändert hat sich an diesen Vorstellungen bis heute nichts. In § 42 Abs. 5 der bundesrepublikanischen Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO 2009) heißt es knapp und klar: „Gesetzent-
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würfe müssen sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich gefasst sein.“ Um dieses Ziel sicherzustellen, verlangt die Geschäftsordnung weiter: „Gesetzentwürfe sind grundsätzlich [! – dies ist also nicht zwingend] dem Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache beim Deutschen Bundestag zur Prüfung auf ihre sprachliche Richtigkeit und Verständlichkeit zuzuleiten.“ Zusätzlich zu diesem seit 1966 praktizierten Verfahren (vgl. auch § 80a der Geschäftsordnung des Bundestags) nahm im Frühjahr 2009 im Bundesministerium der Justiz ein „Redaktionsstab Rechtssprache“ seine Arbeit auf (zum Ganzen: Schröder/Ole 2007). Warum nur, so werden Sie sich fragen, tragen diese jahrhundertelangen Bemühungen um eine klare Gesetzessprache so wenige Früchte? Warum gibt es bis heute normsprachliche Wortmonster wie beispielsweise die „Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung“ von 2003? Das Dilemma liegt im Widerstreit zwischen dem Allgemeinverständlichkeitswunsch und der für jede Wissenschaftssprache unerlässlichen Eindeutigkeit und Knappheit der Terminologie. Ein Problem, das bereits Christian Wolff (1679–1754) vor Augen hatte. Christian Wolff hat es durch die Schaffung von Kunstwörtern – eindeutigen, aber doch klar verständlichen Wörtern der Fachsprache – aufzulösen versucht. Im Grunde sind auch moderne Rechtswörter wie Wandelung, Schadensersatz und Sicherungsverwahrung nichts anderes als solche Kunstwörter. Viele von diesen Kunstwörtern sind in die Gemeinsprache übergegangen, so dass – seit Jahrhunderten – auch die Normsprache die Alltagssprache prägt. Diese permanente Durchmischung von Rechts- und Allgemeinsprache scheint auf den ersten Blick zu Abgrenzungsproblemen zu führen, spricht aber nicht gegen, sondern für eine weite Definition der Rechtssprache. Wenn der BGH den Laien vor Missverständnissen bei Gebrauch der Rechtssprache schützen will, so kann er dabei die Rechtssprache im weiteren Sinne kaum ausklammern: Gerade wenn ein Wort der Alltagssprache in der Fachsprache verwendet wird, dort aber etwas anderes bedeutet, ist die Gefahr von Irrtümern besonders groß. Jede engere Definition (etwa Bartsch 1954: 412f., Heller 1992: 14; zum aktuellen Recht: Pommer 2006: 22ff., Weisflog 1996: 41ff.) von Rechtssprache muss jedenfalls in Bezug auf die historische Semantik scheitern:
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2. Historische Rechtssprache 2.1. Überprüfung des Zwiebelmodells a) Wer Rechtssprache ganz eng mit Gesetzessprache gleichsetzen will (vgl. Hattenhauer 1987: 5), stößt auf das Problem, stets die Legitimation des Normgebers überprüfen zu müssen, was gerade bei älteren Rechtstexten sehr schwierig oder unmöglich werden kann: Selbst Quellen wie den Sachsenspiegel (um 1224/35) oder den Schwabenspiegel (um 1275) müsste man dann aus der Rechtssprache ausscheiden, denn, wiewohl sie über Jahrhunderte Gesetzen gleich Anwendung fanden, stellen diese Privatschriften formal keine Rechtsnormen dar. Und auch das Corpus iuris Justinians, das zur Grundlage der nachrezeptionellen Gesamtrechtsordnung in Deutschland und weit darüber hinaus wurde, war im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nie durch einen Gesetzgeber legitimiert, sondern erfuhr allein im Zuge der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland sukzessive Akzeptanz durch Übung. Gehört es deswegen nicht zur Rechtssprache? Rezipiert wurden zudem allein die Rechtsinhalte, der lateinische Gesetzestext; die deutschen Rechtsworte sind hingegen dem kreativen Geist einzelner Übersetzer entsprungen. Gehören Wörter wie Besitz und Notwehr deshalb etwa nicht der Rechtssprache an? Oder werden sie erst Rechtssprache, wenn sie irgendwann in ein Land- oder Stadtrecht Eingang gefunden haben? b) Auch wer Rechtssprache mit Juristensprache gleichsetzen will, kommt in der historischen Perspektive nicht weit. Bleiben wir beim genannten Beispiel: Jene Männer, die sich in der Frühphase der Vollrezeption an die Übersetzung und Bearbeitung der lateinischen Rechtstexte machten, waren zum großen Teil keine studierten Juristen. Man könnte immerhin sagen, sie waren Rechtspraktiker, aber wo setzt man dann die Grenze? Ist die Sprache eines Bauernschöffen noch Juristensprache? In aller Regel wohl kaum. Die von ihm verwendeten Wörter können aber dennoch der Rechtssprache angehören. c) Obgleich der wissenschaftlich-universitäre Diskurs – auch und gerade im Bereich des Rechts und ganz besonders seit der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland im ausgehenden Mittelalter – über Jahrhunderte in lateinischer Sprache ablief, hilft für die von uns aufgeworfene Fragestellung auch das Gegensatzpaar Latein als Wissenschaftssprache und Deutsch als Volkssprache nicht weiter, sondern führt geradezu in die Irre: Selbst wenn Deutsch in der Frühneuzeit nicht Wissenschaftssprache war, so gab es durchaus bereits eine spezifische Rechtsterminologie im Deutschen, die Laien nicht mehr zugänglich war, also in den inneren Bereich
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der Zwiebel gehört. Denn eine spezifische Rechtsterminologie hatte sich schon im Mittelalter ausgebildet, seit der Rezeption kamen Fremd- und Lehnwörter sowie Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen hinzu. d) Besonders in Bezug auf die historische Rechtssprache lässt sich folglich mit dem Bild der Zwiebel, einer weit gefassten Auffassung von Rechtssprache mit unterschiedlich intensivem rechtlichem Gehalt der einzelnen Wörter gut arbeiten. Lassen Sie mich dies anhand einiger Beispiele aus dem DRW illustrieren: Ohne Zweifel Termini technici des Rechts sind Wörter wie „Reichshofratsordnung“, „Restitutionsrelation“, „Rückvertrag“ und „Revisionsbeschwerde“. Ein Grenzfall ist aber bereits „Schandbacke“: In einigen pfälzischen Rechten wird damit ein nicht vorschriftsmäßig erstelltes Backwerk bezeichnet, das bei Kontrollen meldepflichtig ist und wofür eine Geldbuße zu entrichten ist (DRW XII: 194f.). Ähnlich wie heute „Falschparken“ oder „Kreditkartenmissbrauch“ gehört „Schandbacke“ daher zu den Fachwörtern des Rechts. Ähnliches dürfte für das „Schelmenschmähen“ gelten, das eine bestimmte Form der Beleidigung bezeichnet. „Schelmenstreich“ und „Schelmenstück“ hingegen sind ohne größere Bedeutungsverschiebungen auch in der Allgemeinsprache bekannt, daher wohl keine termini technici im engeren Sinne. Aufgrund ihrer rechtlichen Implikation können sie aber zu den Rechtswörtern im weiteren Sinne gezählt werden. Ein Grenzfall zwischen weiterer Rechtssprache und Alltagssprache ist der „Säutrog“: Gemeint ist nichts anderes als ein Futtertrog für Schweine. Dieser erhält rechtliche Relevanz, weil die Fiktion einer vom Empfänger verweigerten Abnahme dadurch bewirkt werden konnte, dass man etwas in diesen Trog schüttete. So hatte ein Dorfwirt gemäß einem Henneberger Urbar von 1496/98 Anspruch darauf, dass die Dorfbewohner bei ihm Wein trinken; verweigerte dies ein Bauer, sollte man ihm den Wein nach Hause tragen und dort anbieten – „so ers dann nicht will, so sol man j[h]me den jn den sewdrock gissen“ (DRW XII: 34). Der Säutrog ist also aufgrund seiner spezifisch rechtlichen Funktion zum Rechtswortschatz (im weiteren Sinne) zu zählen.
2.2. Textsorten So wichtig die Definition der Rechtssprache ist, um das Arbeitsfeld – etwa des DRW-Lexikographen – abzustecken; damit ist leider noch kein Problem der rechtshistorischen Semantik gelöst. Wie jedes Wort, steht auch ein historisches Rechtswort in seiner Zeit. Es wurde an einem bestimmten Ort aufgeschrieben. Für seine Bedeutung ist es aber mindestens
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genauso relevant, in was für einem Text das Wort steht. Hattenhauers Bild von den vielen Rechtssprachen sollte uns hier als Warnung dienen, genau auf die Quellengattung zu achten. Hilfreich kann hierbei die von Oskar Reichmann vorgenommene Kategorisierung nach „Textsorten“ und „Textsortengruppen“ sein (Reichmann 1998: 12). So zwingt gesetzliche Normierung zu einer speziellen Wortwahl und Sprache. Bei allen kulturellen und politischen Unterschieden haben doch alle Gesetze vom rund 1700 vor Christus entstandenen Codex Hammurabi bis hin zum Bundesimmissionsschutzgesetz zwei Dinge gemeinsam: Den Zweck, möglichst viele unterschiedliche Sachverhalte gleichförmig und ausgewogen zu regeln, und den Zwang, hierfür zu abstrahieren oder zumindest zu generalisieren. Dies unterscheidet die Gesetzessprache von jener der Verwaltung, die in erster Linie Einzelfälle abarbeiten muss. Aufgrund der großen Ähnlichkeit von zahlreichen vorgelegten Sachverhalten wird aber jede Verwaltung dazu neigen, mit Stereotypen zu arbeiten (heute sprechen wir von vorformulierten Satzbausteinen), die nicht nur die tägliche Arbeit erleichtern (wozu das Rad täglich neu erfinden?), sondern zugleich ein gewisses Maß an Gleichbehandlung gewährleisten. Standardisierte Formulierungen begegnen bereits auf ägyptischen Papyri; im Mittelalter prägen sie den sogenannten „Kanzleistil“, dessen Beherrschung jeden guten Schreiber auswies. Zweifellos ließen sich solche stilbildenden Eigenschaften auch für Gerichtsentscheidungen und Rechtsdogmatik herausarbeiten. Wichtiger noch erscheinen aber die hierarchischen Unterschiede zwischen wissenschaftsnahen und wissenschaftsferneren Texten: Das Lehrbuch muss eine einfachere Sprache gebrauchen als das Fachbuch. Soll ein Buch möglichst auch juristische Laien ansprechen, wird es noch einmal der Gemeinsprache näher sein. Schreibt das Buch ein Fachmann, wird er wenigstens die Termini technici korrekt gebrauchen; ist der Verfasser aber selbst ein Laie oder Halblaie, können wir nicht darauf vertrauen, dass der Wortgebrauch stets mit dem der Fachsprache übereinstimmt. Noch heute haben wir diese Probleme. Um nicht den großen Topf der gesetzgeberischen Fehlleistungen aufzumachen, ein allgemeineres Beispiel: Ein Dauerbrenner in „Tagesschau“ und „heute“ sind die Rechte der „Hausbesitzer“, die entweder gestärkt oder geschwächt würden. Gemeint ist fast immer die Rechtstellung der Hauseigentümer. Besitzer ist der Mieter. Wer etwas gekauft oder geerbt hat ist Eigentümer. Übrigens stehen natürlich auch diese Rechtswörter in ihrer Zeit. Dass Eigentum in der DDR aufgrund sozialistischer Überhöhung etwas anderes bedeutete als in der Bundesrepublik, ist allen klar. Fraglos veränderte aber auch die im Grundgesetz garantierte Gemeinbindung des Eigentums dessen inhaltliche Ausformung gegenüber älteren Rechtsordnungen. Gehen wir
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weiter zurück, sehen wir, dass die Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz in der Rezeptionszeit (also im 15. Jahrhundert) aus dem römischen Recht übernommen ist und so gut wie nichts mit dem gestuften Eigentum des vorrezeptionellen deutschen Mittelalters zu tun hat. Besitz dürfte eine Lehnübersetzung von der lateinischen possessio sein, zunächst nur auf Grundbesitz bezogen, der ja ganz real „besessen“ wurde. In der modernen Bedeutung ist Besitz wohl zum ersten Mal im Klagspiegel (um 1436) anzutreffen (vgl. Deutsch 2004: 77). Dies bedeutet aber nicht, dass damit ältere Auffassungen sogleich verdrängt worden wären. 2.3. Starke regionale Unterschiede Wir müssen also bei jedem Wort von einer potentiellen Bedeutungsdisparität zwischen Laien- und Rechtssprache rechnen. Zugleich kann das betreffende Wort regional unterschiedlich besetzt sein. Hierzu als schlichtes, nur im weiteren Sinne rechtliches Beispiel, das Wort Scherer (DRW XII: 483f.): In norddeutschen Quellen ist damit fast ausschließlich der Tuchscherer, in süddeutschen Quellen hingegen allein der Bartscherer gemeint. Doch auch hier lässt sich – und jetzt kommen wir auf die rechtliche Ebene – weiter differenzieren: Waren die Scherer in Freiburg im Breisgau zugleich durchaus angesehene Wundärzte, die auch als Gutachter vor Gericht auftraten, um beispielsweise die Todesursache eines Unfall- oder Mordopfers zu klären, war diese Wundarzttätigkeit andernorts primär oder ausschließlich den Badern gestattet, während die Barbiere im Rang darunter standen und teils sogar zu den unehrlichen Leuten gezählt wurden. In Freiburg waren wiederum die Bader schlecht angesehen, galten doch die Badstuben oftmals als Ort für unzüchtige Zusammenkünfte, als Ort, wo womöglich auch „Schnüre“ anzutreffen waren, gemeint sind damit Prostituierte. Andernorts verstand man freilich unter einer „Schnur“ zumeist die Schwiegertochter (vgl. DRW XII, Doppelheft 7/8 – in Vorbereitung). Beides sind Bedeutungen, die heute längst vergessen sind. 2.4. Bedeutungswandel Es kommt somit noch ein zeitlicher Aspekt hinzu. Ein Wort kann unter Umständen sogar binnen weniger Jahre seine Bedeutung verändern. Bei Rechtswörtern dürfte dieses Phänomen wohl noch extremer auftreten, als in der Allgemeinsprache, denn oft genügt hier ein gesetzgeberischer Akt oder ein wichtiges Gerichtsurteil, damit sich die Bedeutung eines Wortes verschiebt.
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Als Beispiel sei hierzu Baden vor 200 Jahren angeführt: Damals wurden die alten Landrechte von Baden-Baden (1588) und Baden-Durlach (1622/1654) durch die Brauersche Übersetzung des französischen Code Civil ersetzt. Bis dahin war der Kauf, um ein Rechtswort im engeren Sinne herauszugreifen, wie im gemeinen Recht ein Konsensualvertrag, also ein ausschließlich obligatorisch wirkendes Geschäft. Wer als Verkäufer einen Kaufvertrag abschloss, ging lediglich die Verpflichtung ein, dem Käufer gegen Kaufpreiszahlung mittels Übergabe der Sache Eigentum an dieser zu verschaffen: Wann nun ein Kauff unnd Verkauff/ auff jetztgesetzte maß beschlossen/ so ist der Verkäuffer schuldig/ dem Käuffer das verkaufft Gut ... ohne verzug einzuraumen (IV.3 Landrecht Baden-Durlach; sachlich übereinstimmend: II.5 Landrecht Baden-Baden).
Ganz anders nach dem Brauerschen Landrecht von 1810: Der Verkauf ist ein Vertrag, wodurch ein Theil sich verbindet, eine Sache zu eigen zu übergeben, und der andere ihren Werth zu bezahlen... Er ist abgeschlossen, und das Eigenthum des Verkäufers geht kraft Gesetzes auf den Käufer über …, ohne daß dazu die Uebergabe der Sache oder Zahlung des Kaufschillings vorausgehen muß (Art. 1582f.).
Der Kaufvertrag ist nun also Obligation und Erfüllung in einem, der Verkäufer verliert mit Vertragsschluss sofort sein Eigentum an der Sache (im Einzelnen vgl.: Brauer 1810: 482f.; Thibaut 1841: 204f.). Diese Rechtsauffassung galt von nun ab neunzig Jahre, bis mit der Einführung des BGB 1900 das uns bis heute bekannte strenge Trennungs- und Abstraktionsprinzip eingeführt wurde (vgl. Deutsch 2008: 405–407). Es wäre spannend zu untersuchen, wie lang es gedauert hat, bis sich diese vom Gesetzgeber aufoktroyierten aus juristischer Sicht ganz erheblichen Bedeutungsänderungen in der Rechtsanwendersprache und womöglich in der Allgemeinsprache etabliert haben. Ein anderes Beispiel ist vielleicht leichter nachzuvollziehen und zeigt eindrücklich, wie extrem Bedeutungsveränderungen im Laufe der Jahrhunderte sein können: Das Wort Schelm (DRW XII: 421ff.). Heute ist uns Schelm im Wesentlichen als harmloses Schimpfwort geläufig. Den Ausruf „Du kleiner Schelm!“ mag manch ein „Lausejunge“ sogar als Kompliment auffassen. Ursprünglich – so vermutet jedenfalls das Schweizerdeutsche Idiotikon (VIII: 692) mit guten Gründen – wird unter Schelm eine Art böser Dämon verstanden, der ab und an Tierherden heimsuchte, wovon diese erkrankten. In den zahlreichen vor allem spätmittelalterlichen Belegen, nach denen Schaf- oder Rinderherden „den Schelm haben“, hat sich die Bedeutung des Schelms als Viehseuche bereits verselbständigt. Der
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Schinder oder Abdecker war dafür zuständig, das „schelmige Vieh“, also das am Schelm verendete Vieh, zu entsorgen. Bisweilen hieß es auch, er habe die „Schelmen“ zu entsorgen. Das heißt, Schelm meint dann das erkrankte und an der Krankheit verendete Tier. Aber auch derjenige, der das verendete Tier zu verscharren hatte, der als unehrlich angesehene Abdecker, wurde gelegentlich metonymisch „Schelm“ genannt. Vielleicht hiervon abgeleitet, vielleicht auch vom kranken Vieh direkt, entwickelte sich die Bedeutung Schelm im Sinne von „Betrüger“. Gemeint war durchaus kein Kleinkrimineller. Der Schelm kam an den Galgen. Ebenso wurde Schelm zum weitverbreiteten, strafwürdigen Schimpfwort. Nur wenn man vor Augen hat, welche enorme Rolle die „Ehre“ in der Frühneuzeit spielte, kann man die Erheblichkeit dieser Beleidigung ermessen, die den Betroffenen mit Krankheit und unehrlichen, ja womöglich ehrlosen Personen in Verbindung brachte. Der „kleine Schelm“ von heute ist ein erstaunlich harmloser Wurmfortsatz dieser Wortgeschichte. 2.5. Zwischenergebnis Um das Gesagte zusammenzufassen, hier ein erheblich vereinfachtes Schema, das aber, so hoffe ich, deutlich illustriert, wie kompliziert es werden kann, sich der Semantik eines Rechtswortes anzunähern. Im Grunde müsste statt „heute“ und „früher“ eine Aufteilung nach Epochen stehen. Doch ließe sich das Schema dann auf keine Druckseite mehr bringen. Auch die Beschränkung auf jeweils drei Regionen ist nur exemplarisch zu verstehen:
Abb. 2: Rechtswort in Raum und Zeit
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3. Instrumente der Juristen zur Wortauslegung 3.1. Auslegungsmethoden Nach heutiger Praxis wenden die Juristen zur Auslegung von Rechtsnormen im Kern vier sich ergänzende, sogenannte „klassische“ Methoden an: a) Die „Grammatische Auslegung“ sucht nach dem Wortsinn im allgemeinen Sprachgebrauch. b) Bei der „Historischen Auslegung“ geht es um die Ermittlung des vom Gesetzgeber Gesagten oder Gewollten, wofür etwa Gesetzesbegründungen, Motivsammlungen und Beratungsprotokolle herangezogen werden. c) Die „Systematische Auslegung“ verlangt einen Blick auf den Kontext – etwa angrenzende Normen und den Aufbau eines Gesetzes; sie beruht auf dem Grundgedanken und Idealbild einer in sich logischen und widerspruchsfreien Rechtsordnung, in welcher keine Norm einer anderen Norm widerspricht. d) Die „Teleologische Auslegung“ schließlich stellt auf den Sinn und Zweck der Norm ab. Sie wird heute oft als Kernstück der Auslegung angesehen, dem in Zweifelsfällen gegenüber den anderen Auslegungsmethoden Vorrang eingeräumt wird. Dies hat weitreichende Konsequenzen, denn der objektiv ermittelte Sinn und Zweck einer Norm aus heutiger Sicht kann vom Wortlaut oder auch von der ursprünglichen Intension eines historischen Gesetzgebers erheblich abweichen. Dieser Sinn und Zweck kann sich im Laufe der Zeit zudem wandeln – mit Auswirkungen auf die Semantik der ausgelegten Wörter. Im Kern gehen die vorgestellten, heute in der Rechtswissenschaft üblichen Auslegungsmethoden letztlich auf die Historische Rechtsschule zurück, wurden also nicht zuletzt für den Umgang mit historischem Textmaterial entwickelt. Laut Savigny muss der Sinn einer Rechtsquelle durch ihren Anwender immer wieder aufs Neue bestimmt werden, statt von Auslegungskriterien spricht Savigny daher von „Sinnbestimmungsmitteln“; es gehe hierbei um die „Rekonstruktion des Gedankens, der im Gesetz ausgesprochen wird“ (Savigny 1840: 212ff.). Als Mittel zur Sinnbestimmung erkennt Savigny vier an: das grammatische, das logische (nicht teleologische!), das systematische und das historische Element.
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3.2. Rechtsvergleichung Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass es zudem sinnvoll sein kann, bei der Bedeutungssuche historischer Rechtswörter auf die Methoden der Rechtsvergleichung zurückzugreifen. Letztlich ist eine rechtsquellenbasierte rechtshistorische Forschung ohnehin nichts anderes als eine diachrone Rechtsvergleichung. Moderne Rechtsvergleichung sucht die Interpretation eines Wortes oder Textstücks aus sich heraus zu vermeiden und stellt primär auf das dahinter stehende Rechtsinstitut ab. Um dieses – und damit auch die einzelnen Teile bis hin zum einzelnen Wort – richtig zu erfassen, stellen Zweigert und Kötz auf die Funktionalität des betreffenden Instituts ab (Zweigert/Kötz 1996: 33ff.; vgl. Constantinesco 1972: 24ff.). Rückert spricht vom dahinter stehenden Regelungsproblem (vgl. Rückert 2003: 34ff.). Wenn man erfasst, wozu ein Rechtssatz formuliert wurde, wird man sich auch der Semantik annähern können. Ergänzend – und zugleich noch weitergreifend – empfiehlt Ernst Rabel, zunächst die Systematik des fremden Rechts zu verinnerlichen: „Der einzelne Rechtssatz ist erst im Zusammenhang der ganzen Rechtsordnung zu beurteilen“ (Rabel 1924: 3; Utermark 2005: 120f., 131), womit auch kulturelle Prägungen mitinbegriffen sein sollen. Um letzteres zu illustrieren, möchte ich nur darauf hinweisen, dass das BGB – verfasst im Deutschen Kaiserreich – auch in der NS-Zeit weitergalt und lange Zeit selbst in der DDR. Dass einzelne Institute in den Diktaturen unterschiedlicher Couleur anders auszudeuten waren als im Lichte des Grundgesetzes, leuchtet unmittelbar ein. Mag der Geübte sich unter Wörtern wie Vorstadtlehenkutscherknechteinschreibprotokoll oder Bankozettel-Staatsschuldentilgungs-Hofbuchhalterei noch etwas vorstellen können, leuchtet die Erforderlichkeit einer Kontextualisierung bei Wörtern wie Scheinkauf (‚Kauf eines Scheines‘ oder ‚zum Schein abgeschlossener Kauf‘; vgl. zur Doppeldeutigkeit der ScheinKomposita etwa: DRW XII: 380ff.) oder Schlafkind (‚schlafendes Kind‘ oder ‚uneheliches Kind‘, vgl. DRW XII: 737f.) unmittelbar ein.
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Andreas Deutsch
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Jörg Meier (Leiden)
Heimat – Zur Semantik eines schwierigen Begriffs 1. Einführung – Was ist Heimat? „Heimat. Eine Rehabilitierung“ lautet der programmatische Titel eines 2006 erschienen Buches des in Leipzig lehrenden Philosophen Christoph Türcke (Türcke 2006), und der von dem Theologen Rainer Bendel im Jahr 2008 herausgegebene, umfangreiche Sammelband zur Integration von Vertriebenen trägt den Titel „Die Fremde wird zur Heimat“ (Bendel 2008). Demgegenüber hat der am Deutschen Historischen Institut in Warschau tätige Historiker und Slawist Andreas Kossert sein im selben Jahr erschienenes Buch, das dem Schicksal der 14 Millionen Menschen nachgeht, die bei Kriegsende aus den deutschen Ostgebieten flüchteten, später vertrieben oder zwangsumgesiedelt wurden, bezeichnenderweise „Kalte Heimat“ genannt (Kossert 2008). „Heimat. Eine Rehabilitierung“, „Die Fremde wird zur Heimat“ und „Kalte Heimat“: Bereits diese drei exemplarisch herausgegriffenen Buchtitel der vergangenen Jahre verdeutlichen anschaulich, dass „Heimat“ zu den Begriffen in unserer Sprache gehört, über die wir alle eine andere Vorstellung haben. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat zunächst auf den Ort und die Region bezogen, in die wir hineingeboren werden. Der Begriff verweist auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum, doch ist die geographisch-historische Eingrenzung der Bezugsräume keine feststehende, sondern situationsbedingt veränderbar. Heimat kann sich auf eine Gegend oder Landschaft beziehen, aber auch auf Dorf, Stadt, Land, Nation oder Vaterland. Es wird kein konkreter Ort bezeichnet, sondern vielmehr Identifikation, bzw. die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst. Heimat bezeichnet die Bilder und Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind und ist der Ort, in den wir hineingeboren wurden und der uns vorgegeben ist. Dies wird u. a. in Sprache, Riten und Verhaltensmustern deutlich. Heimat ist aber auch der Ort, der uns vertraut ist, den wir verstehen und in dem wir uns verstanden fühlen (vgl. u. a. Brepohl 1959; Heidegger 1960; Bülow 1969; Görner 1992; Neumeyer 1992; Hillmann 1994; Bastian 1995; Hermand/Steakley 1996; Pledl 1996; Weigand 1997; Sandmeyer 2004; Meier 2007; 2011).
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„Heimat ist für mich da, wo man sich nicht erklären muss“, schreibt Louise Jacobs, die in der Schweiz mehrsprachig erzogene Enkelin des Bremer Kaffeerösters Walther Jacobs, in ihrem viel beachteten Buch „Café Heimat“, in dem sie die Geschichte ihrer berühmten Familie erstmals aufgezeichnet hat (vgl. Jacobs 2006). Heimat gibt uns Geborgenheit und ist der feste Grund auf dem wir stehen und bauen. Diejenigen, die nicht erlebt haben, was es bedeutet, die Heimat verlassen zu müssen, und damit den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen, können nur sehr schwer ermessen, was es bedeutet, die alltägliche Umgebung, das Vertraute und Beständige zu verlieren (Köhler 2006: 9). „Heimat“ betrachtet der Schriftsteller und Juraprofessor Bernhard Schlink als „Nicht-Ort“, als Gefühl, Hoffnung, Sehnsucht, die vor allem im Exil zu erleben sei (Schlink 2000). Solange die Heimat da ist, spüren wir sie kaum. Erst wenn sie fehlt, erkennen wir ihren Wert. „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“, schrieb 1861 Theodor Fontane im Vorwort seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Fontane 1976: 1). In der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Theorie und Praxis war Heimat immer ein Schlüsselbegriff und aufgrund seiner existentiellen Dimension ist der Heimatbegriff vor allem in der Politik immer wieder missbraucht worden. Heimat galt über einen langen Zeitraum in der deutschen Geschichte als für lokale und regionale Identitätsstiftung verantwortlich und spielte auch nach dem 2. Weltkrieg als symbolische Ortsbezogenheit eine durchaus wichtige Rolle. Doch lange galt der Begriff in Deutschland fast als „Unwort“ unter „modernen“ Menschen. Er galt als nicht zeitgemäß oder – neudeutsch formuliert – sogar als „politically incorrect“. Heimat war in Deutschland, aber auch in Österreich, vor allen Dingen für die jüngere Generation, lange Zeit ein durch unsere Geschichte, von der Romantik bis zum Faschismus, „schwer belasteter“ und „schwieriger“ Begriff, nicht nur für AltAchtundsechziger und andere, die sich für progressiv hielten. Doch daran hat sich in den letzten Jahren einiges geändert. Im Gegenteil: Die Sehnsucht nach Heimat war für viele noch nie so groß wie heute, denn die Heimat zu verlieren scheint, im Zeitalter der Globalisierung, das Schicksal der ganzen Gesellschaft zu sein (vgl. u.a. Sloterdijk 1999; Hecht 2000; Bausinger 2002; Mitzscherlich 2002; Türcke 2006; Rosa 2007; Meier 2011). Nach einer neueren Umfrage empfinden 81 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher den Begriff Heimat als besonders sympathisch, womit er zu den beliebtesten Begriffen im Lande gehört (vgl. Brüser 2002). Auch die ehemaligen Spötter sind längst „heimgekehrt“. Vom Vertriebenentreffen bis zum Veteranenstammtisch des Frankfurter Häuserkampfes ist Heimat mittlerweile salonfähig geworden. „Je mehr Heimatlosigkeit die mobile, flexible neoliberale Welt mit sich bringt“, desto häufiger lesen und hören wir wieder von Heimat (Türcke 2006: 8). Allerdings verbin-
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den heute nur noch 11 Prozent der Deutschen mit dem Begriff Heimat ihr Land, wohingegen für 89 Prozent Heimatgefühle von ihrer näheren Umgebung, von der Familie und dem Freundeskreis ausgelöst werden (vgl. Emnid 1999; Sandmeyer 2004). Was oder wo ist Heimat? Ist es der Ort, an dem wir geboren sind oder in dem wir leben, oder ist es vielleicht der Ort, in dem wir leben möchten? Ist unsere Heimat dort, wo wir unsere Familie haben und unsere Freunde? Oder haben wir alle mehrere dieser Orte? Heimat definiert sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Fremdartigen, dem Anderen, auch dem Fremden und Anderen in uns selbst. „Zwei Sprachen Land entfernt verwandt“, singt Herbert Grönemeyer, „an verschiedene Ufer gespült/zum gemeinsamen Gelingen verdammt/Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl“ (Grönemeyer 2000). Ist es ein Ort oder ein Gefühl? Es ist sicherlich mehr: Die Erinnerungen gehören dazu, Gerüche, Geräusche und Dialekte der Kindheit. Die frühen „Sozialisationserlebnisse“, die Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen. Besonders ihre Sprache ist für viele Menschen ein wichtiger Teil ihrer Heimat (vgl. Meier 2007).
2. Zur Etymologie und Bedeutungsgeschichte des Wortes Heimat Der auf das deutsche Sprachgebiet beschränkte Begriff „Heimat“ lässt sich auf ahd. heimōti, mhd. heimuot(e), heimōt(e), heimōd(e), mnd. hēmōd(e), zurückführen. Der erste Bestandteil heim- ist gemeingermanisch und hat die Grundbedeutung „Haus“, „Wohnstätte“ oder „Dorf“, also der Ort, in dem jemand zu Hause ist (vgl. z. B. engl. home, schwed. hem). Im Gotischen, der ältesten überlieferten germanischen Sprache, begegnet uns das Substantiv haims in der Bedeutung von „Dorf“. Außerdem gibt es im Gotischen auch den Ausdruck haimopli, in der Bedeutung von „Grundbesitz, heimisches Land“. Im Gotischen gibt es zudem bereits adjektivische Bildungen: anahaims heißt so viel wie „anheimig“, zu Haus befindlich, wohingegen afhaims „abheimig“, fern von zu Hause, bedeutet. In der altisländischen Sprache, wurde heimr ebenfalls für „Heimat“ verwendet; daneben konnte es sowohl das eigene Heim, aber auch die ganze bewohnte Erde bedeuten; heimili ist im Altnordischen die Heimstätte des einzelnen Menschen (vgl. u. a. Duden Etymologie 1989: 276; Pfeifer 1989, Bd. 2: 667f.; Neumeyer 1992: 6; Bastian 1995: 20–23; Kluge 1999: 365). Wenn wir uns die Belege im Deutschen Wörterbuch ansehen, dann wird die Bedeutungsvielfalt des Begriffes „Heimat“ deutlich. Sie variiert
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vom elterlichen Haus über die Landschaft der eigenen Region bis zur „himmlischen Heimat“, von der u. a. Paul Gerhardt schreibt (Deutsches Wörterbuch 1984, Bd. 10: 865f.). Ursprünglich war der Begriff „Heimat“ ein Neutrum: Im Deutschen Wörterbuch wurde „Heimat“ 1877 definiert als „das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat“, „der geburtsort oder ständige wohnort“, und „selbst das elterliche haus und besitzthum heiszt so“ (ebd.: 865). „Heimat“ war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein eher nüchterner Begriff, der vor allem auf Polizei- und Bürgermeisterämtern von Beamten und Notaren im juristischen und geographischen Sinne verwendet wurde, wenn es um den Geburts- oder Wohnort bzw., besonders im Erbrecht, um das Herkunftsland ging. Aufenthaltsrecht von Geburt an war keineswegs selbstverständlich, und wer kein Heimatrecht besaß, war heimatlos und erheblich weniger privilegiert, denn „Heimat“ zu haben, bedeutete auch, im Zweifelsfall eine notdürftige Versorgung durch öffentliche Kassen zu erhalten. Menschen ohne Besitz erhielten keinen Heimatschein, weil zu befürchten war, dass sie im Alter oder im Krankheitsfall den öffentlichen Kassen zur Last fallen könnten. Der Fremde, Arme oder Kranke gewann Heimatrecht dann in einer Einrichtung der Fürsorge, dem „Hospital“ (Alters- oder Armenheim) oder „Asyl“ (Fremdenheim). Demjenigen, der kein Eigentum und damit keine „Heimat“ besaß, konnte sogar die Hochzeit verwehrt werden, und in einigen Ländern, wie z. B. der Schweiz, gibt es auch heute noch ein Heimatrecht (vgl. u. a. König 1958; Riedel 1981; Wehling 1984; Weigelt 1986; Thüne 1987; Neumeyer 1992; Bastian 1995; Weigand 1997).
3. Der Begriff Heimat in verschiedenen Kontexten In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Forschung wieder stärker regionalen Dimensionen der deutschen Sprache und Literatur zugewandt. Vor dem Hintergrund einer Neuentdeckung und -bewertung von Provinz, Region und Heimat seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, die sich auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur findet, kam es zu einer veränderten sozial- und kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung vorher über einen langen Zeitraum tabuisierter Phänomene und Themenbereiche. Der Begriff Heimat hatte „wie kein anderer Topos der Moderne mit dem freigesetzten liberalen Geist zu kämpfen“, denn die „Heimatverleugnung erstarrte zu einem intellektuellen Dogma, das nicht minder radikal war als dasjenige, das noch unkritisch Heimat verherrlichte“ (Hecht 2000: 16). Heimat ist ein viel benutzter, vieldeutiger und oft auch missbrauchter
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Begriff, mit dem jeder meint, etwas anfangen zu können und der sich andererseits durch seine Vielfältigkeit jedem Zugriff zu entziehen scheint. Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine breite öffentliche Diskussion über den Themenkomplex Heimat, Heimatsuche und Zukunft der Heimat. Die öffentlichen Auseinandersetzungen über den umstrittenen Heimatbegriff fanden auch Eingang in den Diskurs diverser Wissenschaftsdisziplinen (vgl. u. a. Greverus 1979; Bausinger 1980; Bausinger/Köstlin 1980; Moosmann 1980; Bredow/Foltin 1981; Riedel 1981; Knoch/Leeb 1984; Stöckle 1984; Wehling 1984; Bienek 1985; Freiling 1985; Weigelt 1986; Dericum/Wombalt 1987; Thüne 1987). Weitgehend Konsens herrscht in der Forschung darüber, dass die Ursachen für den „Heimat-Boom“ bzw. den Rückzug in die Heimat und in die Geborgenheit der Tradition vor allem infolge von Unsicherheit, Identitätsverlust sowie gesellschaftlicher Krisen erstrebenswert erscheint. Heimat wird in einer als immer schnelllebiger empfundenen Welt zu einem überschaubaren Raum, in den man sich vor den Schwierigkeiten, die durch die globalen Prozesse entstehen, zurückziehen kann (vgl. u. a. Greverus 1979; Knoch/Leeb 1984, Bausinger 1980; 1999; Hecht 2000; Bausinger 2002; Mitzscherlich 2002; Türcke 2006; Bausinger 2007; Rosa 2007). Wenn Heimatlosigkeit durch den Verlust der vertrauten Welt gekennzeichnet ist, wird die Suche nach Heimat zur Suche nach Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Stabilität (vgl. u. a. Knoch/Leeb 1984, Bredow/ Foltin 1981 Krockow 1989; Schott 1994; Bausinger 1997; Joisten 2006). Heimat wird heute, unabhängig von der soziologischen, psychologischen, politischen oder juristischen Definition, subjektiv empfunden und umfasst die individuellen Einstellungen zum Ort, zur Gesellschaft und zur persönlichen Entwicklung. Der Verlust der Heimat oder die Angst davor wird als „Heimweh“ empfunden, und für denjenigen, der seine Heimat verlassen hat, kann „Heimat“ mit „Vaterland“ gleichbedeutend werden. Aber selbstverständlich ist es auch möglich, dass Menschen sich für eine Wahlheimat entscheiden (vgl. ebd.; vgl. auch Moosmann 1980; Freiling 1985; Schott 1994). Als Lebensweise kann „Heimat“ auch gemeint sein, wenn beispielsweise ein deutscher Schriftsteller im Exil erklärt, dass seine „Heimat“ die deutsche Sprache oder die deutsche Literatur sei. In seiner auf dem Internationalen PEN-Kongress in Jerusalem 1974 gehaltenen Rede „Ich bin ein Deutscher“, spricht Heinrich Böll von Menschen, die auf der Flucht sind und eine neue Heimat suchen. Sprache ist das leichteste Gepäck, und eine schwere Last, wenn man in die Fremde kommt, und mitnehmen kann man fast immer nur, was man im Kopf und im Herzen hat: die Mythen und Märchen, die Erinnerungen, eigene und die
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Erinnerungen anderer, mit denen man die Sprache gemeinsam hat. Es ist ja kein Zufall, dass jede Unterdrückung mit der Unterdrückung der Sprache anfängt, und damit auch der Unterdrückung der Literatur (Böll 1974: 178).
Im poetischen Sinne findet der Begriff „Heimat“ erstmals im Zeitalter der Industrialisierung Verwendung in der Literatur, denn immer mehr Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte. Im Zuge der Verstädterung und der Auflösung der Ständeordnung entstand auch der Regionalismus als Gegenbewegung zur Moderne. Mit der „poetischen Heimat“ wollten Aristokratie und Bauerntum der Bedrohung durch Konzerne und Proletarier ausweichen, indem sie einen Ort suchten, an dem die Welt noch wie in den „guten alten Zeiten“ war. Besonders das Bauerntum galt als ursprüngliche, gesunde und beharrende Kraft, die dem Proletariat und damit auch der Moderne und ihren Folgen vermeintlich erfolgreich widerstand. Um 1900 entstand die sog. Heimatliteratur, eine in Volkstum und heimatlicher Landschaft wurzelnde Dichtung, die das Dorf- und Landleben häufig trivial idyllisierte (vgl. u. a. Häny 1978). In einem Konzept des positiven Heimat-Stereotyps gewann Sprache als „Muttersprache“ einen hohen Stellenwert. „Muttersprache ist dabei immer die – als gemeinsame betrachtete – Sprache des zur Heimat deklarierten Territoriums“ (Greverus 1979: 70). Die Verwendung des Wortes „Muttersprache“ ist Ausdruck von Reflexion über Sprache, unabhängig davon, ob damit „eine bestimmte Sprachform, eine bestimmte Funktion von Sprache, das Verhältnis einer Sprachform zu einer bestimmten Sprechergruppe“ oder ein individual- bzw. gruppenspezifischer Aspekt der Historizität von Sprache bezeichnet wird (Ahlzweig 1994: 15). Die übergreifende Nationalsprache erfüllt die intendierte politische Funktion der „Muttersprache“, wenn Heimat mit „Vaterland“ gleichgesetzt wird, weshalb sich die gehobene vaterländische deutsche Dichtung nicht des Dialekts bedienen konnte, denn „deutsche Tugenden“ mussten in der deutschen Hochsprache dargestellt werden. Durch diesen eingeschränkten Aussagebereich heimatbezogener Mundartdichtung, war ihr wesentliches Charakteristikum im deutschen Sprachraum zunächst der moralisierend beschaulich-heitere Ton, in den auch nostalgische Elemente einer Reminiszenz auf die so genannte „gute alte Zeit“ einfließen konnten. Trotz unterschiedlicher Bemühungen um mundartliche „Problemdichtung“ und eine artifizielle Verwendung des Dialekts beschränkte sich die Popularität von Mundartdichtung lange vor allem auf humorvolle Texte. Erst von dem Zeitpunkt an, als die regionale Sprache einen höheren Stellenwert erlangte, gewann auch Mundartliteratur andere Bereiche der Identitätsbestätigung (vgl. Greverus 1979: 70ff.). Auf das Phänomen eines Identitätsverlustes durch das Fehlen der sprachlichen Kommunikation einschließlich des
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Symbolverstehens greift bereits die Formulierung Heideggers „Sprache als Heimat“ zurück (vgl. Heidegger 1960). In den 1950er sowie in der ersten Hälfte der 1960er Jahre wurden viele so genannte Heimatfilme produziert, die häufig der Trivialunterhaltung zuzurechnen sind, doch gilt das nicht für das gesamte Genre, insbesondere nicht für den neuen deutschen Heimatfilm der 1970er Jahre bis in die Gegenwart. Vor allem die 1984 bis 2004 entstandene Filmtrilogie „Heimat“ von Edgar Reitz vermittelte einem breiten Publikum ein differenzierteres Heimatbild (vgl. u. a. Reitz 1985; Rauh 1993; Reitz 1993a; 1993b; 2004a; 2004b). Heimatvereine, die häufig bereits im Zuge der Heimatbewegungen des späten 19. Jahrhunderts entstanden sind, haben sich zum Ziel gesetzt, Traditionen und Besonderheiten einer Ortschaft oder Region zu pflegen, zu bewahren und zu fördern. Meist führen Sie den Namen einer Ortschaft, seltener einer Region, im Namen, und der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten liegt im Bereich der Pflege des lokalen Brauchtums und Dialekts, oder der Erforschung und Publizierung der Lokalgeschichte, von der Alltagsgeschichte bis zur Chronik einer Gemeinde. Als Heimat im Sinne kultureller Identität untersucht die Heimatgeschichte, aber auch die Volkskunde, die Geschichte einer bestimmten Landschaft oder eines bestimmten Ortes (vgl. u. a. Hauptmeyer 1987; Kerschbaum/Rabel 1988).
4. Heimatbücher als Erinnerungsorte Seit dem 19. Jahrhundert gibt es verschiedene Formen von Heimatbüchern und sie stellen – auch aufgrund ihrer enormen Zahl – im Rahmen der Lokalgeschichtsschreibung einen sehr großen Fundus dar. Sie erreichen in Form von Büchern zu Ortsjubiläen, als „Vertriebenenheimatbücher“, als Ergebnis engagierter Laiengeschichtsforschung oder in einer Mischform einen großen Kreis von Lesern. Als „Erinnerungsorte“ dienen sie der historischen Selbstvergewisserung sowie Selbstverortung und stiften darüber hinaus Identität. Eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema „Heimatbuch“ oder eine verbindliche Definition des Begriffs, die bei einem solch weit verbreiteten und vielgestaltigen Phänomen zu erwarten wäre, fehlt jedoch leider bis heute, und auch einschlägige Wörterbücher und Lexika, wie z. B. der Duden oder der Brockhaus in 24 Bänden, verzeichnen noch nicht einmal den Begriff (vgl. Brockhaus 1989; Duden Rechtschreibung 2006), und auch eine Recherche im Internet führt kaum zu verwertbaren Ergebnissen. Die im Oktober 2007 in Zusammenarbeit mit dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde,
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dem Schwäbischen Heimatbund und der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa veranstaltete internationale Konferenz „Das Heimatbuch. Geschichte – Methodik – Wirkung“, beabsichtigte auf einige Forschungslücken hinzuweisen und erste Ansätze zur Behebung der vorhanden Desiderate zu bieten. Darüber hinaus sollte die Trennung zwischen „Vertriebenenheimatbüchern“ und „anderen“ Heimatbüchern aufgehoben und die Abgrenzung zwischen von Laien und von Wissenschaftlern verfassten Heimatbüchern als eine weitgehend scheinbare entlarvt werden (vgl. Beer 2010). „Passt Heimat in ein Buch?“ fragte Christel Köhle-Hezinger in ihrem eröffnenden Festvortrag, in dem sie die Vielfalt und die verschiedenen Zugänge zu den Themen Heimat und Heimatbuch darstellte. Dabei wählte Sie einen biographischen Zugriff auf das Buch als Heimat sowie auf die verschiedenen äußerlichen und inhaltlichen Ausformungen, in denen Heimatbücher vorliegen, denn sowohl große und umfangreiche Bücher als auch eher kleine Broschüren stellen immer auch eine „Brücke zwischen den Lebenden und den Toten“ dar (Köhle-Hezinger 2010: 48). Die Entstehung und vermehrte Produktion von Heimatbüchern ist nahezu gleichzeitig zum gestiegenen Interesse am Thema „Heimat“ in größeren Teilen der Gesellschaft feststellbar. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden in den verschiedenen deutschsprachigen Regionen unterschiedlichste Heimatbücher. Publikationen, die den Begriff „Heimatbuch“ explizit in ihrem Titel tragen, erlebten in der Weimarer Republik einen sehr großen Anstieg, vermutlich im Kontext mit der von Wilhelm Harnisch konzipierten Heimatkunde, die in diesen Jahren reichsweit als Schulfach etabliert wurde. Die Fragmentierung in der Moderne sollte in dem Fach Heimatkunde aufgehoben und ein ganzheitlicher Wissenszugang ermöglicht werden. Heimatbücher waren in diesem Zusammenhang als allumfassend angelegte Gesamtschauen, die wissenschaftlich und anschaulich zugleich als Hausbuch angelegt waren, zu verstehen. Als idealtypisch für ein Heimatbuch galt seine Ortsbezogenheit – „aus der Region, für die Region“ geschrieben. Orts- oder Kreismonographien überwogen, wohingegen es kaum Großstadt-Heimatbücher gab (vgl. Faehndrich 2010; vgl. auch Mitzlaff 1985). Heimatbücher schwanken zwischen den Polen „wissenschaftlich“ und „emotional“, wobei die von historischen Laien verfassten Werke keineswegs automatisch inhaltlich zweifelhaft und problematisch sein müssen. Vielmehr ist ein Heimatbuch, das eine wissenschaftliche Grundlage hat, aber gleichzeitig allgemeinverständlich geschrieben ist, sowohl für die jeweils intendierte Zielgruppe als auch für die Wissenschaft überaus nützlich. Qualitativ hochwertige Heimatbücher, die die benutzten Quellen genau belegen, sind für die Heimatforschung von großer Bedeutung, weil
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sie häufig umfangreiche ortsgeschichtliche Quellen erschließen, die oftmals wissenschaftlich noch nicht hinreichend erforscht sind (vgl. Sannwald 2010; Schmauder 2010; Schmidt 2010). Erwies sich bei den „Vertriebenenheimatbüchern“ die Vorkriegszeit des Dritten Reiches und die Zeit der Vertreibung häufig als problematisch, weil viele der Darstellungen auf Oral-History und der eigenen Erinnerung der Autoren basierten, was bisweilen zu Konflikten zwischen subjektiver Wahrheit und objektivem Geschehen führte, ist seit den späten 1980erJahren im Kontext der politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa sowie mit dem zeitlich größer werdenden Abstand zum Erlebten auch eine größere methodische Distanz in der Darstellung festzustellen. Wie kaum anders zu erwarten, gibt es „das“ Heimatbuch nicht, sondern selbstverständlich viele verschiedene Arten von Heimatbüchern, denn unterschiedliche Motivationen, Methoden und Ziele der Verfasser führen auch zu einer Vielzahl unterschiedlicher Publikationen (vgl. Schmoll 2010). Alle Heimatbücher haben jedoch mindestens drei gemeinsame Merkmale: Sie richten sich meist an eine klar erkennbare Gemeinschaft und verfolgen das Ziel, deren Geschichte „erinnerungsfördernd“ darzustellen. Dabei sollen sie Identität stiften, die Geschichte der Heimat zu einem Bestandteil der eigenen Identität werden lassen und eine Stabilisierungsfunktion übernehmen (vgl. Frede 2010). Allerdings gelingt es ihnen kaum, den „Kosmos“ heimatgeschichtlicher Ereignisse und Eigenschaften vollständig darzustellen, was auch mit der zweiten Gemeinsamkeit zusammenhängt, denn Heimatbücher folgen „Logiken des Sagens, aber auch des Nichtsagens“ (Schmoll 2010), neigen häufig zu einer Absolutsetzung des Eigenen und dabei zum Übersehen des bzw. der Anderen. Bei allen erkennbaren Unterschieden ist – als dritte Gemeinsamkeit – „der Verlust das Verbindende“ (Beer 2010). Daher ist es auch nicht als Zufall zu betrachten, dass im von gesellschaftlichen, sozialen und lebensweltlichen Umbrüchen geprägten beginnenden 20. Jahrhundert auch die Produktion von Heimatbüchern begann, denn Heimat wurde nun zu einem festen Bezugspunkt in einer sich wandelnden Welt und zu einem – oft idealisierten und stereotypisierten – „Versöhner des Widersprüchlichen“ (Schmoll 2010). Heimatbücher sollten der Retrospektive einer immer mehr verloren geglaubten Zeit und ihren Besonderheiten dienen und gleichzeitig den in die Vergangenheit Blickenden und seine Lebenszeit mit derjenigen der Vorfahren in Verbindung bringen. Als Motivation zum Verfassen trifft der Verlust der Zeit sowohl auf die Heimatbücher der Vorkriegszeit als auch auf die der Vertriebenen zu, aber auch auf Heimatbücher, die von Gemeinden beispielsweise aus Anlass eines Gründungsjubiläums in Auftrag gegeben werden. Eine wichtige weitere Motivation kommt jedoch bei den Heimatbüchern der Vertriebenen hinzu, nämlich der Verlust des
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Ortes (vgl. ebd.). Es wird in ihnen über Orte geschrieben, an denen man nicht mehr ist, wodurch das Buch gleichsam zum Denkmal wird: „Wenn eine Gemeinschaft von Menschen […] aufhört, verdient sie auch eine Inschrift“, heißt es beispielsweise im Vorwort zu einem Heimatbuch der Gemeinde Heltau im rumänischen Siebenbürgen (zit. nach Gündisch 2007).
5. Heimat als Utopie – Ausblick Der bekannte oberschlesische Schriftsteller Horst Bienek erhielt vierzig Jahre nachdem er seine Heimatstadt Gleiwitz verlassen musste, von einer Fernsehanstalt das Angebot, einen Film über die Stadt seiner Kindheit zu drehen, in der er 1930 geboren wurde. Da ihn die Wiederbegegnung mit der von ihm in vielen Büchern ausführlich beschriebenen Stadt und die Wiederbegegnung mit seiner Kindheit, die mit dem Kriegsende für den damals 15jährigen abrupt endete, sehr reizte, nahm er das Angebot an. In seinem Buch „Reise in die Kindheit. Wiedersehen mit Schlesien“, beschreibt er seine Eindrücke vierzig Jahre nach dem Verlassen der Heimatstadt. Am Ende des Buches heißt es: Ich war im Land meiner Kindheit. Aber ich bin nicht in der Kindheit angekommen. Gewiß ich war in Schlesien, wo ich herkomme und aufgewachsen bin. Aber ich habe die Kindheit nicht mehr erlebt (Bienek 1988: 179).
Zwei Absätze später lesen wir: Ich nehme Abschied. Er fällt mir schwer und er fällt mir nicht schwer. Ein Abschied vom Kinderland. Von der Heimat? Ich habe absichtlich bisher das Wort Heimat vermieden, dieses im Deutschen so bedeutungsschwere und -belastete Wort. So viel wurde über Heimat gesprochen, so viel darüber geredet. Und ich weiß immer noch nicht schlüssig zu sagen, was Heimat ist. Ist sie das, was Ernst Bloch als schöne Utopie gemeint hat? Ich war wie ein Schatzsucher, und alle meine Romane über die Kindheit waren nichts anderes als die Suche nach dem Schatz Heimat. Als ich die Schatzhöhle schließlich fand, war sie leer. Gibt es ein Ergebnis meiner Reise? Oberschlesien ist für mich nicht mehr Heimat. Gewiß, die alte unveränderbare Landschaft ist noch da, die Steine, die Wälder, die Flüsse. Aber die vertrauten Menschen fehlen, die für mich zur Heimat gehören. Tradition, Aura, Sprache, das alles ist verloren. Ich spüre den Verlust nicht als Verlust, jetzt nicht mehr, nach so langer Zeit (ebd.: 180).
Heimat ist nicht einfach „vorhanden“, sie ist auch niemals „fertig“ oder vollständig da, sondern in gewisser Weise immer wieder neu zu erschaffen und aufzubauen, auf jenen Fundamenten, die wir nicht zerstören können, ohne uns selber zu zerstören (vgl. Häny 1978).
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Entwickelte sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine in Volkstum und heimatlicher Landschaft wurzelnde Dichtung, die der Idyllisierung des Dorf- und Landlebens verfiel, wandelte sich der Heimatbegriff später wiederum. Während in dieser „Heimatliteratur“ die beschriebene „Heile-Welt-Heimat“ fern der Realität war, sahen es jetzt Schriftsteller als ihre Aufgabe, über ihre Heimat zu berichten, die sie verloren hatten oder aus der sie vertrieben worden waren. Sie versuchten dabei, ihre Heimat so realistisch zu beschreiben, wie sie sie in Erinnerung behalten hatten. Einige der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller, die über ihre verlorene Heimat berichteten, waren Thomas Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Leonard Frank, Ludwig Marcuse und Franz Werfel. An diese Exilliteratur anknüpfend wird Heimat auch als das Nochnicht-Erreichte beschrieben. Dieses Noch-Nicht, das konkret Utopische, ist der Begriff von Heimat, den Ernst Bloch in seinem berühmten Werk „Das Prinzip Hoffnung“ im US-amerikanischen Exil beschreibt. Bloch, der als Kriegsgegner 1914 das wilhelminische Deutschland und in den dreißiger Jahren als marxistischer Jude Nazi-Deutschland verlassen musste, um schließlich in den fünfziger Jahren aus der DDR gezwungenermaßen zu emigrieren, liegt die Heimat jenseits der Klassengesellschaft, und er fasst die „Thesen über Feuerbach“ von Karl Marx folgendermaßen zusammen: „Die vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur ist der Umbau der Welt zur Heimat“ (Bloch 1978, Bd. 1: 334). Daran anknüpfend ist Heimat für – den bereits zitierten – Bernhard Schlink im Sinne Ernst Blochs, eine Utopie, der Ort, in dem noch niemand war, und das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh, denn die Erinnerungen und Sehnsüchte machen die Orte zur Heimat. Auch für diejenigen, die nicht weg sind, besteht das Heimatgefühl häufig aus Fehlendem, aus dem, was nicht mehr oder auch noch nicht ist (vgl. Schlink 2000). Heimat zu verlieren ist heute nicht mehr nur ein individuelles Schicksal, sondern, im Zuge der Globalisierung, das einer ganzen Gesellschaft (vgl. Hecht 2000). Die Mundartliteratur kann in diesem Kontext auch als „Zufriedensheitslehre und Bejahung des kleinen irdischen Satisfikationsraums und der bestehenden Ordnung“ betrachtet werden (Greverus 1979: 70). Heimat ist dann „eine spezifische Umwelt, in der der Mensch sich auskennt, erkannt und anerkannt wird und sich selbst als ein tätiges, mitgestaltendes Mitglied erkennt“ (ebd.: 255). Heimat ist ein Ort des Erinnerns, des Innehaltens, des Beharrens und auch des Widerstands gegen den schnellen Wandel unserer Welt. Heimat will Beharrung, die es so nicht gibt, denn das heutige Leben fordert den permanenten Wechsel. Daher ist jede Heimat, wenn wir sie errungen haben, auch schon wieder verlorene Heimat. Vielleicht ist Heimat deshalb eigentlich ein imaginärer Ort.
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„Das Prinzip Hoffnung“ Ernst Blochs endet mit den Worten „so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Bloch 1978, Bd. 3: 1628).
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Marcus Müller (Heidelberg)
Historische Semantik aus der Sicht der Kunstgeschichte – sowie aus der Sicht auf die Kunstgeschichte 1. Einleitung Im folgenden Text soll der Begriff ‚historische Semantik‘ auf zweierlei Weise an die Kunstgeschichte angelegt werden: Erstens ist darüber zu reden, inwieweit Terminus und Idee der historischen Semantik innerhalb des Faches Kunstgeschichte selbst eine Rolle spielen; das soll unter der Überschrift „Historische Semantik als Methode der Kunstgeschichte“ geschehen. Zweitens möchte ich sprachliche Semantisierungsprozesse im Fach Kunstgeschichte unter der Überschrift „Historische Semantik als Funktionsprinzip der Kunstgeschichte“ behandeln, entsprechend dem Titelzusatz dieses Aufsatzes. Dabei will ich andeuten, wie das, was als ‚Kunstgeschichte‘ den Gegenstand des Fachs ausmacht, sich als eine überindividuelle Sinnwelt in der Serialität der fachlichen Formulierungstraditionen konstituiert. Als Beispiel wird mir das in der frühen Kunsthistoriographie beliebte Verb eindringen dienen. Das Thema „historische Semantik“ soll also angegangen werden erstens aus einer virtuellen Binnenperspektive der Kunstgeschichte und zweitens aus einer Außenperspektive, mittels eines der Kunsthistoriographie eigentlich fremden linguistischen Begriffs von „historischer Semantik“. Anders gesagt: Es geht mir hier um Schlaglichter erstens in die Fachgeschichte und zweitens in die Diskursgeschichte der Kunsthistoriographie. Der zweite Teil kann allerdings aus Raumgründen nicht mehr als ein Appendix werden. Als Ausgangspunkt einer Diskussion des Begriffs ‚historische Semantik‘ in der Kunstgeschichte scheint die Festlegung wichtig, dass hier unter „Semantik“ mit Morris (1946: 219) die Lehre von der Bedeutung der Zeichen aller Art verstanden werden soll, nicht etwa nur der sprachlichen. Die Semantik wird hier also als ein Teilfach der allgemeinen Semiotik angesprochen. „Historische Semantik“ bezeichnet demnach die Lehre von der Bedeutung in der Vergangenheit produzierter Zeichen. Das zu sagen ist insofern wichtig, da der Begriff ‚historische Semantik‘ für das Fach
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Kunstgeschichte natürlich die Frage nach der historischen Bedeutung des Kunstwerkes aufwirft, also des bildlich organisierten Zeichens. Auf der anderen Seite ist historische Semantik im linguistischen Sinne einer diachronen Bedeutungslehre des sprachlichen Zeichens ein überaus bedeutsamer Schlüssel zur Wissensorganisation der Kunstgeschichte und mithin zu demjenigen, was man sich im Fach eigentlich unter Kunstgeschichte vorstellt.
2. Historische Semantik als Methode der Kunstgeschichte Zuerst ist festzustellen, dass der terminologisierte Ausdruck „historische Semantik“ im Fach Kunstgeschichte an keiner Stelle je irgendeine größere Rolle gespielt hat. Es ist zwar immer mal wieder von der „Semantik eines Kunstwerkes“ die Rede, in der Regel dann aber eben nicht terminologisiert, sondern als ad hoc-Bildung. Natürlich gibt es eine Kunstsemiotik, die ist aber zum Großteil eher in der Semiotik und nicht in der Kunstgeschichte angesiedelt (vgl. Nöth 2000: 440ff.), so dass die Kunsthistoriker Mieke Bal und Norman Bryson sich noch 1991 im „Art Bulletin“ zu einem Programmaufsatz mit dem Titel „Semiotics and Art History“ genötigt sahen, der gleichzeitig den Charakter einer Einführung in die moderne Semiotik hat. Beide Autoren kommen bezeichnenderweise aus der Literatur- und Kulturwissenschaft. Ex negativo ergibt sich in dem Aufsatz ein ziemlich klares Bild dessen, was man sich im Fach Kunstgeschichte unter Semiotik vorstellt und warum man sich – mit Ausnahme einer kleinen Konjunktur in den 1970er Jahren – nicht mir ihr anfreunden kann: Es ist die am linguistischen Strukturalismus geschulte Semiotik à la Roland Barthes (vgl. dazu Nöth 2000: 107ff.), an der sich die Kunsthistoriographie aus mindestens zwei Gründen reibt: Erstens werden in der strukturalistischen Semiotik die Eigenschaften von Zeichen nach dem Vorbild des sprachlichen Zeichens modelliert. Die Kunstgeschichte beharrt aber auf dem, was man mit Jäger (2005) den „medialen Eigensinn“ des Bildlichen nennen kann. Dem Kunstwerk wird also ein Sinnbildungspotenzial zugeschrieben, dass eben nicht restlos zu versprachlichen ist (vgl. dazu Boehm 1995: 24ff.). Außerdem ist die strukturalistische Idee von Semiotik im Kern ahistorisch, während der prägende Basisgedanke von Kunstgeschichte besagt, dass Kunstwerke vor allem als Indizien für den Entwicklungsprozess der künstlerischen, d.h. formal-stilistischen Grundprinzipien zu behandeln sind, der sich jeweils in Epochen manifestiert (vgl. Pochat 1985; Suckale 1989; Müller 2007: 32ff.). Das bedeutet, dass z. B. die Limburger Klosterkirche als Indiz für die Romanik, Nôtre Dames de Paris als Indiz für die Gotik und die Würzburger Residenz als Indiz
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für den Spätbarock behandelt wird. Die Kunstgeschichte macht also das Kunstding zum Kunstwerk, indem sie ihm eine immanente Geschichtlichkeit zuschreibt. Belting (1978: 98) hat diese Praxis folgendermaßen beschrieben: In der Tat ist das Kunstwerk eine Realität, die Kunst dagegen ein Begriff. Der Begriff ist allerdings in die Definition des Werks eingegangen. Er stellt dieses nicht als Werk des Künstlers vor, sondern als Werk der Kunst. Das Wortgebilde „Kunstwerk“ bringt eine […] Position in Sicht, die für das Werk den Status des Unvollendeten und damit Historischen in Anspruch nimmt. Insofern sie eine Geschichte hat, existiert die Kunst über das einzelne Werk hinaus und hebt dadurch zumindest partiell dessen Vollendung wieder auf.
Geschichtlichkeit bedeutet hier aber nicht etwa Einbettung in soziokulturelle Geschehnisse, sondern weist vielmehr auf einen Entwicklungsprozess von formalen Gestaltungsprinzipien hin. Was z. B. ein Gemälde darstellt, ist dann allenfalls von untergeordneter Bedeutung und wird als Forschungsgegenstand eher den Historikern überlassen. Deswegen findet sich von den semiotischen Grundbegriffen in der Kunstgeschichte relativ häufig der Terminus „Grammatik“1, durchgängig selten aber eben der Terminus „Semantik“2. Selbstverständlich gibt es aber in der Kunstgeschichte eine Tradition, in der der geschichtliche Sinn der Kunstwerke im Vordergrund steht. Sie ist mit dem Begriff „Ikonologie“ und mit der Ahnenreihe Aby Warburg, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Edgar Wind, Ernst Gombrich und Horst Bredekamp verbunden.3 Aus der ikonologischen Tradition geht auch die kunstgeschichtliche Hermeneutik hervor, hier fallen einem vor allem die Namen Oskar Bätschmann und Max Imdahl ein.4 Ich werde mich im Folgenden auf die drei fachhistorisch zentralen Figuren, Aby Warburg, Erwin Panofsky und Ernst Gombrich, konzentrieren und ihnen auf überaus simplifizierende Weise drei Grundmodelle des Bedeutungsgehaltes von Kunstwerken zuordnen. Diese nenne ich erstens das Pilzmodell, zweitens das Spurmodell und drittens das Geschenkmodell der Bedeutung: 1
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Am prominentesten wohl im Titel von Alois Riegls posthum erschienenem Werk „Historische Grammatik der Bildenden Künste“, aber auch in zahlreichen Buch- und Aufsatztiteln mit Konjunkturen in den 1970er und 1990er Jahren; aus der jüngeren Vergangenheit sei der biographische Aufsatz Oskar Bätschmanns (2000) über Paul Klee genannt, der „Grammatik der Bewegung“ betitelt ist. Von den seltenen Beispielen einer kunstwissenschaftlichen Terminologisierung des Ausdrucks Semantik sei die semiotische Bruegel-Studie Heinz Jathos (1976) mit dem Titel „Bildsemantik und Helldunkel“ genannt. Zum ikonologischen Programm s. die Beiträge in Kaemmerling (1991). Zur Hermeneutik Bätschmanns s. dessen Einführungsbuch (1992), zu Imdahls hermeneutischen Programm der Ikonik s. Imdahl (2006).
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a) Das Pilzmodell der Bedeutung Auf den Bankierssohn und Kunsthistoriker Aby Warburg, den man z. B. mit Hubert Locher (2007: 61) als zentrale Integrationsfigur der interdisziplinären Kulturwissenschaften bezeichnen kann, geht der Begriff „Ikonologie“ zurück. Warburg ist natürlich berühmt durch das von ihm gegründete Hamburger Institut, das im Nationalsozialismus nach London umsiedelte, die darin befindliche Bibliothek für Kulturwissenschaft und das unvollendete Bildatlanten-Projekt Mnemosyne, er hatte aber auch großen methodologischen Einfluss auf die Kunst- und Kulturwissenschaften.5 Den erlangte er jedoch nicht durch theoretische Schriften oder ausformulierte Arbeitsprogramme, sondern durch eine Handvoll schmaler Studien und Vorträge über die Florentiner Renaissance, in der er die Kunstwerke, die es zu interpretieren galt, nicht nur mit der gesellschaftlichen Situation im Nähebereich der Künstler und Auftraggeber in Verbindung brachte, sondern ebenso mit zeitgenössischen Kulturprodukten aus Poesie und Wissenschaft.6 Erstmals geschah dies in seiner 1891 bei Hubert Janitschek in Straßburg vorgelegten Dissertation zu zwei Gemälden Sandro Botticellis, die ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘ (Warburg 1980b [1893]). Darin brachte er die Bilder in Verbindung mit der Lyrik der lateinischen Klassik und Florentiner Renaissance von Ovid bis Bocaccio, mit thematisch einschlägigen Holzschnitten und Zeichnungen der Zeit, mit Vorstudien Botticellis, der Kunstphilosophie Raphael Albertis, den Künsterviten Vasaris, mit Abbildungen auf Medaillen, Brauttruhen, Sarkophagen und einigem mehr, und zwar ohne irgendwelche Abstufungen von höher- oder minderwertigen Quellen vorzunehmen. Hier war das Kunstwerk also nicht wie in der Stilgeschichte der Kunst Ausdruck des formalen Stilprinzips einer Epoche.7 Vielmehr wurde es als Bestandteil eines soziokulturellen Handlungsgefüges verstanden – seine Bedeutung kann als ein Partizipationseffekt an diesem Gefüge gesehen werden, in dessen Gesamtheit sich die Sinnwelt einer Epoche oder Region konstituiert. Das Kunstwerk ist demnach so etwas wie ein Pilz. Es begegnet einem auf der einen Seite als
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Aus der unüberschaubaren Literatur zu Warburg sei neben dem großen Buch von Gombrich (1981) die rezente Biographie von Michel (2007) genannt. Den folgenden Ausführungen liegen neben diesen Texten die Kurzdarstellung von Falkenburg (1993) sowie die 1980 edierten Warburg-Schriften zugrunde. Versammelt, gemeinsam mit Warburg zugedachten Schriften und einer Bibliographie in Warburg (1980a). Zu dem bereits bei Giorgio Vasari im 16. Jh. angelegten und maßgeblich im 19 Jh. von Heinrich Wölfflin und Alois Riegl ausgearbeiteten Programm der Kunstgeschichte als Stilgeschichte sowie dessen nationalpädagogischer Transformation s. Müller (2007: 26ff.).
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monolithische Wahrnehmungsgestalt, ist auf der anderen Seite aber nur zu verstehen als Knotenpunkt eines dichten gleichsam unterirdischen Bedeutungsgeflechtes des kulturellen Kontextes. Die Bedeutung des Kunstwerkes kann nur durch Rekonstruktion möglichst großer Teile dieses Geflechtes angegeben werden. Die so angegebene Bildbedeutung ist insofern historisch, als sie das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft repräsentiert und damit ein Explanans für die kulturelle Gestimmtheit der Gegenwart bietet. b) Das Spurmodell der Bedeutung Erwin Panofsky, eine knappe Generation jünger als Warburg, war seit 1927 Professor für Kunstgeschichte in Hamburg und seitdem in engem wissenschaftlichem Austausch nicht nur mit Aby Warburg, sondern auch mit Fritz Saxl und Ernst Cassirer, der ebenfalls in Hamburg lehrte. Panofsky emigrierte 1933 in die USA und hatte dort Lehrstühle für Kunstgeschichte inne, zuletzt an der Princeton University (vgl. Holly 1981). Neben zahlreichen Studien zur europäischen Kunstgeschichte, vor allem zur deutschen und niederländischen Gothik und Renaissance, verdankt das Fach Panofsky eine klare und theoretisch anspruchsvoll hergeleitete Anleitung zum Interpretieren von Kunstwerken (Panofsky 2006 [1932], 2006 [1955]). Darin werden, nach dem Vorbild der scholastischen Hermeneutik, verschiedene Sinnebenen postuliert, nur nicht vier, wie bei der Bibelexegese, sondern drei: Panofskys erste Deutungsebene wird das „primäre oder natürliche Sujet“ genannt (2006 [1955]: 37). Damit sind die Wahrnehmungsgestalten des Bildes gemeint, also zum Beispiel ein Haus, ein Mensch oder ein Schwert. Diese Ebene wird nach Panofsky durch die sogenannte „vorikonographische Beschreibung“ erschlossen. Dabei ist bemerkenswert, dass Panofsky diesen deskriptiv erschließbaren Aspekt des Bildlichen bereits zur Bildbedeutung und nicht etwa zur Form zählt. In dem Sinne, in dem später Ernst Gombrich (1986) gesagt hat, es gebe nicht so etwas wie das unschuldige Auge, hat schon Panofsky gesehen, dass bereits die Zuordnung der sinnlichen Farb- und Formwerte des Kunstwerkes zu Wahrnehmungsgestalten ein interpretativer Akt ist. Das ist im Übrigen eine Erkenntnis, die auch eine textlinguistische Pointe hat, weil sie gleichsam nebenbei den Akt des kunsthistorischen Beschreibens als evaluative, interpretative und perspektivierende Texthandlung ausweist. Und während Panofkys Interpretationsschema fest zur kunsthistorischen Ausbildung gehört, ist der Befund, dass Beschreiben sei weitaus mehr als formale Bestandsicherung, bis auf einige Nischen (z. B. Baxandall 1990) im Fach nicht weiter rezipiert worden – das ändert sich gerade in der jüngeren Generation ein wenig (z. B. Schürmann 2008).
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Die zweite Ebene Panofskys, das ‚sekundäre oder konventionale Sujet‘ des Kunstwerks umfasst die Interpretation des dargestellten Personal- und Sachtableaus vor dem Hintergrund der künstlerischen Motivik und deren Zuordnung zu Geschichten, Fabeln oder Allegorien. Panofsky (2006 [1955]: 37f.) gibt als Beispiele für diese Ebene an, dass auf ihr erkannt werden muss, dass „eine männliche Gestalt mit einem Messer den heiligen Bartholomäus repräsentiert“ oder dass „eine Gruppe von Personen, die in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Posen um eine Speisetafel sitzen, das letzte Abendmahl darstellt“. Diese Deutungsebene des Bildes wird nach Panofsky im Verfahren der ikonographischen Analyse erschlossen, vor allem mit diesem Verfahren ist Panofsky in den kunsthistorischen Methodenkanon eingegangen. Die dritte Sinnebene nennt Panofsky die „eigentliche Bedeutung“, den „Gehalt“ oder auch – mit einem Begriff Karl Mannheims - den „Dokumentensinn“ des Kunstwerks (2006 [1955]: 39ff.). Nach Panofsky wird diese Deutungsschicht erfasst, „indem man jene zugrundeliegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk“. Als ein Beispiel wird das Deutungsproblem aufgeworfen, dass eine Figur, die nicht auf festem Boden steht, auf einem Gemälde einmal als schwebende Erscheinung zu sehen ist, wie z. B. das Christuskind auf der rechten Tafel von Rogier van der Weydens Baldelin-Altar aus dem Jahre 1450, und ein anderes Mal als Figur, bei der es einfach nicht darauf ankommt, wo sie steht, wie die Salome aus dem Evangeliar Ottos III. (fol. 46v), das um die erste Jahrtausendwende nach Christus entstanden ist. Was man dabei wissen muss und was andererseits für den vorgebildeten Betrachter von den Bildern indiziert wird, ist, dass zwischen den beiden Darstellungen ein Wechsel des künstlerischen Repräsentationsmodus stattgefunden hat, nämlich vom früh- und hochmittelalterlichen Aggregatraum zum frühneuzeitlichen Systemraum, wie Panofsky (1927) das an anderer Stelle nennt. Das bedeutet, dass ab dem Spätmittelalter der Bildraum in der Malerei einer einheitlichen Perspektive unterworfen ist und damit der Anspruch einhergeht, den Bildhintergrund naturalistisch zu gestalten. Solche ästhetischen Grundhaltungen, die an Epochen oder geographischen Räumen festzumachen sind, haben nach Panofsky Symptomcharakter. Das Kunstwerk ist in dieser letzten Instanz die Spur einer tieferen Bedeutungsfigur, die einer Epoche oder Nation zugrunde liegt. Die eigentliche Bedeutung des Kunstwerks ist damit in dessen Hinweischarakter auf diese verborgenen Ideen zu sehen. Diese Konzeption konstruiert Panofsky an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen entlang, mit Bezug auf Cassirer spricht er auch vom „symbolischen Wert“ des Kunstwerks, wo-
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bei „Symbol“ hier in etwa das meint, was bei Bühler (1934) „Symptom“ und bei Peirce (1960: 2.247) „Index“ heißt. Panofsky betont dabei, dass dem Künstler selbst der Dokumentensinn des Kunstwerkes verschlossen sei, dieser erschließe sich erst dem ordnenden, kategorisierenden und vor allem synthetisierenden Betrachter, der dazu gleichsam aus der Rezeptionsgeschichte des Werks austreten muss. Es ist vielleicht seinerseits symptomatisch, dass die klare und kraftvolle Sprache Panofskys immer dann ins Obskurantistische abgleitet, wenn es um diesen Dokumentensinn geht. Das mag damit zu tun haben, dass Panofsky davon ausgeht, dass diese tiefere Bedeutungsfigur sich nicht erst im Netz der kulturellen Handlungen konstituiert, sondern nur von diesen indiziert wird und ihnen sozusagen schon vorgängig ist. Damit kann immer nur der symbolische, also indexikalische Wert des Kunstwerks benannt werden, nie aber der Sinn, auf den sie verweist. Man kann nicht ganz umhin, die einschlägigen Passagen bei Panofsky als eine Art Eiertanz um kunsthistorische Redeweisen des Typs „der jenseitsgewandte gothische Menschentypus“, „der expressive Nordeuropäer“ oder „der nach formaler Harmonie strebende Italiener“ zu lesen, wie man sie bis in die 1950er Jahre hinein systematisch in kunsthistorischen Texten findet. Auch wenn Panofsky letztlich klare Distanz hält, so ist das Konzept des Dokumentensinns nicht ganz isoliert von dieser Tradition der völker- und epochenpsychologischen Ausdeutung von Konzepten der Stilgeschichte zu sehen (vgl. dazu Müller 2007). Insofern als Panofskys Dokumentensinn im Wesentlichen auf ästhetisch-formale Bildprogramme zielt, ist die Kunstgeschichte an dieser Stufe sozusagen wieder bei sich selbst angekommen. c) Das Geschenkmodell der Bedeutung Schließlich wird in kommunikations- und medientheoretischen Ansätzen innerhalb der ikonologischen Tradition, ich will hier neben Ernst Gombrich (1991 [1972]) auch Arbeiten von Hans Belting (2001), Martin Warnke (1997) und Robert Suckale (1989) nennen, das Kunstwerk als eine Art Geschenk präsentiert. Hierbei wird der ästhetische Überschuss des Kunstwerks im Wesentlichen als Verpackung mit appellativer und persuasiver Funktion gesehen, mittels derer die vom Künstler oder Auftraggeber intendierten Aussagen zur Geltung gebracht werden, und zwar in einem kommunikativen Prozess des Kunsthandelns. Im Kern dieser Bedeutungsvorstellung steht die pragmatische Idee des meinenden Kommunikators. Daraus folgt für Gombrich, die Rede von den übereinandergelagerten Sinnschichten des Kunstwerks sei aufzugeben und Bildinterpretationen seien an dem beabsichtigten Sinn des Künstlers oder Auftraggebers auszu-
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richten. Alle anderen ikonographischen Analyseverfahren, also die SujetBestimmung, die Einordnung in Darstellungstraditionen, Motivgeflechte und Aussagereihen, seien diesem unterzuordnen. Allerdings besteht Gombrich (1991 [1972]: 418) auf der Konkretisierung, dass mit „Absicht“ oder „Intention“ nicht etwa eine psychologische Kategorie angesprochen sei, sondern es sich „eher um eine Kategorie gesellschaftlicher Konventionen“ handele. Genau diese Betonung der sozialen Bedingtheit künstlerischer Intention bietet den Nexus zu der sozialpolitischen, kulturgeschichtlichen und medientheoretischen Einbettung, die dieser bildpragmatische Beutungsbegriff seit den 1970er Jahren erfährt. Dieser antiidealistischen Engführung des Begriffs der Bedeutung entspricht ein medientheoretischer Realismus. Gombrich formuliert auch so schlüssig wie lapidar, die Aufgabe der Ikonographie sei es, den mit dem Kunstwerk illustrierten Text zu finden. Wo Panofsky emergente ästhetische Verweise auf Ideenwelten gesehen hat, konstatiert Gombrich Bild-TextBeziehungen.
3. Historische Semantik als Funktionsprinzip der Kunstgeschichte Mit der Hinwendung Gombrichs zum Text als Material wird in der Kunstgeschichte auch erstmals so richtig die Sprache zum Thema und Problem, und zwar nicht als durchsichtiges Fenster zur Ideenwelt, sondern konkret als Medium und konfigurierte Zeichengestalt. Erst in jüngster Zeit beginnen junge Kunsthistoriker wie Rößler (2009), Straehle (2009) und Schürmann (2008), angeregt insbesondere durch die Arbeiten Lochers (2001, 2007), Fachgeschichte als Textgeschichte zu rekonstruieren. Aus der Linguistik liegen Arbeiten von Kashapova (2006), Gardt (2008) und Müller (2007a, b, 2009) vor.8 Hierbei zeigt sich, wie dasjenige, was ich im ersten Teil als historische Bildsemantik behandelt habe, letztlich nicht zu verstehen ist ohne die Analyse der sprachlichen Mittel, mit denen Kunstgeschichte als Hintergrundfigur der Kunstinterpretation konstruiert wird. Ich will das zum Schluss an einem kleinen Beispiel andeuten. Der folgende Textbeleg entstammt einer „Geschichte der deutschen Kunst“ aus dem Jahr 1999, Autor ist Martin Warnke:
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Thematisch schließen an diese Arbeiten unmittelbar die Studien in Hausendorf (2007) zur Funktion von Sprache im sozialen Bereich der Kunst an.
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(1) Während alle Gattungen der Kunst in den Jahrzehnten des Dreißigjährigen Krieges daniederliegen, erlebt die Flugblattgraphik eine außerordentliche Blüte. […] Jetzt dringen Bilder in die anspruchsvolle Lektüre aller Gebildeten ein (Warnke 1999: 438). Bei dem hervorgehobenen Satz handelt es sich um eine durchsichtige und recht unauffällige Verbalmetapher, die aber doch ein wenig drollig und in ihrer Metaphorik leicht überzogen wirkt, insbesondere wenn man um die stilistischen Fähigkeiten Martin Warnkes weiß. Die zur Rede stehende Formulierung zeigt sich aber vor einem ganz anderen Hintergrund, wenn man ihre diskursgeschichtliche Bedeutung kennt. Diese lässt sich ansatzweise an den folgenden Belegen ablesen, die aus kunsthistorischen Darstellungen berühmter Kunsthistoriker wie Wilhelm Bode, Hans Weigert oder Adolf Feulner stammen, und von denen man noch unzählige andere anführen könnte. (2) Das ist demnach die Stelle, wo zuerst die Kunst in das Leben unseres Volkes dringt (Förster 1851: 4). (3) Verhängnisvoll für die deutsche Kunst […] war sodann das siegreiche Eindringen der italienischen Kunst (Bode 1885: 229). (4) Das Eindringen dieser Bogenform in den romanischen Stil ist bezeichnend für dessen […] Schlußzeit (Knackfuß 1888: 195). (5) Seit 1510 etwa dringt spätgotische Bewegtheit […] in die klassische Stille ein. (Weigert 1942: 32). (6) In der Architekturgeschichte […] wird die Einheit des Zeitalters durch das Eindringen der französischen Gotik verschleiert (Feulner/Müller 1953: 60). Es zeigt sich immer dasselbe Muster: Das Bewegungsprädikat weist ein Agensargument aus, das hier mit Gattungs- oder Stilbegriffen verschiedener Granularität belegt ist und ein Direktivargument, das mit einem Stilbegriff, einem zeitbezogenen Epochenbegriff oder einem gruppen- oder raumbezogenen Nationenbegriff gefüllt werden kann. Diese Redeweisen finden sich systematisch ein Jahrhundert lang bis in die 1950er Jahre hinein in kunsthistorischen Texten. Sie indiziert eine Kunstgeschichte als Stilgeschichte, die soziale, geographische oder politische Räume ausblendet und durch eine stilgeschichtliche Pararäumlichkeit ersetzt, die in solchen Metaphernreihen konstituiert wird. Nur auf diese Weise wird die historische Erzählung als Interpretationshintergrund für das einzelne Kunstwerk erst ermöglicht. Diese Formulierungstraditionen sind im Fach so stark ausgeprägt, dass selbst Forscher wie Martin Warnke, die sozialgeschichtlich argumentieren, immer wieder auf diese Redeweisen zurückgreifen – fast könnte man sagen, von ihnen eingeholt werden.
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4. Schluss Es würde sich zum Schluss ein Plädoyer für eine größere Rolle sprachreflexiver Verfahren in der Kunstgeschichte anschließen, stünde dieser Beitrag in einem kunsthistorischen Kontext. Da in diesem Fall der Auftrag aber lautete, einen interdisziplinären Beitrag zur Begriffsdiskussion der Sprachgeschichtsschreibung zu liefern, möchte ich stattdessen mit der naheliegenden Überlegung schließen, aus welchem der geschilderten Bedeutungsmodelle sich ggf. Anregungen für die Praxis der linguistischen historischen Semantik ableiten ließen: Der praktischen Semantik steht dabei natürlich der pragmatische Ansatz, den ich an Gombrich festgemacht habe, am nächsten, andererseits ist von dort für die Linguistik vielleicht keine fundamentale Neuerung mehr zu erwarten. Ich möchte stattdessen einen Aspekt des Warburg-Verfahrens beleuchten, dazu unternehme ich eine an Peirce (1960) orientierte Interpretation, möglicherweise auch eine Überinterpretation: Warburg hat ja alle ihm verfügbaren Artefakte und Alltagsgegenstände im Deutungsakt aufeinander bezogen und damit letztlich die Fundamentalopposition von Zeichenform und Zeicheninhalt aufgehoben. Stattdessen hat er versucht, die wechselseitige semiotische Aufladung der Dinge im Netz der kulturellen Handlungen in der Rekonfiguration wieder aufscheinen zu lassen. Auf diese Weise entsteht ein überaus aktuelles Bild des Zusammenhangs vom Handlungsgefüge einer Gesellschaft und ihrer kulturellen Konstruktionen, die eben nicht ausschließlich in einem einzelnen autarken Zeichensystem entstehen, weder dem der Kunst noch dem der Sprache. In diesem Sinne könnte eine Anregung aus der Kunstgeschichte lauten, es etwa im Sinne der Arbeiten Angelika Linkes (1996, 2010) mit einer Sprachgeschichte als Teil einer allgemeinen Semiosegeschichte der Kulturdinge zu versuchen, in der die relationale Verortung sprachlicher Zeichen im reichen semiotischen Kontext gesehen wird und alle Arten von greifbaren Zeichen – Bilder, Häuser, proxemische Konfigurationen, Tänze, Kleider – zur Interpretation historischer sprachlicher Sinngestalten herangezogen werden. Die Anregung aus dem Nachbarfach würde also lauten: Warum keine Warburg-Methode in der Sprachgeschichte?
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Edgar Radtke (Heidelberg)
Historische Semantik und die Ausgliederung der Romania. Zur Neubewertung der Expressivität 1. Vorbemerkung: Die Sonderstellung der Romanistik Im Gegensatz zur Germanistik definiert sich die Romanistik als historische Sprachwissenschaft, da letztere sich im Gegensatz zur ersteren auf einer schriftsprachlich bestens dokumentierte Vorstufe beruft, nämlich auf das Lateinische, während das Germanische weitestgehend rekonstruiert werden muss: Romanisch Deutsch
< <
Latein *Germanisch
Für Sprachwandelprobleme jedweder Art stellt die Romanistik ein relativ sicheres Netz von der Kontinuität vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen dar. Der bei Sprachwandelphänomenen anzutreffende spekulative Anteil fällt somit im Vergleich zu anderen europäischen Nationalphilologien äußerst gering aus (Lüdtke 22009). In diesem Zusammenhang macht die historische Semantik ein obligatorisches Fundament der romanischen Sprachwissenschaft aus. Die Verschriftlichung des Lateins durch die Alphabetisierungsklammer vom Etruskischen und Griechischen, in der das Lateinische von Rom ausgehend Fuß fasst, garantiert eine exzellente Rekonstruktionsbasis. In der Fachgeschichte erklärt dieser Umstand auch die bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in der universitären Lehre anzutreffende Gleichsetzung von Sprachwissenschaft mit Altfranzösisch, Altspanisch usw. Die nicht-historisch orientierte Sprachwissenschaft ist von daher in der Romanistik erst spät in Gang gekommen. Selbst synchrone Beschreibungsmethoden wie die Sprachgeographie haben nicht die historische Erklärung der Sprachschichtung für die Variationsverteilung ausgeklammert. Dieser Umbruch zu einer ahistorischen Betrachtungsweise in der romanischen Sprachwissenschaft wird erst mit Leo Spitzers Italienische Umgangssprache
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(1922) eingeläutet, in dem Spitzer sein Werk im Vorwort als Provokation gegen Meyer-Lübkes junggrammatisches Tun auffasst.
2. Korrekturen an der Wissenschaftsgeschichte der historischen Semantik in der Romanistik Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass in der Romanistik die historische Semantik mit Michel Bréal einsetzt, der auch in seiner Schrift Essai de sémantique. Science des significations (1897/21899/31904/51921) den Begriff Semantik einführt. Es ist dabei aber zu präzisieren, dass der Erstbeleg bei Bréal bereits 1889 zu attestieren ist, als er in „Les lois intellectuelles du langage“, Annuaire de l’Association pour l’encouragement des études grecques en France den Begriff verwendet. Arsène Darmsteter bildet in La vie des mots étudiée dans leurs significations (21887), die Mechanismen der semantischen Evolution ab (vgl. auch Baldinger 1957). Allerdings wird dabei unterschlagen, dass die Bedeutungsgeschichte schon bei dem Begründer der Romanistik Friedrich Diez in seiner Romanischen Wortschöpfung von 1875 zentraler Gegenstand ist, auf die Gaston Paris in der Romania 1876 auf einer Viertelseite knapp eingeht. Das Kreativitätskriterium, auf dem bereits die lexikalische Diachronie bei Diez fußt, ist von Anfang an als wesentliches Element des Bedeutungswandels verankert und schon früher bei August Fuchs, Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zur lateinischen (1849), deutlich greifbar. Von daher beginnt die Romanistik nicht nur mit der Laut- und Formenlehre, sondern bezieht gleichermaßen die historische Semantik ein. Die Romanistik weist von Anfang an der Historizität und der Vergleichbarkeit eine Evolutionspotenz zu, die auf die lexikalische Kreativität Bezug nimmt. Die einschlägigen Forschungsberichte verweisen ebenfalls darauf, auch wenn Lebsanft/Gleßgen 2004a bei dem Dreigespann von Pragmatik, Geschichte und Kognition vielleicht der letzten Größe zu viel Bedeutung beimisst. Schon Blank 1997 sieht eine kognitive Wende, obwohl Semantik ohne Kognition gar nicht ernsthaft vorstellbar erscheint. De Mauro 1967 hat schon die Bedeutungsdiskussion bei Aristoteles und in der Scholastik zitiert, und Möhren 2004 stellt lapidar fest: „Die Semantik wurde nicht heute erfunden.“ Blank 1997 fasst den Bedeutungswandel als autonome Größe und Klein 1997 bezieht sich auf den Bedeutungswandel zur Bestimmung der räumlichen Gliederung. Es fehlt jedoch die dritte Komponente zur Analyse des Bedeutungswandels, die die Bedeutung über die Expressivität in Wandelprozessen beschreibt. Das DECOLAR von Koch/Blank (www.uni-tuebingen.de/decolar)
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hat diese zentrale Funktion der Expressivität thematisiert. Leider ist dem DECOLAR aufgrund widriger Umstände keine Erfolgsgeschichte beschieden, ähnlich dem semasiologischen Vorläufer von Schroepfer.
3. Historische Semantik als Hilfsdisziplin zur Ausgliederung der Romania Bedeutungsveränderungen können derart massiv einsetzen, dass sie die lexikalische Verschiedenheit der romanischen Sprachen so ausweiten, dass sie einen Baustein zur Klassifikation der Romania abgeben. In der Verwebung von Raum und Zeit als Klassifikationsraster begründen die neolinguistica oder linguistica spaziale von Giulio Bertoni und dann Matteo Bartoli eine rein wortorientierte Geolinguistik auf der Basis der Chronologie. Die Verbindung von Diachronie und Geolinguistik richtet sich nach der Frage der unterschiedlichen Romanität von Konkurrenzlexemen etwa CUM+EDERE und MANDUCARE „essen“, CAPUT/CAPITIA und TESTA „Kopf“ oder die Bezeichnungen für MULIER(EM) „verheiratete Frau“.
Abb. 1: Rohlfs, Gerhard (1971): Romanische Sprachgeographie. München
Bei diesen historisch-vergleichenden Einzelfällen richtet sich die klassifikatorische Bestimmung nach der Frage der Romanität aus. Hierbei wird die historische Semantik verabsolutiert, um die romanischen Sprachen
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zu klassifizieren. Die Lexemdifferenzierung nimmt also unterschiedliche Romanisierungsschichtungen an, die die Verschiedenheit der romanischen Sprachen bedingen.
Abb. 2: Rohlfs, Gerhard (1971): Romanische Sprachgeographie. München
Der lexikalische Bedeutungswandel wird daneben aber nicht nur von der chronologischen Abstufung her bestimmt, sondern rekurriert entscheidend auch auf deren Expressivitätspotential. Man kann geradezu pointiert aussagen, dass die Expressivität der entscheidende Motor für die lexikalische Erneuerung ist. Jaberg und später Baldinger haben einen Werdegang vom Affektwort zum Normalwort für die romanischen Sprachen als Gestaltungsprinzip angenommen (Baldinger 1957, 30). So entwickelt sich das *TRIPALIUM für das Einspannen von Pferden, TREPALIUM zu frz. travail, sp. trabajo über die Marter als Arbeitsbezeichnung, afrz. mout wird durch beaucoup ersetzt. Ivan Pauli „Enfant“, „garçon“, „fille“ dans les langues romanes (1919) zeigt das Synonymfeld seiner Begriffe als einen emotiv und expressiv aufgeladenen lexikalischen Speicher. Es sei für dieses Begriffsfeld nur herausgegriffen, dass sich für „ragazzino“, „bambino“ etwa in Irpinien Formen wie fraiète < FRAECTUS „aborto degli animali, persona abortita“ einfinden, die als Dysphemismen rein hypochoristischen Ursprunges sind. Daraus ergibt sich, dass die Expressivität das große Problemfeld der historischen Semantik ist, das noch auf eine adäquate Beschreibung wartet.
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Die Vorarbeiten zur Expressivität von Charles Bally und Leo Spitzer haben die semantischen Komponenten noch nicht angemessen erfasst: Der langage affectif ist in einem psychologisierenden Umfeld von lexikalischer Relevanz, aber der Expressivität selbst wird kein Semstatus zugebilligt, d. h. die Expressivität betrifft die Pragmatik und wird in der historischen Semantik individuell von Fall zu Fall, ja nahezu anekdotisch herangezogen. Auch der Beitrag Koch/Oesterreicher 1996 behandelt Sprachwandel und expressive Mündlichkeit tautologisch, indem eine Lösung anvisiert wird über die Gleichsetzung mit einer diachronischen Varietätenlinguistik. Die Innovation erfolgt demgemäß über die Mündlichkeit. Lüdtke 22009 setzt folglich eine Bedeutungsgeschichte an, die als Kommunikationsgeschichte interpretierbar wird. Man kann sich fragen, ob die Beschreibung der Expressivität nicht unter das Modell von Lebsanft/Gleßgen 2004 subsummiert werden kann. Allerdings ergeben sich dafür insofern Zweifel, als die Expressivität eher in einer Größe anzusiedeln ist, die bereits Bréal 31904, 234–244, deutlich als eigenständiges élément subjectif bezeichnet hat und damit die innersprachlichen Verweisformen auf den Sprecher meint: „Le côté subjectif est représenté: 1° par des mots ou des membres de phrases; 2° par des formes grammaticales; 3° par le plan général de nos langues“ (Bréal 31904, 234) oder noch schärfer „L’élément subjectif n’est pas absent de la grammaire de nos langues modernes“ (Bréal 31904, 239). Demnach ist davon auszugehen, dass es eine Kommunikationsform in Sprechergemeinschaften gibt, deren Verwendungsbedingungen von der Inszenierung des Sprechers gesteuert werden. In der Syntax ist gerade in der Gesprochene Sprache-Forschung von der egocentric reference die Rede. Die Kommunikationsbedingungen sind u. a. auch so etwas wie semantische Auslöser für Bedeutungswandel. Anthropologisch bedingte Verwendungsbedingungen von Sprache greifen so etwa auch auf den Grad der mehr oder weniger starken emotionalen Beteiligung aus. In der jüngeren romanistischen Diskussion hat dies – im Glauben an strikte Parameterwerte – beispielsweise zu der Annahme des Spannungsfeldes Nähe und Distanz geführt, das den Wechsel von lat. AURIS zu AURICULA (frz. oreille, span. oreja, port. orelha oder ital. orecchio) als einen nähesprachlichen Typus von Innovation auffasst (Koch/Oesterreicher 1996). Der Subjektivitätsgrad klassifiziert demzufolge den Sprachwandel als Kategorie von Innovation oder Konservation. Man kann daher für die Nutzung des Expressivitätsgrades drei Ebenen annehmen, von denen eigentlich nur die dritte sprachwandelrelevant ist: – Phänomene, die Emotionalität lediglich induzieren – regelrechte Zeichen der Emotionalität – Zeichen, die Emotionalität nur okkasionell transportieren
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Die ersten beiden Ebenen sind konventionalisiert und beziehen sich auf bereits vollzogenen Sprachwandel. Sie sind habitualisiert und bewegen sich in der sog. Alltagsrhetorik. Um es an einem deutschen Beispiel zu erläutern: die Lexikalisierung von genau als Bejahungspartikel oder letztendlich als hyperbolische Abtönung haben ihre geradezu apodiktische subjektive Verabsolutierungswertung inzwischen standardisiert. Die ursprüngliche Subjektivitätsmarkierung ist damit de-expressiv umgestaltet worden. Genau das ist auch beim AURICULA-Typ oder bei der Bildhaftigkeit von MANDUCARE und Intensivierung von CUM + EDERE passiert. Für den Bedeutungswandel ist dabei ausschlaggebend, dass bestimmte Themenbereiche stärker für die Expressivität anfällig sind, dabei handelt es sich naturgemäß um subjektivitätsbezogene Domänen wie – Gefühle – Intensität und Quantität – Bewertungen – Ästhetik – Zeit-/Raum-Orientierung Man kann diese Tendenz auch als eine Manifestation des verstärkenden Sprechens identifizieren, insbesondere dann, wenn eine ad-hoc-Bildung über die Lexikalisierung zur Grammatikalisierung tendiert, wie es bei der Herausbildung der Artikel im Romanischen geschehen ist. Dieses Schema, das Koch/Oesterreicher 1996 vertreten, basiert auf einer Kreislaufkonzeption des expressiv induzierten Sprachwandels, der zumindest für sog. drastische Metaphern wie die Kopfbezeichnungen oder die von Wartburgschen Trabantenwörter als affektgeladene Synonyme nachvollziehbar ist. Erst die Selektionen durch die Standardisierung bewirken Markierungsveränderungen und desemantisieren die Expressivitätslexeme. Allerdings bleibt bei diesem Modell ein zentrales Problem noch ungelöst, nämlich wie Expressivitätsschübe in die räumliche Differenzierung einfließen können. Zwar hat Klein 1997 in seiner Habilitation die wortsemantische Binnengliederung von PORTARE und LEVARE aufgrund der räumlichen Distribution klassifizieren wollen, aber im Ergebnis zeigt sich keine Diversität, die von der Anlage der Expressivität oder auch der denotativ geprägten Kognitivität her gesteuert würde. Vielmehr entziehen sich die Regularitäten der Relation von Expressivitätsmustern und räumlicher Verteilung, der affektivische und/oder expressive Wandel scheint sich keinen Bildungskonzentrationen zu unterwerfen, so wenig wie man sagen kann, welche romanische Sprache die expressivste sei! Auch wenn die Dichte des Metaphorisierungsgrades ohne weiteres quantitativ als bestimmbar erscheint, so findet sich nicht gleichzeitig eine Entsprechung in der Raumgliederung. Ein solches Modell hat daher den Vorteil, dass man sich aus der monolithischen Schau der
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Neolinguisten befreit und ein mehrdimensionales Gerüst der Interaktion von Wortneuschöpfungen mit den lexikologisch-pragmatischen Gegebenheiten für die Klassifizierung erstellen kann. Diese Überwindung des traditionellen Modells ist bereits in der Wortschöpfungsdiskussion seit Diez angelegt, aber nie konsequent unter Berücksichtigung der räumlichen Dimension angewendet worden. Dabei hat die Romanistik die Frage des Bedeutungswandels frühzeitig an die Expressivitätskomponente gekoppelt, wohingegen die germanistische Leistung – bestens dokumentiert mit Fritz 22006 – eher in Richtung auf eine textuell bezogene historische Semantik zugegangen ist.
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Edgar Radtke
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Rosemarie Lühr (Jena)
Wortfeldvergleich 1. Das Projekt „Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext“ 1.1. Inhalt1 In dem neuartigen Wörterbuchprojekt „Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext“, das von der Sächsischen Akademie der Wissenschaft gefördert wird, soll u.a. der Dialog zwischen Indogermanistik und Germanistik gefördert werden. Untersucht wird der substantivische Wortschatz des Begriffsfeldes „Mensch“, und zwar in seiner historischen Schichtung und in Bezug auf das europäische Sprachareal. Dabei wird – das ist der spezifische Beitrag der Indogermanistik – Etymologie mit der Organisation des Wortschatzes nach Wortfeldern verbunden. Erstens geht es um folgende Wortfelder: (A) biologische Eigenschaften des Menschen (3000 Wörter) (B) kulturelle Eigenschaften des Menschen (B)(1) der Mensch im Alltag (3000 Wörter) (B)(2) der Mensch in der Vielfalt seiner kulturellen Beziehungen: Mensch und Recht (3000 Wörter); Mensch und Religion und Ethik (3000 Wörter); Mensch und Wirtschaft (3000 Wörter); Mensch und Wissenschaft und Kunst (3000 Wörter); Mensch und neue Technologien (3000 Wörter) Zweitens wird nach synchronen Schnitten gegliedert: Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Älteres Neuhochdeutsch, Neuhochdeutsch – Gegenwartssprache. Indem auch drittens die Herkunft der Wörter betrachtet wird, sind Aussagen darüber möglich, ob sich im Laufe der Geschichte die einem bestimmten Wortfeld zugrunde liegende Konzeption geändert hat. Von Interesse ist hier jeweils das Zentrum oder der
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Vgl. Lühr 2011; 2011a.
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Kernbegriff eines Wortfelds. Entscheidend für die Etymologie ist aber das jeweilige Benennungsmotiv. Dieses ist von der Ausgangsbedeutung, von der sich die bezeugten Bedeutungen ableiten, zu unterscheiden. Denn die Ausgangsbedeutung kann von der etymologischen Bedeutung verschieden sein. Ist über ein Benennungsmotiv eine Etymologie ermittelt, ist der letzte wichtige Schritt dieser Vorgehensweise: Das Benennungsmotiv muss durch Parallelen aus anderen germanischen oder indogermanischen Sprachen, die diesen Wortfeldausschnitt bezeichnen, gestützt werden. Vom Deutschen ausgehend wird viertens gezeigt, welche Teilbereiche eines Wortfelds mit einheimischem oder europäischem Wortgut besetzt sind. Das Vorhaben hat so mehrere Komponenten: synchrone Semantik, Wortfeld – synchron, diachrone Semantik, Wortfeld – diachron, Etymologie, Europa. 1.2. Methodik Das jeweilige Wortfeld wird nach Sinnrelationen strukturiert (vgl. (10)). Hinzu kommt die Erfassung der Kollokationen für jedes Wort. Diese Verfahrensweisen sind an der Gegenwartssprache erprobt. Sie eignen sich, wie gezeigt werden soll, auch für vergangene Sprachstufen.
2. Analysebeispiel Das Analysebeispiel ist ein Wortfeldausschnitt aus dem Wortfeld „Der Mensch in der Vielfalt seiner kulturellen Beziehungen“. Er gruppiert sich um das heutige Wort Prestige. Denn es ist anzunehmen, dass das Streben nach Ansehen, sozialer Wertschätzung, Achtung, Anerkennung durch andere eine genuin menschliche Eigenschaft ist, die, seit es Menschen gibt, existiert. Eine Entität, der diese Eigenschaft zukommt, wird im Folgenden als „Eigenschaftsträger“ (Motsch 2004: 255f .) bezeichnet. Nach einem Ausblick auf das Neuhochdeutsche und das Ältere Neuhochdeutsch wird auf das Mittel- und Althochdeutsche eingegangen. Gegenüber diesen tatsächlich bezeugten Sprachen, verhält es sich bei den vorausgehenden Sprachstadien anders. Das Germanische und das Indogermanische sind rekonstruierte Sprachen.
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2.1. Neuhochdeutsch Von den genannten Wörtern für ,Ansehen‘ kommt im Neuhochdeutschen das im Wortfeldzentrum stehende Wort Prestige fast doppelt so häufig wie Ansehen vor und ist eng mit dem Begriff ,Status‘ verbunden. Prestige ist im 19. Jh. aus dem französischen Wort prestige ,Ansehen, Geltung‘ übernommen. Dieses wiederum bedeutete ursprünglich ,Blendwerk, Zauber‘ und geht auf spätlat. praestigium (klass.-lat. praestigiae) ,Blendwerk, Gaukelei‘ zurück. Zugrunde liegt das Verb lat. prae-stringere ,blenden‘, eigtl. ,vorn zubinden‘. Die Bedeutungsentwicklung von ,Blendwerk, Zauber‘ zu ,Ansehen, Geltung‘ dürfte sich dabei über ,das, was einen beeindruckt, das, was einen für sich einnimmt‘ vollzogen haben. Die Ausgangsbedeutung ,bemerkenswerter äußerer Eindruck, den etwas, aber besonders jemand macht‘ führt dann weiter zu der Bedeutung ,Ansehen‘. 2.2. Älteres Neuhochdeutsch Für das Ältere Neuhochdeutsch steht uns unser Schiller-Wörterbuch zur Verfügung. Die Anzahl der Belege zeigt, dass gegenüber dem heutigen Prestige das Wort Ansehen das Zentrum des Wortfeldausschnitts bildet. Ansehen ist viel häufiger belegt als die Feldnachbarn. Es kommt bei Schiller im Zusammenhang mit Ehre, Ruhm, Würde, Macht, Achtung vor: (1) {Memoires 1/3: Friedrich I., NA 19/42} Zugleich mit dem kaiserlichen Purpur mußte er Pflichten übernehmen, die mit den Vergrößerungsplanen der Päbste durchaus unvereinbar waren, und seine kaiserliche Ehre, sein Ansehen im Reich hieng an ihrer Erfüllung. (2) {Geschichte des dreißigjährigen Krieges, NA 18/268} Zwey solche Feldherrn, so gleich an Ansehen, an Ruhm und an Fähigkeit, hatten im ganzen Laufe dieses Kriegs noch in keiner offenbaren Schlacht ihre Kräfte gemessen, eine so hohe Wette noch nie die Kühnheit geschreckt, ein so wichtiger Preis noch nie die Hoffnung begeistert. (3) {An Iffland, 19.11.1800, NA 30/210f.} Denn nur das Ansehen und die/einfache Würde des Schauspielers, der den Melvil darstellt, kann die gewagte Beichtscene entschuldigen und das Anstößige entfernen. (4) {Kinder des Hauses, NA 12/115} Er ist aber, seines Ansehens und seiner Macht wegen ein furchtbarer Nebenbuhler.
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Vom Neuhochdeutschen abweichend ist die Verwendung ,sein Ansehen gebrauchen, um damit etwas zu erreichen‘. In der Gegenwartssprache würde man für Ansehen eher Macht sagen: (5) {Wallensteins Tod, I/7 [447], NA 8/195} Gebrauch dein Ansehn, Terzky. Heiß sie gehn. Ansehen als ,Macht über andere‘ und ,Wertschätzung durch andere‘ ist bei Schiller also ein reziproker Begriff. Auch Achtung verwendet Schiller reziprok: (6) {Geschichte des dreißigjährigen Krieges, NA 18/297} Unter allen Schwedischen Heerführern war nur Einer, der bey den Soldaten Ansehen und Achtung genug besaß, diesen Streit beyzulegen. (7) {An Schwan, 24.4.1785, NA 24/2} Die wenigen Menschen von Werth und Bedeutung, die sich einem auf diese Veranlaßung darbieten, und deren Achtung einem Freude gewährt, werden nur allzu sehr durch den fatalen Schwarm derjenigen aufgewogen, die wie Geschmeißfliegen um Schriftsteller herumsumsen, einen wie ein Wunderthier angaffen und sich obendrein gar, einiger vollgekleksten Bogen wegen, zu Kollegen aufwerfen. Kehrt man zu Ansehen zurück, so bringt Schiller dieses Wort außer mit den genannten Wörtern auch mit Geburt und Glücksgütern in Zusammenhang: (8) {Spiel des Schicksals, NA 16/34} Die demutsvolle Unterwürfigkeit, welche von den Ersten des Landes, von allen, die durch Geburt, Ansehen und Glücksgüter so weit über ihn erhoben waren, welche von Greisen selbst, ihm, einem Jünglinge, gezollt wurde, berauschte seinen Hochmut, und die unumschränkte Gewalt, von der er Besitz genommen, machte bald eine gewisse Härte in seinem Wesen sichtbar, die von jeher als Charakterzug in ihm gelegen hatte und ihm auch durch alle Abwechselungen seines Glückes geblieben ist. An Bedeutungsmerkmalen für den Begriff Ansehen ergeben sich so die Merkmale: – 冓positiv冔 – 冓gesellschaftlich bestimmt冔 – 冓Machtbefugnisse gegenüber anderen Menschen einschließend冔 – 冓mit Würde, Ehre verbunden冔 – 冓durch Geburt, persönliche Leistungen, Verdienste bedingt冔 – 冓dem Eigenschaftsträger zukommend冔 (Macht) – 冓dem Eigenschaftsträger zugewiesen冔 (Ehre) – 冓auf den Ereignisträger gerichtet冔 (Achtung, Wertschätzung)
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Als fremdsprachliches Synonym zu Ansehen erscheint bei Schiller nur Reputation: Das Wort hat die gleiche Bedeutung wie Ansehen: (9) {An K. Schiller, 29.12.1790, NA 26/68} Eine Reputation in historischem Fach ist mir des Herzogs wegen nicht gleichgültig. Während Reputation in der Bedeutung ,guter Ruf‘ in der normalen Sprache heute veraltet, spielt der Begriff im Wirtschaftsmanagement der Europäischen Union eine enorme Rolle. Man spricht von Reputationsmanagement (Bauhofer 2004). Sucht man nun nach Gegensatzbegriffen zu Ansehen bei Schiller, so sind dies z.B. Unehre, Verachtung, Geringschätzung. An entscheidenden Sinnrelationen für das Wort Ansehen ergeben sich bei Schiller somit: (10) – Synonyme und Plesionyme (in einem bestimmten Kontext bedeutungsgleiche bzw. annähernd bedeutungsgleiche Wörter): Ehre, Ruhm, Würde, Macht, Achtung, Reputation – Antonyme, Oppositionen und Komplementärbegriffe: Unehre, Verachtung, Geringschätzung Im Übrigen sieht man bei Schiller noch, wie die Ausgangsbedeutung von Ansehen war, nämlich ,äußerliche Erscheinung, Aussehen‘. Sie erinnert an die Ausgangsbedeutung des französischen Wortes Prestige: (11) {Fiesko I, III/11, NA 4/82} Auch aus den Klöstern der Kapuziner wimmelt verdächtiges Gesindel, und schleicht über den Markt; Gang und Ansehen lassen vermuthen, daß es Soldaten sind. Der Bedeutungswandel kann sich dabei in Kontexten, in denen Ansehen im Sinne von ,ehrerbietiges, respektheischendes Aussehen‘ gebraucht ist, vollzogen haben: (12) {Maria Stuart, IV/5 [2868–2869], NA 9/114} So hab ich ihn erhöht, daß meine Diener Vor seinem Ansehn mehr als meinem zittern!
2.3. Mittelhochdeutsch Auch für das Mittelhochdeutsche kann anhand der Belegzahlen das Wortfeldzentrum des Wortfeldausschnitts ermittelt werden. Auf dieser Sprachstufe ist es das Wort ēre. In der frühen weltlichen Literatur bezeichnet ēre die gesellschaftliche Anerkennung, den Ruf, den man bei anderen genoss
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und um den sich ein Ritter vor allem anderen bemühen musste. Die Ehrung stellt dabei eine Auszeichnung vor der Gesellschaft dar. ēre ist hier also eine Eigenschaft, von der der Eigenschaftsträger wünscht, dass sie ihm zugewiesen wird: (13) Erec 2730ff. vil ritterlîchen stuont sîn muot; an im enschein niht wan guot, rîch und edel was er genuoc sînn herze niemen nît entrouc. er was getriuwe und milte âne riuwe, ... ûf êre leit er arbeit. „Sein Denken war ritterlich, an ihm zeigten sich nur gute Eigenschaften, er war reich und edel. Niemandem war er feindselig gesinnt, sondern stets getreu, und freigiebig ohne Bedenken … Um der Ehre willen, nahm er Mühsal auf sich.“ Oder: (14) Kudrun 1137,4 wir müezen tiure koufen unser êre. „wir müssen unsere Ehre teuer erkaufen.“ Die Ehre besteht hier darin, dass die Hegelinge Rache nehmen und im Kampf siegen. Der Gegensatzbegriff ist hier eindeutig unêre: (15) Erec 104ff. er gelebete im nie leidern tac dan umbe den geiselslac und schamte sich nie sô sêre wan daz dise unêre die künegin mit ir vrouwen sach „Nie war ihm größeres Leid geschehen als durch diesen Peitschenhieb, und nichts beschämte ihn mehr, als dass diese Schande (Unehre), die Königin und ihre Frauen mit angesehen hatten.“ Im Falle des positiven Begriffs war derjenige, dem ēre, also ,Ansehen, Ruhm‘, zukam, auch von prächtiger Gestalt und ansehnlichem Antlitz. Also verbinden sich wieder wie ursprünglich bei Prestige und Ansehen äußere und innere Qualitäten. Doch zeigt das folgende Beispiel, dass Ehre als Ehrwürdigkeit auch im Menschen selbst angelegt sein kann.
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(16) Nibelungenlied 2,22 waz eren an im whse vn– wie schone was sin lip. „was an Ehrwürdigkeit bei ihm aufkam und wie schön sein Körper war“. Hierher gehört auch die Bedeutung ,Ehrgefühl, ehrenhaftes Benehmen gegenüber anderen‘, wie sie für (18) angenommen wird: (17) MSH 2,222 sich in êren wât kleiden. êre wird also im Mittelhochdeutschen wie Ansehen bei Schiller reziprok verwendet. Dazu passt auch die Bedeutung ,Herrschaft, fürstliche Macht, Macht des Gebieters‘. Wer Ansehen genießt, hat auch Macht: (18) Iwein 2435ff. des tôten ist vergezzen: der lebende hât besezzen beidiu sîn êre unde sîn lant. „Der Tote ist vergessen, der Lebende hat seine Ehrenstellung und sein Land übernommen“. Die zentrale Position, die reziprokes mhd. êre im Wortfeldausschnitt hat, zeigt sich auch an zahlreichen komponierten Substantiven: (19) ērbære ,Ehrbarkeit, Anstand‘, ērbæricheit ,Ehrbarkeit, Anstand, Würde, Ehre, Ansehen‘, ērenhuote ,Ehrbarkeit‘, ērentāt, -werc ,Ehrentat‘, ērenwīse ,ehrenhaftes Betragen‘, ērgebōt ,Ehrgebot‘, ērenroup ,Ehrenverletzung‘ Andere Wörter für ,Ehre‘ sind demgegenüber im Mittelhochdeutschen nur vereinzelt; z.B. (20) achtebæricheit ,Achtbarkeit‘, dignicheit, gedigenheit ,Ernst, Würde‘, durchnehte ,Würde, Integrität‘, biderbicheit ,Tüchtigkeit, Tugend, Ansehen, Vortrefflichkeit‘ 2.4. Althochdeutsch Auch im Althochdeutschen ist êra der zentrale Vertreter des Wortfeldausschnitts, wie die Belegzahlen deutlich machen. Unter den größeren Denkmälern kommen bei Otfrid die meisten Bedeutungsvarianten vor. êra ist hier zunächst in der Bedeutung ,Ansehen, Wertschätzung, Geltung, Ruhm‘ bezeugt: (21) Otfrid I,5,27 got gibit imo uuîha ioh êra filu hôha.
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„Gott gibt ihm Heiligkeit und eine sehr hohe Wertschätzung.“ êra erscheint bei Otfrid aber auch im Sinne von ,Majestät‘: (22) Otfrid IV,20.22 er ni uuolti, thaz man zins gulti, thie liuti furdir mêra in thes keiseres êra. „er [Jesus] wolle nicht, dass die Leute in Zukunft mehr einen Zins an des Kaisers Majestät entrichteten“ (Kelle 1881: 106). Dann wird êra zur Bezeichnung von äußerem Glanz, Schönheit, Herrlichkeit gebraucht: (23) Otfrid II,4,83 thâr ougta imo ellu uuoroltrîchi, êra ioh rîchi manag guallîchi. „et ostendit ei omnia regna mundi et gloriam erorum“ (Matth. 4,8). Man hat also wieder eine semantische Parallele zu mhd. êre und nhd. Ansehen, Prestige; die Wörter bezogen sich ursprünglich auf ein bestimmtes Aussehen, ein bestimmtes Äußeres. Daneben aber erscheint êra im Sinne von ,Ehrfurcht‘: (24) Otfrid IV,12,32 thes meisteres in wara habetun sie mihila era. „vor dem Meister aber hatten sie große Ehrfurcht“ Diese Bedeutungsvariante wird wichtig, wenn es nun um die vorausgehende Sprachstufe, das Germanische, geht. 2.5. Germanisch 2.5.1. Belege Man kann auch bei rekonstruierten Sprachen wie dem Germanischen auf ein Wortfeldzentrum schließen, wenn man die Verbreitung eines Wortes in den Tochtersprachen betrachtet. So finden sich folgende Entsprechungen zu ahd. êra: (25) as. ēra ,Ehre, Hilfe, Schutz, Ehrengeschenk, Lohn‘ afries. ēre ,Ehre, Verehrung‘ <dem Eigenschaftsträger zugewiesen, auf ihn gerichtet> ae. ār ,Ehre, Würde, Besitz, Vorrecht‘ <dem Eigenschaftsträger zukommend> aisl. eir (< *aizijō) ,Gnade, Milde, Hilfe‘ (EWA s.v.)
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Im Gotischen fehlt das Wort. Die Bedeutung ,Ehre‘ haben vielmehr die Wörter sweriþa und hauhiþa: (26) Römer 12,10 broþralubon in izwis misso friaþwamildjai; sweriþai izwis misso faurarahnjandans „Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.“ (IJૌ IJȚȝૌ) (27) Johannes 7,18 saei fram sis silbin rodeiþ, hauhiþa seina sokeiþ; iþ saei sokeiþ hauhiþa þis sandjandins sik, sah sunjeins ist jah inwindiþa in imma nist. „Wer von sich selbst redet, der sucht seine eigne Ehre; wer aber sucht die Ehre des, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und ist keine Ungerechtigkeit an ihm.“ (IJȞ įંȟĮȞ) Warum Wulfila das sicher germanische Wort Ehre nicht auch im Gotischen verwendet, wird klar, wenn man das zugehörige Verb got. (ga)aistan heranzieht. Die Bedeutung ist ,sich scheuen vor‘. (28) Lukas 20,13 sandja sunu meinana þana liuban; aufto þana gasaiσandans aistand. „Ich will meinen lieben Sohn senden; vor dem werden sie sich doch scheuen.“ (ਥȞIJȡĮʌȒıȠȞIJĮȚ) Das Verb erscheint in der gotischen Bibel auch neben dem Verb ,fürchten‘: (29) Lukas 18,4 jabai jah guþ ni og jah mannan ni aista. „Ob ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue“ (ਥȞIJȡȑʌȠȝĮȚ) Man kann nun aufgrund der Verbbedeutung ,scheuen‘ vermuten, dass eine mögliche Entsprechung des Substantivs im Gotischen die Bedeutung ,Ehrfurcht, Scheu vor jemandem‘ hatte. In diesem Fall musste Wulfila an den Textstellen (26) und (27) mit Wörtern der Bedeutung ,Ehrerbietung‘ und ,Wertschätzung‘ andere Wörter für ,Ansehen‘ verwenden. Er wählte Abstrakta mit der Ausgangsbedeutung ,Schwere‘ und ,Höhe‘. Die vermittelnden Bedeutungen sind ,Gewichtigkeit‘ und ,Erhöhung‘. Zu ,Gewichtigkeit‘ als Ausgangsbedeutung von Wörtern für ,Ehrerbietung‘ vgl. afries. hērskipi ,Gerichtsbarkeit‘. Das Wort leitet sich über die Ausgangsbedeutung ,Ehrenstellung‘ von *Ȥaira-skapi- eigtl. ,Gewichtigkeit, die einem grauhaarigen alten Mann zukommt‘ her.
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2.5.2. Etymologie Betrachtet man noch einmal den Otfridbeleg (24), wo êra ,Ehrfurcht vor Gott‘ bedeutet, so könnte hier die etymologische Bedeutung des germanischen Wortes *aizō vorliegen. Ein *aizō ,Scheu‘ findet nämlich Anschluss an weitere indogermanische Sprachen. So stellen sich zu urgerm. *aizō ,Scheu, Ehrfurcht‘ und got. (ga)aistan ,sich scheuen vor‘ italische Wörter für ,Gott‘ und ,göttlich‘, z.B. (30)(a) osk. aisusis ,sacrificiis‘, aisos ,dis‘, umbr. esono- ,divinus, sacer‘ (ostital. *aiss)2. Zugehörig sind wohl: (30)(b) griech. ĮįȠȝĮȚ, ĮȚįȑȠȝĮȚ ,scheue mich, verehre‘, ĮੁįȫȢ ,Scheu, Ehrfurcht‘, ablautend aind. Ư˷ܒܒe ,verehrt, preist‘ (EWA 2, 1111) Trifft diese Verbindung zu, so entstammt das Benennungsmotiv für ahd. êra der religiösen Sphäre: Die etymologische Bedeutung des dt. Wortes Ehre ist dann ,Ehrfurcht, Scheu gegenüber der Gottheit‘. Um dies plausibel zu machen, sind nun semantische Parallelen beizubringen. In der am frühesten bezeugten indogermanischen Sprache, dem Hethitischen, ist ein Partizip nahhant- ,gottesfürchtig‘ belegt; z.B. (31) KBo 5.6 iii 32–33 [ABUYA=m]a=kan DINGIR.MEŠ-aš kuit n-ah-ha-[an-za ēšta]. „Aber weil [mein Vater] ehrfürchtig gegenüber den Göttern war“ (CHD III, 3, 341). Das zugrunde liegende Verb nahh- bedeutet ,ehrfürchtige Scheu haben‘. (32) KUB XXIV 1 III 19f. ku-e-eš-kán tu-uk A-NA DTe-li-pí-nu Ù A-NA DINGIRMEŠ URU Ha-at-ti UL na-ah-ha-an-te-eš. „manche sind nicht respektvoll dir gegenüber, Telipinu, und den Göttern von Hatti‘ (HEG II 7, 246). Das hethitische Wort stellt sich nun zu einem keltischen: (33) heth. nahh- (aus *nah2- bzw. *neh2-) zu air. nár ,ehrbar, bescheiden‘ (*nah2-sr-o- oder *neh2-sr-o-), air. náire ,Schamhaftigkeit, Schüchternheit‘ (*-ija-)3. 2 3
Etrusk. ais ist aus dem ostital. Nom. Sg. *aiss entlehnt. Die Länge des á im Altirischen kann sowohl durch den tautosyllabischen Laryngal bei Vollstufe als auch durch Ersatzdehnung wegen des Schwundes des *s in der Lautgruppe
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Liegt hier das Konzept ,Scheu‘ zugrunde, so könnte es sich um eine alte keltisch-hethitische Isoglosse handeln, die ihren Ursprung möglicherweise in der religiösen Sphäre hatte. 2.5.3. Synonyme Ein urgerm. *aizō ,Scheu, Ehrfurcht‘ aber war also als Kernbegriff des Wortfeldausschnitts ,Ansehen‘ nicht geeignet. Ererbt ist das Wort Leumund, wie der Vergleich mit dem Altindischen zeigt: (34) ahd. (h)liumunt m. (f.), mhd. liumunt m. ,Kunde, Ruf, Ruhm, Gerücht‘; aind. śrómata- n. ,Erhörung, guter Ruf‘ (uridg. *ˆkleu8-mn9-to-) Weiter verbreitet in den germanischen Sprachen sind die Vorformen von: (35) ahd. hruom ,Ruhm‘, as. hrōm m. und aisl. hrōðr, ae. hrēð m. ,Ruhm, Sieg‘, in ahd. PN Hruodlieb usw., got. hroþeigs ,ruhmreich, siegreich‘ (uridg. *kreH-). Es sind Ableitungen von der Wurzel *kerH- ,rühmend gedenken‘ (aind. akāri܈am ,habe (soeben) gerühmt‘, ved. carcarmi ,rühme‘).4 Festzuhalten ist so, dass das Germanische *aizō ,Scheu, Ehrfurcht vor der Gottheit‘ und *Ȥrōþa-, *Ȥrōma- ,rühmendes Gedenken‘5 unterschieden hat. Beide Abstrakta sind auf einen Eigenschaftsträger gerichtet.
4 5
*sr erklärt werden (ein *nah2-ro- wäre dagegen zu **nar mit kurzem a geworden; vgl. kelt. *gwi-wo- aus uridg. *gwih3-wo- oder kelt. *karo- < *kah2-ro-: lat. cārus). Möchte man ved. kārú- m. ,Lobsänger‘, griech. țોȡȣȟ m. ,Herold‘ (< *keh2-ru-) einbeziehen, müsste eine Dissimilation aus *kreh2-ru- angenommen werden (LIV 353 mit Literatur). In anderen Fällen erscheinen Bedeutungen wie ,Ansehen, Ruhm‘ als Nebenbedeutungen; z.B. bei an. sōmi, sōmasemd, sœmd; an. tīrr, ae. tīr, t٦r; ae. wuldor, got. wulþus (auch in Personennamen wie Gibuldus, Uldida, Vlutvulf, Cuniuld, Gibuld, Guldurad, Sigisvuld, Vult, Vuldetrad, Vultricia, Vultuulf, WulþuþewaR); an. d٦rð, as. diuritha, ahd. tiurida, mhd. tiurde; got. dōms, ae., afries., as. dōm, anfrk. duom, ahd. tuom, mhd. tuom (vgl. auch Personennamen wie Dumerit, Domari, Domegisel, Dumild); as. hērdōm, anfrk. hērduom, ahd. hērtuom, mhd. hērtuom; an. frami; an. frægð; ahd. hēra, mhd. hēre; ahd. hērōti; ahd. stiurī, stiura; mnd. wērde, mnl. wīrde; anfrk. wirthi, ahd. wirdī, werdī; ahd. wirdida.
176
Rosemarie Lühr
2.6. Indogermanisch Was aber war das indogermanische Wort für ,Ansehen‘? Auch hier zeigt die Verbreitung in den indogermanischen Sprachen, welches Wort dies gewesen sein könnte: Es ist eine Ableitung von der Wurzel uridg. *ˆkleu8,hören‘, uridg. *ˆkléu8-es-. Der Ruhm ist also ,etwas, was durch Hörensagen weit verbreitet ist‘. (36) ved. śrávas- n. ,Ruhm, Lobpreisung, Ansehen‘, aav. srauuah- n. ,Ruhm, Ansehen‘, griech. țȜȑȠȢ n. ,Gerücht, Ruf, Ruhm‘, ai. clú, Gen. Sg. clóe n., später f., nir. clú m. ,Ruhm‘ (aksl. slovo, -ese n. ,Wort, Rede‘), toch. A ñomklyu, B ñemkälywe ,Ruhm‘6 Uridg. *ˆkleu8-es- ist in dieser Form wohl nicht im Germanischen fortgesetzt7. Entsprechungen zum Verbaladjektiv auf *-to-, wie es in ved. śrutá-, griech. țȜȣIJȩȢ ,berühmt‘, lat. -clutus in inclutus ,berühmt‘ vorliegt, kommen aber als urgerm. *Ȥluda- und *Ȥluþa- in den Personennamen Hlodericus, Chlodovechus und Lothari, ae. Hloþhere vor. Des weiteren stammt das schon angeführte Wort Leumund von der Wurzel *ˆkleu8- (LIN 425).
3. Fazit Die Betrachtung des Zentrums des Wortfeldausschnitts ,Prestige, Ansehen‘ über 6000 Jahre hinweg ergab für die „Wortfeldetymologie“ folgende Benennungsmotive: (A) auf den Eigenschaftsträger gerichtete, ihm zugewiesene Eigenschaft 1) die aus der Meinung anderer resultiert, seine soziale Einschätzung, sein Ruf und Ansehen a) durch Hörensagen verbreitet: uridg. *ˆkléu8-esb) durch rühmendes Gedenken: urgerm. *Ȥrōþa-, *Ȥrōma2) mit Verehrung einhergehende Furcht: heth. nahhant-, urgerm. *aizō; ahd. êra 3) Auszeichnung durch die Gesellschaft: mhd. ēre (B) dem Eigenschaftsträger zukommende Eigenschaft 1) Ehrgefühl, ehrenhaftes Benehmen: mhd. ēre 2) Herrschaft, Macht: mhd. ēre
6 7
Es handelt sich um ein Dvandvakompositum mit dem Vorderglied *Hnóh3-men ,Name‘ (LIN 425ff.). Fraglich ist die Deutung des Erstglieds von runennord. Hlewagastir ,Ruhmesgast‘ oder ,Grabgast‘.
Wortfeldvergleich
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3) bestimmtes Aussehen: prächtig, glanzvoll: ahd. êra, mhd. ēre respektheischend: ält. nhd. Ansehen beeindruckend: nhd. Prestige Die Benennungsmotive speisen sich also aus drei Quellkonzepten, ,Ehrfurcht vor der Gottheit‘, ,Wertschätzung durch andere‘ und ,bestimmtes Aussehen‘. Die germanischen Wörter dafür ,Wertschätzung‘ aber, eine Bedeutung, die heutiges Prestige und Ansehen haben, führen sämtlich zu dem Konzept der sozialen Einschätzung, wie es bereits im Indogermanischen gegeben ist. Ein durchschlagender Konzeptwandel lässt sich also für diesen semantischen Bereich nicht feststellen.
Quellen Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten, Michael S. Batts (Hg.) (1971), Tübingen. Die Gotische Bibel, Bd. 1, Wilhelm Streitberg (Hg.) (1908), Heidelberg. Hartmann von Aue, Erec, Thomas Cramer (Hg.) (2003), Frankfurt am Main. Hartmann von Aue, Iwein, Georg Friedrich Benecke u. Karl Lachmann (Hg.) (2001) 4Berlin. KBo = Keilschrifttexte aus Boghazköi, Bd. 1–22 (1916ff.), Berlin. KUB = Keilschrifturkunden aus Boghazköi, (1921ff.), Berlin. Kudrun, Karl Bartsch u. Karl Stackmann (Hg.) (2000), Tübingen. MSH = Minnesänger, Bd. 2, Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.) (1883), Leipzig. Otfrids Evangelienbuch, Ludwig Wolff (Hg.) (1973) 6Tübingen. (ATB 49). Schillers Werke, Nationalausgabe, Weimar (1948ff.), Weimar.
Literatur Bauhofer, Bernhard (2004): Reputation Management. Glaubwürdigkeit im Wettbewerb des 21. Jahrhunderts, Zürich. CHD = Güterbock, Hans G. (1980–1989): Chicago Hittite Dictionary. Bd. 3, Chicago. EWA = Lloyd, Albert L., Springer, Otto, Lühr, Rosemarie (1998): Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Bd. 2, Göttingen. HEG = Tischler, Johann (1991): Hethitisches etymologisches Glossar, Bd. 2,2, Innsbruck. Kelle, Johann (1881): Glossar der Sprache Otfrids, Regensburg. LIN = Wodtko, Dagmar S., Irslinger, Britta u. Schneider, Carolin (2008): Nomina im Indogermanischen Lexikon, Heidelberg. LIV = Rix, Helmut u. Kümmel, Martin (2001): Lexikon der indogermanischen Verben. Die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen, 2Wiesbaden. Lühr, Rosemarie (2011): An den Wurzeln der Wertbegriffe: Etymologie und Wortgeschichte, in: Bettina Bock/Natalia Chumakova/Rosemarie Lühr (Hg.): Normen-
178
Rosemarie Lühr
und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa, Berlin (im Druck). Lühr, Rosemarie (2011a): „Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext – der Mensch in Natur und Kultur (DWEE)“, in: Heidrun Kämper/Jörg Kilian (Hg.): Wort – Begriff – Diskurs (im Druck). Motsch, Wolfgang (2004): Deutsche Wortbildung in Grundzügen (Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 8), 2Berlin/New York.
Volker Harm/Marco Scheider (Göttingen/Berlin)
Modul statt Monument? Zur Perspektive der historischen Lexikographie nach dem Abschluß der DWB-Neubearbeitung 1. Das Deutsche Wörterbuch und die Epochenwörterbücher Als die Erstausgabe des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm 1960 nach über 120 Jahren lexikographischer Arbeit endlich abgeschlossen werden konnte, war allen Beteiligten klar, daß das Werk in weiten Teilen einer grundlegenden Überarbeitung bedurfte, wenn es als ernstzunehmendes geisteswissenschaftliches Grundlagenwerk Bestand haben sollte. Unter Federführung von Theodor Frings und Hans Neumann beschloß die Deutsche Kommission der Berliner Akademie der Wissenschaften daher eine Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs, die zunächst die am stärksten veraltete Buchstabenstrecke A bis F, welche noch weitgehend von den Brüdern Grimm stammte, zum Gegenstand haben sollte. Die anfangs veranschlagte Laufzeit des Projekts von 15 Jahren erwies sich angesichts der Größe des zu bearbeitenden Belegarchivs und vor allem auch angesichts der politischen Obstruktionen, denen das Vorhaben in der DDR ausgesetzt war, als nicht mehr haltbar. Nach den 50 Jahren, die seit Aufnahme der Arbeiten am 2DWB vergangen sind, ist der Abschluß des Vorhabens nunmehr in greifbare Nähe gerückt: 2012/2013 soll – zumindest nach den bisherigen Planungen – die bis dato noch bestehende Lücke im B und C geschlossen sein. Mit dem erwartbaren Abschluß der Neubearbeitung von A–F tritt allerdings die Frage auf die Tagesordnung, wie es um die weitere Zukunft des Grimmschen Wörterbuchs bestellt ist. Bedeutet der Abschluß der Neubearbeitung A-F auch das Ende der Arbeiten am Grimmschen Wörterbuch? Sollen weitere, ebenfalls stark veraltete Buchstabenstrecken einer Neubearbeitung unterzogen werden? Stellt das DWB gar eine wissenschaftliche Daueraufgabe dar, wie es offenbar für sein englisches Gegenstück, das OED, gilt, das mittlerweile schon zum dritten Mal überarbeitet wird? Die Frage nach der wissenschaftlichen Notwendigkeit eines Wörterbuchs im Stile des DWB stellt sich umso nachdrücklicher, als sich die Situation der
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Volker Harm/Marco Scheider
historischen Lexikographie zum gegenwärtigen Zeitpunkt gänzlich anders als noch in den 50er und 60er Jahren darstellt. Weite Teile der Sprachgeschichte des Deutschen werden heute durch drei großangelegte Epochenwörterbücher – das von Theodor Frings und Elisabeth Karg-Gasterstädt begründete Althochdeutsche Wörterbuch (AWB), das neue Mittelhochdeutsche Wörterbuch (MWB) und Oskar Reichmanns Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (FWB) – abgedeckt. Lediglich für das ältere Neuhochdeutsch fehlt eine angemessene lexikographische Darstellung. Angesichts dieser insgesamt erfreulichen Situation der aktuellen sprachhistorischen Lexikographie stellt sich die Frage umso dringlicher, welchen wissenschaftlichen Wert ein belegbasiertes diachrones Bedeutungswörterbuch wie das DWB in Zukunft noch haben kann. Trotz dieser auf den ersten Blick günstigen Lage der sprachhistorischen Lexikographie möchten wir im weiteren darlegen, daß die Wortgeschichte des Deutschen – das heißt für uns in erster Linie die Bedeutungsgeschichte der Einzelwörter – in wesentlichen Teilen noch zu erarbeiten ist. Man sollte meinen, daß es angesichts der eingangs skizzierten Forschungslage ein Leichtes sein müßte, die ältere Geschichte eines Wortes zu ermitteln: Mit den Sprachstufenwörterbüchern verfügt man schließlich über eine nahezu lückenlose Dokumentation der Wortschätze vom Althochdeutschen bis ins 17. Jahrhundert. Wer einmal versucht hat, auf der Basis der Epochenwörterbücher die Bedeutungsgeschichte eines Wortes nachzuzeichnen, wird allerdings schnell auf erhebliche Hindernisse gestoßen sein. Als eines dieser Hindernisse sind die nicht unbeträchtlichen konzeptionellen Unterschiede zwischen den Epochenwörterbüchern zu nennen. So ist das AWB, dessen Anfänge in die 30er Jahren des letzten Jahrhunderts reichen, erklärtermaßen als Thesaurus angelegt. Es versteht sich nicht allein als Hilfsmittel zur Textrezeption, sondern vor allem auch als „Schatzhaus, das alle althochdeutschen Wörter und deren Gebrauchsweisen im weitesten Sinne aufbewahrt“, als „Bewahrer von Zeugnissen vergangener Kulturen und alter Denkweisen“ (Köppe 2002: 146). Das zeitlich an das AWB anschließende MWB, an dem seit Mitte der 90er Jahre gearbeitet wird, ist demgegenüber stärker auf die Sprachbeschreibung ausgerichtet. Während die mikrostrukturellen Gliederungen des Althochdeutschen Wörterbuchs oftmals sehr stark denotatsbezogen sind, sind die Artikel des MWB überwiegend nach sprachbezogenen Gesichtspunkten gegliedert. Dies äußert sich vor allem darin, daß das Gliederungsgerüst häufig von grammatischen Unterscheidungen wie transitiv/intransitiv, Adjektiv/Adverb, mit Akkusativ/ Genitiv usw. gebildet wird. Das neue MWB ist somit relativ deutlich als Hilfsmittel der Textrezeption konzipiert, da grammatische Unterscheidungen gute Wegweiser für einen Nutzer darstellen, der vom Text ausgehend nach einer Bedeutung sucht. Das FWB wiederum verzichtet fast durchge-
Modul statt Monument?
181
hend auf grammatisch motivierte Gliederungspositionen und richtet seine Darstellung überwiegend nach semasiologischen Kriterien aus. Gegenüber dem MWB bietet es zudem eine weitgehende Aufschlüsselung der jeweiligen Symptomwerte (Datierungen, regionale Zuordnungen, Angaben zur Textsorte) sowie eine ansatzweise Erschließung syntagmatischer und paradigmatischer Wortschatzstrukturen. Das FWB liefert damit vor allem auch einen ersten Zugang zum Sprachsystem des Frühneuhochdeutschen und geht über ein Hilfsmittel für die Textlektüre weit hinaus. Die Probleme, die sich stellen, wenn man eine Wortgeschichte auf der Basis dreier sehr unterschiedlicher Werke zu schreiben hat, mögen für einen geschulten Benutzer in nicht wenigen Fällen beherrschbar sein. Oftmals sind jedoch ein eingehendes Studium der Artikel und die Hinzuziehung weiterer Quellen erforderlich, um festzustellen, ob Unterschiede lediglich in der Darstellungstechnik begründet sind oder ob tatsächlich unterschiedliche Sachverhalte angesprochen werden.
2. Fallbeispiele Ein gutes Beispiel dafür ist die Darstellung des Adjektivs arm in den verschiedenen Wörterbüchern. Es ist deswegen aufschlußreich, weil sich bei den Bedeutungen seit dem Althochdeutschen keine entscheidenden Veränderungen mehr ergeben haben, d.h. alle Wörterbücher haben es cum grano salis mit denselben Bedeutungen zu tun. Der nachfolgende Vergleich beginnt beim Artikel im 2DWB (Bd. 3: 264–270), das ja in der Regel seine Bedeutungsgruppen mit arabischen Ziffern chronologisch anordnet, wobei hier keine klare zeitliche Abfolge auszumachen ist: Bedeutung 1 ‚unglücklich, bedauernswert‘ ist zunächst in einer auf das Ende des 8. Jahrhunderts zu datierenden Abrogans-Handschrift bezeugt, und die Belege für die beiden nachfolgenden Gruppen ‚gering, unbedeutend‘ (2) und ‚mittellos, etwas entbehrend‘ (3) beginnen jeweils mit dem Tatian, werden also um das Jahr 800 datiert.1 Auch die Gruppe 4 ‚schwach, kraftlos’ setzt im 9. Jahrhundert ein. Gruppe 5, das von 3 auf Sachen übertragene ‚kümmerlich, minderwertig‘, konnte zuerst bei Notker nachgewiesen werden. Neben dem spätmittelhochdeutsch faßbaren ‚angeklagt, verurteilt‘ in Gruppe 6 bleibt in 7 die Paarformel arm und reich, deren Belege sich zumeist einer eindeutigen Zuordnung entziehen und die des-
1
Inzwischen wird der Tatian bekanntlich auf das zweite Viertel des 9. Jahrhunderts datiert (vgl. Masser 1991). Neue Erkenntnisse dieser Art sind zumeist nur langsam in den neuen ‚Grimm‘ eingeflossen, um eine gewisse Kontinuität der Zitierweise zu gewährleisten.
Volker Harm/Marco Scheider
182
halb zusammengefaßt sind. Es gibt dazu noch Untergruppen, die aber zunächst unberücksichtigt bleiben sollen, um den Blick auf die jeweilige Grundstruktur der Artikel in den drei Epochenwörterbüchern zu lenken. Im AWB (Bd. 1: 644–650) finden wir demgegenüber vier durch römische Ziffern markierte Hauptgruppen, die übergreifend von der Vorstellung eines Mangels bestimmt sind: I II III IV
Mangel Mangel Mangel Mangel
an an an an
Ehre und Ansehen (entspricht 2DWB 2), Macht und Kraft (entspricht 4) Besitz und irdischen Gütern (entspricht 3) Glück (entspricht 1)
Welche Kriterien für diese Reihenfolge ausschlaggebend waren – Chronologie spielt ja hier wie in allen synchron orientierten Epochenwörterbüchern keine Rolle –, ist dem Artikel nicht zu entnehmen; man kann nur vermuten, daß es das Bild gewesen sein dürfte, das man sich zur Entstehungszeit des Artikels vom Mittelalter gemacht hat: Am wichtigsten wäre demnach der äußere Schein gewesen, also Ehre und Ansehen, gefolgt von der eigenen Stärke bzw. Macht. Erst danach spielte materieller Besitz eine Rolle, und das persönliche Befinden schließlich rangierte ganz am Ende. Ob diese Vermutung zutrifft oder nicht: wir haben es im AWB mit abweichenden Darstellungsprinzipien bei weitgehend identischen Befunden zu tun. Während man sich dem AWB-Artikel also quasi mentalitätsgeschichtlich nähern kann, wird der Benutzer im MWB (Bd. 1: 355f.) in der Makrostruktur mit einem objektivierbaren, aber wiederum gänzlich anderen Gliederungsprinzip konfrontiert: 1. von Personen 2. von Sachen ‚unbedeutend, minderwertig, ärmlich‘ 3. in Sprichwörtern Erst beim weiteren Auffächern kommt man hier zu semantischen Klassifikationen, und es sind überwiegend die schon bekannten Gruppen, denen wir begegnen, wobei mit Punkt 1.1 ‚Mangel an etwas habend‘ eine eher grammatisch definierte Gruppe am Anfang steht. 1. von Personen 1.1 Mangel an etw. habend 1.2 gering, machtlos, abhängig 1.3 mittellos, bedürftig 1.4 unglücklich, bemitleidenswert 1.5 sündig, erlösungsbedürftig 1.6 in der Paarformel arm unde rîche
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183
Das FWB (Bd. 2: 100–119) schließlich verzichtet bekanntermaßen auf Untergliederungen, was bei arm zu einem Artikel mit 16 Gliederungsmarken führt; die Bedeutungen allerdings bleiben auch hier weitgehend dieselben: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.
arm, bedürftig, besitzlos (eines Besitzes, einer Fähigkeit) beraubt, um etwas gekommen aus eigener Entscheidung in Armut lebend dient der Kennzeichnung von Personen, die in irgendeiner Form der Abhängigkeit […] stehen als Bettler im Land umherziehend untreu, böse, unehrlich erbärmlich, verachtenswert (von Handlungen) phrasematisch am ehesten an 4 anzuschließen: mit seinen armen leuten abziehen in polarer Paarformel, meist: arm und reich bemitleidenswert, bedauernswürdig, erbarmenswert ohnmächtig, hilflos, gebrechlich, schwach, gering krank, schwach, gebrechlich gefoltert, angeklagt, verurteilt sündig, erbarmungswürdig, erlösungsbedürftig, verloren armselig, kläglich, schlecht als Phrasem arme ritter
In einem direkten Vergleich aller Bedeutungspositionen (vgl. Tabelle 1)2 zeigt sich: Nur in wenigen Fällen hat eine Position keine Entsprechung in den anderen Wörterbüchern, und dafür gibt es zumeist objektive Gründe wie z.B. die fehlende Bezeugung der Fügung armer Sünder im Althochdeutschen. Auch sind arme Ritter als gebackene Brotscheiben erst seit dem 14. Jh. nachweisbar und können so nur in 2DWB und FWB verzeichnet werden. Ein wenig versierter Benutzer wäre beim Versuch der diachronen Orientierung von einem Epochenwörterbuch zum anderen ganz sicher überfordert. Aber auch wenn die Lexikographen selbst versuchten, eine entsprechende Benutzungshilfe anzubieten und die jeweils identischen Positionen in einem elektronischen Verbund dieser Wörterbücher, der ja nicht selten als eine Art 2DWB-Ersatz befürwortet wird, zu verlinken,
2
In der Tabelle finden sich alle einzelnen Bedeutungspositionen der Wörterbücher. Nicht berücksichtigt sind die zusätzlichen grammatischen Unterscheidungen, die das AWB innerhalb der Positionen, also auf einer nachgeordneten Ebene, vornimmt, weil sie für die hier vorliegende Fragestellung irrelevant sind.
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wären damit bei weitem nicht alle Probleme gelöst; angeführt seien nur einige wenige: – Bedeutungen werden unterschiedlich hergeleitet bzw. subsumiert. So ist die Position ‚sündig, erlösungsbedürftig‘ im 2DWB der Grundbedeutung ‚unglücklich, bedauernswert‘ zugeordnet (s. dort 1b), im AWB hingegen unter der Hauptgruppe ‚Mangel an Ehre und Ansehen‘ und nicht etwa unter ‚Mangel an Glück‘ zu finden. – Belege werden unterschiedlich interpretiert, semantische Entsprechungen bleiben unsicher. ‚Demütig‘ wird nur in 2DWB und AWB explizit als eigener Punkt markiert (2a/I 2c); im MWB findet sich allerdings in 1.1, der eher grammatisch bestimmten Gruppe, ein entsprechender Beleg arme des geistes. Das FWB wiederum präsentiert in 3 eine Gruppe, die dazu passen könnte, ohne daß ein sicheres Urteil möglich scheint: ‚freiwillig arm‘. Ist das die Bedeutung, die im 2DWB bis 1972 dokumentiert worden ist? Wie stehen diese Gruppen zueinander und wie sollte damit verfahren werden? – Die Paarformel arm und reich wird in 2DWB, MWB und FWB jeweils zu einer Gruppe zusammengefaßt. Nur dem AWB war es möglich, die einzelnen Belege den unterschiedlichen Bedeutungen zuzuordnen. Wie hätte man sich in diesem Fall eine Verlinkung vorzustellen? Sollte nicht auf Bedeutungsgruppen, sondern auf einzelne Belege verwiesen werden? Der Mehraufwand, der sich durch die Notwendigkeit der Überprüfung aller Einzelbelege ergäbe, dürfte nicht mehr entscheidend hinter dem des Erstellens eines entsprechenden neuen Artikels zurückbleiben. 2DWB
AWB
MWB
FWB
unglücklich, bedauernswert
1a (8.Jh.–1998)
IV 1
1.4
10
sündig, erlösungsbedürftig
1b (863–1775)
I2b
1.5
14
armer Sünder
1bĮ (1100–1974)
–
1.5 –
14
arme Seele
1bȕ (12.Jh.–1974)
IV 2
1.5 –
14
demütig
2a (800–1972)
I2c
1.1(?)
3(?)
gering, machtlos, abhängig
2b (863–1957)
I1
1.2
4
unwürdig, unbedeutend – von Sachen
2c (863–1873) 2c – (1360–1878)
I 2a
– 2
–
mittellos, bedürftig – arme Ritter
3a (800–1998) 3a – (14.Jh.–1996)
III 1
1.3 –
1 16
3b (1200–1998)
–
1.1
2
4 (9.Jh.–1921) – –
II 1 II 2 –
– – –
11
Mangel an etw. habend schwach, kraftlos – im christl. Bereich – krank, gebrechlich
12
Modul statt Monument?
185
2DWB
AWB
MWB
FWB
5 (v1022–1998)
III 2
2
15
5 – (1562–1987)
–
–
15
6 (1335–1672) 6 – (1593–1986)
–
–
13
7 (863–1965)
passim
1.6
9
in Sprichwörtern/ Phraseologismen/Verbindg.
–
–
3
8
Als Bettler umherziehend
–
–
–
5
untreu, böse, unehrlich
–
–
–
6
von Sachen ‚kümmerlich, minderwertig’ – von Bodenschätzen ‚wenig ergiebig’ angeklagt, verurteilt – armer Sünder in der Paarformel arm und reich
verachtenswert
6
–
–
7
Als Bezeichnung für den Mensch gewordenen Erlöser
–
IV 3
–
–
Tabelle 1: arm adj. in den historischen Wörterbüchern
Das Beispiel zeigt, daß man von einer Kompatibilität der Epochenwörterbücher untereinander bzw. zum ‚Grimm‘ nicht ohne weiteres ausgehen kann. Darüber hinaus – das kann hier aus Platzgründen nur noch angedeutet werden – ist der ‚Grimm‘ das einzige unter den historischen Wörterbüchern, in dem eine Bedeutungsgeschichte erzählt wird. So zeigt etwa der 2DWB-Artikel anstehen (Bd. 2: 1402–1407) an verschiedenen Stellen semantische Motivationsbeziehungen auf: Am Anfang steht, der Bezeugungschronologie folgend, die Bedeutung 1 ‚sich an etwas befinden, jmdm. nahe sein‘; dabei werden räumliche (a) und zeitliche (b, c) Aspekte (im Sinne von ‚bevorstehen, drohen‘ bzw. ‚fällig sein‘) unterschieden. Als davon herzuleiten wird Bedeutung 2 beschrieben: ‚jmdm. gemäß sein, zu ihm passen, ihm gefallen‘. Nach ‚stillstehen, nicht vorankommen‘ in 3 folgt mit 4 ‚seinen Anfang nehmen, eintreten‘ eine seit 1346 nachgewiesene Gruppe, die aber nur wegen des chronologischen Prinzips vor dem seit 1535 faßbaren ‚an etwas oder jmdn. herantreten, hinzutreten, sich zu jmdm. stellen‘ in Gruppe 5 steht; 4 wird mit einem entsprechenden Zusatz explizit von 5 hergeleitet. In der Untergliederung von 5 schließlich wird sogar gegen das Prinzip der chronologischen Anordnung verstoßen, um die konkrete Bedeutung ‚an jemanden herantreten‘ (a, seit 1535) vor die als davon abgeleitet verstandene Bedeutung ‚sich mit jmdm. verbünden‘ (b, seit 1330) zu stellen. Sprachstadienwörterbücher haben demgegenüber nicht die Funktion, derartige semantische Beziehungen darzustellen – erst recht nicht unter
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Volker Harm/Marco Scheider
diachronen Gesichtspunkten –, und so wird denn auch im MWB (Bd. 1: 285 f.) anders verfahren: Gruppe 1 ‚angemessen sein, zu jmdm. passen‘ bildet das, was im 2DWB als von dem konkreten Stehen (hier unter 2: ‚nahe sein‘ [räumlich und zeitlich]) abgeleitet aufgefaßt wird, die Reihenfolge ist also genau umgekehrt, ohne daß ein Grund dafür erkennbar wäre. Im FWB (Bd. 1: 1483–1487) wiederum beginnt die Reihe der Gruppen (insgesamt 18) zwar wie im 2DWB mit Bedeutungen, die durch räumliche Nähe bestimmt werden; vor der Gruppe ‚bevorstehen, drohen‘, die in 2DWB und MWB dazu in Beziehung gesetzt wird, steht hier u.a. mit ‚in Dienst treten‘ aber eine ganz andere Bedeutung, und das im 2DWB von der räumlichen Nähe abgeleitete ‚jmdm. gemäß sein‘ findet sich im FWB gar erst an letzter Stelle in Gruppe 18. Die Beispiele mögen stellvertretend deutlich gemacht haben, daß eine Reihe von synchronen Schnitten noch längst kein diachrones Wörterbuch des Deutschen ergibt. Die einzige lexikographische Darstellung, welche die Geschichte von Einzelwörtern beschreibt, ist und bleibt vorerst das Grimmsche Wörterbuch. Wollen wir uns also zukünftig nicht allein auf das verlassen, was uns die etymologischen Wörterbücher dazu sagen, die ja naturgemäß kaum selbst intensiv darüber forschen können, sollten wir daran festhalten, daß es ein beleggestütztes Wörterbuch des Deutschen geben sollte, in dem diese Frage eine zentrale Rolle spielt. Andernfalls würde die wortgeschichtliche Forschung in weiten Teilen auf dem Stand von 1860 bis 1960 verharren.
3. Wortgeschichte als Aufgabe der sprachhistorischen Lexikographie 3.1. Die Herausforderung, die Wortgeschichte des Deutschen lexikographisch aufzuarbeiten, besteht nach Abschluß des 2DWB somit trotz der Epochenwörterbücher weiter. Im folgenden sollen drei Punkte und Probleme umrissen werden, die das 2DWB quasi als Erbe – oder als Hypothek – hinterläßt. Zum einen die Frage nach einem lexikographisch nutzbaren historischen Textkorpus, zweitens die Frage nach einer angemessenen lexikographischen Darstellungsform für die Wortgeschichte und drittens die Frage nach einem bedeutungsgeschichtlichen Konzept. Daß für sprachhistorische Fragestellungen bisher noch kein abgeschlossenes Korpus deutschsprachiger Texte vorliegt, ist mehr als bedauerlich und wirft im internationalen Vergleich kein gutes Licht auf unser Fach. Während für die älteren Sprachstufen mit den E-Texten des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs sowie mit dem Projekt Deutsch Diachron
Modul statt Monument?
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Digital erste digitale Korpora im Aufbau sind, fehlte es bislang vor allem an lexikographisch verwendbaren Textsammlungen für die nachmittelhochdeutsche Sprachgeschichte. Mit dem Deutschen Textarchiv (DTA), das an der Berlin-Brandenburgischen Akademie aufgebaut wird, ändert sich diese Situation nun endlich zum Besseren. Ziel des DTA ist es, „einen disziplinübergreifenden Kernbestand an Texten deutscher Sprache von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart zu digitalisieren und so aufzubereiten, dass er über das Internet in vielfältiger Weise nutzbar ist.“3 Als Umfang werden derzeit 650 Titel aus der Zeit von 1780 bis 1900 genannt,4 die sämtlich als Volltexte digitalisiert werden. In einer weiteren Projektphase werden – wohl in vergleichbarem Umfang – Texte aus der Zeit von 1650 bis 1780 erfaßt. Jeder historisch arbeitende Sprachwissenschaftler wird hocherfreut über dieses Projekt sein; jedem, der Erfahrungen mit dem 2DWB-Archiv gesammelt hat und der an historisch-lexikologischen Fragestellungen interessiert ist, drängen sich jedoch auch Fragen auf. So ist zunächst zu überlegen, ob die Anzahl der aufgenommenen Quellen – nach Abschluß des Projektes insgesamt wohl rund 1300 Texte – trotz des zunächst beeindruckend anmutenden Umfangs für eine fundierte lexikographische Arbeit ausreichend ist. Zieht man den Quellenbestand des 2DWB zum Vergleich heran, so sind hier für die Zeit vom 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ungefähr doppelt so viele Titel (rund 2700 Quellen) erfaßt. Für eine historische Semantik des Deutschen ist aber gerade eine möglichst breite Streuung der Quellen eine wichtige Voraussetzung, da die Geschichte von Wörtern erst aus einer Vielzahl diasystematisch heterogener Texte heraus verständlich werden kann. Auch finden sich zumindest in der im Internet zugänglichen Liste der ausgewählten Quellen erstaunlich wenig Gebrauchstexte und auch wenig populäre Massenliteratur. Es ist eben doch im wesentlichen ein Kanon der geistesgeschichtlich herausragenden Texte, den das DTA bietet. Zentrale lexikalische Innovationen, die sich oft in sprachsoziologisch „tiefer“ anzusiedelnden Texten oder in Werken, die heute nicht mehr zum Kanon gehören, zuerst zeigen, bleiben damit weithin unsichtbar. Die auf der Homepage des DTA offenbar in Kenntnis dieses Problems in Aussicht gestellte und wohl auch bereits begonnene Berücksichtigung des 2DWB-Quellenbestandes wird hier zumindest teilweise Abhilfe schaffen. Ein zweites und mit der Frage des Korpusumfangs eng zusammenhängendes Problem besteht in der Volltexterfassung. Das DTA-Archiv enthält grundsätzlich nur Volltexte und steht damit im Gegensatz zum
3 4
http://www.deutschestextarchiv.de (6. 1. 2011). Ebd.
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Volker Harm/Marco Scheider
Archiv des 2DWB und anderer Wörterbücher, welche überwiegend Teiltexte enthalten. Die partielle Exzerption von Texten ist nicht nur arbeitsökonomisch motiviert, sie hat sich vielmehr als durchaus sinnvolles und wissenschaftlich vertretbares Verfahren erwiesen, da der „Wortschatz einer durchschnittlich ergiebigen Quelle nach 200 bis höchstens 300 Seiten im wesentlichen erschöpft“5 ist und die Erfassung umfangreicher Volltexte oftmals lexikalische Redundanzen produziert, die bei der Erstellung eines Wortartikels eher hinderlich als erkenntnisfördernd sind. Aus der Sicht des Lexikographen ist ein Korpus mit einer größeren Zahl von Texten, die nur zum Teil exzerpiert sind, einer geringeren, dafür aber vollständig erfaßten Textmenge unbedingt vorzuziehen. Es liegt auf der Hand, daß die Forderung nach Teiltexten einem speziellen Bedürfnis der Lexikographie entspricht und daß für andere Benutzerinteressen Teiltexte nahezu wertlos sind. Das DTA, das sich als disziplinübergreifendes, vielfältig nutzbares Arbeitsinstrument versteht, sieht sich somit vor die Schwierigkeit gestellt, zum Teil stark divergierende Anforderungen miteinander vereinbaren zu müssen. Damit bleibt festzuhalten, daß die künftige sprachhistorische Lexikographie des Deutschen mit dem Textbestand des DTA endlich über eine digitale Arbeitsgrundlage für den in der Korpuserstellung lange vernachlässigten Zeitraum vom 17. bis zum 19. Jahrhundert verfügt, daß der Weg zu einem digitalen Textarchiv, das mit dem Quellenbestand des 2DWB konkurrieren könnte, aber noch weit ist. 3.2. Als weiteres ungelöstes Problem, welches das 2DWB hinterläßt, sei zweitens auf die Frage einer angemessenen lexikographischen Darstellungsform für bedeutungsgeschichtliche Befunde hingewiesen. In vielen Artikeln des 2DWB, zumal des Göttinger Teils, hat die Dokumentation der Bezeugungsgeschichte immer noch Vorrang vor der Darstellung der Bedeutungsgeschichte. Dies sei kurz an dem Artikel Fell illustriert (2DWB Bd. 9: 328–330). Das Wort Fell bedeutet bis ins 16. Jahrhundert allgemein ‚Haut‘ und kann sowohl von der menschlichen Haut als auch vom Fell bzw. Pelz von Tieren gebraucht werden. Das Wort erfährt zunehmend eine Einschränkung seines Denotatsbereichs und gilt im Gegenwartsdeutschen nur für die ,behaarte Tierhaut‘. Die Bedeutungsgeschichte von Fell ist somit ein Beispiel für den vielfach bezeugten Prozeß der Bedeutungsspezialisierung oder -verengung6 (etwa auch bei mhd. hôch(ge)zît ,Fest‘ > nhd. Hochzeit ‚Fest zur Eheschließung‘, mhd. varen ,sich fortbewegen‘ > 5 6
Bahr (1962: 145); vgl. Schlaefer (1987: 75); Haß-Zumkehr (1998: 74), Schulz (2007: 145f.). Im übrigen gelten Teiltexte auch für Korpora, die für grammatische Darstellungen angelegt werden, als hinreichend, vgl. Solms/Wegera (1998: 25). Vgl. dazu Blank (1997: 192–202).
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nhd. fahren ,sich mit einem Verkehrsmittel fortbewegen‘). Im 2DWB wird das Wort wie folgt beschrieben: 1 die den körper von lebewesen bedeckende hautschicht a menschliche haut. nachmhd. auslaufend [...] 863 – 1682 b behaarte tierhaut: 9. jh. – 1979 2 krankhafte trübung der augenlinse [...] Anhand dieser Gliederung ist präzise nachvollziehbar, in welchem Beleg des 2DWB-Archivs das Wort zum ersten bzw. letzten Mal für ‚menschliche Haut‘ bzw. ‚behaarte Tierhaut‘ bezeugt ist. Gerade weil hier größtmögliche Präzision bei der Datierung der Verwendungstypen gesucht wird, ist der derart gegliederte Artikel aber letztlich unhistorisch. So ist eine Bedeutung mhd. vel ‚menschliche Haut‘, wie sie unter 1a angesetzt wird, unplausibel. Eher ist davon auszugehen, daß mhd. vel allgemein ,die den Körper von Lebewesen bedeckende Hautschicht’ bedeutet hat und demnach sowohl auf die Haut von Menschen als auch von Tieren bezogen werden konnte. Auch der Prozeß der Bedeutungsverengung, den das Wort durchmacht, kann in dem 2DWB-Artikel nur unzureichend deutlich gemacht werden. Da im 2DWB alle semantischen Befunde bezeugungschronologisch einzuordnen sind, würde dies voraussetzen, daß man den genauen Zeitpunkt sicher eingrenzen kann, zu dem die Sprecher des Deutschen unter Fell nicht mehr allgemein ,Haut’, sondern nur noch ,behaarte Tierhaut‘ verstanden haben. Dies ist naheliegenderweise nicht der Fall. Eine Bedeutungsgliederung wie die folgende ist daher – zumindest im Rahmen der 2DWB-Konzeption – keine Alternative: 1 hautschicht von lebewesen 2 behaarte tierhaut [...] Das Zusammenspiel von Belegpräsentation und semantischer Interpretation erweist sich hier somit als durchaus optimierbar. Das 2DWB bietet in diesem Fall ebensowenig wie in vielen anderen Fällen eine vollends zufriedenstellende Lösung. Als konzeptionelles Manko des 2DWB ist auch die stark einzelwortorientierte Beschreibung zu nennen. Die Entwicklung des Wortes Fell wäre in jedem Fall auch mit der Wortgeschichte von Haut oder Pelz in einen Zusammenhang zu bringen. Die entsprechenden Artikel im 1DWB sind aber allein aufgrund ihres Alters – Haut ist von Moriz Heyne 1877, Pelz von Lexer 1889 bearbeitet worden – nur noch bedingt als vergleichbar heranzuziehen.
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3.3. Das Fehlen einer angemessenen lexikographischen Darstellungsform für diachrone lexikologische Befunde hängt auch mit dem dritten Aufgabenbereich zusammen, nämlich mit einer noch immer nicht zufriedenstellend ausgearbeiteten Theorie des lexikalischen Wandels. Die Beschreibung von Bedeutungsgeschichte im Wörterbuch setzt ein theoretisch fundiertes begriffliches Instrumentarium voraus, das die vorgefundenen Entwicklungen zu Typen zusammenfaßt und diese überhaupt sichtbar macht. Was die Theorie und Begrifflichkeit des lexikalischen Wandels angeht, so bietet sich eine vertrackte Situation. Im Unterschied zu früheren Bearbeitungsphasen des 1DWB gibt es eine Bezugsdisziplin ,historische Lexikologie’ gegenwärtig zumindest in Ansätzen. Vor allem in romanistischen Arbeiten ist hier gegenüber früheren Zeiten ein erheblicher Erkenntnisfortschritt erzielt worden. Wesentliche Typen lexikalischen Wandels sind auf ausreichender empirischer Grundlage beschrieben worden, so daß hier endlich ein Werkzeugkasten bereitsteht, auf den ein wortgeschichtlich arbeitender Lexikograph zurückgreifen könnte. Auf der anderen Seite ist es auch hier so, daß die Beschreibungskategorien häufig noch nicht so scharf sind, daß ein Lexikograph unbesehen mit ihnen arbeiten könnte. So wird zum Beispiel in den Handbüchern zur Lexikologie noch immer keine ausreichend klare Unterscheidung zwischen Resultat und Prozeß des Bedeutungswandels getroffen. Dies betrifft etwa die Wandelmechanismen Bedeutungsverengung und -erweiterung. Diese werden vielfach als Reduktion bzw. Vermehrung des Semembestandes gefaßt; gleichzeitig aber wird das Begriffspaar oftmals auch für einen Wandel vom Oberbegriff zum Unterbegriff bzw. umgekehrt gebraucht (vgl. Blank 1997: 193–198). Auch bei den sog. „axiologischen“ Wandelerscheinungen – Bedeutungsverbesserung und -verschlechterung – wird vielfach nicht ausreichend deutlich gemacht, ob die Verbesserung bzw. Verschlechterung – sofern sich diese überhaupt objektivieren lassen – Ergebnis eines z. B. metaphorischen oder metonymischen Wandels ist oder ob tatsächlich genuin axiologische Wandelprozesse vorliegen. Andere noch zu lösende theoretische Probleme betreffen etwa die Frage, wie es um die Polysemie von Wortbildungseinheiten bestellt ist: Liegen hier die gleichen Bedeutungswandelprozesse vor, die auch bei Lexemen ohne morphologische Struktur zu beobachten sind, oder entfaltet sich hier lediglich das semantische Potential der Wortbildungsmorpheme? Fragen, die Wörterbuchmacher und Linguisten gemeinsam zu beantworten hätten, gibt es also auch hier reichlich.
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4. Fazit Die synchronen Epochenwörterbücher ergeben zusammengenommen noch keine entwicklungsbezogene Darstellung des deutschen Wortschatzes. Mit dem Abschluß der von A bis F reichenden Neubearbeitung des DWB täte sich somit eine merkliche Lücke in der deutschen Wörterbuchlandschaft auf. Es sollte daher bereits jetzt überlegt werden, in welcher Weise ein diachrones belegbasiertes Wörterbuch des Deutschen, das grundsätzlich die gesamte Sprachgeschichte als Objektbereich in den Blick nimmt, geplant und entwickelt werden kann. Eine solche Konzeption hat die genannten drei Problembereiche, die das 2DWB als Hypothek hinterläßt – die Frage des Korpus, die Frage nach der lexikographischen Darstellungsform und die Frage nach einer Theorie des lexikalischen Wandels – zu berücksichtigen. An ernsthaften Herausforderungen mangelt es der sprachgeschichtlichen Lexikographie des 21. Jahrhunderts somit nicht.
Wörterbücher Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearbeitet und herausgegeben von Elisabeth Karg-Gasterstädt, Theodor Frings u.a., Berlin 1968ff. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854 – 1960. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Akademie der Wissenschaften der DDR) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Stuttgart/Leipzig 1965ff. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Herausgegeben von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, ab Bd. 2 herausgegeben von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, Berlin/New York 1989ff. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann, Stuttgart 2006ff.
Literatur Bahr, Joachim (1962): Zur Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs. Von der Exzerption zur Elektion, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 18, 141–150. Blank, Andreas (1997): Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen. Haß-Zumkehr, Ulrike (1998): Das Historische Korpus des Instituts für deutsche Sprache, in: Rolf Bergmann (Hg.), Probleme der Textauswahl für einen elektronischen
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Ulrich Knoop (Freiburg)
Der Klassikerwortschatz: Das Klassikerwörterbuch (KWB) und seine Begründung 1. Wenn ich erzähle, ich arbeite an einem Klassikerwörterbuch, ernte ich Zustimmung, aber auch skeptische Anlehnung. Ersteres, weil man meint, damit würden der gesamte Wortschatz und so die Klassiker eine angemessene Würdigung erfahren, letzteres, weil man angesichts des „Deutschen Wörterbuchs“ und dessen Erläuterungsleistungen so etwas für überflüssig hält – steht das nicht schon im „Grimm“? Das erste ist ein freundliches Missverständnis: das Klassikerwörterbuch soll Unbekanntes und Unerkanntes erläutern, also nur das, was von unserem Wortverstehen differiert, weshalb das KWB diesen „Differenzwortschatz“ erklärt. Das zweite ist unzulänglich, denn der „Grimm“ hat viele Wortschätze nur zum Teil erfassen können (Moritz bis Fontane) und, man höre, auch nicht alle Wörter aus den herangezogenen Klassikertexten seiner Zeit aufgenommen. Stichproben, z. B. die Zusammensetzungen mit heck-, ergaben Defizite, hier nämlich eine Anzahl von 23 Wörtern in unserem Klassikerkorpus zu 11 im DWB, 12 sind im DWB nicht erfasst (Brückner/Knoop 2003: 69, Anm. 10). Außerdem ist die Auswertung von anderen Wörterbüchern, derzeit vermehrt das von Adelung, missverständlich, wie noch zu zeigen sein wird. Die Kommentierung wiederum basiert auf Philologenentscheidungen darüber, was sie als erklärungsbedürftig für den Leser halten, was sich aber von dem unterscheidet, was die Leser erklärt bekommen möchten bzw. notwendigerweise erklärt bekommen sollten. Unsere Auswertung eines Vergleichs der kommentierten Wörter und der Lemmata für das Klassikerwörterbuch ergab eine Erfassung von ca. 10 %: 90 % des differenten Klassikerwortschatzes bleiben in der Kommentierung unerklärt, obwohl sie nach unseren Erhebungen (s.u.) für heutige Leser erklärungsbedürftig sind. Diese Reaktionen sind deshalb erwähnenswert, weil sie einiges zur sprachgeschichtlichen Besonderheit unserer Sprachepoche verraten: die Rezeptionsbereitschaft für ältere Texte sowie umgekehrt die sprachliche Differenz dieser älteren Texte und die Gründe für das anlaufende Erklä-
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rungsgeschäft (erste Zeugnisse dafür schon um 1860!). Zugrunde liegt dem das zentrale Motiv der Sprachgeschichtsforschung, ihre gesellschaftlichkulturelle Begründung also, das Verstehen von Sprachtexten zu ermöglichen. Sprachgeschichtsdarstellung resultiert aus dem Wunsch, Verstehenshindernisse abzubauen und ältere Sprachformen für das Verständnis zu erklären: zuvörderst die graphische Gestaltung des Wortausdrucks, dann die lexikalischen und grammatischen Differenzen. Die sprachgeschichtlich aufgezeigten Veränderungen ebnen den Weg zum Verstehen älterer Texte, was aber meist vergessen wird zu sagen. Sprachgeschichte erscheint deshalb vielfach als bloße Darstellung der Entwicklung einer Sprache, nämlich als Skalendarstellung des Sprachveränderungsverlaufs. St. Sonderegger (1979) hat dezidiert darauf hingewiesen, dass Sprachgeschichte Verstehensgeschichte ist und von heute nach rückwärts ausgerichtet ist, wie überhaupt Sprachgeschichte ein Fach der Moderne ist, ältere Zeiten kümmern sich nicht um die Geschichte ihrer Sprache. Klar sichtbar sind die graphischen Veränderungen, vor allem für unsere Orthographiefixiertheit: arougnissi aus dem 8.Jahrhundert sieht völlig anders aus als Ereignis, andererseits bedeutet Ereignis um 1800 teilweise etwas anderes als heute („event“), nämlich das „Sichtbare“ (Schlußverse des „Faust II“, V. 12107: „Hier wird’s Ereignis“). Und mit diesen Phänomenen der Sprachentwicklung bzw. Differenz zweier Sprachzeiten beschäftigt sich das Klassikerwörterbuch, nämlich den am Wortausdruck nicht erkennbaren Veränderungen der Wortbedeutungen. Das ist zunächst verwunderlich, vor allem für klassisch gebildete Menschen, sind doch die Klassikertexte zentrale, nämlich kulturstiftende Texte unserer Zeit: sie werden schulisch vermittelt, medial besprochen, auf Theatern aufgeführt und sind Bestandteil von Anthologien. Daher die selbstverständliche Annahme, dass sie eigentlich verständlich sind. 2. Wie sehr ein klassischer Text als gegenwärtig aufgefasst werden kann, dafür ein Beispiel. „Im Winde klirren die Fahnen“ – so endet das beliebte Gedicht „Hälfte des Lebens“ von Friedrich Hölderlin. Interpreten gehen von ihrem (heutigen) Sprachgebrauch aus und verstehen das als Tuchfahnen, die sie als gefroren ansehen, denn sie klirren ja. Wenn die Stuttgarter Ausgabe von 1940 das als „Wetterfahnen“ kommentiert, ich selbst auf den gleichen Gebrauch im „Hyperion“ verweisen kann und zudem klirren auch in der syntaktischen Konstruktion klirrende Kälte seine Klangbedeutung nicht verliert – es klirrt bedeutet nicht: ‚es ist kalt‘ (Knoop 2008: 50ff.) – kann sich Peter von Matt noch 2010 hierfür keine Wetterfahnen aus Blech vorstellen (2010: 51). Die Ursache für dieses Verfahren liegt in einer Veränderung der Auffassung darüber, wie der Stellenwert des literarischen Sprechens gesehen wird, nämlich seit 1900 als antipodisch zu einer
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Standardsprache und damit ganz eigenwillig. Zunächst als die eigentliche sprachschöpferische Potenz, wie sie z. B. Peter Szondi in seinen Thesen gegen die Beleg-Philologie begründet (1962): ein Wort kommt 138-mal in gleicher Bedeutung vor, die 139. Verwendung kann, davon autonom, eine andere haben. Die ist vom Autor selbst bestimmt und damit einzigartig, also nicht verbunden mit den übrigen Bedeutungen des Gebrauchs. Hier mögen Eindrücke und Verfahrensweisen der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts vorbestimmend gewesen sein hinsichtlich des wortschöpferischen Vermögens von Autoren, bzw. deren prononcierter Normenverweigerung oder -flucht. Aufgegriffen wird das auch von der Linguistik, dann als der sprachkritische Expressionismus, DADA und selbst der Verismus abgeflaut sind, nämlich in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Manfred Bierwisch prägt dazu die These von der Literatursprache als Abweichungssprache gegenüber dem Standard (in seinen wildesten Äußerungen sogar „defizitär“; 1965: 55). Das ergab dann die Begründung für eine Autonomie literarischen Sprechens gegenüber den sprachhistorischen Erläuterungen von Bedeutungszusammenhängen: die Literaturwissenschaft lässt sich nichts sagen von den Worthistorikern – mit der Folge für den Unterricht und die Lektüre überhaupt: das müsst ihr verstehen, obwohl es sprachlich gesehen Texte aus einer signifikant anderen Sprachepoche, also in gewissem Sinne fremde Texte sind. Dennoch gilt: Auch Schriftsteller schreiben aus einem allgemeinen Sprachverständnis heraus und in ein allgemeines hinein: sie wollen verstanden werden. Das gilt umso mehr, wenn sie daran beteiligt sind, diese allgemeine Sprache mit zu prägen, was ja das dezidierte Ziel um 1800 gewesen ist. Der expressionistische Ausbruch war denn auch eher eine Revolte gegen die Verkümmerung der allgemeinen Sprache, wie das z.B. in Hofmannthals Chandos-Essay zum Ausdruck kommt. Mehr noch: literarisches Sprechen ist geradewegs die Auseinandersetzung mit der Sprache, also die Prüfung auf ihre Tragfähigkeit, ihre Verlässlichkeit, das Ausloten ihrer Möglichkeiten und viel weniger das Setzen neuer Möglichkeiten. Die heute wesentlich umfassenderen Möglichkeiten der Wortrecherche erweisen, dass all die ‚Neubildungen‘ der Schriftsteller schon längst im Schwange waren, wohl aber durch seine Texte an Verbreitung gewannen – auch dies ein Hinweis darauf, dass die Worterfindungslust gar nicht an deren Wege lag. Das bedeutet: die nicht mehr verständlichen Wörter, die Differenzwörter also, sind zu ihrer Zeit, also der Zeitstufe 2 (etwa die Zeit um 1800), gar keine besonderen Wörter, sie sind in diesem Sinne un-markiert. Sie werden es erst dadurch, dass sie in den weiter rezipierten Texten von damals tradiert werden und nun, in Sprachstufe 1, unserer also, mit ihrer Unverständlichkeit auffallen. Damit ist auch klar: das Klassikerwörterbuch erläutert nicht einen speziellen, individuellen oder besonderen Gebrauch,
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sondern für unsere Zeit solche Wörter, deren Bedeutung seit damals verändert wurde. 3. Was bringt das Klassikerwörterbuch an Erklärungen, vor allem an neuen Erkenntnissen? Es erklärt nicht „die“ Literatursprache, weil es die so nicht gibt, zumal sie von den Schriftstellern auch gar nicht angestrebt wird. Autoren schreiben langue-orientiert. Ihr möglicherweise eigentümlicher Wortschatz, also der Teil ihres Wortschatzes, den speziell sie verwenden und über welchen sie vermehrt verfügen als andere – oder sogar besser –, jener mögliche eigene Teil also, wird nur in Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Wortschatz zu klären sein. Das Verstehensproblem hinsichtlich der Klassikertexte ersteht also nicht aus der Literarizität der Verwendung sondern aus der sprachhistorischen Differenz, die einzusehen wiederum erschwert wird durch die unterstellte Synchronizität des Klassikertextes. Das lässt sich illustrieren an einem mittlerweile berühmten Wort, nämlich bewußtlos aus dem Anfang der „Marquise von O…“ von Heinrich v. Kleist. Aufgrund der vermeintlichen Menschen-, oder besser: männlichen Frauenkenntnis verstand man dieses bewußtlos als ‚ohnmächtig‘ und nahm daraufhin an, dass die Marquise sehr wohl von dem Geschlechtsverkehr wusste, sie also ihre Unkenntnis simulierte. Die Interpretatoren erörterten in vielerlei Weise das ‚bewußtlose‘ Wissenkönnen, übersahen dabei aber, dass das Wort bewußtlos um 1800 genau das bedeutete, was sie erst noch begründen wollten: eine Ausschaltung von Sinnen bei gleichzeitiger Handlungs- und Wissensfähigkeit. Hierzu nur ein zeitgenössischer Beleg von vielen: „Bewußtlos vor Entsetzen, springt Berthold hinzu – den Lazzarone bei der Gurgel packen – ihn zu Boden werfen, … alles das ist die Tat eines Moments“ (E.T.A. Hoffmann,1818: 136). Das ist eine Verwendung, wie sie auch Kleist zeigt. Der Zustand von Kohlhaasens Frau wird, nach dem Stoß, den sie erhalten hat, so geschildert: „Wenigstens berichteten die Leute so, die sie, in bewußtlosem Zustand, gegen Abend in den Gasthof brachten; denn sie selbst konnte, von aus dem Mund vorquellendem Blute gehindert, wenig sprechen“ (Kleist 1808: 165); bewußtlos bezeichnet also eine Beeinträchtigung des Bewusstseins, aber nicht das völlige Ausbleiben einer Handlungs- und Reflektionsfähigkeit. Um die geht es aber dem Autor Kleist hinsichtlich der Marquise von O…. Denn er schreibt: [der Graf ] bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank“ (Kleist 1808: 251).
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Wie auch an anderer Stelle – „kam mit der Nachricht zurück, daß die Schwester in gänzlich bewußtlosem Zustande darniederliege“ („Die heilige Cäcilie …“, Kleist 1808: 379) – wählt er eine adverbielle Bestimmung, mit der er ausdrücklich macht, dass die Marquise nichts wissen kann, weil sie einer vollständigen Bewusstlosigkeit erlegen ist und ihre Wahrnehmungsfähigkeit vom Erzähler ausgeschlossen wird. Wichtig dann noch zu sehen, wie scharfsinnig Kleist mit dem allgemeinen Wortschatz und seinen zeitgenössischen Konnotationen umgeht: er vermeidet ohnmächtig, weil dieses die taktische Absence bezeichnen kann, von der man also weiß, daß sie nur gespielt ist, um Weiterungen zu entgehen. Unscheinbarer ist ein Fremdwort, das völlig selbverständlich ganz modern gelesen wird, obwohl der Wortlaut eigentlich stutzig machen müßte: In der „Judenbuche“ von Anette Droste Hülshoff heißt es, „ein unprivilegirter Holzhauer“ habe das Gesicht des alten Mergel gesehen. Kommentare erläutern dies als ‚unberechtigter Holzmacher‘, ‚Holzdieb‘, woraufhin ein weiterer ihn die Besitzordnung bzw. die Gesellschaftsordnung in Frage stellen sieht. Man merkt: hier wird unterprivilegiert gelesen. Unprivilegirt hingegen meint ‚nicht privilegiert, nicht durch Vorrechte geschützt‘, also letztlich ‚gewöhnlich‘, ein ganz normaler Holzhauer also (Knoop, 2004, 195). Anders steht es mit grün. Hier versteht man bis heute nicht, weshalb Goethe etwas so Widersprüchliches formulieren konnte: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum“ lässt er seinen Mephisto zum Schüler sagen (Faust v. 2038 u. 2039). Ein goldener Baum kann nicht grün sein. Und so wurde das zum Topos von „hier irrt Goethe“. Etwas milder beurteilt das der Kommentar von Ulrich Gaier, der eine Unvereinbarkeit der Farbangaben sieht und die von ihm sog. Rettung dieser Vorstellung „grün und golden“ durch Gottfried Keller als nicht passend vermerkt (Gaier 1999: 272). Der allerdings gibt, wenn man weiterliest als dessen ersten Absatz, den Fingerzeig für das Verständnis, aus seiner Zeit heraus, 1855, indem er auf die Vorstellung eines vegetativen Grün verweist. Verwunderlich nun, dass die gesamte Goethe-Philologie, allerdings nach 1935, nie dort nachgesehen hat, wo man am ehesten etwas über Wortbedeutungen erfahren kann, nämlich im IV. Band, 1. Abteilung, 6.Teil, oder kürzer gesagt: Bd. 9 der dtv-Ausgabe des Deutschen Wörterbuchs. Dort gibt es die Bedeutung B, die die Bedeutung des Treibenden, des Frischen … vor der Farbvorstellung anführt und als Beleg, neben anderen, diese Fauststelle nennt (dtv-Bd. 9: 643). Zu ergänzen wäre hier „grüner Aal“ als frischer, gerade gefangener Fisch, der ja eine eher bräunliche Farbe hat. Mephisto spricht also davon, dass dieser Baum, nämlich der Hesperiden, weshalb er golden ist, also nicht grün, lebendig wachsend ist, und dann auch die goldenen Äpfel bereit hält, von denen hier nicht
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die Rede ist. Die Beleglage zeigt, dass diese Bedeutung damals gängig war – und selbst für uns noch, wenn wir etwas genauer hinhören –, also auch für Goethe mit seinem Wissen des zeitgenössischen Wortschatzes, was dann im Bd. IV des Goethe-Wörterbuchs, 2004 (Geschäft – inhaftieren) unter „grün“ den Erläuterungen des Grimm gemäß gedeutet wird (Sp. 511). Nicht so sicher beraten ist man dann allerdings bei einem anderen Farbwort, „blau“. „Wege waren … von blauem Sand durchzogen“ (Dichtung und Wahrheit, WA I: 27,88) und „[Sein] Bart [war] frühzeitig blau [geworden]“ (dass., WA I: 27, 35) wird allen Ernstes als ‚blau‘ erklärt – (GWb. II: 759ff.). Tatsächlich hat der allgemeine zeitgenössische Wortschatz die ältere Bedeutung ‚hell‘ im Umlauf, denn ein Bart wird kaum „blau“ werden, vor allem dann nicht, wenn es um den Kontrast zum schwarzen Haupthaar geht. Das Bewusstsein und das Wissen um den allgemeinen Wortschatz, der auch der von Goethe ist, sind für Autorenwörterbücher unerlässlich, und nicht die umgekehrte Auffassung, dass Goethes Wortgebrauch umfänglicher gewesen sei als der zeitgenössische. Hier zeigt sich, dass ein Schriftsteller einen, wenn auch eindrucksvollen, Ausschnitt dieses Wortschatzes gibt. Wie gesagt, mittlerweile kommt es zu einem, wenn auch immer noch zögerlichen Gebrauch der Wörterbücher, allerdings mit unerwünschten Nebenwirkungen, weil die bloße Einsetzung einer Wörterbuchangabe noch nicht den Sinn der Textstelle ergibt, vielmehr nur den Ausgangspunkt für die Interpretation. Für „Fräulein“ in der berühmten Stelle von Fausts Anrede „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen …“ (Faust, v. 2605ff.) gibt Albrecht Schöne in seinem Kommentar (Schöne 1994: 288) die Bedeutungsangabe aus einem zeitgenössischen „Lexicon“ wieder: „unvermältes Frauenzimmer, so von adelichen Eltern gebohren (Frauenzimmer-Lexicon 1715: 578)“. Das ist zumindest der Versuch, Verbindung zum zeitgenössischen Gebrauch zu finden, allerdings gleich mit weiteren Schwierigkeiten behaftet. Es ist nämlich fraglich, ob Goethe seinen Faust das fast ein Jahrhundert nach diesem Eintrag meinen läßt. Denn im späteren 18. Jahrhundert soll „Fräulein“ für alle „Demoisellen“ gelten, wie Wieland das 1794 in einem Aufsatz fordert, und der Adel reagiert darauf mit dem Zusatz „gnädiges Fräulein“ für seine Töchter. Außerdem ist „Fräulein“ in der Äußerung von Faust Teil eines Phraseologismus – „mein schönes Fräulein“ –, so dass hier eine Bedeutungsabschwächung durch Konventionalisierung vorliegt. Das wird in der Replik Gretchens ganz deutlich: erst ihr „Bin weder Fräulein …“ hebt die Nichtadeligkeit hervor und macht im zweiten Teil – „weder schön“ – auf eine ebenfalls zeitgenössische Bedeutungsmöglichkeit aufmerksam, die Mephisto klarmacht, wenn er etwas später Marthe vom Lebenswandel ihres Mannes berichtet: „Ein schönes Fräulein nahm sich seiner an. Sie hat an ihm viel Lieb’s und Treu’s
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getan, dass er’s bis an sein selig Ende spürte“ (Faust, v. 2982ff.). „Fräulein“ bedeutet eben auch ‚Hure‘, was z. B. Adelung bestätigt: „ehedem bedeutete es eine jede Jungfrau; oft aber auch eine Hure“ (1796: 275). Wenn man dann weiter verfolgt, mit welchen Bezeichnungen Faust über Gretchen spricht (Dirne, Geschöpfchen, Püppchen), ist zumindest fraglich, ob Gretchen den Phraseologismus nur deshalb so schlagfertig auseinandernimmt, um die Adelsunterstellung abzulehnen, die in der Redewendung ohnehin nur schwach ausgeprägt ist. Die Wortforschung bringt nicht die Lösung, also den Einsatz eines modernen Wortes als Erklärung, vielmehr deckt sie mit der zeitgenössischen Vieldeutigkeit dieses einen Wortes ein Bedeutungsgeflecht auf und gibt damit die Möglichkeiten einer komplexeren Auslegung der Gretchen-Figur: sie muss wohl wissen, was mit „Fräulein“ alles gemeint sein kann, und das verweist sie dem Faust, der davon aber wenig beeindruckt ist (ausführlicher hierzu Knoop 2009: 108). Die Hinweise darauf, dass vor der Inhaltserläuterung der zeitgenössische Wortgebrauch geklärt sein müsse, sind nicht zahlreich, einer kommt aus Heidelberg, nämlich der Dissertation von Roland Reuß, der auf die semantische Differenz hinweist (1990: 85 und Anm. 280). Deutlich wird an diesen Erläuterungen auch, dass es nicht zuvörderst um die Disambiguierung geht, sondern darum, die verschiedenen Bedeutungen eines Wortzeichens klarzustellen. Die Bedeutung des Differenzwortschatzes ist also für die Inhaltsbestimmung erheblich und er zeigt eine semantische Entfernung vom Sprachgebrauch um 1800 an. Deutlich wurde dies, als die kulturelle Unterstützung zur Rezeption der Klassikertexte brüchig wurde und das auch offen ausgesprochen wurde: nach 1968 ging die Rede vom „alten Plunder“, um den man sich nicht mehr kümmern wollte. Aktualität der Texte wurde gefordert und teilweise auch praktiziert. Zur gleichen Zeit kam es aber auch zur Begründung von großen und weit ausgreifenden Werkausgaben (Hölderlin [mehrfach], Kleist, Droste, Brentano, Kafka u.v.m.,) sowie zu einer Neufassung der Editionswissenschaft mit verbesserter Kommentierung. Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Klassikerwörterbuch nicht Archaismen erläutern will, obwohl das als naheliegend angesehen wird. Der große und einfache Unterschied liegt aber darin, dass Archaismen rhetorisch eingesetzt werden, also noch verständlich sind, und ihre Eigenart darin liegt, dass sie nicht mehr (unbedingt) zum aktiven Wortschatz gehören, weshalb sie mit ihrem Gebrauch eine Besonderheit anzeigen, eine gewisse Patina oder Ehrwürdigkeit, aber eben nicht Unverständlichkeit. Deshalb ist Kalesche bei Fontane kein Archaismus, vielmehr für ihn ein ganz naheliegender und für alle zeitgenössischen Leser verständlicher Ausdruck für Fahrzeuge, die man sehen und fahren kann. Wohingegen
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die heutige scherzhafte Bemerkung, ich fahre Sie in meiner Kalesche nach Hause, archaistisch sein dürfte. 4. Das Unternehmen „Klassikerwörterbuch“ akzeptiert die sprachhistorische Ferne dieser Texte und sagt das, was Leser heute ganz unwillkürlich wahrnehmen: es sind fremde Texte, und befragt deshalb diese Leser danach, was ihnen in diesen Texten unverständlich ist – aus welchen Gründen auch immer. Das war das zweite Vorausunternehmen des Projekts. Das erste bestand darin, die wichtigsten Klassikertexte zu bestimmen, um eine Konzentration der Korpusmenge zu erreichen. Das erfolgte über die Lektürevorschläge der Kultusministerien und der Studiengänge für Germanistikstudenten. Daraus erstand ein Korpus mit 70 Klassikertexten. Diese wiederum wurden von Lesern aller Altersschichten gelesen, jeder Text mindestens von zwei Lesern, mit der Bitte, einfach ein Wort oder eine Wendung im Text anzustreichen, wenn es unverständlich erscheint, möglicherweise auch anzugeben, falls dem Leser der Sinn danach stand, warum. Das ergab ca. 90.000 Anstreichungen, die in einer ersten Lemmatisierung zu ca. 32.000 Roh-Lemmata zusammengefaßt wurden. Bezogen auf die 70 Korpustexte ergibt dies eine Verstehensschwierigkeit bei durchschnittlich jedem 6. Wort im Text, natürlich nicht für jedes Wort im Wortschatz. Rohlemma deshalb, weil die Lemmatisierung nur soweit vorangetrieben wird, dass für den Bearbeiter eine Form greifbar wird, die er aus dem digitalisierten Korpus ergänzt, bearbeitet, daraus das Wörterbuchlemma feststellt und dann den Artikel dafür entwirft. Damit gibt das KWB möglichst jeder lexikalischen Einheit einen Artikel und sieht von der Nestbildung völlig ab. Obwohl das Klassikerwörterbuch nur ein kleines Textkorpus hat, stellen sich doch Fragen zur Machbarkeit dieses Wörterbuchs. 32.000 Lemma-Kandidaten: in etwa so viele Artikel, zumindest als Verweisartikel. Das ist für die Mannschaft und die Möglichkeiten, die wir haben, zu viel. Deshalb haben wir versucht, die Artikelzahl zu reduzieren, zumal wir immer noch von einem handlichen Druckwerk ausgehen, also einem Einbänder. In einem Auswahlverfahren sind wir auf ca. 1.700 wichtigste Lemmata gekommen sowie ca. 6000 hapax legomena, was wiederum dazu passt, dass ein Einbänder Platz für ca. 8.000 Artikel hat (Maß: die Ausgabe des Etymologischen Wörterbuchs von F. Kluge). Das Verfahren, wie man diese Einkürzung so vornehmen kann, dass sie nicht willkürlich ausfällt, hat Dominik Brückner 2006 dargestellt. Hilfreich war unsere vorher vorgenommene Einteilung aller Lemmata in 20 Fachgebiete, die die Kompetenz für die Bearbeiter und gleichmäßig der Artikelaussage ermöglichen sollte: also alle Tiere, alles was mit Bekleidung etc. zu tun hat, so dass die Artikel in ihrer inhaltlichen Ausrichtung gleichmäßig ausfallen und nicht
Der Klassikerwortschatz
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„Tanne“ und „Fichte“ hinsichtlich ihrer Nadeln etc. beschrieben werden, bei „Zeder“ aber nur ihr Mittelmeervorkommen und ihre Krone. Erkennbar wird daran auch, dass wir nicht alphabetisch vorgehen, sondern nach Inhaltsgruppen – was einen kleinen Ausblick darauf gibt, dass wir auch die On-Line-Möglichkeit erwägen. Die Artikelbearbeiter sind weitgehend frei hinsichtlich der Einrichtung neuer Artikel, die sich aus ihrer Belegstellensammlung ergeben. Das Artikelschreiben ist also viel direkter mit den Texten verbunden als die herkömmliche Methode der abgeschlossenen Belegauswahl. Das geht freilich nur, weil wir ein Redaktionssystem haben, das einmal die umfassende Suche nach direkten und verwandten Belegen ermöglicht (im Freiburger Textkorpus) und dann der umfänglichen digitalen Notierung vom Rohlemma bis zum Beleg, mit verschiedenen Kommentierungsplätzen, problemlosen Verweisen, Formvarianten, Bemerkungen zum Arbeitsablauf etc. Raum geben kann. Das Klassikerwörterbuch ist ein langue-Wörterbuch zu einem (kleinen) Textkorpus des mittleren Neuhochdeutsch, weil sich eine sekundäre Verdunkelung, also Verstehensschwierigkeit, seitens unserer Kenntnisse dieser Sprache um 1800 ergeben hat. Jedes sechste Wort ist nicht auf Anhieb verständlich, obwohl die Texte zum Neuhochdeutschen gehören. Damit verweise ich auf eine sprachepochale Schwierigkeit, nämlich in der Anlage der neuhochdeutschen Epoche und ihrer Bezeichnung. Zum einen dauert die neuhochdeutsch benannte eine schon längere Weile, ca. 300 Jahre, und wird wohl noch länger dauern, also auch zukünftig, denn es zeichnen sich keine gravierenden Veränderungen ab, die in absehbarer Zukunft in eine neue Sprachepoche münden würden. Die Sprachgeschichtsschreibung kommt also an ein Dilemma: a) eine überlange Sprachepoche, mit einem Bereich, der schon jetzt als different angesehen werden muss, oder b) eine neue Sprachepoche, die sich so allmählich verdeutlicht. Dann gibt es aber Schwierigkeiten mit deren Namen. Wie soll eine Sprachepoche, die auf eine neuhochdeutsche folgt, dann heißen? Eine Frage also für die sprachhistorische Systematik. Die Arbeit am Wörterbuch macht Spaß, weil sie immer ein Überraschungsmoment enthält: es ist nicht oder nicht ganz so, wie man es gedacht hat. Von daher ist die notwendigerweise vorgenommene Einschränkung der Lemmata natürlich für einen Lexikographen schrecklich. Wie sehr, ist daran zu ermessen, wenn man die Zahl der 695 Differenzwörter „Kleidung“, also Rohlemmata, mit der notwendigen Auswahl vergleicht, nämlich 2: Band und Demant. Trotz der Digitalisierung stehen wir hier wieder vor der Beschränkung durch Papier und Druck bzw. Bandvolumen – auf der anderen Seite natürlich der Beschränkung von Arbeitszeit bzw. finanzieller Mittel, das Übliche also. Dennoch, keine Klage. Vielmehr die Freude daran, dass wir hier ganz im Sinne von Oskar Reichmanns
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Ulrich Knoop
Bemerkung kulturpädagogisch tätig sind und zudem auch noch einem sprachhistorischen Interesse entgegenkommen – unsere öffentlichen Auftritte werden immer gut aufgenommen. Und das ist dann auch der Ansporn weiterzuarbeiten.
Literatur Adelung, Johann Christoph (1796): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Band 2: F bis L, Leipzig 1796. Nachdruck Hildesheim 1990. Mit einer Einführung und Bibliographie von Helmut Henne. Bierwisch, Manfred (1965): Poetik und Linguistik, in: Mathematik und Dichtung, hg. v. Rul Gunzenhäuser/Helmut Kreuzer. München, 49–65. Brückner, Dominik/Ulrich Knoop (2003): Das Klassikerwörterbuch. Begründung und Erläuterung eines digitalen Wörterbuchprojekts zum differenten Wortschatz in der klassischen Literatur, in: ZGL 31, 62–86. Gaier, Ulrich (1999): Johann Wolfgang Goethe. Faust-Dichtungen. Bd. 2, Kommentar I, Stuttgart. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1816): Die Jesuiterkirche in G., in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3, Berlin und Weimar, 1994. Kleist, Heinrich von (1808): Erzählungen, in: ders. Werke, hg. v. Erich Schmidt, Bd. 3, Leipzig und Wien o.J. [1904–1906]. Knoop, Ulrich (2004): Der lexikalische Kommentar. Der differente Wortschatz und die Methodik der Erklärung, in: editio 18, 186–212. Knoop, Ulrich (2008): ‚Hälfte des Lebens‘. Wortgeschichtliche Erläuterungen zu Hölderlins Gedicht, in: Turm-Vorträge der Hölderlin-Gesellschaft 6, 1999–2007, 46–73. Knoop, Ulrich (2009): Die Gretchen-Figur im Faust – worthistorisch erläutert, in: Freiburger Universitätsblätter 185, 107–121. Matt, Peter von (2010): Über die pädagogische Chance orthographischer Differenzen, in: Der Jugend zuliebe. Literarische Texte, für die Schule verändert, hg. v. Peter Eisenberg, Göttingen, 49–52 (= Valerio 11). Reuß, Roland (1990): „…/Die eigene Rede des anderen“. Hölderlins Andenken und Mnemosyne, Frankfurt/M. Schöne, Albrecht (1994): Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt/M. Sonderegger, Stefan (1979): Grundzüge der deutschen Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems. Bd. I: Einführung – Genealogie – Konstanten, Berlin/New York. Szondi, Peter (1962): Über philologische Erkenntnisse, in: Schriften I, Frankfurt/M., 263–286.
Stefaniya Ptashnyk (Heidelberg)
Das Deutsche Rechtswörterbuch und sein Nutzen für die historische Semantik-Forschung 1. Vorbemerkungen Das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) schaut heute auf eine über 100 Jahre lange Geschichte zurück. Seine Konzeption und Entstehung sind bereits durch eine Vielzahl von Publikationen dokumentiert.1 In diesem Beitrag sollen die lexikografischen Informationen und die weiterführenden Angebote vorgestellt werden, die das DRW für wortgeschichtlich interessierte Nutzerinnen und Nutzer bereit hält, und zugleich soll gezeigt werden, für welche Fragestellungen der historischen Semantik das DRW von besonderem Interesse sein kann.
2. Deutsche Rechtssprache als Gegenstand des DRW Das DRW ist ein alphabetisches, diachronisches, einzelsprachenübergreifendes Wörterbuch. Es erfasst den Rechtswortschatz der „deutschen Sprache“ von den Anfängen der schriftlichen Überlieferung in lateinischen Urkunden der Völkerwanderungszeit bis zum beginnenden 19. Jahrhundert: Der älteste Beleg stammt aus einer merowingischen Urkunde von 4792, d.h., er dokumentiert den Sprachgebrauch jener Zeit, in der „die Rechtskultur sich mit wenigen Ausnahmen im Bereich der Mündlichkeit ausgeprägt hatte“ (Speer 2002: 90). Das „Allgemeine Landrecht für die 1
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Die Anfangsphase (1896/97) fiel in die Blütezeit der deutschen historischen Lexikografie, als von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Kommission zur Erarbeitung eines wissenschaftlichen Wörterbuchs der deutschen Rechtssprache berufen wurde; dieser Kommission gehörten herausragende Wissenschaftler wie Karl von Amira, Heinrich Brunner, Otto von Gierke, Richard Schröder, Karl Weinhold u.a. an. Zur Geschichte des DRW vgl. Deutsch (2009: 134f.) und Lemberg (1996). Derzeit ist das Doppelheft 5/6 des 12. Bds. in Bearbeitung, bis zum Abschluss des Projektes sind 16 Bände mit ca. 120.000 Wortartikeln geplant. Zu finden ist dieser Beleg unter dem Stichwort Mundburt I, vgl. DRW Bd. IX Sp. 977.
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Stefaniya Ptashnyk
Preußischen Staaten“ (1794), das österreichische „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch“ (1811) und Goethes Werk bilden die obere Zeitgrenze des berücksichtigten Materials. Laut Konzeption der Projektinitiatoren sollte das DRW ein „Deutsches, nicht ein allgemein Germanisches Wörterbuch“ werden (vgl. Vorwort zu Band 1, S.V). Dabei wurde „Deutsch“ im Anschluss an die Auffassung von Jacob Grimm als Synonym für das Westgermanische definiert, weshalb die westgermanischen Sprachen wie Langobardisch, Altenglisch, Altfriesisch sowie Alt- und Mittelniederländisch miteinbezogen wurden (vgl. Falkson/Lemberg 2009: 158).3 Der so definierte Beschreibungsgegenstand ist bis heute unverändert geblieben, auch wenn der Schwerpunkt auf der deutschen Gesamtsprache mit ihren regionalen und historischen Varietäten, d.h. den Varietäten des Hoch- und Niederdeutschen liegt. Im Fokus des DRW steht die deutsche Rechtssprache mit all ihren sachlichen wie historischen Facetten, sodass wir es im Grunde mit einem „Fachwörterbuch“ zu tun haben. Dennoch ist die „Rechtssprache“ relativ weit gefasst. Die Kriterien der Lemmaselektion für das DRW sind in der Einleitung zu Band I niedergelegt und im Vorwort zu Band VII noch einmal präzisiert worden: Aufgenommen werden „Wörter, die entweder eine rechtsspezifische Sache bezeichnen oder eine außerrechtliche Realität rechtlich werten“ (DRW Bd. VII S. III; vgl. auch DRW Bd. I S. XV). Neben den juristischen Termini und der schriftlichen Amts- und Gesetzessprache verzeichnet das DRW allgemeinsprachige Wörter, die rechtliche Praktiken und den historisch-rechtlichen Alltag in großer Bandbreite abbilden oder in rechtlichen Kontexten auftreten, Kuß und Schlaf, scharf und nackt4, Nonnenmacher5 und Perückenmacher, Pfannkuchen und Mißback, Heiligenkuh, Herbstschwein und Mietschaf, Haus, Hof, Kessel, Linde, Mund, Mondschein, Schlupfwinkel finden sich genauso in der Lemmaliste des DRW wie auch Amt, Gericht, Gnade oder Recht.
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Die Gründe hierfür waren vielfältig, und zwar nicht nur sprachgeschichtlich, sondern auch rechtsgeschichtlicher Art: Die Begründer des DRW, insbesondere Karl von Amira sind von einem starken Zusammenhang zwischen Sprach- und Rechtsräumen ausgegangen, d.h., es wurde für den westgermanischen Sprachraum eine starke Ähnlichkeit der Rechtsinstitute und Rechtstraditionen angenommen. Ausführlicher dazu vgl. Deutsch (2010: 23f.). Das Adjektiv nackt in seiner rechtsrelevanten Bedeutung ‚im Zustand der Nacktheit als Indiz für Ehebruch‘. ‚Person, die Tiere unfruchtbar macht‘.
Das Deutsche Rechtswörterbuch und sein Nutzen für die Semantik-Forschung
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3. Das Korpus und die Quellen des DRW Ein Sprachhistoriker bzw. Lexikograf kann nur das erfassen, was in irgendeiner Form schriftlich festgehalten worden ist, im Unterschied zu gegenwartsorientierten Disziplinen, die auf die aktuelle sprachliche Kompetenz der Sprachträger zurückgreifen können. Auch ein Wörterbuch ist in der Regel so gut wie sein Textmaterial. Für eine möglichst kontinuierliche Beschreibung der Gebrauchsgeschichte eines sprachlichen Ausdrucks benötigt man eine geeignete, möglichst umfangreiche und repräsentative empirische Basis. Denn das, was die Belegkästen oder digitalen Ressourcen nicht bieten, bleibt sowohl den Wörterbuchautoren als auch dem Wörterbuchnutzern vorenthalten. Bei der Zusammenstellung der empirischen Basis stehen Forscher vor zwei wichtigen Fragen: zum einen: Wie findet man das Material und wie stellt man es zusammen? Und zum anderen: Wie nutzt man das Material? Dabei darf man nicht vergessen, dass das historische Datenmaterial nur bedingt repräsentativ sein kann, da es grundsätzlich nicht möglich ist, die Gesamtheit aller Äußerungen und Verwendungsweisen zu kennen und zu erfassen. Auch für das DRW ist die Frage des Korpus eine sehr wichtige. Bereits in der Anfangsphase wurde eine Auswahl bekannter rechtlich relevanter Quellen bzw. solcher, „in denen ein rechtlich relevanter Wortgebrauch vermutet“ wurde, vorgenommen (vgl. Lemberg 2008: 155). Das Belegmaterial stammt aus ca. 8.400 siglierten Quellen. Darunter finden sich im Einzelnen (1) Rechtstexte im engeren Sinne wie Gesetzessammlungen, Urkunden, Stadtrechte oder Polizeiordnungen, juristische Fachliteratur; (2) religiöse Texte, z.B. Bibeldichtungen, Bibelübersetzungen, Psalmen, Predigten; (3) literarische Texte, etwa mittelalterliche Epen, Lehrdichtungen, Dramen etc.; (4) historische Texte wie Chroniken oder Reisebeschreibungen; (5) sprachwissenschaftliche Texte, z.B. Wörterbücher, philologische Untersuchungen, Sprichwortsammlungen usw.6 Auf dieser Basis entstand das Belegarchiv mit rund 2,5 Millionen Belegzetteln, die im Verlauf von ca. 70 Jahren exzerpiert wurden und heute den Grundstock des Wörterbuchs bilden.7 Ergänzend nutzt das DRW heute digitale Ressourcen, allen voran das projektintern aufgebaute digitale Textarchiv sowie die Sammlung deutschsprachiger Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts, die im
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Eine vollständige Auflistung der Quellen ist an dieser Stelle nicht möglich, diese steht im Quellenkatalog des DRW im Rahmen seiner Onlinefassung zur Verfügung. Zur Exzerptionsgeschichte des DRW vgl. Lemberg/Speer 1997.
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Rahmen des Projektes „DRQEdit“ elektronisch aufbereitet wurden und eine komfortable Volltextsuche erlauben.8
4. Aspekte der lexikografischen Beschreibung Im Mittelpunkt der lexikografischen Bearbeitung steht die makroperspektivische semasiologische Beschreibung der Lemmata. Die Komplexität der lexikografischen Erfassung sowie die einzelnen Problemfelder bei der Beschreibung des Rechtswortschatzes und seiner Bedeutungsentwicklung ergeben sich aus der zeitlichen und aus der geografischen Vielfalt des Belegmaterials. Auf der einen Seite liegt mit dem DRW ein historisches Wörterbuch vor, das ca. 1400 Jahre der Sprachentwicklung dokumentiert. Die semantischen Ausdifferenzierungen und ihre Zusammenhänge im Verlauf der Geschichte festzuhalten gehört zu den primären Aufgaben des Wörterbuchs. Auf der anderen Seite präsentiert die Materialbasis des Wörterbuchs ein großes Varietätenspektrum, das einen breiten geografischen Raum und mehrere historische und regionale Sprachen, Dialekte und Soziolekte umfasst. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich viele Differenzen feststellen: Der niederdeutsche Wortschatz weicht z.B. stark vom elsässischen oder oberschwäbischen Wortschatz ab. Oft hat man mit selten belegten Wörtern zu tun, die aus einer bestimmten Region stammen und in den anderen gar nicht oder kaum nachgewiesen sind. Als Beispiel sei hier das Wort Scheißmeier angeführt, das nur in Texten aus dem Elsass und aus Luxemburg belegt ist: Es bezeichnet den Vorsitzenden „eines aus der Bevölkerung heraus gebildeten „Gerichts“ zu Fragen der (insb. ehelichen) Moral“. Darüber hinaus wird mit diesem Wort auch auf den entsprechenden Volksbrauch referiert.9 Ein bekanntes Phänomen der Sprachgeschichte ist, dass bestimmte Ausdrücke von einer Region zur anderen „wandern“. Das DRW erlaubt uns, diese Phänomene zu verfolgen und zu dokumentieren. Eine der Ursachen für ein solches „Wandern“ rechtlicher Ausdrücke liegt in der Verbreitung bestimmter rechtlicher Praktiken: So ist das Wort Schellenwerk in der Bedeutung ‚Strafanstalt für Gefangene, die zu (öffentlicher) Zwangsarbeit (bei knapper Kost) verurteilt sind‘10 zunächst in schweizerischen Texten,
8 Online verfügbar unter www.drqedit.de. 9 Vgl. DRW Bd. XII Sp. 405f.; vermutlich handelt es sich dabei um einen Volksbrauch oder ein (Fastnachts-)Spiel. 10 Vgl. DRW Bd. XII Sp. 418f.
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vorwiegend in Berner Quellen aus dem beginnenden 17. Jahrhundert zu finden. Erst 1661 ist das Wort in den Büchern der Stadt Freiburg belegt, von da an wandert es in den badischen, württembergischen und in den schwäbischen Raum. Auch die Popularisierung einschlägiger Texte führt zur großräumigen Verbreitung bestimmter Ausdrücke. Ein viel zitiertes Paradebeispiel aus dem Rechtsleben stellt in dieser Hinsicht die Rezeption des niederdeutschen „Sachsenspiegels“ in den oberdeutschen Rechtsbüchern dar. Auch das Preußische Allgemeine Landrecht hatte eine wichtige Vorbildfunktion für das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, das dann in einigen schweizerischen Kantonen rezipiert wurde (vgl. Bd. I, Zur Einführung, S. XV). Auf der sprachlichen Ebene manifestiert sich dieser Prozess in der Übernahme bestimmter Ausdrücke und ihrer terminologischen Verfestigung. Die Aufgabe der Artikelbearbeiter besteht darin, solche Prozesse transparent zu machen und den Wortgebrauch durch entsprechendes Textmaterial zu dokumentieren. Die Gesamtheit der Verwendungsweisen eines sprachlichen Ausdrucks in rechtlich relevanten Kontexten wird systematisch beschrieben und durch Zitate belegt. Ich möchte an dieser Stelle den Artikel Saat bringen, an diesem Beispiel lässt sich die Entwicklungsgeschichte verfolgen (vgl. DRW Bd. XII Sp. 1364ff.). Der älteste Beleg aus den angelsächsischen Glossen (um 1020/30) dokumentiert die Bedeutung ‚Saatgut; auch die aufgegangene Saat, das Korn auf dem Halm, Ernte‘, die vermutlich die älteste ist. Daraus haben sich dann auf dem Wege der Metonymie die weiteren Verwendungsweisen entwickelt, nämlich die ‚Handlung des Säens, Aussäen‘ und ‚das frisch besäte und daher rechtlich besonders geschützte Feld‘ (belegt bereits 1224/35 im „Sächsischen Landrecht“). Erst später etabliert sich die Lesart ‚Termin, Zeit(raum) der Aussaat‘: der älteste Beleg, den das DRW für diese Lesart führt, stammt aus der „Sammlung altwürttembergischer Statutar-Rechte“ und ist auf 1502 datiert. Eine der zentralen Fragen der historischen Semantik, nämlich die nach Ursachen des Bedeutungswandels, kann das DRW nicht direkt beantwortet. Dies gehört auch nicht zu den primären Aufgaben eines Wörterbuches. Lediglich lassen sich die hypothetischen Wege der Bedeutungsentwicklung in der lexikografischen Artikelstruktur abbilden. Die Lesart mit den frühesten Belegen bringen wir in der Regel an erster Stelle, wie es im Beispiel Saat der Fall ist. Die Datierungen der Belege können Auskunft darüber geben, welche Bedeutung die ältere ist, und welche Verwendungsweisen sich erst später etablierten. Die Artikelgliederung im DRW erfolgt primär nach semantischen Kriterien. Bei der weiteren Untergliederung eines Artikels spielen jedoch die thematisch-sachlichen Kriterien eine wichtige Rolle: Bereits auf der 2.
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oder 3. Gliederungsebene wird bei Bedarf eine sachliche Unterscheidung zwischen den einzelnen Verwendungsweisen vorgenommen, bei der solche Faktoren wie Sachbereich, Teilbereiche des Rechts (etwa Straf- und Zivilrecht, Privatrecht oder öffentliches Recht) etc. eine Rolle spielen. Die in der theoretischen Semantik so oft diskutierte Trennung zwischen dem lexikalischen und dem enzyklopädischen Wissen erweist sich für die Aufgaben des DRW als nicht sinnvoll. Gerade die Kombination aus semantischen und sachlichen Artikelgliederungsprinzipien macht es uns möglich, der Wortgebrauchsgeschichte von mehreren Jahrhunderten und zugleich dem fachspezifischen Gebrauch des beschriebenen Wortschatzes gerecht zu werden (vgl. Lemberg 2008: 161f.). Als Beispiel möchte ich an dieser Stelle den Artikel 1Schelle erwähnen. Das Wort Schelle bezeichnet an sich eine kleine Glocke, die in vielfältigen rechtlichen Kontexten eingesetzt wurde. Der Artikel ist in 10 Punkte gegliedert, in denen die Vielfalt der rechtlich relevanten Anlässe gezeigt wird, bei denen ein Glockensignal gegeben wurde: Neben Gerichts- oder Ratszusammenkünften oder offiziellen Bekanntmachungen waren es z.B. Krankentransporte und Unratfuhren, auf die Bürger mit dem Schlag einer Schelle aufmerksam gemacht wurden. Interessanterweise wurde eine Schelle sowohl für „positive“ Mitteilungen eingesetzt, wenn sie z.B. an der Kleidung einer adeligen Person hing (Bedeutungspunkt 1.8), als auch für negative Warnungen oder als diffamierendes Symbol zur Kenntlichmachung von Aussätzigen, Sträflingen oder Bettlern. Um die einzelnen Verwendungsweisen linguistisch voneinander abzugrenzen, werden solche Aspekte berücksichtigt, wie der Referenzbereich, Einstellung, Prädikation, Beziehungen zu den anderen Ausdrücken, insbesondere die paradigmatischen Partner eines Ausdrucks.11 Wenn z.B. das Wort Schluss eine paradigmatische Relation12 mit Ausdrücken wie Gegenschluss, Replik oder Duplik aufweist, so handelt es sich dabei nicht um einen „Beschluss“, nicht um ein „Ende von etwas“, auch nicht um die „Handlung des Verschließens, des Verriegelns“ (z.B. eines Tores oder einer Tür). Gemeint ist in einem solchen Fall eine Komponente eines (straf- oder zivilrechtlichen) Prozesses, nämlich die „abschließende (schriftliche) Stellungnahme in der Beweisführung des Klägers“, die in der Regel nach einer Replik und einer Duplik erfolgt; auf einen Schluss kann dann der Beklagte mit seinem Gegenschluss antworten. Diese paradigma-
11 Zur Methodik der semantischen Beschreibung eines lexikalischen Ausdrucks siehe Fritz (2005: 17ff.). 12 Diese sind zumeist aus dem näheren Kontext erschließbar.
Das Deutsche Rechtswörterbuch und sein Nutzen für die Semantik-Forschung
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tischen Partner helfen, die genannte Lesart von anderen Bedeutungen des Wortes abzugrenzen. Die lexikalische Umgebung eines Ausdrucks spielt grundsätzlich eine wichtige Rolle in der lexikografischen Praxis. In typischen Wortkombinationen und Formeln manifestiert sich oft eine besondere, manchmal terminologisch festgelegte oder idiomatisierte Gebrauchsweise eines Ausdrucks. Die deutsche Rechtssprache ist geradezu ein Paradebeispiel dafür.13 Z.B. diente die Paarformel Haut und Haar als Bezeichnung für eine entehrende Körperstrafe, die im Verlust des Haares und in Schlägen oder in der Brandmarkung bestand. Die Informationen des DRW, die man im Artikel Haut A III 2 b findet, schildern die Umstände und die Art der Ausführung dieser Strafe; hier erfährt der Nutzer, dass diese oft als mildere Strafe (z.B. bei Schwangerschaft der Täterin oder bei Minderjährigen) angewandt wurde. Signifikante Kollokationspartner eines Stichwortes weisen oft auf eine zusätzliche semantische Nuance hin: Wenn Markt in einer seiner zentralen Lesarten eine „Verkaufsveranstaltung“ an einem bestimmten Platz oder für einen bestimmten Anlass (vgl. DRW Bd. IX Sp. 242f.) bezeichnet, so weisen die mit dem Stichwort Markt häufig belegten Kollokatoren wie allgemein, feil, frei, gefreit, gemein, gewöhnlich oder offen darauf hin, dass es in diesen Fällen einen freien Zugang zu dem Markt gibt, was für die Markthändler wichtige rechtliche Konsequenzen hatte. Reichhaltig vertreten sind im Rechtswörterbuch idiomatische Wendungen. Das DRW bietet dem sprachhistorisch interessierten Nutzer zum einen die Information über Form und Bedeutung von heute nicht mehr geläufigen Phrasemen, zum anderen dokumentiert es das Wissen über die Herkunft von heute noch geläufigen Wendungen. Beispielsweise hat die heute noch gebräuchliche Paarformel schalten und walten mit der Bedeutung ‚nach eigenem Belieben verfahren‘ ihren Ursprung im Rechtsleben. Aus dem Rechtswörterbuch erfährt der Nutzer, dass schalten V die Bedeutung ‚nach Belieben verfahren, eigenverantwortlich handeln‘ hatte; schalten und walten bedeutete entsprechend ‚ohne Einschränkung über etwas verfügen‘. In der Rechtssprache war bis in das 19. Jahrhundert hinein auch 13 Auf den stark formelhaften Charakter der deutschen Sprache wurde in der Literatur schon oft hingewiesen, etwa in den Publikationen von Grimm (1899: 8ff.), Schmidt-Wiegand (1990), Matzinger-Pfister (1992), Sonderegger (1962). Die Gründe hierfür sehen die Forscher in dem Einfluss der lateinischen Rhetorik (vgl. Matzinger-Pfister 1992: 11; Behaghel 1928: 34), im Bedarf nach abstrakter Ausdrucksweise sowie im Bestreben nach Knappheit und Eindeutigkeit, um „denkbaren Rechtsnachteilen vorzubeugen“ (Schmidt-Wiegand 1990: 346). Schmidt-Wiegand betont, dass in den Paarformeln und phraseologischen Wortkombinationen terminologisch festgelegte Begriffe der deutschen Rechtssprache geprägt wurden, z.B. twing und bann oder wunn und weid (Schmidt-Wiegand 1990: 351f.).
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das Phrasem schaltende und waltende Hand zur Bezeichnung der „freien Verfügungsgewalt“ gebräuchlich.14 Das DRW belegt nicht nur die phraseologisierten Wortkombinationen und ihre Form- und Bedeutungsentwicklung, sondern zeigt deutlich, dass auch teilphraseologische Wortverbindungen ihre „Lebenszeiträume“ haben: Während wir heute von Schluss machen reden, wenn wir etwas beenden, ein Ende setzen, wurde diese Wortkombination noch im 18. und im 19. Jahrhundert gebraucht, um mitzuteilen, dass etwas beschlossen wurde, d.h. dass eine Entscheidung getroffen wurde.
5. Digitale Ressourcen des DRW als Textkorpora Wie auch andere historische Wörterbücher stellt die gedruckte Fassung des DRW ein wichtiges Hilfsmittel dar, das dem Nutzer den Weg zum Verständnis des historischen Wortschatzes erleichtert, und somit bei der Erschließung historischer Texte dienlich ist. Ein deutlicher Mehrwert des Wörterbuchs ist durch seine Digitalisierung und durch den Einsatz der lexikografischen Datenbank entstanden. Die Publikationen und Tagungsdiskussionen in den Kreisen der Sprachhistoriker machen immer wieder deutlich, dass in der Forschergemeinschaft ein großer Bedarf an historischen Korpora besteht. In dieser Hinsicht hat das DRW einiges zu bieten. Zunächst ist das projektinterne „digitale Textarchiv des DRW“ zu erwähnen, das über die Webseite des DRW erreichbar ist (www.deutschesrechtswoerterbuch.de). Auf der Webseite stehen dem Nutzer vier Datenbanken zur Verfügung: Wörterbuch, Quellenverzeichnis, Digitalisate und Textarchiv (vgl. Abb. 1). Wenn man die letztere Datenbank anklickt, so gelangt man zu den Texten des Textarchivs, das im Laufe der Bearbeitung der DRW-Artikel schrittweise aufgebaut wurde. Es umfasst die wichtigen rechtshistorischen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts als Volltext. Zurzeit sind es über 50 Quellenwerke und Druckregister mit über 1.300.000 Wortvorkommen. Das Textarchiv ist mit vielfältigen Suchmöglichkeiten ausgestattet, die auch für das digitale DRW vorgesehen sind (siehe im Folgenden). Ein weiteres zusätzliches Angebot an historischen Texten besteht dank des bereits erwähnten Projekts DRQEdit – Deutschsprachige Rechtsquellen in digitaler Edition –, das im Zusammenhang mit dem DRW aufgebaut wurde. Das DRQEdit-Korpus umfasst etwa 450 Werke juristischer Literatur mit ca. 6.300.000 Textwörtern, die im Internet unter der Adresse 14 Vgl. DRW Bd. XII Sp. 185 s.v. schalten (V) und Bd. IV Sp. 1579 s.v. Hand (D II 55).
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Abb. 1: Datenbanken in der Online-Fassung des DRW.
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http://www.drqedit.de erreichbar und recherchierbar sind.15 Die beiden digitalen Ressourcen – das Textarchiv des DRW und das DRQEdit-Korpus – erlauben dem Nutzer eine Volltextrecherche.
6. Deutsches Rechtswörterbuch als historisches Belegtextkorpus Neben den erwähnten Textkorpora sind für die historische Sprachforschung die Recherchemöglichkeiten im digitalen DRW von Interesse, die ich im Folgenden näher beleuchten möchte. Neben der Stichwortsuche, die ein klassisches gedrucktes Wörterbuch bietet, ist beim digitalen Werk eine Volltextrecherche in den Belegzitaten möglich. Die aktuelle OnlineFassung16 des Deutschen Rechtswörterbuchs umfasst die Alphabetstrecke von Aachenfahrt bis Schau, auch weitere Artikel werden kontinuierlich im Internet publiziert. Als ein „Belegwörterbuch“ ist das DRW durch eine Vielzahl der Belege geprägt, die die jeweiligen lexikografischen Informationen nachvollziehbar und verifizierbar machen. Die Gesamtheit des zitierten Belegmaterials stellt in digitalisierter Form ein umfassendes Belegtextkorpus dar, das die heutige sprachhistorische Forschung vielseitig nutzen kann. Dies sind heute über ca. 5,2 Mio. Textwörter aus ca. 8.400 Quellen, darunter über 4300 Monographien, über 1900 mehrbändige Werke und Reihen, über 900 Zeitschriften, ca. 1000 unselbständige Werke. Dieses sprachliche Material ist über die Online-Fassung des DRW elektronisch durchsuchbar. Wenn man die Vielfalt der Textsorten – von Urkunden und Gesetzessammlungen bis hin zu Reisebeschreibungen und mittelalterliche Epen – bedenkt, die das DRW zitiert und somit elektronisch anbietet, so ist die Bedeutung dieses Belegtextkorpus nicht zu unterschätzen. Um das digitale DRW zu durchsuchen, soll der Benutzer die Datenbank „Wörterbuch“ anwählen. Im nächsten Schritt folgt die Auswahl des Suchindexes: (1) Stichwörter, (2) Schreibformen, (3) Belegtextwörter und (4) Erklärungswörter (siehe Abb. 2). Die Abbildung 3 veranschaulicht das Suchergebnis nach dem Wort lieblich, das im Suchindex „Stichwort“ eingegeben wurde. Die Suche führt zum entsprechenden Artikel, den man sich in der Übersichtsoder in der Volldarstellung anzeigen lassen kann. Das System bietet ferner die Möglichkeit, neben den ausgewählten Belegen, die innerhalb des Artikels lieblich aufgenommen wurden, auch 15 Ausführlicher zu DRQEdit vgl. die Webseite des Projektes sowie Speer (2007: 276ff.). 16 Stand: Februar 2011.
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Abb. 2: Auswahl des Suchindexes.
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Abb. 3: Suchergebnisse zum Stichwort lieblich.
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Abb. 4: Zusatztreffer für das Lexem lieblich.
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Abb. 5: Treffer für lieblich als Ergebnis der Volltextsuche.
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weitere Vorkommen des Wortes im digitalen Belegmaterial einzusehen. Für das Wort lieblich ergeben sich zusätzliche 55 Funde (Abb.4). Die Recherche nach demselben Suchbegriff lieblich im Index „Belegtexte“ erlaubt die Auffindung von unflektierten (lieblich) wie auch von flektierten (liebliche, lieblichen etc.) Formen in allen digital verfügbaren Belegen (Abb. 5). Per Mausklick auf die Quellensigle kann der Nutzer einsehen, aus welcher Quelle der Beleg stammt. Da die Indexsuche nach dem inkrementellen Prinzip funktioniert, sind stark abweichende Schreibvarianten wie Schmalz und smalcz oder diejenigen, die sich schon im Initialbuchstaben unterscheiden (wie Schlupf – tslop) auf diese Weise leider nicht auffindbar und müssen gesondert gesucht werden. Von der Möglichkeit der elektronischen Suche im Belegtextarchiv hat seinerzeit auch das DRW selbst profitiert. Als ein anschauliches Beispiel hierfür kann die Entstehungsgeschichte des Artikels Jurisdiktion dienen, die der ehemalige Forschungsstellenleiter Heino Speer in seinem Beitrag ausführlich schildert (Speer 2007: 265f.). Da es sich um ein Fremdwort handelte, wurde der entsprechende Artikel zu der Bearbeitungszeit der JStrecke ausgelassen. Den puristischen Tendenzen der Entstehungszeit folgend wurden Fremdwörter zunächst aus dem DRW ausgeschlossen, denn „der eigentliche Zweck der Arbeit“ war die Aufzeichnung und Fixierung des deutschen Wortschatzes der Rechtssprache (vgl. Band 1, S. 8f.), und der Akzent des DRW lag auf dem „heimischen Rechtswortschatz“.17 Für die Fremdwörter wurden auch keine Exzerpte angelegt. Erlaubt waren lediglich Zusammensetzungen aus einem deutschen und einem entlehnten Wort. So enthielt die Lemmaliste solche Lexeme wie Grund-, Hof-, Hofgerichts-, Kammer-, Landgerichtsjurisdiktion, Kapitel-, Krieg- oder Oberjurisdiktion, aber nicht das Simplex Jurisdiktion. Das Ergebnis dieser Haltung war das Fehlen mancher durchaus zentraler juristischer Begriffe. Der Artikel Jurisdiktion wurde dann nachträglich für die Online-Fassung geschrieben. Hier kamen den Verfassern die elektronisch verfügbaren Belege zu Hilfe, da die Kästen kein Material für den Fremdwortschatz parat hatten. Ein ähnliches Beispiel stellt der Artikel Injurie dar, den der Nutzer nur im digitalen DRW aber nicht in der gedruckten Fassung findet.18 Erwähnenswert ist auch ein weiterer Vorteil der Online-Fassung des DRW: Dank der Volltextsuche ist es möglich, Lexeme aufzufinden, die als Stichwörter noch nicht bearbeitet oder in die Lemmaliste gar nicht auf17 Erst in den späteren Bänden (offiziell ab Band VII, laut dem Beschluss der Kommission der HAW von 1989) wurden Fremdwörter großzügiger behandelt. 18 Die Nacharbeitung von Artikeln ist jedoch bei vereinzelten besonders prominenten Fällen belassen worden, um die Diskrepanz zwischen der gedruckten und der digitalen Fassung nicht allzu groß werden zu lassen.
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genommen sind. Sobald sie nur in den Belegtexten vorkommen, werden sie für den Nutzer auffindbar sein.
7. DRW als Hilfsmittel für onomasiologische Fragestellungen der historischen Semantik Neben semasiologischen Fragestellungen sind für Semantiker und Sprachhistoriker auch onomasiologische Zugänge zum Wortschatz relevant.19 Für diese Fragestellungen wird nur selten ein Bedeutungswörterbuch befragt, jedoch zu Unrecht! Das digitalisierte DRW zeigt deutlich, dass es ein hilfreiches Instrument sein kann, um funktionale Aspekte der Wortgebrauchsgeschichte zu erschließen. Lexikalische Vernetzungen werden innerhalb eines Wörterbuchs durch das Verweissystem transparent gemacht. Das DRW bietet Verweise zu sinnverwandten Lexemen sowie zu anderen Lexemen, die inhaltlich-sachliche Zusammenhänge mit dem Stichwort aufweisen (die so genannten Vergleiche-Verweise); darüber hinaus sind im DRW Wortbildungsverweise zu finden, die bei morphologischen Fragestellungen interessant sind. Wenn der Forscherblick beispielsweise einem bestimmten Wortfeld gilt, so lassen sich diese Fragestellungen in vielerlei Hinsicht mit Hilfe des DRW angehen. Ich zeige dies anhand des Beispieles zum Wortfeld rechtlich relevanter Körperteile. Wenn man etwa den Artikel Rücken aufschlägt, so ist unter der Bedeutung (I) die Bedeutung ‚Körperteil‘ zu finden. Am Ende des Artikels gibt es Verweise zu den Artikeln Bauch (I), Hals (I), Nack, bei denen es sich ebenfalls um Körperteile handelt, die in rechtlichen Kontexten eine bestimmte Rolle spielen. Eine weitere Möglichkeit, solche Wortfelder zu erschließen, ist der Zugang über die Erklärungstexte. Heute beläuft sich der Erklärungswortschatz des DRW auf über 500.000 Wortformen. Die Suche erfolgt über die Eingabe eines geeigneten „Schlüsselbegriffs“ im Index „Erklärungswörter“. Wenn man hier nun den Suchbegriff „Körperteil*“ eingibt, gelangt man zu folgenden Artikeln: Busen, Fuß, Hals, Kerb, kerben, liefern, Mund, Nagel, Pfahl, pfänden, Rücken, abhacken, Rad, reißen. Wie es eindeutig ersichtlich ist, sind nicht alle gelieferten Stichwörter Bezeichnungen für menschliche Körperteile. Bei den Ergebnissen ist eine Reihe Lexeme dabei, die sich z.B. auf leibliche Strafen beziehen (vgl. kerben – Haut oder Körperteil durchschneiden; liefern – von einem
19 Vgl. Fritz (2005: 43ff.)
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Körperteil, an dem eine Strafe vollstreckt werden soll; Pfahl – auf den nach vollzogener Strafe ein abgetrennter Körperteil gesteckt oder gebunden und ausgestellt wird) oder andere sachlich-thematische Zusammenhänge mit dem gesuchten Begriff aufweisen. An dieser Stelle sind also Auswahl, Systematisierung und Auswertung der Treffer durch den Forscher unerlässlich. Die Suche über Erklärungswörter ist ferner hilfreich, wenn man sich für paradigmatische Partner eines Ausdrucks interessiert. Die Eingabe des Ausdrucks Arzt im Index „Erklärungswörter“ führt zu den Treffern, die bspw. synonym wie Doktor, Heilmeister oder hyponym wie Bergphysikus (Arzt für die Bergleute), Hofmedikus (Arzt für den Hof (VIII 4)) oder Kammergerichtsarzt (beim Reichskammergericht angenommener und verpflichteter Arzt) sind. Interessante Ergebnisse liefert auch die Suche nach Kleidungsstück in Erklärungstexten: Unter den fast 20 Suchergebnissen finden sich solche Treffer wie Frauengebände, Handfahne (liturgisches Kleidungsstück), Hauptlochgewand (Kleidungsstück mit Kopfausschnitt), Pluviale (mantelartiges liturgisches Kleidungsstück, auch der Krönungsmantel) u.v.m. Um die gesamte Palette historischer Kleidungsbezeichnungen zu bekommen, sollte die Suche durch weitere Suchbegriffe wie etwa Kleid, Kleidung etc. vervollständigt werden. Eine besonders lange Liste von Treffern erzielt man, wenn man nach zentralen Wörtern des Rechtslebens sucht, wie etwa Abgabe oder Henker. Für den letzteren Ausdruck liefert die aktuelle Online-Fassung des DRW 59 Funde, viele Treffer sind bedeutungsverwandte Lexeme, die sich in soziopragmatischer Hinsicht stark voneinander unterscheiden – euphemistische, derbe oder nur regional gebräuchlichen Ausdrücke wie Meister Auweh, Meister Matz, Klemmhans, Balz, Fleischmann, Gabler, Galgenmeister, Hauptkassier finden sich neben dem neutralen Scharfrichter. Auch die Suche nach dem „Alltagswortschatz“ in den Erklärungstexten des DRW kann durchaus interessante Ergebnisse liefern, wie es Lemberg am Beispiel des Lexems Brot gezeigt hat (vgl. Lemberg 2008: 167f.). Abschließend möchte ich noch auf die kombinierte Suche hinweisen, die für die phraseologisch interessierten Nutzer von besonderer Bedeutung ist: Diese erlaubt die Verknüpfung mehrerer Suchbegriffe innerhalb eines Belegzitats. Der entsprechende Button befindet sich im linken Frame unten (Abb. 6). Wenn man etwa Haus in der Kombination mit Hof sucht, so bekommt man als Ergebnis – chronologisch gegliedert – 56 Treffer, und zwar nicht nur Belege, die in den Artikeln Haus oder Hof, sondern auch die Belegstellen aus anderen Artikeln, z.B. reich, mißtun, ansitzen, Holzgesuch usw. (siehe Abb. 7).
Abb. 6: Kombinierte Suche im DRW.
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Abb. 7: Ergebnisse der kombinierten Suche nach Haus und Hof.
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7. Resümee Aus den angeführten Ausführungen dürfte nun deutlich geworden sein, dass das DRW in seiner gedruckten wie auch in der elektronischen Fassung vielseitige Informationen bietet, und sich dabei nicht nur an Juristen richtet, sondern prinzipiell an alle Interessierten, die sich mit historischen Texten befassen. Besonders der Zugriff über die vielfältigen Suchmasken des digitalen DRW ermöglicht eine rasche Auffindung des benötigten Sprachmaterials. Natürlich bedürfen die elektronischen Suchergebnisse der manuellen Bearbeitung20 und Systematisierung durch den Forscher, seinem Forschungsinteresse entsprechend, und selbstverständlich stellt sich bei den Recherchen jedes Mal das an die historischen Korpora doch so eng geknüpfte Problem der Schreibvarianz. Dennoch ist das DRW mit seinem reichhaltigen Sprachmaterial aus verschiedenen Quellen des westgermanischen Raumes, aus verschiedenen Epochen und verschiedenen Textsorten, mit seinen vielfältigen lexikografischen Informationen und komfortablen Suchmöglichkeiten ein wichtiges Instrument historischer Sprach- und Kulturforschung.
Literatur Behaghel, Otto (1928): Geschichte der deutschen Sprache, Berlin. Deutsch, Andreas (2010): Vom „tausend Wundern“ und einem „gewaltigen Zettelschatz“, in: Andreas Deutsch (Hg.), Das Deutsche Rechtswörterbuch – Perspektiven. Kolloquium zur Forschungsstelle „Deutsches Rechtswörterbuch“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 7.–8. November. 2008, Heidelberg, 22–45. Deutsch, Andreas (2009): Das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW), in: Volker Sellin/Eike Wolgast/Sebastian Zwies (Hg.), 100 Jahre Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Die Forschungsvorhaben der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909–2009, Heidelberg, 132–138. Dickel, Günther/Speer, Heino (1979): Deutsches Rechtswörterbuch. Konzeption und lexikographische Praxis während 8 Jahrzehnten (1897–1977), in: Helmut Henne (Hg.), Praxis der Lexikographie, Tübingen, 20–37. Falkson, Katharina/Lemberg, Ingrid (2009): Das Deutsche Rechtswörterbuch als Hilfsmittel historischer Baltikumforschung – Möglichkeiten und Grenzen, in: Ulrich Kronauer/Thomas Taterka (Hg.), Baltisch-europäische Rechtsgeschichte und Lexikographie, Heidelberg, 157–173.
20 Bislang ist der Export der Ergebnisse im html-Format möglich. Es ist im nächsten Schritt denkbar, an die exportierten Daten andere, heutzutage verfügbare korpuslinguistischen Tools anzuwenden. Dies ist aber nicht mehr die Aufgabe des DRW.
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Falkson, Katharina/Lemberg, Ingrid/Lill, Eva-Maria (2002), Das Deutsche Rechtswörterbuch. Ein Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, in: Ulrike Haß-Zumkehr (Hg.), Sprache und Recht, Berlin/New York, 355–360. Fritz, Gerd (1984): Ansätze zu einer Theorie des Bedeutungswandels, in: Werner Besch/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Berlin/ New York, 739–753. Fritz, Gerd (1998): Sprachwandel auf der lexikalischen Ebene, in: Werner Besch/ Anne Betten/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., Berlin/New York, 860–874. Fritz, Gerd (2005): Einführung in die historische Semantik, Tübingen. Grimm, Jacob (1899): Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. 1, Leipzig. Hermanns, Fritz (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Form und Gegenstand historischer Semantik, in: Andreas Gardt/Klaus J. Mattheier/Oskar Reichmann (Hg.), Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen, Tübingen, 69–101. Koselleck, Reinhart (Hg.) (1979): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart. Lemberg, Ingrid (1996): Die Entstehung des Deutschen Rechtswörterbuches, in: Lexicographica 12, 105–124. Lemberg, Ingrid (2008): Lexikographie und Kulturgeschichte: 1.400 Jahre Rechtskultur im Spiegel des Deutschen Rechtswörterbuchs, in: Heidrun Kämper/Ludwig M. Eichinger (Hg.), Sprache – Kognition – Kultur, Berlin/New York, 153–173. Lemberg, Ingrid/Speer, Heino (1997): Bericht über das Deutsche Rechtswörterbuch, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 114, 679–697. Schmidt-Wiegand, Ruth (1990): „Rechtssprache“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, Berlin, 344–360. Sonderegger, Stefan (1962): Die Sprache des Rechts im Germanischen, in: Schweizer Monatshefte 42, 1–13. Speer, Heino (1989): Das Deutsche Rechtswörterbuch: historische Lexikographie einer Fachsprache, in: Lexicographica 5, 85–128. Speer, Heino (2007): Grenzüberschreitungen – vom Wörterbuch zum Informationssystem. Das Deutsche Rechtswörterbuch im Medienwandel, in: Friedrich Müller (Hg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, Berlin, 261–278.
Dana Janetta Dogaru (Hermannstadt/Sibiu)
Frühneuzeitlicher Fachwortschatz aus Siebenbürgen und seine Entwicklung 1. Einleitung Fachwörter sind sprachliche Ausdrücke mit einer speziellen Bedeutung, die kontextabhängig gebraucht werden und im Gegensatz zu gemeinsprachlichen Wörtern auf der Ausdrucksseite exakt und semantisch eindeutig sind; sie ermöglichen eine präzise und ökonomische Verständigung über bestimmte Gegenstands- und Sachbereiche (vgl. Fluck 1996: 12). Aus ihrer Fachbezogenheit resultiert, dass sie in erster Linie von Fachleuten in Fachgesprächen und in Fachpublikationen verwendet werden (vgl. Niederhauser 1999: 57). In unterschiedlichen Kontexten können sie unterschiedliche Bedeutungen aufweisen. „Alltagssprachliche“ Alternativen zum Gebrauch eines Fachwortschatzes sind ausführliche Umschreibungen der mit Fachwörtern bezeichneten Sachverhalte. Sicherlich sind auch Fachwörter in den Gemeinwortschatz übergegangen und erfordern keine Bedeutungserklärung. Die Erfahrung, in einem Fachwörterbuch nachschlagen zu müssen, wenn man nicht vom Fach ist, ist jedoch eine durchaus häufige, da gegenwärtig der Anteil der Spezialwörter im Sprachgebrauch steigt, darunter auch fremdsprachiger, besonders englischsprachiger Wörter. Beim Lesen historischer Fachtexte verhält es sich ähnlich, mit dem Unterschied, dass die Fremdwörter Latinismen sind. Hinzu gesellt sich ein weiteres Verständigungsproblem, das mit den sich ständig in Entwicklung und Veränderung befindlichen Gegenständen der Wissenschaft bzw. Technik zusammenhängt. So unterliegen vor allem die handwerklichen Fachsprachen einem starken semantischen Wandel, denn die Technik hat das handwerkliche Berufsbild verändert, was nicht nur zum Untergang einer Arbeitswelt führte, sondern auch den Untergang einzelner Fachsprachen bewirkte (vgl. Fluck 1996: 29f.). Auch wenn die Wortkörper bekannt zu sein scheinen, ist damit oft kein Inhalt zu verbinden: was heißt etwa fleischen? Oder die bekannte Bedeutung passt nicht recht in den Kontext: was ist in einer Zunft der Herr Vater?
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2. Ziel Im Folgenden werden Fachwörter in Gerichts- und Magistratsprotokollen und in Zunftordnungen aus Siebenbürgen aus semasiologischer Perspektive beleuchtet. Die leitende Frage der Untersuchung ist: Inwiefern besteht eine Wechselbeziehung zwischen dem Gebrauch von Fachwörtern und den Emittenten bzw. Adressaten der Texte? Im Einzelnen wird festzustellen sein, wie sich (1.) der juristische Fachwortschatz bzw. (2.) der Fachwortschatz der Zünfte konstituiert, (3.) inwiefern semantischer Wandel auf zünftische und handwerkliche Fachwörter greift. Abschließend werden (4.) in Auswahl handwerkliche Fachwörter aufgelistet, die aus dem gegenwärtigen Sprachgebrauch ausgeschieden sind oder in anderen Sprachkontexten gebraucht werden.
3. Corpus Mit den siebenbürgischen Gerichts- und den Magistratsprotokollen und den Zunftordnungen liegen Texte mit unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und unterschiedlicher Textfunktion vor. Die Gerichtsprotokolle wurden von einem Juristen oder einem im Rechtswesen geschulten Schreiber für Juristen, dem sog. löblichen Judikat, verfasst, während für die Magistratsprotokolle über Verhandlungen zur Eigentumsübergabe zwar der Stadtnotar zeichnet, also ein Jurist, zum Adressatenkreis neben den Amtspersonen aber auch die involvierte, nichtjuristisch gebildete Bevölkerung gehörte. Die Adressaten der Zunftordnungen, in denen rechtliche und zünftische bzw. handwerkliche Inhalte vermittelt werden, sind die angehenden oder ausgebildeten Handwerker, also Fachexperten, erlassende Instanz ist die zuständige administrativ-juristische Gebietskörperschaft bzw. die jeweilige Zunft selbst. Die Gerichtsprotokolle stammen alle aus dem Jahr 1691, die Ratsprotokolle reichen von 1556 bis 1600 und die Zunftordnungen von Mitte des 15. bis Ende des 16. Jahrhunderts.
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4. Analyse 4.1. Juristischer Fachwortschatz 4.1.1. Latinismen Zu den prägenden Kennzeichen der deutschen Rechtssprache gehören die zahlreichen Fremd- und Lehnwörter, die seit dem 16. Jahrhundert in den deutschen juristischen Wortschatz eindringen und die entsprechenden einheimischen Bezeichnungen ersetzen. Durch die breite Übernahme der Rechtstermini aus dem Lateinischen wird die Gruppe juristisch spezialisierter Wörter nicht nur „erheblich“ vergrößert, sondern es bildet sich ein „exklusiver Wortschatz“ heraus (Schmidt-Wiegand 1998: 89). Für die Herausbildung des juristischen Fachwortschatzes in Siebenbürgen spielt die Rezeption des Römischen Rechts und des Sachsenspiegels bzw. des Sächsisch-magdeburgischen Rechts eine nicht geringe Rolle (vgl. Moldt 2009). Ein gehäuftes Auftreten juristischer Fremd- und Lehnwörter lässt sich besonders in den Gerichtsprotokollen finden; sie werden unvermittelt in den deutschen Satzfluss eingebaut: (1) Uber dieses klage ich bej einem Löbl. Judicat bithend damit selbige injuria so sie an meinem bothen geübt nach erkantnuß möge gestrafft werden, daß sie mich aber einen betler geheißen, begehre ich auch nicht ungestrafft zu laßen, und weile sie mich in loco Publ. alß beim brunnen hat geschmehet, begehre ich daß sie daselbst sol revocieren, wo sie gesundiget (di juris) daß sie aber meine Daika eine hun gescholten begehre ich zu Docieren maßen sie ihren Ehelig Mann hat De eocter[ ] so waß vergeßen ut liceat pro et regredi protestor. (Prot.Jud., 2v). – (Die Klammern [ ] zeigen an, dass das Wort nicht ausgeschrieben ist.) (2) Auff ergangene Klage Matthiæ Hay contra Inctum sum Danielem Kein, negieret der Inctus die proponierte Injurien puncten meistens, und berufft sich per documenta Testni[ ] Ihme solches zu beweisen welche der Actor auch alß bald vor ein Löbl. Judicat produciret, so sub juramento als Testes folgendermaß[ ] fasiret. (Prot. Jud. 4r).
Den Beispielen ist zu entnehmen, dass die lateinischen Verben mit dem noch heute produktiven Suffix -ieren eingedeutscht werden, während der Gebrauch der Substantive auf der Folie deutscher Satzgrammatik den lateinischen Deklinationsregeln folgt. Konsequent erscheinen auf Latein metakommunikative Elemente mit Verweisfunktion. Dem Usus in Rechtstexten entsprechend werden sie z. T. als Kürzel verwendet: „J. Rp., Replicat A., Testes Actoris, Testes Jncti, Sententia“ (Prot.Jud.). Das nahtlose Einfügen von Rechtswörtern im engeren Sinne in den deutschen Satz, also solcher, die „von vornherein eine rechtsspezifische Sache [bezeichnen] und ohne diesen Zusammenhang nicht denkbar“ sind
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(Schmidt-Wiegand 1999: 2342), verweist zum einen auf einen intensiven Umgang mit lateinisch verfassten Rechtstexten, allerdings mit unreflektierter Rezeption einhergehend, zum anderen ist es ein Indiz für den begrenzten Aktionsradius der Gerichtsprotokolle. Für die Auseinandersetzung der siebenbürgischen Verfasser amtlicher und rechtlicher Texte mit der deutschen Sprache auf der einen Seite und ihren Umgang mit lateinischer Rechtsliteratur auf der anderen Seite ist es bemerkenswert, dass in den ältesten deutschsprachigen Magistratsprotokollen Latein als Amtssprache aufgegeben wird (Mitte des 16. Jahrhundert), als Fremdwörter nur Sigil und Testament, Testamenter vorkommen, während in den 50 Jahre späteren Magistratsprotokollen die Anzahl flexionsmorphologisch eingedeutschter Latinismen steigt. Dass der Adressatenkreis für den gehäuften Gebrauch von Fremdwörtern mitbestimmend ist, lässt sich aus der quantitativen und qualitativen Häufigkeitsfrequenz der Latinismen ablesen. Während sie in den Gerichtsprotokollen, wie es die Beispiele gezeigt haben, in einer bunten Vielfalt vorkommen, beschränken sich die Rechtswörter mit lateinischem Wortkörper in den Magistratsprotokollen, in denen Schlichtungen zu Streitigkeiten einer nicht unbedingt gebildeten Bevölkerung verzeichnet wurden, auf einige wenige: (3) Bei welchem vnsern vrteil beide Parte[ ] content gestand [ ] sein, one weittere p[ ]notation (Mag.Prot., 1590), (4) haben herwber eines Erszamen Rhads consens begertt (Mag.Prot. 1580), (5) Ein Ers. W. Radt angesehen die obbenentte bawfelligkeit dieses hauses, vnd der kinder armutt, hat in diesen kauf willigklich consenstyrt (Mag.Prot. 1590).
Welches ist das Schicksal der lateinischen Rechtstermini im Gegenwartsdeutschen? Der für ein deutsches Rechtswort stehende lateinische Fachterminus ist zwei Wege gegangen: Zum einen hat er sich in der zeitgenössischen juristischen Fachsprache erhalten: Beispielsweise bedeutet sistieren im Vertragsrecht der „vom Auftraggeber formell geforderte Stillstand in der Auftrags- bzw. Projektabwicklung, bei dem zunächst offenbleibt, ob der Auftrag bzw. das Projekt weitergeführt wird“ (DIN 69901) und im Prozessrecht „die vorläufige Festnahme durch die Polizei oder die Festhaltung zwecks Personalfeststellung“. Zum anderen hat das lateinische Rechtswort eine Bedeutungsverengung erfahren: dozieren ‚an einer Hochschule o. Ä. lehren, Vorlesungen halten‘ (DUW: 360), proponieren ‚vorschlagen, beantragen‘ (DUW: 1187), während es im Gerichtsprotokoll als ‚öffentlich hinstellen, öffentlich vortragen‘ zu verstehen ist.
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4.1.2. Paarformeln Neben der Formulierungsweise, bei der die lateinische Lexik für deutsche Begriffe steht, erscheint es dem Schreiber erforderlich, die lateinische juristische Terminologie den Adressaten deutsch zu vermitteln, denn sie waren des Lateinischen nicht oder in geringerem Maße mächtig. Als Möglichkeit, die lateinisch tradierten Rechtswörter in die deutsche Rechtssprache einzubürgern, wurden in den Magistratsprotokollen und den Zunftordnungen (wie in den Rechtstexten aus dem binnendeutschen Sprachraum, vgl. Schmidt-Wiegand 1998: 89) die Fremdwörter mit der deutschen Entsprechung in Paarformeln verbunden: (6) welcher vrsachen halben auch ein Ers.w Radt darein bewilliget vnd seinem consensum geben hatt (Mag.Prot. 1590), (7) Anno dni[ ] 1590 die 12 Noembris […], ist dise sache abermals fon eine[ ] Ers. W. Radt der hermanstadt Juridice disentijrt vnd geurteilt(Mag.Prot. 1590), (8) derohalben ein Ers. W. Radt solches alles gebilliget vnd confirmiret hat (Mag.Prot. 1590), (9) ein Ordnung oder Rechtfertigung der Statuta oder Gemech (ZO 1539).
Viel produktiver als das Nebeneinandersetzen von Fremdwort und entsprechendem deutschem Ausdruck ist die Verwendung in Paarformeln zweier deutscher Wörter, die durch Synonymie oder durch ein Verhältnis enger zeitlicher Abfolge verbunden sind, nach dem lateinischen Vorbild der regulae iuris, um die Rechtsvorgänge auch Laien vertraut zu machen (vgl. Schmidt-Wiegand 1998: 90, dies. 1999: 2346). Sie kommen vor allem in der Promulgatio, der Willenserklärung des Ausstellers (Bsp. 10, 11), der Narratio, die den Bericht über die Vorgänge einleitet (Bsp. 12– 14), und in dem einem Eschatokoll ähnlichen Schlussteil mit performativer Funktion (Bsp. 15–17) vor – also in den Textteilen mit ausgeprägter rechtlicher Textfunktion: (10) Myr BurgerMeyster vnd Ratth in der Stadt Hermanstadt, thun zu kundt vnd geben hirmit ein einiges gedechtnüs (Mag.Prot. 1556), (11) Mir thuen hiemitt zu kundt vnd zu wissen (Mag.Prot. 1560), (12) Vnd alda haben vorgemelt[ ] velten Derchell sampt der frauen Vrsula […] vns fürgetragen vnd angeczeiget (Mag.Prot 1560), (13) vnd haben vns furgebracht vnd angeczeigt (Mag.Prot. 1557), (14) vnd alda hatt der vorbestympt Paull Kerner, recht vnd redlich, mit einem reypfen vnd wolbedachtem Mutt, vngeczungen, angeczeiget, gesagt vnd bekannt (Mag. Prot. 1557), (15) solchs zubekrefftigen vnd czubestettigen (Mag.Prot. 1556), (16) dessen zu vrkundt vnd mehrer sicherheit, hab[ ] wir dem benantten Benedict Shustern […] disen vnsern ofnen brief […] verfertiget vnd bekreftiget, ausgeb[ ] (Mag.Prot. 1590),
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(17) Czu mehrer bekreffttigung vnd sicherheitt gebenn wir auch vnsernn gedrucktenn Sigil drauff (Mag.Prot. 1595).
Zuweilen kommt es zur Häufung synonymer oder bedeutungsähnlicher Wörter (s. auch Bsp. 14): (18) Wie sie denn fur gutt ansehenn billigennn bekrefftigenn vnd erkennenn (Mag.Prot. 1557), (19) das obgemelter vrsachen halben. Solcher wechsell fur sich ßoll gehen, bestendig vnd bey krepften bleiben (Mag.Prot. 1556).
Die Glieder der Paarformel haben sich dabei unter dem Aspekt des semantischen Wandels (vgl. Nübling 2008: 108-133) in unterschiedliche Richtungen verändert: a) So liegt in der Bedeutungsentwicklung von kunde und gedechtnis (s. Bsp. 10) Bedeutungsverengung vor: kunde bedeutete im Ausdruck thun zu kund ‚das auf ein bestimmtes Wissen, Bekanntheit beruhende Zeugnis, Beweis‘ (DRW 8: Sp. 77f.) und gedechtnüs ‚Beweissicherung‘ (DRW 3: Sp. 1335f.), wodurch zwischen den beiden Gliedern der Paarformel Synonymie besteht. b) In den Paarformeln fürgetragen vnd angeczeiget (Bsp. 12) bzw. furgebracht vnd angeczeigt (Bsp. 13), zubekrefftigen vnd czubestettigen (Bsp. 15) macht nur eines der Glieder eine semantische Transformation durch: Während anzeigen seine Bedeutung als Rechtsterminus ‚eine Person oder Sache anzeigen, denunzieren, anklagen‘ (DRW 1: Sp. 794) beibehalten hat, gleichwohl einhergehend mit weiterer Bedeutungsdifferenzierung (vgl. DUW: 130), findet bei vorbringen (vgl. DUW: 1690) und vor allem bei vortragen (vgl. DUW: 1698) eine sehr greifbare Bedeutungsverschiebung statt. Bekräftigen hat eine Bedeutungsverengung im Sinne einer Bedeutungsintensivierung erfahren: Während es in frühneuzeitlichen Texten synonym zu bestätigen gebraucht wurde (vgl. DRW 1: Sp. 1506), wie auch die Paarformel zeigt, trägt es in Lexika zum Gegenwartsdeutschen die Bedeutung ‚nachdrücklich bestätigen‘ (DUW: 231). c) Herausgehoben sei auch der dreigliedrige Ausdruck fur sich ßoll gehen, bestendig vnd bey krepften bleiben (s. Bsp. 19), bei dem das erste Glied der Gemeinsprache angehört, die anderen beiden als Rechtstermini fungieren (vgl. DRW 2: Sp. 169f. und 7: Sp. 1370–1373). Das frühneuzeitliche polyseme bestendig macht im Laufe der Zeit den Wandel zu einem Denotat mit allgemeiner Bedeutung durch, in dem die juristische Bedeutung ‚rechtskräftig‘ untergeht.
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4.1.3. Erbwörter als Rechtstermini Machen wir einen Schwenk zu den eingliedrigen Denotaten. Bei der großen Anzahl von Belegen rechtssprachlicher Latinismen soll nicht der Eindruck entstehen, dass Erbwörter nicht zum juristischen Fachwortschatz in siebenbürgischen Texten gehörten. Die aus dem Germanischen erhaltenen Rechtswörter fungieren zum einen als Rechtswörter im engeren Sinne, mit einer festen Bedeutung innerhalb eines rechtlichen Kontexts, und zum anderen stammen sie aus der Gemein- oder der Alltagssprache und dienen zwar auch zur Bezeichnung von Rechtsgegenständen, haben daneben aber ihre allgemeinsprachliche Bedeutung erhalten. Die gemeinsprachlichen Wörter, die im „rechtstechnischen“ Sinne gebraucht werden und eine „außerrechtliche Sache nur rechtlich werten“, werden als Rechtswörter im weiteren Sinne bezeichnet (Schmidt-Wiegand 1999: 2342). Zu den bekannten Beispielen, die im Germanischen Rechtswörter im engeren Sinne waren und im Laufe der Sprachentwicklung, bereits im Althochdeutschen, eine immense Bedeutungserweiterung erfahren haben, gehören Sache und Gemach/Gemech bzw. machen, das Gemachte. Auch in den Magistratsprotokollen werden sie als Termini technici benutzt (s. auch Bsp. 9): (20) Nach dem sie, Nemlich Joannes frytsch vnd wolpf Kyrsner die sache nit weiter gezogen hetten (Mag.Prot. 1559), (21) Item, ynn dem Yor 1519 haben dy erlich Mayster gemacht eyn Gemech (ZO 1519), (22) das sie ein vergleichung zwischen in machen vnd schapfen sollen (Mag.Prot. 1556).
Aus ahd. tagadinc wird teiding ‚die auf einen bestimmten tag (termin) anberaumte gerichtliche verhandlung‘ (DWB 21: Sp. 233): (23) der Paul kirtscher aber sagte, wolt mit sampt seine[ ] geschwestert mit in die tedig einstehen, auf gewin vnd verlust (Mag.Prot. 1593).
Im Unterschied zu sache und machen ist das Simplex teiding untergegangen; es hat sich nur in der Ableitung verteidigen erhalten (vgl. DWB 25: Sp. 1875). Ein weites Bedeutungsspektrum weist gewohnheit auf, das unter dem Einfluss von lat. consuetudo als Rechtsbegriff (vgl. DWB 6: Sp. 6532ff.) zu erfassen ist. Es ist (1.) das tradierte Recht im Unterschied zum gesatzten Recht oder aber es umfasst dieses mit, (2.) bezeichnet gewohnheit einen gewissen Rechtsbrauch oder eine bloße Sitte und steht damit im Gegensatz zu Recht. Die Grenzen sind fließend (vgl. DRW 4: Sp. 813). In den
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Hermannstädter Texten bezeichnet Gewohnheit das hergebrachte Recht einer Körperschaft: (24) nach gewonheit der Stadt, nach dorpfs gewonheitt, die Gewonhayt in der Hermanstat (ZO 1469)
– das Recht der Gebietskörperschaften; (25) das ist der Czechen Gewonheyt (ZO 1485), von wegen der Ordnung vnnd Gewonheyt des Handtwerks (ZO 1506), nach ordenlicher Gewonheyt vnd Czech Gerechtikeyt (ZO 1523)
– das Recht der Zünfte. Die Paarformel Ordnung vnnd Gewonheyt unterstreicht die Bedeutung ‚lex‘, das Adjektiv ordenlich deutet auf tradiertes Recht hin. 4.1.4. Siebenbürgische Rechtstermini Neben diesen Rechtswörtern, die in binnendeutschen Rechtstexten weit verbreitet sind, begegnen manche, die auf Siebenbürgen beschränkt zu sein scheinen oder dort besonders häufig vorkommen: (26) dessen zu mehrerm glauben ist ein offentlich Aldamasch ‚Kauftrank‘ daruber getrunken worden (Mag.Prot. 1591)
– aus ung. áldomás (vgl. Sb.-sächs. Wb. 1, 76-79). Davon wird auch das Kompositum Almesch Herren ‚Zeuge bei einem Almesch‘ (Sb.sächs. Wb. 1, 79) gebildet. (27) was von im gehandelt ader geredt wirt in der Beschlyssung ‚Versammlung‘ der Czech vnd der Mester (ZO 1494)
– an anderer Stelle in der verbreiteten Bedeutung ‚Beschluss‘ (Sb.sächs. Wb. 1, 540), ‚Beschlussfassung‘ DRW 2: Sp. 104): „Beslissung der vorgemelten Artickel“ (ZO 1512). (28) vnd ÿn der Czechen Gehorssomkith ‚Recht, Ordnung‘ ewch erbittith (ZO 1469)
– ansonsten ‚Gehorsam, Verpflichtung zu Abgaben, Oberhoheit‘ (DRW 3: Sp. 1513). Neben den drei aufgezählten Rechtswörtern kommt eines vor, das an anderer Stelle nicht nachgewiesen werden konnte: (29) Item, dass ist vnser Czechen Gerechteket vnd Gevoneheit ab andert an erber Mester enen Lerjungen het, ab dass her en ab Seymung vol machen mit im, dass sal verboden seyn vnd ist vider Czechen Gerechtekeit (ZO 1457).
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Die Herausgeber der Zunftordnungen geben ‚Abmachung‘ an (ZO: 523). Adelung (4: Sp. 38) und DWB (16: Sp. 227) gehen dagegen beim Verb seimen von einem Honig-Kontext aus: ‚das wachs und die unreinigkeit von dem flüssigen honig absondern‘. Damit bedeutet Abseimung ‚Absonderung, Abscheidung‘. Das DRW (1: Sp. 241f.) führt unter Abscheidung ‚Dienstentlassung‘ an (Ich danke Frau Eva-Maria Lil, Deutsches Rechtswörterbuch Heidelberg, für den Hinweis.). 4.2. Zünftischer Fachwortschatz Im Mittelpunkt der siebenbürgischen Zunftordnungen steht vor allem das Funktionieren der Zunft: Eintrittsvoraussetzungen, die Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen, Bedingungen zur Erlangung des Meistergrades, Mitgliederversammlungen, Strafen für Vergehen innerhalb der Zunft, Kundenschutz, wirtschaftliches Handeln, soziale Absicherung, Zunftharmonie und Moral, weniger der Herstellungsprozess handwerklicher Güter. Dies führt zum einen zum Fehlen einer Theoriesprache, zum anderen ist zünftische Sprache aufgrund des lokal beschränkten administrativen und rechtlichen Geltungsbereichs der Zünfte durch einen engen Kommunikationsradius und die Existenz einer einheitlichen Arbeitswelt mit individuellerer Kommunikation bestimmt, anders als dies der Fall in der späteren Zeit der industriellen Produktion sein wird (vgl. Fluck 1996: 29). Die geringe räumliche Distanz zwischen den Ausstellern der Zunftordnungen und deren Empfängern bewirkt eine stark individuell geprägte Kommunikation. Der Wortschatz weist lokal gefärbte Elemente auf, die Grenze zwischen Termini technici und Wörter der Gemeinsprache mit fachspezifischer Bedeutung ist fließend. 4.2.1. Fremdwörter Der Anteil an Fremdwörtern ist in den Zunftordnungen aus Siebenbürgen sehr gering, was aber nicht verwundert, denn Handwerker waren keine Akademiker und des Lateins nicht mächtig: Als Latinismen findet sich die Materya, Materych, letzteres wohl eine eingedeutschte Form, für ‚Meisterstück‘ (DRW 9: Sp. 359), das ebenfalls bezeugt ist. Diese Bedeutung des lateinischen Terminus technicus schwindet. Dazu wird das Verb materien bzw. materichten gebildet. Ein zweites Beispiel ist Artificium ‚Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit‘ (Lat.-dt. Wb., 1: Sp. 599f.), es kommt nur einmal vor.
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4.2.2. Semantischer Wandel a) Spezialbedeutung und Bedeutungsschwund Als herausragendes Beispiel für Polysemie und der Herausbildung einer Spezialbedeutung sei die Bezeichnung für handwerkliche und kaufmännische Verbände in den siebenbürgischen Zunftordnungen angeführt. Ohne wie in Mitteleuropa zwischen Gilde und Zunft zu unterscheiden (vgl. Cordt 1984: 70), findet sich in Siebenbürgen für Verbände der Kaufleute und der Handwerker allein der Ausdruck Zeche, für Handwerker daneben auch Handwerk, Mittel und Mittlung. Wortgeographisch gehören Zeche und Handwerk in das gesamte südöstliche deutsche Sprachgebiet (vgl. Schmidt-Wiegand 1985: 39-52, Irsigler 1985: 66-68), im Ungarischen existiert céh als Entlehnung für Zeche, Zunft oder Innung (Moldt 2009: 127). Im heutigen Deutsch ist diese Bedeutung geschwunden; über ‚Umlage, gemeinsam aufgebrachtes Geld für Essen und Trinken‘ hat sie sich zu ‚gemeinsames Essen und Trinken‘ gewandelt (Kluge 2002: 1005). Gut ausgebildete Lehrlinge und Gesellen waren sehr beliebt. [W]en eyn Meyster den anderen seyn Gesind wirth abhendig machen (ZO 1518), bedeutet es nicht, dass die Handwerksgesellen und Lehrlinge verloren gehen werden, eine Bedeutungsrichtung, die sich im Verb abhanden erhalten hat (DWB 1: Sp. 54), sondern, dass der eine Meister sie dem anderen abspenstig gemacht hat. Polysemie kann sich im selben Text manifestieren: In Bsp. (30) bedeutet aufstehen ‚weggehen‘, in Bsp. (31) ‚Stellung beziehen‘; es sind mithin Bedeutungsvarianten, die mit der Zeit abgebaut werden: (30) Item so ein gesell von seinem Meister auffstehen will, soll ers seinem Meister 8 Tag czuvor anczeigenn (ZO 1577), (31) Item wenn ein Gesell seinem Meister mitt falschem Gewicht befundenn wirdt, so sol der Gesell daher auffstehen vndt es dem Alttknecht anczeigenn (ZO 1577).
b) Wortschwund Wenn in den vorausgehenden Beispielen lediglich Schwund einer Bedeutungsvariante vorliegt, handelt es sich bei den folgenden, die spezifische Tätigkeiten in einer Zunft bezeichnen, um Denotate, die aus dem Wortschatz gänzlich ausgeschieden sind: Das Verb eindingen bzw. die substantivische Derivation Eingeding ist die Einstellung der Lehrjungen (vgl. DRW 2: Sp. 1373): (32) wenn myr eynenn Junghenn eynn dynghn auff vnser Hantwerck (ZO 1500), (33) vnd ein Leer Jung soll eingedingt werden nach Zech Gewonheytt vnd soll geben bey das Eingeding in die Zech (ZO 1539).
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Das Verb eynbitten in (34) benennt das Bitten um Aufnahme in Verwandtschaft, Zunft, Kirchengemeinschaft (vgl. DRW 2: Sp. 1366), wie auch der Kontext durch sich einrichten (s. auch DRW 2: Sp. 1442) suggeriert; laut den Belegorten (vgl. ebd.) sind beide in dieser Bedeutung nur in Siebenbürgen belegt: (34) Ein iegliger der da Meister will werden, der gibt in die Czech sich einzurichten Floren 6 vnd 4 Pfundt Wachs vnd soll zum ersten Einbitten auffs wenigst niederlegen Floren 1 oder Floren 2 vnd die andere mit der Zeit bis volkommene Zeit bezahlen (ZO 1551).
c) Bedeutungsverschiebung Ein besonders anschauliches Beispiel der Bedeutungsverschiebung ist auswendig ‚außerhalb von etwas, auswärtig‘ (DRW 1: Sp. 1138), das auf ein von wenden bzw. Wand abgeleitetes wendig (DWB 1: Sp. 1014) zurückgeht: (35) Item welcher Knecht hot leren arbyttÿn awsswenig, der Czech (ZO 1469).
d) Bedeutungsverengung: Vom polysemen Gesinde ‚Gefolgsleute, Hausleute, Hintersassen, Bauernhof, Schar, Leute, Gattung, Art, Gesindel‘ (DRW 4: Sp. 540-545) kommt in den siebenbürgischen Zunftordnungen die Bedeutung ‚Handwerksgesellen und Lehrlinge‘ zum Tragen. Im Laufe der Zeit werden alle Bedeutungsvarianten bis auf ‚Gesamtheit der Knechte und Mägde‘ (DUW: 601) fallen gelassen. Wenn aber der Jung dem Mann auss gedienet hat, bedeutet es nicht – als eine Bedeutungsverengung –, dass es sich um einen jungen Mann handelt, der seinen Militärdienst beendet hat, oder dass er unbrauchbar wäre, wie ein Paar Schuhe z. B., womit der Ausdruck eine Bedeutungsverschlechterung durchgemacht hätte (DUW: 173), sondern ein Lehrjunge hat abgedient, hat eine festgesetzte Zeit zu Ende gedient (vgl. DRW 1: Sp. 1005). 4.2.3. Fachwörter der Handwerkssprache Handwerkliche Fachwörter kommen in den siebenbürgischen Zunftordnungen im Zusammenhang mit Bestimmungen zur Qualitätssicherung und der Festlegung von Strafen für diesbezügliche Vergehen vor. Wenn es sich bei den vorausgehend dargestellten Fachwörtern um Denotate mit allgemeingültiger Bedeutung innerhalb aller Zünfte handelt, unabhängig von ihrem Profil, weisen die Fachwörter des Handwerks eine der Sach-
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welt entsprechende Spezialisierung auf. Sie hier alle vorzustellen, bedeutete Wortlisten zu zeigen, die den Rahmen dieses Beitrags sprengen würden. Es seien daher einige handwerkliche Fachwörter als Beispiel angeführt, deren Bedeutung nicht in die Gemeinsprache eingedrungen ist oder aber deren in der Gemeinsprache realisierte Bedeutungsvarianten wenig mit der handwerklichen Bedeutung gemeinsam haben: –
Sprache der Kürschner:
(36) vnd der selbig meyster das Gewant ab czechent mit der Kreyde (ZO 1485).
Handwerkliche Bedeutung (ZO: 523): ‚(einen Schnitt) zeichnen‘; heutige Bedeutung (DUW: 75): 1. ‚zeichnend genau wiedergeben‘ ĺ Bedeutungserhalt, 2. ‚mit seinem Namen versehen‘ ĺ Bedeutungsverschiebung, 3. reflexiv gebraucht: ‚sich abheben, sich widerspiegeln‘ ĺ metaphorischer Gebrauch. (37) aber welch Kwrssknecht nicht wolt fleyschen ader lyderen das Tagwerckt (ZO 1512).
Handwerkliche Bedeutung (ZO: 539): fleischen ‚das Fleisch von der Aasseite des Felles durch Schaben entfernen‘; das Wort schwindet aus dem Wortschatz. – Handwerkliche Bedeutung (ZO: 555): lyderen ‚abhäuten‘; heutige Bedeutung (DUW: 938): 1ledern = 1. mit einem Ledertuch reiben, 2. verprügeln; 2ledern 1. aus Leder gemacht, lederartig, 2. langweilig ĺ Bedeutungsschwund. –
Sprache der Tuchmacher:
(38) von iedrem Phunt Wall tzu schlagen vnd tzu kartettschen (ZO 1577).
Handwerkliche Bedeutung (ZO: 551): ‚kardätschen, Wolle kämmen‘; heutige Bedeutung (DUW: 813): ‚bürsten‘ (Pferde) ĺ Bedeutungsverengung. (39) von einem Tuch aus tzu kartlen (ZO 1577).
Handwerkliche Bedeutung (ZO: 551): ‚kardeln, Tuch rauhen‘; heutige Bedeutung (DUW: 813): ‚mit der Karde bearbeiten, Vorrichtung zum Glätten büscheliger Fasern‘ ĺ Bedeutungserhalt. –
Sprache der Gerber:
(40) Item welcher Knecht nicht wolgelerntt hatt, der soll halben Einstoes habenn, ader nur halbenn Lonn (ZO 1523).
Handwerkliche Bedeutung (ZO: 536): ‚Einstossen des Leders‘ (vgl. aber DRW 2: Sp. 1469: als Substantiv ‚Gewannbezeichnung‘, als Verb ‚einen
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scharfen oder spitzen Gegenstand in etwas stoßen‘, ‚mit einem heftigen Stoß nach innen drücken‘, ‚durch Aufstoßen prall füllen‘, ‚zusammenwerfen‘, ‚Dirnen beherbergen, verkuppeln‘); heutige Bedeutung (DUW: 413): ‚(einen scharfen oder spitzen Gegenstand) in etwas stoßen‘, ‚mit einem heftigen Stoß nach innen drücken‘, ‚durch heftiges An-, Dagegenstoßen eine Verletzung beibringen‘, refl. gebraucht ‚sich durch einige Stöße auf den Wettbewerb im Kugelstoßen vorbereiten u. aufwärmen‘ ĺ Bedeutungsschwund.
5. Fazit Juristische Fachwörter fremder Herkunft, meist Latinismen, lassen sich vor allem in den Gerichtsprotokollen registrieren, die unter Juristen – also unter Rezipienten der frühneuzeitlichen lateinischen, nicht national gebundenen Rechtswissenschaft (ius commune) – kursieren. In den Magistratsprotokollen über Verhandlungen, die die juristisch nicht versierte Bevölkerung betreffen, wird durch die Nebeneinanderstellung des deutschen Begriffs neben dem lateinischen ein Kompromiss gemacht, indem zum einen das tradierte lateinische Fachwort steht, zum anderen Laien keine Verständigungsschwierigkeiten haben. Deutsche Paarformeln bestehen aus Synonymen und gehen auf diese Vorgehensweise zurück. Auch in den Zunftordnungen, deren Adressaten nicht akademisch gebildete Handwerker sind, ist der Anteil der Fremdwörter sehr gering, im wesentlichen auf die rechtlichen Bestimmungen beschränkt, Übernahmen aus anderen Sprachen erscheinen eingedeutscht (Lehnwörter). Erbwörter haben zum Teil einen tiefgreifenden Bedeutungswandel durchgemacht, wobei die einst juristische oder handwerkliche Bedeutung in der Regel abgebaut wurde, oder aber sie sind ganz aus dem Wortschatz ausgeschieden. In der Fachkommunikation aus Siebenbürgen lässt sich schließlich ein enger Zusammenhang zwischen der Herkunft der Fachwörter auf der einen Seite und den Entstehungsvoraussetzungen und Adressaten der Texte auf der anderen Seite feststellen.
Quellen Mag.Prot. 1522–1565 = Prothocollon Prouinciae Saxon Necnon Ciuitatis Cibinie<nsis> Sub Anno Dommini 1522 feliciter ceptum et congestum, Kreisamt Hermannstadt des Staatsarchivs, Magistratul Oraşului şi Scaunului Sibiu. Protocoale de Şedinţă nr. 1.
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Mag.Prot. 1566–1637 = Sitzungsprotokolle des Magistrats 1566–1637, Kreisamt Hermannstadt des Staatsarchivs, Magistratul Oraşului şi Scaunului Sibiu. Protocoale de Şedinţă nr. 2. Prot.Jud = Protocollum judiciale pro anno 1691, Kreisamt Hermannstadt des Staatsarchivs, Magistratul orașului și scaunului Sibiu, Instanţa judelui regal, nr. 26. ZO = Vlaicu, Monica (2003): Handel und Gewerbe in Hermannstadt und in den Sieben Stühlen, 1224–1579, (Quellen zur Geschichte der Stadt Hermannstadt 2), unter Mitarbeit von Radu Constantinescu, Adriana Ghibu u.a., Sibiu.
Literatur Adelung, Johann Christoph (1990): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundartmit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 4 (Seb–Z), 2. Ausgabe, Leipzig 1793, Nachdruck Hildesheim, New York. Cordt, Ernst (1984): Die Gilden. Ursprung und Wesen, (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 407), Göppingen. DRW = Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Weimar 1914ff. DUW = Duden. Deutsches Universalwörterbuch A–Z, Hg. u. bearb. v. Wiss. Rat unter der Mitarbeit der Dudenredaktion unter Leitung von Günter Drosdowski, unter Mitwirkung von Maria Dose u.a., 2. Aufl., Mannheim/Wien/Zürich 1989. DWB = Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 16 (= 32) Bde, Leipzig 1854– 1960, Neubearbeitung: 1965ff., Nachdr. 1984. Fluck, Hans-Rüdiger (1996): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie, 5. Aufl., Tübingen, Basel. Irsigler, Franz (1985): Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, in: Berent Schwineköper (Hg.), Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter, (Vorträge und Forschungen 29), Sigmaringen, 53-70. Kluge, Friedrich (2002), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl., bearb. v. Elmar Seebold, Berlin/New York. Lat.-dt. Wb. = Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 8. Aufl., Hannover 1913, Nachdruck Darmstadt 1998. Moldt, Dirk (2009): Deutsche Stadtrechte im mittelalterlichen Siebenbürgen. Korporationsrechte, Sachsenspiegelrecht, Bergrecht, (Studia Transylvanica 37), Weimar/Wien. Niederhauser, Jürg (1999): Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung, (Forum für Fachsprachen-Forschung 53), Tübingen. Nübling, Damaris (2008): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachewandels, 2. Aufl., in Zusammenarb. m. Antje Dammel, Janet Duke u. Renata Szczepaniak, Tübingen. Schmidt-Wiegand, Ruth (1985): Die Bezeichnungen Zunft und Gilde in ihrem historischen und wortgeographischen Zusammenhang, in: Berent Schwineköper (Hg.), Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter, (Vorträge und Forschungen 29), Sigmaringen, 31–52.
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Schmidt-Wiegand, Ruth (1998): Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters, in: Werner Besch/Anne Betten/Oskar Reichmann/ Stefan Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 1. Teilband, (HSK 2.1), Berlin/New York, 87–98. Schmidt-Wiegand, Ruth (1999): Der Rechtswortschatz im Sachsenspiegel, in: Lothar Hoffmann/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, (HSK 14.2), 2. Teilband, Berlin/New York, 2341–2348. Sb.-sächs. Wb. = Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch. Bd. 1 (A–C). Bearb. v. Adolf Schullerus. Berlin, Leipzig 1924. Bd. 3 (G). Bearb. v. Annemarie BieseltMüller, Bernhard Capesius, Arnold Pancratz, Gisela Richter, Anneliese Thudt, Berlin/Bukarest 1971.
Angelika O’Sullivan (Gießen)
Althochdeutsche Gerätebezeichnungen 1. Ausgangssituation Die Idee einer kulturwissenschaftlich orientierten Arbeit zum Thema Bezeichnungen für Geräte im Althochdeutschen ergab sich aus dem Interesse an der Frage, inwieweit die historische Sprachwissenschaft zur Kulturgeschichte der betreffenden Epoche beitragen kann. Da sich in der archäologischen Forschung ein immer stärker auf die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Disziplinen ausgerichteter Forschungsansatz verbreitet, war es interessant zu erfahren, welche Aussagekraft eine an die Ergebnisse der historischen Sprachwissenschaft und die der archäologischen Forschung geknüpfte interdisziplinäre Arbeit besitzt.1 Die Auswahl der Waffen als Untersuchungsmaterial2 war insofern entscheidend für die weiteren Auswertungen, da die archäologische Forschung für die Beschäftigung mit der karolingerzeitlichen Bewaffnung ausreichend Vergleichsmaterial,3 wenn auch begrenzt, zur Verfügung stellt. Es gibt mehrere Quellengattungen,
1
2 3
Die Hinwendung zur Naturwissenschaft resultiert einerseits aus der negativen Einschätzung der „Wörter- und Sachen-Forschung“, die aber auch seitens der Sprachwissenschaft Kritik erfuhr, andererseits aus der Unkenntnis solcher Arbeiten, die mit Hilfe der historischen Sprachforschung zur Erhellung der Lebensweise und Kultur der jeweiligen Epoche beitragen könnten. Gerade im Hinblick auf die bessere Erfassung der karolingerzeitlichen Bewaffnung ist die archäologische Forschung auf die Hilfe der Nachbarwissenschaften angewiesen. Diese Studie ist Teil einer größeren Untersuchung, die die althochdeutschen Gerätebezeichnungen zum Gegenstand hat. Das sprachwissenschaftliche Untersuchungsmaterial stellen vorrangig die in den althochdeutschen Glossen überlieferten Wörter dar. M. Last (1976: 466) spricht von einer „… relativ günstigen Quellenlage“. Allerdings ist die Kenntnis der Bewaffnung in der archäologischen Forschung vom Quellenstand abhängig, in großem Umfang sind nur Waffen und Waffenteile erhalten, welche aus unvergänglichem bzw. schwer vergänglichem Material bestehen. Waffen aus Holz, Geweih, Knochen sind archäologisch nur bei sehr guten Erhaltungsbedingungen, d.h. günstigen Bodenverhältnissen, zu fassen. Hier kommt der Auswertung der Glossen eine besondere Bedeutung zu, nämlich bei der Erfassung von Bezeichnungen von Waffen, bzw. Waffenteilen, welche aus organischem Material bestehen und archäologisch schwer bzw. gar nicht zu fassen sind.
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wie Grabfunde, Buchmalereien und Elfenbeinminiaturen, wobei letztere oft älteren und selten bekannten Vorlagen folgen (Tackenberg 1969: 277), die uns Kenntnis über die Bewaffnung der karolingischen Zeit ermöglichen. Der Auswertung der althochdeutschen Glossen,4 namentlich der sprachlichen Erfassung der Waffen, wurde aber bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Hüpper-Dröge 1983: 2). Als besonders aussagekräftig werden die Rechtsquellen beurteilt, die bereits vor der althochdeutschen Glossenüberlieferung entstanden und den Beginn der sprachlichen Überlieferung des Deutschen darstellen. So ist in der archäologischen Forschung die Kenntnis über die Bewaffnung der Karolingerzeit von mehreren Aspekten beeinflusst.5 Seit der späten Merowingerzeit brach im Fränkischen Reich in den rechtsrheinischen Gebieten durch die Christianisierung die Waffenbeigabe in den Gräbern ab,6 und somit ist es kaum möglich, die in den Gräbern überlieferten Funde bezüglich der sozialen Stellung des Bestatteten zu deuten.7 Deshalb darf ihre Interpretation bezüglich der karolingerzeitlichen Bewaffnung nur „… unter Vorbehalten und nach jeweils individueller Prüfung“8 erfolgen und sie bedürfen daher einer entsprechenden Quellenkritik.
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Es gibt lediglich zwei Studien zu althochdeutschen Waffenbezeichnungen, die vorrangig den Wortschatz der althochdeutschen Glossen untersuchen: Maschke (1926) und HüpperDröge (1983). Die Zahl der Fundstücke aus dem Bereich „Bewaffnung“, die der archäologischen Forschung zur Verfügung stehen, stammt in erster Linie aus beigabenführenden Gräbern. In der Vor- und Frühgeschichte wird die Überlieferung der Grabfunde ferner durch die Beigabensitte der jeweiligen Epoche bestimmt. Das wiederum bedeutet, dass die in Gräbern vorgefundenen Waffen nicht unbedingt die tatsächliche Bewaffnung des Begrabenen zu seinen Lebzeiten repräsentieren. Vgl. Steuer – Last (1969: 5). Es gibt neben Grabfunden noch zahlreiche Streufunde und einige Siedlungsfunde. Waffen aus karolingerzeitlichen Befestigungen sind nur vereinzelt vertreten. Vgl. Last (1972: 80). Last (1976: 467); Stein (1967: 206f.). Der Abbruch der Waffenbeigabe kann genauso mit der christlichen Sitte bzw. mit dem Erbrecht zusammenhängen, Waffen an die Kirche, bzw. Familienangehörigen weiterzugeben. Stein (1967). Obwohl die Arbeit viele kritische Rezensionen erhalten hat, ist sie bis heute eine grundlegende Darstellung der karolingerzeitlichen Bewaffnung. Beispielsweise der „Stuttgarter Psalter“, ein Werk aus St. German-des Prés, das um 820 entstanden ist. Vgl. Last (1972: 81).
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2. Das Wörterbuch der althochdeutschen Waffenbezeichnungen (Auszug) Für die Erfassung der althochdeutschen Waffenbezeichnungen wurde ein Wörterbuch der gesamten karolingerzeitlichen Bewaffnung mit Hilfe onomasiologischer Untersuchungen zusammengestellt.9 Vor Beginn der Untersuchungen, war es allerdings erforderlich, den Begriff „Bewaffnung“ näher zu definieren. Unter dem allgemeinen Begriff „Bewaffnung“ werden Schutz- und Angriffswaffen zusammengefasst. Zu den Schutzwaffen des Frühmittelalters zählt das „Lexikon des Mittelalters“ Helm, Schild und Panzer, zu den Angriffswaffen werden die Schlag-, Stangen- und Fernwaffen aufgeführt (vgl. Gamber 1983: 22). Bei den folgenden Untersuchungen wurden die Waffenbezeichnungen im Sinne des „Lexikons des Mittelalters“ verwendet, es wurden nur solche Waffen näher untersucht, welche zur Bewaffnung eines Einzelnen gehören. Im engeren Sinne wird von einer Waffenausstattung ausgegangen, welche hauptsächlich am Körper des Kriegers getragen worden ist, wobei die Funktion der jeweiligen Waffe als Angriffs- oder Schutzwaffe, bei der Ermittlung der Waffenbezeichnungen im Althochdeutschen erstmals keine entscheidende Rolle spielte10. Eine weitere Einschränkung erfuhren Bezeichnungen, die auf den ersten Blick eher reine Werkzeuge darstellen.11 Nach den oben angeführten Kriterien wurden insgesamt 102 Kandidaten für Waffenbezeichnungen12 ermittelt. In das „Wörterbuch für Waffenbezeichnungen“ wurden schließlich 87 Lexeme aufgenommen, deren Bedeutungen so exakt wie möglich aus den Kontexten der jeweiligen 9 Die lexikalische Basis für die Untersuchung lieferten die althochdeutschen Bezeichnungen aus dem „Althochdeutschen Glossenwörterbuch“ von T. Starck und J. C. Wells (StWG.) und „Althochdeutschen und altsächsischen Glossenwortschatz“ (SchGlW) Rudolf Schützeichels. 10 Messer werden bewusst nicht näher untersucht, hier spielt Länge, Breite, Funktion bzw. Kontext eine entscheidende Rolle bei ihrer Bestimmung als Waffe. Kleidungsstücke bzw. Trachtbestandteile, wie Gurt, Gürtel, Schwertgehänge, die zur Befestigung der Waffen dienten, wurden bei der Untersuchung ebenfalls nicht berücksichtigt. 11 So wurde z.B. ‚Axt, Zimmeraxt, Queraxt‘ zu ahd. dehsala, dehsal nicht im „Wörterbuch für Waffenbezeichnungen“ aufgenommen, wobei man beachten sollte, dass ursprüngliche Arbeitsgeräte, wie Axt und Beil auch im Kampfgeschehen Verwendung finden konnten; sie sind aber im klassischen Sinne keine Waffen. 12 Unter den Waffenbezeichnungen erscheinen auch Wörter, die sprachgeschichtlich eher dem Mittelhochdeutschen angehören, welche aber sowohl im „Althochdeutschen Glossenwörterbuch“ als auch in E. Steinmeyers Glossensammlung noch aufgenommen wurden. Diese mittelhochdeutschen Lexeme, die bei den Waffenbezeichnungen relativ großen Anteil (15 Wörter) besitzen, werden bei der Auflistung durch Unterstreichen gekennzeichnet. Lexeme, die nach der dialektalen Bestimmung dem Altsächsischen, Mittelniederdeutschen, Altenglischen angehören, wurden ausgeklammert.
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Belegstellen ermittelt wurden. Hier wurde versucht, konsequent auf die aktuellen Bedeutungen unter Verzicht auf jedwede etymologische Spekulation zu achten.13 Erst wird das althochdeutsche Interpretament aufgeführt und die grammatische Bestimmung seiner Wortart, gefolgt von seiner neuhochdeutschen Bedeutungsangabe und den zugehörigen lateinischen Lemmata. Hier ein Beispiel für den Aufbau des „Wörterbuches für Waffenbezeichnungen“: bogafuotar st. N. ‚schützender Überzug über den Bogen, Köcher‘ – corytus, eigtl. ‚der Bogenbehälter, Köcher‘ (unter gorytus Georges 1,2952), pharetra ‚Köcher‘ (Georges 2,1681). Glossen zu nicht biblischen Schriften: II, 143,17 (Schida) bogfode; Can. conc. Afric. C, Leipzig, UB. Rep. II. 6; StSG. 261, BStK. 384, 10. Jh., ostfrk. u. mfrk. II, 716,3. 29 Coritus (E. Steinmeyer: goryti Ed.) dicitur proprie bogeuuoder; Verg. Aen. X, 169, Paris, BN. lat. 9344; StSG. 509, BStK. 752, 10./11. Jh., mfrk. Mayer, 26,1 coriti, pharetra vel bogevoter, Verg. Aen. X, 169, Edinburgh, National Library of Scotland Adv. MS. 18. 5. 10; StSG. V, BStK. 107, S. V, Hs. 12. Jh. Glossare: III, 161,8 Corít bogefůter, Summarium Heinrici (A), Trier, StadtB. 1124/2058; StSG. 568, BStK. 882, ausgehendes 12. u. 14. Jh., mfrk. nach rheinfrk.-obd. Vorlage, Coritus bogofůter, Einsiedeln, StiftsB. cod. 171; StSG. 110, BStK. 118, StSG. 110, 12. Jh., alem., fränk.-obd., bair.fränk., Coritus bogefvts, München, BSB. Clm 2612; StSG. 313, BStK. 461, 12./13. Jh., bair., Coritus bogefût, Wien, ÖNB Cod. 2400; StSG. 617, BStK. 945, Anf. 13. Jh., bair., Coritus bogi snǂr fůter, Prag, Universitní knihovna, MS XXIII E 54; StSG. 525, BStK. 786., 13. Jh., fränk.-obd. III, 215,60 Coritus bogefůter; Gruppengl., Summarium Heinrici (B), De armis, St. Blasien, StiftsB., verschollen; StSG. 35, BStK. 68, StSG. 35, 14. Jh. III, 668,38 Curitus pogiuoitir; Mischgl., Innsbruck, UB. 711; StSG. 243, BStK. 287, 13. Jh., bair. 13 15 weitere Lexeme, die auf Grund unklarer Bedeutungsangaben in den Wörterbüchern ebenfalls als Kandidaten für das Wörterbuch für Waffenbezeichnungen genannt werden, wurden ausgeschlossen.
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SH. I, 353,3 = HSH. I, 353,91 Coritus bogofůter, Summarium Heinrici, De Sagittis. Neu. BM. coritus [= gorytus] Bogiܷts, Alphabetisches Glossar, Königswart, Schlossbibliothek [unter Verwaltung der Bibliothek des Nationalmuseums (Knihovna Národního Muzea) Prag] 20 G 22 Ms 57; BStK. 788a, 2. Hälfte des 13. Jhs., unbestimmt. Der kleine Pauly 4,712, EWA. 2,225f., KFW. 1,1245f., REW. 210, Nr. 2273, SAW. 1,65f. (biogan) 1,274f. (fuotar) ‚Bogenfutteral‘, SchGlW. 1,445; StWG. 68, 794. [Das althochdeutsche Kompositum ist nur in den Glossen überliefert; vgl. mhd. bogevuoter, nhd. Bogenfutter (EWA 2,225). – In der Handschrift Adv. MS. 18. 5. 10 aus Edinburgh zu Vergils „Aeneis“ (vgl. Langbroek 1994: 152f.) hat der Glossator des 12. Jhs. das ursprünglich zur Verfügung stehende Lemma gorytus aus dem 10. Jh., mit lat. pharetra ergänzt. Hier zu beachten wäre die Tatsache, dass lat. gorytus (das lat. Lexem wurde aus dem griech. córytos entlehnt, REW. 210, Nr. 2273) und lat. pharetra in der Antike und somit im klassischen Latein einen Köchertyp bezeichneten, der bei nichtgriechischen bogenbewaffneten Völkern und auch bei den Skythen benutzt wurde (S. Oppermann, Artikel „Pharetra“ in: Der kleine Pauly, 4,712). Dieser Köchertyp war mit einer Decke versehen, zum Schutz der, im Köcher liegenden und gegen Nässe empfindlichen Bogen und Pfeile, im Gegensatz zu Köchertypen der nichtnomadischen Völker. Vom lat. Lemma und Kontext her ist die Glosse II, 143,17 unverständlich. Sie ist nicht bei SchGlW. aufgeführt. Es wird vermutet, dass der Glossator (2. Hand) scheda als deutsches Wort sceida als ‚Hülle, Futteral‘ aufgefasst hatte und durch bogfode präzisierte (KFW 1,1246).]
3. Auswertung des Wörterbuches der althochdeutschen Waffenbezeichnungen (Auszug) Die Einteilung der Waffenbezeichnungen in onomasiologische Felder geschah mit Blick auf ihre Funktionen. Die Ausgangsfrage für die Einteilung lautete folgendermaßen: Welche Funktion besitzt ein bestimmter Waffentyp, wie wurde er im Kampf benutzt? Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die allgemeine Terminologie der Waffenführung, wie sie in der archäologischen Literatur verwendet wird. Die verschiedenen Waffentypen teilt man, wie bereits oben erwähnt, allgemein einerseits in Schutz-, andererseits in Trutz- oder Angriffswaffen ein. Die Trutz- oder Angriffswaffen können im Weiteren in Fern- und Nahkampfwaffen unterteilt werden.
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Zu den Schutzwaffen rechnet man Schild, Helm und die Brünne, unter ihnen spielte der Schild die dominierende Rolle (vgl. Buchholz 1976: 479). Nicht erwähnt wurde in der von mir benutzten Literatur die Beinschiene aus Metall und Leder, die zum Schutz der Unterschenkel diente. Zu den Angriffswaffen kann man die Seil- oder Schleuderwaffen hinzurechnen, welche aus organischem Material bestanden (vgl. Capelle 1982: 265) und eine Zwischenform zwischen Fern- und Nahkampwaffen bilden. Zu den Angriffswaffen zählen weiter Bogen und Pfeil, die zum Schießen bestimmt waren, sowie Wurfhölzer und Wurfkeulen, Speere und Lanzen. Die Lanzen hatten ihren Schwerpunkt weit vor der Mitte und waren demnach in ihrer klassischen Funktionsbestimmung reine Stoßwaffen; dagegen stellen die Speere eine Gattung der Wurfwaffen dar.14 Zu den Hiebwaffen gehören die Streitäxte, die gelegentlich auch als Stichwaffe verwendet wurden, bei der Entscheidung ihrer Funktion war die Gestaltung ihrer Schneide ausschlaggebend. Schwerter wurden im Nahkampf gern benutzt, da sie mehrere Funktionen im Kampfgeschehen erfüllten, sie konnten als Stich-, Hieb- und auch als Wurfwaffe eingesetzt werden (vgl. Buchholz 1976: 76f.). Da die Glossen oft keine näheren Angaben zur Gestaltung der Waffen erlauben, die zur Bestimmung der Funktion der jeweiligen Waffen in der archäologischen Forschung von Bedeutung ist, wurden zahlreiche Waffenbezeichnungen in mehreren Feldern eingeordnet. Ein Beispiel dafür bietet die althochdeutsche Waffenbezeichnung wāfan; sie steht sowohl als Oberbegriff für Angriffswaffen, als auch für einen bestimmten Waffentyp: das Schwert. Eine weitere spezielle Behandlung erfordert die Einordnung der Schilde. Oft verbindet man den Lautkörper „Schild“ nur mit der Schutzfunktion, die Schilde auch vorrangig besitzen. Schilde behandelt man jedoch in der Vor- und Frühgeschichte als Waffen zur aktiven Abwehr, die aber auch zum Angriff verwendet werden konnte. Entscheidend bei der Bestimmung der jeweiligen Funktion war die Größe des Schildes, beziehungsweise die Form oder Gestaltung des Schildbuckels. Nach der Einteilung in onomasiologische Felder zeichnet sich eine vorläufige Erkenntnis über die karolingische Kriegsführungstechnik ab, bzw. wie die Glossatoren die funktionalen Bestimmungen der Bewaffnung ihrer Zeit aufgefasst haben. Die Waffenbezeichnungen aus dem Wörterbuch wurden in folgende 29 funktionale Felder eingeteilt:
14 Die Stangen der Lanzen wurden oft aus Ulmen- bzw. Eibenholz , die der Speere dagegen aus leichteren Hölzern wie Erle, Pappel und Weide hergestellt. Vgl. Capelle (1982: 279).
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1. Bewaffnung, Waffen (allgemeine Bezeichnungen) (8): gisarawa ‚Ausrüstung, Bewaffnung, Schutzwaffe‘; gisarawi ‚Ausrüstung, Bewaffnung, Schutzwaffe‘; giskirri ‚(Schutz-)Bewaffnung, Waffe‘; giscoz ‚Wurfwaffe‘; giwerida ‚(Schutz-)Bewaffnung, Waffe‘; wāfan ‚Angriffswaffe‘ wāfenheit ‚Bewaffnung‘; wīggarawī ‚Kriegsausrüstung, Bewaffnung‘ 2. Schutzwaffen (31): 2.1. Körperschutz (2): brunna, brunnī ‚ Brünne‘; panzier ‚Panzer, Harnisch‘ 2.1.2. zum Körperschutz gehörig (1): ringilī, ringilīn, ‚Ringel, Ring am Panzer‘ 2.2. Kopfschutz (3): helm ‚Helm, schützende Kopfbedeckung aus Leder und Metall‘; helmilīn, helmilī ‚kleiner Helm‘; nasahelm ‚Helm mit Nasenband‘ 2.2.1. zum Kopfschutz gehörig (2): helmfuotar ‚Futteral für den Helm‘; zisterel, zistrel ‚ Kappe unter dem Helm‘ 2.3. Oberkörperschutz (5): brunna, brunnī ‚Brustpanzer, Brustharnisch‘; brunniroc ‚Kettenhemd, Ringhemd‘; brustroc ‚Brustschutz aus Textil und Leder, Untergewand unter der Brünne‘; halsberg, halsbirg ‚Panzer zum Schutz von Hals und Brust, Panzerhemd‘; halsberga, halsbirga ‚Panzer zum Schutz von Hals und Brust, Panzerhemd‘ 2.3.1. zum Oberkörperschutz gehörig (2): ringilī, ringilīn, ‚Ringel, Ring am Panzer‘; brustroc ‚Untergewand unter der Brünne‘ 2.4. Beinschutz (1): beinberga ‚ Beinschutz aus Leder, Beinschiene aus Metall‘ 2.4.1. zum Beinschutz gehörig (0) 2.5. Schilde (11): bara ‚kleiner Rundschild zum Abfangen der Pfeile‘; buckula ‚Schild‘; buckelære, buckelere ‚(runder) Schild mit Buckel, Buckelschild‘; halbskilt ‚kleiner halbmondförmiger Schild‘; kampfskilt ‚Kampfschild‘; rantbogo ‚Buckelschild‘; schiltelīn ‚Schildchen‘; scilt ‚Schild‘; skirmskilt ‚(runder) Schild zum Schutz‘; skirmwāfan ‚(runder) Schild zum Schutz‘; taraca ‚kleiner Rundschild‘ 2.5.1. zum Schild gehörig (5): bort ‚Schildrand‘; buckula ‚Schildbuckel‘; rantbogo ‚Schildbuckel‘; rantboug ‚Schildbuckel‘; skiltriomo ‚Schildriemen‘
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3. Angriffswaffen, Nahkampf (42): 3.1. Hiebwaffen (14): ackus ‚zweischneidige Streitaxt‘; barta ‚Hellebarde, Streitaxt‘; bīhal ‚Streitaxt‘; bīhala ‚Streitaxt‘; halmackus ‚zweischneidige Streitaxt, Doppelaxt mit längerem Stiel‘; helmackes, -aks, -ax ‚zweischneidige Axt mit längerem Stiel, Streitaxt‘; helmbarte ‚zweischneidige Streitaxt mit langem Schaft, Hellebarde‘; helmhacka ‚fränkische Streitaxt‘; sahs ‚kleines zweischneidiges Schwert, kleine Spatha‘; satulackus ‚zweischneidige Streitaxt‘; swert ‚Schwert‘; swertilīn, swertilī, swertil ‚kleines Schwert‘; wāfan ‚Schwert‘; wāfansahs ‚kurzes Schwert‘ 3.1.2. zur Hiebwaffe gehörig (5): gihilzi ‚Schwertgriff‘; hilzi ‚Schwertgriff‘; lammile ‚Schwertklinge‘; swerthelze ‚Schwertgriff‘, swerskeida ‚Schwertscheide‘ 3.2. Stichwaffen (7): burdūn ‚Dolch, Stichdegen‘; sahs ‚kleines zweischneidiges Schwert‘; swert ‚Schwert‘; swertilīn, swertilī, swertil ‚kleines Schwert‘; swertstab ‚Dolch, Stichdegen‘; wāfan ‚Schwert‘; wāfansahs ‚kurzes Schwert‘ 3.2.1. zur Stichwaffe gehörig (5): gihilzi ‚Schwertgriff‘; hilzi ‚Schwertgriff‘; lammile ‚Schwertklinge‘; swerthelze ‚Schwertgriff‘, swertskeida ‚Schwertscheide‘ 3.3. Stoßwaffen (9): azgēr ‚schwere eiserne Stoßlanze‘; giscafti, giskefti ‚schwere Stoßlanze‘; kampfskilt ‚Kampfschild‘; skirmskilt ‚(runder) Schild zum Angriff; skirmwāfan ‚(runder) Schild zum Angriff‘; smeroberga, -birga ‚Lanze‘; sper ‚schwere Stoßlanze‘; sperilīn, spirilīn, spirilī, ‚kleine Lanze‘; stackulla, stehhala ‚Lanze‘ 3.3.1. zur Stoßwaffe gehörig (2): spervuoter ‚Lanzenhülle‘; sperahuot ‚Lanzenhülle‘ 4. Angriffswaffen, Fernkampf (54): 4.1. Wurfwaffen (24): azgēr ‚Wurfspeer‘; bolz ‚Wurfgeschoß‘; bolzo ‚Wurfgeschoß‘; gēr ‚Wurfspeer‘; giscafti, giskefti ‚Wurfspeer, Wurfgeschoß‘; giscoz ‚Wurfspieß, Wurfgeschoß‘; pfīl ‚Wurfspeer, Wurfspieß‘; sahs ‚Wurfspieß‘; scaft ‚Wurfspieß‘; scoz, scōz ‚Wurfgeschoß, Wurfspeer‘; skefti ‚Speer‘; smeroberga, -birga ‚Wurfspieß‘; sper ‚Wurfspeer, schwereres Wurfgeschoß‘; spera ‚Wurfspieß, Speer‘; sperilīn, spirilīn, spirilī, ‚Wurfgeschoß‘; spiozstanga ‚schwerer Wurfspieß‘; stackulla, stehhala ‚Wurfspieß‘; stanga ‚Wurfkeule, Wurfspeer, Wurfspieß‘; swert ‚Schwert‘; swertilīn, swertilī, swertil ‚kleines Schwert‘; tart ‚schwerer Wurfspeer, Wurfspieß‘; wāfan ‚Schwert‘; wagastra, wagastria ‚Wurfgeschoß, Wurfspeer‘; wurf ‚Wurfspieß‘
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4.1.2. zur Wurfwaffe gehörig (8): gihilzi ‚Schwertgriff‘; hilzi ‚Schwertgriff‘; lammile ‚Schwertklinge‘; scaft ‚Schaft des Wurfspießes‘; sperascaft ‚Schaft des Speeres‘; spiozstanga ‚Schaft des Wurfspießes‘; swerthelze ‚Schwertgriff‘, swertskeida ‚Schwertscheide‘ 4.2. Schusswaffen (1): bogo ‚Bogen‘ 4.2.1. zur Schusswaffe gehörig (1): bogesnuor ‚Bogensehne‘ 4.2.2. Köcher (4): bogafuotar ‚schützender Überzug über den Bogen, der Köcher‘; bogaskeid ‚Köcher‘; bogenhuot ‚schützender Überzug über den Bogen‘; kohhāri ‚Köcher‘ 4.2.3. Pfeile (6): pfīl ‚Pfeil‘; skefta, skehta ‚Pfeil‘; skefti ‚Pfeil‘; sperilīn, spirilīn, spirilī, ‚Pfeil‘; strāl ‚Pfeil‘; strāla ‚Pfeil‘ 4.3. Seil- und Schleuderwaffen (0): 4.3.1. zur Seil- und Schleuderwaffe gehörig (0): 4.4. Geschosse (14): bollo ‚Geschoß‘; bolz ‚Schießbolzen, Wurfgeschoß‘; bolzo ‚Schießbolzen, Wurfgeschoß‘; giscafti, giskefti ‚Wurfgeschoß‘; giscoz ‚Wurfgeschoß‘; pfīl ‚Pfeil‘; skefta, skehta ‚Pfeil‘; skefti ‚Wurfgeschoß, Pfeil‘; scoz, scōz ‚Wurfgeschoß‘; sper ‚schwereres Wurfgeschoß‘; sperilīn, spirilīn, spirilī, ‚Pfeil, Wurfgeschoß‘; strāl ‚Pfeil‘; strāla ‚Pfeil, Wurfgeschoß‘; wagastra, wagastria ‚Wurfgeschoß‘ Die Einteilung der durch die Glossen überlieferten Waffenbezeichnungen in onomasiologische Felder hat deutlich gezeigt, dass Lexeme für die Angriffswaffen reicher vertreten sind als für die Schutzwaffen. Besonders differenziert erscheinen die Bezeichnungen für Fernkampfwaffen, besonders die der Wurfwaffen, wobei es sich hier in den meisten Fällen um Synonyme gleicher Waffentypen handelt, die stark durch Kompositabildungen geprägt erscheinen. Dagegen ist das Feld der Schusswaffen mit nur einem Lexem sehr schlecht belegt. Hier ist der Umstand erwähnenswert, dass der Bogen zwar nur einmal, dagegen die Felder der dem Bogen zugehörigen Köcher und Pfeile öfters bezeugt sind. Die Felder für Nahkampfwaffen enthalten auch zahlreiche Waffenbezeichnungen, wobei sich hier die Felder der Bezeichnungen für Stich- und Stoßwaffen in ähnlicher Art gestalteten. Unter den Schutzwaffen sind allein die Schildbezeichnungen zahlreich, wobei sich in den Feldern des Kopfschutzes und Oberkörperschutzes interessanterweise – wenn auch in kleiner Zahl – auch unsichtbare Teile beider Schutzbewaffnungstypen, wie das innere Futter des Helmes und das Untergewand unter der Brünne, finden. Althochdeutsche Lexeme für sichtbare Waffenteile sind sowohl für die Angriffs- als auch für die Schutz-
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waffen in den Feldern gleichermaßen vertreten. Die Felder der Seil- und Schleuderwaffen erhalten keine althochdeutschen Waffenbezeichnungen, dagegen erscheinen in den Feldern der Wurfwaffen und in den der Geschosse zahlreiche Bezeichnungen für Wurfgeschosse. Vermutlich handelt es sich hier um Geschosse, die sowohl manuell als auch mechanisch z.B. von den Katapulten abgefeuert werden konnten. In diesem Fall kann es sich auch um die Tatsache handeln, dass „… die Felder einen Gegenstandsbereich, wie das die ältere Forschung angenommen hatte, gerade nicht lückenlos wiedergeben“ (Riecke 2004: 387). Eine Erklärung hierfür liegt in erster Linie in der Tatsache, dass die frühmittelalterlichen Glossatoren nicht zu den „Waffenexperten“ ihrer Zeit gehörten, d.h. es hing vor allem mit ihrer Auffassung der außersprachlichen Realität zusammen, was überliefert wurde und was nicht. Die schriftliche Überlieferung – in diesem Fall die der Glossen – erlaubt „… immer nur einen Ausschnitt aus der Fülle dessen, was tatsächlich einmal vorhanden gewesen ist“ (Schmidt-Wiegand 1981: 9).
4. Resümee: Archäologie vs. Sprachwissenschaft Als vorläufige Zwischenbilanz lässt sich sagen, dass die onomasiologische Auswertung des Wörterbuches bezüglich der Feldeinteilung der althochdeutschen Waffenbezeichnungen nur einen Aspekt der synchronen Fragestellungen der historischen Sprachwissenschaft beleuchten kann. Es stehen weitere Untersuchungen noch aus, die zusätzlich die semantische und phonetische Struktur des Wortschatzes der Waffenbezeichnungen weiter zu erhellen vermögen. Nur auf diese Weise entstandene Erkenntnisse können eine diachrone Betrachtungsweise des gesamten Wortschatzes erlauben.15 Während der Zusammenstellung des „Wörterbuches der Waffenbezeichnungen“ zeigte sich, dass die Glossen meist von ihren lateinischen Vorlagen abhängig waren, aber keineswegs immer reine Glied-für-GliedÜbersetzungen darstellen. Über die gesamte Bewaffnung beziehungsweise Kampftechnik der Karolingerzeit wird des Öfteren auch in den Glossen
15 Die Erstellung eines lateinisch-althochdeutschen Glossars der althochdeutschen Waffenbezeichnungen hätte eine Tendenz der Lateinabhängigkeit der Glossierungen aufgezeigt, bzw. inwieweit volkssprachige Wörter den Wortschatz der Waffenbezeichnungen bestimmten. Diese Analyse hätte aber auch zur Erhellung der synchronen Aspekte beigetragen. Einen Beitrag zur diachronen Betrachtungsweise hätte z.B. eine eingehende etymologische Untersuchung geleistet sowie die Ermittlung der weiteren Belege der althochdeutschen Lexeme im Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen.
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Wertvolles überliefert. An dieser Stelle sollen einige Beispiele genannt werden. Karolingerzeitliche Helme fehlen weitgehend im archäologischen Fundmaterial, die Bildüberlieferung in mittelalterlichen Handschriften zeigt oft Krieger, die Helme tragen, wobei hier das Material des Kopfschutzes nicht erkennbar ist. Die Helme könnten sowohl aus Leder als auch aus Metall hergestellt gewesen sein. Mit dem Erscheinen der kegelförmigen eisernen Metallhelme mit typischem Nasenblech im 10./11. Jh. „… wird erneut deutlich, dass im arch.[äologischen] Fundbild keineswegs die ehemalige Wirklichkeit gespiegelt wird“ (Steuer 1999: 335f.). Die Glossen überliefern hierzu ein durch Fehlglossierung entstandenes Wort nasahelm ‚Helm mit Nasenband‘ aus dem 8. Jh. und stellen das Lexem dem archäologischen Befund gegenüber. Weitere Glossierungen, wie die zum althochdeutschen helm, welche seit dem 8. Jh. bis ins 13. Jh. kontinuierlich Bezeichnungen sowohl des ledernen als auch des metallenen Kopfschutzes überliefern, sind an dieser Stelle ebenfalls zu erwähnen. Am Beispiel von Bezeichnungen für Helme zeigt sich, dass die historische Sprachforschung sehr wohl in der Lage ist, Lücken, die aus fehlenden archäologischen Quellen resultieren, zu füllen oder doch zumindest transparenter zu machen. Ein weiteres Beispiel liefern die Glossen zum Beinschutz aus Leder oder Metall, welcher in der archäologischen Forschung durch Grabfunde nicht zu fassen ist, sondern nur durch die Auswertung von Rechtsquellen.16 Es hat sich demnach gezeigt, dass die Glossen, wenn man den Kontext ihrer Überlieferung berücksichtigt, auch über die Beschaffenheit der Waffen nützliche Hinweise liefern können. Auch über die funktionalen Bestimmungen der jeweiligen Waffentypen wird in den Glossen Wertvolles tradiert, denkt man nur an die Überlieferungen zu den verschiedenen Funktionen der Stangenwaffen, welche des Öfteren mit dem Zusatz ‚Wurf-‘ oder ‚Stoß-‘ bestimmt werden konnten. Dieses Ergebnis wird auch durch die archäologischen Quellen und Schriftquellen unterstützt, demzufolge wurde die Lanze als Stoß- und Wurfwaffe auf kurze Distanz eingesetzt; das Schwert und der Sax dienten vor allem als Hiebwaffe (vgl. Last 1976: 469). Während der Erstellung der onomasiologischen Felder zeigte sich, dass Bezeichnungen der Angriffswaffen dominanter gegenüber denen der Schutzbewaffnung vertreten waren. Die Bewaffnung der Karolingerzeit
16 Z.B. Die Handschrift B der Rex Ribuaria, die Wertangaben von Waffen überliefert; so kostete eine Beinschiene 6 Solidi: M. Last, in der Artikel B.[ewaffnung] der Karolingerzeit, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 2, S. 470.
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„… steht in einer Tradition, die sich seit der Römischen Kaiserzeit abzeichnet“ (Steuer 1969: 69), und beschreibt damit eine über Jahrhunderte hinweg gleich gebliebene und überwiegend auf Angriff ausgerichtete Kampftechnik der germanischen Stämme. Zur Beantwortung der möglichen Überlieferung bestimmter sozialer Merkmale der Waffen können die Glossen keine Auskunft geben. Der Versuch, Hinweise hierfür in der Glossenüberlieferung zu finden, würde ihre Aussagekraft weit überfordern. Aber die Tatsache allein, dass ohne die Glossenüberlieferung zahlreiche Lexeme für die Bewaffnung im Althochdeutschen gar nicht zu fassen wären, trägt dazu bei, sie als Teil der deutschen Kulturgeschichte zu betrachten.
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Torsten Woitkowitz (Leipzig)
Zur althochdeutschen Musikterminologie Das Leipziger Althochdeutsche Wörterbuch (Karg-Gasterstädt/Frings 1952ff.) erfaßt das Wortgut des ältesten Deutsch aus der Zeit vom 8. bis zum 11. Jahrhundert und in abschriftlicher Überlieferung in bestimmten Fällen sogar bis zum 15. Jahrhundert. Darunter befinden sich zahlreiche Fachtermini. Sie entstammen besonders den Fächern der in der Klosterschule gelehrten septem artes literales. Die Bedeutungsermittlung bei Wörtern, die einem Fachwortschatz zuzurechnen sind, stellt einen Wörterbuchbearbeiter immer wieder vor Herausforderungen. Besondere Schwierigkeiten werfen die Texte und Textpassagen auf, die den Bereich der Musik betreffen. Sie sind häufig nicht ohne weiteres zu verstehen, zumal sie vielfach mit griechisch-lateinischen Musiktermini durchsetzt sind, die noch dazu polysem sind. Das gleiche gilt für den lateinischen Vorlagentext, sofern er vorhanden ist. Zudem fehlt als Hilfsmittel ein abgeschlossenes lateinisches Wörterbuch für Fachtermini der Musik. Glücklicherweise reicht das Münchner „Lexicon musicum Latinum medii aevi“ (Bernhard 1992ff.) inzwischen bis zum Buchstaben „L“. Aus der ganzen Fülle althochdeutscher Musiktermini sollen hier exemplarisch nur die Berücksichtigung finden, die in den beiden Kernwerken mit althochdeutscher Musikterminologie enthalten sind. Hierbei handelt es sich um die vom Sankt Galler Klosterlehrer Notker dem Deutschen verfaßte Schrift „De musica“ (Piper 1882: 851–859; King/Tax 1996: 329– 346)1 sowie um seine kommentierende Übersetzung der ersten beiden Bücher von Martianus Capellas „Hochzeit der Philologia mit Merkur“ (Piper 1882: 685–847; King 1979)2. Im folgenden werde ich zunächst meine Vorgehensweise darlegen, dann einen Teil des betreffenden Wortschatzes nach Sachgruppen geordnet benennen und schließlich den Umgang mit diesem Wortschatz in unserem
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Zitiert als »Nm« mit Seiten- und Zeilenzahl, wobei auf die Piper-Ausgabe die von King/ Tax in eckigen Klammer folgt. Zitiert als »Nc« mit Seiten- und Zeilenzahl, wobei auf die Piper-Ausgabe die von King in eckigen Klammer folgt.
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Wörterbuch näher betrachten. Außerdem werde ich auf mein Thema betreffende Aspekte der Sekundärliteratur eingehen und abschließend etwas zu Notkers Umgang mit der Musikterminologie sagen. Als Interpretationshilfe dienten die von King und Tax herausgegebenen Kommentar- und Quellenauszüge (vgl. King 1986; King/Tax 2003: 173–194), die Notker mit Sicherheit oder doch hoher Wahrscheinlichkeit für seine Übersetzungen und Ausführungen verwendet hat. Zusätzlich zog ich ausgewählte wichtigere Sekundärliteratur heran: zu beiden Werken Notkers u. a. Wickens 1986, van Schaik 1995, Glauch 2000 sowie Tiefenbach 2000 und zu Martianus Capella u. a. Wille 1967 und Zekl 2005. Bei der neuhochdeutschen musikalischen Begrifflichkeit orientierte ich mich an den einschlägigen Werken von Ferdinand Hirsch (1979) und Wieland Ziegenrücker (1977). Als grundlegendes Arbeitsmittel legte ich aus dem betreffenden Wortgut ein lateinisch-althochdeutsches und ein althochdeutsch-lateinisches Glossar an. Um das Gebiet der Musik als Ganzes erfassen zu können, nahm ich – anders als das „Lexicon musicum Latinum medii aevi“, das sich mit bestimmten Ausnahmen auf dezidierte Musiktermini beschränkt (vgl. Bernhard 1992ff.: Bd. 1,1,IX) – auch solche Wörter aus dem musikalischen Bereich auf, die keine musikspezifische Bedeutung haben und zum Teil sogar häufiger in außermusikalischen Zusammenhängen vorkommen. Durch auf Grundlage beider Glossare vorgenommene Wortfeldvergleiche, wann Notker beispielsweise welches Schallwort einsetzt, wurde es möglich, die Bedeutungsnuancen innerhalb seines Wortgebrauchs genauer zu bestimmen. Gehen wir nun den althochdeutschen Wortschatz Notkers zum Bereich der Musik in den beiden genannten Werken nach Sachgruppen geordnet durch,3 wobei gegebenenfalls vorhandene weitere Bedeutungen im musikalischen Bereich in den Fußnoten nachgewiesen werden: a) Musikinstrumente und ihre Bestandteile: Substantive: glockûnjoh ›Tragebalken der Glocke‹ oder ›Glockenstuhl‹. – harpha ›der gezupften Lyra ähnliches Saiteninstrument‹. – horn ›Horn‹. – lîra ›Harfe‹. – organa ›Orgel‹. – rotta ›Harfenzitter‹ oder ›Psalterium‹. – seito ›Saite‹. – suuegala ›Orgelpfeife‹, einmal möglicherweise ›Flöte‹. – timpana ›Handpauke‹. – zitarphin ›Plektrum‹. – zunga ›Zunge (an der Orgelpfei-
3
Bis auf wenige Ausnahmen wurde aus Platzgründen auf die Stellenangaben der Belege verzichtet. Diese lassen sich aber im Ahd. Wb. (bis zum Anfang des Buchstaben „M“) sowie über Sehrt/Legner 1955 auffinden. Alle Belege erscheinen entsprechend dem Usus des Ahd. Wb. normalisiert nach dem ostfränkischen Lautstand Tatians. Die hier behandelten Wörter sind am Ende des Beitrags in einem Index alphabetisch (bei Verben nach dem Grundwort) zusammengestellt.
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fe)‹. – Dieser Gruppe möchte ich auch stimma4 ›Singstimme‹ zuordnen, das durch den Stimmapparat gebildete Instrument jedes Menschen. b) Musikausübende: Substantive: menigî ›(musizierende) Gemeinschaft, Chor‹. – gisamani ›(musizierende) Gemeinschaft, Chor‹. – sangâri ›Sänger‹. c) Musikalische Gattungen und deren Bestandteile: Substantive: antiphona ›Antiphon‹. – brûtisang ›Hochzeitslied‹. – fers ›Verszeile‹, im Plural vielleicht auch ›Lied, Gesang‹. – germinôd ›Zauberspruch, Zaubergesang‹. – leih ›(monodischer) (rhythmischer) Gesang‹. – liod ›(chorisches) (Preis-)Lied, (Lob-)Gesang‹. – lobasang ›Preislied‹. – sang5 ›Lied‹, ›Melodie, Weise‹, auch ›Instrumentalstück‹. – seitsang6 ›Saitenspiel‹. – tretanôd ›Tanz‹, in der Fügung brûtlîh tretanôd ›Hochzeitstanz‹. – uuîsa7 ›Melodie, Weise‹. – uuort im Plural ›Text eines Gesanges‹. Substantiv-Adjektiv-Verbindung: sangolîh ›jegliche Melodie, jegliches Musikstück‹. Fügung: thaz zi singanne gitan ist ›Gesangsstück‹. d) Schall und Ton, Schallen und Tönen sowie Schall- und Tonerzeugung: Substantive: thôz ›Geräusch, Schall‹. – [h]lûta ›Ton‹ (Bezeichnung für den durch eine bestimmbare Tonhöhe ausgezeichneten einzelnen Ton; mit Übergang zum abstrakten Gebrauch), selten auch ›Klang‹, ›Klangfarbe‹. – [h]lûtreistî ›eindringlicher Klang‹, sowohl ›lauter Klang‹ als auch ›Wohlklang‹. – sang8 ›angenehmes Getöne, Musik‹, sowohl ›Gesang‹ (der menschlichen Stimme) als auch ›Klang‹ (einer sanften Welle oder der tönenden Bäume in Apollos Hain). – scal ›lauter Klang‹. – stimma9 ›(Stimmen-)Klang‹. Spezielle Schallbezeichnungen: brunnôd ›Rasseln, Klappern‹. – himilsang ›Musik der Himmelssphären‹. – klafleih ›dröhnendes Getöne‹. – klingilôd ›Geklingel‹. – organ[h]lûta ›Klang einer Orgel‹. – seitsang10 ›Saitenklang‹. – suuegalsang ›Flötenmelodie‹. –
4 5 6 7 8 9 10
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
noch noch noch noch noch noch noch
unter unter unter unter unter unter unter
d. d, h. d. h. c, h. a. c.
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buohstab11 bezeichnet neben dem ›Tonzeichen‹ auch das Bezeichnete, d. h. einen ›(beliebigen) Ton der diatonischen Tonreihe‹, steht also für ›Buchstabenton, Stammton‹ (mit Übergang zum abstrakten Gebrauch). – niumo, neuhochdeutsch als ›Neume‹, d. h. als ›Ton-, Tonverbindungs- und Artikulationszeichen‹ bekannt, ist hier aber das Bezeichnete, ›Ton, Tonverbindung‹ (mit Übergang zum abstrakten Gebrauch). – Dieser Gruppe möchte ich auch das „Restwort“ (vgl. Schröbler 1953: 69, 67) rarta zuordnen. Es bedeutet ›proportionierter, abgestimmter Klang‹ (und zwar eines Tones oder mehrerer Töne mit einem anderen Ton oder mehreren anderen Tönen), mit Übergang zum abstrakten Gebrauch: ›(vollkommene) Stimmung‹. Notker hat rarta in seiner Martianus-Übersetzung nur einmal (Nc 702,25 [17,21]) (als Übersetzungswort des Kommentarlateins vox (vgl. King 1986: 29) zum lateinischen Textwort lingua) in der damals noch üblichen Bedeutung ›Stimme des Vogels‹, und zwar ›vorzeichengebende Stimme‹ benutzt (vgl. auch das Kompositum fogalrarta, Ahd. Wb., Bd. 3, Sp. 1019f.). Ansonsten gebraucht der Gelehrte dieses Wort hier nur mit der angegebenen, wohl von ihm vorgenommenen Bedeutungserweiterung zur Wiedergabe einer bestimmten Bedeutung von lateinisch modulatio, modificatio und moderatio. Verben: ohne Objekt: gellan ›gellen, grell tönen‹. – hellan12 ›erklingen, harmonisch tönen‹. – gihellan13 ›harmonisch tönen‹. – [h]lûten ›tönen, klingen‹ (ohne bestimmte ästhetische Konnotation; mit Übergang zum abstrakten Gebrauch). – singan heißt ›angenehm klingende Töne hervorbringen‹, was ›singen‹ bei einem Menschen (auch bei Vögeln) und ›(angenehm) tönen‹ bei einem Instrument oder auch der Planetensphäre bedeutet. Beim Singen von Versen ist es schwer zu sagen, ob hier wirklich in jedem Fall ›singen‹ gemeint ist oder nicht nur ›rezitieren‹. Außerdem bedeutet singan an einer Stelle ›singen und spielen‹, also ›zu einem Instrument (hier Saiteninstrument) singen, den eigenen Gesang begleiten‹ (Nc 728,6 [45,4]). Einmal kommt singan in der speziellen Bedeutung ›hymnisch singen‹ vor (Nc 691,21 [5,21]). – forasingan ›vor einer Gruppe vornweg singen‹. – skellan ›erschallen, laut ertönen‹. – foraskellan ›vornweg, an der Spitze (eines Festzugs) laut tönen‹. – uuerdan ›sich erheben, vernehmbar werden‹. mit Objekt: giant(e)rôn ›(die Sphärenmusik) widerhallen lassen‹. – liudôn ›(ein Lied oder eine Dichtung) singen, singend vortragen‹. – [h]lûten ›(ei-
11 Vgl. noch unter h. 12 Vgl. noch unter f. 13 Vgl. noch unter f.
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nen Ton) hörbar machen, erklingen lassen‹. – mahhôn14 ›(einen Klang) erklingen, ertönen lassen‹. – recken ›(einen Ton, Klang) hervorbringen‹. – singan ›(ein Lied) singen‹. – skellen ›(die Fixsternsphäre) erklingen, erschallen lassen‹. – spilôn ›(auf Saiten) spielen‹. Adverbien: grobo ›dumpftönend, tief‹. – kleino ›mit hellem Klang, hoch‹. – [h]lûto ›laut‹. – meistarlîhho ›meisterhaft‹. – mêterlîhho ›im Versmaß, rhythmisch‹. – samant ›gemeinsam, chorisch‹. – stillo ›leise‹. – suntarîgo ›allein, solistisch‹. – suozo ›mit süßem Klang‹. – zuuifaltîgo ›im Oktavverhältnis‹. e) Beschreibung eines musikalischen Stückes, einer Tonfolge, des Melodieverlaufs, der Stimmbewegung: Substantive: anafang ›Beginn, Ausgangspunkt einer Melodie‹. – thuns ›Lauf, Fortgang (eines Stückes)‹. – [h]ring ›kreisförmige Tonbewegung‹. – ûzlâz ›Schlußton‹, ›Schluß (eines Musikstücks)‹. Verben: gibrestan ›an der Stimmhöhe mangeln‹. – fâhan ›(in der Tonhöhe) ausgreifen‹. – anafâhan ›(mit dem Gesang, der Melodie) einsetzen‹. – heven ›einen Gesang anstimmen, in die entsprechende Tonhöhe heben‹. – irheven ›zu singen beginnen, anheben‹. – ubar[h]loufan ›über eine Tonfolge hinlaufen‹. – binidarên ›(zu) tief werden‹. – girucken ›(mit dem Gesang, der Melodie) fortschreiten‹. – ûfgistephen ›in die Höhe gehen‹. – stîgan ›in die Höhe gehen‹. – gistîgan ›in die Höhe gehen‹. – sturzen ›(mit dem Gesang in der Tonhöhe) absinken‹. – uuallôn ›(mit dem Gesang, der Melodie) fortschreiten‹. – uuidariiruuintan ›(zu einem Ton) zurückkehren‹. Adjektive (überwiegend von den Tönen einer Tonfolge, selten von der Lage der Saiten oder eines Tetrachords): aftrôsto ›letzter‹. – êriro ›vorangehend‹. – êristo ›der erste‹. – mitti ›in der Mitte gelegen‹. – nidari15 ›tief gelegen, niedrig‹. – obaro ›der obere, höher gelegene‹. – obarôsto ›höchster, oberster‹. Adverbien: ferrôr ›weiter hinauf, höher‹. – hina ûf ›hinauf‹. – hôho ›hoch oben, hoch hinauf‹. – nidar ›herab‹. – nidaro ›tief unten, tief hinab‹. – nidanân ›unten‹. – obanân ›oben‹. – ûf ›hinauf‹. – ûfstîganto ›in aufsteigender Hinsicht‹. Fügungen: buohstab zi themo iz anafâhit ›Anfangston‹. – [h]lûta thiu zi êrist uuas ›Anfangston‹. – stat thar iz (ther sang) anafâhit, anagifangan uuirdit ›Beginn, Ausgangspunkt einer Melodie‹.
14 Vgl. noch unter h. 15 Vgl. noch unter h.
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f ) Klangweise (vgl. auch unter h): Substantive: follƯհglîhhî ›Fülle‹ oder ›Vollkommenheit des Klangs, der klingenden Töne‹. – gihellî(n) ›wohlklingende Verbindung verschiedener Töne‹. – lustsamî ›Annehmlichkeit, Lieblichkeit, Süße von Musik‹. – metamscaft ›Ausgewogenheit der Tonhöhe‹. – suozî ›Annehmlichkeit, Lieblichkeit, Süße von Musik‹. – unmez ›Unzuträglichkeit der Tonhöhe‹. Verben, Fügungen: missihellan ›verschieden klingen‹. – in ein hellan16 ›auf einer Tonhöhe konsonant klingen‹. – unein gihellan17 ›auf verschiedenen Tonhöhen konsonant zusammenklingen‹. Adjektive: einhel(li) ›harmonisch, wohlgeordnet zusammenklingend, wohlklingend‹. – ein[h]lûtîg ›harmonisch, wohlgeordnet zusammenklingend, wohlklingend‹, ni ein[h]lûtîg ›nicht im Einklang stehend‹. – emezzîg ›gleichbleibend, beständig‹. – grob ›tief‹. – heis ›heiser, dumpftönend‹. – gihelli ›harmonisch, wohlgeordnet zusammenklingend, wohlklingend‹. – kleini ›dünn, fein, zart‹. – kleinstimmi ›leise, zartstimmig‹. – gilîh ›gleich, übereinstimmend‹. – lustsami ›süß‹. – [h]lûtreisti ›wohlklingend, wohltönend‹ und die Fügung uneban [h]lûtreisti ›verschieden klingend, unabgestimmt tönend‹. – mammuntsam ›angenehm, gefällig‹. – manîgfalt ›vielgestaltig‹. – mezhaftîg ›maßvoll, abgestimmt‹. – missi[h]lûtîg ›verschiedenartig klingend‹ (von den verschiedenen Versrhythmen unterschiedlicher lyrischer Werke). – sanglîh ›harmonisch, wohlklingend‹. – suozi ›süß, lieblich‹. – trakisc ›thrakisch‹ (von den Weisen des Orpheus). – tunkal ›gedämpft, matt, dunkel‹. – unhel(li) ›nicht klangvoll‹. – un[h]lûtreisti ›verschieden klingend, unabgestimmt tönend‹. g) technische Handhabung der Instrumente sowie Gesangs- und Musizierpraxis: Substantive: [h]ruora ›Spiel auf einem Zupfinstrument‹. – semftî ›Bequemlichkeit (bei der Handhabung eines Instruments, z. B. der Harfe oder der Orgel)‹. – slahhî ›Schlaffheit (der Saiten)‹. – stillî ›Stille (vor bzw. nach einem Stück)‹. – [h]uuarba, das auf die Drehung, die Spannung der Saiten einer Leier zurückgeht, bezeichnet im Unterschied zu rarta18 die ›Stimmung, das Gestimmtsein auf eine bestimmte Tonhöhe‹, auch ›die Tonlage‹. – Hierher könnte auch anastôz ›Anstoß‹ gehören, die ›Klangerzeugung verursachende Kraft‹ (und zwar vom Aufprall des Windes auf die Bäume in Apollos Hain). Denn anastôz übersetzt das lateinische Wort appulsus, das
16 Vgl. noch unter d. 17 Vgl. noch unter d. 18 Vgl. noch unter d.
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im „Lexicon musicum Latinum medii aevi“ als Terminus technicus für das Anschlagen eines Tones geführt wird (vgl. Bernhard 1992ff.: Bd. 1,2,120). Verben: ubarthen(n)en ›überspannen, überdehnen (von Saiten)‹. – firthrucken ›(eine Saite durch Fingerdruck) dämpfen‹ sowie ›Töne nicht hörbar werden lassen‹. – thuuingan ›(verschiedene instrumentale Klänge) zusammenfügen‹. – follasingan ›ein Musikstück in vollem Umfang erklingen lassen‹. – irfollôn ›ein Stück an einer entsprechenden Stelle ausführen‹. – hertôn ›sich wechselweise aneinanderreihen‹ (vom Stimmenklang). – metemên ›einer Musik in bezug auf die Tonhöhe das rechte Maß geben‹. – gimetemên ›einer Musik in bezug auf die Tonhöhe das rechte Maß geben‹. – ubarsingan ›etwas musikalisch an Klang übertreffen‹. – Es kommen verschiedene Verben für das Stimmen vor: einerseits rerten ›Töne verschiedener Tonhöhen aufeinander abstimmen‹, girerten ›Töne verschiedener Tonhöhen aufeinander abstimmen‹, andererseits [h]uuerban ›ein Instrument oder ein Teil davon stimmen‹, d. h. ›in Übereinstimmung bringen mit einer bestimmten Tonhöhe‹. Adjektive: niun[h]lûtîg ›neuntönig‹ (von einer neunsaitigen Harfe). – organlîh ›instrumental‹. Fügungen: anagilegitên beidên hantun ›mit beiden (an das Instrument) angelegten Händen‹. – thia hant uuehsalôn ›mit der Hand an eine andere Stelle (des Instruments) wechseln‹. h) Musiktheorie: Substantive: buohstab19 ›Tonbuchstabe, Notenname‹. – gifellƯհgî ›Proportion von Tönen und Klängen‹. – fiorfalt (substantiviertes Adjektiv) ›das Vierfache, vierfaches Tonverhältnis, Doppeloktave, Doppeloktavverhältnis‹. – grobî ›Tiefenabstand eines Tones‹. – hôhî ›Tonumfang eines Stückes‹ sowie ›Höhenabstand‹. – mâza ›Maßeinteilung‹, ›Mensur‹. – girertida ›Zweiklang‹. – untarlâz ›Tonschritt‹. – untarskeit ›vertikal-harmonischer Tonabstand‹. – uuehsal ›Tonstufe‹. – uuîsa20 ›Tonart‹. – zuuifalt (substantiviertes Adjektiv) ›das Zweifache, doppeltes Tonverhältnis, Oktave, Oktavverhältnis‹. – In diese Gruppe dürfte gagan[h]lûta ›Gegenton‹ gehören, vielleicht eine Bezeichnung für den intervallbildenden Ton eines Zweiklangs, der in der Textpassage vom Bezugston der Erde und dem „Gegenton“ der Mondsphäre gebildet wird und hier einem Ganzton (einer großen Se-
19 Vgl. noch unter d. 20 Vgl. noch unter c.
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kunde) entspricht. – Hierher könnte auch fuogî ›Klangverbindungsstelle‹ gehören, zu lateinisch annexum, die sich in der Mitte jedes klingenden Baumes im Hain Apollos befindet, falls Notker hier an die Mese bzw. die Synaphe, den Verbindungston zweier Tetrachorde, denkt, den er mit Martianus Capella an anderer Stelle (vgl. Nc 834,3–1 [155,1–10]) auch auf die Sonne bezieht, die die Mitte von sieben Himmelskörpern bildet. Verben: mahhôn21 ›verbinden, ergänzen (Konsonanzen)‹. – firstôzan ›gegen die Harmonie verstoßen‹. – intquedan ›sich in bestimmten Tonproportionen entsprechen‹. Adjektive: thorisc ›dorisch‹ (bei Notker eine tiefere Tonlage, nicht die heutige Kirchentonart). – fol ›voll, vollständig‹ (von einem Ton, vom Umfang eines Intervalls). – follƯհglîh ›vollkommen, perfekt‹. – hôh ›hoch‹ (von der Tonlage, der Stimmung). – nidari22 ›tief‹ (von der Tonlage, der Stimmung). – organisc ›musikalisch, die Musik betreffend‹. – reht ›musikalisch regelgerecht‹. – giskeidan ›getrennt‹ und ungiskeidan ›verbunden‹ (von Tetrachordverbindungen). Präpositionen (in bezug auf die Relation verschiedener Töne oder Tonhöhen): oba ›über‹. – untar ›unter, unterhalb‹, ›zwischen‹. – untar zuuisken ›zwischen beiden‹. Fügungen: êristo tonus (althochdeutsch-lateinische Fügung) ›erster Ton‹ (unsere heutige Kirchentonart Dorisch). – slahta sanges23 ›Tongeschlecht‹. – thes thritten teiles ubarslahantiu [h]lûta ›ein (einen Ton in bezug auf seine Saitenlänge in der Saitenlänge) um den dritten Teil übertreffender Ton, (Intervall einer) Quarte‹ (4:3). – thes halben teiles ubarslahantiu [h]lûta ›ein (einen Ton in bezug auf seine Saitenlänge in der Saitenlänge) um die Hälfte übertreffender Ton, (Intervall einer) Quinte‹ (3:2). – ubarahtǀհdo girertida ›ein um ein Achtel (in bezug auf die Saitenlänge eines Tones zur Saitenlänge eines anderen Tones) hinausgehendes Intervall‹, d. h. ›Ganzton‹ (9:8). – halbes teiles mêr thanne ein tonus sî (althochdeutsch-lateinische Fügung) ›die Hälfte mehr als ein Ganztonschritt ist‹, d. h. ›Anderthalbtonschritt‹. Es kommen wenige Fälle vor, in denen Notker in seiner Schrift „De musica“ einen lateinischen Fachterminus sowohl unübersetzt als auch althochdeutsch übersetzt gebraucht: duplum neben zuuifalt, quadruplum neben
21 Vgl. noch unter d. 22 Vgl. noch unter e. 23 Vgl. noch unter c, d.
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fiorfalt, genus neben slahta sanges oder primus tonus neben der althochdeutsch-lateinischen Fügung êristo tonus, mensura neben mâza,24 plectrum neben zunga25. Griechisch-lateinische Fachtermini, die Notker in seinem Musiktraktat gebraucht und nicht übersetzt, sind zahlreicher: alphabetum ›Stammtonreihe‹. – bisdiapason ›Doppeloktave‹. – diapason ›Oktave‹. – diapente ›Quinte‹. – diatessaron ›Quarte‹. – diatonicum, chromaticum und [en] armonicum genus, ›diatonisches‹, ›chromatisches‹ und ›enharmonisches Tongeschlecht‹. – modus ›Transpositionsskale‹, d. h. bestimmte Tonlage (modus dorius, hypodorius, hypophrygius, hypolydius, phrygius, lydius, mixolydius, hypermixolydius). – monochordum ›Monochord‹. – musica ›Musiktheorie‹. – musicus ›Musiktheoretiker‹. – proportio ›Zahlenverhältnis‹. – qualitas ›Tonigkeit‹. – simplum ›einfaches Tonverhältnis, Grundton einer Oktave‹. – species diapason simphonia ›Oktavgattung, Tonart‹. – semitonium ›Halbtonschritt‹. – symphonia ›konsonantes Intervall, Konsonanz‹. – tetrachordum ›Tetrachord, Viertonreihe‹ und die Arten tetrachordum gravium, finale, superiorum, excellentium. – tonus ›Tonart‹, ›Ganztonschritt‹. – die von den Saitenbezeichnungen einer Harfe übernommenen Bezeichnungen für die 15 gebräuchlichen Töne wie proslambanomenos, Hypate hypaton, Parhypate hypaton, Lichanos hypaton, Hypate meson usw. Mit Bezug auf Sonja Glauchs ausführlichen Kommentar zu einer schwierigen, zweimal das Wort girertida26 (Nc 705,8. 10/11 [20,14. 17]) enthaltenden Textpassage27 von Notkers Martianus-Übersetzung (vgl. Glauch 2000: Bd. 2, 356. 359f.) schreibt Rudolf Große in seinem Aufsatz „Althochdeutsch girertida ›Harmonie, Ausgewogenheit‹“: Es besteht kein Zweifel darüber, dass eine solch intensive Textanalyse erst zur letzten Klarheit führt, und wir können uns darüber freuen, dass sich die Mediävistik in jüngster Zeit diesen Themen wieder zuwendet. Es bleibt jedoch die Frage, ob der Lexikograph diese singuläre Wortverwendung im Wörterbuch wiedergeben muss, ob nicht die hier zugrunde liegende allgemeinere Bedeutung sein Anliegen ist (Große 2002: 291f.).
24 25 26 27
Alle Belege unter h. Vgl. unter a. Vgl. unter h. „At media . s. arborum . per annexa . i. coniuncta sibi spacia concinebant . ratis succentibus . duplis . ac sesqualteris . nec non etiam sesquitertiis . octauis etiam iuncturis sine discretione . licet interuenirent limmata. Áber die míttinâ dero bóumo . die gehúllen an íro fûoginon áfter dísen guíssen gerértedon . íh méino in zuíualtên lûton . únde des hálben ióh tes trítten déiles úbersláhenten lûton . sámouuóla óuh in úberáhtoden gerértedon . dóh semitonia darúndere lûttin.“
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Mit der Anführung der beiden anderen überlieferten girertida-Belege in Notkers „Ars Rhetorica“ gibt Rudolf Große selbst die Antwort, die entsprechend dem Titel des Aufsatzes auf ›Harmonie‹ und ›Ausgewogenheit‹ abzielt (Große 2002: 292). Dem kann man im Allgemeinen zustimmen, aber nicht in allen Fällen. Gerade hier ist fraglich, ob dem Wörterbuchbenutzer damit gedient ist, wenn er als Bedeutungsangabe zu den vier überlieferten girertida-Belegen, wie in manchen Wörterbüchern zu lesen ist (Schützeichel 2006: 276; Splett 1993: Bd. I,2,725), nur die Angabe ›Harmonie, Ausgewogenheit‹ findet. Bei genauer Analyse der vier Textstellen stellt sich heraus, daß dieses Wort als Terminus technicus im musikalischen Bereich zweimal ›Intervall, Zweiklang‹ bezeichnet (lateinisch succentus, Kommentarlatein consonantia) und im rhetorischen Bereich zweimal ›Abgestimmtsein‹ und zwar in einem Fall speziell ›Abgestimmtsein von Stimme und Körperhaltung (lateinisch vocis et corporis moderatio) auf die Würdigkeit von Gegenstand und Wörtern (lateinisch ex rerum et verborum dignitate)‹ (vgl. hierzu ähnlich Sehrt 1962: 73). Einem Musikwissenschaftler dürfte mit der übergreifenden, gemeinsamen Bedeutungsangabe für diese vier Belege wenig gedient sein. Doch hier schließt sich die Frage an: Für welche Adressaten wird das Althochdeutsche Wörterbuch eigentlich geschrieben? Wen interessiert was? Das ist schwer zu sagen. Und da es bekanntlich nie allen recht gemacht werden kann, bleiben wir lieber bei Rudolf Großes ›Ausgewogenheit, Harmonie‹, aber einer wohlabgestimmten. Dementsprechend sollte im späteren Wörterbuchartikel unbedingt der musikalische Terminus technicus abgehoben werden. In diesem Sinne schreibt auch der frühere Herausgeber des Althochdeutschen Wörterbuches gegen Ende seines Aufsatzes selbst: Es muss aus allen Beobachtungen zu den Textstellen auf wenigen Zeilen ein schlüssiger Wortartikel gebaut werden, der jedoch erkennen lässt, dass die von den Spezialisten gebrachten Erkenntnisse Beachtung gefunden haben (Große 2002: 292f.).
Unter diesem Blickwinkel haben viele Wörter Notkers aus dem musikalischen Bereich in schon gedruckten Wörterbuchartikeln ihre Darstellung gefunden. Doch treten die besonderen Gebrauchsweisen Notkers wegen abweichender auf die Musik bezogener Verwendungsweisen in anderen Quellen z. T. nicht mehr markant hervor (so z. B. in den Artikeln [h]lûten und hellan). Auch ist in verschiedenen Artikeln der Gebrauch eines Wortes im musikalischen Bereich nicht extra abgehoben. Zum einen, weil eine grammatische Gliederung, wie in großen Verbartikeln, bestimmend war, oder weil der Beleg nur als Stellenangabe gereiht worden ist, oder aber weil nach dem Wörterbuchusus keine unnötige Untergliederung vorgenommen wurde mit der Begründung, daß der voll auszitierte Beleg selbst sprechen kann.
Zur althochdeutschen Musikterminologie
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Die Artikel leih (vgl. Ahd. Wb., Bd. 5, Sp. 765f.)28 und liod (vgl. Ahd. Wb., Bd. 5, Sp. 1036)29 dürften für die Musikwissenschaft von besonderem Interesse sein. Denn hier wird erhellt, daß Notker in der Formulierung lied unde leicha (Nc 808,26 [127,17/18]) auf jeden Fall an einer „Distinktion“ gelegen war. Notker glossierte nämlich nicht das bei Martianus Capella stehende, von Hermann Apfelböck (1991: 56) und Christoph März (1996: 862) als Bezugslatein wiedergegebene quaedam opera ›manche Werke‹, sondern tropos und modos des Remigiuskommentars (vgl. King 1986: 189). Auch distinktive Spezifika beider Gattungen werden in beiden Artikeln deutlich. In einigen Fällen hätten vielleicht passendere Bedeutungsangaben gewählt werden können. Bei dem Artikel thôz (vgl. Ahd. Wb., Bd. 2, Sp. 620f.) z. B. ist zu fragen, ob die Bedeutungsangabe statt ›Geräusch, Ton‹ nicht lieber ›Geräusch, Schall‹ hätte heißen sollen, da in den Belegen von einem musikalischen Ton in bezug auf eine bestimmte Tonhöhe nicht die Rede ist, sondern überwiegend von Geräuschen und Schallbezeichnungen aus der Natur, von Tieren sowie von lautstarken Instrumenten. Im Artikel buohstab findet sich für den musikalischen Bereich nur die Bedeutungsangabe ›Tonzeichen‹ (vgl. Ahd. Wb., Bd. 1, Sp. 1506 unter b). Hier hätte unbedingt auch die Bedeutung ›einzelner Ton‹ angegeben werden müssen, die z. T. mitschwingt oder ausschließlich gemeint ist.30 Nach Sonja Glauch ist auch die Bedeutungsangabe ›sich zugesellen‹ für den Notker-Beleg geebenota (Nc 721,30/31 [38,19]) (im Artikel giebanôn) (vgl. Ahd. Wb., Bd. 3, Sp. 23 unter 3b) hierher zu zählen, die als falsch bezeichnet wird: Es müsse ›sich anpassen, sich übereinstimmend machen‹ heißen, da das Verb wie das folgende kerarta das lateinische modulatur übersetze (vgl. Glauch 2000: Bd. 2, 422). Merkwürdig ist nun aber an dieser Stelle31 – die in den Himmel gereisten Musen sind gerade dabei,
28 Vgl. auch unter c. 29 Vgl. auch unter c. 30 Nm 853,20 [336,12] (Vorlagenlatein sonus, vgl. King/Tax 2003: 182). 853,27 [336,17] (Vorlagenlatein vielleicht vox, vgl. King/Tax 2003: 183). 856,9 (2) [338,22. 23]. 856,16 [339,5]. 856,19 [339,7]. 856,22 [339,10]. 856,23 [339,10/11]. 856,26 [339,12]. 857,10 [341,1]. 31 Nc 721,25–722,3 [38,15–22]: „Polymnia saturnium circulum tenuit. Polymnia dáz chît plurima memoria . díu begreîf tén ríng saturni. Euterpe iouialem. Ten iouis ríng pegreîf tíu delectatio uoluntatis heizet. Erato ingressa martium modulatur. Erato chómentiu dáz chît inueniens similem geébenota síh martis rínge. Melpomene medium . ubi sol conuenustat mundum flammanti lumine. Meditationem faciens kerárta síh ze demo mítten rínge . án demo díu súnna dísa uuérlt kezîeret.“ (Polyhymnia ergriff den zum Saturn gehörigen Ring. Polyhymnia, das heißt „größtes Gedächtnis“, die ergriff den Ring des Saturn. Euterpe den zum Jupiter gehörigen. Den Ring des Jupiter ergriff, die „Vergnügen des Willens“ heißt. Erato, die den zum Mars gehörigen betrat, dirigierte diesen. Die ankommende Erato, das
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sich auf die ihnen entsprechenden tönenden Planetensphären aufzuteilen – warum Notker das von ihm anders verstandene lateinische Verb modulari nicht zweimal mit dem zu dessen Wiedergabe passenden und wohl von ihm selbst neugebildeten (vgl. Schröbler 1953: 67, 69) Verb girerten32 übersetzt. Auf eine Variation des Ausdrucks kam es ihm nämlich nicht an, was die beiden kurz aufeinander folgenden Verbformen begreif, pegreif zeigen. Der Grund liegt wohl in folgendem: Den Namen der Muse Erato erklärt Notker mit dem von ihm in seine kommentierende Übersetzung integrierten Remigiuszitat inveniens similem (vgl. King 1986: 59) ›die einen Ähnlichen findet‹. Unter diesen Umständen ist eine Übersetzung mit ›sich anpassen, sich übereinstimmend machen‹ widersinnig. Notker übersetzt wohl deswegen noch einmal etwas freier ingressa ›hinschreiten‹ mit der Ausdeutung von modulatur als einer räumlichen Anpassung: giebanôn heißt an dieser Stelle wörtlich ›sich auf die gleiche Ebene bringen‹. Die Bedeutungsangabe ›sich zugesellen‹, die zum im Artikel voranstehenden Beleg aus Notkers Boethius-Übersetzung paßt, kann also beibehalten werden. Der Beleg ist nicht dem musikalischen Bereich zuzurechnen. In der Schrift „De musica“ möchte Notker in einem eigenständigen, nicht von einer bestimmten lateinischen Vorlage abhängigen Text eine volkssprachige Einführung in die Theorie und Praxis der Musik geben. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß der Gelehrte es mit einer Fülle griechisch-lateinischer Fachtermini zu tun hat. In verschiedener Weise geht er damit um.33 Bei manchen, vielleicht einfacheren Fachbegriffen gebraucht er nur das deutsche Äquivalent.34 Teils operiert er mit nicht übersetzten Fachbegriffen, deren Bedeutung sich durch den Textzusammenhang35 bzw. die praktische Unterrichtstätigkeit36 erklärt, teils setzt er die Kenntnis der Bedeutung voraus oder will sie (noch) nicht übersetzen,37 teils erklärt er einen gebrauchten Fachbegriff durch seine Übersetzung im nächsten Satz,38 oder er ordnet weniger relevante Fachbegriffe einem Bereich zu, vielleicht mit einem weiterführenden Hinweis, ohne sie konkret
32 33 34 35 36 37 38
heißt „die einen Ähnlichen findet“, gesellte sich dem Ring des Mars zu. Melpomene den mittleren, wo die Sonne die Welt mit flammendem Licht verschönerte. „Die Nachdenken Hervorrufende“, paßte sich dem mittleren Kreis an, an dem die Sonne die Welt ziert.) Vgl. unter g. Die folgenden Beispiele entstammen alle dem ersten Kapitel („De monochordo“) aus der Schrift „De musica“. Z. B. buohstab, [h]lûta, girobî, seito. Z. B. die von den Saitenbezeichnungen einer Harfe übernommenen Bezeichnungen für die 15 gebräuchlichen Töne oder der Begriff diatonicum genus. Z. B. die Instrumentenbezeichnung regulare monochordum. Z. B. primus tonus. Dieser Begriff wird im zweiten Kapitel („De octo tonis“) der Schrift „De musica“erklärt. Z. B. genus durch slahta sanges.
Zur althochdeutschen Musikterminologie
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zu erklären39. Es scheint Notkers Prinzip gewesen zu sein, nur so viele Fachtermini zu übersetzen, wie ihm sinnvoll und zum Textverständnis nötig schien.40 Bei der Martianus-Übersetzung geht es Notker um eine erklärende Übersetzung, was schon daran ersichtlich wird, daß er die lateinischen Sätze des Martianus Capella vielfach zur besseren Verständlichkeit mit umgestelltem Satzbau wiedergibt bzw. erklärende Zusätze aus den Kommentaren einflicht. Manchmal läßt Notker die musikalischen Fachwörter – das Gleiche gilt im übrigen auch für die vorkommenden Fachtermini aus den anderen Disziplinen der septem artes liberales – unübersetzt,41 aber meist übersetzt er direkt oder interpretierend, d. h. nach der Erklärung der lateinischen Kommentare, oder umschreibend, oder er gibt zur Erklärung andere, bekanntere lateinisch-griechische Termini.42 Auf der geschaffenen Grundlage könnte ein musikterminologisches Glossar zu allen Werken Notkers bzw. zur gesamten althochdeutschen Überlieferung aufgebaut und unter verschiedenen lexikologischen Aspekten weiter untersucht werden.
39 Z. B. die Begriffe chromaticum genus und [en]harmonicum genus. 40 Einmal weist Notker allerdings darauf hin, was ein bestimmtes deutsches Wort (zunga) im Lateinischen (plectrum) heißt. 41 Z. B. Nc 781,8ff. [98,12ff.]: „Tantumque pensat in numeris . s. epogdous . quantum symphonia diapason in melicis . quę tonon facit. Unde álso fílo gemág superoctauus in arithmetica . sô díu diapason symphonia gemág in musica . díu tonum máchot.“ 42 Vgl. Anm. 41. Die entsprechende Passage im ursprünglichen Martianus-Text lautet: “at media ratis per annexa succentibus duplis ac sesquialteris nec non etiam sesquitertiis, sesquioctauis etiam sine discretione iuncturis, licet interuenirent limmata, concinebant“ (Dick 1925: 11,4ff.).
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Index aftrôsto anafang anastôz giant(e)rôn antiphona beide gibrestan brunnôd brûtisang brûtlîh buohstab d,
e e g d c g e d c c e, h ubarthen(n)en g thorisc h thôz d thritto h firthrucken g thuns e thuuingan g ein f, h einhel(li) f ein[h]lûtîg f emezzîg f êriro e êrist e êristo e, h fâhan e anafâhan e gifellƯհgî h ferrôr e fers c fiorfalt h fol h follasingan g follƯհglîh h follƯհglîhhî f irfollôn g fuogî h
gagan[h]lûta h gellan d germinôd c glockûnjoh a grobî h grobo d halb h hant g harpha a heven e irheven e heis f hellan d, f gihellan d, f gihelli f gihellî(n) f hertôn g himilsang d hina ûf e hôh h hôhî h hôho e horn a klafleih d kleini f kleino d kleinstimmi f klingilôd d analeggen g leih c gilîh f liod c lîra a liudôn d lobasang c ubar[h]loufan e lustsami f lustsamî f [h]lûta d, e, h
[h]lûten d [h]lûto d [h]lûtreisti f [h]lûtreistî d mahhôn d, h mammuntsam f manîgfalt f mâza h meistarlîhho d menigî b mêr h metamscaft f metemên g gimetemên g mêterlîhho d mezhaftîg f missihellan f missi[h]lûtîg f mitti e nidar e nidari e, h nidanân e binidarên e nidaro e niumo d niun[h]lûtîg g oba h obanân e obaro e obarôsto e organa a organisc h organlîh g organ[h]lûta d intquedan h rarta d, g reht h recken d rerten g
girerten girertida [h]ring rotta girucken [h]ruora gisamani samant sang c, sangâri sanglîh sangolîh seito seitsang semftî singan forasingan ubarsingan scal giskeidan skellan foraskellan skellen ubarslahan slahhî slahta spilôn stat ûfgistephen stîgan gistîgan ûfstîganto stillî stillo stimma firstôzan sturzen suntarîgo suozi
g h e a e g b d d, h b f c a c, d g c, d d g d h d d d h g h d e e e e e g d a, d h e d f
suozî suozo suuegala suuegalsang teil timpana trakisc tretanôd tunkal tuon ubarahtǀհdo ûf uneban unein ungiskeidan unhel(li) un[h]lûtreisti unmez untar untarlâz untarskeit ûzlâz uuallôn uuehsal uuehsalôn [h]uuarba [h]uuerban uuerdan uuidariiruuintan uuîsa c, uuort zitarphin zunga zuuifalt zuuifaltîgo zuuiski
f d a d h a f c f c h e f f h f f f h h h e e h g g g d e h c a a h d h
Zur althochdeutschen Musikterminologie
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Torsten Woitkowitz
Bd. 3: E–F (1971–1985, Reprint 2007), Bd. 4: G–J (1986–2002, Reprint 2007), Bd. 5: K–L (2002–2009), Bd. 6: M–N (2010), 1. u. 2. Lfg. Berlin. März, Christoph (1996): Lai, Leich, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume, Sachteil Bd. 5, zweite, neubearbeitete Ausgabe Kassel u. a., 852–867. Schröbler, Ingeborg (1953): Notker III von St. Gallen als Übersetzer und Kommentator von Boethius’ De consolatione Philosophiae, (Hermaea Neue Folge 2) = Phil. Habil.-Schr. Leipzig 1943, Tübingen. Schützeichel, Rudolf (2006): Althochdeutsches Wörterbuch, 6. Aufl., überarbeitet und um die Glossen erweitert, Tübingen. Sehrt, Edward H. (1962): Notker-Glossar. Ein Althochdeutsch-Lateinisch-Neuhochdeutsches Wörterbuch zu Notkers des Deutschen Schriften, Tübingen. Sehrt, Edward H./Legner, Wolfram K. (1955): Notker-Wortschatz. Das gesamte Material zusammengetragen von Edwart H. Sehrt und Taylor Starck, Halle. Splett, Jochen (1993): Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen des Althochdeutschen, zugleich Grundlegung einer zukünftigen Strukturgeschichte des deutschen Wortschatzes. Bd. I,1: Einleitung. Wortfamilien A–L. Bd. I,2: Wortfamilien M–Z. Einzeleinträge. Bd. II: Präfixwörter. Suffixwörter. Alphabetischer Index, Berlin/New York. Tiefenbach, Heinrich (2000): Aus den althochdeutschen Anfängen des Schreibens über Musik, in: Sabine Doering/Waltraud Maierhofer/Peter Philipp Riedl (Hg.), Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag, Würzburg, 27–36. Wickens, Henry Edward (1986): Music and Music Theory in the Writings of Notker Labeo. Diss. Oxford. Wille, Günther (1967): Musica Romana. Die Bedeutung der Musik im Leben der Römer, Amsterdam. Ziegenrücker, Wieland (1977): ABC Musik. 444 Lehrsätze zur Musiklehre, 5. Aufl., Leipzig.
Anna Volodina
Null ist nicht gleich Null: Zur diachronen Entwicklung von Nullsubjekten im Deutschen 1. Einleitung1 Der Aufsatz beschäftigt sich mit Nullsubjekten im Deutschen, einem Phänomen, das aus diachroner Sicht in der Forschung bisher stark vernachlässigt wurde. Der Grund dafür ist die (immer noch) verbreitete Meinung, dass ahd. Nullsubjekte – bedingt durch die sklavische Wortfür-Wort-Übersetzung aus dem Lateinischen – nicht als Teil der nativen ahd. Grammatik angesehen werden (vgl. Schrodt 2004: 73f.). Allerdings lässt sich nach neueren empirisch basierten Arbeiten zu diesem Thema die Lehnsyntax-Hypothese für das AHD nicht länger halten (vgl. Fleischer 2006, Axel 2007, Schlachter 2010). In diesem Aufsatz wird aufgrund empirischer Evidenz für eine sprachgeschichtliche Kontinuität des Nullsubjekt-Phänomens argumentiert, da ähnliche Kontexte und die Lizenzierungsbedingungen, unter denen Nullsubjekte im FNHD und frühen NHD vorkamen, Überschneidungen einerseits mit dem AHD, andererseits mit den heutigen Dialekten offenbaren, wobei die Variationsbreite von Nullsubjekten in den früheren Sprachstufen viel größer ist als heute. Der Aufsatz ist wie folgt aufgebaut: Zunächst diskutiere ich, wie sich das heutige Deutsch im Vergleich zu pro-drop-Sprachen verhält (Abschnitt 2). Danach zeige ich anhand ahd. Daten und neuerer Untersuchungen zum FNHD und frühen NHD die diachrone Entwicklung der Nullsubjekt-Eigenschaft (Abschnitt 3). Überlegungen zur Notwendigkeit einer weiteren systematischeren Erforschung der Diachronie von Nullsubjekten bilden den Abschluss (Abschnitt 4).
1
An dieser Stelle bedanke ich mich bei allen Diskutanten für ihr Feedback zum Vortrag. Für hilfreiche Kommentare und Hinweise zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes danke ich Thomas Strobel und Helmut Weiß. Bei Maria Theresa Distler bedanke ich mich für die Unterstützung bei der Annotation von FNHD-Daten.
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Anna Volodina
2. Deutsch und Nullsubjekt-Sprachen Wie die meisten Sprachen der Welt zählen viele romanische und westslawische Sprachen zu den Sprachen, die pronominale Subjekte nicht notwendigerweise explizit realisieren müssen, nicht aber die germanischen, inklusive des heutigen Standarddeutschen. Die Auslassung des Subjektpronomens im Mittelfeld eines Hauptsatzes wie in (1), in einem eingebetteten Satz wie in (2) oder W-Fragesatz wie in (3) sowie die Auslassung eines semantisch leeren Expletivums wie in (4) ist im Deutschen ungrammatisch. (1) a. Wahrscheinlich arbeitet *(er) in Heidelberg. DEU b. Probabilmente [Ø] lavora a Heidelberg. ITA DEU (2) a. Peterj sagte | dass *(erj) unwiderstehlich ist. b. Ha detto | che [Ø] è irresistibile. ITA (3) a. Wann kommt *(er)? DEU b. Quando viene [Ø]? ITA (4) a. *(Es) regnet. DEU b. [Ø] Piove. ITA Dagegen ist die Setzung eines Subjektpronomens im Italienischen unter denselben syntaktischen Bedingungen keinesfalls obligatorisch, daher bleibt es im nicht-markierten Fall phonetisch leer.2 Im Rahmen der generativen Grammatik geht man davon aus, dass die Subjektpronomina in (1b), (2b), (3b) oder (4b) nur auf der Oberfläche weggelassen werden, d. h., in der syntaktischen Repräsentation sind sie als leeres Pronomen (pro) vorhanden. Hinsichtlich dieser Eigenschaft wird das Italienische den pro-drop-Sprachen (engl. pro-drop languages), das Deutsche im Gegenteil den Nicht-pro-drop-Sprachen zugeordnet. Dieser Kontrast wird in der Regel (vgl. Rizzi 1986) auf morphologische Eigenschaften der jeweiligen Sprachen zurückgeführt: Anders als Nicht-pro-drop-Sprachen wie Deutsch und Englisch sind pro-drop-Sprachen wie Italienisch Sprachen mit reicher Flexion am Verb, die eine eindeutige Markierung der Kongruenzkategorien erlauben, was die leere Kategorie pro identifiziert und lizenziert. Umgekehrt muss das Englische und auch das Deutsche das Pronomen durch lexikalische Realisierung anzeigen. ITA [+pro-drop] ENG [–pro-drop] DEU [–pro-drop] 1.SG parl – o speak sprech – e 2.SG parl – i speak sprich – st 3.SG parl – a speak – s sprich – t 1.PL parl – iamo speak sprech – en 2
Die Stelle des leeren Pronomens wird durch Ø in diesen und weiteren Beispielen verdeutlicht.
Null ist nicht gleich Null
2.PL 3.PL
parl – ate parl – ano
speak speak
271 sprech– t sprech – en
Das Verbparadigma des Italienischen – einer prototypischen pro-dropSprache – unterscheidet sechs verschiedene Formen, das des Englischen dagegen nur zwei, so dass in der Tat keine Eindeutigkeit der Personenmarkierung am Finitum vorhanden ist. Das Deutsche mit fünf – wenn man auch die innere Flexion berücksichtigt – verschiedenen Formen für den Indikativ eines starken Verbs wie sprechen ist zwar nicht so eindeutig wie das Italienische, aber nur bedingt als „arm“ zu bezeichnen.3 Gegen die Annahme einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen reicher Flexion und pro spricht die Tatsache, dass es sowohl pro-drop-Sprachen gibt, die morphologisch hinsichtlich Person-Numerus-Kongruenz nicht markiert sind wie das Japanische, das keine Person-Numerus-Flexion kennt (vgl. Huang 1989, Jaeggli/Safir 1989), als auch Nicht-pro-drop-Sprachen mit reicher Flexion wie das Isländische: Trotz reicher Flexionsmorphologie sind Nullsubjekte im Isländischen auf semantisch nicht gehaltvolle Subjekte (Expletiva) beschränkt (vgl. (5); Haider 2001: 286), in anderen Fällen muss das Subjektpronomen overt realisiert werden: (5) í gœr rigndi. ISL gestern regnete-3.SG „Gestern regnete es.“ Dass Expletiva einen Sonderfall darstellen, lässt sich auch am Beispiel des Deutschen zeigen. Selbst in der Nicht-pro-drop-Sprache Deutsch gibt es eine Position im Mittelfeld, in der Nullexpletiva bei unpersönlichen Passiven obligatorisch sind (vgl. Grewendorf 1989), wie in (6b) und (6c) gezeigt: (6) a. Es wurde auf der Hochzeit viel getanzt. b. Auf der Hochzeit wurde *es/[Ø] viel getanzt. c. Der Mann erzählte, dass *es/[Ø] auf der Hochzeit getanzt wurde. Werden standardsprachliche Strukturen wie in (6a), wo es als Platzhalter im Vorfeld eines Hauptsatzes realisiert werden muss, im gesprochenen Deutsch oder in den deutschen Dialekten geäußert, ist das Subjektpronomen optional zu setzen, vgl. (6a'): (6) a'. Wie ist die Hochzeit gelaufen? (Es) Wurde viel getanzt.
3
Gereon Müller (2006) sieht systematische Synkretismen im Paradigma der Verbalflexion als Blockierer für pro. Die Synkretismen betreffen die 1 und 3SG.Prät., die 1 und 3PL, die 3SG und 2PL.Präs. sowie 2 und 3SG.Präs., die das Flexiv /t/ gemeinsam haben.
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Auch referentielle Subjekte (7a und b) und – wenn auch seltener – Objekte (7c), sofern sie aus dem Ko- oder Kontext rekonstruierbar sind, können unter bestimmten pragmatischen Bedingungen (z. B. in Frage-AntwortSequenzen) im Vorfeld selbständiger V2-Sätze getilgt werden:4 (7) a. Wo war denn Peterj gestern? [Ø]j Hat gestern zu Hause gearbeitet. a.' Wo war denn Peter gestern? Gestern hat *(er) zu Hause gearbeitet. b. Morgen ist die Institutsparty! [Ø] Bin auch eingeladen! b.' ICH bin auch eingeladen, DU nicht! c. Gehst du mit ins Kino? [Der neue Harry Potter]j läuft. [Ø]j Habe ich schon gesehen. c.' Gehst du mit ins Kino? Der neue Harry Potter läuft. Ich habe *(ihn) schon gesehen. Anders als in den pro-drop-Sprachen (und auch im schriftlichen Standarddeutschen) steht den Nullargumenten im gesprochenen Deutsch5 ausschließlich die sogenannte Topik-Position zur Verfügung. Wird das Vorfeld des Satzes anderweitig besetzt, muss das Subjekt- bzw. Objektpronomen postfinit in der Wackernagelposition obligatorisch gesetzt werden (vgl. 7a' und 7c'). Das erklärt auch, warum Konstruktionen, in denen Topik-drop im Gegenwartsdeutschen vorkommen kann, ausschließlich Matrix-Sätze sind: In w-Sätzen (Interrogativ-, Exklamativsätze, Entscheidungsfragen) und Nebensätzen (inklusive eingebettete V2-Sätze) muss das Subjektpronomen dagegen overt realisiert werden (vgl. 2a und 3a). Neben dieser syntaktischen Beschränkung wird eine wichtige Rolle der Informationsstruktur beigemessen: Topikale Elemente können nur dann weggelassen werden, wenn sie keinen Kontrastfokus haben wie in (7b') oder wenn kein Topikwechsel vorliegt. Sie müssen außerdem koindiziert auftreten, d. h., nur Elemente mit derselben syntaktischen Funktion können getilgt werden (vgl. 7a und 7c); (für weitere Bedingungen für Topik-drop siehe Fries 1988). Für Topik-drop gibt es keine morphologischen Beschränkungen. D. h., in der Topik-Position können Subjektpronomina aller Personen und Numeri weggelassen werden, unabhängig davon, ob das Antezedens in der 3.SG/PL belebt oder unbelebt auftritt. In der 1.SG/PL referieren Nullsubjekte ausschließlich auf Personen, sie werden ohne anaphorischen Bezug meist in bestimmten (konzeptionell mündlichen) Textsorten wie Privatbrief, E-Mail, Chat oder Tagebuch verwendet, daher werden sie in der Literatur unter Diary-drop (siehe Haegeman 2000 für das Englische) geführt.
4 5
Unter (7) sind keine Koordinationsellipsen aufgeführt. Das Deutsche soll hier nicht als ein grammatisch monolithes System verstanden werden.
Null ist nicht gleich Null
273
Schon anhand dieser wenigen Beispiele kann man mit Sicherheit zeigen, dass das gesprochene Deutsch (im Kontrast zum konzeptionell schriftlichen Standarddeutsch) in gewissem Sinne eine Nullsubjekt-Sprache ist, die einer eigenständigen Behandlung bedarf. Die oben aufgelisteten Lizenzierungsbedingungen für Nullsubjekte im (gesprochenen) Deutsch unterscheiden sich aber systematisch in entscheidenden Punkten von den Lizenzierungsbedingungen für pro im Italienischen. Diese lassen sich wie folgt tabellarisch festhalten:
Möglichkeit für (referentiellen) Subjekt-drop
Gespr. DEU
ITA
¥
¥
– diskursabhängig
¥
−
– positionsabhängig
¥
−
Möglichkeit für (nicht-referentiellen) Expletiv-drop
sehr eingeschränkt
¥
Möglichkeit für Objekt-drop
¥
−
Sprachtyp
Topik-drop
pro-drop
Tab 1: Unterschiede zwischen dem gespr. DEU und ITA bzgl. Nullsubjekt-Eigenschaft
Im Unterschied zur pro-drop-Sprache Italienisch wird (gesprochenes) Deutsch in der Forschung generell als Topik-drop-Sprache behandelt (spätestens seit Huang 1984). Abgesehen von Fällen mit obligatorischen Nullexpletiva bei unpersönlichem Passiv sprechen die strukturellen Eigenschaften des Deutschen gegen die Annahme von pro-drop. Das gesprochene Deutsch ist und war eine Topik-drop-Sprache – das ist unumstritten. Die Frage, ob sich das ältere Deutsch gegebenenfalls auf die Topik-dropEigenschaft reduzieren lässt, oder diachron doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu prototypischen pro-drop-Sprachen aufweist als bisher angenommen, soll im nächsten Kapitel erörtert werden.
3. Nullsubjekt-Eigenschaft und Diachronie des Deutschen 3.1. Nullsubjekte im Althochdeutschen In der Forschung wird nach wie vor kontrovers diskutiert, ob das AHD und die altgermanischen Sprachen im Allgemeinen (referentielles) prodrop aufwiesen oder nicht. Abgesehen von der theoretischen Debatte über die Art von ahd. „Subjektlücken“, die hier nicht weiter verfolgt wird, stellt die überlieferte Beleglage große Schwierigkeiten für die Forschung dar. Die frühesten Texte des AHD weisen eine relativ hohe Anzahl von
274
Anna Volodina
Nullsubjekten auf, während sie bei Notker kaum belegt sind,6 was intuitiv den Schluss erlaubt, dass in der ahd. Grammatik Nullsubjekte nicht vorgesehen waren. Auf den ersten Blick scheint die empirische Beobachtung, die Eggenberger (1961) macht, eine Erklärung dafür zu liefern, warum die Nullsubjekt-Eigenschaft nicht als natives Phänomen der ahd. Grammatik angesehen werden kann: „Es sind nicht die ältesten Texte, die das Subjektpronomen vermissen, sondern die lateinischsten“ (Eggenberger 1961: 167). Bei den ältesten überlieferten Texten (z. B. Isidor, Tatian) handle es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Wort-für-Wort-Übersetzungen aus dem Lateinischen, das bekanntlich eine pro-drop-Sprache ist. Daher sei das hohe Vorkommen von Nullsubjekten gerade in diesen Texten nicht überraschend. Während die älteren Arbeiten an der Lehnsyntaxhypothese festhalten, lassen die neueren Untersuchungen zum AHD von Fleischer (2006), Axel (2007) und zuletzt Schlachter (2010), die sich nicht nur auf Eggenbergers Auszählungen beruft, sondern auch eigene Erhebungen in die Analyse einbezieht, keinen Zweifel daran, dass die Nullsubjekt-Eigenschaft ein natives Phänomen des AHD ist: Mit der Lehnsyntaxhypothese lässt sich nicht erklären, warum die Distribution von Nullsubjekten im AHD anders als im Lateinischen ist, insbesondere – warum Subjektpronomina gegen die lateinische Vorlage gesetzt werden (vgl. Belege aus Tatian in Fleischer/Hinterhölzl/Solf 2008: 225), – warum Nullsubjekte nur in bestimmten grammatischen Strukturen lizenziert sind (Axel 2007) und schließlich – warum im Isidor der Zitatteil, der in besonderer Weise unter dem Einfluss des Lateinischen steht, nicht mehr, sondern weniger Nullsubjekte aufweist als der Traktatteil (siehe eine neue Evaluierung ahd. Daten in Schlachter 2010). Axel (2007) argumentiert gegen die Lehnsyntaxhypothese und für die Annahme von pro-drop im AHD. Sie zeigt, dass vor allem bei den ältesten ahd. Texten (Isidor, Monseer Fragmente und Tatian) eine asymmetrische Distribution in Bezug auf die Person bei Subjektauslassungen besteht. Pronominale Subjekte werden auffällig häufiger in der 3.SG und PL ausgelassen: „Referential null subjects are attested in all persons and nambers. However […], it is only in third person singular and plural that the null variant is used more frequently than the overt one“ (Axel 2007: 314). Eine solche personenspezifische Verteilung zwischen overt und covert realisier6
Nach der Auszählung von Eggenberger (1961) wird bei Isidor (vor 800) etwas weniger als ein Drittel (28 %) aller Subjektpronomina overt realisiert, bei Tatian (vor 850) ca. 40 %, dagegen finden sich bei Notker (10. Jh.) und Williram (11. Jh.) jeweils nur noch 4 Belege für Nullsubjekte.
Null ist nicht gleich Null
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ten Subjektpronomina ist für die pro-drop-Sprache Latein untypisch, weil pro-drop-Sprachen generell keine morphologische Restriktion haben. Die Verbalmorphologie allein (mit einer Ausnahme in der 1.PL) kann aber das Vorkommen von Nullsubjekten im AHD nicht lizenzieren, stattdessen bestehe nach Axel (2007) ein direkter Zusammenhang zwischen der Art der Verbstellung und der Möglichkeit, Subjekte auszulassen: Tendenziell begünstigen V2-Sätze Nullsubjekte, in den VE-Sätzen muss dagegen das Subjektpronomen overt realisiert werden. Eine solche asymmetrische syntaktische Distribution ist für das Lateinische wiederum untypisch. Die Generalisierung lautet: Nullsubjekte sind nur dann lizenziert, wenn sie postfinit realisiert werden (Axel 2007: 313) wie in (8): (8) Sume hahet [Ø] in cruci (MF XVIII,17; AHD, einige hängt (ihr) in kreuz zit. nach Axel 2007: 293) „Einige werdet ihr kreuzigen.“ Dies würde erklären, warum ahd. Nullsubjekte in VE-Sätzen overt realisiert werden. Die Möglichkeit zur postfiniten Realisierung von Nullsubjekten ist im heutigen Standarddeutschen nicht gegeben, dafür lassen sich solche Nullsubjektrealisierungen analog zu Nullsubjekten in der prodrop-Sprache Italienisch analysieren, was Axel dazu veranlasst, pro-drop im AHD anzunehmen, das – anders als in den prototypischen pro-dropSprachen – syntaktisch lizenziert wird. Schlachter (2010) verweist außerdem darauf, dass neben post- auch präverbale Nullsubjekte nicht selten belegt seien: (9) „Sus quhad druhtin uuerodheoda got: [Ø] sendida mih after guotliihin zi dheodom, So sprach (der) Herr, der Heer Gott: (er) sandte mich zu seinem Ruhm zu den Völkern ‚Hęc dicit dominus deus exercituum: Post gloriam misit me ad gentes‘ (Is. III.8, Eg. 217–219, He 11,17–18, zit. nach Schlachter 2010) Daten wie (9) würden zwar der von Axel (2007) vorgeschlagenen Analyse, dass pro durch die Präsenz von Flexion in C0/in der linken Satzklammer lizenziert wird, widersprechen, der Idee einer partiellen pro-drop-Sprache AHD stünden sie trotzdem nicht im Wege. Außerdem ist gegen Schlachter (2010) zu erwähnen, dass es im AHD V1-Deklarative gab, so dass eine postfinite Ansetzung von pro bei Fällen wie (9) nicht auszuschließen ist (vgl. Axel 2007: 311f.).
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3.2. Nullsubjekte im Übergang zum NHD Wenn man das AHD mit Axel (2007) als partielle pro-drop-Sprache analysiert, stellen sich die Fragen, ob und ab wann (referentielles) pro-drop in der Geschichte des Deutschen nicht mehr möglich ist und mit welchen grammatischen Restriktionen dies zusammenhängen kann. Die Antworten auf diese Fragen hängen miteinander zusammen. 3.2.1. Verlust oder Etablierung von Nullsubjekten? Die Standardmeinung besagt, dass Nullsubjekte im Übergang zum MHD verschwinden. Als Ursache für den Verlust von Nullsubjekten wurde die Verarmung der Flexionsparadigmen im Übergang vom AHD zum MHD diskutiert, wodurch morphologische Transparenz nicht mehr gewährleistet werden konnte und Subjektpronomina obligatorisch wurden. Dass Flexionsmorphologie nicht zwangsläufig in einem direkten kausalen Zusammenhang mit der Nullsubjekt-Eigenschaft steht, wurde bereits in Abschnitt 2 diskutiert. Demnach kann der Abbau der Flexionsmorphologie nicht der (einzige) Grund für den Verlust von Nullsubjekten in den früheren Sprachstufen des Deutschen sein.7 Außerdem kann mit flexionsmorphologischem Wandel nicht erklärt werden, warum der Rückgang von Nullsubjekten nicht wie bisher angenommen im Übergang zum MHD, sondern schon viel früher stattfindet, und zwar im Übergang vom mittleren zum späteren AHD,8 wo keine nennenswerten diachronen Veränderungen morphologischer und syntaktischer Art aufgetreten sind. Welche Faktoren einen Nullsubjektverlust tatsächlich ausgelöst haben, darüber kann nach wie vor wegen der spärlichen Datenlage nur spekuliert werden. Dass in den mhd. Verstexten, die meistens als Grundlage für die Untersuchungen des MHD dienen, das Subjektpronomen stets overt realisiert wird, ist lange noch kein Grund für die Annahme, dass Nullsubjekte, welcher Art auch immer sie sind, endgültig verschwunden sind. Diese Veränderung kann auch der Textsorte bzw. dem durch die Textsorte variierenden Sprachgebrauch geschuldet sein. Offensichtlich muss auch bei der Analyse historischer Texte das Spannungsverhältnis zwischen der stan-
7
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Als mögliche Ursachen dafür werden in der Literatur außerdem syntaktischer Wandel mit der Entwicklung vom synthetischen zum analytischen Satzbau (Nübling et al. 2006) und die Obligatorisierung des Subjektpronomens als eine Folge dessen Grammatikalisierung (Szczepaniak 2009) diskutiert. Bei Notker (10. Jh.) bzw. Williram (11. Jh.) sind Nullsubjekte kaum belegt (siehe auch die Fußnote 6).
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dardisierten Form des Deutschen, der dialektal geprägten Syntax und der (konzeptionell) mündlich geprägten Syntax (dazu zuletzt Fleischer 2010) mitberücksichtigt werden. Eine Differenzierung zwischen Dialektsyntax, Syntax des (konzeptionell) gesprochenen und Syntax des (konzeptionell) geschriebenen Standards ist generell dann sinnvoll, wenn ein bestimmtes grammatisches Phänomen niemals oder äußerst selten in den gleichen Kontexten in den drei genannten Varietäten des Deutschen anzutreffen ist. Für die Realisierung von Nullsubjekten würde das heißen, dass das Nullsubjekt-Phänomen die grammatischen Regeln einer Varietät befolgt, aber nicht zwangsläufig der anderen.9 Dieses Argument scheint auf einer soliden empirischen Evidenz zu beruhen. Anknüpfungspunkte ergeben sich zur Situation in den meisten heutigen Dialekten des Deutschen, wie hier am Beispiel des Bairischen dargestellt, vgl. (10). Wie im AHD können auch in den Dialekten Nullsubjekte im Mittelfeld eines V2-Satzes optional realisiert werden, vgl. (10a). Ist die subordinierende Konjunktion dagegen wie das Verb flektiert, kann das pronominale Subjekt in derselben strukturellen Konstellation zu den Kongruenzmerkmalen wie in (10a) stehen und darf daher auch in einem VE-Satz covert realisiert werden, wie in (10b) gezeigt. (10) a. I glaub, morng sads [Ø] wieder gsund. b. Wennsd [Ø] af Minga kimsd. (zit. nach Weiß 1998: 125) Obwohl Sätze wie (10b) im AHD nicht belegt sind, zeigen sie eine klare Parallele zu den in Abschnitt 3.1 beschriebenen ahd. pro-drop-Strukturen.10 Nullsubjekte wie in (10b) unterliegen denselben Lizenzierungsbedingungen wie pro-drop im AHD: Sie werden im Mittelfeld nach der Flexion in C0/in der linken Satzklammer realisiert. Der Analyse in Axel/Weiß (2010) folgend lassen sich einerseits Erweiterung der pro-drop-Eigenschaft auf Nebensätze, andererseits aber auch morphologische Einschränkungen in Bezug auf die Person feststellen, da sie nur bei pronominaler Flexion, d. h. hauptsächlich in der 2.SG/PL lizenziert sind. Die relevante Entwicklung in der Lizenzierungsbedingung fand wahrscheinlich im späten AHD statt. Identische Lizenzierungsbedingungen für pro im AHD und in der heutigen Dialektsyntax sprechen möglicherweise für eine kontinuierliche Entwicklung der Nullsubjekteigenschaft im Deutschen und dafür, dass
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Ähnlich argumentieren auch Kaiser/Meisel (1991) für das Französische, das „in einigen Varietäten zutreffend als Null-Subjekt-Sprache beschrieben werden kann, während andere Varietäten nicht die entsprechenden syntaktischen Charakteristika aufweisen“ (ebd., 110). 10 Nullsubjekte wie in (10) werden in Bayer (1984: 378) und Weiß (1998: 116ff., 2005) als pro-drop interpretiert.
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solche Strukturmuster mit hoher Wahrscheinlichkeit in mhd. und fnhd. Texten der entsprechenden Varietät zu finden sind (vgl. Axel/Weiß 2010). 3.2.2. Nullsubjekte im FNHD und im frühen NHD Um die Veränderungen bei der diachronen Entwicklung von Nullsubjekten im Deutschen nachvollziehen zu können, ist eine detaillierte Analyse aller historischen Sprachstufen des Deutschen nötig, allerdings fehlen bislang verlässliche Daten für das MHD und FNHD. Die einzige umfassende empirische Arbeit, die sich mit referentiellen Nullsubjektstrukturen im MHD und FNHD beschäftigt, ist immer noch die von Held (1903). Diese genügt aber heute weder den methodischen noch theoretischen Ansprüchen. Am Lehrstuhl für Historische Sprachwissenschaft (Institut für Linguistik) an der Goethe-Universität Frankfurt wird eine neue, empirisch breit angelegte Korpusstudie zu Nullsubjekten im MHD und FNHD vorbereitet. Schon im Vorfeld dieser größeren Studie wurden im Rahmen kleinerer korpusbasierter Pilotstudien zum frühen NHD und FNHD die in Axel (2007) und Axel/Weiß (2010) aufgestellten Hypothesen ansatzweise empirisch überprüft. Eine Analyse zweier nichtliterarischer Texte um 165011 (liegt mit Volodina 2009 publiziert vor) und eines frühneuhochdeutschen Texts um 145012 zeigen, dass referentielle und nicht-referentielle Nullsubjekte der erwähnten Zeitabschnitte einerseits erstaunliche Parallelen zum AHD, andererseits aber auch deutliche syntaktisch-strukturelle, referentielle sowie paradigmatische Unterschiede zur Situation im heutigen Deutsch aufweisen. Ob und welche Unterschiede sich zwischen dem MHD und FNHD im Allgemeinen und zwischen den einzelnen Varietäten der untersuchten Sprachstufen in Bezug auf die Distribution und Typologie von Nullsubjekt-Strukturen feststellen lassen, soll die Aufgabe einer breiter angelegten Korpusstudie sein. Im Rahmen dieses Aufsatzes werde ich lediglich auf drei Fragen eingehen:
11 Die Auswertung bezieht sich auf zwei Textausschnitte (je 12 000 Wörter) aus autobiographischen Chroniken um 1650: die eine ist von Augustin Güntzer, die andere von Caspar Preis (nähere Textcharakteristika in Volodina 2009, außerdem Hennig 2009). Quelle: Kasseler DFG-Projekt-Korpus „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“ (Leitung: V. Ágel, M. Hennig). 12 Helene Kottanerin, Denkwürdigkeiten, Wien 1445–1452. Quelle: Text 113: Bonner Korpus http://www.korpora.org/Fnhd/FnhdC.HTML/113.html
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FRAGE 1: Wie frequent sind Nullsubjekt-Strukturen in den untersuchten Texten des FNHD und frühen NHD und welche morphologische Distribution weisen sie auf? FRAGE 2: Stützt der empirische Befund die These der historischen Kontinuität des Nullsubjekt-Phänomens (vgl. Axel/Weiß 2010)? FRAGE 3: Gibt es in den untersuchten Sprachstufen auch andere Typen referentieller Nullsubjekte, die im heutigen Deutsch nicht mehr belegt sind, und wodurch ist ihr Vorkommen lizenziert? ad 1: In dem ausgewerteten FNHD-Text liegt der Anteil covert realisierter Subjektpronomina bei ca. 12 %, der absolute Wert beläuft sich auf 83 Belege.13 Im morphologischen Bereich zeichnet sich eine klare Tendenz bei der Auslassung des Subjektpronomens in der 3.SG und 3.PL ab. In der 3.PL liegt der Anteil von Nullsubjekten sogar deutlich über dem Durchschnittswert. Die gleiche Distribution zeigen auch die Daten aus dem frühen NHD (vgl. Volodina 2009), die Nullsubjektrealisierung in der 3.SG/ PL ist deutlich prominenter als in den anderen Personen und Numeri. Da die 2.SG im untersuchten FNHD-Text overt nicht realisiert ist, ist auch ein covertes Vorkommen nicht zu erwarten, anders als in der 1.SG und 2.PL, in denen overt realisierte Subjektpronomina sehr häufig sind. 100% 90% 80% 70%
60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% overt covert
SG 1 95 % 5%
SG 2 0% 0%
SG 3 87 % 13 %
PL 1 89 % 11%
PL 2 92 % 8%
PL 3 72 % 28 %
Abb. 1: FNHD-Daten: Person-Numerus-Distribution
In den beiden Texten des frühen NHD dagegen kommen interessanterweise die auch in der heutigen gesprochenen Syntax typischen Auslassungen des Subjektpronomens in der 1.SG und PL im Vorfeld erheblich 13 Koordinationsellipsen haben einen anderen Status als in diesem Aufsatz besprochene Subjektauslassungen, sie sind daher bei dieser Auswertung nicht berücksichtigt worden.
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häufiger vor (vgl. (11a)). Nullsubjekte im Mittelfeld, die als pro zu analysieren sind, können mit den ersteren wegen des niedrigen Vorkommens nicht konkurrieren, sind aber auch noch im frühen NHD mit 6 % (35 Belege) aller Nullsubjekt-Realisierungen (vgl. Volodina 2009: 58) nicht ganz unerheblich (vgl. (11b)): (11) a. Wir haben auch 12 Schw[e]in in der Mast gehabt. [Ø] Haben ein Schwein davon geschlacht den 25ten Novemberis. (Preis S. 163, zit. nach Volodina 2009: 60) b. auch ginge [Ø] zum tritten fihr deß obern schultzißen hauß (Güntzer, f. 104 v.) ‚auch ginge (ich) zum dritten Mal zu dem Haus des oberen Schultheiß‘ ad 2: Wenn die in Axel/Weiß 2010 aufgestellte These nach historischer Kontinuität der Nullsubjekt-Eigenschaft im Deutschen haltbar ist, sollen (im Idealfall) auch die Daten des FNHD die gleiche Tendenz hinsichtlich morphologischer und syntaktischer Muster aufweisen wie im AHD und/ oder in den Dialekten des Deutschen oder theoretisch durch identische Lizenzierungsbedingungen erklärbar sein. Im untersuchten FNHD-Text zeigen sich klare Überschneidungen mit dem AHD (Eggenberger 1961, Axel 2007) nicht nur in morphologischer Hinsicht in Bezug auf das häufige Vorkommen von Nullsubjekten in der 3.SG und PL, sondern auch in syntaktischer Hinsicht: Wie im AHD sind Nullsubjekte im FNHD und frühen NHD fast ausschließlich auf Hauptsätze beschränkt (für einige Ausnahmefälle siehe FRAGE 3). Ein mögliches Problem stellt aber die obligatorische morphologische Beschränkung auf die 2.SG und PL hinsichtlich der Lizenzierung von Nullsubjekten in den heutigen Dialekten dar, was sich gerade komplementär zur Distribution von Nullsubjekten im AHD sowie FNHD und frühen NHD (hier: exemplarisch beschränkt auf die untersuchten Texte) verhält. Ein Faktor ist sicherlich das Fehlen von „flektierten Konjunktionen“ zu dieser Zeit, die die Absenz von pro in Nebensätzen plausibel macht. Das erklärt aber noch nicht vollständig, warum pro in der 2.SG in den untersuchten Texten auch in Hauptsätzen weniger häufig vorkommt als in der 3.SG/PL. Entweder ist das tatsächlich ein Gegenargument – oder Zufall:14 Das kann erst eine größere Korpusstudie klären.
14 Für Letzteres sprechen die Ergebnisse einer kleinen Pilotstudie zu Faßnachtsspielen von Hans Sachs, in denen sich die 2.SG tatsächlich wie in den heutigen Dialekten zu verhalten scheint, was die Möglichkeit von pro betrifft.
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ad 3: Schon anhand der ersten Ergebnisse wird deutlich, dass die Vielfalt von Strukturen, in denen Nullsubjekte vorkamen, viel größer ist als heute. Wie an den historischen Daten gezeigt werden kann, kamen im Deutschen immer schon mindestens zwei strukturell unterschiedliche Arten von pronominalen Nullsubjekten vor: Neben zahlreichen satzinitialen Subjektauslassungen (Topik- und Diary-drop-Belege wie in (11a)), die auch für die Syntax der heutigen gesprochenen Sprache typisch sind, sind auch satzinterne Auslassungen von Subjekten nicht unüblich (vgl. (11b)). Die letzteren als pro zu analysierenden Subjektauslassungen sind synchron gesehen z.T. in keiner Varietät des Deutschen mehr grammatisch. Frühere Sprachstufen des Deutschen verfügten über deutlich mehr Arten von Nullsubjekten, deren Erhebung und theoretische Analyse noch aussteht. So finden sich auch in den untersuchten Texten Nullsubjekte, die auf den ersten Blick sowohl gegen die Lizenzierungsbedingungen von Topik-drop im heutigen (gesprochenen) Deutsch als auch gegen die Lizenzierungsbedingungen von pro-drop im AHD und in den heutigen Dialekten verstoßen: (12) a. begerdten an michj, [Ø]j sollte mit Machen (Güntzer, f. 60 v.). „sie verlangten von mir, (ich) sollte mit machen.“ b. ich solt auf das haws vnd solt versFchen, ob [Ø] ir kran vnd ander ir klainat mocht hinab zu ir bringen (Kottanerin, 13,13). „ich sollte in das Haus und sollte versuchen, ob (ich) ihre Krone und ihre anderen Kleinodien zu ihr hinab zu bringen vermöchte.“ Gegen die Analyse des Nullsubjektpronomens in der 1.SG als pro in (12a) spricht die Realisierung des Nullsubjekts im Vorfeld, gegen die Analyse von Topik-drop die Tatsache, dass der vorliegende V2-Satz kein eigentlicher Hauptsatz ist, sondern in die Struktur des vorherigen eingebettet ist.15 Das Nullsubjekt in (12b) kann einerseits kein Topik-drop sein, weil es nicht satzinitial realisiert wird, andererseits auch kein pro, weil pro durch die Flexion in C0/in der linken Satzklammer lizenziert wird, was in einem Nebensatz mit der Option „flektierte Konjunktion“ einhergehen sollte. Offensichtlich haben sich die Lizenzierungsbedingungen im FNHD und frühen NHD z.T. geändert.
15 Im heutigen Deutsch ist in dieser Position ein overtes Subjektpronomen obligatorisch.
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4. Fazit und Ausblick In den früheren Sprachstufen des Deutschen zeigen sich sowohl eine erstaunliche Konstanz als auch einige bemerkenswerte Veränderungen in Bezug auf die Distribution und die Lizenzierungsbedingungen von referentiellen Nullsubjekten. Diese Fälle umfassen pro-drop, Topik- und Diary-drop, Nullsubjekte in eingebetteten V2-Sätzen und in Nebensätzen, die allerdings weder unter Topik-(bzw. Diary-)Drop noch unter pro-drop subsumiert werden können. Manche dieser Möglichkeiten sind nur für frühere Sprachstufen belegt, andere kommen auch im NHD vor. Die Entwicklung von Nullsubjekten im Deutschen ist ein spannendes, sowohl empirisch als auch theoretisch vielversprechendes Thema, das einer umfangreichen Korpusuntersuchung bedarf. Die neuen Belege sollen die empirische Belegbasis sowie den theoretischen Horizont von Nullsubjekten in der Diachronie des Deutschen erweitern, u.a. soll die Frage nach dem Nullsubjektstatus des Deutschen geklärt werden.
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Renata Szczepaniak (Hamburg)
Zum Stand des Jespersen-Zyklus im Nibelungenlied (HS A): Starke und schwache negativ-polare Elemente 1. Einleitung Im Mittelhochdeutschen spielt sich die entscheidende Phase des sog. Jespersen-Zyklus ab (vgl. Behaghel 1918, Donhauser 1996, 1998, Lenz 1996, Jäger 2005, 2008): Geht man von drei Stufen der formalen Erneuerung des Verbalnegators aus, in der die Satznegation in Phase I mit einem selbstständigen preverbalen Negator (ahd. ni) realisiert, in Phase II durch einen neuen Negator (mhd. niht) erweitert und in Phase III durch den verselbstständigten neuen Negator (nhd. nicht) ausgedrückt wird, so findet im Mittelhochdeutschen ein Quantensprung im Bereich der Satznegation statt: In einer sehr kurzen und instabilen Phase II setzt sich der neue Negator niht durch (vgl. Breitbarth 2009). Die Ablösung des alten Negators (ahd. ni > mhd. ne, en, n) ist damit schon im Mittelhochdeutschen besiegelt, so dass er im Oberdeutschen bereits im 13. Jh. selten ist (vgl. Lehmann 1978: 103). Der Ablösungsprozess, und damit der Übergang in Phase III, ist im Oberdeutschen (und Ostmitteldeutschen) um 1500 (fast) abgeschlossen, im Westmitteldeutschen um 1700 (vgl. Pensel 21981). Vor seiner endgültigen Ablösung tritt der Altnegator auffällig häufig in Verbindung mit Modalverben auf. Nach Pensel (1981: 312) sind 40 % aller mit en negierten Verben Modalverben. Zudem beobachtet u.a. Behaghel (1924: 70ff.) expletive Gebrauchsweisen des späten Altnegators. In dieser korpuslinguistisch basierten Studie stehen zwei Fragen im Vordergrund: Zum einen soll die formale und funktionale Vielfalt der Satznegatoren in der gesamten Handschrift A (HS A) des Nibelungenlieds erfasst werden (Kap. 2). Diese auf das letzte Viertel des 13. Jhs. datierte Handschrift gehört genau in die Zeit der fortgeschrittenen Ablösung des Altnegators im Oberdeutschen und enthält somit wichtige Hinweise zum Stand und zum Verlauf des Jespersen-Zyklus. Zum anderen wird das Augenmerk auf die Semantik der negierten Verben gerichtet (Kap. 3). Es soll überprüft werden, ob der Altnegator auch im Nibelungenlied vornehm-
Zum Stand des Jespersen-Zyklus im Nibelungenlied (HS A)
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lich mit Modalverben auftritt oder ob eine anders beschaffene Korrelation zwischen Verb- oder auch Satzsemantik und Negationsform feststellbar ist. Die bereits erwähnten Beobachtungen lassen drei Interpretationen zu: 1) Aufgrund einer sehr hohen Kookkurrenz bleibt der Altnegator in Verbindung mit Modalverben am längsten erhalten. 2) Der Altnegator entwickelt sich bereits im Nibelungenlied vom starken zum schwachen negativ-polaren Element. Er tritt alleine nur noch in nicht-affirmativen, nonnegativen Kontexten auf (darunter in Fragesätzen, exzeptiven Konditionalsätzen), markiert also in erster Linie, dass die Proposition nonveridikal, d. h. nicht wahrheitsfähig ist. Die Veridikalität ist dann gegeben, wenn die Proposition nach Einschätzung des Sprechers wahr ist (vgl. Giannakidou 1998, 2009). 3) Modalverben und semantisch verwandte Experiencerverben treten bevorzugt in nicht-affirmativen (darunter negativen) Kontexten auf. Gerade in solchen Kontexten entwickeln Experiencerverben modale Lesarten. Die hohe Kookkurrenz des Altnegators mit Modalverben ist ein Nebeneffekt dieser semantischen Entwicklung. Obwohl man leicht dazu neigen könnte, spontan der ersten Interpretation zuzustimmen, bestätigt die vorliegende korpuslingustische Untersuchung die Richtigkeit der zweiten und der dritten Hypothese.
2. Das komplexe Negationssystem im Nibelungenlied (HS A) – Formen und Funktionen Das Nibelungenlied weist ein komplexes Negationssystem auf, das auf ein weit fortgeschrittenes Stadium des Jespersen-Zyklus hinweist. Hier sind alle drei Ausdrucksmöglichkeiten zu finden, wobei die graphische Form und der syntaktische Status des Altnegators stark variieren: 1) Ausdrucksmöglichkeiten der Satznegation im Nibelungenlied (HS A) a) Einfachnegation mit Altnegator ne (frei) Nv ne welle got von himel […] daz (NL 2114,1) „Nun verlange Gott im Himmel nicht, dass …“ en (frei) Daz wil ich niht versprehen […] ich en sehe vil gerne den rFdegers lip. (NL 1161,1–2) „Das will ich nicht leugnen, dass ich Rüdiger sehr gerne begegne“ en (enklitisch) eren het im leide getan (NL 1516,4) „Er hat ihm nicht leidgetan“
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ne (enklitisch) ine weiz ez e geschach (NL 1775,1) „Ich weiß nicht, ob es eher geschah“ n (enklitisch) ian weiz ich waz ir kleit (NL 934,1) „Ja, ich weiß nicht, worüber Ihr klagt“ en (proklitisch) ?ch enrNch ich waz mich nidet des kvnic Eceln wip (NL 1720,4) „Auch kümmert es mich nicht, weshalb mich Etzels Gemahlin hasst“
b) Doppelnegation (ne/en/n + niht) z. B. ich enweiz niht wer mir hivte minen vergen slGch (NL 1543,3) „Ich weiß nicht, wer heute meinen Fährmann erschlagen hat“
c) Einfachnegation mit dem neuen Negator niht daz leret mich min vater niht (NL 1684,4) „Das hat mich mein Vater nicht gelehrt“
Die Untersuchung zur Häufigkeit der einzelnen Negationsformen wurde mit Hilfe der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank durchgeführt, die semantisch annotierte mittelhochdeutsche Korpora bereitstellt.1 Es überrascht nicht, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle (71 %) die Negation durch niht realisiert wird, s. Abb. 1. In weiteren 16 % bildet niht mit dem Altnegator den komplexen Negationsausdruck. Nur in 13 % aller Fälle wird die Negation ohne niht realisiert (zur prosodischen Abhängigkeit des Altnegators im Mittelhochdeutschen s. Szczepaniak 2010). Betrachtet man die Belege näher, in denen niht fehlt, so fällt auf, dass der Altnegator hier in mehr als der Hälfte aller Fälle in Verbindung mit einem weiteren, semantisch komplexen Negationsträger wie niemen, nimmer oder nie auftritt (59 %).2 Bei einer näheren Betrachtung der wenigen Kontexte, in denen der präverbale Negationsmarker alleine auftritt, wird klar, dass es sich ausschließlich um nicht-deklarative Hauptsätze wie in (2a), exzeptive (asyndetisch verbundene) Konditionalsätze wie in (2b), Konditionalsätze wie in (2c), satzwertige Komplemente von adversativen
1
2
In einer stichprobenartigen Überprüfung der Suchergebnisse der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank wurden einige Abweichungen von der Handschrift sichtbar. Erfreulicherweise beschränken sich diese jedoch auf die freie bzw. gebundene graphische Form der Altnegatoren <ensach> vs. <en sach>, die für diese Untersuchung keine Rolle spielt. Das Indefinitum kein lässt in solchen Negationskontexten wie ia entar ich in vor ecele/geraten cheinen haz (NL 1842,2) neben der ursprünglichen (‚irgendein‘) auch die Negationslesart (‚kein‘) zu. Trifft dies zu, wird es zu den komplexen Negationsträgern dazugerechnet.
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80% 71%
70% 60% 50% 40% 30% 16%
20% 13%
10%
ne/en/n
ne/en/n + niht
niht
0% Abb. 1: Frequenz der Negationsausdrücke im Nibelungenlied (HS A)
Prädikaten (des Verbots, des Zweifelns, der Verweigerung) wie in (2d) oder (sehr selten) um Verbindungen mit Experiencerverben wie in (2e) handelt. 2) Vorkommenskontexte von ne/en/n a) nicht-deklarative Hauptsätze Nv ne welle got von himel […] daz (NL 2114,1) „Nun verlange Gott im Himmel nicht, dass…“
b) exzeptive Konditionalsätze Der ist so grimmes mNtes der lat ivch niht genesen irn welt mit gGten sinnen bi dem helde wesen (NL 1487,1–2) „Er ist so zornig, dass er Euch nicht am Leben lässt, es sei denn, Ihr kommt zu dem Helden in freundlicher Absicht“
c) Konditionalsätze dich envride der tievel dv kanst niht genesen (NL 1988,2) „Wenn dich der Teufel nicht in den Schutz nimmt, kannst du nicht am Leben bleiben“
d) satzwertige Komplemente von adversativen Prädikaten Daz wil ich niht versprehen […] ich en sehe vil gerne den rFdegers lip. (NL 1161,1–2) „Das will ich nicht leugnen, dass ich Rüdiger sehr gerne begegne“
e) Experiencerverben (v.a. faktive Verben) Nv enweiz ich wes si bitent (NL 1963,1) „Ich weiß nicht, worauf sie warten“
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Alle in 2a bis 2d aufgeführten (nicht-affirmativen) Kontexte haben gemeinsam, dass sie nonveridikal sind, d. h. sie enthalten Propositionen, die nicht wahrheitsfähig sind. Hier legt sich der Sprecher nicht fest, ob es sich um wahre und falsche Informationen handelt (vgl. u.a. Zwart 1995, Giannakidou 1998, 2009). In den wenigen Fällen, wo im Skopus der Negation ein faktives Verb wie wizzen steht, handelt es sich um veridikale Kontexte (2e). Auf diesen Punkt geht Kap. 3 ein. Im Gegensatz dazu sind negative Kontexte antiveridikal, da hier die Proposition als nicht der Wahrheit entsprechend dargestellt wird. Offensichtlich verfügt der Altnegator im Nibelungenlied nicht mehr über die Negationskraft, da er antiveridikale Propositionen nicht allein markieren kann. In negativen Kontexten tritt obligatorisch niht (3a) oder ein n-Indefinitum wie niemen, nie oder nimmer (bzw. auch kein) wie in (3b) hinzu. Im Gegensatz zum Altnegator kann niht die Proposition selbstständig negieren (3c). 3) Negative Kontexte a)
[…] do er des niht envant do zvrnt er erliche […] (NL 1495,2–3) „Da er denjenigen nicht fand, erzürnte er“
b)
vns enscheidet niemen von riterlicher wer (NL 2043,2) „Uns trennt niemand von den ritterlichen Waffen“
c)
swie harte so in durste der helt doch niht tranc (NL 919,3) „Wie durstig er auch war, trank der Held doch nicht“
Im Nibelungenlied (HS A) fungiert nur niht als starkes negativ-polares Element. Dafür spricht auch die Tatsache, dass niht die Verwendung von n-Indefinita blockiert (Jäger 2008: 282ff.).3 Der Altnegator tritt hingegen in einer abgewandelten Funktion des schwachen negativ-polaren Elements auf, das nicht-wahrheitsfähige Propositionen einleitet. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass das Negationssystem des Nibelungenlieds einen weit fortgeschrittenen Stand des Jespersen-Zyklus darstellt, der eindeutig der Phase II zuzuordnen ist. Dabei weist das Verhalten des Altnegators nicht nur darauf hin, dass hier bereits die Reanalyse von niht zum Satznegator stattgefunden hat. Vielmehr wird hier deutlich, dass der Altnegator seine Fähigkeit, die Satznegation zu markieren, eingebüsst hat. Dies spricht für eine asymmetrische Struktur der Mehrfachnegation wie in 3
In ihrer Korpusanalyse des Nibelungenlieds findet Jäger (2008: 282ff.) keine Belege für Kookkurrenz zwischen niht und n-Indefinita. Solche Belege sind tatsächlich sehr selten, jedoch nicht ausgeschlossen, vgl. er chvnde in dem stvrme/nimmer bezzers niht getNn (NL 2220,4) ‚Er hätte sich im Kampf niemals besser bewähren können‘.
Zum Stand des Jespersen-Zyklus im Nibelungenlied (HS A)
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(3b)(vgl. Breitbarth 2007): Die Funktion des Altnegators beschränkt sich hier auf die Identifikation eines nicht-affirmativen (d. h. entweder non-negativen oder negativen) Kontextes. Erst durch ein begleitendes niht kommt es zur Spezifizierung der Satzsemantik, d. h. zum Ausdruck der Negation.
3. Verben als negativ-polare Elemente In diesem Abschnitt soll ausgehend von der Beobachtung von Pensel (21981) der Frage nachgegangen werden, ob die Mehrfachnegation (und damit der Altnegator) durch häufiges Auftreten in Verbindung mit frequenten Modal- und Auxiliarverben besonders lange vom Abbau geschützt wurde. Die Analyse des Nibelungen-Korpus spricht eindeutig gegen diese Annahme: Die Modalverben zeigen keine Präferenz zur Mehrfachnegation. Der Grund für die besondere Verbindung zwischen dem Altnegator und den Modalverben ist nicht in hoher Kookkurrenzfrequenz zu suchen. Vielmehr zeigen die Daten, dass die Modalverben und die Experiencerverben generell am häufigsten unter Negation stehen. Verben anderer Semantik werden im gesamten Nibelungenlied sehr selten negiert. Es ist also eher die starke Tendenz der Modal- und Experiencerverben, in nichtaffirmativen Kontexten aufzutreten, die durch schwaches negativ-polares en/ne/n markiert werden können (aber nicht müssen), welche für den von Pensel beobachteten Effekt verantwortlich ist. In Tab. 1 sind Experiencerverben aufgelistet, die im Nibelungenlied negiert auftreten. Die Mehrheit von ihnen bezieht sich auf den inneren Zustand des Subjekts (sog. subject experiencer verbs). Einige beziehen sich auf die vom Subjekt verursachten Empfindungen des Objekts. subject experiencer verb
object experiencer verb
beiten ‚warten, zögern‘, dunken ‚scheinen, glauben‘, schaden ‚schaden‘, sûmen enwâge stân ‚in Gefahr sein‘, gër(e)n ‚verlangen, begeh- ‚verhindern, hinhalten‘, ren‘, gunnen ‚gönnen, erlauben, gewähren‘, hœren ‚hö- wenden ‚verhindern‘ ren‘, lâzen ‚zulassen, geschehen lassen‘, loben ‚loben, zustimmen‘, lougen ‚abstreiten, leugnen‘, muoten ‚auf etwas bestehen, verlangen‘, ruochen ‚sich Gedanken machen, besorgt sein, sich kümmern‘, sehen ‚sehen‘, turren ‚wagen, sich trauen‘, werben ‚streben, sich bemühen‘, wizzen ‚wissen‘, zëmen ‚ziemen, angemessen sein‘, zürnen ‚zürnen, aufgebracht sein‘ Tab. 1: Negierte Experiencerverben im Nibelungenlied
Renata Szczepaniak
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Die Affinität der Experiencerverben zu nicht-affirmativen Kontexten beobachtet auch Hoeksema (1994). In seiner kontrastiven Studie zum Englischen und Niederländischen identifiziert er zwei zentrale semantische Bereiche, in denen Verben als (semi-)negativ-polare Elemente, d. h. bevorzugt in nicht-affirmativen Kontexten auftreten: 1) Verben der Indifferenz Im Englischen sind es die Verben to care, to matter, to mind und to bother, die in vornehmlich nicht-affirmativen Kontexten vorkommen, vgl. dt. Ich habe nichts dagegen oder es kümmert mich nicht. Kontext
to care
to matter
to mind
to bother
negativ
53 %
57 %
72 %
35 %
abwärtsimpl.4
12 %
7%
20 %
7%
interrogativ
15 %
13 %
7%
11 %
affirmativ
20 %
20 %
1%
48 %
Tab. 2: Frequenz der Verben der Indifferenz im Englischen in affirmativen und nicht-affirmativen Kontexten (nach Hoeksema 1994) 4
Die Mehrheit der negierten Experiencerverben im Nibelungenlied transportiert diese Semantik: enwâge stân, gër(e)n, muoten, ruochen, schaden, wenden, werben, sûmen und zürnen. 2) Verben der Intoleranz Zu dieser Gruppe gehören v.a. can stand im Englischen und kunnen uitstaan im Niederländischen. Auch diese Verben sind v.a. in nicht-affirmativen Kontexten anzutreffen, wo sie die Semantik der Intoleranz ausdrücken, vgl. dt. Ich kann nicht ausstehen, wenn … Im Nibelungenlied sind es beiten, gunnen, lâzen, loben, turren und zëmen. Die starke Bindung der Experiencerverben unter 1) und 2) an nichtaffirmative Kontexte ist pragmatisch zu erklären. Sie verleihen der Negation eine besondere Expressivität, indem sie auf den inneren Zustand des Subjekts bzw. Objekts hinweisen. Durch die Thematisierung der Betroffenheit wird eine Erlaubnis, eine Notwendigkeitsbekundung, eine Befähigung oder eine Ablehnung mit besonderem Nachdruck geäußert, vgl. sie haben nichts dagegen, dass sie kommt (statt sie darf kommen), es würde
4
Hoeksema betrachtet abwärtstimplizierende Kontexte, z. B. nur wenige Touristen, höchstens drei Studierende getrennt.
Zum Stand des Jespersen-Zyklus im Nibelungenlied (HS A)
291
ihr nicht schaden, das Buch zu lesen (statt sie soll lesen), nichts hindert sie daran, so zu leben, wie sie es sich wünscht (statt sie kann so leben, wie sie es sich wünscht). Die negativ-polaren Experiencerverben können anschließend zu Modalverben grammatikalisiert werden. Deswegen teilen auch die Modalverben, v.a. in der früheren Phase ihrer Grammatikalisierung, die Tendenz zum nicht-affirmativen Kontext (vgl. u.a. Kláren 1913, Bech 1951, Hoeksema 1994, van der Wouden 2001). So tritt im Nibelungenlied das Verb kunnen sehr häufig unter Negation auf. Neben seiner Vollverbsemantik ‚(geistig oder physisch) befähigt sein‘ (4a) lässt kunnen bereits die modale Lesart der dispositionellen Modalität zu, in der das Subjekt von einer unspezifischen (internen oder externen) Quelle befähigt wird, eine Handlung durchzuführen (4b) (s. Diewald 1999: 150ff.): 4) ez enchvnde ein schriber gebriefen noh gesagen die manigen vngeberde von wiben v] ?ch von man (NL 2170,1–2) a) Befähigung des Subjekts „Kein Dichter war fähig, die vielen Wehklagen der Frauen und auch der Männer aufzuschreiben oder zu erzählen“ b) dispositionelle Modalität „Es war nicht möglich, dass ein Dichter die vielen Wehklagen der Frauen und auch der Männer aufschreibt oder erzählt“
Mit der fortschreitenden Grammatikalisierung vom Experiencer- zum Modalverb wird die Betroffenheitssemantik, d. h. der Bezug zum emotionalen Zustand abgebaut. Der Ausdruck verliert die ursprüngliche Expressivität.
4. Fazit Das Nibelungenlied markiert ein fortgeschrittenes Stadium des JespersenZyklus, in dem bereits das postverbale niht zum Negationsmarker reanalysiert wurde. Der in mehreren formalen Varianten auftretende Altnegator fungiert hingegen als schwaches negativ-polares Element, das nur noch in nicht-veridikalen, non-negativen Kontexten alleine auftritt. Da er die Negation nicht ausdrücken kann, übernimmt er in Mehrfachnegationen lediglich die Aufgabe, den Kontext als nicht-affirmativ zu markieren. In dieser unspezifischen Funktion fällt er dem Schwund anheim, was sich im Nibelungenlied in der niedrigen Frequenz der Mehrfachnegation äußert. Die Tatsache, dass die Mehrfachnegation bis ins 16./17. Jh. v.a. in Verbindung mit Modalverben lebendig ist, ist auf den Grammatikalisierungspfad Experiencerverb > Modalverb zurückzuführen. So werden bestimmte Experiencerverben in nicht-affirmativen Kontexten, darunter in
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Renata Szczepaniak
expressiven Negationen, bevorzugt verwendet, die durch den Altnegator eingeleitet werden können, und entwickeln sich dann zu negativ-polaren Elementen. In einem weiteren Schritt können sie zu Modalverben grammatikalisiert werden. Die Ergebnisse dieser korpusbezogenen Studie bestätigen die zweite und dritte eingangs gestellte Hypothese: Das häufige Auftreten des Altnegators im modalen Kontext ist lediglich ein Nebeneffekt. Dieser entsteht dadurch, dass der Altnegator bereits im Mittelhochdeutschen zum unspezifischen Polaritätsmarker, d. h. zum schwachen negativ-polaren Element wird. Somit besteht seine Aufgabe in der Identifikation von nicht-affirmativen Kontexten. In diesen Kontexten setzt auch die Grammatikalisierung der Experiencer- zu Modalverben an: Im Nibelungenlied enthalten negative Kontexte meist solche Experiencerverben, die die Semantik der Indifferenz und Intoleranz, eine Vorstufe der dispositionellen und der deontischen Modalität, transportieren.
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Zum Stand des Jespersen-Zyklus im Nibelungenlied (HS A)
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Daniel Solling (Uppsala)
Zur Problematik der Unterscheidung zwischen pränominalem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum im Frühneuhochdeutschen 1. Einleitung Jeder, der sich mit der Substantivkomposition in älteren Sprachstufen des Deutschen beschäftigt, wird sich der Problematik der Unterscheidung zwischen pränominalem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum bewusst sein. Zu entscheiden, welche substantivischen Wortkombinationen zu einer Substantivzusammensetzung zusammenzuführen sind und welche eher eine Genitivkonstruktion ausmachen, ist eine komplexe Aufgabe. Dies betrifft v.a. das Frühneuhochdeutsche, was durch das folgende Beispiel veranschaulicht wird:1 (1) Summa / kein auge hats gesehen / kein ohr hats gehöret / es ist auch ins menschen hertz nie gestiegen / was Gott vns / vnd aller Christgleubigen / die er mit seines lieben Sons thewrem / rosenfarben blut / thewer erkaufft / erlöst / erworben vnd gewonnen / bereitet hat / (Vischer 1573: AIIIIv).2
Es handelt sich hierbei um eine Art Konstruktion, die sich auf dem Weg von der Wortgruppe zum Substantivkompositum befindet (vgl. z. B. Pavlov 1983).3 Der vorliegende Beitrag stellt einen praxisbezogenen Lösungsansatz für die Entscheidung der Zugehörigkeit der im Beispiel (1) veran1 2
3
Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Beobachtungen resultieren seitens des Autors aus der Beschäftigung mit einem Korpus von gedruckten, hochdeutschen Predigten aus der späten frühneuhochdeutschen Sprachperiode (zw. 1550 und 1700). Hervorhebung von D.S. Die Orthographie bezüglich der Schreibung gewisser Grapheme, wie <s>, <ü>, <ä> und <ö>, ist in sämtlichen Beispielen dieses Beitrages auf den heutigen Standard gebracht worden; dies betrifft außerdem auch Abkürzungen wie Nasalstriche; ansonsten sind keinerlei Veränderungen in der Originalorthographie unternommen worden. Aus diesem Grunde müsste womöglich eine scharfe Grenze zwischen den beiden Erscheinungen nicht gezogen werden, für die praktische Arbeit mit diesen Konstruktionen in frühneuhochdeutschen Texten ist jedoch eine solche Unterscheidung notwendig.
Genitivaatribut und Substantivkompositum im Frühneuhochdeutschen
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schaulichten Problemfälle zu entweder der Kategorie der vorangestellten Genitivattribute oder der getrennt geschriebenen Substantivkomposita vor.4 Dies wird dadurch erfolgen, dass bisherige Erklärungsversuche zum aktuellen Thema bündig zusammengefasst und gegebenenfalls kommentiert werden; im Anschluss daran wird ein neuer, die alten Lösungsansätze kombinierender und weiterentwickelnder Lösungsvorschlag präsentiert und anhand einzelner mehr oder weniger ambivalenten Beispiele aus dem für dieses Unterfangen verwendeten Korpus erläutert. Schließlich folgt eine Zusammenfassung. Zuerst soll jedoch der Hintergrund zur aktuellen Problematik – besonders im Blick auf das Frühneuhochdeutsche – kurz erläutert werden.
2. Hintergrund Das Thema der Stellung der Genitivattribute im Deutschen ist schon seit über hundert Jahren Gegenstand germanistischer Forschung.5 Dass die im Beispiel (1) veranschaulichte Problemstellung besonders im Frühneuhochdeutschen zum Vorschein kommt, ist dadurch zu erklären, dass während dieser Periode syntaktische Veränderungen erfolgten, die den Bereich der substantivischen Zusammensetzung erheblich beeinflussten. Insbesondere ist hier die graduelle Verlagerung des Genitivattributs (GA) in die postnominale Position zu erwähnen.6 Unter all den bisherigen Erklärungsansätzen hierzu erscheint der von Demske (2001) als der bislang plausibelste, indem sie in Anlehnung an van der Elst (1988: 334) eine Reinterpretation des pränominalen GA als Teil des deutschen Artikelsystems vorschlägt, so dass die Genitivkomplemente dem Kopfnomen seit frnhd. Zeit nachfolgen. Pränominal entstünde somit eine Position, die auf nur possessiv zu interpretierende Genitive beschränkt sei (Demske 2001: 266). Ein anderer möglicher Grund für diesen Wandel wäre das Risiko des Verwechselns von der uneindeutig gewordenen Konstruktion des vorangestellten Genitivs und dem teilweise aus dem vorangestellten Genitiv hervorgegangenen, getrennt geschriebenen Substantivkompositum.
4
5 6
In diesem Beitrag wird aus Platzgründen auf zweigliedrige, substantivische Wortkombinationen fokussiert, deren Erstglied eine als genitivisch interpretierbare Endung aufzeigt. Hier soll jedoch angemerkt sein, dass der hier zu präsentierende Erklärungsansatz in großen Teilen auch für getrennt geschriebene, zweigliedrige, substantivische Wortgruppen mit einer als nicht-genitivisch interpretierbaren Endung des Erstgliedes Gültigkeit besitzt. Vgl. hierzu etwa Wesseley (1892), Pestalozzi (1909) und Kiefer (1910). Mehr hierüber u.a. bei Behaghel (1930), ders. (1932), Carr (1933), Fritze (1976), Bassola (1985), Ebert (1986) und ders. (1988).
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Daniel Solling
Dieser Stellungswandel des attributiven Genitivs geschieht nicht gleichzeitig und gleichmäßig für alle Arten der Genitivattribute. So konstatiert schon Wagner (1905: 94ff.), dass Nichtpersonenbezeichnungen häufiger und früher postnominal vorkommen als Personenbezeichnungen (inklusive Personennamen). Dieses Ergebnis findet sich auch bei Ebert (1986: 92f.). Ebert kann in einer weiteren Studie zeigen, dass die Voranstellung des Genitivattributs in Texten aus dem 16. Jh. bei Attributen in Form von Namen, Titeln und Appellativen dominiert, während die Postposition bei attributiven Abstrakta, nichtpersönlichen Konkreta und bei Fügungen mit dem Bestandteil Gottes überwiegt (Ebert 1988: 35ff ). Dieser sich bei verschiedenen Arten der Attribute offenbar unterschiedlich vollziehende Wandel des Genitivsattributs in Verbindung mit der Tatsache, dass es für das Frühneuhochdeutsche keine einheitlichen Orthographienormen gab (was auch bezüglich der Schreibung von Substantiven und Substantivkomposita deutlich wird), ist von großem Belang für den neuen Lösungsansatz.7 Der oben erwähnte Wandel des Genitivattributs in die postnominale Stellung während frühneuhochdeutscher Zeit und die dadurch allmählich freiwerdende pränominale Position muss als ein wichtiger Faktor der Herausbildung der Substantivkomposita gesehen werden und führt zu der Doppeldeutigkeit genau solcher Fälle, die dieser Beitrag behandelt. Für das Frühneuhochdeutsche ist somit festzuhalten, dass vorangestellte als genitivisch zu interpretierende Glieder in Nominalgruppen nicht eindeutig als Genitivattribute aufzufassen sind; sie könnten auch getrennt geschriebene Substantivkomposita darstellen. Im folgenden Abschnitt soll ein Überblick über bisherige Studien zur Problematik gegeben werden, wie der Unterschied zwischen vorangestellten Genitivattributen und getrennt geschriebenen Substantivkomposita bei getrennt geschriebenen Wortgruppen zweier substantivischer Glieder zu definieren ist.
3. Bisherige Studien Vor allem Okrajek, Pavlov und Nitta haben sich mit der Problemstellung der substantivischen Wortgruppen, die sich im Frühneuhochdeutschen im Bereich zwischen pränominalem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum bewegen, auseinandergesetzt. Sie präsentieren
7
Vgl. z. B. die Frühneuhochdeutsche Grammatik (1993: 32) für den in diesem Beitrag aktuellen Bereich der Getrennt- bzw. Zusammenschreibung von Wörtern; vgl. zudem etwa Bergmann u. Nerius (1998) zu der Entwicklung der Großschreibung bei Substantiven.
Genitivaatribut und Substantivkompositum im Frühneuhochdeutschen
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dabei jedoch unterschiedliche Ideen zum Umgang mit der Problematik dieser Konstruktionen. 3.1. Okrajek Okrajek argumentiert, dass viele dieser ambivalenten Fälle u.a. wegen ihrer Auflös-, Um- und Ersetzbarkeit eine Gruppe von scheinbaren Zusammensetzungen darstellen, die den echten Komposita nicht gleichzustellen sind (Okrajek 1966: 163f.).8 Diese Argumentation verkörpert zweifelsohne einen wichtigen Gedanken im Entwicklungs- und Herausbildungsprozess des Substantivkompositums, der besonders während der frnhd. Zeit völlig plausibel ist, da die Konstruktionen zu dieser Zeit sowohl Substantivkomposita als auch Genitivattribute sein konnten. Eine Art substantivischer Wortkombinationen, die laut Okrajek jedoch eindeutig als pränominale Genitivattribute einzustufen sind, seien Wortkombinationen mit Eigennamen von Personen als Anglied (Okrajek 1966: 163). Ein Beispiel wäre hier Baals priester (Okrajek 1966: 19).9 In den weiteren Erörterungen dieses Beitrages soll jedoch gezeigt werden, dass viele der Fälle, die Okrajek zur Gruppe der scheinbaren Zusammensetzungen führt, sich durchaus als entweder getrennt geschriebene Substantivkomposita oder vorangestellte Genitivattribute einordnen lassen. 3.2. Pavlov Pavlov behandelt attributive, substantivische Komplexe mit gegenseitiger Überlagerung der Merkmale von Wortgruppe und Zusammensetzung eingehend (Pavlov 1983: 45ff.). Diese ambivalenten Fälle unterteilt er in drei Typen: 1. Der Typ der tochter man, bei der stadt pforte, der pfaffen stand 2. Der Typ menschen werck, weibß kleider 3. Der Typ die rat personen, das reichs regiment, das ritter spil Der dritte Typ zeigt eine Rahmenkonstruktion oder Rahmenstruktur von Artikel und Zweitglied auf (Pavlov 1983: 54). Diese Fälle bereiten somit meistens keine Schwierigkeit in der Unterscheidung zwischen vorangestell8 9
Der Terminus „scheinbare Zusammensetzung“ ist jedoch nicht ganz angemessen, da er die im Frühneuhochdeutschen stattfindende Entwicklung dieser Konstruktionen von Wortgruppen hin zu Substantivkomposita nicht treffend zu beschreiben vermag. Zu dieser Gruppe zählt Okrajek auch die Gottesbezeichnungen wie z. B. du Gottes mensch (Okrajek 1966: 20).
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Daniel Solling
tem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum; sie stehen „eng neben der echten Zusammensetzung“ (Pavlov 1983: ebd.). Für Typ 1 stellt Pavlov fest, dass der Bezug einer solchen Wortkombination auf einen Einzelgegenstand, der in der Sprechsituation gemeint ist, ausgeschlossen wird, wenn man den Artikel zum Zweitglied führt. Der Komplex als Ganzes erhalte durch diesen Bezug des Artikels auf das Zweitglied eine typisierende Bedeutung. Es trete somit eine Analogie zur Semantik des substantivischen Kompositums auf. Beziehe man dagegen den Artikel auf das attributive Glied der Fügung, so könnten sich zwei Arten semantischer Effekte ergeben. Vor allem in Fällen mit singularischem Erstglied realisiere das Attribut vorwiegend die Beziehung auf einen bestimmten Einzelgegenstand. Erscheint dagegen die Pluralform des Erstglieds, so sei damit die Beziehung auf eine ganze Klasse von Gegenständen gemeint (Pavlov 1983: 47).10 Bei Pavlovs zweitem Typ mit fehlendem Artikel und attributivem Glied in einer genitivischen oder genitivisch deutbaren Form stehen die Beispiele mit eindeutig genitivischer Maskulinum- oder Neutrumendung des Erstgliedes (weibß kleider) der substantivischen Zusammensetzung näher als die Beispiele, bei denen sowohl eine genitivische als auch eine pluralische Endung möglich wäre (menschen werck). Bei der Gruppe weibß kleider würden die Eigenschaften der Gegenstandsklasse, die das attributive Glied bezeichnet, systematischer von den Einzelträgern abstrahiert, indem bei dieser Gruppe Bezeichnungen von unzählbaren Gegenständen, Sammelnamen und Abstrakta als Attribute auftreten würden. Diese Gruppe enthalte auch Fälle, bei denen eine Vielzahl von realen Trägern vorausgesetzt wird, trotz der Genitivsingularform des ersten Gliedes, z. B. mynchs ordnung (Pavlov 1983: 52). Für die eine potentiell pluralische Deutung des Erstgliedes aufzeigende Gruppe menschen werck behauptet Pavlov, dass eine funktionale Gemeinschaft des Genitivs mit und ohne Artikel vorliege, so dass man den artikellosen Genitiv als eine Formvariante des mit Artikel stehenden Genitivs betrachten könne; dies wäre bei pluralischen Genitiven besonders häufig (Pavlov 1983: 51).11 Im Zusammenhang mit der Diskus-
10
Pavlov zufolge könne es sich darüber hinaus bei Fällen mit einer Pluralform des Erstglieds um eine konkrete Vielheit von Gegenständen handeln. Er führt den folgenden Fall an: an sant Lorentzen tag het ers gefordert in der parfußer kirchen, in welchem Beispiel es aus dem Kontext hervorginge, dass es sich hier um die Klosterkirche der Franziskaner zu Nürnberg handele (Pavlov 1983: 47f.). Hierdurch zeigt Pavlov, obwohl er es nicht explizit ausdrückt, dass man bei der Beurteilung von Fällen dieser Art auf den Kontext achten muss. 11 Als Beispiele hierfür nennt Pavlov (1983: 51) Dz ist war, dann an der fürsten höff da schmeichlen sie allein den herren, da sie zuo essen haben bzw. Aber die welt vnd sonderlich die schrifftgelerten ann Fürsten höfen vnd ynn den grossen Stedten, richten yhr vernunfft vnnd yhr
Genitivaatribut und Substantivkompositum im Frühneuhochdeutschen
299
sion dieser zweiten Gruppe macht Pavlov die sehr wichtige Bemerkung, dass das ohne Artikel auftretende Substantiv im Frühneuhochdeutschen immer mehr zur semantischen Verallgemeinerung neigte und dass solche Fälle einen Übergangszustand auf dem Weg zur strengen grammatischen Scheidung von Wortgruppe und Zusammensetzung ausmachten (Pavlov 1983: 53).12 3.3. Nitta Neben Pavlovs eher theoretischen Überlegungen zur aktuellen Problematik steht ein eher konkreter Lösungsansatz von Nitta (1987). Nitta beschäftigt sich mit der Entstehung der sog. uneigentlichen Substantivkomposita – d. h. Substantivkomposita, deren Erstglied v. a. eine als genitivisch interpretierbare Endung besitzt13 – und ihrer Trennung von den vorangestellten Genitivattributen. Es geht ihm darum „ein Raster zu entwickeln, nach dem man syntaktische Beziehungen zwischen den Konstituenten einer Wortgruppe oder einer Zusammensetzung feststellen und Belege sortieren kann“ (Nitta 1987: 406f.). Hierbei teilt er diese Wortkombinationen in acht verschiedenen Typen ein (Nitta 1987: 407ff.):14
weysheyt also gros das sie vbertrifft Gottes weysheyt (Hervorhebungen D.S.). Selbstverständlich könnten diese Fälle als gleichgestellt gesehen werden und beide für vorangestellte Genitivattribute gehalten werden, wie Pavlov es macht, besonders ohne einen weiteren Kontext. Genauso gut könnte man sie jedoch als nicht parallele Fälle sehen, indem man formalgrammatische Kriterien und den Kontext in Betracht zöge. Im ersten Beispiel müsste es sich demzufolge aus grammatischer Sicht um ein vorangestelltes Genitivattribut handeln. Der Artikel der kann hier wegen der vorausgehenden Präposition an nur den Genitiv Plural Maskulinum bezeichnen, d. h. nhd. „an den Höfen der Fürsten“. Hier ist überhaupt keine andere Deutung möglich. Sowohl wenn es sich in diesem Beispiel um die Höfe besonderer Fürsten als um Fürstenhöfe generell handelt, werden diese hier eindeutig durch ein pränominales Genitivattribut verkörpert. Das zweite Beispiel ist dagegen ambivalent. In ihm liegen keine formalgrammatischen Gründe für eine eindeutige Definition als entweder vorangestellter Genitiv oder getrennt geschriebenes Substantivkompositum vor. Ohne den weiteren Kontext ist dieser Fall nicht eindeutig zu entscheiden. Die Lesart, dass diese Wortkombination ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum ausmacht, ist daher alles andere als weit hergeholt. Es handelt sich hier mit großer Wahrscheinlichkeit um die Gattung „Fürstenhof “ und nicht um die Verhältnisse bei den Höfen besonderer Fürsten. 12 In der Frühneuhochdeutschen Grammatik (1993: 338f.) werden die hier besprochenen Konstruktionen nach Pavlov in drei übergreifenden Typen zusammengefasst. 13 Vgl. Solling (2010) für weitere Literaturangaben hierzu. 14 Die Beispiele in der folgenden Auflistung sind meistens von Nitta teilweise aber auch vom Verfasser.
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Daniel Solling
1. Eine Verbindung aus einem Artikel und zwei Substantiven. Dabei steht der Artikel im Genitiv und bezieht sich eindeutig auf das erste Substantiv, z. B. auf des Pöbels seite. 2. Eine Verbindung aus einem Artikel und zwei Substantiven. Dabei lässt sich der Artikel sowohl auf das erste als auch auf das zweite Substantiv beziehen, z. B. auß der Apostel geschicht. 3. Eine Verbindung aus einer Kurzform eines Possessivpronomens und zwei Substantiven, z. B. ir tochter man. 4. Eine Verbindung ohne Artikel mit zwei Substantiven, von denen das erste Maskulinum oder Neutrum Genitiv Singular oder v.a. schwaches Femininum Genitiv Singular ist und das Flexiv -(e)s oder -(e)n hat, z. B. Knechtes minne, Menschen werck oder kirchen gesang. 5. Eine Verbindung ohne Artikel mit zwei Substantiven, von denen das erste entweder starkes Femininum Genitiv Singular oder Genitiv Plural ist und kein Flexiv hat, z. B. in mutter leib. 6. Eine Art Verbindung aus einem Artikel und zwei Substantiven, wobei der Artikel sich eindeutig auf das zweite Substantiv bezieht, z. B. einem mannß gemüt oder eine grosse Sonnen Finsternuß. 7. Eine andere Art Verbindung aus einem Artikel und zwei Substantiven, wobei der Artikel sich eindeutig auf das zweite Substantiv bezieht, z. B. zum nacht mal oder auff den Stätt Tag. 8. Eine Art Verbindung aus zwei Substantiven, von denen das erste v.a. Maskulinum oder Neutrum Genitiv Singular ist. Ob ein Artikel vorhanden ist oder nicht ist egal, z. B. das hymel prot oder lediglich hymel prot. Von diesen acht Typen meint Nitta, dass die erste als eine Wortgruppe zu bezeichnen sei (Nitta 1987: 408), währenddessen die Typen sieben und acht „eher als Zusammensetzungen zu klassifizieren“ seien (Nitta 1987: 414). Der 6. Typ befinde sich auf dem Weg von der Wortgruppe zur Zusammensetzung und könnte als Zusammensetzung aufgefasst werden (Nitta 1987: 413). Die Typen zwei bis vier seien als nicht eindeutig einzustufen. Für diese Typen wird angedeutet, dass die Semantik oder der Kontext bei der Entscheidung beachtet werden müsse (Nitta 1987: 408ff.), während Nittas Aussage über die Fälle des 5. Typs umso eindeutiger ist: Obwohl es grammatisch möglich ist, das erste Substantiv als vorangestelltes freies Genitivattribut zum zweiten Substantiv zu interpretieren und die Verbindung als eine Wortgruppe zu klassifizieren, dürften solche Verbindungen meistenfalls eher als Zusammensetzung aufzufassen sein. Das liegt wohl daran, daß der Genitiv nicht morphologisch explizit gekennzeichnet ist (Nitta 1987: 411).
Dieser Gedanke mag richtig sein und wird von den wenigen Fällen dieses Typs im Korpus des Beitragsautors bestätigt, trotzdem sollten diese Fäl-
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le wie andere ambivalente Fälle behandelt werden, da eine Möglichkeit vorliegt, dass sie stattdessen vorangestellte Genitivattribute verkörpern.15 Im Anschluss an diese Darstellung bisheriger Lösungsansätze und Betrachtungen zur aktuellen Problematik sollen nun die in der Forschungsliteratur aufgeführten Erwägungen über zwei wichtige Sonderfälle, die im Frühneuhochdeutschen eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen, kurz erörtert werden. 3.4. Gottes oder Eigenname als Erstglied Bei sowohl Pavlov als auch Okrajek werden die substantivischen Wortgruppen mit einem Eigennamen oder einer eigennamenähnlichen Personenbezeichnung16 wie z. B. Gottesbezeichnungen, Papst oder Teufel gesondert kommentiert. Pavlov meint, dass Wortkombinationen mit Gottes als Erstglied viele Möglichkeiten in der grammatischen Behandlung als entweder vorangestellte Genitivkonstruktionen oder getrennt geschriebene Substantivkomposita bieten (Pavlov 1983: 56f.). Oft würden diese Bildungen allerdings zu pränominalen Genitivattributen neigen (Pavlov 1983: 60). Okrajek meint, dass diese grammatisch ambivalenten Fälle – Konstruktionen mit sowohl Gottes als auch einem Eigennamen als Erstglied – als vorangestellte Genitivattribute zu betrachten seien, da „der mittelalterliche Mensch noch eine ganz persönliche Beziehung zu den einzelnen Gestalten der biblischen Geschichte [hatte]“ (Okrajek 1966: 22) – eine Meinung, die Nitta (1987: 412f.) auch teilt. Pavlov behauptet, dass Wortkonstruktionen mit einem Eigennamen als Erstglied – wegen des Bezugs des ersten Gliedes auf eine bestimmte Person – stets als vorangestellte
15 Nitta schlägt auch vor, dass man konkrete Belege in zeitgenössischen Wörterbüchern im einzelnen nachschlagen könne (Nitta 1987: 400). Diese Methode scheint nicht angebracht zu sein, da die Kriterien, nach welchen Wörter in Wörterbücher der frnhd. Zeit aufgenommen wurde, oft nicht deutlich sind und die Auswahl zur Aufnahme in den Wörterbüchern meistens für arbiträr und subjektiv angenommen werden muss. Weiter argumentiert Nitta für ein Verwenden von Parallelbelegen als Kriterium bei der Entscheidung zwischen Wortgruppe und Substantivkompositum; d. h. dass nach Parallelbelegen im selben Text gesucht werden soll, bei denen die aktuelle Nominalgruppe in einer nichtambivalenten Form auftaucht, und nach ihnen beurteilt werden soll (Nitta 1987: 400, 411). Diese Herangehensweise ist, wie Nitta auch selbst erkennt (Nitta 1987: 411), problematisch. Da diese substantivischen Wortkomplexe sich gerade auf dem Weg zwischen Wortgruppe und Zusammensetzung befinden können, ist es durchaus möglich, dass sich die aktuellen Wortkombinationen in demselben frnhd. Text mal als Substantivkompositum und mal als Wortgruppe vorfinden; womöglich u.a. indem der Autor die rhetorische Formel der variatio benutzte. 16 Terminus von Okrajek (1966: 19).
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Genitivattribute zu betrachten seien, auch wenn das Erstglied innerhalb einer Rahmenkonstruktion steht, wie z. B. deser Salomons tempel und dat Marien bilde (Pavlov 1983: 56). Die hier vorgestellten Überlegungen und Lösungsansätze zur Problematik der Unterscheidung zwischen pränominalem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum im Frühneuhochdeutschen enthalten für das Entscheiden eines ambivalenten Falles durchaus wichtige Merkmale. Anhand von Beispielen aus den für diesen Beitrag untersuchten Texten soll in den folgenden Abschnitten ein einheitlicher, praxisbezogener Lösungsvorschlag präsentiert werden, mithilfe dessen ambivalente Fälle in Texten aus der frühneuhochdeutschen Zeit in eine der beiden aktuellen Kategorien eingeordnet werden können.
4. Ein neuer Lösungsvorschlag Der hier vorgelegte Lösungsvorschlag zur Problematik der Unterscheidung zwischen vorangestelltem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum in frühneuhochdeutschen Texten besteht aus zwei Schritten. 4.1. Schritt 1 Als erster Schritt sollen die formalgrammatischen Merkmale im aktuellen Falle beobachtet werden. Größtenteils sind substantivische Wortkombinationen, bei denen formalgrammatische Merkmale entscheiden können, ob sie als entweder vorangestelltes Genitivattribut oder getrennt geschriebenes Substantivkompositum einzustufen sind, keine mehrdeutigen Fälle.17 Dieser Schritt würde die meisten Beispiele des Typs 3 bei Pavlov bzw. der Typen 1, 6, 7 und 8 bei Nitta als nicht ambivalente beseitigen. An dieser Stelle ist wichtig festzuhalten, dass Fälle mit uneindeutiger Flexion der Adjektive oder Pronomina nicht schon hier als eindeutige Fälle einzuordnen sind. Ein Beispiel hierfür wäre: das er sich von jren ordentlichen Kirchen regiment / abegab / (Pauli 1573: 37v).18 Hier könnte das Possessivpronomen jren sowohl Neutrum, Dativ, Singular als auch Neutrum, Dativ, Plural sein (Grammatik des Frühneuhochdeutschen 1988: 380ff.).19 Bei
17 Vgl. Weidman (1941: 351). 18 Das Wort regiment mit ø-Endung im Plural (vgl. DWB, Band 8, Spalte 537). 19 Eine voreilige Einstufung soll zudem bei Fällen wie ins vatters schoß vermieden werden,
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derartigen Fällen und solchen, die formalgrammatisch nicht einzustufen sind, ist ein zweiter Schritt zu beachten, bei dem insbesondere der Kontext näher betrachtet werden soll. 4.2. Schritt 2 Hierbei wird – in modifizierter Weise – die Methode aufgegriffen, die Pavlov bei seinem ersten Typ beschreibt. Pavlov stellt, wie oben schon erwähnt, fest, dass das Erstglied der Nominalgruppe als ein vorangestellter Genitiv zu betrachten ist, wenn man den Artikel in einer Nominalgruppe seines ersten Typs, bei der stadt pforte auf dieses Erstglied bezieht. Bezieht man den Artikel dagegen auf das Zweitglied, tendiere das Erstglied zur allgemeinbegrifflichen Auffassung und der Komplex als Ganzes zur typisierenden Bedeutung und zur Bezugnahme auf das im Sprechakt Bezeichnete als semantisch relativ einheitliches Gebilde – unter Ausschluss der potentiellen Beziehung des attributiven Gliedes auf einen Einzelgegenstand. Es trete somit eine Analogie zur Semantik des substantivischen Kompositums auf (Pavlov 1983: 47). Die modifizierte Wirkungsweise dieses Verhältnisses im aktuellen Lösungsvorschlag lässt dieses Verhältnis in die umgekehrte Richtung wirken, d. h. – in Anlehnung an Fleischer u. Barz (1992: 89f.) – wenn das Erstglied der aktuellen substantivischen Nominalgruppe sich auf eine Gattung von Objekten, d. h. eine semantische Verallgemeinerung, bezieht, wird dieser Fall für ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum gehalten. Bezieht sich das Erstglied der zu prüfenden Wortkombination dagegen auf einen Einzelgegenstand oder mehrere Einzelgegenstände, wird der Fall als ein vorangestelltes Genitivattribut betrachtet.20 Um zu wissen worauf sich ein Erstglied bezieht, muss immer der umgebende Kontext berücksichtigt werden. Dieser Vorgang – der zweite Schritt dieses neuen Lösungsansatzes – ist für alle ambivalenten Fälle, die nicht bereits unter Schritt 1 anhand formalgrammatischer Merkmale eingestuft werden konnten, vorgesehen. Wenn diese beiden Schritte des hier vorgestellten Lösungsvorschlags auf zweideutige Fälle angewendet werden, können in den allermeisten Fällen die aktuelle Wortgruppe entweder den pränominalen Genitivattributen oder den getrennt geschriebenen Substantivkomposita zugeordnet werden. Freilich kann es Fälle geben, die sich nach diesen beiden Schritten
bei denen die Konstruktion ins im Frnhd. sowohl die Interpretation in des als auch in das erlaubt. 20 Vgl. Weidman (1941: 3) u. Ebert (1988: 34f.).
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immer noch nicht einstufen lassen. Diese müssten dann als wahrlich ambivalente Fälle bezeichnet werden. Im für diesen Beitrag herangezogenen Korpus sind sie aber sehr rar. 4.3. Gottes oder Eigenname als Erstglied Eine Ausnahme vom oben vorgestellten Lösungsansatz – v.a. wegen der in Abschnitt 2 behandelten abweichenden Entwicklung in der Stellung des Genitivattributs – stellen diejenigen substantivischen Wortgruppen, die das Wort Gottes, eine eigennamensähnliche Personenbezeichnung oder einen Eigennamen als Erstglied haben, dar.21 Für diese Fälle gilt die Regel, dass sie, wenn sie ein formalgrammatisches Merkmal eines Substantivkompositums aufzeigen, als ein solches betrachtet werden. Diese Wortkombinationen könnten jedoch auch, wenn sie die formalgrammatischen Kriterien eines getrennt geschriebenen Substantivkompositums erfüllen, vorangestellte Genitivattribute sein, indem ihr Erstglied keine verallgemeinernde Bedeutung besitzt (Pavlov 1983: 56).22 Neben der Pavlovschen Sichtweise scheint es jedoch sinnvoll zu sein, die potentielle Angehörigkeit dieser Konstruktionen zu beiden Kategorien zu ermöglichen – eine Forderung, die sich in der Frühneuhochdeutsche Grammatik findet: sie weist darauf hin, dass „Wortgruppe und „Kompositum“ [in vielen Fällen] gleichzeitig im Gebrauch [waren] und denselben Gegenstand [bezeichneten]“ (Frühneuhochdeutsche Grammatik 1993: 339). Welche grammatische Konstruktion vorliegt, kann lediglich anhand des Kontexts im aktuellen Fall festgelegt werden. Ambivalente Fälle mit Gottes als Erstglied, bei denen keine formalgrammatischen Merkmale für eine Deutung des Wortkomplexes als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum vorliegen, werden – in Anlehnung an Pavlov (1983: 60) – als vorangestellte Genitivattribute be21 Der Unterschied zwischen diesen Konstruktionen und übrigen wird auch von Okrajek, Pavlov und Nitta wahrgenommen. Die Grenzlinie zwischen vorangestelltem Genitivattribut und getrennt geschriebenem Substantivkompositum lässt sich in diesen Fällen nur schwerlich ziehen, muss aber für die praktische Arbeit mit solchen Konstruktionen in frnhd. Texten gezogen werden. 22 Aber nur weil die Möglichkeit besteht, dass ein vorangestelltes Genitivattribut in frühneuhochdeutscher Zeit zwischen dem Determinator und dem Kernsubstantiv auftritt, sind sämtliche solche Konstruktionen in frnhd. Texten auf keinen Fall zwangsläufig als vorangestellte Genitivattribute einzuordnen. Zu dieser Zeit bilden sich die Substantivkomposita aus und es ist durchaus möglich, dass es Beispiele gibt, bei denen das aus einem Eigennamen bestehende Erstglied eine verallgemeinernde Bedeutung besitzt und die ganze Wortgruppe deswegen als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum zu betrachten ist.
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handelt. Bei ihnen können nämlich keine Kriterien für eine Deutung des Falles als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum sichergestellt werden. In diesem Lösungsansatz werden übrige Konstruktionen mit einer eigennamenähnlichen Personenbezeichnung oder einem Eigennamen als Erstglied den Gottes-Konstruktionen gleichgestellt.23 Im folgenden Abschnitt soll anhand von Beispielen aus dem für die vorliegende Diskussion benutzten Korpus veranschaulicht werden, wie der bisher theoretisch dargestellte Lösungsansatz in der praktischen Textarbeit verwendet werden kann.
5. Praktische Verwendung des Lösungsansatzes Hier werden einige ambivalente Fälle mithilfe des oben vorgestellten Lösungsansatzes in eine der beiden Kategorien „pränominales Genitivattribut“ oder „getrennt geschriebenes Substantivkompositum“ eingestuft. Zuerst werden zwei substantivische Wortkombinationen mit Gottes als Erstglied diskutiert: (2) SJhe / das heisst der friede des creutzes / der friede Gottes / der friede des gewissens / der Christliche friede / Der machet das der Mensch auch auswendig stille / vnd mit jderman zu frieden ist / vnd niemand verunruhiget. Denn das begreifft noch thuet keine vernunfft / das ein Mensch solt vnter dem creutz lust / vnter dem vnfriede friede haben / Es ist ein Gottes werck / das niemand bekand ist / denn dem / der es erfahren hat / Dauon auch droben gesagt ist an dem andern Sontag / in der Epistel / (Luther 1547: 52r).24 (3) Derhalben / wann wir Gottes Kinder seyn wöllen / müssen wir von vns absondern / hinlegen vnd verlassen / alles was in vns ein sonderbahren Vnterschied machet (Tauler 1621: 15).25
In Beispiel (2) bezeugen die formalgrammatischen Merkmale eindeutig, dass dieser Fall mit Gottes als Erstglied als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum kategorisiert werden kann.26 In Beispiel (3) liegen keine
23 Die seltenen ambivalenten Fälle, bei denen der Kontext, z. B. durch verallgemeinernden Bezug des Erstgliedes, für ein Substantivkompositum spricht, bilden hierbei eine Ausnahme und werden in Anbetracht dessen, was die Frühneuhochdeutsche Grammatik zum gleichzeitigen Auftreten der Wortgruppe und des Kompositums sagt, als getrennt geschriebene Substantivkomposita behandelt. Spricht jedoch irgendetwas im Kontext gegen diese Deutung, werden solche Fälle als vorangestellte Genitive betrachtet. 24 Hervorhebung von D.S. 25 Hervorhebung von D.S. 26 Die in der Grammatik des Frühneuhochdeutschen (1988: 395) vorgestellte, in „einzelne[n] Formen“ auftretende Option mit ø-Endung eines neutralen, unbestimmten Artikels im
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formalgrammatischen Gründe für eine Einstufung des Wortkomplexes als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum vor. Somit wird dieser Fall als ein vorangestelltes Genitivattribut verstanden. Nun sollen Fälle der Zwischengruppe von substantivischen Wortkomplexen mit einem Eigennamen oder einer eigennamensähnlichen Personenbezeichnung (außer Gottes) als Erstglied näher untersucht werden. (4) Wie nun Elias die Gottlosen Baals propheten erschlagen / vnnd den rechten Gottesdienst wiederumb angerichtet hat / Also hat auch Johannes die Phariseer vnd Sadduceer erschlagen / (Brenz 1554: 17v).27 (5) Ja die sich verlassen auff jr gut / vnnd sich vertrösten auff jr grosse reichthumb / die werden Gott kein versünung künden geben / werden nicht haben vnnd finden / damit sie jre Seelen erredten / würdt auch kein bruder dem andern helfen künden / Sie werden gehn in todt / zum geschlecht jrer vätter / vnnd in ewigkeit kein liecht sehen. Das sagt vnnd verkündt die Schrifft den welt oder Adams kindern (Wild 1552: 6v).28
In Beispiel (4) liegen formalgrammatische Merkmale für eine Beurteilung des ambivalenten Falles als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum vor. Sowohl der bestimmte Artikel als auch die Flexion des vorangestellten Adjektivattributs (in Kombination mit dem aktuellen bestimmten Artikel) sprechen für eine Interpretation des Falles als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum.29 Beispiel (5) zeigt eindeutige formalgrammatische Merkmale eines getrennt geschriebenen Substantivkompositums: das flexive Dativ-n und der bestimmte Artikel den, der zusammen mit dem zweiten Erstglied der Wortgruppe, Adams, einen Rahmen bildet.30 Die bisher genannten, ambivalenten Sonderfälle – besonders diejenigen, die für getrennt geschriebene
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Genitiv ist für diesen Fall unwahrscheinlich. Man kann sich in diesem Beispiel nur schwer eine unbestimmte Gottheit vorstellen, so dass es sich hier um das Wort für den christlichen Gott handeln muss, welches mit einem unbestimmten Artikel nicht verwendet werden kann. Hervorhebung von D.S. Hervorhebung von D.S. Wenn Pavlov für eine mögliche Bestimmung des Erstglieds einer Wortgruppe zweier substantivischer Konstituenten, bei der der Artikel eindeutig zum zweiten Glied zu führen ist, als ein mit der Selbstständigkeit als Wort zusammenhängendes Phänomen argumentiert, nennt er kein einziges Beispiel eines Falles, in dem sowohl der Artikel als auch ein weiteres attributives Glied deutlich für die Deutung des aktuellen Falles als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum sprechen. Von Pavlovs Beispielen repräsentiert lediglich eines eine eigennamenähnliche Personbezeichnung mit einem formalgrammatischen Merkmal, das auf ein Substantivkompositum hindeutet. Pavlov meint, dass das Erstglied des Wortkomplexes in diesem Falle als eine Genitivform zu betrachten sei; dies gelte auch für die übrigen Fälle, die sämtliche Personennamen als Erstglieder aufzeigen (Pavlov 1983: 56). Im für diese Untersuchung verwendeten Korpus steht das zweite Glied in Konstruktionen,
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Substantivkomposita zu halten sind – müssen als eher ungewöhnlich bezeichnet werden. Umso häufiger sind zweideutige Fälle, die weder einen Eigennamen oder einen eigennamenähnlichen Personenbezeichnung noch Gottes als Erstglied enthalten.31 Die meisten der ambivalenten Fälle gehören, wie die folgenden Beispiele, jedoch nicht zu dieser Gruppe von Ausnahmen: (6) Also sollen alle Zuhörer / wes standes vnd wirden die sind / mit der arbeit jres Beruffs / vnd mit jren Gütern dem HErrn Christo dienen / sollen nicht wegreissen vnd rauben die Kleider / das ist Kirchen güter / so die alten dem HERRN Christo gegeben / zu erhaltung Kirchen vnd Schulen. Wer Kirchen güter zu sich nimpt / er sey Fürst / Edelman / Baur / Bürger oder wer er wolle / vnd wendet die in Weltlichen gebrauch / der entblösset den HERRN Christum seiner Kleider / vnd raubet jm die: (Pauli 1573: 9v).32 (7) Es müssen Gerechte und Auffrichtige seyn / die sich in dem Herrn freuen sollen. Darumb gehets nur die Gläubige an / was Paulus spricht: Freuet euch im Herrn. Die Ermahnung ist gerichtet auff die Zeit. Der Kirchen Zustand war dazumal sehr trüb. Paulus lag zu Rom gefangen. Die Verfolgung war groß / von allen Seiten drang die Gefahr herein (Müller 1671: 29).33
In den beiden ambivalenten Fällen des Beispiels (6) liegen keine formalgrammatischen Merkmale für eine Einstufung der beiden markierten Wortgruppen in eine der beiden aktuellen Kategorien vor. Somit müssen diese Wortkomplexe im Sinne von Schritt 2 des Erklärungsansatzes geprüft werden. Wenn man sich den Kontext um diese beiden Beispiele anschaut, wird deutlich, dass die hier aktuellen Erstglieder sich nicht auf einen Einzelgegenstand beziehen. Es wird keine spezifische Kirche oder spezifischen Kirchen gemeint, sondern Kirche bezieht sich als Gattungsbezeichnung allgemein auf die Kirche. Die Erstglieder dieser beiden Wortkomplexe zeigen somit eine verallgemeinernde Bedeutung auf, was zu einer Zuordnung dieser beiden Konstruktionen zu den getrennt geschriebenen Substantivkomposita führt.34
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bei denen zwei Erstglieder zum selben Zweitglied gehören, seien sie ambivalent oder nicht, auffallend häufig vom Zweitglied getrennt geschrieben. Dies betrifft sowohl Pavlovs Typen 2 und 3 als auch Nittas Typen 2, 3, 4 und 5. Hervorhebung von D.S. Hervorhebung von D.S. Im für diese Studie untersuchten Korpus finden sich nur vereinzelt Belege für Wortgruppen zweier substantivischer Konstituenten ohne vorausgehenden Artikel, die laut des hier vorgeschlagenen Erklärungsansatzes als vorangestellte Genitivkonstruktionen zu betrachten wären. Dies stimmt mit den Feststellungen bei Pavlov überein, dass „[d]as in verschiedenen Stellungen im Satz ohne Artikel auftretende Substantiv [...] immer mehr zur semantischen Verallgemeinerung [neigt]“ (Pavlov 1983: 53).
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In Beispiel (7) liegen auch keine formalgrammatischen Merkmale für eine Einstufung in eine von den beiden aktuellen Kategorien vor. Der bestimmte Artikel der könnte sich auf sowohl das Erst- als auch das Zweitglied der substantivischen Konstruktion beziehen. Wenn der Kontext jedoch näher betrachtet wird, wird deutlich, dass es sich bei dieser Wortgruppe um ein vorangestelltes Genitivattribut handelt. Das Erstglied bezieht sich hier auf die christliche Kirche zur Zeit Paulus’ als Einzelgegenstand und nicht auf die verallgemeinernde Gattung Kirche. Zum Abschluss soll das diesen Beitrag einleitende Beispiel ausgewertet werden: (1) Summa / kein auge hats gesehen / kein ohr hats gehöret / es ist auch ins menschen hertz nie gestiegen / was Gott vns / vnd aller Christgleubigen / die er mit seines lieben Sons thewrem / rosenfarben blut / thewer erkaufft / erlöst / erworben vnd gewonnen / bereitet hat / (Vischer 1573: AIIIIv)35
In diesem Falle liegen keine formalgrammatischen Merkmale vor, die ihn eindeutig in eine der beiden aktuellen Kategorien einstufen lässt.36 Beispiel (1) muss somit einer Prüfung im Sinne von Schritt 2 des neuen Erklärungsversuchs unterzogen werden. Es wird durch den Kontext klar, dass es sich in (1) nicht um die Menschen als Einzelgegenstände handelt, sondern um sie als verallgemeinernde Gattungsbeschreibung. Somit wird dieser Fall als ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum behandelt.
6. Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde ein aus zwei Schritten bestehender, praxisbezogener Lösungsansatz auf die Problematik der Unterscheidung zwischen getrennt geschriebenen Substantivkomposita und pränominalen Genitivattributen im Frühneuhochdeutschen vorgestellt. Während dieser Zeit waren die Grenzen zwischen diesen beiden Phänomenen fließend, da ein Wandel stattfand, der zur allmählichen Herausbildung der Substantivkomposita führte. Der erste Schritt besteht darin, dass ein ambivalenter Fall nach formalgrammatischen Merkmalen in eine der beiden Kategorien eingestuft wird. Für mehrdeutige Fälle, bei denen keine formalgrammatischen Merkmale vorliegen, muss ein zweiter Schritt durchgeführt werden. Das bedeutet, dass der kontextuelle Bezug des Erstgliedes der Wortkombina-
35 Hervorhebung von D.S. 36 Die Form ins könnte sowohl für in das (=getrennt geschriebenes Substantivkompositum) als auch für in des (= vorangestelltes Genitivattribut) stehen.
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tion entscheidend dafür wird, welche grammatische Funktion sie besitzt. Bezieht sich das Erstglied auf einen Einzelgegenstand oder mehrere Einzelgegenstände, ist die Wortgruppe als ein Komplex mit vorangestelltem Genitivattribut zu betrachten, bezieht es sich dagegen auf eine verallgemeinernde Gattungsbezeichnung für eine Klasse von Gegenständen, repräsentiert der Wortkomplex ein getrennt geschriebenes Substantivkompositum. Eine Ausnahme bilden hierbei substantivische Wortgruppen, die einen Eigennamen, eine eigennamensähnliche Personenbezeichnung oder Gottes als Erstglied haben. Sie werden, wegen des häufig deutlichen Bezuges dieses Erstgliedes auf einen bestimmten Einzelgegenstand, nur zur Kategorie der getrennt geschriebenen Substantivkomposita gezählt, wenn formalgrammatische Merkmale dafür sprechen und der aktuelle Kontext nicht dagegenspricht; liegen keine formalgrammatischen Merkmale vor, werden sie wegen ihres klaren Bezugs auf einen Einzelgegenstand zu den pränominalen Genitivkonstruktionen gerechnet. Dieser neue Lösungsvorschlag vermag womöglich nicht sämtliche ambivalenten Fälle zu lösen. Es könnte nach wie vor immer noch mehrdeutige Fälle geben. Letztendlich ist es ja auch nicht immer möglich, exakt zu wissen, wie die Menschen während der frühneuhochdeutschen Zeit ihre sprachlichen Konstruktionen auffassten.
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Jessica Nowak (Mainz)
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten 1. Konjugationsdubletten auf Schritt und Tritt Besonders zahlreich sind Doppelformen1 in der nhd. Konjugation, was nicht zuletzt mit der generellen Übergangstendenz starker Verben in die schwache Klasse zusammenhängt, vgl. z. B. melken im Prät. und Part. II: molk – gemolken ĺ melkte/molk – gemolken/gemelkt. Diese Flexionsvarianten können alle Teilparadigmen eines Verbs betreffen, so auch den Imp. Sg. (Milk! ĺ Melk!) und Sg. Präs. (milkst ĺ melkst), und gehen vielfach ohne Bedeutungsunterschied einher, vgl. melken unter (1). (1)
(a) Ich melkte/molk die Kuh. (b) Ich habe die Kühe gemolken/selten: gemelkt.
Daher ist es besonders bemerkenswert, wenn solche präteritalen und partizipialen stark-schwach-Dubletten semantisch differenziert werden, vgl. gären unter (2). In konkreter Bedeutung ‚sich durch chemische Zersetzung verändern‘ sind v.a. starke, aber auch schwache Formen üblich (s. 2a), in übertragener Verwendung wie in (2b) dagegen nur die schwachen (vgl. z. B. Duden 2007). (2)
(a) Der Wein hat im Fass gegoren/seltener: gegärt. (b) Seit Wochen gärte (*gor) es in der Firma.
Die Entstehungspfade solcher Bedeutungsdifferenzierungen von Konjugationsdubletten aufzuzeigen und ihre diachrone Entwicklung zu skizzieren, stehen im Vordergrund dieses Beitrags (2.1.–2.2.). Da dieses Feld weitgehend unerforscht ist, wurde für die Diachronie v.a. mit Grammatiken und Wörterbüchern aus dem 16. bis 21. Jahrhundert gearbeitet. Daneben
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Im Folgenden werden die Ausdrücke Doppelform, Dublette und Flexionsvariante synonym verwendet.
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soll auch der synchrone Aspekt mittels Sprachgebrauchsanalysen berücksichtigt werden (2.3.). Schließlich wird der Frage nachgegangen, wie sich die Funktionalisierung von Flexionsvarianten als Phänomen erklären lässt (2.4.).
2. Entstehung und Entwicklung semantisch differenzierter Konjugationsdubletten Ganz allgemein zeichnen sich zwei Entstehungspfade solcher Dublettendifferenzierungen ab. Einmal geht die Doppelförmigkeit auf Homonymie zweier verschiedener Verben zurück (s. 2.1.). Im zweiten Fall sind die stark-schwach-Dubletten durch Analogieausgleich, d. h. die Herausbildung schwacher Nebenformen bei einem starken Verb, entstanden (s. 2.2.). 2.1. Typ I: Stark-Schwach-Dubletten durch Homonymie Dieser Typ von Dubletten könnte ebenso gut als „Scheindubletten“ etikettiert werden, da ein starkes und ein schwaches Verb im Infinitiv lautlich zusammengefallen sind unter Beibehaltung des Konjugationsunterschieds im Prät. und Part. II. Hierzu zählen heute bewegen, schaffen, scheren, schleifen, weichen und wiegen. Das Szenario ist am Beispiel von schleifen in Abb. 1 konkretisiert. Mhd. starkes slîfen und mhd. schwaches sleifen sind infolge von (f )nhd. Diphthongierung bzw. Diphthongwandel zu nhd. schleifen zusammengefallen. In der Bedeutung ‚glätten, schärfen‘ wird schleifen auch heute noch stark konjugiert, im Sinne von ‚schleppen, gleiten‘ weiterhin schwach, vgl. die gestrichelten Linien und Beispiele unter Abb. 1. Wie bei schleifen ist das schwache Verb meist vom starken abgeleitet, so auch bei bewegen, schaffen und scheren; seltener ist es denominal wie bei wiegen ‚schwingend hin und her bewegen‘ < Wiege und weichen ‚weich werden (lassen)‘ < weich (vgl. Kluge 2002; Duden 2007; Pfeifer 2000). Zwar werden starkes und schwaches Verb durch ihr Konjugationsverhalten in den Vergangenheitstempora immernoch unterschieden, doch zieht der phonologische Zusammenfall oft semantische Interferenzen zwischen den nun homonymen Verben nach sich, meistens dergestalt, dass das starke Verb in seinen Gebrauchskontexten eingeschränkt wird und oft auch Bedeutungen an das ihm semantisch nahe stehende schwache Verb abtritt, so auch bei schleifen. Noch mhd. bedeutete das starke Verb neben ‚glätten, schärfen‘ auch ‚gleiten, kriechen‘, vgl. da der wurm hin sleif ‚[über eine Fläche] hinglitt/kroch‘. Diese intransitive Ursprungsbedeutung des
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Abb. 1: Entstehung von stark-schwach-Dubletten bei schleifen
starken Verbs ist zum (F)nhd. auf das schwache Verb übergegangen, vgl. ich hörte, wie nebenan der alte mann über den gang schleifte (aus DWb, Bd. XV, 591). Starkes schleifen wurde im Nhd. auf ‚glätten, schärfen‘ eingeschränkt, s. auch Abb. 1. Auch starkes schaffen, bewegen und scheren haben zum Nhd. eine Bedeutungsverengung durchlaufen. Schaffen wurde bspw. stark auf das Schöpferische ‚erschaffen, zustande bringen‘ eingeengt (s. 3a), während es mhd. auch noch ‚gestalten; tun, bewirken; einrichten, (ver)ordnen‘ bedeuten konnte (vgl. BMZ III: 67). Das starke Präfixverb bewegen ist heute nur noch in der Bedeutung ‚veranlassen zu‘ gebräuchlich (s. 3b), seine früheren Bedeutungen ‚bedenken, erwägen‘ und ‚mit der Waage bewegen‘ wurden meist von anderen Verben übernommen (z. B. (er)wägen; vgl. StieglbauerSchwarz 2001). Auch starkes scheren – heute nur noch in der Bedeutung ‚(ab)schneiden‘ (s. 3c) – hat sich vieler seiner mhd./fnhd. Bedeutungen entledigt: So ist u.a. die reflexive Verwendungsweise sich scheren ‚sich kümmern‘, in der sich noch im Fnhd. das starke Verb findet (s. 4a), auf das schwache scheren übergegangen (s. 4b; s. u.a. Kluge 2002; Duden 2007; Pfeifer 2000). Umgangssprachliche Ausdrücke wie sich scheren scheinen gerade wegen ihres informellen Charakters für die Annahme der schwachen Flexion prädisponierter zu sein. (3)
(a) schaffen: (b) bewegen: (c) scheren:
Gott schuf die Welt in sieben Tagen. Die Regierung hat neue Arbeitsplätze geschaffen. Dieser Vorfall bewog mich zu dieser Entscheidung. (analog: ... hat mich ... bewogen.) Die Schafe wurden geschoren.
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten
(4)
315
sich scheren ‚sich kümmern‘ (a) Fnhd.: so war das meisterlein so pfiffig dasz es [...] sich nichts darum schor. (aus Paul 1917:223) (b) Nhd.: Sie scherten sich nicht darum.
Neben der Bedeutungsverengung des starken Verbs gibt es drei weitere Szenarien, wie auf die entstandene Homonymie reagiert wird. Es kann zum einen auf die Wortbildung ausgewichen und z. B. mittels Präfigierung ein starkes von einem schwachen Verb unterschieden werden. So lautet bei löschen das intransitive starke Verb heute meist erlöschen und steht damit dem transitiven schwachen Simplex gegenüber (vgl. z. B. Duden 2007). Der Rückgriff auf Präfigierungen fügt sich zudem gut in die von Hotzenköcherle (1962: 323) beschriebene Gegenwartstendenz des Deutschen ein, das nach grammatischer Expressivität strebt. Interessant dabei ist zudem die Beobachtung, dass die Präfixverben häufiger zur starken Flexion neigen als ihre Simplizia, vgl. z. B. verweben und weben, er-/verglimmen und glimmen, aus-/vergären und gären (vgl. z. B. Duden 2006). Zum anderen kann der Konjugationsunterschied gänzlich aufgehoben werden, sowohl zugunsten der schwachen als auch der starken Flexion. Letzteres ist z. B. der Fall bei nhd. laden, das seit dem 16. Jh. nicht nur in der Bedeutung ‚etw. beladen‘ durchweg stark flektiert (ahd. (h)ladan), sondern auch in der Bedeutung ‚jdn. einladen‘, die ursprünglich durch das schwache Verb ahd. ladōn ausgedrückt wurde (vgl. z. B. Kluge 2002). Die Aufrechterhaltung des Konjugationsunterschieds ist also nicht notwendig für das (Text)Verständnis, da dieses syntaktisch disambiguiert wird, vgl. einladen unter (5). So erfordert einladen ‚jdn. zu sich laden‘ unter (5a) ein belebtes Akkusativobjekt (eine Person), das unter (5b) – ‚etw. in etw. laden‘ – hingegen ein unbelebtes (einen Gegenstand). Auch die verwendeten Präpositionen sind unterschiedlich: zu (5a) vs. in (5b). (5)
einladen: (a) ‚jdn. zu sich laden‘ (b) ‚etw. in etw. laden‘
Ich lade meine Freunde (zu mir) ein. Ich lade die Koffer (ins Auto) ein.
Weitere Beispiele für die Durchsetzung der starken Konjugation finden sich in den jeweils transitiv-intransitiv-Verbpaaren schmelzen und verderben (Relikt: Adjektiv verderbt); bei (er)bleichen wurden hingegen die starken Formen zugunsten der schwachen aufgegeben (Relikte: verbleichen, Nominalisierung Verblichene(r)). Schließlich können semantische und formale Interferenzen gänzlich unterbleiben wie bei wiegen und weichen, vermutlich wegen der semantischen Distanz zwischen den jeweils homonymen Verben, vgl. wiegen ‚Gewicht haben/messen‘ (st.) und ‚schwingend hin und her bewegen‘ (sw.)
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316
bzw. weichen ‚(sich/etw.) entfernen; Platz machen‘ (st.) vs. ‚weich werden/ machen‘ (sw.). 2.2.
Typ II: Stark-Schwach-Dubletten durch Analogieausgleich
Ausgangspunkt ist hier – anders als bei Typ I – ein starkes/irreguläres Verb, das aufgrund seiner niedrigen Gebrauchsfrequenz schwache Nebenformen im Prät. und Part. II herausgebildet hat. Analogieausgleich stellt also den zweiten Pfad dar, wie stark-schwach-Dubletten zunächst rein formal entstehen und sekundär bedeutungsdifferenziert werden können. Je nach Bedeutung werden die starken bzw. schwachen Formen bevorzugt oder ausschließlich verwendet. Zu diesem zweiten Typ von semantisch differenzierten Konjugationsdubletten zählen die Verben gären, glimmen, hauen, pflegen, saugen, senden, weben und wenden (vgl. z. B. Duden 2007). Ihre Flexionsvarianten wurden zwischen dem 18. und 20. Jh. funktionalisiert. Der Gebrauch starker und schwacher Formen lässt sich bei diesen Verben nach den unter (6) aufgelisteten Kriterien abgrenzen: (6)
(a) alte vs. neue Bedeutung: saugen, senden (s. 2.2.1.) (b) konkrete vs. übertragene Bedeutung: gären, glimmen, weben, wenden (s. 2.2.2.) (c) allgemeine vs. spezielle Bedeutung: hauen, pflegen (s. 2.2.3.)
2.2.1. Alte vs. neue Bedeutung In Fällen wie saugen (stark) und senden (rückumlautend) hat sich in der neu hinzugetretenen Bedeutung – beide Verben wurden auf den technischen Bereich erweitert – die schwache Konjugation gegenüber der starken bzw. rückumlautenden durchgesetzt, vgl. (7b, 8b). In der Ursprungsbedeutung stehen bei saugen ‚Flüssigkeit o.ä. einziehen‘ starke und schwache Formen gleichberechtigt nebeneinander (s. 7a), bei senden ‚schicken‘ bevorzugt die rückumlautenden (s. 8a) (vgl. Duden-Grammatik 1998; Duden 2007). (7) (8)
saugen: (a) alt: Der Schwamm hat sich mit Wasser vollgesaugt/vollgesogen. (b) neu: Hast du das Zimmer schon gesaugt? senden: (a) alt: Sie sandte/(sendete) mir viele Briefe. Es wurden viele Hilfstruppen dorthin gesandt/(gesendet). (b) neu: Das Fernsehen sendete ein Fußballspiel. Die Station hat rund um die Uhr gesendet.
Im Folgenden beschränken wir uns auf die Entwicklung von senden. Die Doppelförmigkeit – sente, gesendet neben häufigerem sante, gesant – be-
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten
317
stand bereits im Mittelhochdeutschen, allerdings ohne mit einer Bedeutungsdifferenzierung einherzugehen (vgl. BMZ III: 296f.). Dies änderte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Verwendungskontext von senden auf das Ausstrahlen von Rundfunk- und später auch Fernsehübertragungen ausgeweitet wurde, s. das Bsp. von 1925 in (9). (9)
[…] wo in sechs Nächten zwischen 0 h und 2 h MEZ. jede Station auf der neuen Welle sendete […] (aus books.google.de, Elektrotechnik und Maschinenbau, Bd. 43, Tl. 2, 1925, S. 129, Stand: 01.10.10)
Erst 1959 weist die Duden-Grammatik erstmals auf eine semantische Differenzierung der Dubletten hin: „in der Bedeutung ‚[durch Rundfunk] übertragen‘ nur schwach“ (ebd.: 133). 2.2.2. Konkrete vs. übertragene Bedeutung Oftmals hat sich für den übertragenen Gebrauch die starke/irreguläre Konjugation etabliert, während in konkreter Verwendung die schwachen Formen üblich sind. Dies gilt für weben (10), glimmen (11) und auch wenden (12), vgl.: (10) weben (a) konkret: (b) übertragen: (11) glimmen (a) konkret: (b) übertragen: (12) wenden (a) konkret: (b) übertragen:
Sie webten einen wunderschönen Teppich aus Seide. Um diese Person wob sich so manche Legende. Das Feuer glimmte noch unter der Asche. Eine letzte Hoffnung glomm noch in ihnen. Das Auto hat gewendet. Das Heu muss gewendet werden. Ich habe mich schriftlich dorthin gewandt. Ich habe mich dagegen gewandt.
Das liegt vermutlich darin begründet, dass der metaphorische Gebrauch primär ein Charakteristikum geschriebener Sprache sowie gehobenen Stils ist und sich Schriftsprache im Bereich der Grammatik insgesamt konservativer verhält. Hier konnten sich die starken Formen besser halten. Es kann sich aber auch die schwache Konjugation für den übertragenen Gebrauch etablieren, wie bei gären, vgl. (13a). In der konkreten Verwendung hingegen sind v.a. die starken Formen üblich (vgl. z. B. Duden 2007).2 2
Wie eigene Korpusrecherchen ergeben haben, treten die starken Part.II-Formen häufiger auf, wenn das Perfekt mit sein (Der Wein ist gegoren) statt mit haben (Der Wein hat gegärt/
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318
Allerdings hat die schwache Konjugation die starke im Präteritum fast völlig verdrängt, so dass sich die semantische Differenzierung nunmehr auf das Part. II konzentriert, vgl. (13b). (13) (a) übertragen: (b) konkret:
Es gärte in der Menge. Im Volk hat es gegärt. Der Wein gärte/(gor) in den Fässern. Der Wein ist zu Essig gegoren/(gegärt).
Die heutige Bedeutungsdifferenzierung wird in den untersuchten Grammatiken und Wörterbüchern erstmals bei Engelien 1867 erwähnt und ist seitdem weitgehend fest. Sie muss sich also im Laufe des 19. Jhs. herausgebildet haben, zumal sich noch bis ins 19. Jh. hinein die starken Formen – anders als heute – im übertragenen Gebrauch finden, vgl. (14). (14) herz, blut und ehrliebe gohren (1800, J. Paul Titan, aus DWb) dieser verzweifelte plan gohr […] in ihrem pochenden busen (1854, Gottfried Keller, aus DWb)
Inwieweit die Grammatiker und Lexikographen einen Anteil an diesem Prozess hatten, ist ungewiss und müsste durch Hinzuziehung anderer Textsorten überprüft werden. 2.2.3. Allgemeine vs. spezielle Bedeutung In Abschnitt 2.1. haben wir gesehen, dass der phonologische Zusammenfall von starkem und schwachem Verb oft eine Bedeutungsverengung des starken Verbs nach sich gezogen hat. Ähnlich verhält es sich bei Verben, die ihre ursprünglich starke Flexion nur noch in bestimmten quasi phraseologischen und damit sehr speziellen Verwendungskontexten erhalten haben. Hierzu zählen hauen und pflegen (s. z. B. Duden 2007). Letzteres wird – wenn überhaupt – nur noch in Konstruktionen wie Sie pflogen der Ruhe stark verwendet, ansonsten ausschließlich schwach, z. B. Sie pflegte
selten: gegoren) gebildet wird. Möglicherweise deutet das darauf hin, dass die ohnehin lexikalisierten starken Formen beim adjektivnäheren, resultativen Gebrauch weniger an den invarianten Verbstamm gebunden sind und daher stärker zur lexikalischen Spaltung neigen. Das haben-Perfekt fokussiert hingegen mehr auf den verbalen Kontext und würde demnach mit einer stärkeren Bindung zum invarianten Stamm und der Bevorzugung der regulären Formen einhergehen. Diese Tendenz fügt sich gut ins Bild ein, nach dem attributiv verwendete Partizipien und ihre Nominalisierungen die irreguläre Form erhalten, vgl. z. B. angewandte Linguistik, versandtes Paket, verworrene Verhältnisse, Gesandter, Verblichener usw. (zu ähnlichen Phänomenen im Afrikaans und alem. Dialekten s. Dammel 2010: 109–112).
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten
319
ihre Haare. Sie pflegten, ins Kino zu gehen. Bei hauen wiederum manifestiert sich die Bedeutungsdifferenzierung nur im Präteritum, das Part. II lautet immer gehauen. Die schwach suppletiven Formen hieb, hieben sind nur noch üblich, wenn es um das Schlagen mit einer Waffe oder das Verwunden im Kampf geht, z. B. Er hieb mit dem Schwert auf den Feind. Ist ‚schlagen‘ allgemein gemeint, wird schwach flektiert: Er haute ihn mehrmals. Sie hauten gegen die Tür. Ich haute den Nagel in die Wand. Gerade der suppletive Charakter der Präteritalformen in Verbindung mit ihrer massiven Formenvielfalt im Mhd./Fnhd. (vgl. z. B. im Sg. Prät. hie, hiu, hiuw, hiew, hieb, heu, s. BMZ I: 720) dürften die weitgehende Durchsetzung der regulären Präteritumsformen begünstigt haben. Dass sich die starke Konjugation bei pflegen und hauen in quasi phraseologischen Kontexten erhalten hat, deckt sich mit der Tatsache, dass Phraseologismen generell archaisches Sprachgut konservieren. 2.3. Sprachgebrauchsanalyse Nachdem wir uns der Typologisierung und v.a. Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten gewidmet haben, wenden wir uns nun dem heutigen Sprachgebrauch zu. Mittels einer Cosmas II-Recherche3 soll überprüft werden, inwieweit die dargelegten Bedeutungsdifferenzierungen gegenwärtig bei der Wahl starker bzw. schwacher Formen eine Rolle spielen. Zunächst zu den homonymen Verben bewegen, schaffen, scheren und schleifen.4 Tab. 1 gibt die durchschnittliche Fehlerrate in Prozent an, also den Anteil an Fällen, in denen abweichend vom Standard die starke oder schwache Konjugation anstelle der richtigen Flexionsweise im Prät./Part. II gebraucht wurde, z. B. Das *bewegte mich zu diesem Entschluss statt korrektem bewog. Auffällig hierbei ist, dass die starken Formen nie in den Gebrauchskontexten der schwachen Formen auftreten, während umgekehrt die schwache Flexion eher anstelle der starken erscheint. Die Werte liegen zwischen 2 % bei scheren und 13,5 % bei bewegen (s. Tab. 1). Insgesamt wird die Bedeutungsdifferenzierung der stark-schwach-Dubletten (fast) ausnahmslos eingehalten.
3 4
Ausgezählt wurden jeweils 500 Belege pro Flexionsvariante, z. B. 500 für geschaffen und 500 für geschafft. Die Verben weichen und wiegen bleiben im Folgenden unberücksichtigt.
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320 bewegen
schaffen
scheren
schleifen
Ø Fehlerrate
sw. statt st.
st. statt sw.
sw. statt st.
st. statt sw.
sw. statt st.
st. statt sw.
sw. statt st.
st. statt sw.
3,5 %
0%
0%
0%
0%
0%
6%
0%
2,5%
Part. II 13,5 % 0 %
0%
0%
2%
0%
0%
0%
8,0%
Prät.
Tab. 1: Bedeutungsdifferenzierungen von Konjugationsdubletten im Sprachgebrauch
Dies ist bei den Verben, die ihre Doppelformen erst sekundär funktionalisiert haben, nur bedingt der Fall.5 Bei saugen, senden und wenden steht die starke Konjugation äußerst selten in Kontexten, in denen nur die schwachen Formen möglich sind, z. B. Das Spiel wurde im TV gesandt statt gesendet. Die Werte liegen hier zwischen 0 % und 6 %, s. Tab. 2. Die schwachen Formen treten hingegen auch vermehrt in den Verwendungen auf, in denen nach Duden (2007) vornehmlich die starken Formen stehen, z. B. Wir wendeten uns gegen ihn statt üblichem wandten. Die Werte reichen von 0,01 % bei senden bis 49 % bei wenden, s. Tab. 2. Das zeugt von einer generell größeren Toleranzschwelle gegenüber schwachen Formen. saugen sw. statt st.
st. statt sw.
senden sw. statt st.
st. statt sw.
wenden sw. statt st.
st. statt sw.
Ø Fehlerrate
Prät.
37 %
6%
6%
0,03 %
49 %
0%
15 %
Part. II
36 %
0%
0,01 %
0,02 %
24 %
0,5 %
10 %
Tab. 2: Bedeutungsdifferenzierungen von Konjugationsdubletten im Sprachgebrauch
Bei den Verben weben, glimmen und gären wird dagegen hinsichtlich der Bedeutung nicht so scharf zwischen starken und schwachen Formen getrennt, s. Tab. 3. Hier stehen nicht nur schwache Formen anstelle der starken, sondern auch starke Formen in Kontexten, in denen die schwache Flexion üblich ist, z. B. Das Orchester webte einen wunderschönen Klangteppich statt wob oder Die Zigarette glomm im Dunklen statt glimmte. Die Werte liegen meist um die 20–30 %, s. Tab. 3. Die Bedeutungsdifferen-
5
Die Verben hauen und pflegen bleiben unberücksichtigt, da die starken Formen nur phraseologisch auftreten.
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten
321
zierung durch Konjugation ist hier zwar eine relativ starke Tendenz, aber keine feste Regel. weben
glimmen
gären
Ø Fehlerrate
sw. statt st.
st. statt sw.
sw. statt st.
st. statt sw.
sw. statt st.
st. statt sw.
Prät.
30 %
16 %
16 %
46 %
---
---
27 %
Part. II
24 %
35 %
0%
37,5 %
47 %
12 %
26 %
Tab. 3: Bedeutungsdifferenzierungen von Konjugationsdubletten im Sprachgebrauch
Möglicherweise ist eine Differenzierung nach übertragenem vs. konkretem Gebrauch zu abstrakt bzw. semantisch nicht so eindeutig wie etwa die Unterscheidung nach einer konkreten Bedeutung wie bei senden zwischen ‚ausstrahlen‘ vs. ‚schicken‘ oder bei homonymem schaffen zwischen ‚arbeiten‘ vs. ‚erzeugen, zustande bringen‘. In diesen Fällen ist die semantische Distanz groß genug, um einen Konjugationsunterschied aufrechtzuerhalten bzw. die Verwechslungsgefahr gering zu halten. Letzteres dürfte auch der Hauptgrund dafür sein, dass die Bedeutungsdifferenzierungen v.a. bei der Gruppe homonymer Verben stabiler sind als bei Verben wie weben, wo sie erst sekundär entstanden sind. So liegt die Fehlerrate bei den homonymen Verben bei durchschnittlich 2,5 % im Prät. bzw. 8 % im Part. II (s. Tab. 1), bei den nicht homonymen Verben bei durchschnittlich 15–27 % im Prät. und 10–26 % im Part. II (s. Tab. 2–3). 2.4. Warum semantische Differenzierung durch Konjugation: Mehraufwand ohne Mehrwert? Das, was sich heute als Bedeutungsdifferenzierung von präteritalen und partizipialen Konjugationsdubletten manifestiert, geht nicht einmal in der Hälfte aller Fälle (8 von 18) auf eine Funktionalisierung von Flexionsvarianten zurück (s. Tab. 4). Etwa genauso häufig sind solche semantischen Differenzierungen das Resultat zweier homonym gewordener Verben (10 von 18, s. Tab. 4). Dass Bedeutungsdifferenzierungen für das (Text)Verständnis jedoch nicht erforderlich sind, zeigt z. B. die Entwicklung von schmelzen, laden und verderben, bei denen sich nach dem Zusammenfall von starkem und schwachem Verb eine einheitliche Konjugation eingependelt hat. Auch die Tatsache, dass von den heute rund 20 schwankenden starken Verben nur knapp weniger als die Hälfte (8 Vb.) die Dubletten
Jessica Nowak
322
überhaupt funktionalisiert hat, belegt, dass semantische Differenzierungen nicht die logische Konsequenz von Doppelförmigkeit sein müssen, s. Tab. 4 (s. auch Bsp. melken unter (1)). keine Bedeutungsdifferenzierung
mit Bedeutungsdifferenzierung
Dubletten durch Analogieausgleich6
Dubletten durch Homonymie
dingen, dünken, melken, gären, glimmen, hauen, pfleschallen, schinden, schwären, gen, saugen, senden, weben, sieden, stieben, triefen, ver- wenden (8) schleißen, wägen (11)
bewegen, hängen, quellen, schaffen, scheren, schleifen, schrecken, schwellen, weichen, wiegen (10)
Tab. 4: Verben mit stark-schwach-Dubletten im Nhd. 6
Es stellt sich also die berechtigte Frage, weshalb die Doppelformen nur in einigen Fällen sekundär differenziert wurden. Ein möglicher Grund wäre das semantische Potential eines Verbs, das z. B. einen metaphorischen Gebrauch wie bei weben oder glimmen eher erlaubt als bspw. bei melken. Eine wichtige Rolle dürfte auch die Dauer der Doppelförmigkeit spielen. Verdrängen die neuen, regulär gebildeten Formen die ehemals starken besonders schnell, so besteht kaum die Chance für eine Funktionalisierung der Dubletten. Die Bedeutungsdifferenzierung von Konjugationsdubletten dürfte auch insbesondere dann begünstigt sein, wenn eine neue Bedeutung zum Verb hinzutritt, wie etwa bei senden und saugen. Es scheint, als ob die irregulären Formen stigmatisiert seien und nicht mehr für die neue Bedeutung „empfänglich“. Auch Tokenfrequenzen könnten eine entscheidende Rolle spielen. Bestimmte, wenig frequente Gebrauchskontexte eines starken Verbs dürften für die Durchsetzung der neuen, schwachen Formen sensitiver sein als frequentere und damit nicht nur das Einfallstor für den Einzug (und Siegeszug) der schwachen Formen bieten, sondern vielleicht auch für die Herausbildung semantischer Differenzierungen, die sich dann quasi automatisch einstellen würden. Inwieweit dieses Frequenzargument hier wirklich greift, müsste in feinstatistischen Einzelverbanalysen genauer untersucht und erst bewiesen werden.
6
Das Verb backen wurde nicht hinzugezählt, da die Dublettendifferenzierung nur dialektal vorkommt (in der Bedeutung ‚kleben‘ wird backen nur schwach flektiert), vgl. Duden 2006.
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten
323
Eine weitere mögliche Erklärung für die Funktionalisierung von Dubletten liefert auch das Principle of Contrast von Clark (1987). Hiernach wird beim Spracherwerb jedem kleinsten formalen Unterschied ein Bedeutungsunterschied zugewiesen. Überträgt man diesen Gedanken (mit allen Vorbehalten) auch auf den Sprachgebrauch von Erwachsenen – die Entstehung solcher Bedeutungsdifferenzierungen dürfte wohl eher hier zu suchen sein als beim Spracherwerb –, so würde das möglicherweise erklären, weshalb Flexionsvarianten unter Umständen sekundär funktionalisiert werden können. Welche Mechanismen dabei genau wirken und wie sich das im Einzelnen kognitiv abspielt, wäre eine eigene Untersuchung wert. Eine logische Konsequenz des Principle of Contrast ist, dass echte Synonyme nicht vorkommen (vgl. Clark 1987: 3). Das fügt sich gut in das sprachökonomische Argument ein, wonach echte Synonymie unökonomisch sei. Daran schließt auch Bréals (1897: 29–42) Gesetz der Bedeutungsdifferenzierung von Synonymen an: Bestehen Konkurrenzformen, werden diese im Sprachgebrauch differenziert. Synonyme werden abgeschafft und jeder Form ihr eigener Anwendungsbereich zugeordnet. Es besteht also – vereinfacht gesagt – ein generelles Bedürfnis von Sprachbenutzern, jeder Form eine eigene Bedeutung zuzuteilen und umgekehrt für eine Bedeutung auch nur einen Ausdruck bereitzustellen. Dieses Bedürfnis ähnelt den flexionsmorphologischen Prinzipien, wonach – zumindest aus natürlichkeitstheoretischer Sicht – Morpheme idealerweise monofunktional sein und morphologische Kategorien uniform (1 Funktion = 1 Form) ausgedrückt werden sollten. Ob die Funktionalisierung von Dubletten den endgültigen Übergang eines starken Verbs in die schwache Klasse schließlich aufhalten kann, ist eher zu bezweifeln (außer vielleicht in phraseologischen Kontexten). Sie vermag diesen Prozess aber zeitweise zu verzögern und dann wären Dublettendifferenzierungen als Übergangsphase bei schwankenden starken Verben auf dem Weg in die schwache Konjugation zu begreifen.
3. Zusammenfassung und Ausblick Dieser Beitrag hat einen kleinen Einblick in die Entstehung und Entwicklung semantischer Differenzierungen von Konjugationsdubletten geliefert. Die bedeutungsdifferenzierten stark-schwach-Dubletten gehen entweder auf zwei verschiedene – ein starkes und ein schwaches –, homonym gewordene Verben zurück oder sind das Ergebnis von sekundär funktionalisierten Doppelformen, die zuvor infolge von Ausgleichsprozessen bei einem starken Verb entstanden waren. Bedeutungsdifferenzierungen von
324
Jessica Nowak
Konjugationsdubletten sind bei homonymen Verben im Sprachgebrauch generell stabiler als solche, die sich erst nachträglich etabliert haben. Damit erweist sich neben der rein formalen Betrachtungsweise von flexionsmorphologischem Wandel die Hinzuziehung der semantischen Komponente als ein ebenso spannendes wie fruchtbares Feld, das im Bereich semantischer Differenzierungen längst nicht ausgeschöpft ist. Als besonders lohnenswert dürfte sich sowohl eine kontrastiv angelegte wie auch wortartenübergreifende Untersuchung von semantisch differenzierten Doppelformen erweisen, z. B. unter Einbeziehung bedeutungsdifferenzierter Pluraldubletten vom Typ nhd. Worte – Wörter, engl. brothers – brethren, von einst synonymen, heute aber semantisch differenzierten Adjektivsuffixen wie nhd. -lich und -voll (z. B. friedlich vs. friedvoll) oder von funktionalisierten Komparativen wie engl. older – elder (zu den Adjektivsuffixen s. Grimm 1968: 217f.). Dieser Beitrag versteht sich somit auch als Anregung für weitere Forschungen, deren Ergebnisse erst noch ausgären müssen.
Quellen Adelung 1793 = Adelung, Johann Christoph (1793/2001): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Elektronische Volltext- und FaksimileEdition nach der Ausgabe letzter Hand Leipzig 1793–1801, (Digitale Bibliothek 40), Berlin. Aichinger 1754 = Aichinger Carl Friedrich (1754/1972): Versuch einer teutschen Sprachlehre/Tijdschrift voor levende talen, Hildesheim/New York. Andresen 1898 = Andresen, Gustaf Karl (1898): Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit im Deutschen, Leipzig. Bauer 1830 = Bauer, Heinrich (1830): Vollständige Grammatik der neuhochdeutschen Sprache. Band 3, Berlin. Blatz 1895 = Blatz, Friedrich (1895): Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der deutschen Sprache. Band 1, Karlsruhe. Bödiker 1746 = Bödiker, Johann (1746/1977): Grundsätze Der Teutschen Sprache, Berlin/Leipzig. Claius 1578 = Claius, Johannes (1578/1973): Grammatica Germanicae Linguae, Hildesheim/New York. DWb = Der Digitale Grimm (1852–1954/2004): Frankfurt/M. Dückert/Kempcke 1984 = Dückert, Joachim / Kempcke, Günter (1984): Wörterbuch der Sprachschwierigkeiten. Zweifelsfälle, Normen und Varianten im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch, Leipzig. Duden-Grammatik = Duden (1959, 1973, 1998, 2005): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Duden Band 4, Mannheim u.a. Duden-Universalwörterbuch 2006 = Duden (2006): Deutsches Universalwörterbuch, (CD-Rom-Ausgabe), Mannheim. Duden-Zweifelsfälle 1972 = Duden (1972): Zweifelsfälle der deutschen Sprache. Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten. Duden Band 9, Mannheim.
Zur Herausbildung semantischer Differenzierungen bei Konjugationsdubletten
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Duden-Zweifelsfälle 2007 = Duden (2007): Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. Duden Band 9, (CD-Rom-Ausgabe), Mannheim.
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Antje Dammel (Mainz)
Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen im Deutschen 1. Einleitung Dieser Beitrag gilt der diachronen Entwicklung evaluativer Morphologie, spezifischer: pejorativer Derivationsmuster, die der negativen Bewertung durch den Sprecher dienen. Anhand von Fallskizzen wird eine (erweiterbare) Typologie möglicher Entwicklungspfade pejorativer Derivationsaffixe erarbeitet (Kap. 2). Dabei wird gefragt: Wie entstehen pejorative Derivationsmuster? Welche semantischen Wortbildungstypen bieten sich warum als Spenderbereiche an? Und welche Brückenkontexte sind anzunehmen? Damit sind zum einen Kontexte i.w.S. gemeint, besonders aber auch der Minimalkontext: Von welchen Derivationsbasen geht die Entwicklung aus? Es wird gezeigt, dass bei Referenz auf Personen (2.1) Diminutiv- und Zugehörigkeitssuffixe pejoratives Potenzial haben. Zur negativen Bewertung von Handlungen (2.2) lassen sich verbale Diminution (förscheln), und der aus einem Direktionaladverb entwickelte Verbzusatz (he)rum nutzen (rumstudieren). Auch Verbalabstrakta mit Kollektivsemantik entwickeln pejorative Konnotationen (vgl. das Gerufe, die Ruferei vs. das Rufen). In Abschnitt 3. wird ein gemeinsamer Nenner der behandelten Fälle herausgearbeitet und ein Modell für die Entstehung pejorativer Affixbedeutungen vorgeschlagen. Zunächst werden allerdings einige theoretische Voraussetzungen geklärt. 1.1. Dysphemismus > Pejorativ Da die hier gewählte Fragestellung an der Schnittstelle zwischen historischer Pragmatik und Semantik liegt, und da bekanntlich Erstere Letztere speist, werde ich im Folgenden immer, wenn es um Abwertung auf der
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Ebene der Pragmatik geht, den Terminus „Dysphemismus“ verwenden. Nach Allan/Burridge (1991: 26) ist dies “an expression with connotations that are offensive either about the denotatum or to the audience, or both”, d. h. es handelt sich um eine negative subjektive Wertung seitens des Sprechers “[to] show disapproval, downgrade”, die mit der notwendigen Bedingung gesichtsverletztender Illokution auf dem Face-Begriff (vgl. Brown/Levinson z. B. 2007) basiert. So ist Dysphemismus ein funktionalpragmatisches Konzept: Zeichen auch mit neutraler lexikalischer Semantik werden dysphemistisch eingesetzt (z. B. Opa, Tante). Unter „pejorativ“ wird dagegen das semantische Konzept verstanden, das semantisierte Dysphemismen in lexikalisierter (Weib) und grammatikalisierter Form (Schreiberling) umfasst. Von den alltäglich auftretenden Dysphemismen gehen nur die wenigsten in Pejorative über – die Entstehung pejorativer Wortbildungsmuster ist ein solcher komplexer Fall. 1.2. Aspekte sozialer Diskriminierung Inwiefern lassen sich Wortbildungsverfahren zu dysphemistischen Zwecken nutzen? Gibt es Derivationsmuster, die sich besonders dafür anbieten? Graumann/Wintermantel (2007: 150f.) benennen fünf Strategien, die sprachlicher Diskriminierung zugrunde liegen und kombiniert auftreten können. 1. Diskriminieren als Trennen von In- und Outgroup, 2. als Distanzieren der beiden Gruppen, 3. als Akzentuieren von Unterschieden, 4. Diskriminieren als Abwerten der Outgroup, „so dass der Wert der Ingroup und der eigenen sozialen Identität – zumindest implizit – gesteigert werden kann (Selbstwertsteigerung)“ und 5. Diskriminieren als Festschreiben: Wenn wir eine Person diskriminieren, behandeln wir sie nicht als Individuum mit verschiedenen Seinsweisen und Handlungen, sondern als einen Fall, als ein Beispiel für eine Kategorie oder als ein typisches Mitglied einer Outgroup. Eine Person wird generisch, d. h. als Vertreter ihrer „Gattung“ und damit als austauschbar behandelt, wenn ihr entweder typische Eigenschaften zugeschrieben werden oder sie einem Typus (Stereotyp) zugeordnet wird. [...]
Ausgehend von diesen Aspekten sozialer Diskriminierung erweisen sich als bevorzugte Anwendungsbereiche pejorativer Lexik die Referenz auf Personen, auf ihre Eigenschaften, Gruppenzugehörigkeit und ihr Verhalten. Damit bieten sich Ableitungssuffixe mit Funktionen in diesen Bereichen besonders an. Die Suffixe -ler (Gewinnler) und -ling (Schönling, Schreiberling) können Personenbezeichnungen abwerten (Kap. 2.1), Diminutive können Personen und ihre Artefakte abwerten (Professörchen, Rezensiönchen). Das Verhalten von Personen lässt sich sowohl mit dem Verbsuffix
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-eln (förscheln), und dem Ableitungsmuster (he)rum-X-en (rumstudieren) negativ bewerten als auch mit Verbalabstrakta (nomina actionis) der Muster Ge-X-(e) (Gelese) und X-(er)ei (Leserei), Kap. 2.2. 1.3. Definition und Bedingungen pejorativer Derivation Ein Derivationsmuster hat dann eine pejorative Funktion, wenn es an neutralen Basen eine negativ-distanzierende Bewertung durch den Sprecher markiert. Hier lassen sich Grade unterscheiden zwischen 1. Pejoration auf konnotativer Ebene, bei der das Denotat für den neutralen wie den pejorativen Ausdruck gleich bleibt, z. B. Professor – Professörchen, 2. und viel seltener Pejoration auf denotativer Ebene mit dem Ergebnis eines neuen Denotats mit pejorativen Merkmalen (vgl. Ladissow 1983: 32), z. B. Kriegsgewinner – Kriegsgewinnler. Damit ein Wortbildungsmuster als pejorativ gelten kann, muss es verschiedene Bedingungen erfüllen: Erstens muss Pejoration innerhalb des betreffenden Derivationsmusters reihenbildend sein. Diese Bedingung verfehlen etwa Nomina agentis auf -er wie Trinker oder Diminutiva auf -chen wie Professörchen, bei denen Pejoration zwar aufgrund der spezifischen Kombination aus Suffix und Basis vorhanden ist, aber nicht reihenbildend auf die Suffixsemantik zurückgeführt werden kann. Es wäre allerdings zu viel verlangt, Pejoration als alleinige Funktion eines Affixes zu fordern, wofür sich kein einziger Fall im Deutschen findet. Pejoration bildet immer mehr oder weniger produktive Wortbildungsnischen polyfunktionaler Wortbildungsmuster. Dass die Masse der Belege in negativ wertenden Kontexten auftritt, liegt in der Natur der Sache. Deshalb muss zweitens Pejoration auch in Kontextisolation erhalten bleiben. So ist gesichert, dass es sich nicht um einen rein pragmatisch basierten Dysphemismus handelt, sondern um dessen semantisierte Form. Dazu kommt drittens die engste Art von Kontext, die Derivationsbasis. Die Pejoration muss unabhängig von einer negativen Basissemantik auftreten, vgl. Gemecker, das diese Bedingung nicht erfüllt, mit Gelese. Das Ideal pejorativer Derivation verkörpern neutral-pejorative Minimalpaare wie Gewinner – Gewinnler und Schreiber – Schreiberling, die allerdings die große Ausnahme bilden.
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2. Die Fallanalysen Ausgehend von den Überlegungen in Abschnitt 1 wurden für die Fallanalysen, die hier skizzenhaft bleiben müssen, zum einen Derivationsmuster zur Bezeichnung von Personen (2.1), zum anderen zur Bezeichnung der Handlungen von Personen (2.2) ausgewählt. 2.1 Abwertung bei Personenbezeichnungen 2.1.1 Typ X-ler […] wer, durch sein Wollen und Laufen oder durch Gottes Erbarmen, so weit gekommen ist, daß alle Ketten abgefallen sind, und keine mehr an ihm klirrt; der ist w a h r h a f t i g l i c h ein f r e i e r Mann. – Er ist von dem Freiheitler himmelweit und wesentlich verschieden; und diese zwei verhalten sich zueinander: wie sein wollen zu sein, wie unten zu oben, wie nichts zu alles (Matthias Claudius: Asmus omnia sua secum portans 1798; Unterstreichung A. D.)
Das Suffix -ler entstand via Suffi xverstärkung aus Nomina agentis auf -er, die deverbale Bildungen zu Basen mit Reduktionssilbe [ԥl] waren, z. B. betelen ĺ {bet(e)l}{er} ĺ bet(e){ler} ‚jemand, der gewohnheitsmäßig bettelt‘. Diese Basisverben hatten sehr häufig bereits eine pejorative Komponente des Zuviel/Überdrusses an einer Handlung, die sich aus dem diminutiven, iterativ-intensiven l-Suffix speiste (s. 2.2.1), z. B. schmuggeln ĺ Schmuggler, mhd. breglen ĺ bregeler ‚Schwätzer‘. Die durch die Nomen agentis-Bildung mit -er bezeichnete Person wurde so auf ein unerwünschtes Verhalten reduziert, womit ein Fall von ‚Diskriminieren als Festschreiben‘ vorliegt. Wie kam es nun zur Verselbstständigung von -ler? Das Sprungbrett bildeten Derivative mit ambigen Basen, die verbal waren, aber auch denominal interpretiert werden konnten, z. B. Vernunft ĺ vernünfteln ĺ Vernünftler; Andacht ĺ andächteln ĺ Andächtler (Raabe 1956, Brendel u.a. 1997: 268–274). So konnte eine direkte Verbindung zwischen Substantiv und ler-Bildung geknüpft und produktiv gemacht werden, wie z. B. in denominalem Provinz ĺ Provinzler. Auch dieses Muster reduziert den Referenten auf das in der Basis genannte Konzept und nutzt gleichzeitig das aus den verbalen Basen resegmentierte pejorative Element. Gerade denominale ler-Bildungen wurden sehr produktiv. Ab wann das der Fall war, ist nicht abschließend geklärt. Mhd. gibt es noch kaum eigenständige Belege (Klein u.a. 2009); Raabes (1956) früheste Belege datieren ins 18. Jh. und werden von ihm an eine aufklärerische Kultur der Kritik geknüpft. Nach Brendel u.a. (1997: 270f.) gibt es schon fnhd.
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Belege wie wollustler. Der Höhepunkt mit zahlreichen denominalen Bildungen liegt aber zweifellos im 18./19. Jh. Mit der formalen Resegmentierung von -l- aus der verbalen Basis in das Suffix ging eine funktionale Verschiebung der Suffixsemantik einher. Die pejorativen Basen färbten nicht nur formal, sondern auch semantisch auf das Suffix ab. In seiner pejorativen Funktion markiert -ler die Sprechereinstellung der Distanz, Kritik gegenüber Eigenschaften, Überzeugungen, Verhalten oder Gruppenzugehörigkeit, vgl. z. B. Raabe (1956: 50, 52): „Charakterisierung einer Person oder eines Personenkreises im diminutiven oder herabwürdigenden geringschätzigen Sinne“, „Angehörige einer soziologisch abgesonderten sektierenden Personengruppe“. Die Referenten tun habituell etwas „Verwerfliches oder doch mindestens moralisch Fragwürdiges“ (Brendel u.a. 1997: 274). Soziopragmatisch gesehen haben wir es also mit Strategien des Diskriminierens durch Distanzieren, Abwerten und besonders eben durch Festschreiben auf eine typische unerwünschte Eigenschaft oder Tätigkeit zu tun. Zeitgenössische Äußerungen wie die eingangs zitierte von Matthias Claudius machen deutlich, dass die pejorativen Funktionen den Sprachbenutzern älterer Stufen des Dt. bewusst waren, vgl. auch Campes Definitionen für Wissenschafter: „Einer, der eine Wissenschaft treibt, sich mit den Wissenschaften beschäftigt“, und Wissenschaftler: „ein Wissenschafter oder Gelehrter, in verkleinelndem und verächtlichem oder spottendem Sinn“ (zit. nach Baeskow 2002: 149f.). Im Neuhochdeutschen kann -ler zwar noch immer negative Sprechereinstellung vermitteln, wobei sich besonders das Schema der sozial abgesonderten Personengruppe zu halten scheint. Das gilt mit negativen Basen, vgl. etwa Provinzler, Umstürzler stringenter als mit neutralen, etwa Intelligenzler und Fortschrittler. Nur seltenst besteht Parallelität einer neutralen -er- mit einer pejorativen -ler-Bildung (-gewinner/-gewinnler). Früher waren solche semantischen Oppositionen zahlreicher, vgl. oben Wissenschafter/Wissenschaftler, wo sich die verstärkte Bildung durchgesetzt hat. Die verstärkten ler-Bildungen gewinnen an Frequenz und ihre pejorative Komponente verblasst, was bei Gewerkschafter/Gewerkschaftler weitgehend durchgeführt scheint (vgl. Raabe 1956, Baeskow 2002: 150).1
1
Eine Google-Stichprobe (06.01.10, Seiten auf Dt., aus Dtld.) ergab jedoch für die Fremdbezeichnung „die Gewerkschaft(l)er sind“ 13,1 % -ler-Formen (899:5980 Belege), für die Eigenbezeichnung „wir Gewerkschaft(l)er sind“ nur 4 % -ler-Formen (7:145 Belege). Eine Google-Stichprobe zu Tierschützler (06.01.10, Seiten auf Dt.) ergab 130 l-Belege; die durchweg eine deutliche Präsenz von Sprechereinstellung zeigten. Der Großteil davon war eindeutig dysphemistisch (Tierschützler sollten Kormorannahrung sein; http://www.fischereiverband-glarus.ch/forum/thema.php?board=0&thema=1). Wie auch bei Diminutiven
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Vermutlich waren schon von Beginn an auch nicht-semantische Faktoren an der Konditionierung von -ler beteiligt, die zum Nhd. hin dominieren und die Produktivität wertneutraler -ler-Bildungen steigern. Gegenüber -er hat -ler z. B. den Vorteil, dass hier phonologische und morphologische Grenzen übereinstimmen {Gewerkschaf.t}{er} vs. {Gewerkschaft}.{ler}, Hiate vermieden werden (*CDUer) und keine Verwechslung mit er-Flexiven möglich ist, z. B. Brauchtümer ĺ ‚Pl. zu Brauchtum‘ vs. Brauchtümler ‚auf Brauchtum fixierte Person(en)‘. Insgesamt lässt sich an -ler zeigen, dass sich Suffixe zur Ableitung von Nomina agentis gut für stereotype Zuschreibungen eignen (Diskriminieren durch Festschreiben). Diese Typisierung, die Festlegung auf eine habituelle Tätigkeit, ist grundsätzlich neutral (Bäcker), erfolgte frequent genug aber auch nach schlechten Angewohnheiten und Normabweichungen (betteln, trinken etc.). Die ‚Festschreibung auf X‘ wird ergänzt durch das pejorative Element des ‚übermäßigen/unsachgemäßen Xens‘, das aus den diminutiven, intensiv-iterativen verbalen Basen mit l-Suffix und negativer Semantik stammt. Die Kombination negativ wertender Basen mit {..l}{er} war so salient, dass daraus ein neues Derivationsmuster mit verstärktem -ler abgeleitet wurde, für das die negative Bewertung in die Suffixsemantik einging. 2.1.2. Typ X-ling Auch bei -ling handelt es sich diachron um einen Fall von Suffixverstärkung, resegmentiert aus dem Diminutiv -l und dem urspr. Zugehörigkeitssuffix -ing. Diese Verstärkung muss sehr früh passiert sein, denn schon im Ahd. und Mhd. überwiegt -ling gegenüber -ing (Klein u.a. 2009). Das Suffix -ling ist im Mhd. v.a. produktiv für deadjektivische (mhd. tumbeling zu tumb ‚dumm‘) und deverbale Bildungen (ankomeling), später kommen auch hier gehäuft nominale Bildungen wie Päpstling (Luther) hinzu. Eine pejorative Funktion an neutralen Basen ist greifbar ab Ende der fnhd. Phase (vgl. z. B. Munske 1964, Müller 1953). Die beiden urspr. semantischen Komponenten des Suffixes, ‚Zugehörigkeit: eine(r) von X‘ (v.a. patronymisch in Stammesbezeichnungen) und Diminutiv, haben ein reichhaltiges dysphemistisches Potenzial, das sich für verschiedene Diskriminierungsstrategien ausnutzen ließ: ‚Zugehörigkann das Wertungspotenzial auch in die Gegenrichtung ausgebeutet und die l-Variante selten auch für die Eigenbezeichnung genutzt werden (an alle Interessenten, Tierschützler und diejenigen, die es noch werden wollen; http://www.tierheim-aachen.de/php/main. php?go=&tierschutzgruppe&t.
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keit‘ ist gut geeignet zur Diskriminierung durch Abgrenzung, vgl. z. B. die ahd. schon belegten Fremdlinge, Ankömmlinge und Neulinge. Gleichzeitig wirkt auch Diskriminierung durch Festschreibung auf der Basis der Zugehörigkeitssemantik: ein Individuum wird auf die in der Basis prädizierte Eigenschaft reduziert (eine/r von dieser Art, dieser Gruppe). Zugehörigkeit wie Diminution haben auch das Potenzial zur Diskriminierung durch Abwertung: Zugehörigkeit implikatiert Unterordnung, Unwichtigkeit: nur eine/r unter vielen zu sein, außerdem Abhängigkeit von einem Anführer. Diminution kann Unvollständigkeit, Minderwertigkeit implikatieren (vgl. Baeskow 2002: 502f.).2 Im Nhd. ist trotz dieses Potenzials die pejorative Funktion nur schwach produktiv (vgl. Motsch 2004: 367). Zwar gibt es sehr viele Fälle mit bereits negativ bewerteter Basis wie Sonderling, Fremdling, Naivling, Eindringling, Ehrgeizling, Arroganzling. Pejoration über neutralen Basen wie bei Günstling (vs. der Begünstigte) ist dagegen weitaus seltener. Eindeutig pejorisierende Funktion auf denotativer Ebene hat das Suffix in den seltenen Fällen, in denen es mit wertneutralen er-Derivaten kontrastiert Schreiber – Schreiberling, Dichter – Dichterling (vgl. engl. prince – princeling). Festhalten lässt sich zu -ling: Aus der Zugehörigkeitssemantik von -ing speist sich die Funktion der Abgrenzung und Festschreibung auf eine markante Eigenschaft/Gruppenzugehörigkeit, aus der Diminution -l- v.a. die Abwertung dieser Eigenschaft. D. h. auch hier geht mit der formalen Verstärkung die Verstärkung einer semantisch-pejorativen Komponente einher. 2.2. Pejoration von Handlungen 2.2.1. Typ X-eln […]. Zuhörer verlieren sich gelegentlich in Ratespielchen, was der Redner [G. Oettinger, A.D.] wohl gemeint haben könne mit „buldinks“ (Gebäude) oder „se biebel“ (die Leute). Er muss eigentlich gar nicht fremdspracheln, alles wird übersetzt, aber er tut es immer wieder. Warum, weiß wohl niemand so recht. (http://www.spiegel.de/ politik/ausland/0,1518,709058,00.html; 06.01.10; gefunden über Wortwarte)
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Im Sprachvergleich ist nominale wie verbale Diminution eine häufige Quelle evaluativer Derivationsmuster, meliorativ wie pejorativ, denn Wertungen aus Sprecherperspektive können in beide Richtungen ausschlagen (Schneider 1991, Jurafsky 1996, Bakema/Geeraerts 2004).
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Diachron geht -eln meist auf ahd. -il-ōn zurück, das an agentive und graduierbare verbale Basen antrat. Seine Ausgangsfunktionen waren verbale Diminution sowie damit verbunden iterative und intensive Aktionsart (lachen – lächeln, beten – betteln, zünden – zündeln). Das dysphemistische Potenzial von -eln lässt sich auf diesen Funktionen basierend in folgenden konversationellen Implikaturen beschreiben: verbale Diminution: +> etwas nicht angemessen tun (z. B. förscheln, fremdspracheln); Iteration: +> etwas wiederholt/so anhaltend tun, dass es nervt (z. B. sticheln); Intensität +> etwas so heftig tun, dass es nervt (z. B. drängeln). Begünstigend für die Entwicklung einer pejorativen Lesart kann die Oberflächengleichheit mit denominalen Bildungen zu den häufig negativ wertenden Personenbezeichnungen auf –el gewirkt haben (lümmel-n, spitzel-n). Das Suffix -eln ist heute in Nischen produktiv (schwäbeln ĺ fremdspracheln) (vgl. Motsch 2004: 63). Die Basen, an die es tritt, sind häufig emotiv-expressiv und gehören zu nähesprachlichen Registern (Weinrich 2001). Eine basisunabhängige (semantisierte) pejorative Funktion ist seltener erkennbar (forschen – förscheln, fromm sein – frömmeln), eln-Verben sind aber als Katalysator beteiligt am Fall -ler (2.1.1). Der Fall -eln repräsentiert mit Diminution eine sprachübergreifend wichtige Quelle evaluativer Derivationsmuster (s. Fußnote 2). Die Kontextbedingtheit der Evaluationsrichtung zeigt sich z. B. bei bummeln (bummel nicht so, lass uns schön bummeln). 2.2.2. Typ (he)rum-X-en Die beiden folgenden Zitate repräsentieren den vorläufigen Endpunkt und die semantische Brücke für die Entwicklung zu pejorativem (he)rum-X-en, das u.a. die Funktion hat, Verhalten aus Sprechersicht als ‚sinnlos, nicht zielführend‘ zu bewerten (vgl. z. B. Duden-Grammatik 2005: 581; Thurmair 2008: 321). Die wahrscheinlichste Quelle für diese Funktion sind Bewegungsverben mit Direktionaladverb, für die das Lessing-Zitat eine metaphorische Verwendung repräsentiert, wie sie bei der Desemantisierung des Bewegungsverbs stattgefunden haben muss. Jahrelang ziellos irgendwelches nutz- und brotloses Zeug herumstudieren […], dann irgendwann die Torschlußpanik bekommen und schnell auf „Lehramt“ umsatteln. (http://www.politikforen.net/showthread.php?t=95484&page=2; 06.10.10) Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret. (Lessing: Hamburgische Dramaturgie; DT. LIT.)
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Formal gilt gerade in nähesprachlichen Registern eine Reduktion zu rum.3 Nach Bobst (1989: 146) erscheinen die ersten schriftlichen Belege für rum in der fnhd. Phase, z. B. an der nasn rumb zogen bei Hans Sachs. Die Präfigierung von Verben mit trennbarem (he)rum hat mehrere Funktionen mit evaluativer Komponente entwickelt. Hier wird nur auf die zentrale Funktion eingegangen, Verbalhandlungen als anhaltend4 und nicht zielführend zu charakterisieren und dadurch als ergebnislos abzuwerten wie studieren vs. rumstudieren, lesen vs. rumlesen. Dabei handelt es sich m.E. um eine bereits konventionalisierte Implikatur. Die Kontexte markieren zwar meist ein Scheitern wie in Beispiel (i) unten – aber auch in Kontextisolation hält die Komponente ‚nicht zielführend‘ vor. Sie muss bewusst gestrichen werden, um nicht zu wirken; und diese Streichungskontexte verstoßen klar gegen die Erwartung (wie in Bsp. ii). (i)
Bitte helft mir, habe schon Tage lang rumprobiert. (http://www.zfforum.de/ showthread.php?t=2443; Stand: 06. 10. 10)
(ii) Lange rumprobiert, dann war die Marktlücke gefunden. (http://www.bizawards.de/wissen/tipps_und_tricks/...; Stand: 06. 10. 10)
Eine m.E. wahrscheinliche Quelle für die Funktion ‚sinnlos, nicht zielführend‘ sind diejenigen Verwendungen mit Bewegungsverb plus Direktionaladverb fnhd. herum(b), bei denen die Bewegung agenszentriert (herumlaufen), nicht objektzentriert (herumwickeln), ist und nicht gerichtet um ein Zentrum oder ein Hindernis herum verläuft (a, b – urspr. Semantik), sondern bereits (c) ungerichtet mit unbestimmter Dauer und ausgeblendetem Zielpunkt5 (vgl. auch Bergmann 2001: 208, 210, Bobst 1989: 130ff.; zu den Bewegungstypen von fnhd. UMB- Krause 2007).
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Eine Google-Stichprobe (Seiten auf Dt. und aus Dtld., 06.01.10) ergab 3170 Belege zu rumstudiert gegenüber 1230 zu herumstudiert. In Cosmas, Archiv W der geschriebenen Sprache, kam herumstudiert 26mal v.a. in Schweizer Zeitungen vor bei fehlenden Belegen für rumstudiert. Boarini (2009) sieht in (he)rum + V einen Marker durativ-iterativer Aktionsart in statu nascendi. In dieser Funktion setzt es sich ganz allmählich gegen umbher durch (vgl. Bobst 1989: 142).
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Solche Vorläuferbelege finden sich im Bonner Fnhd.-Korpus: Nachdem zoge er an manche heilige Oerther herumb/ wegen seiner Red HFlff zusuchen/ doch alles vmbsonst. (Marcus Eschenloher: Augsburgischer Arzt, Augsburg 1678; FNHD C) Endlich, nachdem sie ohne einige hülffreichung herum geirret, vnd niemand sich ihrer annehmen wollen, [..] (H. M. Moscherosch: Gesichte, Straßburg 1650; FNHD C)
Wichtig ist dabei, dass die Kontexte die Vergeblichkeit/Erfolglosigkeit der Bewegung vermitteln. Aus der objektiven Feststellung ungerichteter Bewegung und Vergeblichkeit entwickelt sich durch Semantisierung der kontextuellen Bedeutung die subjektive Sprecherbewertung als ‚sinnlos‘. Schon im Älteren Nhd. des 18. Jh. hat sich diese Funktion metaphorisch über Bewegungsverben hinaus unter Desemantisierung der konkreten Direktionalität ausgebreitet. Aus ergebnislosem andauerndem Bewegungsaufwand wird ergebnisloses andauerndes Handeln. Präferiert scheinen dabei agentive, atelische Verben, besonders früh verba dicendi, doch dies bleibt weiter zu untersuchen. DAMIS: Chinesisch? Malabarisch? Ich wüsste nicht woher. ANTON: Wie Sie herumraten. (Lessing: Der junge Gelehrte; DT. LIT.)
Zusammenfassend lässt sich als eine zentrale Quelle der pejorativen Komponente von (he)rumXen ein Zusammenspiel aus einer der direktionalen Bedeutungen von herum (ziellos, endlos, ungeregelt) kombiniert mit Bewegungsverb in Kontexten ergebnislosen Bemühens ausmachen. Der negative Kontext wurde als Konnotation des Derivationsmusters semantisiert und metaphorisch auf Nicht-Bewegungsverben übertragen. Die bereits konventionalisierte Implikatur vermittelt die Sprecherbewertung, dass ein Verhalten (zu lange) anhaltend, sinnlos, nicht zielführend ist. 2.2.3. Verbalabstrakta: Typ Ge-X-e und Typ X-erei Gelese [das], 1. Die Handlung des Lesens, im verächtlichen Verstande und gemeinen Leben (J. G. Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, 1773–1858)
Das Präfix ahd. ga-/gi- hatte urspr. die kollektivierende Bedeutung ‚zusammen‘. Daraus hat sich eine Vielfalt an Funktionen entwickelt, mhd. z. B. bei Substantiven und Verben weiterhin kollektivierend, bei Verben auch resultativ, inchoativ, perfektiv, intensiv, iterativ.6 An der kollektiven 6
Für das Mhd. ist methodisch problematisch, ob ge- bereits Teil des Basisverbs oder Teil
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Funktion, die den deverbalen Abstraktbildungen wahrscheinlich zugrunde liegt (‚die Gesamtheit des Xens‘), lässt sich zu dysphemistischen Zwecken funktionalisieren, dass sie ein ‚Zuviel an X‘ implikatieren kann. So ist die pejorative Hauptfunktion von Verbalabstrakta des Typs GeX-e die Bewertung eines Verhaltens als in zu extremem Ausmaß gezeigt. Dazu kommt, dass ‚Kollektiv‘ bei passender Aktionsart auch als ‚Iterativ‘ reanalysiert werden konnte (‚Gesamtheit von Einzelgeschehen des Typs X‘, vgl. Gehüpfe, Motsch 2004: 333). Und eine Gesamtheit von Einzelgeschehen wiederum ist als ‚Intensiv‘ interpretierbar. Das wahrscheinliche semantische Sprungbrett waren die kollektive und intensiv-iterative Funktion des Präfixes ge- im Zusammenspiel mit Basen, die wiederum negativ bewertbar waren. Solche Basen scheinen einigen typischen Spenderbereichen zu entstammen: laute, andauernde Geräusche (Getöse), Verben der menschlichen Lautäußerung, speziell des Sprechens (Geschwätze, Gerufe), viele Bewegungsverben (Gerenne). D. h. zunächst hatten wir es mit sehr konkreten, körperlich-räumlich empfundenen „Störungen/Beeinträchtigungen“ zu tun, die stark situativ verankert waren. Ge-X-e verstärkte kollektivierend und intensivierend zunächst die Basissemantik und war damit das Spielbein der negativen Wertung, die allmählich von den Basen auf das Zirkumfix überging und es zum Standbein der Pejorisierung machte. Ab diesem Stadium konnte das Muster auch genutzt werden, um Kritik an abstrakten, nur geistig empfundenen „Störungen“ in Kombinationen mit neutraler Basissemantik auszudrücken wie oben in Gelese. Ab wann sich diese eigenständige pejorative Funktion herausgebildet hat, ist nicht gesichert. Nach Brendel u.a. (1997: 183, 185) findet sie sich noch nicht im Fnhd., aber es erscheinen bereits pragmatisch gesteuerte Fälle mit dem heutigen Effekt: Ist der Kontext positiv wertend (vgl. wunder in (i)), erscheint ruof ‚Ruf, Rufen‘; ist er negativ wertend (vgl. abgoetter), erscheint geruffe (ii). (i)
Kontext positiv wertend: Do von so wart ein so gros ruof durch die stat das zuo der kirchen alle die stat gesammet wart vnd schowete dis wunder
(ii) Kontext negativ wertend Do dis sohent die bischoefe der abgoetter, do mahten su ein gros geruffe in dem folke (beide Belege: Elsäss. Legenda Aurea um 1362, zit. n. Brendel u.a. 1997: 184)
der Substantivierung ist (vgl. z. B. Brendel u.a. 1997: 41f.). Mit der Konzentration von ge- auf Partizipien II im Zuge der Perfektgrammatikalisierung im Fnhd. verschwindet dieses Problem.
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Im 18. Jh. ist die pejorative Funktion bereits voll entfaltet, s. oben Krünitz’ Definition von Gelese und das folgende Beispiel; d. h. die kritische Phase der Pejorisierung muss in den Jahrhunderten dazwischen liegen. [..] ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen [..] (Lessing: Hamburgische Dramaturgie; DT. LIT.)
Kommen wir nun zur X-erei: Die folgenden drei Belege seit fnhd. Zeit zeigen eine ganz ähnliche pejorative Funktion wie Ge-X-e, nämlich sich als Sprecher von Verhalten und Einstellungen, die durch die Basis bezeichnet werden, kritisch zu distanzieren. ZVm Dritten/So dienet vns diese Prophecey darzu/das wir aus diesem Text des Propheten Esaiæ/alle Teuffeley/ M=ncherey/Papisterey/vnd andere jrrige Lehre vnd Schwermerey/[…] verklagen vnd widerlegen k=nnen. (Johannes Mathesius: „Passionale, Leipzig 1587“; FNHD C) Das Fräulein: Wissen Sie was, Herr Wirt? […] Ich dächte, Sie ließen die ganze Schreiberei bis auf die Ankunft meines Oheims. (Lessing: Minna von Barnhelm; DT. LIT.) [..] die sich an einer Erklärungsweise halten, und alle andern ausschließen, die ein Einiges, daher Ewiges und Göttliches in den Meteoren annehmen, verfallen in eitle Erklärerei und den sklavischen Kunststücken der Astrologen; (Marx-Engels Gesamtausgabe 1841; COSMAS)
Das Suffix mhd. -(er)ie, nhd. -(er)ei ist entlehnt aus dem Frz. (und Mlat.). Mit -er- angereichert wurde es unter dem Einfluss romanischer und heimischer Basen auf {...-er}+{-ie}. Es wurde schnell hochproduktiv für Nomina actionis, also Abstraktbildungen zu Verbalhandlungen (vgl. Öhmann 1973). Als semantisches Sprungbrett der Pejoration (parallel zu Ge-X-e) ist die kollektivierende Funktion (Gesamtheit des X-ens) zu sehen. Auch hier gab es (schon in den Gebersprachen) zahlreiche Bildungen mit negativer Semantik, aus denen früh (noch Mhd.?) das pejorative Derivationsmuster abgeleitet wurde, das sich heute fast uneingeschränkt mit neutralen Basisverben (und -substantiven) verbindet (parallel geschah dies auch im Frz. und Ndl.). Beide Wortbildungsmuster, Ge-X-e und X-(er)ei, haben als Funktion, das Handeln von Personen als negativ zu bewerten, doch ergibt sich dabei eine Arbeitsteilung (vgl. Harden 2003): Ge-X-e scheint leicht für das Verhalten anderer präferiert zu werden (dein Gerenne), X-(er)ei gleichermaßen auch das eigene Verhalten bewerten zu können (jeden Tag die Rennerei). Während Ge-X-e keine Verben mit untrennbaren Präfixen als Basis haben kann (*Geverstecke), hat X-erei keine strukturelle Basisbeschränkung (Versteckerei). Beide Muster werden gerne mit (he)rum kombiniert, so dass
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Antje Dammel
mehrfach markierte Pejoration vorliegt (Rumgerenne, Rumrennerei) (vgl. Harden 2003, Kurth 1953). Das pejorative Element speist sich in beiden Fällen aus der Kollektivsemantik der Verbalabstrakta und ist im Nhd. sehr stark. Will man Verbalhandlungen neutral abstrahieren, muss man Konversion des Infinitivs nutzen (das Rennen, Lesen, Verstecken).
3. Diskussion An allen Fallbeispielen war zu beobachten, dass die Pejorisierung von Derivationsaffixen von der gehäuften Kombination mit pejorativen Basen ausging. Dies lässt sich mit Motsch (1996: 167) als Grundmuster verallgemeinern: Wortbildungsmuster, insbesondere die in ihnen enthaltenen semantischen Muster, sind Generalisierungen der Eigenschaften von konkreten Wörtern eines bestimmten Typs. [...] Man kann ferner davon ausgehen, dass Neubildungen nicht allein auf der Grundlage von Mustern zustandekommen, sondern stets auch charakteristische komplexe Wörter voraussetzen [...]
Darüber hinaus war besonders an (he)rum-X-en zu beobachten, dass neben negativ wertender Basissemantik auch der negativ wertende Kontext Pejorisierung eines Wortbildungsmusters bedingen kann. Abb. 1 verdeutlicht diese beiden Wege in einem dreistufigen Modell.
Abb. 1: Pejorisierung von Derivationsmustern – ein dreistufiges Modell
Auf Stufe 1 ist das Affix wertneutral, es modifiziert seine Basis und macht damit eine Aussage über die Welt (charakterisiert z. B. eine Person oder Handlung). Seine spezifische Affix-Semantik begünstigt aber Bildungen mit negativ bewertbaren Basen und führt zur häufigen Nutzung in negativ wertenden Kontexten. Auf dieser Stufe sind die in Abschnitt 2 vorgestell-
Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen im Deutschen
339
ten Quellderivationsmuster zu verorten: -(l)er ‚Nomina agentis‘, -l- ‚Diminution‘, -(l)ing ‚Zugehörigkeit‘, -eln ‚Intensivierung, Iterativierung‘, Ge-Xe und X-erei ‚Kollektivierung‘, und rum-X-en ‚andauernde, ungerichtete Bewegung‘. Neutrale Affixe werden also in dysphemistischen Kontexten genutzt. Die Kombination mit negativ bewerteten Basen und mit negativ wertenden Kontexten sind notwendige Vorbedingungen für Stufe 2. Stufe 2 umfasst die semantische Reanalyse des Wortbildungsmusters als pejorativ. Aus der frequenten und kognitiv salienten Kookurrenz mit negativen Basen bzw. Kontexten wird ein neues semantisches Derivationsmuster abgeleitet. Die negativ-wertende Komponente geht in die Affixsemantik ein, die damit subjektiviert wird: eine Aussage über die Welt wird zu deren Bewertung durch den Sprecher, z. B. Ge-X-e ‚Gesamtheit des Xens‘ > ‚aus Sprechersicht ein Zuviel des Xens‘. Parallel zu dieser semantischen Anreicherung kann auch formal/strukturell ein Teil der Basis auf das Suffix übergehen (Resegmentierung) wie bei -ling, -ler und -erei geschehen. In Stufe 3 ist die Pejoration fester Bestandteil der Affixbedeutung, bleibt kontextunabhängig bestehen und konstituiert ein produktives Wortbildungsmuster, das zur Pejorisierung neutraler Basen eingesetzt werden kann. Das Affix macht jetzt nicht mehr in erster Linie eine Aussage über die Beschaffenheit der Welt, sondern über die Einstellung des Sprechers zur Welt (Prädikation: Charakterisierung > Kommentierung: Wertung). Dies ist ein klarer Fall der generellen Tendenz zur Subjektivierung, bei dem zwei der von Traugott (z. B. 1988: 409–411) aufgestellten semantischpragmatischen Prinzipien greifen: Semantic-pragmatic Tendency I: Meanings based in the external described situations > meanings based in the internal (evaluative/perceptual/cognitive) situation [...] Semantic-pragmatic Tendency III: Meanings tend to become increasingly situated in the speaker‘s subjective belief-state/ attitude toward the situation.
Abb. 2 bietet einen abschließenden Überblick auf die hier skizzierten Entwicklungspfade pejorativer Derivative:
Antje Dammel
340 Prädikation von Eigenschaften, Gruppenzugehörigkeit und Verhalten von Personen
Subjektivierung
Kommentierung : Markierung d. eigenen negativen Einstellung zu Eigenschaften, Gruppenzugehörigkeit u.Verhalten v. Personen
Diminution Subst. - l-, -chen : ‚kleines/unfertiges Exemplar v. X‘ Verben - eln : ‚mit verminderter Intensität Xen‘
Diminution ‚unzureichendes Exemplar von X‘ Professörchen ‚unsachgemäß Xen‘ förscheln, fremdspracheln
Nomina agentis -ler ‚sich regelmäßig mit X beschäftigen‘ Patronyme -ling ‚zu der Gruppe/Art gehören‘
Nomina agentis, Patronyme Festschreibung von Personen auf X und Abwertung des so erzeugten Typus Provinzler, Schreiberling
Direktionaladverb > Verbzusatz (he)rum -X- en ‚sich andauernd ungerichtet bewegen‘
Verbzusatz ‚anhaltend sinn- und ziellos handeln‘ rumstudieren
Nomina actionis (Verbalkollektiva) Ge -X- e, X-erei ‚Gesamtheit der Handlungen einer Person/Gruppe‘ ‚wiederholtes, intensives Handeln‘
Nomina actionis (Verbalkollektiva) ‚Überdruss an X‘ (fremdem/eigenem Handeln) Gerenne, Rennerei
Abb. 2: Pfade zu pejorativer Derivation
4. Fazit In diesem Beitrag wurden verschiedene Pfade zu pejorativen Derivationsmustern skizziert. Als typische Quellen wurden Wortbildungsmuster wie Diminutiva und Verbalabstrakta identifiziert. Es wurden Pejorisierung bedingende Brückenkontexte und konversationelle Implikaturen vorgeschlagen, aber noch nicht empirisch verifiziert. Die Fälle wurden in einem dreistufigen Modell der pejorisierenden Reanalyse mit Bezug auf das Konzept der Subjektivierung auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Darüber hinaus gibt es noch viel zu tun: Die vorgeschlagenen Pfade sind über Stichproben hinaus korpusbasiert zu überprüfen, Entwicklungsschritte zu rekonstruieren und Beginn und Hochphasen der Produktivität zu identifizieren (als erster Eindruck scheinen für mehrere Fälle im Fnhd. und bis zum 18. Jh die entscheidenden Weichen gestellt zu werden). Gerade (he)rum-X-en ist ein sehr interessanter und komplexer Fall, der eine Einzelstudie lohnt. Darüber hinaus hat die Typologie in Abb. 2 keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Man könnte weitere, jüngere und recht spezifische Fälle einbeziehen: im Bereich der Personenbezeichnungen etwa das Lehnsuffix -ist, vgl. okkasionelle Bildungen wie Schäublinist (Wortwarte) auf der Basis von Stalinist, Feminist etc., das zur negativ wertenden Typisierung genutzt werden kann. Im Bereich der Verhaltensbezeichnungen ist -itis ein produktiver Kandidat, mit dem man Verhalten ironisch-distanzierend als eine um sich greifende Krankheit (ein Übermaß an normabweichendem
Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen im Deutschen
341
Verhalten) hinstellen kann (vgl. dazu detailliert Feine 2003), z. B. Aufschieberitis, Umfrageritis und Gutachteritis.7 Man sieht, die Diachronie evaluativer Morphologie ist ein interessanter pragmatisch-semantischer Grenzfall, der bisher nur angeförschelt ist und nicht der Aufschieberitis anheimfallen sollte.
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7
Pejorisierende Derivationsmuster scheinen auch häufig eine strenge Registerzuordnung aufzuweisen. So sind rumXen und Xeln nähesprachlich, -itis und -ling treten typischerweise in der Pressesprache auf. Auch ein Vergleich von Regiolekten und nationalen Varietäten wäre interessant.
342
Antje Dammel
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Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen im Deutschen
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Damaris Nübling (Mainz)
Von der ‚Jungfrau‘ zur ‚Magd‘, vom ‚Mädchen‘ zur ‚Prostituierten‘: Die Pejorisierung der Frauenbezeichnungen als Zerrspiegel der Kultur und als Effekt männlicher Galanterie?1 1. Einleitung Im Mhd. gab es zwei analog gebildete Komposita, junc-herre ‚junger Herr, Edelknabe‘ und junc-vrouwe ‚junge Herrin, Edelfräulein‘. Beide Personenbezeichnungen bezogen sich auf die gleiche (hohe) Gesellschaftsschicht. Im weiteren Verlauf haben sich die beiden Bedeutungen diametral auseinanderentwickelt: Junker bezeichnet heute den Vertreter eines Adelsstands, einen Edelmann, während Jungfer sich auf die sexuelle Unberührtheit einer Frau bezieht und abwertend gebraucht wird als „ältere, prüde, zimperliche, unverheirat gebliebene Frau: sie ist eine richtige [alte] J.“ (DudenUniversalwörterbuch 2001). Fast immer führt Jungfer als feste Kollokation das Adjektiv alt mit sich, was eine doppelte (negative) Biologisierung der Frau impliziert: Zum einen hat sie in ihrer biologischen Funktion als Geschlechtspartnerin versagt, zum anderen hat sie durch ihr Alter ihre Attraktivität eingebüßt; sie wird als Frau also nicht mehr begehrt, sie ist entwertet. In beiden Fällen wird die Frau aus männlicher Sicht evaluiert. Männerbezeichnungen wurden dagegen nie biologisiert, da Männer, wie dies Kochskämper (1993) anhand einer Untersuchung der Benennungsmotive von Männerbezeichnungen überzeugend darlegt, grundsätzlich nur in Bezug zur Welt, zur Gesellschaft oder zu Göttern konzipiert werden. Den Referenzpunkt von Frauen bilden dagegen Mann, Kinder und Familie. Die asymmetrische semantische Entwicklung der zwei eingangs genannten mhd. Komposita bestätigt exakt diese Kategorien.
1
Für ergiebige Diskussionen über dieses Thema danke ich Antje Dammel und Isabelle Stauffer.
Von der ‚Jungfrau‘ zur ‚Magd‘, vom ‚Mädchen‘ zur ‚Prostituierten‘
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In diesem Beitrag soll der semantische Wandel einiger Frauenbezeichnungen analysiert, v.a. zunächst differenziert und anschließend erklärt werden. In fast jeder sprachgeschichtlichen Einführung dient der semantische Wandel der Frauenbezeichnungen als das Paradebeispiel für den semantischen Pfad der Abwertung, der Pejorisierung. Nach Begründungen wird jedoch erstaunlich selten gefragt. Indessen hat es sich seit den 1990er Jahren schnell durchgesetzt, hierfür die eingängige, auf den ersten Blick etwas paradox erscheinende Erklärung von Rudi Keller anzuführen, wonach die semantische Abwertung der Frau in Wirklichkeit auf ihre zu häufige Aufwertung, ihre Verehrung und Erhöhung zurückzuführen sei und damit ein sog. „Invisible-hand-Phänomen“ bilde. Exemplarisch sei aus der „Einführung in die deutsche Sprachgeschichte“ von Schmid (2009: 275) zitiert: Da Männer (normalerweise) Frauen gegenüber höflich sind und das gewiss auch schon im Mittelalter waren, griffen sie in der direkten Anrede oder auch dann, wenn sie über eine Frau in deren Abwesenheit sprachen, in ihrer Wortwahl ‚eine Etage höher‘ und verwendeten statt des gewöhnlichen Wortes wīp das höherwertige vrouwe. Insofern war dieses Wort intentional geleitet. Je häufiger sie aber getroffen wurde, umso gewöhnlicher und konventioneller wurde sie. Schon im Laufe des 13. Jh.s war der Höflichkeitseffekt aufgebraucht, und vrouwe/frau war zur normalen Bezeichnung geworden. Zwangsläufig wurde das alte Wort dadurch ‚nach unten abgedrängt‘.
Überraschenderweise hat eine Auseinandersetzung mit dieser unhinterfragt, ja fast dankbar angenommenen Erklärung kaum stattgefunden. Immerhin präsupponiert diese einiges, etwa dass Frauen sich Männern gegenüber nicht höflich verhielten, bei der Wortwahl also nicht „eine Etage höher“ griffen, des Weiteren, dass sich nur das männliche Sprechen über Frauen durchgesetzt haben muss: Haben Frauen nicht gesprochen? Oder hat sich ihr Sprachgebrauch nicht durchgesetzt? Wenn ja, warum? Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit der Kellerschen Erklärung auseinander und argumentiert dafür, dass es sich bei diesem semantischen Wandel um einen Spiegel und nicht, wie Keller (1995) behauptet, um einen „Zerrspiegel des Kulturwandels“ handelt.2
2
Wegen des hier sehr begrenzten Seitenumfangs wird eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesem Thema andernorts und in Zusammenarbeit mit der Galanterieforscherin Isabelle Stauffer stattfinden. Auch kann hier nicht auf die Diskussion, um welche Art semantischen Wandels es sich bei der Pejorisierung genau handelt, eingegangen werden; hierfür sei auf Blank (1993) und Harm (1999) verwiesen.
Damaris Nübling
346
2. Zur Klassifizierung der Pejorisierungspfade Bevor man ein Phänomen erklären kann, sollte man es zunächst einmal erkannt, also beschrieben haben. Bei den Pejorisierungen, die v.a. im Frühnhd. stattgefunden haben, sind nämlich mindestens drei Qualitäten zu unterscheiden: 1. Soziale Degradierung/Deklassierung, 2. Funktionalisierung und 3. Biologisierung/Sexualisierung. Aus Platzgründen werden diese Pfade schematisch dargestellt. 2.1. Soziale Degradierung/Deklassierung: Weib, Frau, Fräulein Den besten Überblick über die verschiedenen Pejorisierungen liefert König (152005: 112). Hierauf sowie auf den Bedeutungsangaben der jeweiligen historischen Wörterbücher (Schützeichel 1981, Lexer 2009) basieren die folgenden Schemata. Zunächst zu Weib: Hier hat eine Degradierung von der Allgemeinbezeichnung für die Frau hin zu einem Schimpfwort stattgefunden. ahd. wīb
mhd. wîp
nhd. Weib
‚(Ehe-)Frau‘
‚(Ehe-)Frau‘
‚schlampige, liederliche Frau‘ (Schimpfwort)
Das nächste Beispiel Frau bezeichnete ursprünglich eine sozial hochstehende Frau und ist heute zur unmarkierten Allgemeinbezeichnung degradiert. Als Ersatz für die hochstehende Frau wurde Dame aus dem Französischen entlehnt. ahd. frouwa
mhd. vrouwe
nhd. Frau
‚Herrin, adlige Frau‘
‚verheiratete, sozial hochstehende Frau‘
‚Ehefrau‘; ‚Frau‘ (nach Wegfall von Fräulein ab ca. 1 975)
Ähnliches hat sich bei Fräulein ereignet, wo jedoch zu der sozialen Abwertung noch eine Sexualisierung im Mhd. (> ‚Hure‘) sowie eine Funktionalisierung im Nhd. (> ‚Bedienung‘) hinzukommt, d. h. bei ein und demselben Wort kann es diachron zu verschiedenen Qualitäten der Pejorisierung kommen. ahd. frouwelīn
mhd. vröu(we)lîn
‚junge Herrin, Gebieterin , Dame, Frau von Stand ‘
‚Mädchen niederen Standes‘ (soziale Abwertung) ‚feile Dirne, Hure‘ (Sexualisierung)
nhd. Fräulein > Ø (durch feminist. Sprachkritik) >
‚unverheiratete Frau‘ auch ‚Kellnerin/Bedienung‘ (Funktionalisierung)
Von der ‚Jungfrau‘ zur ‚Magd‘, vom ‚Mädchen‘ zur ‚Prostituierten‘
347
Interessanterweise haben sich nur bei den referierenden Personenbezeichnungen semantisch asymmetrische Entwicklungen zwischen Mann und Frau ergeben, was Abb. 1 mit den Pfeilen schematisiert. Mhd. >
>
Nhd.
sozial hochstehend
vrouwe
–
herr(e)
Dame – Herr
sozial neutral
wîp
–
man
Frau
– Mann
Weib
– (blöder) Kerl
sozial niedrig/pejorativ
Abb. 1: Semantisch asymmetrische Entwicklungen bei referierenden Ausdrücken
Wie jedoch Abb. 2 zeigt, verhält es sich in der Adressatenfunktion, also genau da, wo Höflichkeit maximal zum Ausdruck kommt, ganz anders: Hier heißt es bis heute Frau Maier / Herr Maier. Zwar hat eine soziale Entdifferenzierung stattgefunden, die durchaus mit dem inflationären Gebrauch dieser Anreden für einst sozial hochstehende Personen erklärt werden kann, doch hat sich dies bei Frau und Herr gleichermaßen eingestellt. Bei solchen Inflationierungen finden semantische Generalisierungen statt, indem Seme gelöscht werden, in diesem Fall die Angabe des Sozialstatus. Mhd. sozial hochstehend sozial neutral
vrouwe
–
> herr(e)
>
Nhd.
– Herr Frau + Familienname
Abb. 2: Formale und semantische Symmetrien bei adressierenden Ausdrücken
Auch bei Wortbildungen, die die Hundehalter, die Tiergeschlechter bzw. die Adjektive bezeichnen – bei denen also das soziale Geschlecht nicht realisiert wird bzw. in den Hintergrund rückt –, ist die alte Symmetrie gewahrt geblieben. Dies zeigt Abb. 3, wo die dicke Linie Simplizia (links) von Wortbildungen (rechts) trennt und zeigt, dass letztere sich semantisch unabhängig von ersteren entwickelt haben. Auch gilt der Sozialstatus des Mhd. nicht mehr für die nhd. Derivata. Natürlich gibt es bei den Adjektiven neben weiblich auch fraulich, doch bestätigt sich auch hier die Kontinuität zum Mhd.: weiblich bedeutet gemäß Duden-Bedeutungswörterbuch (2002) „dem gebärenden Geschlecht angehörend / Ggs. männlich/: eine weibliche Person, die weiblichen Mitglieder/Tiere; das weibliche Geschlecht (die Frauen)“, d. h. hier überwiegen die Kategorien Biologie und Geschlecht, während es unter fraulich heißt: „der Art einer [reifen] Frau entsprechend: ein sehr fraulicher Typ; sie kleidete sich betont fraulich, durch ihr elegantes Äußeres wirkte sie sehr fraulich“. Hier zeugen
Damaris Nübling
348
Reife und Eleganz noch von dem gehobenen Sozialstatus im Mhd., wobei sich der Aspekt der Reife aus dem Kontrast zu Fräulein ergibt, das heute weitgehend obsolet ist. Mhd. sozial hochstehend
vrouwe
sozial neutral
wîp
–
herr(e) man
Frauchen
–
Nhd. Herrchen
Weibchen – weiblich –
Männchen männlich
Abb. 3: Semantisch symmetrische Entwicklungen bei Derivata
2.2. Funktionalisierung (niederer Dienstleistungsbereich): Magd, Mamsell, mhd. dierne Nicht mehr mit bloßer Inflationierung sind die folgenden beiden Pfade zu erklären: Hier entstehen neue, semantisch nicht reduzierte, vielmehr angereicherte Bedeutungen, die nur aus männlicher Perspektive Sinn ergeben, insbesondere bei der Sexualisierung. Sowohl bei Magd wie auch bei Mamsell < frz. mademoiselle kommt es zu klaren Funktionalisierungen, bei letzterer auch zu einer Sexualisierung. ahd. magad
mhd. maget
nhd. Magd
‚junge, unverh . Frau‘ (Jungfrau Maria )
‚junge, unverh. Frau‘ (Jungfrau Maria)
‚Haus-/Hofangestellte für grobe, einfache Arbeiten‘
fnhd. Mademoiselle
nhd. Mamsell
‚hochstehende junge Frau‘
1. ‚einfache Küchenangestellte‘ 2. 'Prostituierte' (Sexualisierung)
frz. mademoiselle
→
‚hohe, ehrwürdige, junge, unverh. Frau ‘
2.3. Biologisierung/Sexualisierung: Dirne Standardbeispiel für die Sexualisierung der (jungen) Frau ist die Dirne. Auch hier kam es zunächst zu einer Funktionalisierung, im Standarddeutschen (nicht so in Dialekten) schließlich zu einer Sexualisierung. Anscheinend setzt die Sexualisierung die Frau als Verrichterin einfacher Arbeiten, als Dienerin voraus, die ihrem „Herrn“ zu gehorchen hat. Diesen Pfad von ‚Dienstleistung im Haushalt > sexueller Dienstleistung‘ thematisiert auch Schulz (1975: 66/67), indem sie hier von „secondary duties in some households“ spricht.
Von der ‚Jungfrau‘ zur ‚Magd‘, vom ‚Mädchen‘ zur ‚Prostituierten‘ ahd. diorna
mhd. dierne
nhd. Dirne
‚junges Mädchen‘
‚junge Dienerin, Magd‘ (Funktionalisierung)
‚Prostituierte‘ (ab 16. Jh.) (Sexualisierung)
349
Zur Biologisierung könnte man auch fassen, dass die Bezeichnung für ‚Tierweibchen‘ und ‚Frau‘ manchmal die gleiche ist (was beim Mann m.W. nicht der Fall ist): So hat mhd. vröu(we)lîn gemäß Lexer (2009) auch ‚Tierweibchen‘ bedeutet. Im Südwalser Dialekt von Issime bezeichnet fümmele weibliche Menschen und Tiere (König 152005: 144/145).
3. Erklärung: Spiegel statt Zerrspiegel gesellschaftlicher Realitäten Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass diese Pejorisierungen direkt den historisch geringen Status der Frau, ihre niedrige gesellschaftliche Stellung und Wertschätzung reflektieren und damit ein Spiegel der Kultur sind. Dagegen vertritt Keller (1990, 1995) die Position, dieser Sprachwandel sei nur Zerrspiegel des Kulturwandels. Sprachwandel, so seine Grundüberzeugung, sei ein Phänomen der dritten Art, d. h. der Wandel selbst sei nicht intendiert, gehe aber auf (anderweitig motivierte) intentionale Handlungen zurück. So wie diejenigen, die sich Coiffeur statt Friseur nennen, sich sprachlich nur „veredeln“ wollen, etwa um mehr Kunden zu bekommen oder höhere Preise verlangen zu können, nicht die daraus resultierende Abwertung von Friseur intendieren, aber sie – indem sie und viele andere mehr sich Coiffeur nennen – ungewollt und unbewusst bewirken, so sei auch die Abwertung der Frauenbezeichnungen ungewollte Folge der (eigentlich intendierten) sprachlichen Aufwertung der Frau: In unserer Sprache unterliegen Ausdrücke, die dazu dienen, auf Frauen zu referieren, immer wieder der Pejorisierung. Dieses Schicksal hat das Wort ‚Weib‘ ereilt, das Wort ‚Frauenzimmer‘, und auch an dem Wort ‚Frau‘ scheint es nicht vorbeizugehen. Wie kommt das? Vertreter linearen Denkens könnten latente Frauenfeindlichkeit unserer Gesellschaft hinter diesem Trend wittern, der die einzelnen Sprecher dazu führt, solch ein Wort mit der Zeit immer ‚ein bisschen pejorativer‘ zu verwenden. Aber wie macht man das, ein Wort ‚ein bisschen pejorativer‘ zu verwenden? Alma Graham [1975: 61] postuliert ‚the tendency in the language that I called ‚praise him/blame her‘. Die Pejorisierung der Ausdrücke ‚Weib‘, ‚Frau‘ u.a. wurde jedoch nicht durch die Maxime ‚blame her‘, sondern eher durch die Maxime ‚praise her‘ hervorgebracht. Es handelt sich abermals um ein Mandevillesches Paradox, bei dem jeder stets das Gute will und die Pejorisierung schafft.
350
Damaris Nübling
In einer Gesellschaft, die, wie die unsere, in höfischer Tradition steht, gibt es ein Galanteriegebot Frauen gegenüber. Männer helfen Frauen in den Mantel, bieten ihnen einen Stuhl an, geben ihnen Feuer und dergleichen. Teil dieses Galanterieverhaltens ist es, dass die Tendenz besteht, Frauen gegenüber oder beim Reden über Frauen Ausdrücke zu wählen, die eher einer höheren Stil- oder Sozialebene angehören als einer niedrigeren. Die Maxime heißt also nicht ‚blame her‘, sondern salopp gesagt ‚greife im Zweifel bei deiner Wortwahl lieber eine Etage zu hoch als zu niedrig‘. Das führt mit der Zeit dazu, dass immer tendenziell das ‚nächsthöhere‘ Wort zum unmarkierten Normalausdruck wird, während das ehedem normale pejorisiert wird. So ist heute in Restaurants die Toilettenaufschrift ‚Damen‘ die normale, während ‚Frauen‘ eher dem Stil öffentlicher Bedürfnisanstalten entspricht. Die Formulierung ‚Wie geht es Ihrer Frau?‘ gilt in manchen Situationen als unziemlich; man sollte ‚Frau Gemahlin‘ oder ‚Gattin‘ sagen. […] Fazit: das Motiv der Galanterie auf der Ebene der Individuen führt auf der Ebene der Sprache langfristig wie von unsichtbarer Hand geleitet zur Pejorisierung. Es handelt sich dabei um eine Form der Inflation (Keller 1990: 103/104).
Somit sei der semantische Wandel vielmehr Zerr- als Abbild des kulturellen Wandels. Ähnliche Ansätze referiert übrigens auch von Polenz (2000), der sich auf das sog. integrierte Pragmatik-Semantik-Modell“ von Burkhardt (1991) bezieht und davon ausgeht, dass durch die Sprechhandlung SCHMEICHELN gegenüber Frauen eine soziale Aufwertung betrieben worden sei. Die pragmatische Regelveränderung laute: „Verwende das Wort Frau auch dann, wenn du einer Person oder Gruppe minderen Standes das soziale Prestige erhöhen willst!“. Über neue Gebrauchsregeln werde so der lexikalisch-semantische Kern eines Wortes verändert. Dabei ergeben sich m.E. folgende Fragen und Probleme: Keller unterstellt einen unilateralen Galanteriebegriff, d. h. er impliziert, nur Männer werteten Frauen auf und nicht umgekehrt. Dies ist historisch jedoch nicht haltbar: Auch Frauen mussten (und müssen) Männern gegenüber „lieber eine Etage zu hoch als zu niedrig“ greifen: Nicht nur werden Frauen in der Öffentlichkeit als Damen tituliert, sondern ebenso Männer als Herren – ohne dass jedoch damit eine Pejorisierung entsprechender Männerbezeichnungen einhergegangen wäre. In Kreisen, in denen man sich nach der Frau Gemahlin erkundigt, erkundigt man sich gleichermaßen nach dem Herrn Gemahl. Unterstellt wird hier jedoch ein einseitiges Galanterie- oder Höflichkeitsmodell. Außerdem ist bekannt, dass auch in galanterielosen Kulturen Frauenbezeichnungen pejorisieren. Selbst wenn man Kellers ahistorisch-asymmetrischem Galanteriekonzept folgte, so stellt sich die Frage, ob dieses in der breiten Bevölkerung überhaupt so wirkmächtig war, wie man dies voraussetzen müsste. Überschätzt man damit nicht den Einfluss einer dünnen, privilegierten Schicht auf die gesamte Sprache und ihren Wandel? Der weitaus größte Teil der Bevölkerung praktizierte keine Galanterie. Und schließlich: Wie erklärt sich die Qualität der meisten
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Pejorisierungen? Nach Keller dürften nur Inflationierungen (also Bedeutungserweiterungen) zu erwarten sein (wie dies bei Frau, aber auch bei Herr eingetreten ist), doch diese gelten nicht für die anderen Bezeichnungen wie Dirne, Mamsell oder Magd. M.E ist daher folgende Zweiteilung vorzunehmen: Mit K ELLER erklärbar : Soziale Degradierung als Folge von Inflationierung (Bedeutungserweiterung durch Semverlust) Frau : ‚adlige Frau‘ > ‚Frau‘ Frau in der Anrede vor Namen Herr in der Anrede vor Namen
Mit K ELLER nicht erklärbar: Funktionalisierung und Biologisierung/ Sexualisierung als echte Pejorisierung (Bedeutungsveränderung durch Semzuwachs) Magd: ‚junge Frau‘ > ‚Magd‘ Weib: ‚Frau‘ > ‚niedrige, primitive Frau‘, Schimpfwort Dirne: ‚Mädchen‘ > ‚Prostituierte‘ Mamsell: ‚hochstehende junge Frau‘ > ‚Küchenhilfe, Prostituierte‘ Frauenzimmer: ‚Gefolge der Fürstin‘ > ‚liederliche Frau‘
Mit Kellers Konzept erklärbar sind nur die linken Fälle inflationären Wandels – und hierunter befindet sich auch Herr (ebenso wie Frau) in der Anrede vor Namen: Genau da, wo Höflichkeit am stärksten zutage tritt, nämlich in der Anrede, setzt die Inflation von Respektbekundungen ein, nur dass dies (erwartbarerweise) ein beidseitiger, geschlechtsindifferenter Prozess ist. Dagegen sind die semantischen Wandelresultate im rechten Kasten nicht durch schlichte Abnutzungen zu erklären, sie gehen weit darüber hinaus: Abnutzungen führen zur semantischen Ausbleichung, zum Verlust von Semen – und nicht zum Zugewinn, wie dies hier der Fall ist. Wandelprozesse wie die rechten lassen sich nur durch „lineares Denken“ erklären, sie sind direktes Abbild gesellschaftlicher Praktiken und Wertungen. Zahlreiche semantische Wandelphänomene lassen sich nur mit Rekurs auf außersprachliche Gegebenheiten verstehen wie z. B. Entwicklung und Wandel der Anredepronomen, die die Ständegesellschaft widerspiegeln (Besch 1998, Simon 2003). Unsere Du-Expansion konnte nur im Zuge der gesellschaftlichen Demokratisierung greifen. Oder: Die historisch-juristisch immer stärker abnehmende Relevanz der Großfamilie korreliert mit der Aufgabe der Unterscheidung zwischen väterlicher vs. mütterlicher Linie und der Löschung entsprechender Seme bei den Verwandtschaftsbezeichnungen (Muhme, Oheim, Vetter, Base auf der Elterngeschwisterebene; s. hierzu Nübling et al. 22008: 130–133). Weiteres Beispiel: Die Bedeutungserweiterung von Partner konnte nur im Zuge zunehmender nichtehelicher Lebensgemeinschaften greifen. Solche Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
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Des Weiteren entspricht die Qualität des semantischen Wandels der Frauenbezeichnungen exakt den jahrhundertalten gesellschaftlichen Stereotypen über Frauen, wie sie in patriarchalischen Gesellschaften gedeihen. Teilweise bestehen sie bis heute fort, und besonders gut konserviert sind sie in vielen Sprichwörtern und Phraseologismen. Schaut man genauer hin, so sind es genau die Bezeichnungen von sexuell für den Mann verfügbaren jungen Frauen, die die stärksten Pejorisierungen erfahren. Nur für Männer sind die am Ende des Wandels sich herauskristallisierenden Informationen der sexuellen Zugänglichkeit (vgl. Dame, Weib, Dirne oder ‚+/- verheiratet‘ bei Frau/Fräulein) sowie des Alters von Relevanz. Ehefrauen blieben von der Pejorisierung verschont. Angesichts dieser Situation sollte man besser dem Grundsatz folgen, dass eine Erklärung umso besser und plausibler ist, je einfacher sie ist. Es sind die zahlreichen negativen Kontexte, in denen die Frauenbezeichnungen verwendet werden, die sich langfristig in ihrer Bedeutung festgesetzt haben. Schließlich muss berücksichtigt werden, dass auch manche Berufsbezeichnungen sich semantisch asymmetrisch entwickelt haben, s. Sekretär vs. Sekretärin, Gouverneur vs. Gouvernante. Dieses Faktum auf einseitige Galanteriespiele zurückführen zu wollen, entbehrt jeglicher Grundlage. Vielmehr spiegeln sich hier abermals die oben genannten Kategorien und weiblichen Referenzpunkte sowie der berufliche Spielraum wider, den man Frauen früher zugestand: Die Sekretärin, die einfache Zuarbeiten für ihren Chef verrichtet (diese sind einfacher als das, was ein Sekretär leistet, der eher einer Gesellschaft oder Partei dient) oder die Gouvernante als Kindermädchen. Frisörinnen und Massörinnen bestehen bei der Selbstbezeichnung auf diesen movierten Formen, da die Bezeichnungen Friseuse und Masseuse zu stark pejorisiert sind (mit der bekannten Qualität einfacher bzw. sogar sexualisierter Dienstleistung). Auch hier ist kaum vorstellbar, dass dies ihre sprachliche Aufwertung verursacht haben sollte. Dies zeigt, dass man sämtliche pejorisierten Frauenbezeichnungen einbeziehen muss, um zu einer Erklärung zu gelangen. Was speziell die referierende Bezeichnung Frau betrifft, deren frühere Bedeutung i.d.R. mit ‚Herrin‘ wiedergegeben wird, so gibt Kochskämper (1994) zu bedenken, dass dies wahrscheinlich überhaupt nie gegolten habe: Die Verallgemeinerung von Frau (< ahd. frouwa zu ahd. frō ‚ehrwürdiger, älterer, sozial hochstehender Herr‘) sowie die Nichtexistenz einer zu ahd. hērro parallelen Form *hērra erkläre sich vielmehr daraus, dass es real überhaupt keinen Platz für eine echte (im Wortsinn) frouwa bzw. *hērra gegeben hat. Ein dem hērro entsprechender gesellschaftlicher Ort (Lehnsherrschaft, kirchliche Autorität, Wertschätzung des Alters) war für Frauen im Frühmittelalter nicht
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gegeben [...]. Frouwa bezeichnete von vornherein eine andere Art von Status als hērro und konnte aus diesem Grund viel früher und viel weiter verallgemeinert werden (Kochskämper 1994: 145).
Auch Croft (1997) widerspricht in seiner Rezension zu Kellers „Sprachwandel“ dem Wandelkonzept „Abwertung durch Aufwertung“ und weist mögliche Galanterieeffekte mit dem Hinweis darauf zurück, dass 1. die Parallelität zwischen dem gesellschaftlich geringen Status von Frauen und der Pejorisierungsqualität ihrer Bezeichnungen zu stark konvergiere, als dass man dies ignorieren könne, und dass 2. auch andere Bevölkerungsgruppen wie z. B. schwarze Amerikaner Bezeichnungspejorisierungen erfahren haben, denen nachweislich nie eine Aufwertung vorangegangen sei: While this is a proper invisible hand explanation, it seems to me to be astonishingly contrary to the facts about the social status of women in Western society. Also it runs into empirical problems in that pejoration of other terms referring to human groups, e.g., the descendants of slaves imported to the United States, is not accompanied by any plausible tradition of gallantry. Moreover, languages spoken by societies lacking a tradition of gallantry to women also have pejoration of terms for ‚woman‘, and other terms that do not specifically denote ‚woman‘ develop pejorative references when used to refer to women (e.g., ‚professional‘). So an explanation of the sequential pejoration of colored, Negro, black, etc. would serve just as well for an explanation of the repeated pejoration of terms for women (not to mention the pejoration of terms for taboo bodily functions, for which there is no courtly tradition of gallant reference either).
Croft zieht jedoch euphemistisches Verhalten in Betracht, das einen bereits eingeleiteten Pejorisierungsprozess durchaus beschleunigen könne: Due to still-widespread sexism (racism, etc.) a substantial proportion of utterances containing the word Frau (black, etc.), perhaps a majority, are negative in content. These are the ecological conditions. Individual speakers who wish to make a neutral or positive utterance referring to women etc. […] employ a different word (Dame, African-American) in these utterances. The causal consequence of enough individuals following this maxim is that Frau, black, etc. are used in only negative contexts, and are thus pejorated (in Keller‘s explanation). […] This seems to me to be a more realistic conjectural history.
Festzuhalten ist damit, dass die Pejorisierung als solche ein Abbild des geringen Status weiblicher Personen in der Gesellschaft ist. Indem man jedoch bereits pejorisierte Ausdrücke im Normalfall eher zu vermeiden sucht, beschränkt man ihren Gebrauch ausschließlich auf negative Kontexte und beschleunigt damit ihre weitere Pejorisierung. Dieser Effekt ist jedoch nicht mit der eigentlichen Ursache der Pejorisierung zu verwechseln. Der Euphemismus seinerseits nimmt die Merkmale, die er eigentlich verschleiern soll, auf und verliert durch seine häufige Verwendung sein euphemistisches Potenzial.
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Dieses gesamte Konzept setzt jedoch voraus, dass sich vorrangig männlicher Sprachgebrauch mit seiner männlichen Sicht auf die Frau durchgesetzt hat. Hierzu äußert sich Schulz (1975), die dafür argumentiert, dass männlichem Sprechen ein größerer Radius und damit mehr Verbreitung zukam als weiblichem. So lasse sich erklären, dass sich langfristig eher männliche Bewertungen und Sichtweisen auf die Frau durchgesetzt haben: Who are the people who created English? Largely men - at least until the present generation. Stuart Flexner points out that it is mostly males who create and use slang, and he explains why. A woman‘s life has been largely restricted to the home and family, while men have lived in a larger world [...]. That men are the primary creators and users of the English language generally follows from the primary role they have traditionally played in English speaking cultures. They have created our art, literature, science, philosophy, and education, as well as the language which describes and manipu-lates these areas of culture. An analysis of the language used by men to discuss and describe women reveals something about male attitudes, fears, and prejudices concer-ning the female sex. Again and again in the history of the language, one finds that a perfectly innocent term designating a girl or woman may begin with totally neutral or even positive connotations, but gradually it acquires negative implications, at first perhaps only slightly disparaging, but after a period of time becoming abusive and ending as a sexual slur. (64/65)
4. Evidenz für die Spiegelthese: Historische Wörterbücher des Deutschen Natürlich sind historische Wörterbücher keine detailgetreuen Abbildungen historischer Verhältnisse und Wertvorstellungen, doch liefern sie noch am ehesten Aufschluss darüber, da sie um Objektivität bemüht sind. Warnke (1993) hat mit dem Beitrag „Zur Belegung von ‚frau‘ und ‚weib‘ in historischen deutschen Wörterbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts“ eine der wenigen Untersuchungen zum lexikografischen Frauen- und Männerbild in sieben Wörterbüchern zwischen 1482 und 1691 vorgelegt (deren Verfasser allesamt männlich sind). Dabei hat er untersucht, welche Themen bei Frau und Weib angeschnitten werden und ob Bewertungen vorgenommen werden. Hierzu hat er über 20 sog. semantische Positionen herausgearbeitet, die er der besseren Übersichtlichkeit wegen zu sog. Bedeutungskategorien gebündelt hat. In Tabelle 1 befinden sich die Ergebnisse. Man erkennt, dass die Frau in 30 % der Fälle mit Ehe, Familie und Häuslichkeit in Verbindung gebracht wird. Zu fast 20 % wird sie einer Qualifizierung oder Bewertung unterzogen. Schaut man sich die 82 Bele-
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ge, die dieser Bewertung zugrundeliegen, genauer an, so ergibt sich, dass diese Rubrik […] nichts anderes als die durchgängig häufige Abwertung von Frauen anzeigt, finden sich doch kaum Aufwertungen oder Tugendüberhöhungen in den untersuchten Quellen. Mit 82 Belegen hat die Kategorie immerhin noch einen Anteil von 19,7 % am Gesamtbestand. Wie auch für die erstrangige Kategorie ist auch hier die Durchgängigkeit der Buchung zu vermerken; bei Schottelius nimmt die Dequalifizierung sogar den ersten Rang ein. Bezeichnungen wie ‚närrische fraw, dumme fraw, kiefende fraw‘ etc. sind zumeist im Kontrast zu männlich positiven Attributen zu sehen (Warnke 1993: 144). Rang
Bedeutungskategorie
Belege
%
1.
Ehe, Familie, Häuslichkeit
125
30,1 %
2.
Qualifizierung/Bewertung (fast durchgehend negativ)
82
19,7 %
3.
Geschlechtsbeziehungen
63
15,2 %
4.
Körper/Bekleidung
49
11,8 %
5.
Sexualität
47
11,3 %
6.
Sozialstellung
43
10,4 %
7.
Rechtsstellung
3
0,7 %
8.
Frau und Theologie
2
0,5 %
9.
Besitzverhältnisse
1
0,2 %
415
100 %
Summe
Tab. 1: Bedeutungskategorien bei den Einträgen von Frau und Weib in historischen Wörterbüchern nach Warnke (1993)
Stark thematisiert wird mit „Körper/Bekleidung“ die äußere Form und Erscheinung der Frau; auf Rang 5 folgt das Thema Sexualität, das die Frau, so Warnke, ausschließlich als sündhaft, als Hure, Sexualobjekt und Verführerin darstelle. Erst darauf folgt auf Rang 6 die Frau in Bezug zu ihrer Sozialstellung, d. h. zur Gesellschaft. Rang 1–5 – das sind immerhin fast 90 % der Belege – befassen sich also mit ihrer Biologie, ihrer Evaluation aus männlicher Sicht und ihren Referenzpunkten Ehe und Familie, d.h. Mann und Kindern. Vor diesem Hintergrund nimmt der semantische Wandel ihrer Bezeichnungen nicht wunder. Leider hat Warnke nicht die Männereinträge auf diese Bedeutungskategorien hin untersucht, um zu überprüfen, ob bzw. inwiefern sie sich thematisch von den Fraueneinträgen unterscheiden. Diese Analyse hat jedoch Stefan Blankenberger im Rahmen einer Magisterarbeit (2003) nachgeholt,
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wobei er weitere Wörterbücher aus dem 18. und Anfang des 19. Jhs. hinzugezogen und eine leichte Modifizierung der Bedeutungskategorien in den hinteren Rängen vorgenommen hat. Die uns interessierenden Positionen 1–6 sind jedoch die gleichen geblieben. Die Ergebnisse befinden sich in Tab. 2. Deutlich tritt zutage, dass das, was bei der Frau „Ehe, Familie, Häuslichkeit“ (Nr. 1) ausmacht, bei dem Mann seine Sozialstellung (Nr. 6) ist (s. die grauen Hinterlegungen). In Rubrik Nr. 2, „Qualifizierung/Bewertung“, fällt auf, dass auch der Mann (mit fast 30 %) stark davon betroffen ist. Betrachtet man jedoch die Qualität der Bewertung (was aus der Tabelle nicht hervorgeht), so wird der Mann zu 75 % positiv, die Frau dagegen zu 72,5 % negativ dargestellt. Beträchtliche Unterschiede birgt auch die Rubrik Nr. 5, „Sexualität“, die beim Mann von marginaler Bedeutung (2,4 %), bei der Frau dagegen zu einem Anteil von 9,3 % repräsentiert ist; dabei tritt die Frau zu 50 % als Sexualobjekt des Mannes und zu 50 % als Unzüchtige bzw. Prostituierte in Erscheinung. Die hierbei vorgenommenen Bewertungen sind ausnahmslos negativ. Insgesamt erscheint der Mann kein einziges Mal als Vater, die Frau dagegen überwiegend als Mutter. Der Familienstand ist bei der Frau hoch-, beim Mann irrelevant. Selbst bis in die gegenwartssprachlichen Wörterbücher hinein tradieren sich kaum reflektiert diese Geschlechterstereotype (Pusch 1983, Nübling 2009). Rang
Bedeutungskategorie
Frau/Weib Belege
%
Mann Belege
%
1.
Ehe, Familie, Häuslichkeit
181
35,2 %
36
6,1 %
2.
Qualifizierung/Bewertung
69
13,4 %
173
29,2 %
3.
Geschlechtsbeziehungen
56
10,9 %
14
2,4 %
4.
Körper/Bekleidung
63
12,3 %
21
3,5 %
5.
Sexualität
48
9,3 %
14
2,4 %
6.
Sozialstellung
75
14,6 %
227
38,3 %
7.
Allg. Lebensumstände
19
3,7 %
108
18,2 %
8.
Theologie (Marienverehrung)
4
0,8 %
515
100 %
593
100 %
Summe
Tab. 2: Bedeutungskategorien bei den Einträgen von Frau, Weib und Mann in historischen Wörterbüchern nach Blankenberger (2003)
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Historische Wörterbücher liefern damit deutliche Evidenz dafür, dass es die gesellschaftlich-kulturellen Werte und Realitäten sind, d. h. die negativen Kontexteinbettungen von Frau, die sich semantisch verfestigt und zum negativen Bedeutungswandel geführt hat.
5. Fazit Eine etwas genauere Analyse der Pejorisierungsqualitäten der Frauenbezeichnungen im Deutschen ergab, dass in den wenigsten Fällen inflationäre Prozesse als Auslöser in Frage kommen, wovon das Invisible-Hand-Konzept von Keller (1990, 1995) jedoch ausgeht. Wenn die Bezeichnungen für hochstehende Frauen semantisch zu solchen für Dienerinnen und Prostituierte werden, so hat dies nichts mit dem Verlust, sondern mit einem Zuwachs an Semen zu tun. Die Arten der hier dargestellten Pejorisierungen spiegeln zu präzise die gesellschaftlichen (patriarchalen) Verhältnisse und männlichen Einstellungen gegenüber der Frau wider, als dass man diese Parallelität ignorieren könnte. So wie zahlreiche andere semantische Entwicklungen, so ist auch diese als ein Spiegel kulturhistorischer Realitäten zu begreifen. Dieser Beitrag unterstützt die Kritik von William Croft am Invisible-Hand-Konzept, der außerdem ins Feld führt, dass auch andere Pejorisierungen wie die der Bezeichnungen schwarzer Amerikaner nachweislich ohne Galanterie auskamen. Somit spiegeln Pejorisierungen negative Einstellungen und Kontexte wider, auch wenn der sog. InvisibleHand-Ansatz mit seinem paradox erscheinenden Konzept der „Abwertung durch Aufwertung“ schicker, eingängiger und bequemer ist und daher auch schnell den Weg in sprachgeschichtliche Einführungen gefunden hat. Einzig bei Frau und Herr in der Anrede sind primär inflationäre Entwicklungen eingetreten, indem der hohe Sozialstatus geschwunden ist – nur tut sich genau hier keine Geschlechterdifferenz auf. Höflichkeit wird schließlich von beiden Geschlechtern ausgeübt, auch inflationär. Ein (historisch im Übrigen gar nicht haltbares) einseitiges Galanteriekonzept ist damit zu verwerfen. In einem letzten Schritt wurde anhand von Analysen historischer Wörterbücher gezeigt, dass eine enge Parallelität zwischen der darin sich manifestierenden Sicht auf die Frau und der Pejorisierungsqualität ihrer Bezeichnungen besteht. Ausblickend bleibt zu hoffen, dass dieser berühmte semantische Wandel endlich eine umfassende empirische Untersuchung erfährt. Diese kann nur korpusbasiert über Kontext- und Kollokationsanalysen erfolgen, so wie dies Rabofksi (1985) ansatzweise für engl. witch gezeigt hat. Da nun das Zeitalter der Korpuslinguistik angebrochen ist, sollte diese wichtige Aufgabe erfüllbar sein.
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