Thomas Meyer Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets
Thomas Meyer
Potenzial und Praxis des Persönlichen Budget...
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Thomas Meyer Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets
Thomas Meyer
Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets Eine Typologie von BudgetnutzerInnen in Deutschland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17930-8
„Das Persönliche Budget ist wie Weihnachten…“ (Berta, 54 Jahre, Budgetnehmerin)
„Was ich damit mache, das ist mir überlassen. Ich bin jetzt flexibler.“ (Yvonne, 33 Jahre, Budgetnehmerin)
„Wenn man selber bezahlt, schaut man genauer hin.“ (Horst, 60 Jahre, Budgetnehmer)
„Früher nach Stunden, heute nach Bedarf.“ (Werner, 40 Jahre, Budgetnehmer)
„Und jetzt bin ich Ich. Eine kranke – angeblich kranke – Frau, die ihr Leben in die eigenen Hände genommen hat. Und dadurch hat es sich erfüllt, dass ich alleine lebe, Persönliches Budget bekomme, und dies hat sich erfüllt.“ (Ulrike, 50 Jahre, Budgetnehmerin)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort und Danksagung................................................................................ 15 1
Einleitung ............................................................................................... 17
1.1
Ausgangssituation.................................................................................... 18
1.2
Zielsetzung und Fragestellung................................................................. 21
1.3
Aufbau der Arbeit.................................................................................... 23
2
Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets .. 27
2.1
Zum Begriff „Persönliches Budget“ – Definition und Grundidee........... 31
2.2
Rahmenbedingungen der Einführung Persönlicher Budgets – Rechtsgrundlagen und budgetfähige Leistungen..................................... 39 2.2.1 Rechtsgrundlagen .................................................................................... 39 2.2.2 Leistungsträger und budgetgeeignete Leistungen.................................... 42 2.3
Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe – Eckpfeiler eines Wandels im Umgang mit Behinderung ............................................................................................ 45 2.3.1 Die normativ-ethische Ebene: Selbstbestimmung und Eigenverantwortung als zwei Seiten derselben Medaille – Persönliche Budgets als „riskante Freiheit“ ................................................................ 49 2.3.2 Die professionstheoretisch-fachliche Ebene: Vom medizinisch geprägten Behinderungsbegriff zum bio-psycho-sozialen Modell – Abkehr von einer defizitären Sichtweise................................................. 52 2.3.3 Die sozialpolitische Ebene: Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks und Stärkung der Rolle des Hilfeempfängers – Sozialpolitischer Richtungswechsel ........................................................ 61 2.4
Zusammenfassung ................................................................................... 66
8
Inhaltsverzeichnis
3
Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis – Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets............................................................................. 67
3.1
Erwartungen auf normativ-ethischer Ebene: Selbstbestimmung, selbstständige Lebensführung und Regiekompetenz ............................... 68 3.1.1 Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung – durch Persönliche Budgets vom Objekt der Fürsorge zum handelnden Subjekt................... 69 3.1.2 Selbstständigkeit statt Abhängigkeit – das Persönliche Budget zur Realisierung einer selbstständigen Lebensführung.................................. 74 3.1.3 Assistenz statt Betreuung – veränderte (Macht-) Verhältnisse und Stärkung der Regiekompetenz durch das Persönliche Budget ................ 76 3.2
Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene: Normalisierung und Inklusion statt Separation und Exklusion – Persönliche Budgets als Ausdruck von Neuorientierung......................... 79 3.2.1 Normalisierung statt Separation – das Persönliche Budget als Instrument der Deinstitutionalisierung .................................................... 80 3.2.2 Inklusion statt Exklusion – das persönliche Budget zur Verbesserung von Teilhabechancen ........................................................ 84 3.3
Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene: Vorrang ambulanter Angebote, Veränderung der Angebotsstrukturen und Einflussnahme der Leistungsempfänger .......................................................................... 87 3.3.1 Ambulant vor stationär – das persönliche Budget als Alternative zur stationären Versorgung............................................................................ 88 3.3.2 Kunde statt (abhängiger) Hilfeempfänger – Verbesserung der Qualität und passgenaue Angebote durch stärkere Einflussnahme ......... 93 3.4
Zusammenfassung ................................................................................... 97
4
Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland.............................................................. 103
4.1
Erfahrungen mit Direktzahlungen an Menschen mit Behinderung im europäischen Raum .......................................................................... 106 4.1.1 Personengebundene Budgets in den Niederlanden (Persoonsgebonden budget)................................................................... 106 4.1.2 Direct Payments in Großbritannien ....................................................... 112 4.1.3 Persönliche Assistenz in Schweden....................................................... 118 4.2
Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets in der Bundesrepublik Deutschland......................................... 123
Inhaltsverzeichnis
9
4.2.1 „Hilfe nach Maß“ (Rheinland-Pfalz 1998 – 2000) ................................ 124 4.2.2 Persönliche Budgets für Menschen mit Behinderung (BadenWürttemberg 2002-2005) ...................................................................... 132 4.2.3 Persönliche Budgets im stationärem Kontext – das Projekt PerLe – Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität (NordrheinWestfalen 2003-2006) ........................................................................... 141 4.2.4 Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets für Menschen mit Behinderung in Niedersachsen (2004-2005).................. 146 4.2.5 Persönliche Budgets in Hamburg (2003-2005) ..................................... 149 4.2.6 Das bundesweite Modellvorhaben „Erprobung Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (2004-2007) ...................................................... 152 4.3
Zusammenfassung – Persönliche Budgets in der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Ländern .................................. 165
5
Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen – was weiß man über die individuellen Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung? .. 173
5.1 Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung............. 174 5.1.1 Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung im rheinland-pfälzischen Modellvorhaben ................................................. 175 5.1.2 Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung im baden-württembergischen Modellprojekt.............................................. 176 5.1.3 Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung im niedersächsischen Modellvorhaben ....................................................... 181 5.2 Typologien der Budgetnutzung ............................................................. 184 5.2.1 Nutzungsverhalten von Direktzahlungen am Beispiel von Menschen mit Pflegebudgets in Großbritannien ................................... 185 5.2.2 Lebensweltlich-biografisch orientierte Zugänge zur Budgetnutzung am Beispiel der baden-württembergischen Budgetnehmer/innen ......... 188 5.3
Zusammenfassung – welche Schlüsse können aus den Modellprojekten für eine empirische Betrachtung der Budgetverwendung gezogen werden? ................................................... 193
6
Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse............................................................................ 199
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung ...... 201 6.1.1 Der Begriff des Typus in den Sozialwissenschaften.............................. 203 6.1.2 Grundidee und Vorgehensweise einer Typenkonstruktion.................... 205
10
Inhaltsverzeichnis
6.1.3 Quantitative Typenbildung: Die Clusteranalyse.................................... 207 6.2
Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung: Die Befragungen im Rahmen der Modellprojekte zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“....................................... 210 6.2.1 Die Budgetnehmerbefragung – Vorgehensweise, inhaltliche Schwerpunkte und Datenbasis der Erstbefragungen.............................. 213 6.2.1.1 Zur Vorgehensweise der Budgetnehmer(erst)befragung.......... 214 6.2.1.2 Konstruktion des Instruments und inhaltliche Schwerpunkte .. 216 6.2.1.3 Durchführung, Datenbasis und Vergleich zur Grundgesamtheit ...................................................................... 219 6.2.2 Die Wiederholungsbefragung................................................................ 225 6.3
Vorgehensweise und Auswertungsschritte – Verschränkung qualitativer und quantitativer Analysen................................................. 228 6.3.1 Die qualitative Analyse ......................................................................... 228 6.3.2 Quantifizierung der qualitativ gewonnenen Kategorien ........................ 234 6.3.3 Die quantitative Analyse ....................................................................... 235 7
Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse............................................................................ 241
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung ................................ 242 7.1.1 Qualitative Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung – Ergebnisse der Kategorienbildung......................................................... 242 7.1.1.1 Selbstständigkeit ...................................................................... 243 7.1.1.2 Selbstbestimmung .................................................................... 250 7.1.1.3 Unabhängigkeit ........................................................................ 256 7.1.1.4 Einflussnahme.......................................................................... 264 7.1.1.5 Flexibilität ................................................................................ 266 7.1.1.6 Individuelle Lösungen.............................................................. 278 7.1.1.7 Ersatzlösung............................................................................. 286 7.1.1.8 Versorgungssicherheit.............................................................. 293 7.1.1.9 Soziale Beziehungen ................................................................ 300 7.1.1.10 Vereinfachung.......................................................................... 308 7.1.1.11 Entlastung ................................................................................ 313 7.1.1.12 Initiative Anderer ..................................................................... 315
Inhaltsverzeichnis
11
7.1.2 Quantitative Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung – Ergebnisse der statistischen Auswertungen........................................... 315 7.1.2.1 Häufigkeit der qualitativ gebildeten Beantragungsmotive ....... 316 7.1.2.2 Zusammenhänge zwischen den gefundenen Motiven – Ergebnisse der Faktorenanalyse............................................... 317 7.1.2.3 Motivtypen – Ergebnisse der Clusteranalyse ........................... 321 7.1.3 Gegenüberstellung der gefundenen Typen mit ausgewählten personenbezogenen Merkmalen ............................................................ 331 7.2 Budgetverwendung................................................................................ 337 7.2.1 Ergebnisse der Kategorienbildung – Art und Inhalt der finanzierten Leistungen ............................................................................................. 339 7.2.1.1 Alltagspraktische Unterstützung im (eigenen) Haushalt.......... 341 7.2.1.2 Pädagogische und psycho-soziale Unterstützung..................... 342 7.2.1.3 Persönliche Assistenz............................................................... 345 7.2.1.4 Spezielle Aktivitäten ................................................................ 346 7.2.1.5 Sachmittel und Fahrtkosten...................................................... 348 7.2.1.6 Spezielle Therapien und (Einzel-)Förderung ........................... 349 7.2.1.7 Hilfen in Einrichtungen............................................................ 350 7.2.1.8 Ausbildung und Arbeit............................................................. 352 7.2.1.9 Budgetbezogene Dienstleistungen und Kosten ........................ 353 7.2.2 Quantitative Analyse der Budgetverwendung – Ergebnisse der statistischen Auswertungen ................................................................... 355 7.2.2.1 Häufigkeit der qualitativ gebildeten Kategorien der Budgetverwendung .................................................................. 355 7.2.2.2 Gegenüberstellung der Verwendungsformen mit den Motiven der Budgetbeantragung – die Budgetverwendung im Kontext der gefundenen Typen........................................... 356 7.2.3 Organisation der Unterstützung und Entscheidung über die Budgetverwendung – Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen..................................................................................................... 361 7.2.3.1 Organisatorische Hintergründe der Budgetverwendung .......... 361 7.2.3.2 Entscheidung über die Budgetverwendung und Budgetverwaltung .................................................................... 368 7.2.4 Rekrutierung von Dienstleistern............................................................ 372 7.3
Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget – Ergebnisse der Wiederholungsbefragung im Spiegel der gefundenen Typen................ 375 7.3.1 Erfüllte Erwartungen an das Persönliche Budget .................................. 378 7.3.2 Alternative Budgetverwendung............................................................. 380
12
Inhaltsverzeichnis
8
Zusammenfassende Betrachtung der Typologie – Das Persönliche Budget im Lebenskontext der befragten Budgetnutzer/innen ............................................................................. 383
8.1
Typus 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen ............ 383
8.2
Typus 2 – Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität............. 392
8.3
Typus 3 – Emanzipation durch erweiterte Spielräume .......................... 400
8.4
Typus 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets ................ 409
9
Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick............................................... 415
9.1
Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Persönlichen Budget – Überlegungen zu Anspruch und Wirklichkeit der Budgetnutzung ........................................................... 416 9.1.1 Überlegungen auf normativ-ethischer Ebene – Selbstbestimmung und selbstständige Lebensführung......................................................... 416 9.1.2 Überlegungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene – Normalisierung, Deinstitutionalisierung und Teilhabe.......................... 420 9.1.3 Überlegungen auf sozialpolitischer Ebene – Ambulantisierung und Kundenbewusstsein ............................................................................... 425 9.2
Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung des Persönlichen Budgets – Überlegungen zu einem Perspektivenwechsel in Evaluation und Forschung............................... 431 9.2.1 Überlegungen zu einer inhaltlichen Neuausrichtung – Ein Plädoyer für eine differenziertere Bewertung von Wirkungen ............................. 432 9.2.2 Überlegungen zu einer methodischen Neuausrichtung – Ein Plädoyer für qualitative Evaluation und den Einbezug einer fallrekonstruktiven Perspektive ............................................................. 436 9.2.3 Überlegungen zu einer Neuorientierung in der Qualitätssicherung – Ein Plädoyer für Nutzerorientierung und Ausrichtung an dem Konzept der Lebensqualität ................................................................... 440 9.3
Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung – Überlegungen zur Gestaltung und Bewilligung Persönlicher Budgets.. 444 9.3.1 Planungssicherheit und Stabilität gewährleisten – Vermeidung von rigiden Budgetanpassungen................................................................... 445 9.3.2 Beratung und Unterstützung in die Budgetgestaltung einbeziehen – Budgetassistenz als elementarer Bestandteil des Persönlichen Budgets.................................................................................................. 446
Inhaltsverzeichnis
13
9.3.3 Individuelle Wege unterstützen – eigene Ideen zulassen und Zweckbindungen umgehen.................................................................... 449 9.3.4 Selbstbestimmung und Unabhängigkeit fördern – Mehrbedarf und Lernfelder zulassen................................................................................ 450 9.3.5 Pragmatismus erkennen und akzeptieren – Sachleistungen flexibilisieren, Wunsch und Wahlrecht ernst nehmen ........................... 452 9.4
Zusammenfassung ................................................................................. 453
10
Abschließende Bemerkungen ............................................................. 455
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 457 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis........................................................... 471
Vorwort und Danksagung
Entstehungshintergrund der vorliegenden Arbeit ist das bundesweite Modellprojekt zur Einführung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“, welches zwischen Oktober 2004 und Juli 2007 wissenschaftlich begleitet wurde. Aus diesem Grunde gilt eine erste und ausgesprochen wichtige Danksagung dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, welches mir nach Abschluss der Modellerprobung eine weitere Verwendung der Daten für Forschungszwecke ermöglicht hatte. Die Modellerprobung liegt nun mittlerweile zwei Jahre zurück und es hat sich möglicherweise einiges getan in Sachen „Persönliches Budget“, vor allem, weil ein bedeutendes Datum zwischen dem Abschluss des Modellprojekts und der Fertigstellung dieser Arbeit liegt: Seit dem 01.08.2008 besteht nunmehr ein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget. Auch wenn angenommen werden kann, dass seit diesem Zeitpunkt eine Vielzahl neuer Persönlicher Budgets bewilligt wurden, ist die vorliegende Arbeit keinesfalls anachronistisch, denn es soll in der folgenden Betrachtung nicht um die „Quantität“, sondern um die „Qualität“ der Budgetnutzung gehen. Im Vordergrund der Betrachtung stehen die Budgetnehmenden selbst, ihre Erwartungen und Beweggründe, ihre Ideen und kreativen Unterstützungsarrangements, aber auch ihre Ängste und Bedenken und vor allem ihr außerordentlicher Mut. Diesen Menschen, die mir immer wieder in den vielen spannenden Interviews bewusst gemacht haben, wie schwierig es ist, als Mensch mit Behinderung in unserer Gesellschaft zu leben, gebührt mein ganz besonderer Dank. Ohne deren Bereitschaft und ohne deren Engagement wäre diese Arbeit nicht geschrieben worden. Sicher mag die eine oder andere Information, die eine oder andere Geschichte von Budgetnehmenden, jetzt, nach nunmehr zwei Jahren nach Abschluss der Modellerprobung, weniger spektakulär erscheinen als zu dem Zeitpunkt, an dem sie erzählt wurde. Und vermutlich wird ein im Themengebiet „Persönliche Budgets für Menschen mit Behinderung“ bewanderter Leser einige der Darstellungen bereits kennen, vieles für selbstverständlich halten oder anderes bereits als überholt bezeichnen, allerdings ist dies der Tatsache geschuldet, dass die Entstehungsgeschichte dieser Arbeit auf einen langjährigen Prozess zurückgeht und – wie bekannt ist – brauchen wissenschaftliche Arbeiten ihre Zeit. In diesem Zusammenhang muss zudem angemerkt werden, dass die Fertigstellung dieser Arbeit begleitet wurde durch die Geburt meiner beiden Töchter.
16
Vorwort und Danksagung
Diesen beiden neuen Erdenbürgern, die voller Vertrauen und Neugier in die Welt blicken, sowie ihrer Mutter (und meiner Lebensgefährtin), ist diese Arbeit ebenso gewidmet. Eine akademische Danksagung wäre hier eher unangebracht. Stattdessen möchte ich mich einfach nur für das Durchhaltevermögen und die Unterstützung bedanken. Ein ganz besonderer Dank gebührt schließlich Herrn Prof. Dr. Jörg Michael Kastl und Herrn Prof. Dr. Rainer Trost, die beide die Entstehung der Arbeit betreuten und stets ein offenes Ohr für mich hatten. Bedanken möchte ich mich zudem bei Katja Schwarz für die äußerst kritische Durchsicht der Arbeit. Die Danksagung bezieht sich allerdings nicht nur auf die Unterstützung dieser drei Personen, sondern auch auf eine besonders prägende Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sonderpädagogik in Reutlingen. Danksagungen sollten irgendwann ein Ende haben, denn allen Menschen, die mich in dieser Zeit begleitet und unterstützt haben, gebührt eine Erwähnung. Zum Schluss möchte ich daher noch meinen Freunden und meinen Eltern danken, weil sie ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum Gelingen dieses Vorhabens beigesteuert haben.
1 Einleitung
Hintergrund der vorliegenden Arbeit sind die Ergebnisse der bundesweit angelegten wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ in 14 verschiedenen Modellregionen, an der der Autor im Rahmen einer Projektstelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen, beteiligt war. Anliegen der wissenschaftlichen Begleitung war es, förderliche und hinderliche Rahmenbedingungen für die Umsetzung Persönlicher Budgets zu identifizieren sowie Wirkungen im Lebenskontext der Budgetnehmer/innen zu beleuchten. Die Ergebnisse liegen mit Beendigung des Projekts im Juli 2007 in Form eines Abschlussberichts vor (vgl. Metzler u.a. 2007). Neben dieser bundesweit ausgerichteten Begleitforschung haben sich bereits seit 1998 eine Vielzahl an Modellprojekten in unterschiedlichen Bundesländern und etliche Forschungsarbeiten mit der Idee und Einführung des Persönlichen Budgets beschäftigt. In allen Studien geht es bislang jedoch schwerpunktmäßig um die Rahmenbedingungen der Umsetzung Persönlicher Budgets (vor allem im Hinblick auf sozial- bzw. leistungsrechtliche Fragestellungen) sowie um die Wirkungen Persönlicher Budgets (im Sinne einer Evaluation auf Basis vorab definierter Wirkungsaspekte). Nur am Rande wird allerdings thematisiert, was im Grunde ausschlaggebend für die Umsetzung Persönlicher Budgets ist: Die individuellen Motive, Intentionen und Erwartungen derjenigen Personen, die sich für ein solches Persönliches Budget entscheiden. Gegenwärtig liegen keine Forschungsarbeiten vor, die sich ausschließlich mit den Motiven und Erwartungen der Budgetnehmer/innen beschäftigen und auch die Erkenntnisse aus den Modellvorhaben lassen nur bedingt Rückschlüsse zu. Im Grunde werden Motive, wie beispielsweise der Wunsch nach „Selbstbestimmung“, „Teilhabe“ oder „Einflussnahme“ sozusagen unmittelbar unterstellt. Ob diese Motivlagen ihre Entsprechung in der „Praxis“ der Budgetverwendung finden, bleibt jedoch meist unklar, denn die individuellen Intentionen und Erwartungen der Budgetnehmer/innen werden in den forschungsleitenden Fragestellungen der bisherigen Modellprojekte oftmals vernachlässigt oder nur am Rande thematisiert. Die Forderung nach einem stärkeren Miteinbezug dieser individuellen Erwartungshaltungen und spezifischen Hintergründe der Budgetbeantragung in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Persönliche Bud-
T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
18
1 Einleitung
gets“ leitet daher zu der Frage über, wer eigentlich diese Budgetnehmer/innen sind und was sie wollen. Aus diesem Grunde zielt die vorliegende Arbeit keinesfalls darauf ab, eine (erneute) Betrachtung der Leistungsform Persönlicher Budgets unter umsetzungsrelevanten Gesichtspunkten, sei es hinsichtlich sozialrechtlicher Fragestellungen, sozialpolitischer Überlegungen oder anderer verwandter Themen, vorzunehmen. Im Zentrum der nachfolgenden Auseinandersetzung stehen hingegen die individuellen Wünsche, Erwartungen und Ziele der Budgetnehmer/innen. Damit wird auch versucht, das Persönliche Budget vor allem als ein Instrument zu sehen, das immer auch in eine spezifische Lebenssituation eines Menschen eingebettet ist „und dessen Gelingen davon [abhängt], wie dieses Instrument zu diesem Lebenskontext in Passung tritt“ (Kastl, Metzler 2005, 11). Es geht also vor allem um die Bedeutung, die ein Persönliches Budget in der jeweiligen konkreten Lebenspraxis von Menschen mit Behinderung einnimmt. Daher schließt die vorliegende Arbeit zwar an den Ergebnissen und Zielsetzungen der bisherigen Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets an, wird jedoch durch eine weitere Perspektive ergänzt, die die individuell wirksamen Motive der Interessent/innen sowie die in diesem Zusammenhang intendierte Budgetverwendung in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Angestrebt ist eine Analyse der „Praxis“ der Verwendung Persönlicher Budgets, die im Kern die Budgetnehmer/innen, deren Motive zur Budgetbeantragung sowie deren Unterstützungsarrangements zum Thema hat. 1.1 Ausgangssituation Menschen mit Behinderung haben nach der Einführung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) – erstmals die Möglichkeit, Unterstützungsleistungen auch als Direktzahlung, d.h. als Persönliches Budget, beantragen zu können. Konkrete Bestimmungen zur Ausgestaltung und Anwendung Persönlicher Budget lassen sich aus den entsprechenden Gesetzestexten allerdings nicht entnehmen. In dem dazu relevanten Paragraphen (§ 17 SGB IX) gibt es keine unmittelbaren Hinweise darauf, was genau unter einem Persönlichen Budget zu verstehen ist, wo bzw. wie es zur Anwendung kommen kann, in welchen Lebensbereichen es eine Bedeutung haben könnte und wie die Unterstützung mittels eines Persönlichen Budgets zu organisieren und zu gestalten ist. Erst in der Budgetverordnung zur Durchführung von § 17 Abs. 2 bis 4 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch vom 27. Mai 2004 (BudgetV) sind schließlich Bestimmungen zu den Anwendungsbereichen, zu so genannten „budgetfähigen Leistungen“, sowie zum Beantragungsverfahren geregelt. Aber auch hier liegen keine genauen Hinweise oder „praxisorientierte“
1.1 Ausgangssituation
19
Beispiele zu den Gestaltungs- und Verwendungsmöglichkeiten eines Persönlichen Budgets vor. Insgesamt wird das Thema „Verwendung Persönlicher Budgets“ damit auf der rechtlichen und verwaltungsrelevanten Ebene mehr oder weniger offen gelassen. Diese Offenheit hat jedoch auch einen entscheidenden Vorteil: Schließlich sollten Persönliche Budgets zunächst einmal modellhaft erprobt und deren Gestaltungsmöglichkeiten ausgelotet werden. Sichtet man weiterhin die Fachliteratur, so wird deutlich, dass an die Einführung Persönlicher Budgets eine Vielzahl an Erwartungen und Hoffnungen geknüpft sind. Das Persönliche Budget wird dabei nicht selten in den Kontext verschiedener Entwicklungen in der Behindertenhilfe gestellt, die unter dem Begriff „Paradigmenwechsel“ zusammengefasst werden können. Im Gegensatz zur herkömmlichen Leistungserbringung in Form einer so genannten Sachleistung soll das Persönliche Budget beispielsweise ein höheres Maß an Selbstbestimmung sowie eine Verbesserung von Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung ermöglichen. Kein anderes Instrument – so die Erwartung – könne besser dazu genutzt werden, das Wunsch- und Wahlrecht sowie eine verstärkte Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu realisieren, sei es im Bereich Wohnen, Freizeit oder Arbeit. Ferner können – so weitere Annahmen – der Grundsatz „ambulant vor stationär“ (und damit eine strukturelle Verbesserung der Angebotslandschaft) sowie eine stärkere Wettbewerbssituation unter den Anbietern (und damit eine intendierte Qualitätsverbesserung) durch die Einführung Persönlicher Budgets vorangetrieben werden. Damit in Verbindung stehen weitere Erwartungen hinsichtlich der Deinstitutionalisierungspotenziale Persönlicher Budgets. Letztendlich ist auch die Hoffnung auf eine sich veränderte Rolle von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft mit der Einführung verbunden. Durch Persönliche Budgets würden die Leistungsberechtigten – so die Erwartung – in Zukunft nicht mehr als abhängige Empfänger von Leistungen, sondern vielmehr als „Kunden“ auftreten, so dass ihre Rolle im Rehabilitationssystem entscheidend gestärkt wird. Ausgehend von verschiedenen regionalen Modellvorhaben, die bereits seit nunmehr über zehn Jahren durchgeführt werden (erstmals in Rheinland-Pfalz, später in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen) sowie aufgrund des Abschlusses der bundesweiten Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ im Juli 2007 und insbesondere im Hinblick auf den Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budgets ab Januar 2008, ist die Diskussion über Potenziale, Chancen und Risiken Persönlicher Budgets keinesfalls verebbt. Gegenstand dieser Diskussion ist unter anderem auch die Frage, inwiefern sich die Erwartungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets verbunden sind, bislang erfüllt haben bzw. in Zukunft erfüllen werden. Die Messlatte dieser Erwartungshaltungen ist entsprechend hoch. Nicht selten wird angenommen, dass die Einführung Persönlicher Budgets die (strukturellen)
20
1 Einleitung
Probleme der Behindertenhilfe „auf einen Schlag“ lösen könnte. Damit wird das Persönliche Budget in den Kontext allgemeiner Forderungen gestellt, die schon seit einigen Jahren unter dem Begriff „Paradigmenwechsel“ diskutiert werden. Dabei hat es den Anschein, als würde die Umsetzung all dieser Forderungen in der Umsetzung Persönlicher Budgets kumulieren. Entsprechend kann dem Persönlichen Budget nahezu der Charakter eines „Allheilmittels“ zugesprochen werden. Vergegenwärtigt man sich die Vielfalt an Diskussionen über das Persönliche Budget, steht die weitere Umsetzung aber auch in der Gefahr, dass die Einführung Persönlicher Budgets mit Erwartungen und Hoffnungen überfrachtet wird. Denn inwiefern sich Erwartungen erfüllt haben, wird letztendlich auf Basis von anhand dieser Erwartungen definierten Wirkungen entschieden werden; das ist Sinn und Zweck von Evaluation. Sind Ziele und Erwartungen schließlich zu hoch gesetzt, dann ist die Einführung Persönlicher Budgets auch an solchen Zielen zu messen. Werden dann aber einige dieser Erwartungen nicht erfüllt, wird die Frage aufgeworfen werden, ob das „Experiment Persönliches Budget“ gescheitert ist. Entsprechend besteht gerade durch die Konzentration auf solche Erwartungshaltungen letztendlich die Gefahr, (andere) positive Wirkungen zu übersehen und aus den Augen zu verlieren. Außerdem entbindet die Einführung Persönlicher Budgets nicht davon, weitere Anstrengungen zu unternehmen, die Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Die bisherigen Forschungsvorhaben zum Persönlichen Budget thematisieren im Schwerpunkt solche Erwartungen und die daraus abgeleiteten Wirkungen. Deutlich wird dies insbesondere in den bereits durchgeführten Modellprojekten. Im Kontext dieser Modellerprobungen werden Ziele definiert, deren Realisierung dann mittels wissenschaftlicher Begleitforschung anhand von entsprechenden Indikatoren überprüft wird. Diese Wirkungsziele werden allerdings oftmals aus relativ abstrakten theoretischen Überlegungen bzw. politischen Forderungen abgeleitet. Es muss allerdings immer auch davon ausgegangen werden, dass diese Erwartungen möglicherweise nur wenig den Erwartungen derjenigen Personen entsprechen, die sich letztendlich für ein Persönliches Budget entscheiden. Aus diesem Grunde ist es in der vorliegenden Arbeit von besonderem Interesse, eben diese Erwartungen und Motive genauer zu untersuchen. Damit einher geht auch die Forderung, die jeweils subjektiv bedeutsamen Erwartungen der Budgetinteressent/innen in die Betrachtung von „Wirkungen“ – auch im Sinne von Evaluation – mit einzubeziehen. Schließlich stecken diese individuellen Erwartungen den Rahmen ab, ob und inwiefern das Persönliche Budget seine „Wirkung“ entfaltet. Die Wirkungen sollten also zuallererst an den Erwartungen der Budgetnehmenden gemessen werden. Aus diesem Grunde müssen die jeweiligen Beweggründe der Budgetnutzer/ innen näher betrachtet und verstanden werden. Dies soll mittels einer systemati-
1.2 Zielsetzung und Fragestellung
21
schen Rekonstruktion der Vielfalt der Motive zur Budgetbeantragung sowie durch eine detaillierte Analyse der inhaltlichen Verwendung Persönlicher Budgets realisiert werden. Dabei spielt die Frage der Einbettung Persönlicher Budgets in die Lebenssituation der Budgetnehmer/innen eine zentrale Rolle. Zwar werden diese Aspekte in den meisten Studien sozusagen „mitbedacht“, aufschlussreiche und systematisierte Forschungsergebnisse zur Budgetbeantragung und -verwendung bleiben aber meist ein Randthema. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, die jeweiligen Beweggründe der Budgetbeantragung sowie die daraus resultierenden Verwendungsmöglichkeiten aus Sicht der Budgetnehmenden genauer zu untersuchen und zu rekonstruieren. Schlussendlich sollen dazu die von den Budgetnehmenden verbalisierten und vorgebrachten Motive sowie die jeweiligen Unterstützungsarrangements systematisch typisiert werden. 1.2 Zielsetzung und Fragestellung Die Ausführungen verdeutlichen, dass bisher schwerpunktmäßig die „Potenziale“ Persönlicher Budgets sowie die damit in Verbindung stehenden (theoretischen) Erwartungen hinsichtlich der Einführung Persönlicher Budgets diskutiert werden. Was diese Potenziale betrifft, so bilden die im SGB IX formulierten Ziele der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gemeinschaft das Gros der Erwartungshaltung. Alles in allem soll das Persönliche Budget gemeinhin zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen beitragen (u.a. durch eine Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts, mehr Teilhabemöglichkeiten, eine Veränderung der Rolle des Hilfeempfängers sowie eine Verbesserung des Angebotsspektrums). Auf der anderen Seite steht die „Praxis“ der bisherigen Budgetverwendung, die vor allem zeigt, dass Menschen mit Behinderung aufgrund einer Vielfalt an individuellen Gründen Persönliche Budgets beantragen und entsprechende Unterstützungsarrangements entwickeln. Allerdings deckt sich diese Vielfalt und Individualität nicht unbedingt mit den auf theoretischer Ebene formulierten Erwartungen und die unmittelbare Praxis der Budgetverwendung zeichnet oftmals eher ein pragmatisches Bild. Entsprechend verdeutlichen die bisherigen Erkenntnisse lediglich, „wie Menschen mit Behinderung und ihr professionelles und nicht-professionelles Lebensumfeld mit gewährten Spielräumen umgehen, welche produktiven Potentiale dabei entstehen, welche Probleme sich dabei zeigen, vor allem aber auch: welche Probleme dabei nicht auftreten“ (Kastl, Metzler 2005, 10f.; Hervorhebung im Original). Diese Vielfalt an Motiven und Verwendungsmöglichkeiten verweist auf einen spezifischen „individuellen“ Nutzen Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnehmer/innen. Im Grunde bildet die Budgetbeantragung und -verwendung
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1 Einleitung
jeweils subjektive Vorlieben und eigene Wege der Unterstützung ab, die mitunter den auf theoretischer Ebene allgemein formulierten Zielen nicht unbedingt entsprechen müssen. Dies zeigt sich auch darin, dass es manchen Budgetnehmer/innen lediglich um „Kleinigkeiten“ geht, wie etwa die Teilnahmegebühren in einem Fitnessstudio zu finanzieren. Wieder andere Persönliche Budgets stellen beispielsweise eher eine Art „flexibilisierte Sachleistung“ dar. All dies steht auf den ersten Blick nicht oder nur indirekt mit der Kernintention Persönlicher Budgets in Verbindung. Insofern verweist die Verwendung Persönlicher Budgets nicht automatisch auf einen „Paradigmenwechsel“ in der Behindertenhilfe. Auch wenn sich in diesen individualisierten Motiven und Beweggründen allgemeine Erwartungen und theoretische Annahmen nicht unmittelbar zeigen, kann nicht ausgeschlossen werden, inwiefern diese sozusagen hintergründig wirksam sind. Daher muss zunächst betrachtet werden, in welchen Begründungskontext die Budgetbeantragung eingebettet ist und welche Erwartungen ein Mensch mit Behinderung mit dem Persönlichen Budget verbindet. Dies soll Aufgabe der vorliegenden Untersuchung sein. Da eine solche Untersuchung aber nicht ohne entsprechende Annahmen auskommt, werden die allgemeinen Erwartungen ausführlich dargestellt und den individuellen Motiven gegenübergestellt. Dabei geht es vor allem auch darum herauszufinden, inwiefern sich diese theoretisch formulierten Erwartungen und Potenziale in den Bedürfnissen und Wünschen der Budgetbeantragenden tatsächlich niederschlagen, bzw. inwiefern die Beantragung und Verwendung Persönlicher Budgets einem allgemeinen Erwartungshorizont entsprechen. Aus diesem Grunde gilt es, die Heterogenität der Motivlagen und Formen der Budgetverwendungen zu sichten und zu systematisieren. Auf Basis des aus der wissenschaftlichen Begleitforschung zum bundesweiten Modellvorhaben zur Einführung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ vorliegenden Datenmaterials sollen die jeweiligen Beantragungsmotive von Budgetnehmer/innen sowie die Gestaltung und Organisation der Unterstützung analysiert und klassifiziert werden. Hierzu liegt ein Datensatz mit Befragungsergebnissen von 196 Budgetnehmer/innen vor (100 schriftliche Fragebögen, 53 telefonische Interviews, 43 persönliche Interviews). Die zwei Hauptfragen, die im Rahmen der empirischen Analyse untersucht werden, sind:
Warum entscheidet sich ein Mensch mit Behinderung für ein Persönliches Budget und welche Motive und Erwartungen stehen im Vordergrund? Damit in Verbindung steht auch die Frage, welche Bedeutung das Persönliche Budget in der unmittelbaren Lebenssituation der Budgetnehmer/innen hat und welcher spezifische Nutzen damit verbunden ist.
1.3 Aufbau der Arbeit
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Für was wird das Persönliche Budget verwendet und welche Arrangements trifft der/die Budgetnehmer/in zur Organisation seiner/ihrer Unterstützung? Diesbezüglich soll beleuchtet werden, inwiefern die Budgetverwendung der Intention der Budgetbeantragung entspricht und wie diese Verwendung in der spezifischen Lebenssituation verankert ist.
Die im Rahmen der Befragungen beobachtete Heterogenität der Beantragungsmotive und Verwendungsformen kann wiederum nur systematisiert werden, wenn die befragten Budgetnehmer/innen zu Gruppen zusammengefasst werden. Aus diesem Grunde bietet sich ein typisierendes Verfahren an. Ziel der Typenbildung ist demnach, Budgetnehmer/innen mit gleichen oder ähnlichen Motiven und Verwendungsformen zu Nutzertypen zusammenzufassen. Hintergrund dieser Strategie ist die Annahme, dass die Klärung der oben genannten Fragestellungen aufgrund der Vielfalt an Arrangements, die mit Hilfe von Persönlichen Budgets in der Praxis umgesetzt werden, ohne eine Typisierung nicht möglich wäre. Mit Hilfe einer typisierenden Vorgehensweise soll es gelingen, die hinter der Budgetbeantragung stehenden Motive zu systematisieren und letztendlich (vorläufige) Antworten darauf zu finden, ob man von generalisierbaren Zielen der Nutzung Persönlicher Budgets sprechen kann. Diesen Gedankengang zu Ende gedacht, eröffnet letztendlich eine Diskussion darüber, ob es vielleicht sinnvoller wäre, von verschiedenen Arten „Persönlicher Budgets“ zu sprechen, etwa „Teilhabe-Budgets“ für Freizeitaktivitäten, „flexibilisierte Sachleistungen“ usw. Ziel der nachfolgenden Analyse ist es daher, detaillierte Informationen über die verschiedenen Motivlagen, Präferenzen und Wünsche der Budgetnehmer/ innen zu sammeln und diese so zusammenzufassen, dass entsprechende Rückschlüsse auf Zielgruppen und den jeweiligen Zweck der Budgetnutzung gezogen werden können. Aus diesem Grunde soll die Arbeit einerseits die weitere wissenschaftliche Diskussion über die „Potenziale“ Persönlicher Budgets anregen, andererseits aber auch zur (Weiter-) Entwicklung der theoretischen Betrachtung von Funktionsweise und Nutzen Persönlicher Budgets beitragen. 1.3 Aufbau der Arbeit Eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets“ kommt ohne eine Klärung der relevanten Begriffe nicht aus. Daher ist die Arbeit dreigeteilt:
Erstens ist es notwendig, sich intensiv mit dem Begriff „Persönliches Budget“ zu beschäftigen. Hierbei müssen sowohl Definition als auch Kernidee des Persönlichen Budgets erläutert werden.
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1 Einleitung
Zweitens müssen die in der Literatur formulierten Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets systematisch zusammengetragen und aufgearbeitet werden. Dieser Teil der Analyse stellt damit die Auseinandersetzung mit den „Potenzialen“ des Persönlichen Budgets dar. Um schließlich die „Praxis“ der Budgetnutzung untersuchen zu können, werden die Ergebnisse verschiedener Modellprojekte gesichtet. Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei sowohl der Personenkreis der Budgetnehmer/ innen als auch die Budgetverwendung. Letztendlich stellt auch die nachfolgende empirische Typenbildung ein Versuch dar, die „Praxis“ der Budgetnutzung zu beschreiben.
Analog zu dieser Dreiteilung ist auch der Aufbau der Arbeit zu verstehen. Zunächst erfolgt eine Darstellung allgemeiner Grundlagen zum Thema Persönliches Budget (Kapitel 2). Ziel dieses Kapitels ist einerseits eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff „Persönliches Budget“, andererseits sollen aber auch Entwicklungen in der Behindertenhilfe beschrieben werden, die mit der Einführung Persönlicher Budgets zusammenfallen. Neben Rechtsgrundlagen und leistungsrelevanten Rahmenbedingungen bildet die Betrachtung dieser Entwicklungen, die gemeinhin unter dem Begriff „Paradigmenwechsel“ zusammengefasst werden, den Kern dieses Kapitels. Auf Basis der Auseinandersetzung mit diesem Paradigmenwechsel stehen dann in Kapitel 3 die „Potenziale“ Persönlicher Budgets im Zentrum. Schrittweise werden die verschiedenen Erwartungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets in Verbindung stehen, einigen wichtigen Entwicklungen in der Behindertenhilfe gegenübergestellt. Dabei zeigt sich deutlich, dass die vielfältigen Forderungen, Paradigmen und Konzepte der letzten Jahre in den Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets kumulieren. Genannt werden können beispielsweise das Selbstbestimmungsparadigma, verbesserte Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung, die Forderung nach Deinstitutionalisierung sowie das Normalisierungsprinzip. All diese Forderungen – so wird zu zeigen sein – scheinen in den Potenzialen des Persönlichen Budgets aufzugehen. Gleichsam ist diese Darstellung der Potenziale Persönlicher Budgets Ausgangspunkt der Betrachtung der Praxis der Budgetnutzung. Bevor jedoch die empirische Analyse der Budgetverwendung erfolgt, werden in Kapitel 4 und 5 internationale und nationale Erfahrungen mit der Umsetzung Persönlicher Budgets beschrieben. Länder wie Schweden, Großbritannien und die Niederlande verfügen dabei über langjährige Erfahrungen im Umgang mit dem Persönlichen Budget. Aus diesem Grunde wird die „Praxis“ der Budgetnutzung in diesen Ländern der Umsetzung Persönlicher Budgets in der Bundesrepublik Deutschland gegenübergestellt. Daran anschließend werden die Ergebnisse bisheriger Mo-
1.3 Aufbau der Arbeit
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dellvorhaben zur Erprobung Persönlicher Budgets in Deutschland im Hinblick auf Umsetzung und Personenkreis der Budgetnehmer/innen näher beschrieben. Vereinzelt liegen dabei auch Informationen zu den Hintergründen der Budgetbeantragung und Budgetnutzung vor. Da diese Themen im Zentrum der vorliegenden Auseinandersetzung stehen, werden die Motive und Erwartungen der Budgetnehmer/innen sowie die Budgetverwendung schwerpunktmäßig in Kapitel 5 behandelt. Den Abschluss bildet eine Darstellung zweier Typologien zur Nutzung Persönlicher Budgets. Gegenstand der beiden Kapitel 6 und 7 ist dann die empirische Analyse der Budgetnutzung auf Basis der Daten der bundesweiten Modellerprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“. Zunächst werden in Kapitel 6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse beschrieben. Das methodische Vorgehen besteht dabei aus einer Verschränkung qualitativer und quantitativer Auswertungsschritte. In Kapitel 7 werden die Auswertungsergebnisse schließlich vorgestellt, diskutiert und zu einer empirisch begründeten Typologie verdichtet. Im Anschluss daran dient Kapitel 8 der zusammenfassenden Darstellung der gefundenen Typologie. Die empirisch gewonnen Typen werden in diesem Kapitel nochmals im Hinblick auf zentrale Merkmale und Eigenschaften beschrieben und mit realtypischen Fallbeispielen untermauert. Kapitel 9 stellt den Abschluss der Arbeit dar. Ziel dieses Kapitels ist es, die gewonnenen Erkenntnisse den eingangs dargestellten Erwartungen und Potenzialen gegenüberzustellen.
2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Kaum eine Entwicklung hat die Diskussion um Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung in den letzten Jahren so geprägt wie das Persönliche Budget. In dem Modellprojekt „Persönliches Budget für Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg“ (Oktober 2001 – Mai 2005) wurde eingangs formuliert: „‚Persönliche Budgets‘ sind die in der Bundesrepublik zurzeit meist diskutierte Innovation in der Behindertenhilfe und Rehabilitation“ (Kastl, Metzler 2005, 9). An der Aktualität dieser Aussage dürfte sich vier Jahre später nur wenig geändert haben und die Diskussionen über Chancen und Risiken, Potenziale und Grenzen Persönlicher Budgets halten weiterhin an, auch und gerade aufgrund des Abschlusses der bundesweiten Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (Oktober 2004 – Juli 2007) sowie des Rechtsanspruchs auf ein Persönliches Budget seit dem 01.01.2008. Die Reichweite und Bedeutung des Themas sowie die vielfältigen Diskussionen über das Persönliche Budget zeigen sich jedoch nicht nur in der bundesweiten Ausrichtung der Modellprojekte, deren wissenschaftliche Begleitung im Sommer 2007 endete (zu den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitforschung vgl. Metzler u.a. 2007), sondern auch in einer Vielzahl an Fachtagungen und -vorträgen, die im selben Jahr zu diesem Thema durchgeführt wurden. Unter dem mehr als treffenden Wortlaut „Budget-Tour“ wurden beispielsweise von September 2007 bis November 2007 mit Abschluss der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ bundesweit über 20 Informationsveranstaltungen in sämtlichen Bundesländern durchgeführt.1 Neben dieser deutschlandweiten Informationskampagne können im zweiten Halbjahr 2007 weitere unzählige Fachtagungen ausgemacht werden, die das Persönliche Budget, dessen Einführung sowie diverse Verwendungsmöglichkeiten zum Thema hatten. Inhaltlich erstreckten sich diese von allgemeinen Informationsveranstaltungen zum Persönlichen Budget über spezielle Fachtagungen wie „Persönliche Budgets für Arbeit“ bis hin zu auf spezifische Ziel-
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Vgl. dazu die Internetplattform der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2007. Ausführliches Programm unter: www.budget-tour.de.
T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
gruppen zugeschnittene Themen wie beispielsweise „Persönliche Budgets für Künstler mit Behinderung“.2 In der Folgezeit scheint die Aktualität des Themas „Persönliche Budgets“ keinesfalls abgenommen zu haben, sicher auch bedingt durch den mittlerweile bestehenden Rechtsanspruch. Dies bestätigt eine weiter anhaltende Publikationstätigkeit sowie ein nach wie vor bestehendes hohes Interesse an Informationsveranstaltungen und Fachvorträgen: „Das Persönliche Budget ist aktuell in aller (Fachleute-) Munde; es gibt unzählige Veröffentlichungen, Vorträge, Veranstaltungen, neue Beratungsstellen zum Thema Persönliches Budget – alle mit dem Ziel, das Persönliche Budget verstärkt nutzbar zu machen“ (Scholdei-Klie 2009, 4).
Die dabei zu beobachtende Rhetorik zeichnet zwar insgesamt ein äußerst positives Bild und einige Akteure sehen in dem Persönlichen Budget bereits seit längerem die „Zukunft der Behindertenhilfe“ schlechthin,3 andere spötteln aber gerade wegen des oben genannten „Veranstaltungsrummels“, dass es mehr Veranstaltungen zum Thema „Persönliches Budget“ geben würde, als Persönliche Budgets selbst (vgl. Meyer, Rauscher 2007a, 4). Betrachtet man die Anzahl bewilligter Persönlicher Budgets, die bislang im Rahmen regionaler Modellprojekte in verschiedenen Bundesländern realisiert wurden, ist dieser Spott teilweise verständlich, denn in den verschiedenen Projekten, die in der Bundesrepublik seit 1998 durchgeführt wurden, übersteigt die Anzahl bewilligter Persönlicher Budgets in der Regel kaum die Zahl 100. In dem bundesweit ersten regionalen Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets in vier Kommunen in Rheinland-Pfalz wurden im Zeitraum von September 1998 bis Dezember 2000 insgesamt 119 Persönliche Budgets ausschließlich im Bereich der Eingliederungshilfe bewilligt (vgl. Kaas 2002). In dem Modellprojekt in Baden-Württemberg konnten zwischen 2002 und 2005 in drei Landkreisen insgesamt 37 Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger und 12 Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung realisiert werden (vgl. Kastl, Metzler 2005). Ähnlich viele Budgets (53 Budgets; ausschließlich im Bereich der ambulanten Eingliederungshilfe) wurden im Rahmen einer Modellerprobung 2
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Es kann an dieser Stelle nur eine exemplarische Nennung entsprechender Fachtagungen erfolgen. Das Thema „Persönliche Budgets für Künstler mit Behinderung“ war beispielsweise Gegenstand auf dem von EUCREA Deutschland e.V. veranstalteten Forum „Perspektiven: Persönliches Budget für Künstler mit Behinderung? Finanzierung und Organisationsstrukturen von Kunstprojekten“ vom 06.12.-08.12.07 in Berlin (vgl. www.eucrea.de). Exemplarisch kann hier die Überschrift eines im Jahr 2005 veröffentlichten Artikels von Jähnert genannt werden: “Das Persönliche Budget ist die größte Chance aller Zeiten (…)“ (Jähnert 2005, 32).
2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
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in drei Landkreisen in Niedersachsen zwischen Januar 2004 bis Dezember 2005 bewilligt (vgl. Windheuser u.a. 2006). In zwei weiteren Modellprojekten – in Hamburg zwischen Januar 2003 und Juni 2005 sowie in Bayern im Regierungsbezirk Mittelfranken zwischen Juli 2003 und Juni 2004 – wurden jeweils 18 und 10 Persönliche Budgets umgesetzt (vgl. Metzler u.a. 2007, 35). Erst im Zuge der bundesweiten Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ in insgesamt 14 Modellregionen verteilt über acht Bundesländer konnten in nennenswertem Umfang Persönliche Budgets dokumentiert werden. Mit Abschluss der wissenschaftlichen Begleitforschung im Juli 2007 wurden 494 bewilligte Budgets in den Modellregionen gezählt; 353 weitere Persönliche Budgets konnten zudem außerhalb der Modellregionen erfasst werden. Insgesamt stützt sich die wissenschaftliche Begleitforschung auf 847 dokumentierte Budgets (vgl. Metzler u.a. 2007). Auch wenn in der Summe bundesweit über 800 persönliche Budgets bewilligt wurden, muss jedoch auch in diesem Fall einschränkend angemerkt werden, dass es keiner einzigen der 14 Modellregionen im Zeitraum zwischen Herbst 2004 und Sommer 2007 gelungen war, mehr als 100 Persönliche Budgets umzusetzen. Allerdings scheint die Umsetzung Persönlicher Budgets nach Abschluss der bundesweiten Modellerprobung im Juli 2007 weiter an Dynamik zu gewinnen. Beispielsweise wurden nach Aussagen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „im zweiten Halbjahr 2007 rund 1.000 neue Persönliche Budgets bewilligt“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008). Bundesweite Zahlen zur Entwicklung der Budgetbewilligungen im Jahre 2008 liegen nach Abschluss der Modellprojekte allerdings nicht vor, da „übergreifende statistische Daten seit der Modellerprobung nicht mehr zur Verfügung stehen“ (Metzler 2009, 18). Schätzungen stützen sich daher lediglich auf eine von Metzler (2009) durchgeführte Abfrage des Sachstands bewilligter Budgets in den ehemaligen Modellregionen sowie in einigen nicht an der Modellerprobung beteiligten Bundesländern. Diese Nacherhebung zeigt dabei eine weitere kontinuierliche Zunahme Persönlicher Budgets, wobei insbesondere Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger dominieren: „Trotz des unvollständigen Überblicks über die Umsetzung Persönlicher Budgets seit Inkrafttreten des Rechtsanspruchs zum 1. Januar 2008 lässt sich zumindest in einigen der ehemaligen Modellregionen eine kontinuierlich steigende Nachfrage konstatieren. (…) Erkennen lässt sich darüber hinaus, dass Persönliche Budgets nach wie vor vor allem ein Thema der Sozialhilfeträger sind; Leistungen der Eingliederungshilfe und hier insbesondere Leistungen zur Unterstützung selbstständigen Wohnens dominieren nach wie vor. Soweit zuverlässige statistische Aussagen vorliegen, haben in diesem Bereich Budgetnehmer/innen einen Anteil zwischen 0,5% und 1,5% unter allen Menschen erreicht, die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen. Würde man diese Anteile auf alle Empfänger/innen von Eingliederungshilfe
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
im Bundesgebiet hochrechnen, käme man auf Budgetnehmerzahlen zwischen 3.000 und 9.000 Menschen mit Behinderung“ (Metzler 2009, 28).
Auch wenn sich die Entwicklung demnach positiv darstellt, werden weitere politische Bemühungen unternommen, die Umsetzung Persönlicher Budgets zu beschleunigen. Die Aktualität des Themas wird dabei nicht zuletzt in einem gegenwärtig laufenden Förderprogramm des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales deutlich, durch das die Nutzung Persönlicher Budgets auch über die bundesweite Modellerprobung hinaus weiter vorangetrieben werden soll: „Um eine stärkere Nutzung Persönlicher Budgets zu erreichen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Jahre 2008 bis 2010 ein Förderprogramm aufgelegt. Hierein fließen aus dem Bundeshaushalt 2,1 Millionen und aus dem vom Beirat für die Belange behinderter Menschen verwalteten Ausgleichsfonds 1,7 Millionen Euro. Mit diesen Mitteln werden zur Zeit 25 Modellprojekte gefördert“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008).
Bereits seit den ersten regionalen Modellvorhaben in einzelnen Bundesländern gehen die Meinungen über das Persönliche Budget auseinander: „Die umfassende Einführung Persönlicher Budgets wird als zentraler Hebel der Modernisierung verstanden – Kritiker sprechen eher von einer Brechstange“ (Hansen 2006, 24). Die auch gegenwärtig zu beobachtende Diskussion besteht aus konträren Meinungen, die sich zu folgendem Stimmungsbild zusammenfassen lassen: Einerseits wird das Persönliche Budget als überflüssig erachtet, teilweise auch direkt abgelehnt. Die Vertreter dieser Gruppe befürchten eher das Motiv der „Kosteneinsparung“ von Seiten der Leistungsträger und negative Begleiterscheinungen für die Leistungsberechtigten (beispielsweise „Versorgungsengpässe“). Andere Stimmen befürworten dahingegen eine Einführung und flächendeckende Umsetzung Persönlicher Budgets, während die dritte Gruppe eher eine „Ja, aber“ – Position einnimmt. Im letzteren Falle wird zwar die Bedeutung Persönlicher Budgets zur Stärkung von Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung ausdrücklich hervorgehoben, andererseits werden gleichzeitig in fehlenden Rahmenbedingungen wie z.B. mangelnde ambulante Angebotsstrukturen, fehlende Beratung, ungeklärte Fragen hinsichtlich der Bedarfsfeststellung usw. entscheidende Risiken gesehen (vgl. Meyer, Rauscher 2007a, 4). Im Folgenden sollen daher zunächst einige Grundannahmen und die Kernidee Persönlicher Budgets dargelegt werden. Dieser Zugang ist nötig, um sich den jeweiligen Potenzialen und auf theoretischer Ebene formulierten allgemeinen Erwatungen nähern zu können. In den nachfolgenden Kapiteln 2.1 und 2.2 werden zunächst der Begriff des Persönlichen Budgets sowie gesetzliche Grundlagen skizziert. Darauf aufbauend gilt es zu zeigen, inwiefern das Persönliche
2.1 Zum Begriff „Persönliches Budget“ – Definition und Grundidee
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Budget gemeinhin in einen allgemeinen „Paradigmenwechsel“ in der Behindertenhilfe gestellt werden kann (Kapitel 2.3) und welche Erwartungen damit verbunden sind (Kapitel 3). Die Ausführungen markieren das Themenspektrum „Potenziale“ Persönlicher Budgets und sind Ausgangsbasis der weiteren Betrachtung der „Praxis“ der Budgetbeantragung und -verwendung, wie sie sich in verschiedenen regionalen Modellprojekten und insbesondere im Kontext der Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zum bundesweiten Modellvorhaben „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“ darstellt (Kapitel 4). 2.1 Zum Begriff „Persönliches Budget“ – Definition und Grundidee Gesetzlich verankert ist das Persönliche Budget im Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), allerdings lässt sich in den Gesetzestexten keine explizite Definition des Begriffs „Persönliches Budget“ finden (vgl. Diemer 2002, 398; Wessel 2007, 21). Aus diesem Grund werden im Folgenden einige exemplarische Definitionen aus verschiedenen Quellen vorgestellt, die jeweils für sich gesehen unterschiedliche Kernelemente des Begriffs „Persönliches Budget“ explizieren und thematisieren. Die nachfolgende Betrachtung stellt dabei keine systematische Sammlung sämtlicher verfügbarer Definitionen dar und soll eher dazu dienen, die Verschiedenheit der Schwerpunktsetzung einzelner (Teil-) Aspekte in den verschiedenen Definitionen zu verdeutlichen. Abschließend soll auf Basis dieser Kernelemente der Versuch einer umfassenden Definition Persönlicher Budgets gewagt werden. Einen ersten Zugang zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den verschiedenen Definitionen erhält man, wenn man das Begriffspaar „Persönliches Budget“ in seine beiden Bestandteile „Persönlich“ und „Budget“ zerlegt. Zunächst gilt es, die Begrifflichkeit „Persönlich“ näher zu betrachten. Der Begriff „Persönlich“ verweist zuallererst auf einen besonderen Bezug zu einem jeweiligen „persönlichen Bedarf“, für dessen Deckung das Budget gedacht ist. „Persönlich“ ist das Persönliche Budget also vor allem deswegen, weil es sich auf einen persönlichen Hilfe- und Unterstützungsbedarf bezieht. Beispielsweise lassen sich Definitionen finden, in denen vordergründig und explizit die Relevanz einer individuellen Bemessung des zur Verfügung gestellten Geldbetrags hervorgehoben wird („Persönliches Budget“). Hierbei wird herausgestellt, dass die zu bewilligenden Geldleistungen den individuellen Unterstützungsbedarf bestmöglich abbilden sollen: „Bei einem Persönlichen Budget erhält der behinderte Mensch einen nach dem persönlichen Bedarf ermessenen Geldbetrag, mit dem er die benötigten Leistungen einkaufen kann“ (Fritz 2006, 2).
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
„Menschen mit Behinderung erhalten statt einer Sachleistung (…) einen bestimmten Geldbetrag. Dieser Geldbetrag (…) soll in einer Weise zugeschnitten sein, dass man damit einen regelmäßig erwartbaren Bedarf der Lebensführung decken kann“ (Wacker u.a. 2005, 32). „Seit dem 1. Juli 2004 können behinderte Menschen nun ein auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmtes Persönliches Budget beantragen. Das Budget bekommen sie als direkte Geldleistung bar auf ihr Konto ausgezahlt (…). Damit können die erforderlichen Leistungen individuell zusammengestellt und eingekauft werden“ (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2007).
Der Begriff „Persönlich“ kann aber auch anders verstanden werden. So verweist der Begriff auf eine Bindung der bewilligten Geldleistung an eine bestimmte Person und damit auch an eine bestimmte „persönliche“ Lebenssituation. Das Persönliche Budget ist insofern „persönlich“, weil es einer bestimmten Person bewilligt wurde und im Kontext der Lebenssituation dieser Person einen spezifischen Nutzen erfüllt. Es handelt sich also immer auch um einen „persönlichen“ Geldbetrag, der einer Person – und nur dieser Person – aufgrund leistungsrechtlicher Ansprüche zur Verfügung gestellt wird und über den diese Person im Kontext ihrer „persönlichen“ Lebenssituation verfügen darf. Entsprechend unterliegen Inhalt sowie Sinn und Zweck der Verwendung einem jeweiligen persönlichen Nutzen. Aus diesem Grunde sind es immer auch die persönlichen Erwartungen und Lebenssituationen der betreffenden Personen, die das Persönliche Budget „persönlich“ machen. Dieser Gedanke wird zum Abschluss des Kapitels nochmals aufgegriffen. In einem zweiten Schritt soll nun der Begriff „Budget“ beleuchtet werden. So wird in anderen Definitionen insbesondere der „Budgetcharakter“ des Persönlichen Budgets in den Vordergrund gestellt. Der Budgetbegriff impliziert dabei, dass es sich um einen Geldbetrag handelt, der für bestimmte Zwecke und für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung gestellt wird. Bezogen auf das Persönliche Budget bedeutet dies:4 „(…) Menschen mit Behinderung [wird] mit einem Persönlichen Budget ein Betrag für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung gestellt, mit dem die Organisation und Ausgestaltung ihrer Unterstützung geplant und umgesetzt werden kann“ (Wacker u.a. 2005, 32).
Der Budgetbegriff ist also ebenso konstitutiv für die Idee des Persönlichen Budgets und kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: Zum einen verweist der Begriff „Budget“ auf einen Geldbetrag, der es den Budgetnehmenden ermöglichen soll, entsprechend planen zu können. Sinn und Zweck eines Budgets ist es 4
Zum Budgetbegriff vgl. auch Kastl, Metzler 2005, S 13f.
2.1 Zum Begriff „Persönliches Budget“ – Definition und Grundidee
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schließlich, entsprechende Ausgaben zu tätigen und dafür einen plan- und erwartbaren finanziellen Rahmen zur Verfügung zu haben. Bei dem Persönlichen Budget handelt es sich daher zuallererst um einen Geldbetrag, über den die betreffenden Personen regelmäßig verfügen und damit auch entsprechend „haushalten“ können. Die benötigte Unterstützung wird selbstständig organisiert und aus diesem Geldbetrag bezahlt: „‚Das Persönliche Budget ist die Bewilligung einer Sozialleistung in Form einer Geldleistung. Menschen mit Behinderung können diese Geldleistung erhalten, um ihren Unterstützungsbedarf zu decken. Die für die Bedarfsdeckung erforderlichen Sach- und Dienstleistungen werden selbstständig ausgesucht und eigenverantwortlich eingekauft‘“ (Projektbericht Niedersachsen 2004 zitiert in Jähnert 2005, 32).
Wie die Definition zeigt, beinhaltet der Begriff „Budget“ aber auch, dass Menschen mit Behinderung ihre Unterstützung in eigener Verantwortung finanzieren. Aus diesem Grund ist das Persönliche Budget von seiner Grundidee her disponibel und kann für mehr oder weniger definierte Zwecke nach eigenen Vorstellungen eingesetzt werden. Neben dem monetären Charakter verweist die Begrifflichkeit „Budget“ daher insbesondere auch auf die Möglichkeit, über diesen Geldbetrag (über das „Budget“) „eigenverantwortlich“ und mehr oder weniger „frei“ verfügen zu können, was auch in der folgenden Definition explizit herausstellt wird: „Bei einem Persönlichen Budget handelt es sich um eine finanzielle Leistung, die Menschen mit Behinderungen zukommen und über die sie mehr oder weniger frei verfügen können“ (Schlüter, Vogdt 2007, 24).
Neben dieser Betonung auf die „Eigenverantwortung“ und „Verfügungsgewalt“ über die bewilligten monetären Leistungen finden sich in anderen Definitionen gleichzeitig aber auch Hinweise auf die angestrebten „Wirkungen“ Persönlicher Budgets, die auf Seiten der Budgetnutzer/innen erhofft werden. Genannt werden z.B. die Stärkung von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung von Menschen mit Behinderung sowie eine größere Flexibilität in der Auswahl und Gestaltung der Unterstützung. Diese Wirkungsebene wird exemplarisch in der folgenden Definition aus dem baden-württembergischen Modellprojekt zur Erprobung Persönlicher Budgets dargestellt: „Die Grundidee Persönlicher Budgets lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Menschen mit Behinderung erhalten einen bedarfsbezogenen Geldbetrag, mit dem sie selbst die für sie erforderlichen Unterstützungsleistungen auswählen und diese finanzieren. Intendiert ist mit diesem Ansatz, Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume für ihr Alltagsleben auszuweiten sowie ihre sozialen Teilhabechancen zu erhöhen“ (Kastl, Metzler 2005, 13).
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Diese in der Begrifflichkeit „Budget“ angelegten „Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume“ rücken in anderen Definitionen noch mehr in den Vordergrund. Insbesondere die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung sowie deren Einflussnahme auf die Organisation und Gestaltung der Unterstützung stehen dabei oftmals explizit im Zentrum der Aussagesysteme, wie auch die folgenden drei Definitionen zeigen: „Ein Persönliches Budget ist ein Geldbetrag, mit dem Sie selbst Unterstützung/Fürsorge, Hilfe und Begleitung einkaufen können. Sie wählen selbst Ihre Hilfeleister und Begleiter aus oder Sie heuern eine Organisation an, die in Ihrem Auftrag an die Arbeit geht. Sie treffen Absprachen darüber, was getan werden muss, an welchen Tagen und zu welcher Zeit der Helfer/die Helferin für Sie arbeitet, sowie die Vergütung, die Sie aus dem Persönlichen Budget dafür bezahlen. Auf diese Weise liegt die Regie über die Hilfe bei Ihnen. Sie behalten die Fäden Ihres eigenen Lebens selbst in den Händen“ (Per Saldo 2007 zitiert in Kastl, Meyer 2007, 187). „Ein ‚Persönliches Budget‘ kann dazu dienen, den behinderungserfahrenen Personen selbst das Steuer für ihre Lebensführung in die Hand zu geben. Mit den für die hilfreichen und bedeutungsvollen Unterstützungen sollen sie die Mittel erhalten, die für ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft notwendig sind“ (Wansing u.a. 2004, 319). „Mit den Geldleistungen können Menschen mit Behinderung bedarfsgerecht und wunschgemäß Unterstützung bei professionellen Dienstleistern erwerben, nach dem Arbeitgebermodell Persönliche Assistenten einstellen oder Hilfen privat organisieren. Dabei werden wesentliche sachliche, soziale und zeitliche Entscheidungsspielräume geschaffen, welche zu einer individualisierteren Lebensführung beitragen und dem Budgetnehmer mehr Kontrolle über das eigene Leben ermöglichen“ (Wacker u.a. 2005, 31).
Neben den angestrebten Wirkungen auf Seiten der Budgetnutzer/innen werden aber auch noch auf anderen Ebenen Effekte antizipiert; beispielsweise Auswirkungen auf Seiten der Leistungsanbieter bzw. -erbringer.5 Demnach soll die Umsetzung und Nutzung Persönlicher Budgets auch dazu beitragen, dass sich Angebotsstrukturen verändern, weil eine stärkere Einflussnahme der Budgetnehmenden auf die Gestaltung und Organisation der Unterstützung – so die Vermutung – einen Einfluss auf den Markt sozialer Dienstleistungen haben wird. Deutlich wird dies in den folgenden drei Beispielen: 5
Zur Unterscheidung: Unter dem Begriff „Leistungsanbieter“ sind sämtliche Einrichtungen oder Dienste der Behindertenhilfe subsumiert, die allgemein Leistungen für Menschen mit Behinderung anbieten. Unter dem Begriff „Leistungserbringer“ werden dann diejenigen Einrichtungen oder Dienste verstanden, die im konkreten Fall eine Leistung erbringen (vgl. Windheuser u.a. 2006, 10).
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„Die Leistungsform des Persönlichen Budgets wurde mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zum 1. Juli 2001 eingeführt. (…). Damit werden behinderte Menschen zu Budgetnehmern/Budgetnehmerinnen, die den ‚Einkauf‘ der Leistungen eigenverantwortlich, selbstständig und selbstbestimmt regeln können; sie werden Käufer, Kunden oder Arbeitgeber. Als Experten in eigener Sache entscheiden sie so selbst, welche Hilfen für sie am besten sind und welcher Dienst und welche Person zu dem von ihnen gewünschten Zeitpunkt eine Leistung erbringen soll“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2007). „Das Persönliche Budget wird eines der wichtigsten sozialpolitischen Themen der nächsten Jahre sein. Nach den neuen Regelungen im Sozialgesetzbuch (…) können Menschen mit gesetzlichen Hilfeansprüchen (…) ein individuell berechnetes Persönliches Budget bekommen. Mit diesem Geld oder mit Gutscheinen sind sie dann – oder Angehörige und Betreuer – in der Lage, selbst die erforderlichen Hilfen auswählen, ihre Gestaltung mitzubestimmen und bezahlen. Die Idee: Aus Klienten sollen Kunden werden, die durch ihre Selbstzahlerrolle mehr Einfluss auf Art und Weise der Hilfe haben“ (Paritätischer Wohlfahrtsverband 2005 zitiert in Kron 2005, 14). „Ein Persönliches Budget bedeutet (…) eine Umlenkung der wohlfahrtstaatlichen Geldmittel vom Anbieter zum Nutzer der Leistungen (…). Menschen mit Behinderung sollen dadurch mehr Kontrolle über die Auswahl und Gestaltung der individuell erforderlichen Unterstützungsleistungen erhalten (…). Mit der Erbringung von Geldleistungen geht ein erheblicher Machtwechsel zugunsten der behinderten Menschen einher (…). Die Kundenposition der Menschen mit Behinderung wird erheblich dadurch gestärkt, dass sie über die finanziellen Ressourcen verfügen (…). Qualität ergibt sich dann nicht mehr allein durch das Angebot und die Kontrolle der aus Sicht von Anbietern und Kostenträgern als notwendig definierten Hilfen, sondern der Budgetnehmer steuert die Qualität selbst“ (Wacker u.a. 2005, 32).
Eine wichtige Rolle zur Bestimmung der Grundidee Persönlicher Budgets stellt in verschiedenen Definitionen insbesondere auch die anspruchsrelevante Koppelung zur sogenannten Sachleistung dar. Persönliche Budgets sind als Alternative zur Sachleistung zu verstehen, und es wird in verschiedenen Definitionen immer wieder darauf hingewiesen, dass ein entsprechender Leistungsanspruch vorliegen muss – unabhängig davon, ob eine Sachleistung oder ein Persönliches Budget gewählt wird. Persönliche Budgets sind nicht als eine neue bzw. eigenständige Leistungskategorie zu verstehen, sondern als eine mögliche Form der Leistungsausführung. Deutlich herausgestellt wird dies in den folgenden zwei Definitionen: „Das Persönliche Budget ist keine neue Leistung, sondern betrifft die Ausführung bereits bestehender Leistungen. Es eröffnet insbesondere einen neuen Zahlungsweg zwischen dem leistungsberechtigten behinderten Menschen (Budgetnehmer) und dem Leistungserbringer (Dienst, Einrichtung)“ (Lachwitz 2004, 12).
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
„Das Persönliche Budget ist keine neue Leistungsart, sondern eine neue Leistungsform. Es kann deshalb nur für eine Leistung erbracht werden, auf die der behinderte Mensch auch ohne Budget einen Anspruch hat“ (Scholdei-Klie 2009, 7).
Dadurch, dass es sich nicht um eine eigenständige Leistungskategorie handelt, sondern um eine alternative Form, in der die Leistungen ausgeführt werden können, gelten für die Beantragung Persönlicher Budgets die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen der jeweiligen Rehabilitationsträger. Im Rahmen eines Persönlichen Budgets können daher auch nur (Einzel-) Leistungen gewährt werden, die in den jeweiligen Leistungsgesetzen geregelt sind. Die Antragsteller/innen müssen demnach einen Leistungsanspruch formulieren. Diese in den jeweiligen Gesetzen definierten Leistungen werden dann in einen entsprechenden Geldwert „umgemünzt“ (vgl. Kastl, Metzler 2005, 25).
Zusammenfassung Die dargestellten Definitionen verweisen auf einige zentrale Gemeinsamkeiten, die für das Verständnis Persönlicher Budgets grundlegend erscheinen. Demnach lassen sich im Wesentlichen vier Konstanten herausarbeiten, welche die Grundidee des Persönlichen Budgets charakterisieren (vgl. dazu ähnlich Kastl, Metzler 2005, 13ff.): 1.
2.
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Dem Wortlaut nach sind „Persönliche Budgets“ immer als „persönlich“ zu werten, d.h. beschreiben einen auf die jeweilige Person zugeschnittenen Geldbetrag,6 der sich an einem individuellen Bedarf orientiert. Demnach sind Persönliche Budgets an eine bestimmte Person und deren Unterstützungsbedarf gebunden und erfüllen einen spezifischen Nutzen in der konkreten Lebenssituation dieser Person. Aufgrund dieses spezifischen Nutzens sollten bei der Bewilligung eines Persönlichen Budgets auch immer die individuellen Intentionen und Umsetzungswünsche berücksichtigt werden. Weiterer Bestandteil des Terminus „Persönliches Budget“ ist der Begriff „Budget“. Diese Begrifflichkeit beinhaltet den Gedanken der Erwartbarkeit, der es den Budgetnehmenden ermöglichen soll, entsprechend planen zu können. Nicht umsonst wird in den gesetzlichen Grundlagen festgelegt, dass Persönliche Budgets bei laufenden Leistungen „monatlich“ ausbezahlt werAuch wenn in „begründeten“ Fällen Gutscheine ausgegeben werden können, sind Persönliche Budgets dem Sinn nach eine Geldleistung, d.h. den Budgetnehmer/innen wird ein (bedarfsbezogener) Geldbetrag zur Verfügung gestellt, um Unterstützung, Begleitung, Betreuung usw. selbst auszuwählen und „einzukaufen“.
2.1 Zum Begriff „Persönliches Budget“ – Definition und Grundidee
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den sollen (vgl. § 17 Abs. 3 SGB IX). Das Persönliche Budget soll demnach in regelmäßigen Abständen und in Form einer relativ gleichbleibenden Summe genutzt werden können. Für die Leistungsträger beinhaltet dieses definitorische Merkmal eine inhärente Verpflichtung, den Leistungsberechtigten einen Geldbetrag zur Verfügung zu stellen, der hinsichtlich Höhe und Auszahlungszeitpunkt gleichbleibend und damit erwartbar ist. Den Leistungsempfängern ermöglicht dies dann eine gewisse „Planungssicherheit“, denn die Budgetnehmer/innen sind aufgrund der durch die Transformation der Sachleistung in ein Persönliches Budget abstrakt gewordenen Unterstützung („bedarfsbezogener Geldbetrag“) darauf angewiesen, eine Regelmäßigkeit zu erkennen. Dies gelingt nur, wenn Zahlungen regelmäßig eingehen und eine solche Sicherheit soll durch den Budgetcharakter ermöglicht werden. Dieses Merkmal steht dabei im Gegensatz zu einmaligen Zahlungen, d.h. es „wird im Unterschied zu einer einfachen, d.h. einmaligen Geldleistung die Auszahlung eines bestimmten Betrags für einen längeren Zeitraum zugesichert, mit dem ein planbarer, d.h. erwartbarer regelmäßiger bzw. andauernder Bedarf gedeckt werden kann. Die Budgetnehmerin/der Budgetnehmer kann im Unterschied zu einer einmaligen Geldleistung über einen längeren Zeitraum mit Mitteln ‚rechnen‘“ (Kastl, Metzler 2005, 13).7
7
Es kann an dieser Stelle nicht abschließend diskutiert werden, inwiefern nur „regelmäßige“ Zahlungen und nicht auch „Einmalzahlungen“ als Persönliche Budgets verstanden werden können. So wurden in den bundesweiten Modellvorhaben zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ auch Fälle dokumentiert, in denen den Leistungsberechtigten Geldbeträge als Einmalzahlung zur Verfügung gestellt wurden (z.B. für bestimmte Maßnahmen oder Anschaffungen). Folgt man den Ausführungen von Kastl und Metzler (2005), die sich auf eine Definition aus der Betriebswirtschaftlehre stützen, in der unter einem „Budget“ ein „Plan“ verstanden wird, „der – für einen bestimmten Zeitraum – die Allokation finanzieller Ressourcen steuert“ (Gabler 2001 zitiert in Kastl, Metzler 2005, 13), wird man solche Einmalzahlungen nicht als Persönliches Budget werten können. Versteht man in der genannten Definition den Begriff „Zeitraum“ jedoch unabhängig von dem Zeitpunkt der Auszahlung des Geldbetrags, so wären durchaus auch Einmalzahlungen im Rahmen von Persönlichen Budgets denkbar, nämlich als Zahlungen, die bedarfsbezogen für einen längeren Zeitraum bemessen werden (z.B. für mehrere Monate), aber nicht monatlich sondern als Gesamtsumme zum Beginn der Inanspruchnahme ausbezahlt werden. So kann es auf der einen Seite sinnvoll sein, ein monatliches Budget in Höhe von 500€ über einen Zeitraum von einem halben Jahr zur Verfügung zu stellen, um regelmäßig, d.h. kontinuierlich und wiederkehrend den Bedarf zu decken. Auf der anderen Seite sind aber auch Szenarien denkbar, in denen ein Budget als Summe zur Verfügung gestellt wird und der Budgetnehmer sich dann diesen Gesamtbetrag über einen festgelegten Zeitraum selbst „einteilen“ muss. In beiden Fällen handelt es sich um ein Budget, das für bestimmte Ziele eingesetzt werden darf und in beiden Fällen bezieht sich das Budget auf einen definierten Zeitraum, unabhängig vom Zeitpunkt der Auszahlung. Im Folgenden sollen daher auch solche Einmalzahlungen als Persönliche Budgets verstanden werden, bei denen die Verwendung des Geldbetrags einen längeren Zeitraum umfasst.
38 3.
4.
2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Weiterhin werden „Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume“ als ein Kernelement Persönlicher Budgets vorgehalten, wobei auf sachliche, soziale und zeitliche Dispositionsspielräume verwiesen wird. Sachliche Dispositionsspielräume beziehen sich auf das „was“ und „wie“ der Leistungserbringung, d.h. auf Inhalte der Leistungen und Art der Ausführung. Soziale Dispositionsspielräume hingegen zielen auf das „wer“ ab und beschreiben die Auswahl der Leistungsanbieter bzw. der jeweiligen Organisationsform (Auftragsmodell; Arbeitgebermodell). Zeitliche Dispositionsspielräume schließlich umfassen das „wann“ und „wie oft“ der Leistungserbringung und markieren die Möglichkeit, den Zeitpunkt selbst wählen zu können (vgl. ebd., 13f.). Ausgehend von diesen Dispositionsspielräumen werden ferner Impulse zur (Weiter-) Entwicklung und Veränderung bestehender Angebotsstrukturen erhofft. Zuletzt sind Persönliche Budgets nicht als neue Leistungen im Sinne eines neuen Leistungstatbestands zu verstehen, sondern lediglich als eine alternative bzw. „neue“ Form der Ausführung von Leistungen.
Zusammenfassend lässt sich die Grundidee Persönlicher Budgets wie folgt charakterisieren:
Das Persönliche Budget ist erstens persönlich, weil es einen persönlichen Bedarf abbildet. Neben dieser Bezugnahme auf einen persönlichen Bedarf ist das Persönliche Budget aber auch persönlich im Sinne einer persönlichen Lebenssituation, in die das Persönliche Budget eingebettet ist und einen spezifischen Nutzen erfüllt. Entsprechend sind die individuellen Motive und Erwartungen der Budgetnehmenden sowie die jeweils konkreten Umsetzungswünsche zu berücksichtigen. Der Begriff Persönliche Budget bezielt sich zweitens auf den Charakter eines Budgets, weil es sich um einen Geldbetrag handelt, der für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung gestellt wird und dem Leistungsberechtigten eine gewisse Planungssicherheit gibt. Der wesentliche Nutzen des Persönlichen Budgets für die Leistungsempfänger besteht drittens darin, dass die Leistungsberechtigten Zeitpunkt, Art und Inhalt der Leistungserbringung sowie die Leistungserbringer in eigener Verantwortung auswählen und finanzieren können und dadurch mehr Einfluss auf die Art, Gestaltung und Qualität der Leistungserbringung haben, weil sie selbst über die finanziellen Ressourcen verfügen. Das Persönliche Budget ist viertens keine neue Leistung, sondern eine neue Form der Leistungsausführung. Entsprechend müssen die Antragsteller/innen einen Leistungsanspruch gegenüber einem Rehabilitationsträger haben.
2.2 Rahmenbedingungen der Einführung Persönlicher Budgets
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2.2 Rahmenbedingungen der Einführung Persönlicher Budgets – Rechtsgrundlagen und budgetfähige Leistungen 2.2 Rahmenbedingungen der Einführung Persönlicher Budgets 2.2.1 Rechtsgrundlagen Der Begriff „Persönliches Budget“ findet in der bundesdeutschen Sozialgesetzgebung erstmals Verwendung mit dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001 (vgl. Windheuser u.a. 2006, 1). §17 SGB IX als gesetzliche Grundlage misst dem Persönlichen Budget den Status einer Variante der Leistungserbringung von Leistungen zur Teilhabe zu, was wiederum unterstreicht, dass es sich beim Persönlichen Budget nicht um eine neue, d.h. zusätzliche sozialrechtliche Leistung handelt, sondern um eine Form der Erbringung von Leistungen (vgl. dazu auch ausführlich Lachwitz 2004; 2007). Von politischer Seite wird durch die gesetzliche Verankerung Persönlicher Budgets insbesondere der Forderung von Menschen mit Behinderung nach einem Wunsch- und Wahlrecht und nach mehr Selbstbestimmung im Umgang mit Leistungen entsprochen, wie es auch in folgender Formulierung der Bundesregierung zum Ausdruck kommt: „Der mit dem SGB IX vollzogene Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur Selbstbestimmung fand seinen Ausdruck auch in der neu geschaffenen Möglichkeit, Leistungen zur Teilhabe in Form Persönlicher Budgets zu erbringen. Dies ermöglicht behinderten Menschen, nicht mehr ein mehr oder weniger geschlossenes Angebot einer stationären oder teilstationären Einrichtung oder eines ambulanten Dienstes in Anspruch zu nehmen, sondern die Hilfe nach seinen [sic!] persönlichen Wünschen zu organisieren. Damit wird das Sachleistungsprinzip durchbrochen, das im Rahmen der Förderung der Selbstbestimmung auf Grenzen stößt. (…) Der Vorteil für die behinderten Menschen liegt darin, dass sie einen Zuwachs an Entscheidungsmöglichkeiten für die von ihnen gewünschte Lebensform und über die Erbringung der notwendigen Hilfen erhalten“ (Deutscher Bundestag 2004, 24).
Eine detaillierte Betrachtung der sozialrechtlichen Hintergründe und der entsprechenden rechtswissenschaftlichen Diskussionen zum Thema „Persönliches Budget“ kann an dieser Stelle allerdings nicht erfolgen und es sei auf die einschlägige Literatur verwiesen (vgl. dazu insbesondere Welti 2007). Ein kurzer Überblick soll daher lediglich über die beiden zentralen Rechtsgrundlagen des Persönlichen Budgets gegeben werden: Dies sind das zum Jahr 2001 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – sowie die im Jahr 2004 erlassene Verordnung zur Durchführung des § 17 Abs. 2 bis 4 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – die sogenannte Budgetverordnung (BudgetV). § 17 SGB IX regelt in Absatz 2 und 3 die Ausführungen von Leistungen durch ein Persönliches Budget. Dort heißt es (in Auszügen):
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
(2) Auf Antrag können Leistungen zur Teilhabe auch durch ein Persönliches Budget ausgeführt werden, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Bei der Ausführung des Persönlichen Budgets sind nach Maßgabe des individuell festgestellten Bedarfs die Rehabilitationsträger, die Pflegekassen und die Integrationsämter beteiligt. (…). (3) Persönliche Budgets werden in der Regel als Geldleistung ausgeführt, bei laufenden Leistungen monatlich. (…). Persönliche Budgets werden auf der Grundlage der nach § 10 Abs. 1 getroffenen Feststellungen so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann. Dabei soll die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten aller bisher individuell festgestellten, ohne das Persönliche Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten.
Mit diesem Paragraphen wurde schließlich im Zuge der Einführung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) die gesetzliche Grundlage geschaffen, dass Menschen mit Behinderung bei entsprechendem Leistungsanspruch anstelle von Sachleistungen auch Geldleistungen in Form eines Persönlichen Budgets in Anspruch nehmen können. Persönliche Budgets können wiederum bei allen Rehabilitationsträgern sowie bei den Pflegekassen und Integrationsämtern beantragt werden. Ein Persönliches Budget kann nun wiederum aus Leistungen eines Leistungsträgers bestehen oder aber auch aus Leistungen von mehreren verschiedenen Leistungsträgern. In § 17 SGB IX wird daher noch zusätzlich geregelt, dass Leistungen in Form eines Persönlichen Budgets auch als sogenanntes „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“ bewilligt werden können. Hierzu heißt es in § 17 Abs. 2 und 4 SGB IX: (2) (…). Das Persönliche Budget wird von den beteiligten Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht. (…). (4) Enthält das Persönliche Budget Leistungen mehrerer Leistungsträger, erlässt der nach § 14 zuständige der beteiligten Leistungsträger im Auftrag und im Namen der anderen beteiligten Leistungsträger den Verwaltungsakt und führt das weitere Verfahren durch. (…).
Der Gesetzgeber regelt damit explizit, dass Budgetnehmer/innen, die Anspruch auf mehrere Leistungen von unterschiedlichen Leistungs- bzw. Rehabilitationsträgern (z.B. Sozialhilfeträger, Bundesagentur für Arbeit, Integrationsämter, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung usw.) haben, diese Leistungen auch in Form eines zusammengefassten, d.h. „Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets“ erhalten können. Entsprechend sollen die jeweiligen Teilbeträge der Leistungsträger in ein Gesamtbudget eingehen und dem Leistungsberechtigten
41
2.2 Rahmenbedingungen der Einführung Persönlicher Budgets
als eine Summe ausbezahlt werden. Die Budgetnehmer/innen verfügen dann nur über einen Gesamtbetrag, der sich jedoch aus unterschiedlichen Leistungen von zwei oder mehr Leistungsträgern zusammensetzt. Die folgende Abbildung 1 verdeutlicht diese Idee:
Sozialhilfeträger Festgestellter Bedarf/ bewilligte Leistungen
Summe X
Krankenversicherungsträger
Integrationsamt
Festgestellter Bedarf/ bewilligte Leistungen
Festgestellter Bedarf/ bewilligte Leistungen
Summe Y
Summe Z
Gesamtbudget X+Y+Z
Abbildung 1:
Beispiel für ein „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“ (Quelle: Metzler u.a. 2007, 29)
Der wesentliche Vorteil dieses „Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets“ ist, dass das Geld dem Leistungsberechtigten als ein Betrag zur Verfügung steht und dadurch entsprechende Flexibilitätsgewinne möglich werden. Zudem reduziert sich der bürokratische Aufwand, weil die Leistungsberechtigten nur noch einen Ansprechpartner haben, obwohl sich das Budget aus mehreren Teilbudgets von verschiedenen Leistungsträgern zusammensetzt. Eine weitere wichtige gesetzliche Grundlage Persönlicher Budgets stellt die im Sommer 2004 erlassene Budgetverordnung dar. Ziel dieser Verordnung ist es insbesondere, die Verfahren der Ausgestaltung Persönlicher Budgets, das Antragsverfahren sowie die Zusammenarbeit aller beteiligten Leistungsträger zu vereinheitlichen und die verschiedenen Leistungsträger auch daran zu binden (vgl. dazu auch Lachwitz 2007). War das Persönliche Budget bisher noch eine Ermessensleistung der Rehabilitationsträger besteht nun seit dem 01.01.2008 nach § 159 Abs. 5 SGB IX ein Rechtsanspruch auf Ausführung von Leistungen durch ein Persönliches Budget. Damit sind sie ein fester Bestandteil im bundesdeutschen Rehabilitationssystem geworden.
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
2.2.2 Leistungsträger und budgetgeeignete Leistungen In Bezug auf die für ein Persönliches Budget in Frage kommenden Leistungsträger und jeweiligen budgetgeeigneten Leistungen können verschiedene Phasen unterschieden werden. Beispielsweise wurden in der ersten Fassung des SGB IX nur die sogenannten Rehabilitationsträger als relevante Leistungsträger genannt.8 Mit der Neufassung des SGB IX im Jahre 2004 wurden zusätzlich auch die Pflegekassen und die Integrationsämter in den Gesetzestext aufgenommen. Tabelle 1 zeigt die für ein Persönliches Budget in Frage kommenden Leistungsträger in einer Zusammenstellung:
Gesetzliche Krankenversicherung
Bundesagentur für Arbeit
Gesetzliche Unfallversicherung
Gesetzliche Rentenversicherung
Kriegsopferversorgung, -fürsorge
Kinder- und Jugendhilfe
Sozialhilfe
Soziale Pflegeversicherung (seit 2004)
Integrationsämter (seit 2004)
Tabelle 1: Mögliche Leistungsträger für ein Persönliches Budget (Quelle: Metzler u.a. 2007, 29) Zu den sogenannten „budgetfähigen“ Leistungen, d.h. Leistungen, die überhaupt für ein Persönliches Budget in Frage kommen, ließen sich in der ersten Fassung des SGB IX keine konkreten Vorgaben finden. Dieser Gegenstand wurde dann allerdings ebenfalls mit der Neufassung des SGB IX im Juli 2004 konkretisiert: Leistungen galten demnach als budgetfähig, wenn sie sich auf „alltägliche“, „regelmäßig wiederkehrende“ und „regiefähige Bedarfe“ beziehen (vgl. Metzler u.a. 2007, 30; Kastl, Metzler 2005, 21). Im Zuge des Verwaltungsvereinfachungsgesetzes wurde dann aber die Eingrenzung „regiefähig“ wieder verworfen9 und das Spektrum budgetfähiger Leistungen insofern erweitert, dass nun alle Leistungen zur Teilhabe nach SGB IX budgetfähig sind. 8 9
Zu den Rehabilitationsträgern zählen alle in § 6 Abs. 1 SGB IX aufgelisteten Kostenträger, soweit sie Leistungen zur Teilhabe erbringen. Dies vor allem „vor dem Erfahrungshintergrund, dass der Begriff der ‚Regiefähigkeit‘ häufig auf Leistungsberechtigte bezogen und die ‚Budgetfähigkeit‘ bestimmter Personenkreise infolge dessen in Frage gestellt wurde“ (Metzler u.a. 2007, 30).
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2.2 Rahmenbedingungen der Einführung Persönlicher Budgets
In Form eines Persönlichen Budgets können demnach alle in § 5 SGB IX genannten Leistungen zur Teilhabe erbracht werden. Diese beziehen sich auf folgende vier Kapitel im SGB IX (vgl. Lachwitz 2004, 5; Windisch 2006, 10):
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§§ 26-32 SGB IX) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33-43 SGB IX) Unterhaltsichernde und andere ergänzende Leistungen (§§ 44-54 SGB IX) Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 55-59 SGB IX)
Budgetfähig sind neben Leistungen zur Teilhabe ferner die „erforderlichen Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltäglich und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe beziehen (…)“ (§ 17 Abs. 2 SGB IX). Die Ausführung von Leistungen im Rahmen eines Persönlichen Budgets ist wiederum in verschiedenen Leistungsgesetzen verankert. Die folgende Tabelle 2 gibt einen Überblick über die entsprechenden Paragraphen:
Arbeitsförderung: Gesetzliche Krankenversicherung: Gesetzliche Rentenversicherung: Gesetzliche Unfallversicherung: Kinder- und Jugendhilfe: Soziale Pflegeversicherung: Sozialhilfe: Kriegsopferversorgung/-fürsorge:
Integrationsämter:
§ 103 SGB III §§ 2 und 11 SGB V § 13 SGB VI § 26 SGB VII § 35a SGB VIII §§ 28 und 35a SGB XI §§ 57 und 61 SGB XII § 27d Abs. 3 BVG i.V.m. 5. und 6. Kapitel SGB XII §§ 26, 26a BVG, §§ 1-17 KfürsV § 102 Abs. 7 SGB IX
Tabelle 2: Verankerung des Persönlichen Budgets in den einzelnen Leistungsgesetzen (Quelle: Metzler u.a. 2007, 32)
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Zusammenfassung Ein Persönliches Budget kommt für alle Menschen in Frage, bei denen nach § 2 SGB IX eine Behinderung vorliegt oder die von Behinderung bedroht sind. Voraussetzung ist ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe im Sinne von § 5 SGB IX. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können Anspruchsberechtigte anstatt einer Sachleistung auch ein Persönliches Budget beantragen (vgl. Wessel 2007, 44). Schließlich werden dann die Leistungen zur Teilhabe in Form eines Persönlichen Budgets ausgeführt. Zwar wird in den Gesetzestexten festgeschrieben, bei welchen Leistungsträgern und unter welchen Bedingungen ein Persönliches Budget beantragt werden kann, konkrete anwendungsrelevante Bestimmungen zum Persönlichen Budget fehlen in den Gesetzestexten allerdings. Lediglich zur Festlegung der Höhe eines Persönlichen Budgets wird eine entsprechende Maßgabe formuliert. Persönliche Budgets sollen so bemessen sein, „dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann. Dabei soll die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten aller bisher individuell festgestellten, ohne das Persönliche Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten“ (§ 17 Abs. 3 SGB IX). Allerdings wird weder genau definiert, für welche Leistungserbringer ein Persönliches Budget verwendet werden darf und wie die Unterstützung inhaltlich ausgestaltet werden soll (z.B. jeweilige Organisationsform, Verwendungsregeln für Leistungen usw.), noch für welchen Personenkreis das Persönliche Budget gedacht ist oder wo und wie es zur Anwendung kommen kann. Insgesamt bleibt das Thema „Verwendung Persönlicher Budgets“ damit auf der rechtlichen Ebene relativ offen, sicher aber auch begründet dadurch, dass Persönliche Budgets möglichst innovativ umgesetzt und deren Gestaltungsmöglichkeiten zunächst einmal ausgelotet werden sollen. Bei genauerer Betrachtung lassen sich in den Gesetzesgrundlagen aber dennoch indirekte Hinweise finden, die für die Umsetzung Persönlicher Budgets Orientierung bieten können. Dies ist zum Einen die Konzentration auf den Schlüsselbegriff „Teilhabe“, welcher als grundlegend für die Auswahl budgetgeeigneter Leistungen und Ausgestaltungen Persönlicher Budgets angesehen werden kann, zum Anderen eine stärkere Betonung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, da insbesondere Persönliche Budgets dem Wunsch- und Wahlrecht behinderter Menschen entsprechen können. Schließlich steht auch die Forderung nach einer Stärkung ambulanter Unterstützungsformen im Kontext der Idee Persönlicher Budgets (vgl. Diemer 2002, 398f.). Im nachfolgenden Kapitel 3 soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, welche inhaltlichen Erwartungen mit der Einführung Persönlicher Budgets verknüpft sind. Letztendlich können diese Erwartungen verdeutlichen, wie die Verwendung Persönlicher Budgets theoretisch aussehen könnte. Auf dieser
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
45
Basis werden dann in Kapitel 4 Ergebnisse verschiedener Modellvorhaben zur Erprobung Persönlicher Budgets im Hinblick auf das zu behandelnde Thema „Motive der Budgetbeantragung“ und „Formen der Budgetverwendung“ dargestellt. Zunächst soll aber geklärt werden, inwiefern das Persönliche Budget in den Kontext eines allgemeinen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe eingeordnet werden kann. 2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe – Eckpfeiler eines Wandels im Umgang mit Behinderung 2.3
Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
Bereits seit einigen Jahren werden die Entwicklungen in der Behindertenhilfe unter dem Begriff „Paradigmenwechsel“ diskutiert (vgl. dazu bspw. Bleidick 1999; Wacker 2001; Wacker u.a. 2004; Wacker u.a. 2005). Dabei wird angenommen, dass aufgrund verschiedener, parallel ablaufender, gesellschaftlicher, (behinderungs-) politischer, rechtlicher und fachlicher Entwicklungen ein Wandel im Verständnis von sowie im Umgang mit Behinderung stattfindet. Der Begriff des „Paradigmenwechsels“ bezieht sich dabei gleichermaßen auf ein sich veränderndes Verständnis von Behinderung, ein Wandel in den Vorstellungen über den Ort und Inhalt der Unterstützungsleistungen sowie auf die sich wandelnde Rolle von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft (vgl. Schädler 2003, 8). Auch wenn der Begriff des Paradigmenwechsels insbesondere in den Praxisfeldern der Behindertenhilfe möglicherweise zu hoch gegriffen erscheint, ist der Versuch einer Neuorientierung vielerorts zu erkennen, so dass aber möglicherweise eher von einem Perspektivenwechsel gesprochen werden kann.10 Die Idee des Persönlichen Budgets ist gleichermaßen Ausdruck und Resultat eines solchen Paradigmenwechsels bzw. Perspektivenwechsels und die Diskussionen über das Persönliche Budget sind im Grunde ein wesentliches Kernelement der Diskussionen über den Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe (vgl. Gitschmann 2004; Rohrmann 2007; ebenso Kastl, Metzler 2005, 9; Wacker u.a. 2005, 17ff.). Wie an späterer Stelle deutlich werden wird, stehen die Erwartungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets verbunden werden, im Kontext dieser Forderungen nach einer Neuorientierung (vgl. Kapitel 3). Auf Basis dieser Erwartungen soll daher auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich dieser allgemeine „Paradigmenwechsel“ in der Praxis der Budgetnutzung widerspiegelt. 10
Eine ausführliche Analyse dessen, inwiefern der Terminus „Paradigmenwechsel“ den Entwicklungen in der Praxis der Behindertenhilfe – insbesondere im Bereich der so genannten geistigen Behinderung – tatsächlich gerecht wird, kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Kritisch dazu Schädler 2003.
46
2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Um die theoretisch wirksamen Erwartungskomplexe an das Persönliche Budget erschließen zu können, müssen die Elemente dieser Neuorientierung verdeutlicht werden. Hierbei macht es Sinn, die wesentlichen Eckpfeiler der Entwicklungen im Bereich Behinderung und Behindertenhilfe näher zu betrachten und in ihrem Bezug zum Persönlichen Budget zu deuten. Vorangestellt wird daher ein skizzenhafter Überblick über einige Entwicklungen in der Behindertenhilfe, die unter dem Begriff des Paradigmenwechsels zusammengefasst werden können und die den Kontext bilden, in den die Intention des Persönlichen Budgets eingebettet ist. In Anlehnung an verschiedene Autoren (vgl. exemplarisch Kastl, Metzler 2005, 9; Loeken 2006, 30f.) können dabei im Grunde drei Ebenen unterschieden werden, auf denen sich im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe die Idee des Persönlichen Budgets manifestiert. Folgende Ebenen lassen sich grob zusammenfassen: Auf normativ-ethischer Ebene werden bereits seit Jahren Forderungen nach einer Neuorientierung in der Behindertenhilfe formuliert, die sich gegen die vorherrschende Versorgungsmentalität und gegen Bevormundung und Beschneidung der Selbstbestimmungsrechte richten (vgl. Loeken 2006, 31). Diese Intentionen finden ihren Niederschlag beispielsweise auch in der Kritik an „totalen Institutionen“ (Goffman 1972), eine Kritik, die sich gegen Fremdbestimmung und Beschränkung von Freiheiten in Einrichtungen der Behindertenhilfe richtet.11 Die Forderungen nach einem selbstbestimmteren Umgang mit Unterstützungsleistungen reichen dabei im Grunde bereits über 30 Jahre zurück (vgl. Theunissen, Plaute 2002, 47ff.). Diese Kritik wurde von Menschen mit Behinderung selbst formuliert und hat ihre Anfänge in politischen Aktionen von Menschen mit Körper- und Sinnesbeeinträchtigungen, „die sich in einem selbstorganisierten Zusammenschluss einer ‚Krüppelbewegung‘ gegen Diskriminierung, Benachteiligung, Unterbringung und Fremdbestimmung in Pflegeheimen, Behindertenanstalten oder auch Psychiatrien wandten“ (Theunissen 2002a, 364). Die so genannte „Independent Living“ – Bewegung aus den USA, in der sich Menschen mit körperlichen Behinderungen und Sinnesbeeinträchtigungen organisiert hatten, um gegen die bestehenden Zustände in der Behindertenhilfe zu protestieren, diente weltweit als Vorbild für einen Zusammenschluss von Menschen mit Behinderung. Für Menschen mit geistiger Behinderung organisierte sich ebenfalls ein Netzwerk mit dem Namen „People First“ (vgl. Theunissen, Plaute 2002, 52ff.; Theunissen 2002a, 364). Gemeinsam ist diesen Bewegungen die Forderung nach mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in der Lebensgestaltung und damit auch in der Auswahl und Organisation der Unterstützung. Die Idee Persönlicher Budgets entspricht in höchstem Maße den Forde11
Nach Goffman (1972) erschweren es die strukturellen Rahmenbedingungen in solchen Institutionen besonders, den Bewohner/innen Freiheiten zuzugestehen.
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
47
rungen dieser Bewegungen, weil von diesen „die Rolle des autonomen Kunden reklamiert [wird], der Experte für die eigenen Belange ist. Persönliche Budgets für behinderte Menschen sind daher auch vor dem Hintergrund dieser Forderungen und des Wandels in der Behindertenpolitik zu sehen“ (Loeken 2006, 31). Generell – so könnte man argumentieren – erscheinen Persönliche Budgets geradezu als Ausdruck und Inbegriff dieser normativ-ethischen Ebene des Paradigmenwechsels, wird in diesem Instrument ja gerade der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und eine veränderte Rolle des Hilfeempfängers hochgehalten: „(…) vom ‚Objekt der Fürsorge‘ zum ‚Subjekt der Lebensgestaltung‘, von professioneller, institutioneller oder sozialer Fremdbestimmung zu Selbstbestimmung“ (Kastl, Metzler 2005, 9). Neben diesen Bewegungen auf der normativ-ethischen Ebene spielen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene vor allem eine zunehmende Orientierung an neuen Prinzipien, Konzepten und Ansätzen in der Wissenschaft eine wichtige Rolle, die man ebenfalls unter dem Begriff „Paradigmenwechsel“ zusammenfassen kann und die eine Wende nicht nur im Bereich der Behindertenhilfe, sondern auch hinsichtlich des Verständnisses von „Behinderung“ markieren. Zu nennen sind das Normalisierungsprinzip (ausführlich dazu Beck u.a. 1996; Gröschke 2000; Nirje 1994; Schildmann 1997; Thimm u.a. 1985, Thimm 1992, 1994, 2008), der Empowermentgedanke (vgl. insbesondere Theunissen, Plaute 2002; Theunissen 1997, 2000, 2002, 2009) sowie das Paradigma der Inklusion (beispielsweise Hinz 2002, 2003, 2004; Theunissen, Schirbort 2006; Theunissen 2002a, 2005, 2009; Wansing 2005) oder auch die neu entwickelte „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF), in der ein „bio-psycho-soziales Behinderungsmodell“ vorgehalten wird (vgl. WHO 2005). Allen Konzepten ist eine Abkehr von einem defizitär geprägten Verständnis von Behinderung gemeinsam sowie die Einsicht, dass institutionelle Bedingungen (wie beispielsweise die Unterbringung in Großeinrichtungen der Behindertenhilfe) gleichsam auch Barrieren für die individuelle Entwicklung darstellen und mit dazu beitragen, dass sich Behinderung letztendlich erst manifestiert. Die „institutionsbezogene“ Sichtweise in der Behindertenhilfe soll demnach einem „personenbezogenen Denken“ weichen (Thimm, Lindmeier 2001 zitiert in Schädler 2003, 8). Auch auf dieser Ebene steht das Persönliche Budget im Kontext eines allgemeinen Paradigmenwechsels, weil in der Einführung Persönlicher Budgets insbesondere die Möglichkeit gesehen wird, bei der Hilfeplanung und Leistungserbringung ein Wechsel von der institutionellen Orientierung hin zu einer Personenorientierung zu realisieren (vgl. Kastl, Metzler 2005, 9). Mit der Idee des Persönlichen Budgets ist beispielsweise auch die Forderung verknüpft, „ausgehend von den Wünschen und Bedürfnissen der Nutzer indivi-
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
duell angepasste Hilfepakete zu schnüren anstelle vorgefertigter institutioneller Versorgungsangebote“ (Loeken 2006, 31). Neben den oben genannten Begriffen wird vor allem der Begriff der „Teilhabe“ als Schlüsselbegriff einer zukunftsweisenden Behindertenhilfe gesehen und dieser Begriff bildet ebenfalls einen inhaltlichen Kern der Idee des Persönlichen Budgets. Die dritte Ebene – die sozialpolitische Ebene – umfasst einerseits den Anspruch nach einem neuen Verständnis von Unterstützung sowie andererseits die Forderung nach einer Veränderung bzw. Weiterentwicklung bestehender Angebotsstrukturen. Demnach soll sich insbesondere der Umgang mit und der Zugang zu den Adressaten der Behindertenhilfe fundamental ändern. Diese Forderung nach einem Umdenken in der Praxis zeigt sich beispielsweise auch in Parolen wie „vom abhängigen Hilfeempfänger zum Kunden“. Gemeint ist generell das wachsende Bewusstsein, sich an den Bedürfnissen der Leistungsempfänger zu orientieren. Damit wird die Rolle des Leistungsempfängers aufgewertet; Hilfen sollen schließlich personenzentriert geplant werden und sich an den Wünschen der Empfänger ausrichten. Für die Einrichtungen der Behindertenhilfe bedeutet dies aber, dass sich die Gestaltung und Qualität der zu erbringenden Dienstleistung in Zukunft nicht mehr allein in von der Einrichtung selbst definierten Standards erschöpft, sondern zunehmend an den Einschätzungen und der Nachfrage der Menschen mit Unterstützungsbedarf gemessen werden muss. In dieser Konsequenz erscheint das Persönliche Budget ebenfalls als ein geeignetes Instrument, Differenzierungsprozesse auf dem Markt sozialer Dienstleistungen anzuregen. Damit wird vor allem eine größere Bedarfsangemessenheit erwartet (vgl. Kastl, Metzler 2005, 9). Diese sozialpolitischen Forderungen markieren aber nicht nur einen Perspektivenwechsel hinsichtlich eines veränderten Verhältnisses zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger und einer Differenzierung des Angebotsmarkts, sondern stehen auch mit Forderungen nach einem „Umbau“ des Sozialstaats in Verbindung, insbesondere hinsichtlich der zunehmenden „Ökonomisierung“ und „Effizienzsteigerung“ sozialer Dienstleistungen. Auch in dieser Hinsicht wird das Persönliche Budget in Zukunft eine tragende Rolle spielen: „Mit dem Umbau des Sozialstaats geht das Ziel einher, mehr Markt und Wettbewerb bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen einzuführen, die Effizienz zu steigern (…). In der Diskussion um den Sozialstaat richtet sich die Kritik auf dessen Funktion als Versorgungsinstitution und ist mit der Forderung nach Eigeninitiative und Selbstverantwortung bei den Nutzern sozialer Leistungen verbunden. Das in Verbindung mit dieser Debatte benutzte Vokabular ist häufig ökonomisch akzentuiert, wenn etwa vom unternehmerischen Mensch oder dem souveränen Kunden die Rede ist. (…). Was liegt da näher, als den Unternehmen ihrer selbst ein Persönliches Budget auszuzahlen“ (Loeken 2006, 30).
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
49
In allen drei Entwicklungen spielt die Einführung Persönlicher Budgets – mehr oder weniger beabsichtigt – eine bedeutende Rolle. Zum einen ist die Grundidee Persönlicher Budgets mit den Forderungen nach mehr Selbstbestimmung und Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderung eng verwoben und steht im Kontext eines gemeinhin antizipierten Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe, zum anderen „passt“ sie aber auch in die Leitlinien neuer sozialpolitischer Steuerungsinstrumente und spiegelt einen generellen Anforderungswandel in verschiedenen Bereichen sozialer Dienstleistungen und Handlungsfelder der Behindertenhilfe wider. Insbesondere die Leistungs- und Angebotsplanung sozialer Einrichtungen und Dienste werden demnach von der Einführung Persönlicher Budgets tangiert. Damit birgt das Persönliche Budgets ein hohes innovatives Potenzial und eröffnet vielfältige Chancen für ein selbstbestimmte(re)s Leben von Menschen mit Behinderung, gleichzeitig zeichnen sich aber auch (neue) Risiken ab, die sich auf die Zunahme an Eigenverantwortung und Zwang zur selbstständigen Lebensplanung bzw. -führung beziehen. Im Folgenden werden alle drei Ebenen nun ausführlich anhand der gegenwärtig zu beobachtenden mehrdimensionalen Entwicklungen diskutiert. Dabei wird versucht, die Einführung Persönlicher Budgets in diesen Prozess eines gegenwärtig stattfindenden normativ-ethischen, professionstheoretisch-fachlichen und sozialpolitischen Perspektivenwechsels einzubetten. In dem daran anschließenden Kapitel 3 werden dann die aus diesen Entwicklungen resultierenden Erwartungen systematisch herausgearbeitet. Es soll in diesem Zusammenhang deutlich werden, inwiefern das Persönliche Budget gerade wegen seiner inhaltlichen Verbundenheit mit diesen Entwicklungen als „Hoffnungsträger“ und „Motor“ des Paradigmenwechsels fungiert und welche Bedeutung dem Persönlichen Budget bei der Realisierung dieser Neuorientierung beigemessen wird. 2.3.1 Die normativ-ethische Ebene: Selbstbestimmung und Eigenverantwortung als zwei Seiten derselben Medaille – Persönliche Budgets als „riskante Freiheit“ Der seit einigen Jahren beschriebene „Paradigmenwechsel“ in der Behindertenhilfe kann in kurzen Worten beschrieben werden als eine Abkehr „von einem Fürsorgeparadigma, dass davon lebt, jenen Menschen sicher durchs Leben zu helfen, denen Funktionsstörungen bescheinigt wurden“ (Wacker u.a. 2005, V). Bedingt durch eine medizinisch geprägte, individuelle und auf die Defizite fokussierte Sichtweise auf das Phänomen „Behinderung“ (vgl. dazu ausführlich Bleidick 1999, 25ff.) stand das Prinzip der „Fürsorge“ bzw. „Versorgung“ bislang im Mittelpunkt der historisch gewachsenen Hilfe- und Unterstützungsange-
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
bote der Behindertenhilfe. Das traditionelle Verständnis drückte sich dabei vor allem in dem Anliegen aus, Menschen mit Behinderungen „sicher“ durchs Leben zu begleiten. Damit zusammenhängend wurde die Behindertenhilfe bestimmt durch das Bemühen, ein relativ umfassendes Netz an Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen anzubieten und Menschen mit Behinderung so gut wie möglich gegen die Risiken der modernen Lebensführung abzusichern. Insofern korrespondiert das Fürsorgeparadigma stark mit dem Leitbild des fürsorglichpaternalistischen Wohlfahrtsstaats, der sich vor allem dadurch auszeichnet, „dass er im Sozialen Dienstleistungssektor mit hohem bürokratischen und organisatorischen Aufwand Risiken ausgeschaltet oder eingedämmt hat, wo immer dies möglich war“ (Hansen 2006, 22). Entsprechend ging es darum, nicht nur einen möglichst umfassenden Auf-, Aus- und Umbau der Unterstützungssysteme voranzutreiben, sondern für Menschen mit Behinderungen in jeder Lebensphase und jeden Alters entsprechende Unterstützungsstrukturen zu schaffen, um somit die Für- und Versorgung über den gesamten Lebensverlauf hinweg sicherzustellen. In dieser Konsequenz hat sich in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 50 Jahren ein differenziertes und hoch spezialisiertes System der Behindertenhilfe entwickelt, das Menschen mit besonderen Unterstützungsbedarfen über den gesamten Lebensverlauf hinweg eine weitreichende Ver- und Umsorgungslandschaft anbieten konnte. Bildhaft ausgedrückt, stellt sich dieses historisch gewachsene System der Behindertenhilfe wie folgt dar: „Die unter Behindertenhilfe subsumierten Angebote bilden ein vielgeschossiges Gebäude mit zahlreichen Räumen und Funktionen, die von den Frühen Hilfen bis zum Lebensende und in allen relevanten Lebensbereichen, dem Wohnen, der Bildung, der Arbeit und der Freizeit Versorgung sichern (…)“ (Wacker u.a. 2004, 129).
In diesem Zusammenhang lag und liegt der Fokus der „traditionellen“ Behindertenhilfe auf der Sicherstellung der Versorgung, indem entsprechende Institutionen und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung aller Alterstufen angeboten werden. Ideologisch verknüpft wird diese Zielsetzung mit der Annahme, dass die mit der Behinderung einhergehenden „Funktionsstörungen“ zwangsläufig Beeinträchtigungen und Benachteiligungen mit sich bringen. Diese Entwicklung, sozusagen von der Angebotsseite her aufgefächert, führte zwar zu einer perfekten „Rundum-Versorgung“, lässt aber die „Nachfrage-Seite“ derjenigen Personen, die diese Angebote nutzen, völlig außer Acht. Der oben beschriebene Wandel in der Behindertenhilfe lässt sich hierbei tatsächlich als „Perspektivenwechsel“ beschreiben: Bezieht man nun die „NachfrageSeite“ mit in die Betrachtung ein, so dreht sich die Perspektive um, denn dann geht es darum, „Leistungen von den Nutzern aus zu denken, zu planen, zu bemessen, zu lenken und zu gestalten“ (Wacker 2006, 74). Begleitet wird dieser Perspektiven-
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51
wechsel von Begriffen wie Nutzerorientierung, Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeiten usw. Das Fürsorgeparadigma soll sich entsprechend zu einem Selbstbestimmungsparadigma wandeln, im Zuge dessen die Ver- und Umsorgung einer zunehmenden Eigenverantwortung sowie einem selbstbestimmteren Umgang mit sozialen Dienstleistungen weichen soll. Weiterhin impliziert dieser Perspektivenwechsel ein neues Verständnis und eine neue Rolle von Menschen mit Behinderung. Diese werden dann „nicht mehr als Objekte der Fürsorge angesehen, sondern als Subjekte im Sinne von Dienstleistungsnutzern (…)“ (Kaas 2002, 21). Hinterfragt wird damit aber nicht nur der Charakter der Fürsorge, sondern auch das Prinzip der größtmöglichen „Risikofreiheit“, denn im Kontext einer zunehmenden Nutzerorientierung „kann es nicht [mehr] darum gehen, Risiken zu vermeiden, sondern Zielerreichung muss sein, Risiken zu akzeptieren, mit Risiken zu leben und zu lernen, mit ihnen umzugehen. Risikoarmut ist immer auch als Grund für begrenzte Persönlichkeitsentwicklung zu begreifen“ (Hansen 2006, 22). Statt einer auf Ver- und Umsorgung setzende Behindertenhilfe als Reaktion auf die Funktionsstörungen im Sinne eines „defizitären“ Behinderungsverständnisses wird es in Zukunft eher darum gehen, Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, Funktionsstörungen zu kompensieren oder die Folgen zu beseitigen. Aus diesem Grunde führt die Entwicklung weg von der Konzentration auf Ver- bzw. Umsorgung und hin zu Ideen der Aktivierung, Selbstbestimmung, Normalisierung, Teilhabe, Empowerment oder Inklusion. Insofern findet auch eine Abkehr von der Vorstellung eines (lebenslang) hilfsbedürftigen, abhängigen und unmündigen behinderten Menschen statt. Dabei soll und wird einer individuelleren Sichtweise auf den Menschen mit Behinderung nicht nur Rechnung getragen, sie soll gleichzeitig auch Ausgangspunkt der Planungs- und Angebotsstruktur der Behindertenhilfe sein. Angebote und Strukturen müssen daher in Zukunft mehr die Individualität des Hilfeempfängers beachten und auch die Förderung individueller Potenziale und Ressourcen enthalten. Genau im Kontext dieser Forderungen und im Zuge dieses Perspektivenwechsels setzt die Idee des Persönlichen Budgets an. Dabei lassen sich zwei grundsätzliche Aspekte des Persönlichen Budgets benennen, die mit den beschriebenen Entwicklungen in hohem Maße korrespondieren: 1.
Persönliche Budgets sollen es Menschen mit Behinderung ermöglichen, Unterstützungsleistungen eigenverantwortlich aussuchen und finanzieren zu können. Damit entspricht das Persönliche Budget in höchstem Maße den Forderungen nach mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Durch die Einführung Persönlicher Budgets verändert sich die Rolle des Hilfeempfängers. Menschen mit Behinderung sind nicht länger nur „Objekt der Fürsorge“ sondern treten den Leistungserbringern als „autonome Kunden“ gegenüber. Sie bestimmen fortan selbst, wer die Unterstützung erbringen soll, wie die
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2.
2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Unterstützung auszusehen hat und wann sie zu erbringen ist. Damit gewinnen sie einen erheblichen Einfluss auf die Ausführung der Leistungserbringung. Individualität stellt ein weiteres zentrales Element Persönlicher Budget dar, weil es insbesondere darum geht, einen individuell zu bemessenden Bedarf in Form eines Geldbetrags abzubilden, mit dem die Budgetnehmenden selbst über die Art und Weise der Unterstützung entscheiden können. Im Kontext dieser persönlich zu entscheidenden Inanspruchnahme von Leistungen wird es möglich, Unterstützung nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn diese nach subjektiver Einschätzung auch wirklich gebraucht wird. Genauso kann sie aber auch abgelehnt werden.
Der Leistungsempfänger wird damit zum „Experten in eigener Sache“ (Theunissen, Plaute 1995, 11), weil er mit Hilfe eines Persönlichen Budgets in die Lage versetzt wird, die benötigten Unterstützungs- oder Pflegeleistungen selbstbestimmt und dem subjektiv empfundenen Bedarf folgend, einzukaufen. Zudem wird es dadurch möglich, dass Menschen mit Behinderung gestalterisch auf ihr eigenes Leben einwirken können, indem sie geeignete Rahmenbedingungen selbst schaffen. Damit wird der Leistungsempfänger auch gleichzeitig zum Gestalter seiner Lebensverhältnisse (vgl. Meyer 2007, 34).
2.3.2 Die professionstheoretisch-fachliche Ebene: Vom medizinisch geprägten Behinderungsbegriff zum bio-psycho-sozialen Modell – Abkehr von einer defizitären Sichtweise Parallel zu den skizzierten Entwicklungen eines normativ-ethischen Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe hat sich auch das Verständnis von Behinderung in den letzten Jahren zunehmend gewandelt. Diese Veränderung manifestiert sich besonders in den Reformulierungen des Behindertenbegriffs durch die World Health Organisation (WHO), in denen die „soziale“ Dimension von Behinderung zunehmend in den Blickpunkt der Betrachtungen rückt. Einen konkreten Niederschlag findet diese veränderte Perspektive schließlich in der überarbeiteten Fassung der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen („International Classification of Impairment, Disabilities and Handicap – ICIDH“) von 1980 – zunächst unter dem Namen ICIDH-2, später mit der Bezeichnung „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF):12 12
Bereits im Jahre 1993 wurde entschieden, die „Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen“ („International Classification of Impairment, Disa-
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
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„Wurden bislang Schädigungen, Beeinträchtigungen und Störungen fokussiert, so werden jetzt mit Blick auf die rechtliche Entwicklung soziale Aspekte und Konsequenzen wesentlich stärker beachtet. Im Prinzip gehen damit Betroffenenperspektive, die Rechteperspektive sowie die fachliche Umorientierung im Hinblick auf Inclusion, Partizipation und Empowerment mit der Neufassung von Behinderung durch die WHO Hand in Hand. Daher kann ihre Klassifikation für eine zeitgemäße Behindertenarbeit als richtungsweisend gelten“ (Theunissen 2002a, 366).
Mit Verabschieden der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) werden nun soziale Einflussfaktoren wesentlich stärker als bisher betont und in die Betrachtung von Behinderung mit einbezogen. In dieser Sichtweise wird Behinderung nicht mehr (ausschließlich) als „individuelles Schicksal“ im Sinne eines medizinischen Behinderungsverständnisses13 verstanden, sondern zunehmend auch in Wechselwirkung mit sozialen Faktoren gedeutet. Ein Verständnis von Behinderung, welches sich nur an einer medizinischen Sichtweise bzw. an personenbezogenen Merkmalen (im Sinne körperlicher, geistiger und seelischer Beeinträchtigungen) orientiert, gilt bereits seit längerem als nicht mehr zeitgemäß (vgl. beispielsweise Metzler, Wacker 2001, 118; Cloerkes 2007, 4ff.). Hingegen muss Behinderung stets auch als „soziale Kategorie“ begriffen werden (zu einer ausführlichen Darstellung des Verständnisses von Behinderung als soziale Kategorie vgl. auch Bleidick 1999, 33ff.). Durch die Neuorientierung an einer sozialen Sichtweise wird Behinderung hingegen „hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im wesentlichen als eine Frage der vollen Integration Betroffener in die Gesellschaft [betrachtet].
13
bilities and Handicap – ICIDH“) von 1980 zu überarbeiten. Die überarbeitete Version wurde dabei vorläufig mit ICIDH-2 umschrieben. Im Oktober 2000 wurde schließlich ein erster Entwurf der ICIDH-2 präsentiert (prefinal version); der abschließende Entwurf der ICIDH-2 (final draft) konnte dann im Mai 2001 auf der 54. Vollversammlung der WHO vorgestellt werden, wo der Entwurf schließlich unter dem Titel „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF) mit Beschluss (WHA54.21 am 22. Mai 2001) verabschiedet wurde (vgl. WHO 2005, 175ff.). Die medizinische Sichtweise „betrachtet ‚Behinderung‘ als ein Problem einer Person, welches unmittelbar von einer Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesundheitsproblem verursacht wird, das der medizinischen Versorgung bedarf, etwa in Form individueller Behandlung durch Fachleute. Das Management von Behinderung zielt auf Heilung, Anpassung oder Verhaltensänderung des Menschen ab“ (WHO 2005, 24). In diesem Verständnis wird Behinderung als „individuelles Schicksal“ begriffen. Der Blick auf das Phänomen Behinderung folgt demnach einer individualtheoretischen Sichtweise und im Vordergrund stehen die mehr oder weniger sichtbaren Schädigungen oder Anomalien des (einzelnen) Individuums (vgl. Metzler, Wacker 2001, 118; Bleidick 1999, 28ff.; Cloerkes 2007, 10). Entsprechend dieser medizinischen Sichtweise war die Behindertenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland noch bis vor wenigen Jahren „fast ausschließlich an Schädigungen, Defiziten oder Symptomen einer Behinderung ausgerichtet“ (Theunissen 2002a, 362).
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
Hierbei ist ‚Behinderung‘ kein Merkmal einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen, von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden. Daher erfordert die Handhabung dieses Problems soziales Handeln, und es gehört zu der gemeinschaftlichen Verantwortung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Umwelt so zu gestalten, wie es für eine volle Partizipation [Teilhabe] der Menschen mit Behinderung an allen Bereichen des sozialen Lebens erforderlich ist“ (WHO 2005, 24f.). Behinderung soll demnach nicht nur als Beeinträchtigung von körperlichen, seelischen und geistigen Funktionen im Sinne eines „individuellen Problems“ (Metzler, Wacker 2001, 118) verstanden werden, sondern ist immer auch in Abhängigkeit zu der aufgrund dieser Beeinträchtigung erschwerten Lebenssituation und eingeschränkten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu interpretieren. Das in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) postulierte Behinderungsmodell wird daher auch als „biopsycho-soziales Modell“ (Schuntermann 2003, 2006) bezeichnet, „in dem verschiedene Aspekte von Gesundheit unter Berücksichtigung des gesamten Lebenshintergrundes eines Menschen beschrieben werden. Damit wird Behinderung als soziales Phänomen sichtbar und es werden die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen deutlich (…)“ (Michel, Häußler-Sczepan 2005, 526). Das biopsycho-soziale Behinderungsmodell der ICF zielt allerdings nicht darauf ab, Behinderung ausschließlich als „soziales Phänomen“ zu erklären, sondern kann als Versuch einer Synthese von medizinischen und sozialen Faktoren zur Erklärung von Behinderung verstanden werden (vgl. Kastl 2009, 29ff.). Behinderung ergibt sich demnach aus einem Zusammenwirken von umwelt- und personenbezogenen Faktoren. Damit wird das Konzept der WHO Forderungen nach einer Neudefinition des Behinderungsbegriffs gerecht, wie sie bereits seit längerem in der Literatur formuliert werden (vgl. dazu etwa Metzler, Wacker 2001; Wacker u.a. 2004). Eine weitergehende Deutung dieses bio-psycho-sozialen Behinderungsmodells legt zudem den Schluss nahe, dass die ICF im Grunde darauf angelegt ist, Situationen zu beschreiben und nicht persönliche Merkmale. Schäfers (2009, 25) stellt hierbei heraus, „dass das Behinderungsmodell der ICF nicht auf eine Klassifikation von Personen, sondern von Situationen zielt – also auf die Wechselwirkung zwischen den Charakteristiken einer Person und jeweiligen Umweltfaktoren in spezifischen Lebensbereichen (…)“. Sozialen Einflussfaktoren wird dabei vor allem auch bei der Entstehung, Ausprägung und Entwicklung von Behinderungen ein größeres Gewicht beigemessen als in früheren Klassifikationen. Im Gegensatz zu einem rein medizinisch orientierten Verständnis von Behinderung wird in diesem Modell davon ausgegangen, dass sich Behinderung aufgrund komplexer und in Wechselwirkung stehender Faktoren manifestiert und die Ausprägung der Beeinträchtigung wesentlich von sozialen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen abhängt. Behinderung ist demnach nicht mehr ausschließlich als Schädigung oder
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Funktionsstörung zu verstehen, sondern muss immer vor dem Hintergrund „problematischer“ Kontextfaktoren gedeutet werden: „Persönliche Merkmale stellen demnach einen Bedingungsfaktor unter vielen anderen dar, die für die Entstehung und Ausprägung von Funktionsfähigkeit bzw. Behinderung relevant sein können. Der Blick richtet sich insbesondere auf die Abhängigkeit der Funktionsfähigkeit von Umweltfaktoren und der Variation in verschiedenen Lebenszusammenhängen (Relationalität und Relativität). Die Ausprägung von Behinderung wird wesentlich durch die Eigenarten der gesellschaftlichen Funktionssysteme und deren Institutionen (…) mitbestimmt (…)“ (ebd., 25).
Die ICF legt daher eine Orientierung nahe, in der Behinderung immer auch als eine „situative Behinderung“ bzw. als eine situationsbedingte Einschränkung der Funktionsfähigkeit verstanden werden muss. Behinderung ist also „nicht etwas, was eine Person ‚hat‘, sondern eine Situation der Funktionsbeeinträchtigung“ (ebd., 26). Letztendlich richtet sich der Blick damit auf die spezifischen Lebenssituationen, in denen sich die Behinderung manifestiert: „Behinderung ist in diesem Verständnis als Kennzeichnung einer spezifischen Lebenslagenproblematik zu fassen: Niemand ist (in allen Lebenssituationen und -vollzügen) behindert; Personen mit Behinderung benötigen Unterstützung bei der Alltagsbewältigung in konkreten Umwelten, in spezifischen Situationen der Funktionsbeeinträchtigung“ (ebd.)
Das Verständnis von Behinderung wird in der ICF weiterhin im Wesentlichen durch den Begriff der „Funktionsfähigkeit“ bzw. durch die Vorstellung einer „funktionalen Gesundheit“ geprägt; Behinderung ist demnach jede Form der Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit. Eine solche Beeinträchtigung kommt wiederum zustande durch eine negative Wechselwirkung zwischen dem Gesundheitsproblem (definiert nach ICD) eines Menschen und seinen Kontextfaktoren (vgl. Schuntermann 2006, 2; Klie 2009, 4). Aus diesem Grunde soll das Konzept der „funktionalen Gesundheit“ noch etwas genauer erklärt werden: „Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren – 1. ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen), 2. sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten),
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen)“ (WHO 2005, 4).
In der Definition wird deutlich, dass das medizinische Verständnis von Behinderung, welches sich auf körperliche Funktionen und Strukturen bezieht, durch drei weitere Bereiche – Aktivität, Teilhabe und Kontextfaktoren – erweitert wird. Schuntermann (2006, 2f.) betont hierzu: „Zusätzlich zu den bio-medizinischen Aspekten (Körperfunktionen und -strukturen), die die Ebene des Organismus betreffen, werden Aspekte des Menschen als handelndes Subjekt (Aktivitäten) und als selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Subjekt in Gesellschaft und Umwelt (Teilhabe) einbezogen. (…). Die genannten Aspekte gleichsam umhüllend, werden die Kontextfaktoren der betreffenden Person in die Betrachtung einbezogen, d.h. alle externen Gegebenheiten der Welt, in der die betreffende Person lebt (Umweltfaktoren), sowie ihre persönlichen Eigenschaften und Attribute (personbezogene Faktoren). Da sich Kontextfaktoren positiv oder negativ auf die funktionale Gesundheit auswirken können, sind sie bei der Rehabilitation zu berücksichtigen. (…). Mit dem bio-psycho-sozialen Modell wurde ein bedeutender Paradigmenwechsel vollzogen. Funktionale Probleme sind nicht mehr Attribute einer Person, sondern sie sind das negative Ergebnis einer Wechselwirkung“ (Hervorhebungen im Original).
In den Ausführungen zur Funktionsfähigkeit bzw. funktionalen Gesundheit werden bereits die vier tragenden Säulen des bio-psycho-sozialen Modells der ICF deutlich. Im Einzelnen umfassen diese vier Säulen (vgl. ausführlich WHO 2005; ebenso Wacker u.a. 2005, 10f.): 1.
2.
3.
Körperfunktionen und Körperstrukturen: Mit Körperfunktionen sind alle physiologischen und psychischen Funktionen gemeint (z.B. Stoffwechsel, Wahrnehmung usw.); unter Körperstrukturen werden die anatomischen Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen usw. zusammengefasst. Unter Aktivität wird die Durchführung einer Aufgabe oder einer Tätigkeit verstanden, wobei insbesondere auf die Möglichkeiten bzw. Beschränkungen dieser Aktivitäten abgezielt wird. Eine Beeinträchtigung dieser Aktivitäten bedeutet demnach die Schwierigkeit, eine bestimmte Aktivität durchführen zu können. Partizipation kann verstanden werden als Teilnahme oder Teilhabe einer Person am gesellschaftlichen Leben bzw. in den subjektiv bedeutungsvollen Lebensbereichen (z.B. Arbeit und Beschäftigung, Mobilität aber auch soziale Beziehungen und kulturelle Teilhabe). Beeinträchtigungen von Partizipa-
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
4.
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tionschancen ergeben sich dabei aus den Beschränkungen der körperlichen, geistigen und seelischen Verfassung (Körperfunktionen und -strukturen), von Aktivitäten sowie aus den Bedingungen der jeweiligen Kontextfaktoren (personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren). Als vierte Ebene werden ferner Kontextfaktoren in das Modell integriert. Kontextfaktoren umfassen dabei Umweltfaktoren (physikalische und soziale Umwelt) sowie personenbezogene Faktoren (Alter, Geschlecht, Bildung, ethnische Herkunft, Lebensstil usw.).
Insgesamt besteht in diesem Vierebenenmodell eine Wechselwirkung zwischen bio-medizinischen Komponenten, Kontextfaktoren (Umwelt- und personenbezogene Faktoren) sowie den Möglichkeiten zur Aktivität und Teilhabechancen. Grafisch kann die Wechselwirkung der in diesem Modell interagierenden Variablen wie folgt dargestellt werden: Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Körperfunktionen und -strukturen
Umweltfaktoren
Abbildung 2:
Aktivitäten
Partizipation [Teilhabe]
Personbezogene Faktoren
Das bio-psycho-soziale Modell der ICF (Quelle: WHO 2005, 23)
Behinderung verstanden als Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit umfasst daher Beeinträchtigungen der Körperfunktionen und -strukturen genauso wie Einschränkungen von Aktivitäten und Partizipation (bzw. Teilhabe). Hintergrund der Beeinträchtigung ist wiederum die Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblem und den Kontextfaktoren (Umwelt- und personenbezogene Faktoren). Wichtig ist jedoch, dass sich die Abbildung sowohl von rechts als auch nach links lesen lässt, wie auch die verschiedenen Doppelpfeile nahe legen. Demnach stehen insbesondere die drei Komponenten „Körperfunktionen und -strukturen“, „Aktivität“ und „Partizipation“ in einer engen Wechselwirkung:
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„Beispielsweise können Körperfunktionen bzw. Strukturen Voraussetzungen für Aktivitäten sein und diese wiederum für die Teilhabe an bestimmten sozialen Kontexten. Aber auch umgekehrt: Erst die Teilnahme an sozialen Kontexten kann – vermittelt über bestimmte Aktivitäten – zur Ausbildung bestimmter körperlich verankerter Funktionen und Strukturen führen, z.B. beim Training eines Muskels oder beim Erwerb von bestimmten Kompetenzen (…)“ (Kastl 2009, 31)
Entsprechend ist also immer auch denkbar, dass Einschränkungen im Bereich Teilhabe und Aktivität zu Beeinträchtigungen körperlicher Funktionen und Strukturen führt.14 Hierin besteht auch die Stärke des Modells, denn es geht nicht von einseitigen kausalen Zusammenhängen aus, sondern ermöglicht „eine Übersicht theoretisch denkbarer Zusammenhänge“ (ebd., 32). Ein für die vorliegende Auseinandersetzung mit den Potenzialen Persönlicher Budgets besonders relevanter Aspekt ist der Begriff der sozialen Teilhabe (Partizipation). In der Logik der ICF wird Teilhabe verstanden werden als die Möglichkeit, in spezifischen Lebenssituationen partizipieren zu können. Wichtig für die Auseinandersetzung mit den Potenzialen Persönlicher Budgets ist dabei, dass „Teilhabe“ und „Aktivität“ unmittelbar zusammenhängen. Ist beispielsweise Aktivität in bestimmten Lebensbereichen erschwert, kommt es auch gleichzeitig zu einem Ausschluss bzw. eingeschränkter Teilhabe in diesen Lebensbereichen. Wiederum sind mangelnde Teilhabechancen verbunden mit Erschwernissen in den Aktivitäten (vgl. Rohrmann 2009, 18f.). Das skizzierte bio-psycho-soziale Behinderungsmodell (ICF) und die besondere Bedeutung des Teilhabegedankens beeinflusste die Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig. Bei der Gestaltung des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) – „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ – spielte dieses Modell eine wesentliche Rolle: „Das bio-psycho-soziale Modell, das in Ansätzen der ICIDH unterlag, wurde mit der ICF erheblich erweitert und damit der Lebenswirklichkeit Betroffener besser angepasst. Insbesondere wird nun der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt. In Deutschland wurden mit dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – wesentliche Aspekte der ICF unter Berücksichtigung der historisch gewachsenen und anerkannten Besonderheiten aufgenommen“ (WHO 2005, 4).
Auch Diemer (2002) betont beispielsweise, dass ein zentraler Eckpfeiler des SGB IX neben dem Prinzip der Selbstbestimmung insbesondere eine stärkere 14
Denkbar ist beispielsweise, dass eine mangelnde Teilhabe in bestimmten gesellschaftlich relevanten Gruppen oder auch das Aufwachsen in einer Lebenslage, die hochgradig von Deprivation gekennzeichnet ist, zu psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen führt (vgl. beispielsweise Kastl 2009, 32).
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
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Orientierung an der „sozialen“ Dimension von Behinderung ist (vgl. Diemer 2002, 398). Die besondere Bedeutung von Teilhabe, wie sie im bio-psychosozialen Behinderungsmodell der ICF herausgestellt wird, prägte dabei die bundesdeutsche Gesetzgebung nachhaltig. Insbesondere die Forderungen nach einem möglichst hohen Maß an Teilhabe sind Ausdruck der veränderten sozialpolitischen Forderungen im Bereich der Behindertenhilfe. Mit Einführung des SGB IX wird nicht nur ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Selbstbestimmung und „Kundensouveränität“, sondern insbesondere auch zu einer Stärkung von Teilhabechancen behinderter Menschen intendiert: „Mit dem SGB IX tritt als Ziel aller Rehabilitationsleistungen an die Stelle des traditionellen Begriffs der Eingliederung der Begriff der Teilhabe. Dieser steht im Zusammenhang mit einem international sich wandelnden Verständnis von Behinderung, wie es in der ‚Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit‘ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001) zugrunde gelegt wird. (…). Aufgabe von Rehabilitation ist es vor diesem Hintergrund, durch individuell passende Unterstützung die Chancen der Partizipation zu erhöhen und Risiken der Ausgrenzung zu mindern. Welche Ressourcen hierfür im Einzelfall erforderlich sind, ist abhängig von den individuellen Aufgaben, Kompetenzen und Risiken von Menschen mit Behinderung in ihren jeweiligen Lebensräumen. Ihre Mitwirkung bei der Auswahl und Gestaltung geeigneter Leistungen ist daher unverzichtbares Element einer teilhabeorientierten Rehabilitation – dies betrifft Fragen der allgemeinen Programm- und Versorgungsstruktur ebenso wie die Feststellung von Bedarfen und Bestimmung von Leistungen im individuellen Fall“ (Metzler u.a. 2006, 7).
In Anlehnung an das sich wandelnde Verständnis von Behinderung und des Einbezugs der sozialen Dimension gewinnt daher das Konzept der Teilhabe eine entscheidende Bedeutung. Im Grunde verweist das bio-psycho-soziale Modell auf ein Verständnis von Behinderung, in welchem Behinderung als Mangel an Inklusion bzw. als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gedeutet wird. Behinderung geht letztendlich auf ein komplexes Geflecht an Bedingungen zurück und gesellschaftliche Deutungen und Ausgrenzungsprozesse tragen nicht unwesentlich zum Entstehen einer Behinderung bei (vgl. dazu auch ausführlich Schuntermann 2007). Entsprechend stellt „Teilhabe“ ein Schlüsselbegriff im SGB IX dar und „Leistungen und Leistungsformen, die die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderung verbessern beziehungsweise Teilhabe erst ermöglichen, rücken damit wesentlich stärker als bisher in das Zentrum des Rehabilitationsverständnisses“ (Diemer 2002, 398). Der Einfluss dieses Modells ist neben der gesetzlichen Ebene aber auch insbesondere auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene zu erwarten und stellt die bisherigen Vorstellungen über sowie den Umgang mit Behinderung auf den Prüfstand. Dies betrifft die akademischen Diskussionen genauso wie die unmit-
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
telbare Arbeit mit behinderten Menschen. Demnach sollte es in Abgrenzung und Ergänzung zu einem (rein) medizinischen Verständnis von Behinderung in Zukunft auch um ein verändertes Verständnis von „Unterstützungsbedarf“ gehen, in dem sich die Dimensionen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität, Partizipation und Kontextfaktoren vereinen. Für die Planung und Gestaltung von Angeboten für Menschen mit Behinderung ist ein solches Verständnis „von besonderer Bedeutung, da es sich nicht nur auf personenbezogene Maßnahmen beschränkt, sondern umweltbezogene und gesellschaftliche Maßnahmen integriert“ (Seifert u.a. 2001, 17). Dabei gilt es, die genannten Begrifflichkeiten mit „Leben zu füllen“, also danach zu fragen, wie und in welchen Bereichen sich Teilhabe und Aktivität umsetzen lassen – kurz: wie die Unterstützungsleistungen und jeweiligen Lebensbereiche von behinderten Menschen gestaltet werden sollten, um dem Anspruch an diesen veränderten Behinderungsbegriff gerecht zu werden. Auch in diesem Punkt kommt dem Aspekt Teilhabe eine zentrale Bedeutung zu, denn neben „der Beeinträchtigung von Körperstrukturen und -funktionen sowie von Aktivitäten manifestiert sich Behinderung demnach vor allem als Einschränkung der Partizipation in wesentlichen Lebensbereichen wie Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung oder soziales Leben“ (Metzler u.a. 2006, 7). Wenn also ein wichtiges Element in diesem Perspektivenwechsel die verstärkte Hinwendung zu den Konzepten der Teilhabe und Aktivität ist, dann steht immer auch die Frage im Vordergrund, auf welche Lebensbereiche sich diese Teilhabe beziehen soll. In Anlehnung an Schuntermann (2006, 6) sowie Wacker u.a. (2005, 22) geht es dabei um die Ausübung der „üblichen“ gesellschaftlichen Rollen, d.h. um den Einbezug und die Beteiligung in den Bereichen
persönliche Selbstversorgung, selbstständiges häusliches Leben, allgemeine Aufgaben, alltägliche Anforderungen, interpersonale Interaktion, soziale Beziehungen, Mobilität, Information und Kommunikation, bedeutende Lebensbereiche (Erziehung, Bildung und Ausbildung, Erwerbsarbeit und Beschäftigung, Wirtschaftsleben), Lernen und Wissen, Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Wie stehen diese Entwicklungen nun mit dem Persönlichen Budget in Verbindung? Das veränderte Verständnis von Behinderung kann insofern in engem Kontext zur Leitidee des Persönlichen Budgets gestellt werden, weil die Verwendung Persönlicher Budgets darauf abzielt, soziale Beziehungen, Aktivität, Ressourcen und Kompetenzen behinderter Menschen stärker als bisher in den
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Mittelpunkt zu rücken. Beispielsweise ist davon auszugehen, dass die Organisation der Unterstützung mit Hilfe eines Persönlichen Budgets zu verbesserten Teilhabemöglichkeiten beitragen könnte. Zudem wird das Persönliche Budget häufig eingesetzt, um eigene Vorstellungen von Aktivität umzusetzen, auch um dadurch soziale Kontakte knüpfen oder erhalten zu können (vgl. dazu auch ausführlich Kapitel 5 sowie Kapitel 7). Aus diesem Grunde wird mit der Einführung von Persönlichen Budgets einer erweiterten Sichtweise von Behinderung Rechnung getragen. Eine solche Betrachtung versteht Behinderung gleichermaßen als soziales Phänomen; entsprechend können soziale Bedingungen aber auch Potenziale mit berücksichtigt werden. Durch und mit dem Persönlichen Budget führt die Entwicklung weg von einem medizinisch geprägten Behinderungsverständnis hin zu einer ganzheitlichen Perspektive, die Menschen mit Behinderung in ihrer jeweiligen Lebenssituation sieht. Dadurch gelingt es auch, vorhandene sowie benötigte Ressourcen mehr in den Blick zu nehmen und ggf. geeignete Rahmenbedingungen im sozialen Umfeld eines behinderten Menschen zu schaffen. Die grundlegenden Annahmen der ICF schlagen sich letztendlich vor allem in der Kernidee der Teilhabe nieder und gerade dieses Teilhabekonzept spielt in der Idee Persönlicher Budgets eine tragende Rolle. 2.3.3 Die sozialpolitische Ebene: Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks und Stärkung der Rolle des Hilfeempfängers – Sozialpolitischer Richtungswechsel Der sich in der Behindertenhilfe vollziehende Paradigmenwechsel bzw. Perspektivenwechsel wird oftmals mit einer veränderten Rolle des Leistungsempfängers in der Sozialgesetzgebung in Verbindung gebracht. Dabei wird angenommen, dass diese veränderte Rolle wiederum Auswirkungen auf Seiten der Leistungserbringer nach sich ziehen wird, „weil der auf soziale Leistungen angewiesene behinderte Mensch (…) nicht länger in der Position eines ‚Leistungsempfängers‘ verharren [muss] (…). Er soll vielmehr als ‚Subjekt‘ der Sozialgesetzgebung eine Stellung erhalten, die es ihm ermöglicht, direkt in das Leistungsgeschehen einzugreifen und aus der Rolle eines Antragstellers in die Rolle eines Partners der mit der Ausführung der Leistungen beauftragten Rehabilitationsträger und Leistungserbringer hineinzuwachsen“ (Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe u.a. 2001, 9). Ausgangspunkt dieser sozialpolitischen Forderung waren aber insbesondere die Kritik an der besonderen (Macht-) Stellung der Leistungsanbieter sowie das zunehmende Bestreben, mehr Markt und Wettbewerb im Bereich sozialer Dienstleistungen zu etablieren, sukzessive eine effizientere Gestaltung der Hilfen und eine verstärkte Qualitätssicherung zu forcieren. Kritische Stimmen verlan-
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gen dabei bereits seit einiger Zeit nach einer stärkeren Nutzerorientierung bei der Gestaltung und Planung sozialer Dienstleistungen und Angebote, um die Stellung der Leistungserbringer zu schwächen. Diese würden zwar bisher als „Fürsprecher“ von Menschen mit Behinderung auftreten, mit der Begründung, sie wüssten selbst am besten, was für ihre „Klienten“ nötig wäre, auf der anderen Seite werden die Angebote in der Regel ohne Beteiligung derjenigen Menschen gestrickt, für die sie gedacht sind. Gerade weil die Leistungserbringer hierbei eine „marktbeherrschende“ Stellung einnehmen – einerseits als „Anwalt“ behinderter Menschen, andererseits als Dienstleistungsproduzenten – verbleibt die „Definitionsmacht“ größtenteils bei den Leistungserbringern. Dies hat wiederum Auswirkungen auf Art und Weise der Angebotsplanung und -gestaltung sowie insbesondere auf Qualitätsfragen, denn wenn „im Produktionsprozess selber, d.h. in der Interaktion zwischen Behindertenhilfe und Nutzern der Angebote eine Beteiligung der Verbraucher oder Kunden nicht vorgesehen ist, entsteht Qualität alleine durch das Erreichen der Ziele, die sich die Anbieter selbst gesteckt haben“ (Wacker 2001, 54). Letztendlich – und dieser Gedanke verweist bereits auf das Persönliche Budget – sollte aber „derjenige, der eine Leistung bezahlt, auch die damit (…) erwartete Qualität definieren (…)“ (Hartmann 2001, 89). Bereits mit dem am 01.07.2001 in Kraft getretenen Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs wird schließlich die Rolle des Leistungsempfängers gestärkt. Der bisherigen Entscheidung der Leistungsträger und -anbieter über die jeweils zu erbringenden Hilfe- und Unterstützungsleistungen „über die Köpfe“ der Leistungsberechtigten hinweg soll mit der neuen Gesetzgebung Einhalt geboten und entsprechend die Positionen im klassischen „Dreieckverhältnis“ neu bestimmt werden. Aufgabe der Leistungsträger der Rehabilitation soll es nun sein, die (materiellen) Ressourcen für eine angemessene Unterstützung in ausreichender Form zur Verfügung zu stellen, Leistungserbringer sollen hingegen als Dienstleister fungieren, „die mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe handeln, aber dabei Abschied nehmen von einer fürsorglichen (Rundum-) Versorgung zugunsten individueller Serviceleistung“ (Wacker u.a. 2004, 128). Den Leistungsempfängern soll es fortan ermöglicht werden, die jeweils passgenauen Hilfe- und Unterstützungsleistungen auszuwählen, nach Bedarf und entsprechendem Umfang zusammenzustellen und selbstbestimmt zu managen, kurz, sich von einem „Objekt der Fürsorge“ zu einem „handelnden Subjekt“ zu wandeln. Insbesondere mit der Einführung des Persönlichen Budgets in Deutschland als neue Form der Leistungserbringung soll dieser Forderung vom „Objekt der Fürsorge“ zum „handelnden Subjekt“ Rechnung getragen werden. Insofern ist die Einführung Persönlicher Budgets gleichzeitig auch Ausdruck „sozialpolitischer Reformbemühungen und eines grundlegenden Richtungswechsels in der Politik für Menschen mit Behinderung: Leistungsberechtigte sollen nicht länger
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als Objekt wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge (mit standardisierten Leistungen) versorgt werden, vielmehr wird ein neuer Kurs verfolgt, der
die Subjektstellung des Einzelnen fördern, eine selbstbestimmte Lebensführung und die Eigenverantwortlichkeit für die Bewältigung von Lebenslagen unterstützen, Risiken der Ausgrenzung mindern oder beseitigen und die umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben der Gesellschaft verwirklichen soll“ (Metzler u.a. 2006, 7).
Dieser sozialpolitische „Richtungswechsel“ von der Ver- und Umsorgung zu einer Stärkung des selbstbestimmten Umgangs mit Leistungen, machte schließlich neue und geeignetere Steuerungsinstrumente unumgänglich, um dem Anspruch nach Selbstbestimmung und Teilhabe entsprechen zu können. Dabei scheinen vor allem die Instrumente Erfolg zu versprechen, „die in der Abkehr von schematisierten und standardisierten Verfahren der Problembearbeitung stärker an den individuellen Lebenssituationen und Perspektiven anknüpfen und dabei die Nachfragedimension in den Mittelpunkt stellen. Vor diesem Hintergrund wird (…) in Deutschland mit dem SGB IX erstmalig die Möglichkeit geschaffen, Rehabilitationsleistungen als Persönliches Budget zu erbringen“ (ebd., 8). Ingesamt wird erwartet, dass das Persönliche Budget eine besondere Impulskraft zur Erneuerung des Rehabilitationssystems entfalten kann, „weil es nicht wie die bisherigen Finanzierungsformen an der Erbringerseite von Leistungen ansetzt, sondern die relevanten Ressourcen (Geldressourcen wie auch Zuständigkeiten und ‚Macht‘) radikal zugunsten der Nachfrageseite umsteuert. Damit werden die Beziehungen im System der Rehabilitation auf eine ganz neue Basis gestellt und die ‚Kräfteverhältnisse‘ verlagert“ (ebd., 9). Diese Erwartung manifestiert sich bildhaft in der Veränderung des sogenannten leistungsrechtlichen Dreiecks. Mit der Einführung des Persönlichen Budgets wird die im klassischen Sachleistungsprinzip bestehende Vertragsbeziehung zwischen den Leistungsträgern und -anbietern aufgelöst (bzw. geschwächt): „Durch Persönliche Budgets wird das sogenannte „leistungsrechtliche Dreieck“ reduziert. Die herkömmliche Sachleistung beruht auf einer Dreiecksbeziehung zwischen Leistungsberechtigtem, Leistungsträger und Leistungserbringer mit dreiseitig definierten Rechten und Pflichten aller Beteiligten. Bei Persönlichen Budgets wird diese dreiseitige Beziehung in zwei zweiseitige Beziehungen zerlegt. Der Leistungserbringer (…) steht in keinem Vertragsverhältnis mehr zum Leistungsträger (…), sondern nur noch zum behinderten Menschen, also dem Leistungsempfänger. Dieser allein ist an bestimmte Vereinbarungen zur Verwendung des Budgets mit dem Leis-
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
tungsträger gebunden. Dies setzt ‚Qualitätskontrollen‘ der Leistungserbringer o.ä. durch die Leistungsträger deutliche Grenzen, ermöglicht aber auf der anderen Seite direkten Einfluss des Leistungsberechtigten auf z.B. Art, Zeitpunkt und Gestaltung der Leistung“ (Kastl, Meyer 2007, 190).
Die Leistungsbeziehung beim Persönlichen Budget konzentriert sich demgegenüber also auf den Leistungsberechtigten, der nun im Mittelpunkt des „Geschehens“ steht. Es besteht dabei auf der einen Seite eine Beziehung zwischen Leistungsberechtigtem und Leistungsträger (letzterer überweist das Budget an den Leistungsberechtigten; dieser wiederum geht einen Vertrag über die Verwendung des Budgets mit dem Leistungsträger ein), genauso besteht aber auch eine Beziehung zwischen dem Leistungsberechtigten und Leistungserbringer (letzterer erbringt eine – oftmals vertraglich festgelegte – Leistung für den Budgetnehmenden, dieser wiederum überweist das Geld direkt an den Erbringer). Im Gegensatz zum herkömmlichen Sachleistungsmodell, in dem die monetären Leistungen der Kostenträger direkt mit den Leistungserbringern abgerechnet werden und die Leistungsempfänger lediglich darüber „informiert“ worden sind, können Menschen mit Unterstützungsbedarf nun die von den in Frage kommenden Leistungsträgern bewilligten Geldbeträge als Persönliches Budget bekommen, um die benötigten Leistungen selbst bei den Leistungserbringern einzukaufen bzw. abzurechnen (vgl. Windisch 2006, 9). Die Ausführung der Leistung in Form eines Persönlichen Budgets stellt dabei also vor allem eine Veränderung der Zahlungswege zwischen dem Leistungsberechtigten, dem Leistungsträger und dem Leistungserbringer dar (vgl. Lachwitz 2004, 7). In dieser Konsequenz wird der Leistungsberechtigte „Kunde“ (vgl. Abbildung 3 und 4). Durch das Persönliche Budget wird es damit möglich, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr auf die passive Rolle als Adressaten und Empfänger von Hilfeleistungen verwiesen werden. Stattdessen sind sie in den Leistungsprozess aktiv miteinbezogen und gewinnen eine Art „Konsumentensouveränität“ (vgl. Metzler u.a. 2007, 27). Schließlich kann die Idee Persönlicher Budgets noch weiter gedacht werden, denn die Machtstellung der Leistungserbringer wird dadurch geschwächt, so dass die Leistungsempfänger mehr Einflussmöglichkeiten auf die Art und Weise der Leistungserbringung sowie auf die Qualität der erbrachten Dienste erhalten. Dadurch, dass der Leistungsempfänger nun über „materielle“ Ressourcen verfügt, verschieben sich die Machtverhältnisse und Einflussmöglichkeiten zugunsten des Leistungsempfängers (vgl. dazu auch Lachwitz 2004; Wessels 2007; Wacker u.a. 2005). Im Zuge dieser Kundensouveränität sollen die Leistungsempfänger direkt oder indirekt Einfluss auf die Leistungserbringer ausüben. Das Persönliche Budget verhilft den Nutzer/innen sozialer Dienstleistungen zu einer neuen und vor allem stärkeren Rolle „bei der Ausgestaltung des Angebots (…).
2.3 Das Persönliche Budget im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe
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Durchaus konsequent in der Folge des Marktgedankens soll der Klient, (…) mit Kaufkraft und Marktmacht versehen, selbst Wahlfreiheit und damit unmittelbaren individuellen Einfluss auf die Ausgestaltung der Dienste erhalten“ (Hartmann 2001, 87).
Geldmittel
Leistungsträger
Anbieter
Vereinbarungen über Inhalt, Umfang, Qualität der Leistungen Anspruch auf Leistungen
Ausführung von Sachleistungen
Nutzer
Abbildung 3:
Leistungsbeziehungen nach dem Sachleistungsprinzip (Quelle: Metzler u.a. 2007, 27)
Nutzung und Bezahlung
Geldmittel
Leistungsträger
Nutzer Zielvereinbarungen
Abbildung 4:
von Dienstleistungen
Anbieter Vereinbarungen über Inhalt, Umfang, Qualität
Leistungsbeziehungen im Rahmen eines Persönlichen Budgets (Quelle: Metzler u.a. 2007, 28)
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2 Kernidee und Hintergrund der Einführung Persönlicher Budgets
2.4 Zusammenfassung Persönliche Budgets stehen auf normativ-ethischer Ebene mit einem allgemeinen Paradigmenwechsel in Verbindung, weil es Menschen mit Behinderung dadurch möglich wird, Unterstützung selbstbestimmt bzw. eigenverantwortlich planen und umsetzen zu können. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets werden dabei vor allem sachliche, zeitliche und personelle Dispositionsspielräume erschlossen. Weiterhin sind Persönliche Budgets insofern als „persönlich“ zu verstehen, als dass sie sich auf einen individuellen Bedarf beziehen. Aus diesem Grunde können individuelle Interessen und Bedürfnisse stärker in den Blick genommen werden. Insgesamt birgt das Persönliche Budget daher das Potenzial, den Wandel vom „Fürsorgeparadigma“ zu einem „Selbstbestimmungsparadigma“ zu unterstützen. Auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene steht das Persönliche Budget durchaus mit einem sich wandelnden Verständnis von Behinderung in Verbindung, weil es einerseits eine erweiterte Sichtweise auf Behinderung impliziert und auch soziale Bedingungen mit berücksichtigt. Zum anderen beinhaltet die Idee Persönlicher Budgets auch eine ressourcenorientierte Sichtweise, weil es insbesondere um die Verwirklichung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geht. Insofern gilt es, Ressourcen und Kompetenzen von Menschen mit Behinderung stärker zu berücksichtigen. Drittens spielt sowohl im bio-psychosozialen Behinderungsmodell der WHO als auch in der Grundidee des Persönlichen Budgets die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft eine tragende Rolle. Was die sozialpolitische Ebene betrifft, so bewirkt die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks durch die Einführung Persönlicher Budgets eine Machtverschiebung zugunsten der Hilfeempfänger. Dadurch verfügen Menschen mit Behinderung nun selbst über die finanziellen Ressourcen und gewinnen nicht nur eine Art „Kundenrolle“, sondern insbesondere auch eine größere Definitionsmacht und Steuerungsfunktion. Sie tragen dann nicht unwesentlich dazu bei, dass sich die Behindertenhilfe in Zukunft sehr viel stärker an den Bedürfnissen und Vorstellungen behinderter Menschen ausrichten muss, weil nun die Entscheidung, welche Hilfe notwendig und sinnvoll ist, wer diese erbringen soll und zu welchem Zeitpunkt diese gewünscht ist, dem Leistungsempfänger übertragen wird und nicht mehr in den Händen der Leistungsträger bzw. -anbieter liegt. Damit in Verbindung stehend kann der Leistungsempfänger selbst Vereinbarungen mit dem Leistungsanbieter über die Art und Weise der Leistungserbringung treffen und aus diesem Grund auch Inhalt, Qualität und Umfang wesentlich mitbestimmen. Menschen mit Behinderung müssen sich somit nicht den Leistungserbringern anpassen, sondern andersherum: Leistungserbringer haben sich dann mit den Erwartungen und Bedürfnissen von Budgetnehmer/innen auseinander zu setzen (vgl. Wacker u.a. 2005, 32f.).
3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis – Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets 3
Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
Die Frage nach den Potenzialen Persönlicher Budgets entspricht im Grunde der Frage nach den Erwartungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets in Verbindung stehen. In der Literatur werden hierzu verschiedene Erwartungen formuliert. Zu nennen sind der Schlüsselbegriff der „Teilhabe“, eine Abkehr von der Fürsorgeorientierung zugunsten einer Orientierung an dem Prinzip der Selbstbestimmung sowie die Forderung nach einem stärkeren Ausbau ambulanter Unterstützungsstrukturen (vgl. Diemer 2002). Diese Orientierungspunkte spiegeln wiederum wichtige Grundsätze des beschriebenen allgemeinen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe wider, so dass die Idee des Persönlichen Budgets im Grunde mit diesen Erwartungen verwoben ist (vgl. Gitschmann 2004; Rohrmann 2007). Wie bereits in Kapitel 2.3 dargestellt, manifestiert sich der bereits seit einigen Jahren proklamierte Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe insbesondere in dem Hinterfragen „klassischer“ Versorgungsstrukturen und Hilfekonzepte für Menschen mit Behinderungen. Entsprechend findet ein Perspektivenwechsel von der institutionellen Hilfe zur personenbezogenen Bedarfsdeckung statt. In diesem Zusammenhang lässt sich eine zunehmende Abkehr von einem „Fürsorgeparadigma“ erkennen, innerhalb dessen die Konzeption von Leistungen sowie die Regelung der Finanzierung ausschließlich den Leistungsträgern und Leistungserbringern obliegt. Menschen mit Behinderungen sind in diesem „Fürsorgeparadigma“ bisher lediglich auf die Rolle eines überwiegend passiven Hilfeempfängers verwiesen. Nachteile dieses „Fürsorgeparadigmas“ werden bereits seit Jahren diskutiert, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in verschiedenen europäischen Ländern (vgl. dazu auch Kapitel 4). Dreh- und Angelpunkte dieser Diskussionen sind dabei insbesondere die mangelnden Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung bei der Inanspruchnahme von Leistungen sowie die Vernachlässigung von Kompetenzen und Ressourcen, über die Menschen mit Behinderungen selbst bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen durchaus verfügen können. Diese Diskussionen werden nicht nur von der Fachwelt aufgegriffen, sondern spielen zunehmend auch in
T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
der Rechtsprechung und in der Sozialverwaltung eine wichtige Rolle, was seinen Niederschlag nicht zuletzt in einem Politikwechsel findet, der von den Grundsätzen der Selbstbestimmung und der Stärkung der Eigenverantwortung getragen wird. Daraus folgend werden letztendlich auch die bestehenden Strukturen und Angebote der Behindertenhilfe mit neuen Leitvorstellungen konfrontiert, sei es mit der Forderung nach mehr Selbstbestimmung im Umgang mit Leistungen oder mit der Forderung nach Mitbestimmung in der Planung und Gestaltung der Unterstützung. Wie gezeigt wurde, ist die Idee Persönlicher Budgets eng verbunden mit diesen Entwicklungen. Die Einführung Persönlicher Budgets markiert entsprechend eine Wende in der Behindertenhilfe und nicht zuletzt wird damit auch eine Abkehr von einer anbieterorientierten Angebotsgestaltung hin zu einer nutzerorientierten Steuerung angestrebt. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwarten, dass sich mit der Einführung Persönlicher Budgets die „Landschaft“ der Behindertenhilfe nachhaltig verändern wird. Die Erwartungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets in Verbindung gebracht werden, können daher auf zwei Ebenen festgemacht werden: So wird einerseits auf Potenziale zur Verbesserung der Situation behinderter Menschen verwiesen, anderseits werden aber auch Impulse zur Weiterentwicklung der Behindertenhilfe proklamiert. Wesentliches Ziel dieses Kapitels ist es daher, die Vielfalt dieser theoretisch formulierten Erwartungen ausführlich darzustellen und zu diskutieren. In Anlehnung an die in Kapitel 2.3. vorgenommene Unterscheidung zwischen einer normativ-ethischen, einer professionstheoretischfachlichen und einer sozialpolitischen Ebene, in denen sich der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe manifestiert, soll auch in diesem Kapitel eine Dreiteilung vorgenommen werden. Es gilt zu zeigen, welche jeweiligen Erwartungen hinsichtlich der Einführung Persönlicher Budgets auf den drei beschriebenen Ebenen formuliert werden. Diese Erwartungskomplexe bilden wiederum das theoretische Fundament für die nachfolgende empirisch begründete Typisierung der Budgetnutzung durch Menschen mit Behinderung. Letztendlich soll mit Hilfe dieser Typisierung auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die auf theoretischer Ebene formulierten Erwartungen in der Praxis der Budgetnutzung auch tatsächlich wieder finden lassen. 3.1 Erwartungen auf normativ-ethischer Ebene: Selbstbestimmung, selbstständige Lebensführung und Regiekompetenz 3.1 Erwartungen auf normativ-ethischer Ebene Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, versteht man unter einem „Persönlichen Budget“ eine spezifische Form der Leistungserbringung in Form eines dem Leistungsberechtigten zuerkannten Geldbetrags, mittels dem die benötigte Hilfen und
3.1 Erwartungen auf normativ-ethischer Ebene
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Unterstützungen selbstbestimmt und in eigener Verantwortung organisiert werden können, d.h. die Leistungsempfänger können dann selbst auswählen, wer sie unterstützt, wann diese Unterstützung erfolgen soll und wie diese Unterstützung aussehen wird. Die Leistungserbringung in Form Persönlicher Budgets gestattet Menschen mit Unterstützungsbedarf soziale („wer“), zeitliche („wann“) und inhaltliche („was“) Dispositionsspielräume, die in Form der herkömmlichen Sachleistung nicht umsetzbar wären. Mit dem Persönlichen Budget soll jedoch nicht nur ein selbstbestimmter(er) Umgang mit Leistungen realisiert werden, das Persönliche Budget soll ebenso eine selbstständige(re) Lebensführung ermöglichen. Grundsätzlich geht es also insbesondere um die Stärkung einer eigenverantwortlichen, selbstbestimmten und selbstständigen Lebensführung von Menschen mit einem behinderungsbedingten Bedarf an Unterstützung.
3.1.1 Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung – durch Persönliche Budgets vom Objekt der Fürsorge zum handelnden Subjekt Die Grundidee Persönlicher Budgets ist eng mit der Forderung nach Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung verwoben – dies zeigt ein Blick in die entsprechende Fachliteratur wie auch die Formulierungen in den relevanten gesetzlichen Grundlagen (§ 17 SGB IX15). Ausgangspunkt der Idee der Selbstbestimmung ist die sogenannte „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“, die nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland wichtige Impulse für die Forderungen nach einer Einführung Persönlicher Budgets setzte.16 Um die Bedeutung dieses Prinzips als zentrales Element der Idee Persönlicher Budgets verstehen zu können, soll das Selbstbestimmungsparadigma kurz erläutert werden:17 Die Forderung nach Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung geht auf die US-amerikanische „Independent-Living-Bewegung“ der späten 60er Jahre zurück und wurde zunächst vor allem von Menschen mit körperlichen Behinderungen getragen. Im Rahmen der Bewegung, die sich als Teil der Bür15
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Der Begriff „Selbstbestimmung“ ist ausdrücklich im Gesetzestext aufgenommen worden: “Auf Antrag können Leistungen zur Teilhabe auch durch ein Persönliches Budget ausgeführt werden, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen“ (§ 17 Abs. 2 SGB IX, Stand: 27.4.2005). Auch in anderen europäischen Ländern, etwa in den Niederlanden oder Großbritannien, kamen die wesentlichen Impulse zur Einführung Persönlicher Budgets (in den Niederlanden das sog. Persoonsgebonden Budget, in Großbritannien sog. Direct Payments) aus der anglo-amerikanischen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (vgl. Korporaal 2001). Eine ausführliche Darstellung des Selbstbestimmungsparadigmas oder der Programmatik der „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Einen Einblick in die Thematik geben Hähner 1998; Niehoff 1994, 1998b; Walther 1998; Theunissen 2002b.
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
gerbewegung in den USA versteht, wird die konsequente Gleichberechtigung behinderter Menschen verfolgt. Daraus entwickelten sich weitere Bewegungen wie die „People-First-Bewegung“, die das Prinzip der Selbstbestimmung für die Gruppe der Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung transportierten, sowie die „Self-Advocacy-Bewegung“ als Ausdruck der Selbstvertretung und Selbstbestimmung behinderter Menschen. Aus diesem Grunde wurde der Selbstbestimmungsbegriff „vor allem durch Betroffene selbst eingebracht und nicht so sehr durch Wissenschaftler oder Fachleute! Das Autonom-Leben-Paradigma wird von behinderten Menschen nicht selten geradezu als Gegen-Konzept zur bisherigen Rehabilitation und Sonderpädagogik in Gestalt traditioneller Interventionspädagogik verstanden“ (Frühauf 1995, 1). Inhaltlich umfasst der Begriff der Selbstbestimmung Entscheidungen auf allen Ebenen menschlichen Lebens und (Alltags-) Handelns. Nach Frühauf geht es bei der Selbstbestimmung im Grunde „stets um ‚scheinbar kleine Entscheidungen in Einzelfragen‘“ (Frühauf 1994 zitiert in Mahnke 2000, 42). Selbstbestimmung manifestiert sich aber nicht nur in solchen kleineren alltäglichen Entscheidungen – wie etwa die Auswahl von Speisen, Freizeitaktivitäten oder den Zeitpunkt des Zubettgehens – sondern genauso auch in den „großen Lebensentscheidungen“ wie die Wahl des Berufs, einer geeigneten Wohnung oder eines Partners (vgl. Hähner 1998, 34f.; Niehoff 1998b, 59; Walther 1998, 69ff.). Alles in allem wollen Menschen mit Behinderung genauso wie Menschen ohne Behinderung „selbstverständlich für sich in Anspruch [nehmen], über alle wesentlichen Fragen ihres Lebens selbst zu entscheiden“ (Niehoff 1994, 186). Im Grundsatz geht mit der Forderung nach Selbstbestimmung zudem ein Verständnis einher, „dass Menschen mit Behinderung nicht länger als Objekte der Fürsorge und Betreuung betrachtet werden wollen, sondern als Individuen mit eigenen Interessen und Wünschen, bei deren Realisierung sie partiell Unterstützung benötigen“ (Mahnke 2000, 42). Der Forderung nach seinem selbstbestimmten Leben liegt daher die Überzeugung zugrunde, dass Menschen mit Behinderung letztendlich die einzigen Experten sind, wenn es um solche (Lebens-) Entscheidungen geht. Entsprechend sollten behinderte Menschen auch die Möglichkeit haben, Entscheidungen eigenverantwortlich treffen zu können, anstatt sie anderen Menschen überlassen zu müssen (vgl. Kaas 2002, 29f.). Die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung knüpfen dabei an den in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts geführten Diskussionen über „Normalisierung“ (vgl. dazu Kapitel 3.2.1) an, erweitern die Idee der Normalisierung jedoch. Das Selbstbestimmungsparadigma setzt hierbei neue Akzente, ergänzt jedoch auch die bisherigen Anstrengungen, für Menschen mit Behinderung normalisierte Lebensumstände zu schaffen:
3.1 Erwartungen auf normativ-ethischer Ebene
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„Während der Begriff der Normalisierung vorrangig die äußeren Lebensumstände und die soziale Stellung eines Menschen in der Gesellschaft, die Gestaltung von Alltagsabläufen und auch das Erscheinungsbild behinderter Menschen als Kind, Jugendlicher und Erwachsener in unserer Gesellschaft anspricht, lenkt das AutonomieParadigma den Blick auf die Beziehungen zwischen der Gruppe der behinderten Menschen und der Gesellschaft insgesamt sowie der unmittelbaren Gestaltung zwischenmenschlicher Bezüge zwischen helfenden Personen und Hilfeempfängern“ (Frühauf 1995, 1).
Im Zuge dieser Entwicklungen und der im Kontext dieser Forderungen geführten Debatten konnte die Kritik an den bestehenden Strukturen und Angeboten der Behindertenhilfe nur eine notwendige Konsequenz sein und in den letzten beiden Jahrzehnten mussten sich Einrichtungen und Dienste dieser Kritik – formuliert von denjenigen Menschen, für die diese Einrichtungen und Dienstleistungen konzipiert wurden – zunehmend stellen: „Die behinderungserfahrenen Menschen selbst fügen sich nicht mehr bedingungslos in die Lebensumstände, die man für sie vorgesehen hat. Sie drängen auf Selbstbestimmung, sie fordern, das versorgende und beschützende Dach der traditionellen Hilfen verlassen zu können (…). Sie kritisieren, dass Organisationen und Strukturen sie behindern in der Form wie sie Hilfe anbieten, dass Einschätzungen und Werthaltungen sie aus den gesellschaftlichen Aufgaben drängen und ihnen einen Platz zuweisen, der zwar geschützt ist, aber sie zugleich auch ausschließt“ (Wacker u.a. 2004, 129).
Das Einfordern von mehr Selbstbestimmung wird sich aus diesem Grunde – so die Erwartung – in entscheidender Art und Weise auf Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe auswirken, denn der Gedanke der Selbstbestimmung steht nicht nur für ein gewachsenes Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderung, er umfasst gleichzeitig auch die Forderung nach einer Veränderung der Art und Weise der Erbringung der Dienstleistungen für behinderte Menschen. Bereits vor über 10 Jahren schreibt beispielsweise Hähner (1998, 35): „Der Anspruch auf Selbstbestimmung beginnt nun, ein ganzes Hilfesystem umzukrempeln und rüttelt am Selbstverständnis der professionellen Helfer.“ Die Forderung nach mehr Selbstbestimmung steht dabei im Kontext des bereits mehrfach erwähnten Paradigmenwechsels, im Zuge dessen die Hilfe- und Unterstützungsangebote der „klassischen“ Behindertenhilfe in Frage gestellt werden und zunehmend Abschied von einer als „Fürsorgeparadigma“ bezeichneten Sichtweise genommen wird (vgl. Wacker 2001; Wacker u.a. 2005; Wacker u.a. 2004). Diese Abkehr von dem Prinzip des „Verwahrens“, der Fürsorge und der Fremdbestimmung vollzieht sich im Grunde auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Institutionen der Behindertenhilfe sowie auf der Ebene des Verständnisses von Behinderung. Entsprechend stellt die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung nicht nur
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
das bisherige Bild von Menschen mit Behinderung in Frage, auch professionelle Helfer „müssen umdenken, das differenzierte System der Behindertenhilfe verliert an vielen Stellen seine Selbstverständlichkeit“ (Hähner 1998, 25). Gefordert wird daher nicht nur ein veränderter Umgang mit Menschen mit Behinderungen, sondern auch ein verändertes Verständnis von Behinderung, das sich in einer verstärkten Orientierung an den Kompetenzen und Ressourcen behinderter Menschen orientiert. Menschen mit Behinderung soll in Zukunft eine aktivere Rolle in der Gestaltung und Planung der Unterstützungsleistungen zukommen. Im Kontext dieser Forderungen kann auch die Idee des Persönlichen Budgets gesehen werden und vielerorts wird die Erwartung formuliert, dass das Persönliche Budget zu mehr Selbstbestimmung behinderter Menschen beitragen wird, gerade weil sich das Verhältnis zwischen Leistungsanbietern und -empfängern verändert und Menschen mit Behinderung mehr Einflussmöglichkeiten gewinnen (vgl. etwa Stutzmüller 2001, 121). Der Anspruch auf mehr Selbstbestimmung ist daher untrennbar mit der Idee und Intention Persönlicher Budgets verwoben: „War der Umgang mit von Behinderung betroffenen Menschen bisher vom Gedanken der Fürsorge geprägt, löst sich das traditionelle Dreiecksverhältnis von Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigter (…) nun auf. Vom Objekt der Umsorgung findet eine Verschiebung zum handelnden Subjekt statt“ (WIR 2005, 6).
Das Persönliche Budget stellt daher zumindest von seiner Grundidee her ein geeignetes Instrument zur Erweiterung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung dar. Statt einer im Kern auf Ver- und Umsorgung ausgerichteten Behindertenhilfe soll es bei dem Persönlichen Budget darum gehen, Menschen mit Behinderung mehr Einflussnahme und Selbstbestimmung in der Auswahl und Gestaltung Ihrer Unterstützung zu ermöglichen. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets soll der Leistungsempfänger in die Lage versetzt werden, die benötigten Unterstützungs- und Pflegeleistungen dem eigenen subjektiv empfundenen Bedarf folgend „einzukaufen“ (vgl. Meyer 2007, 26). Tatsächlich – so die Argumentation – können mit der Einführung Persönlicher Budgets herkömmliche Strukturen aufgebrochen werden und einer völlig anderen „Unterstützungskultur“ weichen (vgl. Hansen 2008). Warum insbesondere das Persönliche Budget als geeignetes Instrument zur Umsetzung von Selbstbestimmungspotenzialen gesehen wird, erklärt sich vor allem aufgrund der bereits beschriebenen Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks. Im Zuge dieser Auflösung kommt es zu einer veränderten Rolle des Leistungsempfängers und damit auch zu einer stärkeren Realisierung von Einfluss- und Wahlmöglichkeiten. Betrachtet man zunächst die Veränderung der Rollen in dem bisherigen Dreiecksverhältnis, so lässt sich Folgendes festhalten: Das bisherige System ist geprägt durch Vertragsregelungen zwischen Kostenträ-
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gern und Leistungsanbietern. Entsprechend bleibt der Leistungsempfänger außen vor. Dies soll sich jedoch durch die Einführung Persönlicher Budgets ändern: „Zugespitzt könnte man sagen, der Behinderte als Objekt, über den verfügt und entschieden wird. Die Auflösung des sogenannten Dreiecksverhältnisses, in dem der behinderte Mensch ‚Vertragspartner‘ sowohl gegenüber dem Kostenträger als auch gegenüber den jeweiligen Einrichtungen und Diensten ist, stellt ihn wieder in die Mitte“ (Stutzmüller 2001, 121).
In engem Bezug mit den Forderungen nach mehr Selbstbestimmung auf theoretischer Ebene stehen auf konkreter Ebene die Forderungen nach Einfluss- und Wahlmöglichkeiten. Die Veränderung des leistungsrechtlichen Dreiecks eröffnet dem Leistungsberechtigten daher neue Möglichkeiten, seine Abhängigkeit reduzieren zu können. Dafür müssen jedoch Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen, denn je „mehr Möglichkeiten der Wahl behinderten Menschen angeboten werden können, desto eher können sie ein selbstbestimmtes Leben führen, (…)“ (vgl. Niehoff 1994, 193). Dieser Zusammenhang zwischen Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung ist nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil das Leben von Menschen mit Behinderung seit jeher durch ein hohes Maß an Abhängigkeit von entsprechenden Angeboten und Unterstützungsleistungen gekennzeichnet ist. Aus diesem Grunde bedeutet Selbstbestimmung vor allem, zwischen Hilfs- und Unterstützungsangeboten „auswählen“ zu können anstatt auf einen vorgezeichneten Lebenslauf festgelegt zu sein und in der Entfaltung eines individuellen Lebensstils beschränkt zu werden (vgl. Häußler u.a. 1996 zitiert in Kaas 2002, 32). Demnach ist Selbstbestimmung nur denkbar, wenn dem behinderten Menschen entsprechende Einflussmöglichkeiten eröffnet werden: „Selbstbestimmtes Leben erfordert daher für Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, entscheiden zu können, wie, wo und mit wem sie z.B. ihre Freizeit verbringen, wie, wo und mit wem sie zusammen wohnen und auch, wo und was sie arbeiten“ (Niehoff 1998, 61).
Mit dem Persönlichen Budget wird Menschen mit Behinderung somit ein Instrument in die Hand gegeben, mit dem sie diese Möglichkeiten realisieren können, d.h. selbst entscheiden zu können, wer die Unterstützung wahrnehmen wird, wann diese Unterstützung erfolgen und wie diese organisiert werden soll, es geht also vor allem auch um sachliche, soziale sowie zeitliche Dispositionsspielräume (Vgl. Kastl, Metzler 2005, 13f.). Insofern ermöglicht das Persönliche Budget zumindest eine größere Selbstbestimmung in der Auswahl und im Umgang mit den bewilligten Leistungen. Das Persönliche Budget steht daher vor allem im Kontext der mit der Einführung des SGB IX intendierten verstärkten Realisierung des Wunsch- und Wahlrechts von Menschen mit Behinderung:
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
„Damit die Maxime ‚Selbstbestimmung statt Fürsorge‘ nicht zur inhaltsleeren Floskel verkommt, ist sie konkret und messbar umzusetzen. Persönliche Budgets können folglich auch als eine Form gesehen werden, mit deren Hilfe dem Wunsch- und Wahlrecht etwa in Bezug auf die persönliche Lebenssituation und weltanschauliche Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung Rechnung getragen wird“ (Diemer 2002, 398).
Die Erwartungshaltung, die Einführung Persönlicher Budgets könne zu mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung beitragen, ist daher Programm. Generell wird erwartet, dass es insbesondere im Kontext der Budgetnutzung zu einer Verbesserung der Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechts kommen wird. Entsprechend wird erhofft, dass Menschen mit Behinderung mehr als bisher an diesen Selbstbestimmungszugewinnen partizipieren werden. Im Grunde müsste der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung ein wesentlicher Ausgangspunkt der Budgetbeantragung sein. Vermutlich wird dieser Wunsch aber oftmals nicht so formuliert werden. Daher gilt es in der nachfolgenden empirischen Analyse unter anderem auch zu überprüfen, inwiefern dieser Wunsch in den Motiven der Budgetbeantragung repräsentiert ist, wenn auch vermutlich nicht wörtlich genannt. Wie oben gezeigt wurde, steht Selbstbestimmung jedoch mit der Realisierung des Wunsch- und Wahlrechts sowie mit sachlichen, persönlichen und inhaltlichen Dispositionsspielräumen in Verbindung. Es geht beim Persönlichen Budget also insbesondere um „mehr Selbstbestimmung in der Auswahl, Gestaltung und Organisation der Unterstützung“ (Meyer 2007, 26). Aus diesem Grunde würden entsprechende Aussagen auf einen Wunsch nach Selbstbestimmung hindeuten.
3.1.2 Selbstständigkeit statt Abhängigkeit – das Persönliche Budget zur Realisierung einer selbstständigen Lebensführung Selbstständigkeit ist nicht mit Selbstbestimmung gleichzusetzen, auch wenn beide Begrifflichkeiten eng miteinander verwoben sind. Der Begriff der Selbstständigkeit zielt eher auf die „physischen“ Möglichkeiten einer von (professioneller) Unterstützung weitestgehend unabhängigen Lebensführung ab. Im Grunde bedeutet Selbstständigkeit, „ohne Assistenz leben zu können“ (Niehoff 1994, 191). Entsprechend bezieht sich der Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung auf das Bedürfnis, verschiedene Tätigkeiten, Vorgänge, Alltagsvollzüge usw. so gut es geht ohne fremde Unterstützung verrichten zu können. Selbstbestimmung hingegen stellt eher eine Art „psychische“ Komponente dar und geht mit Entscheidungsprozessen einher, „die völlig unabhängig von der Fähigkeit [sind], Dinge aktiv durchführen zu können“ (Kaas 2002 29). Wichtig dabei ist, dass Selbstständigkeit keine Bedingung für Selbstbestimmung sein muss: „Ein körperbehinderter Bürger kann in hohem Maße abhängig von Hilfe sein, wenn er
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auf diese jedoch in befriedigender Weise Einfluss nehmen kann, erreicht er ein hohes Maß an Selbstbestimmung“ (Niehoff 1998, 60). Ähnlich betont auch Wacker u.a. (2005, 18), „dass Selbstbestimmung im Prinzip keine Selbstständigkeit voraussetzt. Selbstbestimmung (als Entscheidungsautonomie) bezieht sich vielmehr auf subjektive Lebensziele (…), während Selbstständigkeit (als Handlungsautonomie) die Fähigkeit meint, diese Ziele in konkrete Handlungen zu überführen.“ Entsprechend soll die Forderung nach einer selbstständigen Lebensführung getrennt von dem Prinzip der Selbstbestimmung behandelt werden. Selbstständigkeit bzw. das Realisieren einer selbstständige(re)n Lebensführung von Menschen mit Behinderung ist neben der Forderung nach mehr Selbstbestimmung ebenfalls ein zentrales Element im Kontext des beschriebenen Paradigmenwechsels. Dabei hängen die Möglichkeiten einer selbstständigen Lebensführung stark mit der subjektiven Wahrnehmung von Lebensqualität zusammen. Neben der (gefühlten) Selbstbestimmung trägt insbesondere das Gefühl, selbst zur eigenen Lebensführung beitragen zu können, zu einer Steigerung von Wohlbefinden bei. Im Grunde hängt Selbstständigkeit aber auch mit dem Gefühl, respektiert zu werden, zusammen. Eine selbstständige(re) Lebensführung zieht Anerkennung nach sich und diese Anerkennung ist wiederum eine weitere Komponente im Gefüge eines erweiterten Konzepts von Lebensqualität (vgl. Wacker u.a. 2004, 135f.). Zudem entspricht die Forderung nach Unterstützung einer selbstständige(re)n Lebensführung auch der Forderung, die Kompetenzen und Ressourcen behinderter Menschen stärker zu betonen und nicht wie bisher, die „Unfähigkeiten“ behinderter Menschen in den Fokus der Behindertenhilfe zu stellen. Ein solchermaßen veränderter Blick auf Menschen mit Behinderung kann die Chancen einer selbstständigen Lebensführung erhöhen. Dies macht es allerdings unumgänglich, dass Unterstützungsleistungen individualisiert werden und der Entwicklung eines eigenständigen Lebensstils entsprochen wird, d.h. dass die Leistungen „zu den jeweiligen Bedarfen und Bedürfnissen der auf Unterstützung angewiesenen Personen passen [müssen]“ (ebd., 138). Das Persönliche Budget ist hierbei ein Instrument, durch das eine eigenständige Lebensführung zumindest unterstützt werden kann, denn es ermöglicht einem Menschen mit Behinderung, jeweils passende Unterstützungsarrangements kreieren zu können. Weiterhin gelingt es mit Hilfe des Persönlichen Budgets, die Lebensführung nicht nur eigenverantwortlich zu gestalten, sondern auch verschiedene Lebensvollzüge „selbstständig“ wahrzunehmen, etwa die Organisation der Unterstützung, die Abrechnung der Kosten, die Verwaltung des zur Verfügung stehenden Geldes usw. Damit bringen Menschen mit Behinderung sich in eine neue Position gegenüber dem Leistungserbringer, als auch gegenüber dem gesamten sozialen Umfeld, denn ein selbstständigerer Umgang mit den benötigten Leistungen zieht mitunter auch eine Verantwortungszunahme des
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Leistungsempfängers nach sich und damit verändert sich auch das Verhältnis zwischen dem Leistungsempfänger und den Leistungserbringern zugunsten einer „gemeinsamen Augenhöhe“ (ebd., 139). Potenziale für eine selbstständige Lebensführung mit einem Persönlichen Budget eröffnen sich im konkreten Fall auf zwei Ebenen: 1.
2.
Mit Hilfe des Persönlichen Budgets kann es einerseits möglich werden, einen Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe bzw. dem elterlichen Haushalt zu realisieren, andererseits kann aber auch eine Klinik- bzw. Heimaufnahme vermieden werden. In beiden Fällen – d.h. im Falle eines Auszugs in eine eigene Wohnung als auch im Falle des Erhalts einer (eigenen) Wohnung – kann eine eigenständige Lebensform gewährleistet werden, wenn durch die Nutzung eines Persönlichen Budgets passende Hilfen und Unterstützungsarrangements konzipiert werden und einem eigenen Lebensstil entsprochen wird. Durch die Leistungsform eines Persönlichen Budgets obliegt die Organisations- und die Finanzkompetenz in der Regel bei der budgetnehmenden Person. Insofern gewinnt der/die Budgetnehmer/in nicht nur Einfluss auf die Leistungserbringung, sondern er/sie muss auch die damit in Verbindung stehenden Modalitäten übernehmen und steuern, was zu einer Verantwortungszunahme beispielsweise hinsichtlich der Budgetverwaltung und -abrechnung führen kann. Allerdings kann dieses Mehr an Verantwortung aber auch als ein Zugewinn empfunden werden, da eine solche Verantwortungszunahme einem selbstständigen Leben entspricht und auch Anerkennung nach sich zieht. Zudem ermöglicht eine solche Position ein verändertes Verhältnis zu den Leistungserbringern.
Generell wird erwartet, dass es mit der Einführung Persönlicher Budgets mehr Menschen mit Behinderung als bisher ermöglicht wird, eine selbstständige Lebensführung zu realisieren. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe in einigen Modellvorhaben zur Erprobung Persönlicher Budgets als erklärtes Ziel der Modellerprobung formuliert wurde (etwa in Rheinland-Pfalz oder in Baden-Württemberg; vgl. Kapitel 4). 3.1.3 Assistenz statt Betreuung – veränderte (Macht-) Verhältnisse und Stärkung der Regiekompetenz durch das Persönliche Budget Der Begriff „Persönliche Assistenz“ ist aus zwei Gründen eng mit der Intention des Persönlichen Budgets verbunden: Einerseits drückt er ein verändertes Verhältnis zwischen Leistungserbringer und -empfänger aus, zweitens wird durch
3.1 Erwartungen auf normativ-ethischer Ebene
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das sogenannte Assistenzmodell die Regiekompetenz des behinderten Menschen erheblich gestärkt. In beiden Fällen wird eine veränderte Rolle des Leistungsempfängers deutlich, was wiederum auch zu einer Veränderung der Rolle des Leistungserbringers beiträgt. Sichtet man die in den letzten Jahren publizierten Berichte und Artikel zu Aufgabe und Rolle der im Bereich der Behindertenhilfe Tätigen, so werden diese zunehmend mit den Begriffen „Assistenz“ oder „Begleitung“ umschrieben (exemplarisch Hähner u.a. 1998; Gottschaller 2004; Ratzka 2003). Ähnlich wie bei der Forderung nach mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung geht auch dieser Perspektivenwechsel mit einer Neuorientierung in der Behindertenhilfe einher. In Folge dessen wird Abschied genommen von einem defizitären Menschenbild und einseitigen Machtverhältnis zwischen Leistungserbringer und Leitungsempfänger. Demnach soll fortan nicht mehr der „Ausgleich von Defiziten (…) im Vordergrund des Lebensalltags behinderter Menschen stehen, sondern unterstützende Begleitung und Hilfen bei der Verwirklichung der von ihnen selbstgesetzten Ziele“ (Niehoff 1998a, 178). Auch diese Entwicklung geht auf die „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ von vor allem körperlich behinderten Menschen zurück und der Begriff „Persönliche Assistenz“ wurde im Kontext dieser Selbsthilfebewegung geprägt. Es ging insbesondere darum, ein Konzept zu entwickeln, das den Ideen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entspricht und geeignet ist, die Forderungen der Bewegung umsetzen zu können. Das Konzept der Persönlichen Assistenz sollte dabei sowohl Ausdruck einer bestimmten Lebenshaltung bzw. eines veränderten Selbstverständnisses behinderter Menschen sein als auch eine Art „politisches Programm“ gegen Diskriminierungstendenzen und Aussonderung. Insofern ist die Idee der Persönlichen Assistenz eng mit der Forderung nach Selbstbestimmung verbunden: „Selbstbestimmt Leben bedeutet für behinderte Menschen, ihr Leben trotz Hilfeabhängigkeit selbst zu gestalten. Den Schlüssel hierzu, die Persönliche Assistenz, haben behinderte Menschen aus ihrer politischen Bewegung heraus selbst entwickelt. Der Grundgedanke dabei ist, dass behinderte Menschen ihre AssistentInnen (…) selbst aussuchen, ihren Bedürfnissen entsprechend einsetzen und bezahlen“ (Gottschaller 2004, 350).
Allgemein wird daher unter Persönlicher Assistenz „jede Form der persönlichen Hilfe verstanden, die einen ‚Assistenznehmer‘ in die Lage versetzt, sein Leben möglichst selbstbestimmt zu gestalten. (…) Grundsätzlich wird die ‚persönliche Assistenz‘ von den Assistenznehmern angeleitet; Zeit, Ort und Ablauf sollen von ihnen bestimmt und die Assistenzleistenden von ihnen ausgesucht werden“ (Niehoff 1998b, 53). Der Begriff „persönlich“ soll zusätzlich zum Ausdruck bringen, „dass die Assistenz auf den individuellen Bedarf zugeschnitten ist“ (Gottschaller 2004, 358).
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
Konsequenz dieses Konzepts ist vor allem eine Veränderung der Rollen von Leistungsanbietern und -empfängern und damit eine „Abkehr von einem therapie- und förderzentrierten Modell der Betreuung behinderter Menschen. Ausgangspunkt von Assistenzleistung ist demnach nicht mehr eine durch Dritte definierte Therapie- bzw. Fördernotwendigkeit, sondern die von dem behinderten Menschen gewünschte Form der Alltagsbewältigung, die sich in einem individuellen Lebensstil ausdrückt. Assistenz bedeutet für die helfende Beziehung, dass der Helfende den Hilfebedürftigen dabei unterstützt, seine selbstgewählten Ziele zu verwirklichen. Im Assistenzverhältnis wird also vom Grundsatz her die Regiekompetenz über die Hilfe dem Menschen mit Behinderung übertragen“ (Niehoff 1998b, 53). Letztendlich geht es also vor allem darum, die bestehenden Machtverhältnisse zwischen den Leistungsanbietern und -empfängern so aufzubrechen, dass ein Leben im Einklang mit den Forderungen der SelbstbestimmtLeben-Bewegung möglich wird.18 Das Assistenzkonzept ist dabei umfassend angelegt und kann sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche umfassen, wie z.B. die tägliche Versorgung, die Körperpflege, Hilfen im Haushalt, medizinische Unterstützung aber auch Arbeitsassistenz oder kommunikative Hilfen (etwa Gebärdendolmetscher). Da Persönliche Assistenz grundsätzlich alle Lebensbereiche umfasst und sich nach den individuellen Bedürfnissen der jeweiligen Assistenznehmer/innen richtet, wird diese Assistenz eher als Dienstleistung betrachtet, wie sie auch nichtbehinderte Menschen in Anspruch nehmen, etwa in Form einer Haushaltshilfe. Entsprechend ist ein verändertes Verhältnis zwischen dem Menschen mit Unterstützungsbedarf und der Persönlichen Assistenz (bzw. Dienstleistung) ausdrücklich in diesem Konzept angelegt (vgl. Gottschaller 2004). Dabei steht das Assistenzmodell insbesondere mit der Forderung nach einem (Zurück-) Gewinnen der sogenannten „Regiekompetenz“ in Verbindung. Dementsprechend manifestiert sich das veränderte Verhältnis des behinderten Menschen zu seinen Unterstützungspersonen nicht nur in einer „Entprofessionalisierungstendenz“ (im Assistenzmodell werden in der Regel nicht- oder nur semi-qualifizierte Assistent/innen genutzt), sondern vor allem in einem Übertragen der Regiekompetenz auf den Menschen mit Behinderung, d.h. „die Abhängigkeit von professioneller Hilfe möglichst weitgehend zu reduzieren und die Regie für notwendige Unterstützung so weit im Einzelfall irgend möglich in die Hände der Betroffenen selbst zu legen“ (Kastl, Metzler 2005, 15). Inhaltlich 18
Inwiefern das Konzept der Persönlichen Assistenz den Forderungen der SelbstbestimmtLeben-Bewegung in optimaler Weise entspricht, verdeutlicht Gottschaller (2004) in Bezug auf die zentralen Eckpunkte der Konzeption „Selbstbestimmt Leben“: Kontrolle über die Organisation der Unterstützung, Kontrolle über Form und Inhalt der Dienstleistungen sowie Integration und Gleichberechtigung statt Aussonderung und Entmündigung.
3.2 Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene
79
bedeutet diese Regiekompetenz eine Verschiebung der bisherigen Zuständigkeiten und Kompetenzen. So übernehmen die Assistenznehmer/innen nunmehr die Organisationskompetenz (Übernahme der Organisation der Assistenz; Erstellen von Dienstplänen), die Personalkompetenz (Auswahl der Assistent/innen), die Anleitungskompetenz (Arbeitsanweisungen durch die Assistenznehmer/innen), die Finanzkompetenz (Einsatz der Finanzmittel, Pflichten eines Arbeitgebers) sowie die Orts- und Raumkompetenz (Planung, Auswahl des Orts). Sinnbildlich vollzieht sich die Übernahme dieser Kompetenzen im sogenannten „Arbeitgebermodell“. Die Assistenznehmer/innen übernehmen dann „die komplette Verantwortung für die Organisation ihrer Assistenz, von der Personalsuche bis hin zur Verwaltung ihres kleinen ‚Betriebs‘“ (Gottschaller 2004, 360). Die Einführung Persönlicher Budgets geht nun mit der Erwartung einher, dass Menschen mit Behinderung verstärkt Assistenzmodelle initiieren und nutzen. Insbesondere von Selbsthilfeorganisationen wird das Persönliche Budget als Chance gesehen, Unterstützung verstärkt in Form eines Arbeitgebermodells zu organisieren. Die Leistungserbringung in Form der Persönlichen Assistenz wird dann zu eben jener Veränderung des Verhältnisses zwischen Leistungserbringer und -empfänger und Verschiebung der Machtverhältnisse führen. Demnach würde die Einführung Persönlicher Budgets bedeuten, dass eine wachsende Anzahl an Menschen mit Behinderung die ökonomischen Möglichkeiten selbst in der Hand halten und damit auch über ein Machtmittel verfügen. Dies versetzt sie etwa in die Lage, die von ihnen ausgewählten Assistent/innen selbst einzustellen, aber auch wieder zu entlassen (etwa im Arbeitgebermodell). Im Gegensatz zum herkömmlichen Sachleistungsprinzip, in dem Menschen mit Behinderung hochgradig von einer Einrichtung oder einem Dienstleister abhängig sind, ergibt sich durch die Verwendung eines Persönlichen Budgets ein anderes Verhältnis. Liegt in ersterem Fall die Macht einseitig bei der Einrichtung bzw. dem Anbieter, verfügt in dem anderen Fall der budgetnehmende Mensch über das Machtmittel. Indem behinderte Menschen dann ihre Assistenz selbst einkaufen und organisieren, würden sie gleichzeitig auch ermächtigt werden, selbst in ihrem Leben die „Regie“ zu führen (vgl. Niehoff 1998a, 179ff.).
3.2 Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene: Normalisierung und Inklusion statt Separation und Exklusion – Persönliche Budgets als Ausdruck von Neuorientierung 3.2 Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene Auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene beziehen sich die Erwartungen an eine Einführung Persönlicher Budgets insbesondere auf die Impulse, die sich dadurch für die (Weiter-) Entwicklung der Behindertenhilfe einstellen. Diese
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
Erwartungen gehen Hand in Hand mit der Kritik an einer Behindertenhilfe, die eher separierend als integrierend wirkt, weil Menschen mit Behinderung in Sondereinrichtungen sozialisiert werden. Auf dieser Ebene lassen sich dabei zwei große Bereiche identifizieren: Zum einen werden dem Persönlichen Budget vor allem Normalisierungs- und Deinstitutionalisierungspotenziale zugesprochen, weil durch deren Nutzung individuelle und bedarfsgerechte Unterstützungsarrangements kreiert werden können und dadurch „klassische“ Institutionskarrieren vermieden werden. Zum anderen ermöglicht das Persönliche Budget auf vielfältige Art und Weise eine Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten, beispielsweise weil sich die Leistungsanbieter vermehrt darauf einstellen müssen, teilhabeförderliche Angebote zu planen und vorzuhalten.
3.2.1 Normalisierung statt Separation – das Persönliche Budget als Instrument der Deinstitutionalisierung Noch vor wenigen Jahren war die bisherige Praxis der Behindertenhilfe geprägt durch die medizinische Sichtweise von Behinderung – eine Sichtweise, die sich ausschließlich an den Funktionsbeeinträchtigungen infolge der Behinderung orientiert hatte (vgl. Kapitel 2.3). Diese Sichtweise implizierte gleichzeitig eine „Praxis“ der Behindertenhilfe, die getragen wurde durch die dominante Vorstellung, „dass Menschen mit Behinderung in Anbetracht irreparabler Schädigungen am besten in Sondereinrichtungen ‚aufgehoben‘ seien. Damit wurde zugleich auf institutioneller Ebene eine Tradition fortgeführt, die sich seit der Herausbildung der Industriegesellschaften als Asylierung gesellschaftlicher Randgruppen niedergeschlagen hatte. Fachlicherseits sprechen wir hier vom Paradigma der Institutionalisierung (…)“ (Theunissen 2002a, 362; Hervorhebung im Original). In diesem Verständnis geht es also um die Vorstellung, dass es für Menschen mit Behinderung das „Beste“ sei, wenn man sie zusammen wohnen und arbeiten lassen würde „und sie von anderen Menschen isoliere“ (Polloway 1996 zitiert in ebd.). Daraus ergibt sich ein Paradoxon des „Fürsorgeparadigmas“, nämlich dass die institutionelle Umsorgung von Menschen mit Behinderung zwar zu einer „optimalen“ Versorgung führt, diese andererseits aber auch gleichzeitig aus gesellschaftlichen Sphären ausgeschlossen bleiben: „Weil Menschen, die als weniger ‚alltagstauglich‘ definiert werden, durch besondere Organisationen versorgt werden, erfolgt zugleich ihr gesellschaftlicher Ausschluss aus ‚normalen‘ Lebensvollzügen: Die Gemeinschaft der Bürger ‚schützt‘ und entlastet Personen mit Unterstützungsbedarf und zugleich sich selbst von ihren Inklusionsaufgaben. Menschen mit Behinderungserfahrung stehen zwar in der Mitte der
3.2 Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene
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Fürsorgebemühungen, aber dort stehen sie schnell auch mitten im Abseits“ (Wacker u.a. 2004, 133).
Wenn auch diese Zustände in den letzten Jahrzehnten zunehmend in Frage gestellt wurden und unter den Stichworten „Normalisierungsprinzip“ (beispielsweise bei Thimm u.a. 1985, Thimm 1992, 1994 und 2008) und „Deinstitutionalisierung“ (etwa bei Dörner 1996, 2001) zunehmend diskutiert wurden, konnten diese Forderungen in der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht vollständig umgesetzt werden.19 Bereits Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre formierte sich Widerstand gegen die Vorherrschaft von separierenden „Sondereinrichtungen“. Neben den zunehmend öffentlich formulierten Forderungen von vor allem körperbehinderten Menschen manifestiert sich dieser Widerstand auch in Elterngruppen und -vereinigungen, die das Ziel verfolgten, die bestehenden Sondereinrichtungen kritisch zu hinterfragen und eine Integration ihrer Kinder in Regelkindergärten und allgemeinen Schulen anzustreben. Für Hähner (1998, 31f.) markiert diese Entwicklung nicht nur eine wichtige behinderungspolitische Umorientierung, sondern vor allem auch ein Umdenken in fachlicher, wissenschaftlicher und berufspraktischer Hinsicht: Mittels der neuen Paradigmen vollzieht sich daher auch ein Wechsel in der Wahrnehmung und der Arbeit mit behinderten Menschen, die zunehmend als „Dialogpartner“ und nicht mehr nur als defizitär gelten. Insbesondere der Begriff der „Normalisierung“ gewinnt in dieser Zeit an Bedeutung, auch und vor allem weil sich in dem Konzept der Normalisierung die Kritik an „Sonderbehandlung“ in Sondereinrichtungen niederschlägt: Nirje – ein wesentlicher Vertreter des Normalisierungsprinzips – führt dazu deutlich aus: „Die meisten Menschen leben an einem bestimmten Ort, sie gehen an einem anderen zur Arbeit oder auch zur Schule, und ihre Freizeit wiederum verbringen Sie an noch anderen Plätzen. (…) Normalisierung heißt auch, die Möglichkeit sicherzustellen, dass sich der gesamte Lebenslauf so normal wie möglich vollziehen kann. (…). Das Normalisierungsprinzip bedeutet auch, dass Willensäußerungen, Wünsche und Bitten (…) so weit wie irgend möglich in Betracht gezogen werden und respektiert werden sollen“ (Nirje 1994 zitiert in Hähner 1998, 33). 19
Theunissen (2002, 362) betont beispielsweise, dass im Gegensatz zu anderen Ländern wie Schweden, USA und England, in denen Großeinrichtungen der Behindertenhilfe immer mehr aufgelöst und kleinere, gemeindenahe Wohnformen zunehmend ausgebaut wurden, die Umsetzung gemeindenaher Wohnformen in Deutschland lediglich auf das Anbieten neuer Wohnheime beschränkt blieb. Für den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung kann beispielsweise kaum von einer „Auflösung von Sondereinrichtungen“ gesprochen werden: „Ein gesellschaftlich integriertes Wohnen wird zwar propagiert, Tatsache aber ist, dass zum Beispiel circa 78% aller Menschen mit so genannter geistiger Behinderung in Institutionen mit 40 oder mehr Plätzen (Großeinrichtungen) leben. Das Erbe des Institutionalisierungsparadigmas wiegt hier schwer“ (ebd., 363).
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
Bei dem proklamierten „Normalisierungsprinzip“ geht es aber nicht um „Gleichmacherei“ wie vielfach angenommen, sondern darum, für Menschen mit Behinderung alltägliche Lebensbedingungen zu schaffen, die den Verhältnissen und Lebensweisen einer Gesellschaft bzw. dem Leben der nichtbehinderten Mitmenschen so „nahe“ wie möglich kommen – kurz: „ein Leben so normal wie möglich führen“ (Thimm u.a. 1985) zu können. Um diesen Leitideen folgen zu können, setzte in den 80er und 90er Jahren schließlich zunehmend eine Debatte über Deinstitutionalisierung und Dezentralisierung ein. Gefordert wurden eine stärkere Differenzierung verschiedener Wohnkonzepte sowie ein Auf- und Ausbau wohnortnaher ambulanter Angebote. Kritisch angemerkt werden muss jedoch, dass dieser Normalisierungsgedanke in der Bundesrepublik Deutschland nur unzureichend umgesetzt wurde. Während beispielsweise in Schweden dazu übergegangen wurde, Großeinrichtungen der Behindertenhilfe zunehmend aufzulösen und das Leben behinderter Menschen in gemeindenahen Wohnformen zu ermöglichen (vgl. Kapitel 4.1.3), wurde der Normalisierungsgedanke in Deutschland eher in der Form realisiert, dass die Lebensbedingungen in Großeinrichtungen so „normal“ wie möglich gestaltet wurden und die Idee gemeindenaher Wohnkonzepte eher in Form neuer Wohnheime umgesetzt wurde (vgl. etwa Theunissen 2005). Die Leitidee der Deinstitutionalisierungsdebatte ist schließlich, dass sich nicht die Menschen mit Behinderungen an die äußeren Lebensbedingungen anzupassen haben, sondern andersherum, die äußeren Bedingungen und institutionellen Strukturen an die behinderten Menschen. Bisher wurde die Deinstitutionalisierungsdebatte vor allem im Bereich „Wohnen“ geführt und die Forderung nach Deinstitutionalisierung vollzieht sich insbesondere im Kontext innovativer Wohnformen. Allerdings bezieht sich der Charakter der Separation auch auf andere Lebenssphären. Hähner (1998, 31) weist in Anlehnung an Schubert beispielsweise auf „Isolationskarrieren“ hin, „die mit dem Eintritt in die Frühförderung beginnen und über Sonderkindergärten und Sonderschulen in Werkstätten für Behinderte münden“ und zu einer „weitgehenden Trennung von der ‚normalen‘ Bevölkerung“ führen. Deinstitutionalisierung sollte sich in diesem Verständnis auf einen generellen Abbau institutioneller Vorkehrungen und sozialer Kontrollmechanismen beziehen, damit Menschen mit Behinderung selbstbestimmt und nach eigenen Vorstellungen leben können. Dabei geht es insbesondere um eine Befreiung von der „Herrschaft“ versorgungszentrierter Institutionen, in die Menschen mit Behinderung mehr oder weniger zwangsweise und oftmals über ihren gesamten Lebensweg hinweg eingebunden sind bzw. verbleiben (vgl. Wacker 2001). Im Grunde kann die Behindertenhilfe als eine Art Aneinanderreihung lebenslaufbezogener Hilfearrangements bezeichnet werden (vgl. ähnlich dazu Schädler 2003). Die entsprechende Kritik richtet sich daher nicht nur auf
3.2 Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene
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einen Lebensbereich (etwa „Wohnen“), sondern muss als umfassend und auch lebensphasenübergreifend verstanden werden, denn Menschen mit Behinderung stehen die typischen Rollen eines „normalen“ Lebens meist nur eingeschränkt zur Verfügung, denkt man beispielsweise an Partner- oder Elternrollen oder an die Berufsrolle (vgl. Wacker 2004, 130f.). Wie die Ausführungen zeigen, beziehen sich die Forderungen nach Deinstitutionalisierung daher nicht nur auf eine Zerschlagung traditioneller (Groß-) Einrichtungen, sondern auch auf eine Veränderung der Angebote, Strukturen und Abläufe in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Deinstitutionalisierung bedeutet damit auch Abbau einer bestimmten institutionellen Logik und Veränderung der konzeptionellen Ziele. Insbesondere letzterer Punkt verweist wiederum auf die Idee Persönlicher Budgets, denn mit der Einführung ist letztendlich die Erwartung verknüpft, „ausgehend von den Wünschen und Bedürfnissen der Nutzer individuell angepasste Hilfepakete zu schnüren anstelle vorgefertigter institutioneller Versorgungsangebote. (…). Statt institutioneller Versorgung sollen Menschen mit Hilfebedarf erforderliche Hilfen, zum Beispiel bei der persönlichen Versorgung, Haushaltsführung, Freizeitgestaltung, Mobilität, Kommunikation, Unterstützung am Arbeitsplatz, selbst zusammenstellen und aus Mitteln eines zur Verfügung gestellten Budgets finanzieren können“ (Loeken 2006, 31). Gerade die Organisation der Leistungserbringung durch ein Persönliches Budget ermöglicht es, verschiedene Unterstützungsbereiche getrennt zu behandeln. Statt der üblichen „Komplettpakete“, wie sie von den meisten Einrichtungen der Behindertenhilfe angeboten werden, können auch differenzierte (einzelne) Leistungen eingekauft und beliebig zusammengestellt werden. Menschen mit Behinderung müssen sich dann nicht einer „Rundum-Versorgung“ unterordnen, sondern können die benötigten Hilfen je nach Bedarf und Vorliebe auswählen. Beispielsweise ist es auch denkbar, dass Budgetnehmer/innen lediglich auf Teilleistungen einer Einrichtung zurückgreifen (etwa ein Wohnheimplatz oder ein Platz in einer WfbM), andere Leistungen (etwa die Freizeitbetreuung) hingegen von einem anderen Leistungsanbieter einkaufen. Aus diesem Grunde ergeben sich insbesondere auch Chancen zur Trennung von verschiedenen Lebenssphären, was wiederum ein Schritt mehr in Richtung „Normalisierung“ des Lebens behinderter Menschen bedeutet. Es kann also durchaus erwartet werden, dass durch die Einführung Persönlicher Budgets ein wichtiges Instrument entsteht, Deinstitutionalisierung und Normalisierung in der Behindertenhilfe voranzutreiben. Wie bereits mehrfach erwähnt, geht es bei der Einführung Persönlicher Budgets gerade um mehr Selbstbestimmung in der Auswahl, Gestaltung und Organisation der Unterstützung. Letztendlich stehen Persönliche Budgets dadurch auch in einem engen Zusammenhang mit der Leitidee der Deinstitutionalisierung, denn es wird erwar-
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
tet, dass Persönliche Budgets zu einem Abbau traditioneller Unterstützungsformen, institutioneller Normen und sozialer Kontrollen beitragen. Dies vollzieht sich nicht zuletzt in einer Vergrößerung von Handlungsspielräumen zugunsten situativer und individueller Gestaltungsmöglichkeiten, die an die Stelle institutioneller Unterstützungsformen treten. Gerade weil Persönliche Budgets vielfältige Formen von Spielräumen eröffnen, können Menschen mit Behinderung – je nach Spezifik der Lebenssituation – ganz eigene Formen von Unterstützung kreieren. Damit tragen Persönliche Budgets zur Deinstitutionalisierung in der Behindertenhilfe bei (vgl. Kastl, Meyer 2007).
3.2.2 Inklusion statt Exklusion – das persönliche Budget zur Verbesserung von Teilhabechancen Die aktuelle Diskussion um Theorie und Praxis der Behindertenhilfe wird neben den bereits dargestellten Ansätzen und Forderungen vor allem durch den Begriff der „Teilhabe“ bestimmt (vgl. beispielsweise Wansing 2005). Auch in sozialrechtlicher Hinsicht schlägt sich diese Neuorientierung nieder. So wird die zentrale Bedeutung von Teilhabe im Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) – bereits im Titel explizit herausgestellt und zu einem neuen Leitsatz in der Behindertenhilfe stilisiert. Ein „Recht“ auf Teilhabe wird damit zugesichert und im Umkehrschluss wird im Rehabilitationssystem der Bundesrepublik Deutschland damit auch eine neue Messlatte gesetzt, nämlich, wie „teilhabeförderlich“ die Angebote und Unterstützungsleistungen tatsächlich sind (vgl. Wacker 2006, 79ff.). Der Begriff der Teilhabe ist weiterhin zentrales Element im bio-psycho-sozialen Behinderungsmodell der ICF (siehe Kapitel 2.3). Dort wird von verschiedenen Lebensbereichen ausgegangen, in denen Teilhabe jeweils verwirklicht werden soll. Im Sinne „gesellschaftlicher Rollen“, die jedem Menschen zur Verfügung stehen, soll es auch bei Menschen mit Behinderung in Zukunft darum gehen, in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft zu partizipieren: „Vielmehr sind sie [Menschen mit Behinderung; T.M.] Männer und Frauen, Geschwister, Singles, RuheständlerInnen, SchülerInnen, WählerInnen, Reisende, KonsumentInnen, BesucherInnen von Freizeit- oder Bildungsangeboten, PatientInnen oder NachbarInnen, je nachdem, welchen Aspekt man in ihrem Leben betrachten will. In diesen verschiedenen Rollen sollen sie teilhaben an gesellschaftlichen Teilsystemen“ (ebd., 81).
Der Gedanke der Teilhabe ist dabei untrennbar mit den Forderungen nach Normalisierung und Deinstitutionalisierung verbunden, denn „Teilhabe lebt man
3.2 Erwartungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene
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(…) nicht in goldenen Käfigen, wie sie das System der Rehabilitation für Menschen mit Behinderung konstruiert“ (ebd., 79). Insgesamt entspricht daher die Forderung nach mehr Teilhabemöglichkeiten in gesellschaftlich relevanten Bereichen der allgemeinen Forderung nach Inklusion. Entsprechend sind Verbesserungen der gesellschaftlichen Teilhabe sozusagen „exklusionsvermeidend“ und Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bilden die Brücke zu Forderungen, wie sie nicht nur in dem bio-psycho-sozialen Behinderungsmodell der WHO formuliert werden, sondern auch im Kontext der Exklusions- bzw. Inklusionsdebatte zu sehen sind (etwa bei Wansing 2005). Hierbei kann wiederum ein Bezug zur in Kapitel 3.2.1 dargestellten Institutionalisierung von Behinderung hergestellt werden. Wie gezeigt wurde, sind Menschen mit Behinderung oftmals über ihren gesamten Lebensverlauf hinweg in institutionelle Strukturen der Behindertenhilfe eingebunden. Diese Einbindung hat wiederum eine sozialisierende Wirkung. Sozialisationserfahrungen in dem nach wie vor gesellschaftlich randständigen Bereich der Behindertenhilfe gehen demnach mit Exklusionserfahrungen einher und die gesellschaftliche Teilhabe ist der Sache nach bereits strukturell eingeschränkt. Betrachtet man demgegenüber beispielsweise den Lebensverlauf nichtbehinderter Menschen, so wird deutlich, dass Menschen im Laufe ihres Lebens stets in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen eingebunden sind (z.B. Kindergärten, Schulen, Arbeitsmarkt usw.). Diese verschiedenen Teilsysteme werden wiederum im Kontext der Lebenszeit in einer bestimmten zeitlichen Abfolge durchlaufen und der Wechsel von einem Teilsystem in ein anderes geht mit einer Veränderung der Interaktionskontexte und Bezugsgruppen sowie oftmals mit einem Rollenwechsel einher, so dass man in der Lebensverlaufsforschung auch von „Statuspassagen“ oder „Übergängen“ spricht.20 Wichtig ist nun, dass diese biografischen Übergänge auch gleichzeitig eine sozialisierende Wirkung haben und insbesondere die Identitätsentwicklung eines Menschen prägen. In Bezug auf Inklusion und Teilhabe bedeutet dies, dass verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme – u.a. eben auch Institutionen und Organisationen der Behindertenhilfe – in unterschiedlicher Art und Weise zur Entwicklung von Ressourcen und Kompetenzen beitragen und damit auch in unterschiedlicher Art und Weise Inklusionserfahrungen zulassen. Die Sozialisation in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen bedingt demnach die individuellen Chancen auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Menschen mit Behinderung werden daher nicht nur aufgrund ihrer physischen oder psychischen Beeinträchtigungen ausgegrenzt, sondern insbesondere aufgrund mangelnder Entwicklungsperspektiven (vgl. Wansing 2005, 67f.).
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Ausführliche Darstellung sind in den Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 186 an der Universität Bremen publiziert (etwa bei Heinz 1991; Heinz 1998; Weymann, Heinz 1996).
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
Der Brückenschlag zu den mit der Einführung Persönlicher Budgets verbundenen Erwartungen erscheint einfach: Das Persönliche Budget soll hier auf drei verschiedenen Ebenen Wirkung zeigen:
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Einerseits ermöglicht eine Finanzierung von Unterstützungsleistungen über ein Persönliches Budget, dass die benötigte Hilfe oder Unterstützung nicht allein im Kontext der Institutionen und Angebote bestehender Behindertenhilfeeinrichtungen genutzt werden müssen, sondern auch – wenn wählbar – über alternative Anbieter bis hin zu privaten Hilfen erfolgen kann. Damit wird der bisher vorgezeichnete Weg in die „Obhut“ von Sondereinrichtungen der Behindertenhilfe umgangen und es eröffnen sich neue Teilhabechancen. Somit wird es mit dem Persönlichen Budget möglich, Teilhabe in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen zu verwirklichen.21 Andererseits kann die Einführung Persönlicher Budgets auch dazu beitragen, dass Leistungsanbieter ihre Angebote in Richtung anderer bzw. neuer gesellschaftlicher Teilbereiche öffnen, da sie sich zunehmend an den Wünschen und Vorstellungen von Budgetnehmer/innen orientieren müssen. Beispielsweise könnten sich Anbieter in Zukunft dazu gezwungen sehen, ihre Leistungen zu modularisieren oder auch außerhalb der üblichen Räumlichkeiten und Tageszeiten anzubieten (z.B. Freizeitaktivitäten, Unterstützung bei der Arbeit). Insbesondere auf diese Entwicklungen – so Elisabeth Wacker – „sind die Denkweisen und Strukturen bei Leistungsträgern und -anbietern allerdings derzeit noch nicht hinreichend ausgerichtet“ (Wacker 2006, 83). Letztendlich ermöglicht das Persönliche Budget zudem eine „sozialisierende“ Wirkung, weil die mehr oder weniger selbstständige Organisation der Unterstützung wiederum eine gewisse Anpassungsleistung erfordert und damit zur Entwicklung neuer Kompetenzen und einem höheren Selbstwert beiträgt. Dies wiederum könnte sich motivierend auf das Knüpfen von Kontakten und gesellschaftlicher Partizipation auswirken. Allerdings kann diese Reorganisation aber auch erhebliche Unsicherheiten auf Seiten des behinderten Menschen nach sich ziehen, vor allem, wenn die betreffenden Personen bereits in jahrelanger Abhängigkeit von institutionellen Strukturen leben mussten. Die Beispiele dazu finden sich in unterschiedlichen Modellprojekten zur Erprobung Persönlicher Budgets in vielfältiger Art und Weise. Zu denken sei an einen Budgetnehmer, der mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Karatekurs finanziert, weil diese Form der Budgetverwendung seinen Wünschen nach Teilhabe eher gleichkommt als die Teilnahme an speziellen Freizeitangeboten in Einrichtungen der Behindertenhilfe (vgl. Kastl, Metzer 2005, 130ff.). Ein weiteres Beispiel ist ein Budgetnehmer, der sich über das Persönliche Budget ein Auto finanziert, weil die damit einhergehende Möglichkeit zur Mobilität seinen Vorstellungen von Teilhabe am ehesten gerecht werden und er damit auch optimal in verschiedenen Teilbereichen partizipieren kann (etwa Freunde besuchen, Kino usw.) (vgl. Metzler u.a. 2007, 226ff.).
3.3 Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene
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veränderte Lebenssituation im Zuge einer Budgetnutzung kann dann auch mit einer Angst vor Verschlechterung einhergehen (vgl. Schmidt 2007). Alles in allem wird mit der Einführung Persönlicher Budgets die Erwartung verknüpft, dass sich sowohl direkte als auch indirekte Verbesserungen von Teilhabechancen einstellen werden. Inwieweit sich aber Teilhabechancen im Zuge der Einführung Persönlicher Budgets tatsächlich verbessern, hängt jedoch von der jeweiligen Nutzung differenzierter Angebote und Unterstützungsarrangements ab und geht nicht automatisch mit der Bewilligung eines Persönlichen Budgets einher.
3.3 Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene: Vorrang ambulanter Angebote, Veränderung der Angebotsstrukturen und Einflussnahme der Leistungsempfänger 3.3 Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene Auf sozialpolitischer Ebene sind insbesondere zwei Erwartungshaltungen relevant: Zum einen wird mit Einführung des Persönlichen Budgets erhofft, dass sich weitere Impulse zur Verwirklichung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ einstellen werden, zum anderen führt die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks zu einer Machtverschiebung zugunsten der Leistungsempfänger, was wiederum zu einer verstärkten Einflussnahme von Menschen mit Behinderung auf die Entwicklung und Qualität bestehender bzw. neuer Angebote führen dürfte. Insgesamt sind auf dieser Ebene daher vor allem Erwartungen bedeutsam, die sich auf das bestehende System der bundesdeutschen Behindertenhilfe beziehen und im Grunde geht es neben den bereits in Kapitel 3.1 und 3.2 beschriebenen Erwartungen hinsichtlich einer Verbesserung der Lebenssituation behinderter Menschen in diesem Kapitel vor allem um die Weiterentwicklung von Strukturen und Angeboten behinderungsspezifischer Einrichtungen und Dienste. Insofern nehmen die nachfolgenden Erwartungshaltungen insbesondere die Leistungsanbieter in den Blick und die nachfolgenden sozialpolitischen Forderungen umfassen neben den Vorteilen, die das Persönliche Budget für Menschen mit Behinderung bietet, auch Forderungen gegenüber den in der Behindertenhilfe tätigen Dienstleistern und Einrichtungen. Dabei stehen die Erwartungshaltungen in Verbindung mit einem allgemeinen Anspruch nach mehr Kundenorientierung, Kosteneffizienz und Qualitätsverbesserung im Bereich sozialer Hilfen.
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
3.3.1 Ambulant vor stationär – das persönliche Budget als Alternative zur stationären Versorgung Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ ist bereits seit Jahren im Sozialhilferecht verankert (beispielsweise §3a im BSHG). Allerdings besteht im Zuge der Reform der Sozialgesetzbücher nun ein grundsätzlicher Vorrang von ambulanten Maßnahmen. Dennoch ist es bis heute nicht gelungen, diesen Vorrang ambulanter Hilfen vollständig umzusetzen, was sich auch daran zeigt, dass die Anzahl an stationär untergebrachten Hilfeempfängern nach wie vor um ein Vielfaches höher liegt als die Anzahl ambulant betreuter Hilfeempfänger (vgl. beispielsweise BAGüS 2006) und die Anzahl stationärer Plätze in den letzten Jahren trotzdem weiter angestiegen ist (vgl. etwa Rohrmann 2008). Insbesondere Menschen mit einem komplexen und hohen Unterstützungsund Hilfebedarf sind oftmals auf ein Leben in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe angewiesen, vor allem, wenn ein entsprechendes familiäres Umfeld fehlt, das familiäre Umfeld dem Unterstützungsbedarf nicht gerecht werden kann, oder wenn diese Menschen aus dem elterlichen Haushalt ausziehen möchten. Abhängig von örtlichen Angebotsstrukturen stehen zudem häufig keine oder nur ungeeignete ambulante Dienstleister zur Verfügung, was es strukturell erschwert, diesen Menschen ein selbstständiges Leben außerhalb stationärer Einrichtungen zu ermöglichen. Entsprechend stellen Wohnheime für viele behinderte Menschen nach wie vor einen dauerhaften Lebensort dar und trotz der bereits seit Jahren andauernden Kritik an der Einschränkung von Selbstbestimmung und selbstständiger Lebensführung sowie an der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung (vgl. etwa Wacker u.a. 1998) gehören stationäre Wohneinrichtungen nach wie vor zum Status Quo in der Behindertenhilfe. Dies soll sich mit dem Persönlichen Budget ändern und die damit verbundenen Erwartungen sind in zweierlei Hinsicht wirksam: Erstens wird erwartet, dass es Menschen mit Behinderung durch das Persönlichen Budget erleichtert wird, den „Schritt in die Selbstständigkeit“ (d.h. einen Auszug aus stationären Wohnangeboten) zu wagen und sich für ambulant betreute Wohnarrangements zu entscheiden. Zweitens wird mit der Nutzung Persönlicher Budgets die Erwartung verbunden, dass in vielen Fällen eine Heimaufnahme vermieden werden und ein Verbleib in der eigenen Wohnung bzw. das Aufrechterhalten einer selbstständigen Lebensführung sicher gestellt werden kann (vgl. Kastl, Metzler 2005, 15f.). In beiden Fällen ist jedoch die entscheidende Voraussetzung, dass ausreichende und passende ambulante Angebote in der unmittelbaren Region zur Verfügung stehen. Implizites Ziel des SGB IX ist eine stärkere Betonung des Wunsch- und Wahlrechtes der Leistungsberechtigten. Dieses Wunsch- und Wahlrecht soll dabei insbesondere bei der Entscheidung über Leistungen sowie bei der Ausführung von Leistungen zur Teilhabe (§ 9 Abs. 1 SGB IX) gestärkt werden. In Verbindung mit
3.3 Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene
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den Selbstbestimmungspotenzialen besteht daher eine zentrale Chance Persönlicher Budgets in der Verwirklichung „normalen Wohnens“ von Menschen mit Behinderung. Persönliche Budgets können genutzt werden, um einen Wechsel von stationären Wohnangeboten in ambulant betreute Wohnarrangements zu realisieren bzw. um eine selbstständige Wohnform aufrechterhalten zu können. Im Konkreten wird daher auch erwartet, dass es Menschen mit Unterstützungsbedarf, die bisher in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe lebten, mit Hilfe des Persönlichen Budgets erleichtert wird, aus diesen Institutionen auszuziehen. Das Verlassen stationärer Wohnkontexte und die Organisation ambulanter Unterstützung durch ein Persönliches Budget stellte daher bereits in verschiedenen Modellprojekten ein Kernelement der Projektkonzeptionen dar (vgl. dazu Kaas 2002; Kastl, Metzler 2005; Schäfers 2006; siehe auch Kapitel 4.2). Entsprechend stützen sich die Erfahrungen mit der Erprobung Persönlicher Budget in den bisherigen Modellvorhaben meist auf den Leistungsbereich ambulanter Hilfen, „schließlich ist es ein Kernziel des Persönlichen Budgets, den Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ zu verwirklichen und somit die Abhängigkeit der Menschen mit Behinderung von stationärer Versorgung zu minimieren“ (Schäfers 2006, 60f.). Allerdings kann der Schritt in ambulante Unterstützungsstrukturen bzw. der Erhalt eines selbstständigen Wohnens erst dann adäquat realisiert werden, wenn gleichzeitig die gewachsenen Leistungsstrukturen weiterentwickelt werden. Aus diesem Grunde sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur ein flächendeckendes Netz an ambulanten Angeboten zu entwickeln, sondern auch flexiblere Leistungsmodule und Unterstützungsformen. Um dem Ziel „ambulant vor stationär“ gerecht werden zu können, müssen Angebote entstehen, die auch für Menschen mit einem umfassenden Unterstützungsbedarf als geeignet erscheinen und flexibel bzw. bedarfsgerecht ausgestaltet sind. Das Persönliche Budget kann hierzu wichtige Impulse liefern (vgl. Hölscher u.a. 2004, 160f.). Entsprechend wurde im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD festgehalten: „Dabei haben der Grundsatz ‚ambulant vor stationär’, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Leistungserbringung ‚aus einer Hand’ sowie die Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert“ (Koalitionsvertrag CDU, CSU, SPD 2005 zitiert in Metzler u.a. 2006, 7). Indirektes Ziel der Einführung Persönlicher Budgets ist daher auch insbesondere eine Stärkung ambulanter Formen der Leistungserbringung. Hierbei – so die These – können persönliche Budgets „Alternativen zur stationären Versorgung ermöglichen und langfristig sogar die Angebotsstruktur der ambulanten Dienstleistungen verbessern“ (Diemer 2002, 399). Bislang kann allerdings nach wie vor eine ungebrochene Dominanz stationärer Hilfen in der Behindertenhilfe konstatiert werden (vgl. dazu ausführlich Schädler 2003, Rohrmann 2008). Eine Erklärung hierfür liefert vor allem Schädler in Bezug auf die neo-institutionalistische Organisationstheorie (vgl. Schädler
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2003, 15ff.). Erklärt wird dieses Phänomen mittels sich ständig (re-)produzierender Legitimationsprobleme, denen sich insbesondere Organisationen im Bereich öffentlicher und gemeinnütziger Hilfen gegenüber sehen. Da sich solche Organisationen, zu denen auch Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe gehören, zu einem großen Teil über öffentliche Gelder und private Zuwendungen finanzieren, stehen sie sozusagen permanent unter Legitimationsdruck. Demnach sind sie gezwungen, die jeweiligen Strukturen, Aktivitäten und Angebote für Menschen mit Behinderung stets zu rechtfertigen. Externen Akteuren in Politik und Verwaltung aber auch privaten Geldgebern muss die Notwendigkeit des Aufwands der Organisationen ersichtlich werden, damit deren Existenz als bedeutsam erachtet wird. Dazu müssen diese Organisationen Erklärungen liefern, die den Aufwand ihrer Arbeit verständlich machen können, selbst wenn es sich dabei um gesellschaftliche Mythen handelt (etwa, dass nur in Sondereinrichtungen eine optimale Förderung von behinderten Menschen gewährleistet ist). Aus diesem Grunde kommt es dazu, dass Mythen aufrechterhalten werden und sich Organisationen auch stärker einander angleichen, denn letztendlich kann nur so die weitere Finanzierung gesichert werden: „In ganz besonderem Maße geht es demnach für die sozialen Organisationen im nicht gewerblichen Bereich primär darum, die Akzeptanz und Legitimität in der Organisationsumwelt zu optimieren, d.h. den Erwartungen möglichst optimal zu entsprechen, die von relevanten Stellen von außen an die Organisation gerichtet werden, denn diese Organisationen werden mehr an der Angemessenheit ihrer Form als an ihren tatsächlichen Ergebnissen gemessen. (…). Die Orientierung an dem Ziel, Legitimation zu optimieren, wird in der Weise realisiert, dass Organisationen bestimmte ‚Mythen‘ aufgreifen, die in der Gesellschaft verbreitet und von Bedeutung sind. (…). Die Organisationen eines Feldes [z.B. das der Behindertenhilfe] stehen (…) in einem wechselseitigen Legitimationsverhältnis, das Angleichungsprozesse zwischen den Organisationen zur Folge hat. Die Organisationen werden sich in ihren Formen, Strukturen und Institutionen zunehmend ähnlich und bestärken sich darin“ (ebd., 24ff.).
Für Schädler stellt dieser Prozess also insbesondere eine Erklärung dafür dar, wieso sich das System der Behindertenhilfe in Deutschland relativ homogen entwickeln konnte: „Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheint die Behindertenhilfe in Deutschland als ein hochgradig isomorphes, organisationales Feld, in dem durch staatlichen Druck, imitatives Organisationsverhalten und hohen verbandlichen Organisationsgrad ein großer Angleichungsgrad entstanden ist, der auch das Beharrungsvermögen der herkömmlichen Organisationsformen der Behindertenhilfe erklären könnte“ (ebd., 29).
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Demnach kann auch nicht erwartet werden, dass sich diese Organisationen von selbst verändern werden. Institutionen mit dem Fokus auf stationären Angeboten werden vermutlich nicht in erhoffter Anzahl ambulante Angebote vorlegen, geschweige denn sich selbst „in Frage stellen“.22 Mit dem Persönlichen Budget ist hingegen die Hoffnung verbunden, dass dieses Instrument Einrichtungen und Dienste „zwingen“ könnte, ambulante Angebote zu entwickeln und bereit zu stellen. Das Persönliche Budget ist nicht wie die Sachleistung an die Einrichtung oder den Dienst gebunden und daher ein vom „organisationalen Feld“ der Behindertenhilfe unabhängiges Gebilde. Dies wird in zweierlei Hinsicht wirksam: Erstens können Menschen mit Behinderung mit Hilfe eines Persönlichen Budgets indirekt Druck auf das bestehende organisationale Feld ausüben, eben weil sie nicht direkt Teil dieses Feldes sind. Zweitens unterliegt das Persönliche Budget – gleich den Organisationen der Behindertenhilfe – ebenfalls einem Legitimationsdruck gegenüber der Öffentlichkeit und ist darauf angewiesen, die Erwartungen zu erfüllen. Entsprechend wird erwartetet, dass sich im Zuge der Einführung Persönlicher Budgets die Strukturen des bestehenden Systems der Behindertenhilfe ändern werden oder zumindest ein Einfluss auf die Angebotslandschaft zu erwarten ist. Einrichtungen und Dienste müssten dazu übergehen, neue und individualisiertere Angebotsstrukturen aufzubauen, da sie sich einem Instrument konfrontiert sehen, welches nicht ohne Veränderung assimiliert werden kann. Auf der anderen Seite zeigen aber gerade die Erfahrungen mit Modellvorhaben in einzelnen Bundesländern, dass es insbesondere Menschen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe nach wie vor erschwert wird, ihren Unterstützungsbedarf mit Hilfe eines Persönlichen Budgets zu organisieren und zu decken. Eine wesentliche Rolle hierbei spielt die vorherrschende Orientierung am Sachleistungsprinzip (das Persönliche Budget wird bei Auszug aus einem Heim meist anhand der Kosten für eine ambulante Betreuung gemessen und nicht anhand der Kosten für die stationäre Unterbringung) sowie die Festlegung von Budgets mit definierten Obergrenzen (vgl. Kastl, Metzler 2005; Windheuser u.a. 2006). Bisher gelang es daher in Deutschland nur unzureichend, Menschen mit einem komplexen Hilfe- und Unterstützungsbedarf ein Leben außerhalb von stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zu ermöglichen. Kritisch dazu Loeken (2006, 38): „Die bisherige deutsche Praxis führte entgegen der ursprünglichen Intention häufig dazu, dass sich die Angebote die passenden Abnehmer suchen.“
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Nicht umsonst musste in Schweden eine Gesetzesinitiative zum Abbau stationärer Großeinrichtungen auf den Weg gebracht werden. Vermutlich wäre eine Ambulantisierung, wie sie heute in Schweden weitestgehend verwirklicht worden ist, ohne diese politische Initiative nicht zu erwarten gewesen (vgl. dazu auch Kapitel 4.1.3).
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Eine abschließende Antwort auf die Frage, ob und inwiefern die Einführung Persönlicher Budget längerfristig auch zu einer Veränderung der Angebotsstruktur hin zu einer umfassenden Ambulantisierung der Behindertenhilfe oder gar, wie Klaus Dörner (2006) kritisch sinniert, zu einer „heimlosen Gesellschaft“ führt, steht gegenwärtig allerdings noch aus. Auf der einen Seite steht die Vermutung, dass das Persönliche Budget die benötigten Potenziale dafür besitzt, auf der anderen Seite stimmt die Realität noch keinesfalls optimistisch. Sicher hängt die weitere Entwicklung auch von einer Dynamik ab, die bislang noch nicht vollständig in Gang gekommen zu sein scheint. Möglicherweise schließen sich ambulante und stationäre Angebote in Zukunft aber nicht aus und das Persönliche Budget könnte dann eher dazu beitragen, dass Angebote miteinander kombiniert oder jeweils geeignete Arrangements geschaffen werden. Entsprechend müssen die Erwartungen hinsichtlich einer vollständigen Ambulantisierung daher auch eher heruntergeschraubt bzw. modifiziert werden. So kann für die weitere Entwicklung der Angebotsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland auch gelten, dass stationäre Anbieter nicht überflüssig werden und vielmehr zu erwarten ist, „dass die Grenzen zwischen ambulanten und stationären Angebotsformen fließend werden [könnten] zugunsten von Wohnformen, in denen Menschen mit Behinderungserfahrungen als Mieterinnen und Mieter leben und auf ihre Bedarfe und Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung erhalten können. Wenn die Heimbewohner von heute auch externe Dienstleistungen in Anspruch nehmen können, während Heime mehr und mehr auch ambulante Dienstleistungen anbieten, verschwimmen die Grenzen zwischen ‚ambulant‘ und ‚stationär‘ und die Dynamik kann entstehen, die zum Perspektivenwechsel in der Behindertenhilfe notwendig ist“ (Hölscher u.a. 2004, 161). Inwiefern diese Wirkung auf die Angebotslandschaft der Behindertenhilfe eintreten wird, ist also bislang noch unklar; auf der Hand liegt allerdings, dass mit der Einführung Persönlicher Budgets eine zunehmende Ambulantisierung der Angebote der Behindertenhilfe erhofft wird. Möglicherweise wird aber fälschlicherweise davon ausgegangen, dass sich der Ausbau ambulanter Angebote sowie eine zunehmende Differenzierung und Flexibilisierung der Leistungen im Zuge der Einführung Persönlicher Budgets wie von selbst einstellen wird. Eher zu erwarten ist aber, dass gebündelte Anstrengungen nötig sein werden, wenn sich herausstellt, dass die Einführung Persönlicher Budgets keine entsprechenden Marktimpulse erzeugt.
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3.3.2 Kunde statt (abhängiger) Hilfeempfänger – Verbesserung der Qualität und passgenaue Angebote durch stärkere Einflussnahme Bereits vor etwa zehn Jahren forderte Walther (1998) ein Umdenken hin zu einer stärkeren „Dienstleistungsorientierung“ in der Behindertenhilfe, indem er postulierte, Behinderung sei kein „Personenmerkmal“ sondern ein „Dienstleistungsbedarf“. Wie auch nichtbehinderte Menschen (bezahlte) Dienstleistungen in Anspruch nehmen, weil sie etwas nicht „können“ (z.B. das Reparieren einer Spülmaschine), so nehmen auch Menschen mit Behinderung eine Dienstleistung in Anspruch, für die sie – indirekt oder direkt – bezahlen: „Behinderung reiht sich ein in ein Kontinuum des Hilfebedarfs, in welches auch Menschen ohne Behinderungen eingebunden sind. (…). Die Bewältigung des Lebens erfolgt zunehmend in einem System von Dienstleistungseinkauf und Konsum, von dem heute alle Menschen hochgradig abhängig sind. (…). Wer also etwas selbst nicht kann, kauft sich die Dienstleistung ein. In dieses Dienstleistungsgefüge müssen zukünftig auch behinderte Menschen miteinbezogen werden. Die Dienstleistungen müssen erweitert werden, nicht die behinderten Menschen mittels Erziehung und Förderung an das bestehende Dienstleistungssystem (welches für nichtbehinderte Kunden gemacht ist) angepasst werden. Die Frage ist nicht mehr: ‚Wie müssen wir behinderte Menschen fördern, damit sie in unserer nichtbehinderten Gesellschaft so ähnlich wie wir Nichtbehinderten leben können?‘ sondern: ‚Wie können wir unsere Dienstleistungen ausbauen, damit auch behinderte Menschen – so wie sie sind – damit ihr Leben leben können?‘“ (Walther 1998, 75).
Was in obigem Zitat noch Zukunftsmusik ist, soll durch die Einführung Persönlicher Budgets möglich werden. Eine wesentliche Folge der Einführung Persönlicher Budgets stellt dabei die bereits in Kapitel 2.3 beschriebene Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks dar. Demnach – so die allgemeine These – wird die Position der Leistungsempfänger/innen gestärkt und sie treten fortan als „Kunden“ auf.23 Indem die „Kundenrolle“ des Leistungsempfängers gestärkt wird, 23
Inwiefern man bei anspruchsberechtigten Empfängern von staatlichen Leistungen überhaupt von „Kunden“ sprechen kann, ist auch im Bereich der Behindertenhilfe kontrovers zu diskutieren. Dazu seien vier Überlegungen kurz skizziert: Erstens besteht keine bilaterale Beziehung zwischen Leistungsanbietern und Leistungsempfänger/innen und die Nutzer/innen von Angeboten bezahlen „die Leistung in der Regel nicht aus ‚eigener Tasche‘“ (Schäper 2006, 299). Letztendlich handelt es sich daher um Empfänger/innen von Leistungen für Menschen mit Behinderung und nicht wirklich um „Kunden“ (Empfänger/innen ärztlicher Dienstleistungen sind beispielsweise im alltäglichen Sprachgebrauch noch immer keine Kunden, sondern Patienten). Zweitens ist der Begriff des „Kunden“ auch deswegen hoch problematisch, weil „Menschen mit Behinderungen oder psychisch Kranke in der Regel nicht freiwillig mit entsprechenden Institutionen in Kontakt kommen“ (Dederich 2008, 296). Drittens erscheint vor allem die Entlehnung des Kundenbegriffs aus der Ökonomie äußerst fragwürdig, wenn man bedenkt, dass es
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müssen wiederum individuelle Vorstellungen und Bedürfnisse des behinderten Menschen von den Leistungsanbietern stärker berücksichtigt werden. Im Gegensatz dazu wird es durch das bestehende Sachleistungssystem erschwert, bedarfsgerechte und innovative Angebote zu entwickeln und vorzuhalten.24 Das sogenannte „Kundenmodell“ ist dabei nicht erst im Kontext des Persönlichen Budgets entstanden, sondern geht auf bereits länger zurückliegende Forderungen von vor allem körperbehinderten Menschen nach einer Verbesserung und Sicherstellung der Qualität von Hilfen für Menschen mit Behinderung zurück: „Bei vielen Diensten für körperbehinderte Menschen hat sich in den vergangenen Jahren das sogenannte ‚Kundenmodell‘ herausgebildet und bewährt. Es versteht und organisiert professionelle Hilfe für behinderte Menschen als Dienstleistung, die auf einer vertraglichen Regelung zwischen den Beteiligten beruhen. Das Kundenmodell soll die helfende Beziehung von einer einseitigen Abhängigkeit befreien. Die vertragliche Grundlage der Arbeit verändert die ‚Machtverhältnisse‘ zugunsten der Nutzer/innen der jeweiligen Dienstleistung. Die Möglichkeit, eine ‚Kundenrolle‘ einzunehmen, bedeutet für behinderte Menschen eine Emanzipation vom Hilfeempfänger hin zum Käufer sozialer Dienstleistungen (…). Der hilfebedürftige Mensch kommt so in die Lage eines ‚kritischen Konsumenten‘ mit Qualitätsansprüchen (…), der sich auf dem Markt der Dienstleistungen zurechtfinden muss (…). Die Ansprüche der Kunden auf gute Qualität von Dienstleistungen erfordern ein verändertes Bewusstsein bei Anbietern (‚Kundenorientierung‘)“ (Niehoff 1998b, 54f.).
Wenn auch dieses „Kundenmodell“ bereits seit längerem Programm ist, gewinnen aber letztendlich vor allem Budgetnutzer/innen „durch das Persönliche Budget eine neue und bislang ungewohnte Rolle, die über Selbstverantwortung hinaus mit Entscheidungs- und Finanzkompetenz gegenüber Leistungserbringern ausgestattet ist“ (Windisch 2006, 11). Zentral ist dabei, dass Leistungsvereinbarungen nun nicht mehr zwischen den Rehabilitationsträgern und Leistungserb-
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dort vor allem darum geht, „Kunden an Unternehmen, Produkte oder Dienstleistungen zu binden. Demgegenüber müsste das Ziel der Behindertenhilfe und Sozialen Arbeit immer sein, die Lage hilfebedürftiger Menschen so weit zu verbessern, dass sie möglichst weitgehend unabhängig von Hilfe werden“ (ebd.). Zuletzt besteht eine wesentliche Gefahr des Einzugs des Kundenbegriffs in der Behindertenhilfe vor allem darin, dass dadurch die Substanz der Beziehung zwischen Leistungsanbietern und Menschen mit Behinderung zerstört wird: „Mit Kunden muss man nicht empathisch sein, man muss sie nur gut bedienen“ (Schäper 2006, 302). Da es in diesem Kapitel jedoch um eine Darstellung der in der Literatur transportierten Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets geht, sei diese Diskussion nicht weiter verfolgt (eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kundenbegriff in der Behindertenhilfe findet sich bei Schäper 2006, 296ff. sowie bei Beck 1999). Die Frage, inwiefern Budgetnutzer/innen eine Kundenrolle einnehmen, wird jedoch in Kapitel 9.1. nochmals kritisch aufgegriffen. Stutzmüller (2001) verweist hierbei beispielsweise nicht nur auf eine Unbeweglichkeit auf Seiten der Leistungsanbieter, sondern auch auf zu starre Bedarfsplanungen und „Kompetenzgerangel“ zwischen den Kostenträgern.
3.3 Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene
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ringern abgeschlossen werden müssen, sondern zwischen den Leistungsempfänger/innen und Leistungserbringern. Es kann also festgehalten werden: Trotz der bereits schon seit längerem bestehenden allgemeinen behinderungspolitischen Forderungen ermöglicht es insbesondere die Idee des Persönlichen Budgets aufgrund der vertraglichen Konzeption zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer, dass Menschen mit Behinderung die Rolle des „Kunden“ einnehmen können. Anders als im Sachleistungsprinzip, im Rahmen dessen der Leistungsempfänger zwar Antragsteller für die jeweilige Sozialleistung ist, aber über den Inhalt, Umfang, Personal und Zeitpunkt Leistungsträger und Leistungserbringer verhandeln (damit ist eigentlich der Leistungserbringer Kunde), ermöglicht das Persönliche Budget eine direkte Einflussnahme des Leistungsempfängers. Aus diesem Grunde ist die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks eine unabdingbare Voraussetzung, denn im herkömmlichen Verhältnis kann der Leistungsempfänger noch nicht als Kunde auftreten: „Ihn – als Verbraucher und Nutzer einer öffentlich finanzierten Dienstleistung – deswegen aber durch die Bezeichnung Kunde in den Status desjenigen zu versetzen, der bezahlt und bestimmt, ist irreführend, solange das Dreiecksverhältnis in der bestehenden Form existiert“ (Niehoff 1998b, 55). Damit ist die Erwartung einer Verwirklichung der „Kundenorientierung“ im Kontext der Behindertenhilfe ein fester Bestandteil der Intention Persönlicher Budgets. Mit dem Persönlichen Budget wird der weitreichende Rollenwechsel „vom abhängigen Klienten zum Hilfe einkaufenden Kunden möglich“ (McGovern 2006, 55). Entsprechend wird insbesondere erwartet, dass die budgetnehmenden Personen diese Kundenrolle in Zukunft vermehrt einnehmen und auch tatsächlich als – vor allem kritische – Kunden auftreten werden. Dies hat wiederum Einfluss auf den Markt sozialer Dienstleistungen. „Eine über das persönliche Budget entstehende Nachfrage“ – so die These von Stützmüller (2001, 122) – „würde den Innovationswettbewerb auf der Anbieterseite fördern und zu differenzierten neuen Angebotsformen führen.“ Dabei ist es vom Gesetzgeber durchaus gewollt, dass mit der Einführung Persönlicher Budgets Dienstleistungserbringer um Budgetnehmer/innen konkurrieren (vgl. Lachwitz 2004, 66). Vermutungen gehen schließlich dahin, dass eine quantitative Zunahme Persönlicher Budgets erhebliche Auswirkungen auf den Markt sozialer Dienstleistungen haben wird; allein die Diskussion über Persönliche Budgets – so McGovern – führe dazu, „dass Anbieter ihr Leistungsspektrum überdenken“ (McGovern 2006, 54). Dabei sind drei verschiedene Konsequenzen denkbar. Die Einführung Persönlicher Budgets und mithin eine veränderte Rolle des Leistungsempfängers vom (abhängigen) Hilfeempfänger zum Kunden soll in dieser Vorstellung dazu beitragen, dass
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sich die Angebotslandschaft ändern wird, neue Angebote entstehen und/oder sich neue Anbieter auf dem Markt platzieren und um „Kunden“ konkurrieren, die Qualität der Angebote sich verbessert, da der Leistungsempfänger durch das Persönliche Budget eine Art „Qualitätskontrolle“ ausübt, Leistungsanbieter ihre Komplexangebote differenzieren und modularisieren müssen, um dem „Kunden“ einerseits Einblick und Vergleichbarkeit in die Angebotspalette zu ermöglichen, andererseits bedarfsorientierte Angebote anbieten zu können.
Mit der Einführung Persönlicher Budgets sind also insgesamt Erwartungen verbunden, die sich einerseits auf ein verändertes Selbstverständnis der Leistungsempfänger beziehen – diese müssten schließlich vermehrt als rationale, kalkulierende Marktsubjekte auftreten und ein regelmäßiger Wechsel der Anbieter wäre dann durchaus denkbar –, andererseits aber auch die Ebene der Angebotsstrukturen bzw. der Anpassungsbereitschaft der Leistungsanbieter umfassen. Aus diesem Grunde bleibt zu erwarten, dass sich der eigenverantwortliche Einsatz von Geldmitteln auch auf die Angebote der Leistungserbringer auswirken wird, nämlich dergestalt, dass die Einführung Persönlicher Budgets „den Wettbewerb im Bereich der sozialen Dienste erhöht und einen nachfrageorientierten Angebotswandel zugunsten ambulanter Leistungen unterstützt“ (Metzler u.a. 2006, 8). Entsprechend einer Stärkung von „Kundensouveränität“ (Arntz, Spermann 2004) bzw. einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts und eines selbstbestimmteren Umgangs mit Unterstützungsleistungen werden also in jedem Falle Veränderungen der Angebotsstruktur auf Seiten der Leistungserbringer erwartet. Dies geht über Flexibilisierung von Dienstleistungen über Modularisierung der Angebote bis hin zu einer vollständigen Abstimmung auf die Bedürfnisse des Nachfragenden und eine ganzheitliche Leistungserbringung (z.B. in Form persönlicher Assistenz im Rahmen des Arbeitgebermodells). Blickt man hierbei auf internationale Erfahrungen in Ländern, die bereits seit längerem Persönliche Budgets bzw. Direktzahlungen für Menschen mit Behinderungen eingeführt haben, so wird deutlich, dass sich die Angebotsstruktur aufgrund der veränderten Nachfragesituation auch bereits verändert zu haben scheint (vgl. Hölscher u.a. 2004; Loeken 2006). Beispielsweise werden verstärkt gemeindenahe und flexibilisierte Leistungen angeboten. Forschungsergebnisse in den Niederlanden zeigen, dass sich nicht nur der Markt für neue Anbieter geöffnet hat (vgl. Miltenburg 2004, 77f.), sondern auch, dass die Budgetnehmenden über größere Mitsprachemöglichkeiten bei Art und Zeitpunkt der Unterstützungsaktivitäten berichten. Ferner scheinen sie verbesserte Möglichkeiten zu haben, die Unterstützung auf ihre eigene Situation abzustimmen. Zudem fühlen sich Budgetnehmende weniger abhängig von den Dienstplänen und können ihren eigenen Tagesablauf beibehalten (vgl. ebd., 76).
3.4 Zusammenfassung
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Auch wenn die Entwicklungen in der Praxis der Budgetnutzung auf eine solche Einflussnahme der Budgetnutzer/innen hindeuten, sollen abschließend aber auch kritische Anmerkungen herausgestellt werden. Als kritisch zu werten ist dabei, ob es auf der Ebene der Budgetnehmer/innen tatsächlich zu diesem erhofften „Kundenbewusstsein“ kommen wird: „Schließlich braucht es neben entsprechenden Informationen für potenzielle Nutzer eine breite Palette an ambulanten, flexibel abrufbaren Leistungen und bei Bedarf eine größere Flexibilität zwischen ambulanten und stationären Leistungen (…). Die Rolle des souveränen Kunden, der das passende Produkt auswählt, konnte bislang auch wegen eines Mangels an einer umfassenden ambulanten Infrastruktur von den deutschen Nutzern der Persönlichen Budgets noch nicht ausgefüllt werden“ (Loeken 2006, 39).
Alles in allem wird die erhoffte Veränderung bzw. Anpassung der Angebotslandschaft nur möglich sein, wenn die Budgetnehmenden auch tatsächlich einen Einfluss als Kunden ausüben können; dafür müssen aber Auswahlmöglichkeiten vorliegen. Damit jedoch die regionale Infrastruktur in ausreichendem Maße diese Bedürfnisse aufgreifen und umsetzen kann, bedarf es wiederum einer „ausreichenden Zahl“ an nachfragenden Budgetnehmer/innen. Hierbei stellt sich dann auch beispielsweise die Frage, inwiefern ländliche Regionen benachteiligt sein werden (vgl. Arntz, Spermann 2004).
3.4 Zusammenfassung Die systematische Sichtung der Literatur zum Thema „Potenziale“ Persönlicher Budgets zeigt eine Vielfalt an Erwartungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets in Verbindung stehen. Diese können wiederum auf verschiedenen Ebenen festgemacht werden, so dass sich Erwartungen auf einer normativ-ethischen, professionstheoretisch-fachlichen und sozialpolitischen Ebene unterscheiden lassen. Allerdings sind diese Ebenen immer auch als durchlässig zu verstehen und es lassen sich vielfältige Überschneidungen erkennen. Dennoch eignet sich eine Zuordnung zu den genannten Ebenen, um die Vielfalt der Erwartungen systematisieren zu können. Im Folgenden werden die wesentlichen Annahmen nochmals zusammenfassend dargestellt, da sie als Grundlage für die nachfolgende empirische Untersuchung der Budgetnutzung dienen. Die in diesem Kapitel extrahierten allgemeinen Erwartungshaltungen sollen schließlich in der qualitativen Analyse als Orientierungsraster für ein Kategoriensystem der von den befragten Budgetnehmer/innen genannten Beantragungsmotive fungieren (vgl. dazu Kapitel 6.3). Allerdings sind diese Erwartungen nicht nur als Raster für eine nachfolgende
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3 Das Persönliche Budget im Spannungsfeld zwischen Potenzial und Praxis
Kategorienbildung zu verstehen, sondern gleichzeitig auch als Kontrastfolie zur Interpretation der Ergebnisse (vgl. dazu Kapitel 9.1), denn insbesondere im Hinblick auf die Budgetnutzung können diese Erkenntnisse kontrastierend eingebracht werden. Hintergrund dessen ist vor allem die Frage, inwiefern sich die von den Budgetnehmer/innen selbst vorgebrachten Motive und Erwartungshaltungen mit den allgemeinen Annahmen zur Einführung Persönlicher Budgets decken. Dabei können die subjektiven Gründe, die Menschen mit Behinderung dazu gebracht haben, ein Persönliches Budget zu beantragen, diesen allgemeinen Thesen gegenübergestellt werden. Zusammenfassend lassen sich daher folgende Erwartungshaltungen extrahieren: Auf normativ-ethischer Ebene beziehen sich die Erwartungen vor allem auf Elemente der Selbstbestimmung und Regiekompetenz sowie auf die Möglichkeiten einer selbstständige(re)n Lebensführung. Was die erhofften Selbstbestimmungspotenziale betrifft, so geht es „im Kleinen“ um einen selbstbestimmten Umgang mit den bewilligten Sozialleistungen, „im Großen“ jedoch vor allem um die Möglichkeit, selbstbestimmt Entscheidungen über das eigene Leben und den Lebensverlauf treffen zu können. Ein selbstbestimmter Umgang mit Sozialeistungen bedeutet dabei zunächst die Ausschöpfung personeller, inhaltlicher und zeitlicher Dispositionsspielräume. Mit dem Persönlichen Budget können Menschen mit Behinderung dann selbst entscheiden, wer die Unterstützung wahrnimmt, wann die Unterstützung zu erfolgen hat und wie sie organisiert wird – kurz: die Leistungserbringung kann flexibler gestaltet werden. Selbstbestimmt Entscheidungen über das eigene Leben treffen zu können, bedeutet hingegen eigenverantwortliche Lebensplanung und entsprechende dauerhafte Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern. Dieser Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensführung und eigenverantwortlichen Lebensplanung geht über die genannten Dispositionsspielräume hinaus und schlägt sich in der Möglichkeit nieder, einen individuellen Lebensplan und Lebensstil zu entwickeln. Im Optimum wird dies in Assistenzmodellen realisiert, weil diese Form der Regiekompetenz zu einer vollständigen Unabhängigkeit von Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe führt, vor allem dann, wenn die Unterstützung in Form eines „Arbeitgebermodells“ realisiert wird. Aus diesem Grunde stellt die Regiekompetenz einen wesentlichen Bestandteil dieser selbstbestimmten Lebensführung dar. Zuletzt sollen Persönliche Budgets dazu beitragen, eine selbstständige(re) Lebensführung von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Diese Erwartungshaltung lässt sich wiederum unterteilen in Menschen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Wohneinrichtungen ausziehen, Menschen, die aus dem elterlichen Haushalt ausziehen und Menschen, die mit dem Persönlichen Budget eine bereits bestehende selbstständige Wohnform aufrechterhalten möchten. Zusammengefasst lassen sich folgende Erwartungen an das Persönliche Budget herausarbeiten:
3.4 Zusammenfassung
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Ein flexibler Umgang mit bewilligten Sozialleistungen (zeitliche, personelle und sachliche Dispositionsspielräume, Flexibilitätsgewinne) Eine selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung und planung (u.a. durch die Übernahme der Regiekompetenz) Eine selbstständige(re) Lebensführung (Auszug aus stationären Einrichtungen, Auszug aus dem elterlichen Haushalt, Erhalt einer selbstständigen Lebensführung)
Was die zweite Ebene, d.h. die professionstheoretisch-fachliche Ebene betrifft, so stehen insbesondere Erwartungen hinsichtlich der Deinstitutionalisierungspotenziale Persönlicher Budgets und der verbesserten Teilhabechancen im Zentrum der Erwartungshaltungen. In Bezug auf Deinstitutionalisierungspotenziale geht es in gesellschaftlicher Hinsicht einerseits um Veränderungen im Bereich Wohnen, etwa um die Auflösung von Großeinrichtungen und gleichzeitigem Ausbau kleinerer und gemeindenaherer Wohneinheiten, andererseits zielen die Deinstitutionalisierungspotenziale des Persönlichen Budgets aber vor allem darauf ab, dass sich die bestehenden Strukturen und vorgefertigten institutionellen Versorgungsangebote der Behindertenhilfe in Richtung individualisierter und passgenauer Unterstützungsarrangements wandeln, die es Menschen mit Behinderung ermöglichen, eigene Vorstellungen und Lebenspläne zu verwirklichen. Das Persönliche Budget kann dabei dazu beitragen, institutionelle Karrieren zu umgehen und „so normal wie möglich“ leben zu können. Die wesentlichen Chancen des Persönlichen Budgets beziehen sich also auf individuelle und passgenaue Lösungen, mit denen eine Abhängigkeit von institutionalisierten Unterstützungsstrukturen vermieden wird und ein eigener Lebensstil entfaltet werden kann. Nicht zuletzt stellen diese individuellen Unterstützungsarrangements Alternativen zur professionellen Unterstützung dar und tragen somit zur Deinstitutionalisierung in der Behindertenhilfe bei. Schließlich spielt das Konzept der Teilhabe eine wesentliche Rolle bei den Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets. Hierbei ermöglicht das Persönliche Budget in zweierlei Hinsicht eine Verbesserung von Teilhabechancen: Zum einen kann das Budget direkt für teilhabeförderliche Aktivitäten eingesetzt werden, die auch außerhalb von Einrichtungen der Behindertenhilfe stattfinden können. So geht es nicht zuletzt darum, eigene Wege zu finden, Kontakte zu knüpfen und in gesellschaftlich relevanten Teilbereichen zu partizipieren. Zum anderen kann das Persönliche Budget aber auch dazu beitragen, bestehende Kontakte und Netzwerke zu aktivieren und zu erhalten, indem Menschen mit Behinderung mit Hilfe des Persönlichen Budgets an Kompetenzen gewinnen und eigene Unterstützungsnetzwerke aufbauen. Alles in allem lassen sich daher zwei Punkte zusammenfassen:
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Individuelle und passgenaue Lösungen als Alternative zu institutionalisierter Unterstützung (subjektive Vorstellungen von Unterstützung, individuelle Unterstützungsarrangements, Realisierung eines eigenen Lebensstils) Teilhabe und soziale Beziehungen (kontaktfördernde Aktivitäten, Möglichkeiten der Partizipation in subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen, Aktivierung und Erhalt sozialer Netzwerke)
Zur sozialpolitischen Ebene bleibt anzumerken, dass es sich hierbei schwerpunktmäßig um Erwartungen handelt, die sich eher auf die Angebotslandschaft der bundesdeutschen Behindertenhilfe beziehen. Einerseits wird dabei erwartet, dass Persönliche Budgets zu einem Ausbau an ambulanten Unterstützungsformen beitragen, andererseits wird vermutet, dass die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks zu einer direkten Einflussnahme behinderter Menschen auf die Ausgestaltung und Planung von Angeboten für Menschen mit Behinderung führt. Wie gezeigt wurde, bleiben jedoch sowohl die Ambulantisierung der Behindertenhilfe als auch die Weiterentwicklung und Differenzierung von Angeboten bisher noch hinter den Erwartungen zurück. Dennoch birgt das Persönliche Budget zumindest das Potenzial, solche Entwicklungen anzustoßen. Was die Ambulantisierung betrifft, so spiegeln die hier relevanten Erwartungen im Grunde die bereits oben dargestellten normativ-ethischen Erwartungen wider. Demnach müssten Menschen mit Behinderung in Zukunft vermehrt ein Persönliches Budget nutzen, um damit einen Auszug aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. aus dem elterlichen Haushalt zu realisieren. Was die zweite Erwartungshaltung betrifft, so beziehen sich diese Erwartungen vor allem auf das Bild eines „kritischen“ Kunden. Durch die intendierte Machtverschiebung aufgrund der Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks eröffnet sich für Menschen mit Behinderung nun die Möglichkeit, Leistungsanbieter direkt zu bewerten und bei Unzufriedenheit auch zu sanktionieren. Somit eröffnen Persönliche Budgets Mittel und Wege, der Unzufriedenheit mit (bisherigen) Leistungsanbietern einen konkreten Ausdruck zu verleihen und im konsequentesten Fall sogar einfach den Anbieter zu wechseln. Insgesamt geht die Nutzung eines Persönlichen Budgets also nicht nur mit einem veränderten Machtverhältnis zwischen Leistungserbringern und -empfängern einher, sondern vor allem auch mit einer wachsenden Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern. Im konkreten Fall kann diese veränderte Rolle als Kunde dann auch dazu führen, dass Menschen mit Behinderung direkt Einfluss auf die Qualität der Angebote nehmen. Dann wird Qualität nicht mehr allein durch die Leistungsanbieter definiert, sondern in zunehmendem Maße durch Menschen mit Behinderung selbst. Die folgenden beiden Aspekte bilden daher den Kern der Erwartungen auf sozialpolitischer Ebene:
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Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern (Wechsel der Anbieter, Vermeidung von Abhängigkeiten, verändertes Machtverhältnis, veränderte Rollen) Einflussnahme auf die Qualität der Angebote und Entwicklung der Angebotsstruktur (Machtposition als „kritischer“ Kunde, Wettbewerb zwischen Leistungsanbietern, Setzen von Qualitätsstandards)
Betrachtet man abschließend die Vielfalt an Annahmen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets in Verbindung stehen, wird eines deutlich: Die gegenwärtige Diskussion wird geprägt durch Erwartungen von verschiedenen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen. Die meisten dieser Erwartungshaltungen werden jedoch von denjenigen Akteuren formuliert, die selbst kein Persönliches Budget nutzen werden. Es ist hingegen wenig darüber bekannt, inwiefern sich diese Erwartungen mit den Beweggründen derjenigen Personen decken, die sich letztendlich für ein solches Persönliches Budget entscheiden. Heruntergebrochen auf die Ebene der Praxis der Budgetnutzung stellt sich daher die Frage, welche Ziele von den budgetnutzenden Menschen selbst verfolgt werden bzw. warum diese Menschen ein Persönliches Budget beantragen. Insofern bleibt fraglich, ob das Streben nach abstrakten Werten wie „Selbstbestimmung“ oder „Kundensouveränität“ tatsächlich bewusst im Vordergrund der Budgetbeantragung stehen. Diese Frage wird Gegenstand der empirischen Analyse (Kapitel 7) sein. Vorher sollen aber noch die Ergebnisse bisheriger Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets im Hinblick auf die Umsetzung Persönlicher Budgets dargestellt werden.
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
Erfahrungen mit Direktzahlungen zur Realisierung personenbezogener Unterstützung bzw. „Persönlicher Assistenz“ liegen aus verschiedenen europäischen und nicht-europäischen Ländern vor. Genannt werden hierbei die Niederlande, Großbritannien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Belgien, Frankreich, Italien sowie Kanada und die USA (vgl. Görsch 2009, 21; Baumgartner 2009, 78). Dort werden Persönliche Budgets mitunter bereits seit Jahren erprobt oder sind schon als Regelangebot eingeführt worden.25 Europäische Länder wie die Niederlande, Großbritannien oder Schweden blicken auf weitreichende und langjährige Erfahrungen mit Persönlichen Budgets zurück; in der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Form der Leistungserbringung zunächst einmal nur versuchsweise eingeführt und in einigen Bundesländern in Form von Modellprojekten wissenschaftlich begleitet: Als erstes Bundesland wurde die Einführung Persönlicher Budgets in Rheinland-Pfalz zwischen September 1998 und Dezember 2000 modellhaft erprobt. Es folgten Baden-Württemberg (Oktober 2002 bis Mai 2005), Hamburg (Januar 2003 bis Juni 2005), Mittelfranken (Juli 2003 bis Juni 2004), Nordrhein-Westfalen (August 2003 bis September 2006) und Niedersachsen (Januar 2004 bis Dezember 2005). In Anlehnung an Schäfers (2006, 60) lässt sich hierzu festhalten: „Viel ist in Bewegung, dennoch: Das Persönliche Budget gibt es nicht! Die bislang eingeführten Modellversuche zeichnen sich durch grundsätzlich unterschiedliche konzeptionelle und konkrete Ausgestaltungen der Verfahren aus, zum Beispiel im Hinblick auf avisierte Zielgruppen, die Definition budgetfähiger Leistungen und die finanzielle Budgetausstattung. Insofern verbergen sich momentan unter den Ansätzen, die unter dem Begriff ‚Persönliches Budget‘ firmieren, recht unterschiedliche Substanzen.“
Schließlich wurde auch mit der bundesweit angelegten wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung sogenannter „Trägerübergreifender Persönlicher 25
Des Weiteren ist noch die Schweiz zu nennen, wo derzeit eine Modellerprobung von „Assistenzbudgets“ durchgeführt wird (vgl. Baumgartner 2009).
T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Budgets“ der Versuch gestartet, die Erfahrungsgrundlage hinsichtlich der Umsetzung und Inanspruchnahme Persönlicher Budgets zu verbreitern. Zwischen Oktober 2005 und Juli 2007 wurden in verschiedenen Modellregionen verteilt über das gesamte Bundesgebiet knapp 500 bewilligte Budgets dokumentiert – bislang die umfassendste Datengrundlage zur Umsetzung Persönlicher Budgets. Aber auch außerhalb dieser Modellregionen können Menschen mit Behinderung bereits seit längerem wählen, ob sie die ihnen zugestandenen Unterstützungsleistungen als Sachleistung oder als Persönliches Budget erhalten wollen. Seit dem 01.01.2008 besteht nunmehr ein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget.26 Im folgenden Kapitel sollen die Erfahrungen, die bisher im Rahmen verschiedener Modellvorhaben zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets gemacht werden konnten, genauer betrachtet und gegenübergestellt werden. Da im Rahmen einer solchen Synopse zur Umsetzung Persönlicher Budgets nicht nur die Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland Relevanz haben, sondern auch Bezüge zu anderen Ländern hergestellt werden können, werden Erfahrungen mit Direktzahlungen in drei europäischen Ländern ebenfalls kurz vorgestellt und hinsichtlich der Umsetzung und des Personenkreises der Nutzer/innen aufbereitet. Vorangestellt wird daher ein kurzer Überblick über den Stand der Entwicklungen in den Niederlanden, in Großbritannien und Schweden. Folgende Leitfragen stehen in der zusammenfassenden Betrachtung europäischer sowie bundesdeutscher Erfahrungen im Vordergrund: 1.
Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen: Neben dem Zeitpunkt der Einführung geht es insbesondere um die Hintergründe der Einführung von Direktzahlungen bzw. von Persönlichen Budgets. Dabei soll im Speziellen betrachtet werden, seit wann in den betreffenden Ländern bzw. Regionen solche Budgets angeboten werden und welche sozialpolitischen Ziele und Hintergründe dabei eine Rolle gespielt haben. Eine tragende Säule der Betrachtung stellt ferner die angestrebte „Reichweite“ sowie Zielsetzung der Einführung von Direktzahlungen oder Persönlichen Budgets dar. Sowohl die jeweils einzubeziehenden Personen als auch die zu berücksichtigenden Bedarfe sind hierbei von zentralem Interesse. Weitere Fragestellungen, wie die Verwendung der Budgets und die Organisation der Unterstützung sind mitunter von der Beantwortung dieser Frage abhängig. Folgenden Fragen wird dabei im Kern nachgegangen: Seit wann gibt es Direktzahlungen/Persönliche Budgets und wie vollzog sich deren Einführung?
26
Vorher musste der angefragte bzw. zuständige Leistungsträger prüfen, ob ein solches Persönliches Budget in Frage kommt. Wurde ein solches abgelehnt, so musste dies aber auch begründet werden (Grundsatz des pflichtgemäßen Ermessens).
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Wie sind die Anspruchsvoraussetzungen geregelt und inwiefern werden Zugangsbeschränkungen definiert?
2.
Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen: Die Verfahren der Hilfebedarfsfeststellung, die Kriterien der Budgetbemessung sowie die jeweils in Frage kommenden Leistungen zählen zu den Kernprozessen budgetierter Zahlungen an Menschen mit Behinderung. Hierbei geht es um die angewendeten Verfahren und Kriterien sowie um die jeweiligen Akteure, die eine solche Bedarfsfeststellung und Budgetbemessung vornehmen. Bei den verschiedenen Formen der Budgetkalkulation kann beispielsweise zwischen den Polen „pauschal“ und „individuell“ unterschieden werden. Dabei können hoch differenzierte (Fachleistungs-) Stundensätze oder aber auch nur Korridore das Referenzmaß einer Budgetbemessung bilden. Weiterhin stellt sich insbesondere die Frage, wie hoch solche Budgets maximal bemessen sein dürfen. Zu klären ist zudem, welche Leistungen bzw. Leistungssysteme bei der Umsetzung von budgetierten Zahlungen in Frage kommen. Ergänzend kann auch danach gefragt werden, welche besonderen Aspekte in die jeweiligen Bedarfsfeststellungsverfahren und -instrumente einzubeziehen sind (z.B. unterschiedliche Lebensbereiche und Bedarfslagen). Folgende Kernfragen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung: Wie ist die Bemessung und Bedarfsfeststellung organisiert und auf welcher Basis werden die Budgets kalkuliert? Welche Leistungsarten können Bestandteil einer Direktzahlung bzw. eines Persönlichen Budgets sein?
3.
Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen: Im Kontext der „Reichweite“ der jeweiligen Direktzahlungen und Persönlichen Budgets (siehe Punkt 1) gilt es auch zu prüfen, welche Personen die budgetierten Leistungen in Anspruch nehmen und inwiefern es Unterschiede in der Nutzung Persönlicher Budgets gibt. Ferner wird die Nachfrageentwicklung im Hinblick auf den Personenkreis der Budgetnutzer/innen betrachtet. Ein zentrales Element der Evaluation von sozialpolitischen Innovationen ist stets der Nachweis von „Wirkungen“. Im Sinne einer „summativen Evaluation“ werden in der Regel bestimmte Indikatoren ausgewertet, um den „Erfolg“ etwa eines Projekts oder Programms bewerten zu können. Im Bereich Persönlicher Budgets wird gemeinhin untersucht, welche Wirkungen sich insbesondere im Hinblick auf die Lebens- und Unterstützungssituation der Nutzer/innen ergeben (z.B. hinsichtlich Selbstbestimmung, bedarfsgerechter Unterstützung, Wahlfreiheit). Neben diesen Wirkungen sind aber oftmals auch noch andere Auswirkungen relevant, wie z.B. Wirkungen auf nationale und/oder regionale Sozialsicherungssysteme
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(etwa Kosteneffekte) oder Auswirkungen auf die Angebotsstruktur sozialer Dienstleistungen und Einrichtungen. In diesem Themenblock soll daher insbesondere folgenden Fragen nachgegangen werden: Von welchem Personenkreis werden Direktzahlungen/Persönliche Budgets genutzt? Wie gestaltet sich die Nachfrageentwicklung? Welche Wirkungen auf Seiten der Budgetnutzer/innen lassen sich identifizieren? Welche anderen Auswirkungen (Kostenentwicklungen, Angebotsmarkt) lassen sich beobachten?
4.1 Erfahrungen mit Direktzahlungen an Menschen mit Behinderung im europäischen Raum Sucht man nach Erfahrungen mit Persönlichen Budgets für Menschen mit Behinderung im europäischen Kontext, so wird von verschiedenen Autoren meist auf die Niederlande, Großbritannien und Schweden verwiesen (vgl. exemplarisch Baumgartner 2009; Hölscher u.a. 2004; Wacker u.a. 2005; Kastl, Metzler 2005; Loeken 2006; Gitschmann 2000). Dies erklärt sich insbesondere dadurch, dass diese Länder bei der Einführung von budgetierten Direktzahlungen bereits auf einen Erfahrungsschatz von etwa zehn Jahren zurückblicken können. Im Folgenden sollen skizzenhaft Konzeption und Einführung der Direktzahlungen sowie schwerpunktmäßig die Nachfrageentwicklung und der Personenkreis der Nutzer/innen in diesen drei Ländern dargestellt werden. Die Darstellungen stützen sich dabei auf die bundesdeutsche Literaturlage. Aufgrund der dynamischen Entwicklungen und den teilweise einige Jahre alten Daten sind möglicherweise aber bereits Veränderungen eingetreten oder einzelne Angaben zwischenzeitlich überholt.
4.1.1 Personengebundene Budgets in den Niederlanden (Persoonsgebonden budget) Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen Persönliche Budgets für Menschen mit Behinderung werden in den Niederlanden bereits seit über 20 Jahren diskutiert und erste Modellversuche wurden bereits 1991 durchgeführt. Nach den Erfahrungen dieser Modellerprobungen wurde im Jahre 1995 die landesweite gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, Hilfen und Unterstützung direkt bei Leistungsanbietern einkaufen können. Seit 1995 gibt es für die Bereiche häusliche Pflege und Betreuung und seit 1996 für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung die Möglichkeit, ein sogenanntes „Persoons-
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107
gebonden budget“ (PGB) landesweit in Anspruch zu nehmen (vgl. Loeken 2006; Hölscher u.a. 2004; Korporaal 2001). Gesetzliche Grundlage des Personengebundenen Budgets ist das im Rahmen der Volksversicherung verankerte „Allgemeine Gesetz für besondere Krankheitskosten“ (AWBZ). Hierbei handelt es sich „um eine spezielle Versicherung gegen Gesundheitsrisiken, die nicht durch die allgemeine Krankenversicherung abgedeckt sind (z.B. längere Krankenhausaufenthalte, Pflege- und Versorgungsleistungen, Leistungen bei Behinderung, psychischer Erkrankung, sonstigen chronischen Erkrankungen, häuslicher Versorgung etc.)“ (Kastl, Metzler 2005, 18). Ein personengebundenes Budget kann in den Niederlanden jeder beantragen, der wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung bzw. wegen einer psychischen Erkrankung länger als drei Monate auf Unterstützung nach diesem Gesetz angewiesen ist (vgl. Hölscher u.a. 2004). Bis 2002 waren die personengebundenen Budgets in den Niederlanden noch gedeckelt und regionalisiert, d.h. für die personengebundenen Budgets stand jährlich nur ein bestimmter Betrag zur Verfügung, der dann auf die einzelnen Regionen verteilt wurde. Die jeweils zugewiesenen regionalen Budgets bildeten dann die Obergrenze für die beantragten personengebundenen Budgets und bei einer Ausschöpfung des Regionalbudgets mussten Antragsteller/innen auf einer Warteliste platziert werden (vgl. dazu Kaas 2002, 49f.).27 Angesichts recht langer Wartelisten aufgrund steigender Nachfrage wurden die bisher noch knapp bemessenen Regionalbudgets allerdings deutlich ausgeweitet, mit dem Ziel, in Zukunft jedem Menschen mit Behinderung und Anspruch auf entsprechende Leistungen die Wahl zwischen einem Persönlichen Budget und einer klassischen Sachleistung zu ermöglichen (vgl. Gitschmann 2004; Miltenburg 2004). Die Einführung eines Personengebundenen Budgets ist in den Niederlanden – wie auch in Großbritannien – eng mit den Forderungen der angloamerikanischen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung verbunden, die von den hiesigen Selbsthilfegruppen aufgegriffen wurden. Dabei waren es schließlich Selbsthilfegruppen, insbesondere Elterninitiativen, die für eine breite öffentliche Diskussion sorgten und veränderte Rahmenbedingungen forderten. Hintergrund dieser Forderungen war beispielsweise die von Eltern vorgebrachte Einschränkung der Wahlfreiheit bei der Suche nach passenden Betreuungseinrichtungen sowie die mangelnden Einflussmöglichkeiten der behinderten Menschen auf ihre Lebensgestaltung. Aber auch andere Motive, wie die Unzufriedenheit mit dem Versorgungs- und Pflegeangebot sowie der Anspruch auf eine höchst mögliche Integration ins Gemeinwesen, spielten eine wesentliche Rolle. Mit Hilfe eines Personengebundenen Budgets soll es nun möglich werden, dass Menschen mit
27
Korporaal (2001, 111) hierzu: „Gibt es (…) kein PGB, weil kein Geld mehr vorhanden ist, so ist das Pech für die/den Betroffene(n)!“
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Behinderung „in einem normalen Wohnviertel“, „in einer häuslichen Umgebung“ und „zwischen anderen Menschen“ leben können (Korporaal 2001, 109f.). Im Unterschied zu Großbritannien und Schweden (siehe Kap 4.1.2 und 4.1.3) wird in den Niederlanden das bestehende Sach- und Dienstleistungssystem relativ unverändert genutzt und entsprechende Leistungsverträge mit den Anbietern geschlossen; Unterstützungsarrangements im Sinne einer „Arbeitgeberrolle“ sind nicht explizit angestrebt. Auch können die Persönlichen Budget in den Niederlanden bis ins Jahr 2003 streng genommen nicht als „Persönliche Budgets“ bezeichnet werden, weil die Budgetnehmer/innen zunächst nur einen Teil des zur Verfügung gestellten Gesamtbetrags direkt auf ihr Konto überwiesen bekamen. Der Großteil des Geldbetrags wurde von der Sozialversicherungsbank verwaltet, die wiederum direkt mit den jeweiligen Dienstleistern abrechnete.28 Neben den Einschränkungen der Entscheidungsspielräume zog dies auch einen erheblichen bürokratischen Aufwand nach sich; erst seit dem Jahr 2003 werden die persönlichen Dispositionsspielräume erweitert und ein Prozess der Entbürokratisierung fokussiert (vgl. Gitschmann 2004, 172). Weiterhin sollte erwähnt werden, dass die Personengebundenen Budgets anfangs noch für verschiedene „Zielgruppen“ konzipiert wurden und sich nach der Art der Behinderung richteten. So gab es Personengebundene Budgets für die Betreuung von psychisch erkrankten Menschen, Personengebundene Budgets für geistig behinderte Menschen sowie Personengebundene Budgets für die häusliche Pflege von alten, körperlich behinderten oder langfristig erkrankten Menschen. Die jeweiligen Budgets konnten dabei auch nur von den dafür vorgesehenen Personengruppen beantragt werden (vgl. Korporaal 2001, 111f.). Im Jahre 2003 wurde das Gesetz (Neufassung des AWBZ 01.01.2003) jedoch umfassend modernisiert, mit dem Ziel, für verschiedene Personengruppen eine einheitliche Regelung zu schaffen: „Nachdem es zuvor verschiedene Personengebundene Budgets für Pflegebedürftige, psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen gegeben hat, besitzt seither jeder Mensch mit einem beeinträchtigungsbedingten Unterstützungsbedarf, der länger als drei Monate andauert und durch personelle Hilfen abgedeckt werden kann, das (Wahl-) Recht auf ein Persönliches Budget“ (Loeken 2006, 32).
Hintergrund dieser Vereinheitlichung war, dass sich die vorher angewendete Indikation nach Behinderungsarten in der Praxis als weniger geeignet erwies. 28
Anfangs erfolgte die Budgetverwaltung und -abrechnung noch über Selbsthilfegruppen, aus Gründen der Kontrolle und „um die Arbeitsverhältnisse in rechtlicher und sozialversicherungspflichtiger Grundlage zu sichern, wurde eine Institution, die Soziale Versicherungsbank (Sociale Verzekeringsbank) mit der Abrechnung der einzelnen Budgets per Gesetz beauftragt. Dies führt (…) zu großem bürokratischem Aufwand und vielen Hemmnissen“ (Westecker, 1999a, 35).
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Stattdessen wird nun eine Indikation nach Unterstützungsbereichen angewendet (bspw. Hilfen im Haushalt, Persönliche Assistenz, Begleitung). Aus diesem Grund sollen die relevanten Unterstützungsbereiche sowie die Verfahren der Bedarfsbemessung kurz dargestellt werden. Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Das Persönliche Budget ist in den Niederlanden eine „Wahlleistung“, d.h. es kann alternativ zur sogenannten „Hilfe in Natura“ (Sachleistung) beantragt werden. Dabei bestehen national einheitliche Regelungen, was die jeweiligen anzuerkennenden Unterstützungsbereiche und Verfahren der Bedarfsklärung betrifft (vgl. Baumgartner 2009, 81). Anerkannt werden ausschließlich Unterstützungsbedarfe im Bereich Persönlicher Assistenz. In Frage kommende Leistungen sind hauswirtschaftliche Unterstützung (z.B. Putzarbeiten, Wäsche waschen), Unterstützung bei der persönlichen Versorgung (z.B. Körperhygiene, Ankleiden, Essen und Trinken), pflegerische Tätigkeiten (z.B. Verband wechseln, Wundversorgung), aktivierende und unterstützende Begleitung (z.B. Aneignung und Training von Kompetenzen, Begleitung bei außerhäuslichen Aktivitäten, Förderung gesellschaftlicher Teilhabe) sowie kurzzeitige Aufenthalte in Einrichtungen. Ausgenommen sind allerdings medizinisch-therapeutische Leistungen sowie eine dauerhafte Unterbringung in einer Wohneinrichtung; beides kann nur als Sachleistung bezogen werden (vgl. Kastl, Metzler 2005, 19; Wacker u.a. 2005, 44; Baumgartner 2009, 81). Ein wichtiges Merkmal des niederländischen Systems ist, dass sich die Höhe des Budgets nicht von der Sachleistung unterscheidet. Ein Ausgabenlimit gibt es nicht und es ist in jedem Fall auch eine 24 Stunden Betreuung denkbar (vgl. Miltenburg 2004, 75; Klie 2004, 88f.). Die Bemessung der jeweils benötigten Unterstützung – sei es in Form der Sachleistung oder als individuell zu bewilligendes Budget – richtet sich nach einer 29 speziellen Indikation. Zur Erstellung einer solchen Indikation muss ein Antrag bei einer unabhängigen örtlichen Indikationsstelle („Zentrum für Indikationen in der Versorgung“ – CIZ) eingereicht werden. Aufgabe dieser Indikationsstelle ist es, den Bedarf der Antragsteller/innen abzuklären und bei Vorliegen eines Anspruchs auf Unterstützung, Betreuung, Begleitung oder Pflege einen Vorschlag zu erarbeiten, welche Angebote bzw. (Versorgungs-)Maßnahmen benötigt werden. Die Antragsteller/innen können sich dann zwischen der Sachleistung oder einem Personengebundenen Budget entscheiden (vgl. Baumgartner 2009, 81). Die regionalen Zentren haben insgesamt nur eine „beratende“ Funktion, denn von diesen Indikationsstellen, bestehend aus einem interdisziplinären Team 29
Zur Budgetbemessung und den Modalitäten der Indikation vgl. ausführlich Wacker u.a. 2005, 43ff.
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an Fachleuten, wird lediglich ein Vorschlag für bestimmte Leistungen erarbeitet, der wiederum den zuständigen Versorgungsämtern als Kostenträger vorgelegt wird. Der Kostenträger prüft auf Basis dieses Vorschlags die beantragten Leistungen, legt die Höhe der Zahlungen fest und bewilligt – je nachdem – die Unterstützung in Form einer Sachleistung oder in Form eines Persönlichen Budgets (vgl. Korporaal 2001, 113; Klie 2004, 89f.). Die Höhe des Personengebundenen Budgets wird in Stunden pro Tag festgesetzt (Tageseinheiten) und in Geldbeträge umgerechnet. Die Berechnung unterliegt dabei einem relativ komplizierten Schlüssel (beispielsweise gilt je nach Umfang des Unterstützungsbedarfs eine spezielle Tarifklasse). Die niederländischen Budgets sind einkommensabhängig und begrenzt; der Höchstbetrag beläuft sich auf 300€ pro Tag. Ein durchschnittliches Budget betrug im Jahr 2005 etwa 1.080€ monatlich (vgl. Baumgartner 2009, 82). Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Die Nachfrageentwicklung in den Niederlanden kann als außerordentlich dynamisch beurteilt werden: Bereits im Jahr 1999 können – je nach Angabe – zwischen 8.000 bis über 10.000 Empfänger/innen eines Personengebundenen Budgets gezählt werden.30 Anfang 2004 nahmen schließlich 63.000 Personen (vgl. Klie 2004, 92), Ende 2004 knapp 70.000 Menschen (vgl. Kastl, Metzler 2005, 18; Loeken 2006, 33; Wacker u.a. 2005, 46) und im Jahr 2005 dann rund 77.000 Menschen ein Persönliches Budget in Anspruch (vgl. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2007). Für September 2006 wird eine Zahl von rund 85.000 Menschen angegeben (vgl. Deutscher Bundestag 2006, 20). Im Jahr 2008 hat sich die Anzahl der Budgetnehmer/innen nochmals auf knapp 100.000 Budgetnehmer/innen erhöht, so dass mittlerweile von einem Anteil von ca. 10% aller Leistungsberechtigten ausgegangen wird (vgl. Klie 2008, 9; Baumgartner 2009, 82).31 Aufgrund dieser Nachfrage hat sich in den Niederlanden die Angebotsstruktur radikal verändert: In zunehmendem Maße mussten stationäre Einrichtungen schließen, während sich immer mehr ambulante Angebote und neue Leistungsmodule entwickelten (vgl. Wacker u.a. 2005; Hölscher u.a. 2004). 30
31
Arntz und Spermann (2004, 20) berichten von knapp über 8.000 Personen, beziehen sich dabei aber wahrscheinlich nur auf Personengebundene Budgets im Bereich der häuslichen Pflege. Auch Kaas (2002, 50) erwähnt für 1999 eine Zahl von 8.500 Budgetnehmenden. Korporaal (2001, 114) benennt differenziertere Zahlen: „Mit Stand vom Dezember 1999 haben 8.168 Menschen ein Budget für Verpflegung und Betreuung in der häuslichen Pflege bekommen. (…). Weitere 3.474 Personen nehmen das Budget für geistig behinderte Menschen in Anspruch. (…). 107 Psychisch/seelisch kranke Menschen beanspruchen z.Z. ein PGB.“ Es muss allerdings einschränkend bedacht werden, dass bei den genannten Zahlen vor allem auch Pflegeleistungen und nicht nur Leistungen der Behindertenhilfe im „deutschen Sinne“ in Form eines solchen Persönlichen Budgets bewilligt wurden (vgl. Kastl, Metzler 2005, 18; Loeken 2006, 33).
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Personengebundene Budgets werden analog zu den in Frage kommenden Leistungen in drei verschiedenen Feldern genutzt: Im Bereich der hauswirtschaftlichen Unterstützung, Versorgung und häuslichen Pflege, bei der Begleitung von Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen sowie bei der Begleitung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, wobei letztere Gruppe eher die Minderheit darstellt (vgl. Miltenburg 2004, 73; Westecker, 1999a, 35). Zwar werden in gewisser Weise Zugangsbarrieren für Menschen mit geistigen Behinderungen befürchtet (vor allem administrative Aufgaben und das Finanzmanagement des Persönlichen Budgets erfordert beispielsweise spezifisches Wissen und ohne Unterstützung wäre eine Budgetnutzung für Menschen mit geistiger Behinderung erheblich erschwert), deren Anzahl unter den Budgetnehmer/innen hat sich aber dennoch seit 1996 mehr als verdoppelt (vgl. Hölscher u.a. 2004, 148). Je nach Art der Behinderung (bzw. des jeweiligen Unterstützungsbedarfs) unterscheidet sich auch das Alter der Budgetnutzer/innen. Das Durchschnittsalter von Personen, die Budgets im Bereich Verpflegung und häusliche Pflege nutzen, ist wesentlich höher als in den anderen Gruppen, was sich dadurch erklären lässt, dass unter diesen Budgetnehmer/innen überproportional Menschen über 65 Jahren vertreten sind. Dagegen ist das Durchschnittsalter der Budgetnutzer/innen mit geistiger Behinderung relativ niedrig, was daran liegt, dass es sich häufig um Familien mit geistig behinderten Kindern handelt, die noch bei den Eltern leben (vgl. Korporaal 2001, 114). Was die Wirkungen betrifft, so wird von einer hohen Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget berichtet, die sich im Wesentlichen auf eine Erhöhung der Selbstbestimmung und die verbesserten Entscheidungsfreiräume bezüglich der Auswahl und Organisation der benötigten Leistungen sowie auf finanzielle Spielräume bezieht (vgl. Hölscher u.a. 2004, 147; Korporaal 2001, 117). Demnach liegen die Vorteile des Persönlichen Budgets nach Ansicht der Budgetnehmer/innen vor allem in vier Bereichen begründet:
„es gibt mehr Wahlmöglichkeiten der Anbieter es gibt ein größeres Mitspracherecht bei Zeitplänen und der Art der Aktivitäten sie oder er haben bessere Möglichkeiten, die Pflege auf die persönliche Situation abzustimmen die Person mit einem Budget fühlt sich weniger abhängig, kann ihren eigenen Tagesablauf behalten“ (Miltenburg 2004, 76).
Insgesamt zeichnen sich auch Verbesserungen hinsichtlich Aktivität und Teilhabe ab. Beispielsweise zeigte eine „Evaluation der Hilfen für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung (…), dass Personen, die mit Hilfe eines Budgets
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Assistenz im privaten Haushalt erhalten, häufiger Begleitung bei Aktivitäten sowie Unterstützung in der Mobilität nutzen, als Menschen, die Sachleistungen in Anspruch nehmen“ (Woldringh, Baarveld, Ramakers 1998 zitiert in Hölscher u.a. 2004, 147). Der Erfolg des niederländischen Modells wird dabei auf die außerordentlich gute Beratungsstruktur zurückgeführt. Zusammenfassung und kritische Würdigung In der Fachliteratur wird immer wieder auf die Niederlande als positives Beispiel verwiesen, wenn es um das Thema „Persönliches Budget“ geht. Zu würdigen ist sicher die frühzeitige Einführung Persönlicher Budgets und die Pionierrolle der Niederlande auf diesem Gebiet. Auch der bereits seit Jahren eingeschlagene Weg verweist auf ein hohes Erfahrungspotenzial im Umgang mit der Leistungsform Persönlicher Budgets. Seit der Neufassung des Gesetzes im Jahr 2003 besteht zudem ein Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget. Das Persönliche Budget ist Bestandteil der allgemeinen Sozialversicherung und steht der gesamten Bevölkerung offen. Aus diesem Grund gibt es keine Beschränkung hinsichtlich Alter und Art der Behinderung. Persönliche Budgets können aber auch Eltern von behinderten Kindern ausgezahlt werden (vgl. Baumgartner 2009, 81). Als positiv herauszustellen ist auch, dass die Bemessung des benötigten Unterstützungsbedarfs von den Kostenträgern und Leistungserbringern unabhängig erfolgt: „Die Einschätzung von Art und Umfang der erforderlichen Unterstützungsleistungen erfolgt in einem unabhängigen Indikationsverfahren, an dem weder Kostenträger noch Leistungsanbieter beteiligt sind und das durch regionale Zentren (…) durchgeführt wird“ (Wacker u.a. 2005, 44).
Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass von einem radikalen Umbau der vorhandenen Strukturen der Behindertenhilfe nicht gesprochen werden kann. Weitere Kritik am niederländischen Modell bezieht sich auf die „bürokratischen Hürden, das relativ lange unübersichtliche Verfahren und die hohen Anforderungen an das Finanzmanagement, was vor allem für kognitiv beeinträchtigte Menschen Schwierigkeiten mit sich bringt“ (Loeken 2006, 34; vgl. dazu auch Korporaal 2001, 117ff.; Kaas 2002, 50f.). Dennoch sind Persönliche Budgets als Alternative zur Sachleistung in den Niederlanden heute nicht mehr wegzudenken.
4.1.2 Direct Payments in Großbritannien Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen Die gesetzliche Grundlage für die Einführung sogenannter Direct Payments in Großbritannien wurde im Jahre 1996 gelegt, als die Regierung mit dem „Com-
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munity Care Direct Payment Act“ ein Gesetz verabschiedete, welches den lokalen Behörden die Möglichkeit bot, im Einzelfall anstelle von Sachleistung auch Barauszahlungen an Betroffene zu genehmigen.32 Mit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 1997 hatten die örtlichen Behörden dann die Wahl, „Dienste für Menschen mit Beeinträchtigung selbst anzubieten, freie oder private Anbieter zu beauftragen oder Direktzahlungen zu leisten“ (Loeken 2006, 34). Zuständig für die Direktzahlungen sind die Kommunen. Die Antragsteller/innen vereinbaren mit dem jeweiligen Sozialamt die finanzielle Höhe der Zahlungen, die erforderlichen Dienstleistungen, eventuelle Eigenbeteiligungen, Abrechnungsmodalitäten sowie die Laufzeit der Direktzahlung. Die Vereinbarungen werden in Abhängigkeit von der Art des Hilfebedarfs getroffen. Die Nutzung der Direktzahlungen blieb zunächst jedoch noch begrenzt, was vor allem daran lag, dass es den zuständigen Kommunen freistand, ob sie das System anwenden oder nicht. Durch eine Gesetzesänderung im Jahre 2003 sind allerdings die örtlichen Behörden mittlerweile verpflichtet, allen betreffenden Personen mit Unterstützungsbedarf die Möglichkeit von Direktzahlungen anzubieten bzw. zur Verfügung zu stellen (vgl. ebd., 34). In Großbritannien können alle Menschen, bei denen ein Hilfebedarf nachgewiesen wird und die Anspruch auf kommunale Unterstützungsleistungen (Community Care Service) haben, Direktzahlungen beantragen. Dies können Menschen mit geistiger und Lernbehinderung sowie Menschen mit körperlichen Behinderungen und Menschen mit chronischen Erkrankungen sein (vgl. Hölscher u.a. 2004). Zunächst wurde allerdings gesetzlich festgelegt, dass nur Personen zwischen 18 und 65 Jahren Direktzahlungen erhalten können. Im Zuge der Gesetzesänderung im Jahr 2003 wurde der Personenkreis der Leistungsberechtigten jedoch ausgeweitet. Seitdem nutzen auch über 65-Jährige sowie 16- und 17-Jährige Direktzahlungen (vgl. Baumgartner 2009, 83). Eine weitere Voraussetzung für die Bewilligung einer Direktzahlung ist, dass die Antragsteller/innen ihren Willen bekunden und in der Lage sind, diese Direktzahlung allein oder mit Hilfe anderer33 zu verwalten, d.h. „die Person 32
33
Vorangegangen war eine Gesetzesinitiative von 1993 (Community Care Act), die eine stärkere kommunale Verantwortung der örtlichen Verwaltungen für die Versorgung von Menschen mit Behinderung ermöglichte. Bereits in diesem Gesetz wurde die Schaffung von Alternativen zur Heimunterbringung angestrebt (vgl. Gitschmann 2004, 169). Allerdings wurden aber bereits 1988 in Form des „Independent Living Fund“ die Weichen für Direct Payments gestellt (vgl. Baumgartner 2009, 82). Gemeint ist damit das Vorhandensein eines „Unterstützerkreises“. Damit sollte es ermöglicht werden, dass auch Menschen, die Unterstützung bei der Verwaltung des Geldes benötigen, Empfänger von Direct Payments werden können: „So können es zum Beispiel Familienangehörige und FreundInnen sein, die jemanden in der Verwaltung seines/ihres Budgets entsprechend der eigenen Wünsche eines behinderten Menschen unterstützen“ (Higgins 2007, 18).
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[kann] zwar Unterstützung in Anspruch nehmen, muss aber jederzeit die Kontrolle über die Arrangements behalten und die Verantwortung für die Nutzung der Zahlungen übernehmen“ (Hölscher u.a. 2004, 150). Theoretisch könnte der Antrag auf eine Direktzahlung dann auch versagt werden, wenn der/die Antragsteller/in nicht nachweisen kann, dass er/sie das Budget alleine oder mit Unterstützung verwalten kann (vgl. Arntz, Spermann 2004). Insgesamt gibt es daher aufgrund der Altersbeschränkung nach unten eine strukturelle Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren. Des Weiteren ist der Zugang insbesondere für Menschen mit eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten sowie für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen erschwert. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise auch diskutiert, ob und inwiefern „Willensbekundungen“ von Eltern oder Verwandten ausreichen könnten (vgl. Westecker, 1999a, 34f.). Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Wie in den Niederlanden haben Leistungsberechtigte die Wahl zwischen Sachoder Geldleistung bzw. können sich für eine Kombination entscheiden. Aufgrund der charakteristischen dezentralen Verantwortung der Kommunen ist die Klärung des Unterstützungsbedarfs in Großbritannien allerdings nicht einheitlich geregelt. Die Ermittlung des Bedarfs kann beispielsweise über eine unabhängige Fachkommission oder auch über die Einschätzung einzelner Sozialarbeiter/innen der Kommune erfolgen (vgl. Baumgartner 2009, 83). In der Regel wird der Hilfe- bzw. Unterstützungsbedarf sowie die Höhe des Budgets jedoch gemeinsam mit dem Leistungsberechtigten in einem Bedarfsfeststellungsverfahren („Community Care Assessment“) festgelegt und in einer Vereinbarung festgehalten. Mit dem Budget können grundsätzlich alle Dienstleistungen im Gemeinwesen wie Unterstützungen des täglichen Lebens, Assistenz oder tagesstrukturierende Maßnahmen finanziert werden. Ausgenommen ist das dauerhafte Wohnen im Heim (vgl. Loeken 2006; Hölscher u.a. 2004). Zwar wird eine feste Obergrenze ausgeklammert, allerdings steht den lokalen Behörden nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung und vor diesem Hintergrund sind die Etats in der Realität auch begrenzt (vgl. Westecker, 1999a, 34f.). Die Direktzahlungen in Großbritannien sind zudem einkommensabhängig; dabei kann der Eigenanteil bis zu 25% betragen (vgl. Baumgartner 2009, 83) Das Beratungs- und Vermittlungsangebot ist in Großbritannien vorbildlich: Beratung wird bei der Bewilligung und Nutzung von sogenannten „Care Managern“ geleistet, die dem örtlichen Sozialdienst angegliedert sind. Daneben wurden in verschiedenen Regionen flächendeckend sogenannte Direct Payments Supports etabliert, die ebenfalls bei der Verwendung der Direktzahlungen unterstützen. Neben unabhängiger Unterstützung durch Selbsthilfeorganisationen bieten professionelle Stellen (brokerage services) weiterhin Unterstützung bei
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der Vermittlung von geeigneten Assistenten sowie bei Fragen der Buchhaltung und Verwaltung an (vgl. Loeken 2006, 35f.; Hölscher u.a., 151). Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Wie oben bereits erwähnt, wurde es den örtlichen Behörden zunächst freigestellt, Direktzahlungen zu bewilligen. Entsprechend gab es große regionale Unterschiede, wenn auch 80% aller Kommunen in Großbritannien bis ins Jahr 2000 Direktzahlungen geleistet hatten. Mittlerweile besteht allerdings eine Verpflichtung für alle Kommunen, Direktzahlungen anzubieten. Über die genaue Anzahl von Nutzer/innen von Direktzahlungen in Großbritannien liegen unterschiedliche Angaben vor. In manchen Quellen werden nur aus einzelnen Kommunen Daten benannt,34 oder die Anzahl der Nutzer/innen von Direktzahlungen wird anteilsmäßig an der Gesamtgruppe aller Nutzer/innen von Leistungen für Menschen mit Behinderung beziffert.35 Loeken (2006, 35) berichtet für 2001 von einer Anzahl von etwa 9.000 Nutzer/innen von Direktzahlungen in England (Zahlen zu Schottland werden keine genannt), wobei es sich mehrheitlich um Menschen mit körperlichen Behinderungen handelt. Wacker u.a. (2005, 49) nennen für 2003/2004 eine Anzahl von 17.300 Budgetnehmer/innen. Aktuelle Zahlen von 2005 belaufen sich auf etwa 27.000 Personen (vgl. Baumgartner 2009, 84). Insgesamt wächst die Anzahl der Nutzer/innen von Direktzahlungen kontinuierlich, allerdings erscheint sie im Gegensatz zu den Niederlanden immer noch eher niedrig. Mit Aufhebung der Entscheidungsfreiheit der Kommunen per Regierungserlass im Jahre 2003 könnte sich dies jedoch noch ändern. Aufgrund der oben genannten Zugangsvoraussetzungen – das Angebot richtet sich an Menschen, die nachweislich einen Hilfebedarf haben, zugleich aber auch in der Lage sind, ihren Willen zu bekunden und allein oder mit Unterstützung anderer ein solches Budget zu verwalten – haben einige Kommunen zunächst entschieden, vor allem Menschen mit geistigen Behinderungen und schweren psychischen Erkrankungen von den Direktzahlungen auszuschließen, während andere Kommunen auch diesen Personen Persönliche Budgets bewilligten, wenn die entsprechende Unterstützung sichergestellt ist (vgl. Hölscher u.a. 2004). Insgesamt werden daher Direktzahlungen von Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen wesentlich seltener in Anspruch genommen als von Menschen mit körperlichen Behinderungen (vgl. Deutscher Bundestag 2006; Loeken 2006; Hölscher u.a. 2004; Baumgartner 2009, 83). Beispielsweise nutzen 34
35
Dazu zwei Beispiele: Arntz und Spermann (2004, 20) benennen für Hampshire 358 Nutzer/innen und für Wiltshire 100 Nutzer/innen. In einem Aufsatz von Higgins (2007, 19) werden für die Region Westsussex über 300 Nutzer/innen genannt. Im Jahre 2003 bzw. 2004 nutzten schätzungsweise etwa 1% aller Empfänger/innen sozialer Dienstleistungen und Hilfen Direktzahlung (vgl. Deutscher Bundestag 2006, 21).
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zu etwa zwei Dritteln Menschen mit körperlichen Behinderungen Budgetleistungen in Großbritannien: „So standen 2001 in England 8.200 Nutzern mit körperlichen Behinderungen oder Sinnesbeeinträchtigungen (66,66%) 900 Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen gegenüber (…). In Schottland waren 2004 immerhin 14,8% Nutzer mit Lernschwierigkeiten, jedoch im Verhältnis zu 72% körperlich behinderten Nutzern (…)“ (Loeken 2006, 35).
Die Einführung von Direktzahlungen wird in Großbritannien insgesamt relativ positiv beurteilt. Menschen mit Behinderung, die Direktzahlungen nutzen, berichten von einem (wiedererlangten) Gefühl der Kontrolle und Unabhängigkeit sowie einem wachsenden Selbstvertrauen. Anbieter sozialer Dienstleistungen verweisen zudem auf die Förderung der Inklusion und eine Veränderung der Machtstrukturen zugunsten der Leistungsempfänger (Hölscher u.a. 2004, 152). Insbesondere die Veränderung der Rollen scheint dabei eine bedeutende Komponente der berichteten Wirkungen zu sein: So verändert sich die Rolle des professionellen Helfers von „know best“ zu „expertise in enabling“ (Gitschmann 2004, 170). Des Weiteren bilden sich völlig neue Unterstützungsformen heraus, die über privatrechtliche Verträge abgewickelt werden: „Hauptziel in Großbritannien ist offenbar, die Empfänger/innen von direct payments in die Rolle als Arbeitgeber ihrer Assistenten zu bringen; der Einkauf kommunaler Serviceleistungen oder Leistungen des Health Service aus dem persönlichen Budget ist nicht statthaft“ (ebd., 171). Zusammenfassung und kritische Würdigung Ein wesentlicher Kritikpunkt des britischen Modells ist die strukturelle Ausgrenzung verschiedener Personengruppen. In der Vergangenheit führte die Altersbeschränkung von 18 bis 65 Jahren zu einer solchen strukturellen Ausgrenzung jüngerer und älterer Personen. Mittlerweile wurde der Kreis der anspruchsberechtigten Personen allerdings ausgeweitet: „Anspruchsberechtigt sind inzwischen Menschen ab 16 Jahren mit körperlichen Behinderungen, Sinnesschädigungen, Lernbehinderungen, geistigen Behinderungen, psychischen Erkrankungen, chronischen Erkrankungen, Eltern behinderter Kinder und behinderte Eltern sowie ältere Menschen (über 65 Jahre). Die momentanen Bestrebungen gehen dahin, mehr ältere Menschen für Direktzahlungen zu gewinnen, um ihnen auch bei entstehendem Hilfebedarf den Verbleib in der eigenen Wohnung zu ermöglichen“ (Loeken 2006, 34f.).
Eine wesentliche Einschränkung bleibt jedoch, dass die Bedingung für den Erhalt der Direktzahlungen an die Fähigkeit zur „Willensbekundung“ sowie an die Fähigkeit zum „Management der Hilfen“ – was auch mit Unterstützung möglich
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sein kann – geknüpft ist (vgl. Loeken 2006, 35). Aus diesem Grunde kommt es nach wie vor zu einer Ausgrenzung von Menschen mit geistigen Behinderungen bzw. schwerwiegenden kognitiv-kommunikativen Beeinträchtigungen. Für viele Menschen mit Behinderung konnte in Großbritannien das Ziel eines integrierten Lebens in der Gemeinde – im Gegensatz zu beispielsweise Schweden (vgl. Kapitel 4.1.3) – immer noch nicht vollständig umgesetzt werden, genauso wie es immer noch nicht gelingen konnte, (Groß-) Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen flächendeckend abzuschaffen: „Einige Menschen leben noch immer in Großeinrichtungen, manche in Wohngruppen, manche in Wohngemeinschaften, ohne das zu wollen“ (Higgins 2007, 19). Zu würdigen sind hingegen insbesondere der politische Wille, der sich im gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Behinderung zeigt, sowie die ausgeprägte Nutzerorientierung der Leistungsanbieter. Was den politischen Willen betrifft, so stützt sich die Behindertenhilfe in Großbritannien von jeher auf drei tragende Säulen: „Zum einen ist dies eine sehr selbstbewusste und (verhandlungs-) starke Selbsthilfebewegung. Menschen mit Behinderung sind zudem (…) im öffentlichen Leben wesentlich sichtbarer und präsenter als in Deutschland (…). Zum anderen gibt es eine historisch verankerte Tradition des bürgerschaftlichen Engagements. Volunteers aus allen gesellschaftlichen Milieus prägen das Bild der Sozialpolitik nachhaltig. Schließlich begegnen wir einer Verwaltung, die sich in großen Teilen und insbesondere auf der kommunalen Ebene als Dienstleister versteht. Diese Dienstleistungsperspektive den Kunden und Kundinnen gegenüber nehmen im Übrigen (…) auch die Rehabilitationsträger und die Leistungserbringer ein. Nur innerhalb dieses Rahmens ist die Praxis der Direct Payments zu verstehen“ (Diemer 2002, 399).
Ein weiteres spezifisches Merkmal in Großbritannien ist die im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland außerordentlich hohe Transparenz des sozialen Leistungssystems sowie die ausgeprägte Nutzer- und Dienstleistungsorientierung, die es ermöglicht, dass sich die Leistungsempfänger gut auf dem Markt sozialer Dienstleistungen zurecht finden: „Der gesamte Leistungssektor wird seit Beginn der 1990er Jahre in eine Richtung gesteuert, die den Nutzern mehr Einfluss auf ihre Lebensgestaltung geben soll. Dienstleistungsnutzer erhalten seither eine Stimme bei der Planung, Gestaltung, Durchführung und Bewertung von Leistungen. Sie können Beschwerde- und Widerspruchssysteme nutzen und haben Wahlmöglichkeiten, nicht nur bei der Inanspruchnahme von Leistungsanbietern, sondern ebenfalls bei den einzelnen Leistungen selbst“ (Hansen 2006, 19).
Damit Nutzer/innen sozialer Dienstleistungen sich orientieren können, gibt es in Großbritannien Akkreditierungsinstanzen, die die Anbieter personenbezogener
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Dienstleistungen auf der Basis bestimmter Standards wie beispielsweise „Wahrung der Privatsphäre“, „Sicherheit“, „Verwirklichung eigener Potenziale“ usw. beurteilen. Interessenten können sich dann im Internet über Bewertungen verschiedener Leistungsanbieter informieren.
4.1.3 Persönliche Assistenz in Schweden Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen Das „Schwedische Modell“ blickt auf die längste Tradition im Umgang mit Persönlichen Budgets zurück und hat „unter Menschen mit Behinderung Vorbildcharakter“ (Baumgartner 2009, 79). Dabei wird die schwedische Behindertenpolitik vielfach als „Best-Practice-Beispiel“ in der Literatur herausgestellt: „Ziel der schwedischen Behindertenpolitik ist, Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte zuzusichern und die Teilhabe am Gesellschaftsleben zu ermöglichen wie allen anderen Bürgern auch“ (Deutscher Bundestag 2006, 24).
Markant an dem „Schwedischen Modell“ ist vor allem das Zusammenspiel zwischen Gesetzesinitiativen, kommunaler Verantwortung für Menschen mit Behinderung und dem Einfluss von Selbsthilfeverbänden behinderter Menschen. Ein besonderes Markenzeichen ist dabei die sogenannte „Persönliche Assistenz“, d.h. die Unterstützung von Menschen mit Behinderung durch selbstgewählte Assistent/innen mit Hilfe eines Persönlichen Budgets. Die Entwicklung des schwedischen Modells muss im Kontext verschiedener Gesetzesinitiativen gesehen werden, die eine flächendeckende Umsetzung der Persönlichen Assistenz letztendlich erst ermöglichen konnten und für die flächendeckende Nutzung Persönlicher Budgets grundlegend waren. Bereits im Jahre 1978 wurde eine gesetzliche Baunorm verabschiedet, durch die ein relativ umfassender Ausbau barrierefreier Wohnungen gelingen konnte. Eine tragende gesetzliche Regelung ist weiterhin eine im Jahre 1982 in Kraft getretene Gesetzesinitiative, welche die schwedischen Gemeinden verpflichtet, Menschen mit Behinderung barrierefreien Wohnraum zur Verfügung zu stellen und eine verbesserte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch den Abbau von Mobilitätshindernissen (z.B. Zugang zu öffentlichen Gebäuden, Beseitigung von Mobilitätshürden im öffentlichen Nahverkehr usw.) zu gewährleisten (vgl. exemplarisch Deutscher Bundestag 2006, Loeken 2006; Hölscher u.a. 2004; Schwedisches Institut 2001; Wacker u.a. 2005). Besonders sei jedoch herausgestellt, dass es in Schweden so gut wie keine stationären Großeinrichtungen für Menschen mit Behinderung mehr gibt und fast alle behinderten Menschen in kleinen Wohngemeinschaften mit höchstens sechs Per-
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sonen oder in Privatwohnungen leben (vgl. Schwedisches Institut 2001). Diese Veränderung ist auf ein im Jahr 1999 in Kraft getretenes Gesetz zurückzuführen, in dem die Auflösung von Großeinrichtungen der Behindertenhilfe forciert wurde.36 Hintergrund dieser Gesetzesinitiative waren Forschungsergebnisse, die gezeigt haben, dass eine selbstständige Lebensführung in einer eigenen Wohnung prinzipiell für alle Menschen mit Behinderung möglich ist, wenn eine geeignete Unterstützung zur Verfügung gestellt wird. Entsprechend gibt es mittlerweile ein gut ausgebautes Netz an ambulanten Diensten (vgl. Wacker u.a. 2005, 55f.). Im Jahre 1994 wurden schließlich die Rechte von Menschen mit Behinderung mit dem „Gesetz über Hilfs- und Dienstleistungen für Schwerbehinderte“37 nochmals erweitert. Mit diesem Grundrecht wurde eine umfassende gesetzliche Grundlage zur Sicherung von Unterstützung von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen bzw. stark eingeschränkter Funktionsfähigkeit geschaffen, im Rahmen dessen ein Rechtsanspruch auf „Persönliche Assistenz“ für Menschen mit komplexen Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf verankert ist. Damit sollte ermöglicht werden, dass „behinderte Menschen dieselben Möglichkeiten haben (…) wie nicht behinderte Personen, um ihr alltägliches Leben zu organisieren“ (Deutscher Bundestag 2006, 24). Ziel dieses Rechtsanspruchs war es, die Selbstbestimmung und Privatsphäre von Menschen mit Behinderung nachhaltig zu stärken, indem sie mit Hilfe eines Persönlichen Budgets ihre benötigte Assistenz finanzieren können. Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Das Recht auf Persönliche Assistenz richtet sich ausdrücklich an außerhalb von Wohnheimen lebenden Menschen unter 65 Jahren mit einem Assistenzbedarf von mehr als 20 Stunden wöchentlich (vgl. Loeken 2006, 36f; Hölscher u.a. 2004, 153). Liegt ein solcher Assistenzbedarf von mindestens 20 Wochenstunden vor, wird die persönliche Assistenz grundsätzlich über ein Persönliches Budget gewährleistet. Kostenträger der Persönlichen Assistenz für einen Unterstützungsbedarf von unter 20 Wochenstunden sind die Kommunen. Liegt der festgestellte Unterstützungsbedarf höher als 20 Stunden in der Woche, ist der schwedische Staat (Sozialversicherung) für die Finanzierung dieses Mehrbedarfs zuständig:
36 37
Im Jahre 2001 lebten beispielsweise von insgesamt 40.000 Menschen mit geistiger Behinderung nur noch 170 Personen in solchen Institutionen (Angaben des Schwedischen Instituts 2001). Abgekürzt: LSS: „Lag om stöd och service för vissa funktionshindrade“ (Schwedisches Institut 2001). In anderen Quellen wird das Gesetz oftmals übersetzt mit „Gesetz über Unterstützung und Dienstleistungen für Funktionsbehinderte“ (etwa bei Baumgartner 2009, 80).
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„Die Finanzierung der Budgets sieht eine doppelte Zuständigkeit vor. Die Gemeinden übernehmen die Finanzierung der ersten 20 Stunden Assistenzbedarf pro Woche (auch bei Persönlichen Budgets von mehr als 20 Stunden), während die weiteren Stunden durch den Zentralstaat bzw. die staatliche Sozialversicherung finanziert werden“ (Baumgartner 2009, 80)
Bei einem Assistenzbedarf von unter 20 Wochenstunden liegt zwar kein Rechtsanspruch auf eine über ein Persönliches Budget finanzierte Assistenz vor, dennoch kann der Hilfeempfänger ein Persönliches Budget bei der örtlichen Behörde beantragen. Die Gemeinden können dabei entscheiden, ob sie diese Unterstützungsleistungen in Form von Sach- oder Geldleistungen erbringen (vgl. Ratzka 2003, 15). Zur Beantragung eines Persönlichen Budgets wird der Antragsteller bei der Sozialverwaltung vorstellig. Gemeinsam mit einer Gemeindeschwester wird der jeweils benötigte Assistenzbedarf individuell in Wochenstunden ermittelt und entsprechend bemessen. Die Stundensätze sind pauschal und werden jedes Jahr von der schwedischen Regierung festgesetzt. Im Jahr 2003 betrug die Höhe der pauschalen Stundensätze etwa 22€ (vgl. Ratzka 2003, 15), im Jahr 2006 ca. 24€ (vgl. Baumgartner 2009, 80). Der Selbsteinschätzung der Betroffenen kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu. Danach ist es den Berechtigten freigestellt, wie sie die erforderlichen Leistungen organisieren. Die Höhe des Budgets richtet sich nach dem individuellen Hilfebedarf, und es gibt keine Begrenzung nach oben hin: „Einziges Kriterium für die Bewilligung der Hilfen ist das Prinzip der Bedarfsdeckung bzw. die Lebensqualität der Person. Eine Deckelung des Budgets oder ein Kostenvergleich mit Sachleistungen wird nicht vorgenommen“ (Hölscher u.a. 2004, 153). Im Schnitt betrug ein monatliches Persönliches Budget im Jahre 2004 etwa 9.000€ (vgl. Baumgartner 2009, 80). In Schweden gibt es ausdrücklich keinen Ausschluss bestimmter Personengruppen aufgrund Art und Schwere der Behinderung. Allerdings werden Personen über 65 Jahre aufgrund der Altersbegrenzung aus dem Rechtsanspruch auf Persönliche Assistenz ausgeklammert: „Aus staatsfinanziellen Gründen wurde das Höchstalter der Assistenznehmer auf 65 Jahre begrenzt – ein Mindestalter gibt es nicht. Ohne Altersgrenze wäre die Zahl der Berechtigten wahrscheinlich mindestens 20-mal so groß. Zwar kann man die Gelder nach dem 65. Geburtstag weiterbeziehen, aber jemand, der erst nach dem 65. Geburtstag behindert wird, kann nicht diesem exklusiven Club beitreten“ (Ratzka 2003, 15).
Ein anderes Ausschlusskriterium ist, dass die Leistungen grundsätzlich nur für Menschen gelten, die außerhalb von stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe leben. Hintergrund dafür ist, dass es Menschen mit Behinderung ermöglicht werden soll, mit Hilfe der Persönlichen Assistenz einen Auszug in eine private Wohnung zu realisieren (vgl. Hölscher u.a. 2004, 153).
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Nach den gesetzlichen Bestimmungen kann das Budget grundsätzlich für alle Unterstützungsleistungen verwendet werden, „die für eine selbstbestimmte Lebensführung im Alltag notwendig sind“ (Baumgartner 2009, 80). Die Persönliche Assistenz kann dabei ein weitreichendes Unterstützungsrepertoire und verschiedene Hilfearten umfassen, wie das folgende Beispiel eines schwedischen Assistenznehmers zeigt: „Um sich für die Zahlungen der Versicherungskasse zu qualifizieren, muss ein Mindestbedarf von 20 Wochenstunden Assistenz bei den grundlegenden Tätigkeiten wie Essen, der Körperhygiene oder beim Sich-Verständigen sprachbehinderter Menschen vorliegen. Wird ein Grundbedarf von 20 Wochenstunden festgestellt, hat man darüber hinaus Anspruch auf Stunden für andere Lebensbereiche, wie z.B. für Assistenz am Arbeitsplatz, Assistenz im Haushalt, in der Freizeit oder bei der Arbeit mit Kindern. Es gibt keine obere Grenze für den täglichen Stundenbedarf. Ich kenne Kollegen, denen 27 Stunden am Tag bewilligt wurden, weil sie manchmal 2 Assistenten gleichzeitig brauchen“ (Ratzka 2003, 15).
Was Art und Inhalt der eingekauften Unterstützungsleistungen betrifft, können im Grunde sämtliche Hilfen erworben werden, die Menschen mit Behinderung im Alltag benötigen, wie beispielsweise „Information und Beratung“, „persönliche Assistenz“, „Begleitdienste“, „Kurzzeitpflege“, „Kurzzeitbesuche außerhalb des Hauses“, „Kurzzeitbetreuung von Kindern über 12 Jahre“, „Wohnungen mit besonderem Service“, „Tagesbeschäftigung“ usw. Nicht finanzierbar sind hingegen beispielsweise Unterstützungsleistungen während der Schulstunden, Klinikaufenthalte oder Assistenzleistungen in Gruppenwohnungen, weil diese Formen der Unterstützung über öffentliche Dienstleistungen abgedeckt sind (vgl. Hölscher u.a. 2004, 153; für eine ausführliche Darstellung vgl. Wacker u.a. 2005, 54f.). Eine weitere Besonderheit ist, dass die schwedischen „Assistenzbudgets“ einkommensunabhängig und steuerfrei sind (vgl. Loeken 2006, 36). Die Bemessung der Persönlichen Budgets richtet sich einzig und allein nach dem individuellen Bedarf und der Lebenssituation der Antragsteller/innen. Die Geldbeträge werden völlig unabhängig vom Einkommen und Vermögen der Antragsteller/innen und deren Familien bewilligt (vgl. Ratzka 2003, 15; Baumgartner 2009, 80). Insgesamt ermöglicht das schwedische Modell eine außergewöhnlich hohe Flexibilität in der Verwendung der Mittel, wie auch der folgende Erfahrungsbericht zeigt: „Ich bekomme also einen monatlichen Betrag von 18 Std. x 31 Tagen x € 22. Damit bezahle ich die direkten und indirekten Lohnkosten meiner Assistenten und die Verwaltungskosten der Genossenschaft. Was übrigbleibt, kann ich für die Reisekosten meiner Assistenten und ähnliche Ausgaben benutzen. (…). Ungenutzte Beträge werden nach einem halben Jahr verrechnet. Innerhalb dieses Zeitraums kann ich mit den
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Stunden nach meinem Guthalten haushalten. (…). Mit den Geldern der Sozialversicherung könnte ich auch Dienstleistungen von anderen Trägern kaufen, z.B. der Stadt Stockholm, die mir ihre Angestellten nach Art der städtischen Ambulanten Dienste ins Haus schicken würde. (…). All diese Lösungen und ihre Kombinationen sind zugelassen, um Vielfalt, Wahlmöglichkeit und Konkurrenz zu fördern“ (Ratzka 2003, 15).
Wie das Beispiel verdeutlicht, kann mit dem zur Verfügung stehenden Geldbetrag Unterstützung durch öffentliche als auch private Dienstleister oder aber von selbst angestellten Assistenten (Arbeitgebermodell) finanziert werden. Auch Kombinationen sind möglich. Weiterhin ist wichtig, dass Beratung und Hilfen bei der Budgetverwendung und -verwaltung von landesweiten Stellen angeboten werden. Zuletzt nehmen besonders die „Zentren für selbstbestimmtes Leben“ eine wichtige Rolle im Unterstützungssetting der Persönlichen Assistenz ein. Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Die Nachfrageentwicklung verlief in Schweden ähnlich dynamisch wie in den anderen beiden Ländern. Nach mehr als 10 Jahren hat sich die Anzahl der Budgetnutzer/innen von 7.000 im Jahre 1994 auf etwa 15.000 Budgetnehmer/innen im Jahr 2005 verdoppelt (vgl. Baumgartner 2009, 81). Aufgrund einer gesetzlich verordneten Auflösung von Großeinrichtungen der Behindertenhilfe und da es für die Persönliche Assistenz keine Beschränkung aufgrund Art und Schwere der Behinderung gibt, ist die Möglichkeit, außerhalb von stationären Wohneinrichtungen zu leben, in Schweden flächendeckend verwirklicht worden. Dies gilt nicht nur für Menschen mit körperlichen Behinderungen, sondern auch für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen: „In Schweden gibt es seit einigen Jahrzehnten keine Wohnheime für Köperbehinderte mehr. (…). Auch Menschen mit geistigen Behinderungen wohnen heute entweder allein oder in kleineren sogenannten Gruppenwohnungen mit ungefähr 6 Personen pro Wohnung plus Personal. Es gibt heute kaum jemanden in Schweden, der die Rückkehr der Einrichtungen fordern würde“ (Ratzka, 2003, 15f.).
Doch auch wenn die gesetzlichen Grundlagen als vorbildlich angesehen werden können und ein Ausschluss bestimmter Personengruppen weitestgehend vermieden werden konnte, nutzen auch im schwedischen Modell Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen seltener ein Persönliches Budget (vgl. Loeken 2006, 37.). Bemerkenswert ist ferner, dass durch die überproportionale Nutzung der „Persönlichen Assistenz“ Menschen mit Behinderung gegenwärtig sogar die zweitgrößten Arbeitgeber in Schweden sind: Im April 2006 beschäftigten 14.000 Budgetnehmer/innen etwa 40.000 Assistent/innen (vgl. Deutscher Bundestag 2006, 24). Menschen mit Behinderung beurteilen das Assistenzbudget insgesamt positiv. Als erhebliche Verbesserung werden genannt, dass Leistungen selbstbe-
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stimmt organisiert und auch schneller umgesetzt werden können. Zudem berichten Menschen mit einem Persönlichen Budget von einer verbesserten Lebensqualität. Äußerst positiv wird auch „die Flexibilität in der Verwendung der Gelder bewertet. So können unverbrauchte Stunden innerhalb eines Jahres gespart und für unvorhergesehene Bedarfe oder auch für Reisen ausgegeben werden“ (Hölscher u.a. 2004, 154). Zusammenfassung und kritische Würdigung In Schweden ist die Unterstützung mittels einer selbst finanzierten Persönlichen Assistenz nicht mehr wegzudenken. Zu würdigen sind ferner die politischen Bestrebungen, barrierefreien Wohnraum landesweit zur Verfügung zu stellen, Mobilitätshindernisse abzubauen und Großeinrichtungen der Behindertenhilfe abzuschaffen. Ohne diese Gesetzesinitiativen wäre eine flächendeckende Umsetzung von persönlicher Assistenz und der generellen Möglichkeit, außerhalb von stationären Wohneinrichtungen zu leben, wahrscheinlich nicht in dem Maße realisiert worden. Weiterhin hat sich in Schweden ein umfassendes und gut funktionierendes Netz an ambulanten Diensten entwickelt, was ebenfalls als wesentliche Voraussetzung für die flächendeckende Umsetzung Persönlicher Budgets angesehen werden muss. Einschränkend gilt jedoch anzumerken, dass ein selbstständiges Wohnen in Privatwohnungen schwerpunktmäßig von Menschen mit körperlichen Behinderungen realisiert wurde und obwohl die Persönliche Assistenz „auch Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung individuelle Unterstützung in einer privaten (Einzel-) Wohnung ermöglicht, wohnt dieser Personenkreis sehr häufig in Wohngemeinschaften zusammen mit bis zu sechs Personen“ (Wacker u.a. 2005, 56). Alles in allem bleibt daher festzustellen, dass die Potenziale Persönlicher Budgets vor allem von Menschen mit körperlichen Behinderungen genutzt werden, während Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen seltener ein solches Budget beantragen (vgl. ebd.).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets in der Bundesrepublik Deutschland 4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets Bereits seit der Experimentierklausel im § 101a BSHG sowie der ersten Fassung des SGB IX (§ 17 Abs. 3) aus dem Jahre 2001 ist eine Erprobung Persönlicher Budgets in Modellvorhaben vorgesehen. Im Zuge dieser Regelungen wird das Persönliche Budget in der Bundesrepublik Deutschland nun bereits seit einigen Jahren in verschiedenen Bundesländern in Form von Modellprojekten erprobt (für eine ausführliche Darstellung vgl. Wacker u.a. 2005, 61ff.; Hölscher u.a.
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2004, 155ff.; Gitschmann 2000; Metzler u.a. 2006, 26ff.; Metzler u.a. 2007, 34ff.). Im Folgenden werden diese regionalen Modellprojekte vorgestellt und deren Kernergebnisse im Hinblick auf Umsetzung Persönlicher Budgets und Personenkreis der Budgetnehmer/innen skizziert. Ausführlicher wird im Anschluss auf die bundesweit angelegten Modellprojekte zur Erprobung des „Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets“ eingegangen.
4.2.1 „Hilfe nach Maß“ (Rheinland-Pfalz 1998 – 2000) Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen Als erstes Bundesland führte Rheinland-Pfalz (noch auf Basis der Experimentierklausel des § 101a BSHG) im Bereich der Eingliederungshilfe ein regionales Persönliches Budget in vier Modellkommunen ein.38 Ziele der Erprobung Persönlicher Budgets in Rheinland-Pfalz waren eine verstärkte Orientierung an dem Prinzip der individuellen Bedarfsdeckung, eine Ausweitung offener Hilfen sowie der Anspruch, Menschen mit Behinderung zu einem möglichst selbstbestimmten Leben zu verhelfen. Besondere Bedeutung wurde dabei vor allem dem Bereich „Wohnen“ zugemessen. Demnach wurde als Globalziel des Projekts benannt, „in geeigneten Fällen die stationäre Vollversorgung durch eine gezielte, individuelle Form der Hilfe zu ersetzen, um den behinderten Menschen den Schritt in ein selbstbestimmtes Leben zu erleichtern“ (Kaas 2002, 22). Neben dieser Zielsetzung sollte im rheinland-pfälzischen Modellprojekt allerdings explizit darauf abgezielt werden, auch Kosteneffekte mit in die Betrachtung einzubeziehen. Als weiteres Ziel des Projekts wurde dabei festgelegt, „eine gewisse Planungssicherheit bei der Kostenentwicklung im Bereich der Eingliederungshilfe zu ermöglichen“ (ebd., 22). Dazu wurde im Vorfeld ein regionales Budgetierungssystem aufgelegt, um die Kosten von vorneherein zu deckeln.39 Im Bericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Modellprojekt „Selbstbestimmt Leben-Hilfe nach Maß für behinderte Menschen“ wurde diese Zielsetzung wie folgt ausformuliert: „Um dieses Ziel zu erreichen, wurde ein persönliches Budget für behinderte Menschen zusammen mit einem regionalen Budgetierungssystemeingeführt. Die Ausrichtung der Hilfe am individuellen Bedarf des Hilfeempfängers ist dabei nicht nur 38 39
Stadt Ludwigshafen, Landkreis Ludwigshafen, Landkreis Neuwied und Stadt Koblenz. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass sich die Konzeption des rheinlandpfälzischen Modellvorhabens stark an dem niederländischen Modell der Personengebundenen Budgets orientiert hatte. Nach dem Vorbild der niederländischen Budgets wurde das Persönliche Budget auch in Rheinland-Pfalz auf Basis eines regional begrenzten Budgetierungssystems eingeführt – ebenfalls mit dem Ziel, Kosten zu begrenzen und das Hilfesystem zu optimieren (vgl. Kaas 2002, 48ff.).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
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ein Qualitätsmerkmal, sondern kann auch zu Einsparungen führen. Hilfe nach Maß bedeutet demnach zweierlei. Zum einen behinderten Menschen (…) eine maßgeschneiderte Unterstützung zu geben, zum anderen ein ‚Übermaß an Kosten‘ zu vermeiden. (…). Da es zur Grundidee des Modellprojekts gehört, die Qualität der Hilfen und damit verbunden die Lebenszufriedenheit der behinderten Menschen bei gleichzeitiger Begrenzung der Kostensteigerung zu erhöhen, sind sowohl die Betrachtung der Lebenszufriedenheit als auch die Kostenanalyse von zentraler Bedeutung für die Erfolgsmessung“ (ebd., 22f.).
Monetäre Wirkungen der Einführung Persönlicher Budgets zum Zwecke einer „Kostensenkung“ nehmen daher eine zentrale Rolle im rheinland-pfälzischen Modellvorhaben ein, was mitunter auch kritische Stimmen nach sich zog. Die Kritik bezieht sich dabei insbesondere auf eine Vermischung unterschiedlicher Zielsetzungen. Stenzig (2001, 98) sieht in dem impliziten Ziel der Kostensenkung beispielsweise die Gefahr einer Polarität und damit ein Erschwernis für das Modellprojekt: „Es wird seit Beginn des Modellvorhabens in Rheinland-Pfalz eine gewisse Polarität deutlich: Während das ‚Persönliche Budget‘ (…) eher als Mittel einer möglichen Kostenersparnis angesehen wird, wird es auf der anderen Seite als Chance für einen Paradigmenwechsel zugunsten der Betroffenen erachtet. Diese Ausgangspole erschweren eine gemeinsame Strategie für Modellvorhaben.“
Ähnliche Kritik wird von Gitschmann (2004, 175) vorgebracht, der es als problematisch ansieht, dass die „Personenzentrierung des Persönlichen Budgets (…) mit der Bearbeitung von Leistungsstrukturdefiziten [verbunden wird].“ Beantragt werden konnten Persönliche Budgets von allen Personen mit einem Anspruch auf Eingliederungshilfe und das Persönliche Budget wurde bewusst als ambulante Eingliederungshilfe verstanden. Entsprechend spielte der Bereich „Wohnen“ eine zentrale Rolle und Zielgruppe für ein Persönliches Budget in Rheinland-Pfalz waren insbesondere „geistig, körperlich und seelisch wesentlich behinderte Menschen (…), die bereits in einem Heim leben oder vor der Entscheidung stehen, in ein Heim zu gehen“ (Kaas 2002, 53). Entsprechend dieser Fokussierung wurde der Personenkreis der Budgetnutzer/innen im Vorfeld zunächst relativ streng reglementiert. Zwar konnten im Grunde genommen alle Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie mit psychischen Erkrankungen ein Persönliches Budget beantragen, die Bewilligung war aber zusätzlich an folgende Voraussetzungen gebunden (vgl. Kaas 2002, 59f.; Hölscher u.a. 2004, 158; Gitschmann 2004, 175):
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Erforderlichkeit eines Unterstützungsbedarfs in Form einer vollstationären Betreuung oder in Form einer Förderung im Betreuten Wohnen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Vorhandensein ausreichender intellektueller und sozialer Fähigkeiten zur sachgerechten Budgetverwendung und -verwaltung; eine Unterstützung durch Dritte darf nur in geringem Maße erforderlich sein, Vorhandensein eines zur Förderung geeigneten sozialen Umfelds, Unterschreiten der Kosten einer vergleichbaren stationären Betreuung bzw. Förderung im Betreuten Wohnen.
Alles in allem sollte das Persönliche Budget daher „eine Alternative zur vollstationären Eingliederungshilfe oder zur Förderung im Betreuten Wohnen“ (Kaas 2002, 60) darstellen. Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Persönliche Budgets wurden im rheinland-pfälzischen Modellprojekt ausschließlich in der Zuständigkeit der Sozialhilfe bewilligt. Eingekauft werden sollten Leistungen der Eingliederungshilfe im Bereich Wohnen; andere Leistungen wie Hilfe zur Pflege oder teilstationäre Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Werkstätten für behinderte Menschen) oder Leistungen anderer Leistungsträger waren hingegen nicht vorgesehen (vgl. ebd. 61). Der jeweils zu bemessende Hilfebedarf wurde aufgrund eines Begutachtungsverfahrens ermittelt, welches im Rahmen des Modellprojekts neu entwickelt wurde. Die Bemessung eines Persönlichen Budgets erfolgte dabei auf Basis von drei verschiedenen Budgetstufen mit jeweils zugeordneten pauschalen Geldbeträgen bzw. Korridoren, die dann nach Art und Höhe des jeweiligen Unterstützungsbedarfs zur Verfügung gestellt wurden; die Art der Behinderung spielt dabei keine Rolle. Anfangs wurden drei verschiedene Stufen mit jeweils verschiedenen Geldbeträgen festgeschrieben: Stufe I = 400 DM/Monat, Stufe II = 800 DM/Monat, Stufe III = 1.300 DM/Monat. Später sind diese drei Geldbeträge jedoch zu Korridoren geöffnet worden, da eine flexiblere Handhabung zunehmend notwendig erschien, um einer individuellen Bemessung des Hilfebedarfs besser entsprechen zu können. Die behinderungsunabhängigen Pauschalkorridore konnten dann je nach Einzelfall ausgestaltet werden: Stufe I = 400 – 600 DM/Monat, Stufe II = 800 –1.000 DM/Monat, Stufe III = 1.300 – 1.500 DM/Monat (vgl. Kaas 2002, 60).40 Im Grunde wurde die Gestaltung des Persön-
40
Die Pauschalen sind im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zum rheinland-pfälzischen Modellvorhaben noch in DM ausgewiesen. In Euro betragen die Pauschalenkorridore 205–310€, 410-515€ und 665-770€ (vgl. Kastl, Metzler 2005, 49).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
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lichen Budgets nach dem Vorbild des Pflegegelds nach SGB XI vorgenommen.41 Diese Orientierung am Pflegegeld nach SGB XI verwundert allerdings etwas, da das Pflegegeld gerade nicht die individuelle Bedarfsdeckung im Blick hat (vgl. Gitschmann 2004, 174). Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Zu Anfang des Modellprojekts sollten zuerst Personen gefunden werden, die für ein Persönliches Budget in Frage kommen. Dazu wurde ein entsprechendes Begutachtungsverfahren entwickelt. Aufgrund der Reglementierung des in Frage kommenden Personenkreises gestaltete sich das Finden geeigneter Personen zunächst allerdings als schwierig. Insgesamt wurden in den vier Modellkommunen schließlich 365 Budgetinteressent/innen daraufhin begutachtet, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets vorliegen. Unter diesen begutachteten Personen waren knapp 59% Männer und 41% Frauen. Vertreten waren weiterhin Menschen aller Altersklassen (von einem Jahr bis hin zu 73 Jahren), wobei Interessent/innen zwischen 30 und 39 Jahren mit 29% die größte Altersgruppe darstellten. Was die Art der Behinderung betrifft, so waren über die Hälfte aller Antragsteller/innen Menschen mit einer psychischen Erkrankung (54%), gefolgt von Menschen mit einer geistigen Behinderung (31%) und Menschen mit körperlicher Behinderung (15%).42 Was die Wohnsituation der begutachteten Personen betrifft, so wohnten knapp zwei Drittel bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung in einem privatem Haushalt, meist noch bei den Eltern. Etwa 18% lebten zu diesem Zeitpunkt in einer vollstationären Einrichtung und 8% befanden sich im Betreuten Wohnen (vgl. Kaas 2002, 77ff.). Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung wurde analysiert, welcher Personenkreis alle genannten Voraussetzungen für ein Persönliches Budget am ehesten erfüllen würde. Hierbei zeigt sich deutlich, dass es überproportional Menschen mit körperlichen Behinderungen waren, die den Voraussetzungen entsprachen. Auf der anderen Seite erfüllten Budgetinteressent/innen mit einer sogenannten geistigen Behinderung die Voraussetzungen nur selten (vgl. ebd., 104f.). Weiterhin muss angemerkt werden, dass insbesondere Personen mit ei41 42
Grund dieser Orientierung war der Mangel an Erfahrungswerten mit der Gestaltung Persönlicher Budgets (vgl. Kaas 2002, 60). Als Grund für die Überrepräsentanz von Menschen mit psychischen Erkrankungen wird von der Autorin vor allem auf die in Rheinland-Pfalz weit fortgeschrittene Psychiatriereform verwiesen. Im Zuge der Psychiatriereform wurden Einrichtungen für psychisch erkrankte Menschen zunehmend aufgelöst, um die benötigten Hilfeleistungen dort anzubieten, wo diese Menschen ihren Lebensmittelpunkt haben. Eine möglichst wohnortnahe Unterstützung zog schließlich neue Bedarfe nach sich, „die sich wiederum unter anderem in der Inanspruchnahme des persönlichen Budgets niedergeschlagen haben“ (Kaas 2002, 80).
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nem relativ umfassenden Unterstützungsbedarf und/oder entsprechendem Beratungsbedarf von vorneherein ausgeschlossen wurden, weil deren Unterstützung die erforderlichen Kosten einer stationären Unterbringung übersteigen würde. In den vier Modellkommunen wurden schließlich von September 1998 bis Dezember 2000 im Rahmen der Modellerprobung insgesamt 119 Personen ein Persönliches Budget bewilligt, wobei allein 57% dieser Budgetnehmer/innen Menschen mit psychischen Erkrankungen waren. Danach folgten Menschen mit körperlichen Behinderungen (knapp ein Viertel aller Budgetnehmer/innen) sowie Menschen mit geistigen Behinderungen mit etwa 19%. Analog zu der Frage, welcher Personenkreis am ehesten alle Voraussetzungen zur Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets erfüllen würde, verdeutlicht diese Verteilung, dass Anträge von Menschen mit körperlichen Behinderungen im Verhältnis gesehen überdurchschnittlich häufig bewilligt wurden, war dieser Personenkreis doch die kleinste Gruppe unter den begutachteten Interessent/innen (15%). Auf der anderen Seite wurden im Verhältnis zur Gruppengröße der begutachteten Personen vergleichsweise wenige Persönliche Budgets für Menschen mit einer geistigen Behinderung bewilligt. Am meisten Anträge gingen allerdings von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein und entsprechend stellte dieser Personenkreis auch die größte Gruppe unter den Budgetnehmer/innen dar. Unterschiede lassen sich zudem im Hinblick auf die Wohnsituation finden. Beispielsweise ist der Anteil der Personen, die vor der Antragstellung in einer vollstationären Einrichtung oder im Betreuten Wohnen lebten bei den Budgetnehmer/innen größer als in der Gesamtgruppe der begutachteten Interessent/innen (24% bzw. 18% im Gegensatz zu 18% bzw. 8%). Auf der anderen Seite lebten im Verhältnis gesehen weniger Personen in privaten Haushalten (56% im Unterschied zu 65%). Im Grunde geht dieser Unterschied vor allem darauf zurück, dass ein großer Teil der Budgetnehmer/innen mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine selbstständige Lebensform realisieren wollte und Ausgangsbasis der Budgetbeantragung eben gerade ein Leben in einer vollstationären Einrichtung bzw. im Betreuten Wohnen war. Entsprechend planten einige Antragsteller/innen mit Hilfe des Persönlichen Budgets auszuziehen.43 Nach Bewilligung eines Persönlichen Budgets erhöhte sich daher auch der Anteil der Personen, die in privaten Haushalten oder im Betreuten Wohnen lebten (vgl. ebd., 88ff.).
43
Betrachtet man schließlich die Veränderungen der Wohnsituation nach der Bewilligung eines Persönlichen Budgets, so zeigt sich, dass 24% aller Budgetnehmer/innen auch tatsächlich ein Auszug aus einer vollstationären Einrichtung vollzogen hat. In 2% der Fälle fand ein Auszug aus dem Betreuten Wohnen statt. Bei den restlichen Budgetnehmer/innen konnte mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine Aufnahme in ein Wohnheim bzw. ins Betreute Wohnen vermieden werden oder aber diese organisierten die weitere Förderung im Betreuten Wohnen mittels eines Persönlichen Budgets (vgl. Kaas 2002, 102f.).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
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Auf Basis einer mündlichen Befragung von 26 rheinland-pfälzischen Budgetnehmer/innen sollte schließlich herausgefunden werden, inwiefern sich die Lebenszufriedenheit, die (erlebte) Selbstbestimmung sowie die Hilfeerbringung durch das Persönliche Budget verbessert haben.44 Vergleichsmaßstab solcher Verbesserungen sollten dabei die Lebensumstände und -situationen vor der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets sein. Ein Vergleich der jetzigen Lebenslage mit der Situation vor der Beantragung des Persönlichen Budgets zeigt dabei, dass die Zufriedenheit mit der persönlichen Situation seit der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets deutlich gestiegen zu sein scheint: Fast 90% der befragten Personen gaben an, dass es ihnen „besser“ gehen würde als vorher. Die Verbesserungen werden dabei an drei verschiedenen Aspekten festgemacht: Zum einen stellt das Persönliche Budget für die Nutzer/innen eine Art „zusätzliche Hilfe“ dar (in Form von Betreuung, Unterstützung sowie in finanzieller Hinsicht), zweitens wird die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung als enorme Verbesserung beschrieben und drittens erleben sich die Budgetnehmer/innen als selbstständiger, vor allem, weil sie sich nicht mehr an den Bedingungen und Vorschriften des Wohnheims orientieren müssen. Entsprechende Verbesserungen werden auch in Bezug auf die erlebte Selbstbestimmung berichtet. Knapp zwei Drittel der befragten Budgetnehmer/innen gaben an, dass sie seit der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets „mehr entscheiden“ könnten als vorher.45 Als Viertes scheint sich auch Art und Qualität der Hilfeerbringung verbessert zu haben. Hier gaben etwa zwei Drittel der Budgetnehmer/innen an, dass die Unterstützung nun besser wäre als vor der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets (was jedoch vor allem daran liegt, dass durch das Persönliche Budget zusätzliche Hilfe und Unterstützung in Anspruch genommen werden konnte). Das relativ positive Stimmungsbild zeigt sich letztendlich auch in der Frage, ob 44
45
Kritisch anzumerken ist in diesem Falle, dass die Aufzeichnung der Interviews nicht über Tonträger erfolgte, sondern durch Notizen bzw. nachträgliche Gedächtnisprotokolle (vgl. ebd., 107). Auch wenn eine solche Vorgehensweise sicher dem befragten Personenkreis geschuldet ist (Unsicherheiten bzw. Ängste hinsichtlich eines Mitschnitts der Gespräche) besteht bei einer solchen Vorgehensweise aber auch die Gefahr, das Gesagte bereits vorinterpretiert in Form von Gedächtnisprotokollen zu verschriften. Mit anderen Worten: Eine nachträgliche Anfertigung von Gesprächsinhalten birgt das Risiko, dass bereits in dieser Phase Deutungen des Interviewers einfließen und die Gesprächsinhalte verfälschen könnten. Hierbei muss allerdings kritisch angemerkt werden, dass nur etwa 39% der Budgetnehmer/ innen ihre finanziellen Angelegenheiten selbstständig bzw. alleine regelten, die meisten Personen wurden dabei unterstützt (v.a. von den gesetzlichen Betreuer/innen oder von Mitarbeiter/innen sozialer Dienste). Auch bekamen immerhin 40% der Budgetnehmer/innen das Persönliche Budget gar nicht auf ihr Konto überwiesen; das Geld wurde in diesen Fällen auf das Konto der gesetzlichen Betreuer/innen oder direkt an die Leistungserbringer ausbezahlt. Aufgrund dieser Einschränkungen wird auch von Seiten der wissenschaftlichen Begleitforschung zum rheinland-pfälzischen Projekt die Frage aufgeworfen, „inwieweit die Selbstbestimmung der betroffenen Personen voll gewährleistet ist“ (ebd., 113).
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sich die Budgetnehmer/innen nochmals für diese neue Hilfeart entscheiden würden. Die Befragung verdeutlicht hierbei, dass bis auf eine Person alle Befragten nochmals ein Persönliches Budget wählen würden (vgl. ebd., 106ff.). Ein Schwerpunkt der Modellerprobung stellte das Thema „Wohnen“ dar; entsprechend nimmt dieser Schwerpunkt eine wichtige Bedeutung in der Betrachtung der Wirkungen ein. Hierbei zeigte sich, dass über ein Drittel aller 26 befragten Budgetnehmer/inne auch tatsächlich einen Auszug aus einer vollstationären Einrichtung realisieren und nach Bewilligung des Persönlichen Budgets alleine in einer Privatwohnung oder im Betreuten Wohnen leben konnten. In weiteren 15% der Fälle fand ein Auszug aus dem elterlichen Haushalt in eine Privatwohnung statt, eine Person wechselte von einer gemeinsamen Wohnung mit der Schwester in eine eigene Wohnung und eine Person zog von einer betreuten Wohngemeinschaft in eine Privatwohnung. Insgesamt vollzog sich für knapp 60% aller befragten Budgetnehmer/innen ein Wechsel in eine selbstständigere Wohnform. In den restlichen Fällen gab es hingegen keine Veränderung, hier wurde durch das Persönliche Budget aber eine Aufnahme in eine stationäre Einrichtung vermieden. Auf die Frage, ob sich die Wohnsituation seit der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets verbessert hätte, antworteten dann auch fast 70% der befragten Budgetnehmer/innen mit „ja“. Hauptgrund ist dabei die Möglichkeit einer selbstständigeren Lebensführung und das Gefühl, in den „eigenen vier Wänden“ zu leben (vgl. ebd., 120). Merkliche Impulse und Veränderungen hinsichtlich der regionalen Angebotsstruktur werden hingegen nicht berichtet. Auch scheinen sich die Budgetnutzer/innen noch keinesfalls in der Rolle eines „Kunden“ zu sehen. So erhalten die befragten Budgetnehmer/innen ihre Unterstützung mehrheitlich von bereits ansässigen Einrichtungen und Diensten sowie von Familienangehörigen oder anderen bekannten Privatpersonen. Dies liegt sicher auch darin begründet, dass die Budgetnehmer/innen aufgrund fehlender Erfahrungen zunächst die bereits bekannten Anbieter nutzten oder von ihrer ehemaligen Einrichtung bzw. ihren gesetzlichen Betreuer/innen entsprechende Informationen erhielten. Lediglich 15% haben sich bewusst um alternative Anbieter gekümmert und Kontakt aufgenommen; nur eine Person hat sich dann auch einen neuen Hilfeanbieter selbst ausgesucht. Von Seiten der wissenschaftlichen Begleitforschung wird dazu kritisch angemerkt: „Die Ausführungen belegen, dass sich die befragten behinderten Menschen noch nicht in der Rolle eines Nachfragers auf einem Dienstleistungsmarkt sehen“ (ebd., 117). Was also die Erwartung betrifft, das Persönliche Budget würde auf Seiten der Leistungsempfänger zu einem verstärkten Kundenbewusstsein und auf Seiten der Leistungserbringer zu dem Entstehen neuer Angebote und/oder neuer Dienstleister im Bereich ambulanter Hilfen führen, so sind diese Ergebnisse eher
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ernüchternd.46 Auf der anderen Seite würden sich immerhin knapp ein Drittel der befragten Budgetnutzer/innen durchaus weitere bzw. neue Hilfsanbieter in ihrer unmittelbaren Umgebung wünschen.47 Kritische Würdigung des rheinland-pfälzischen Modellversuchs Der Modellversuch in Rheinland-Pfalz gilt deutschlandweit als Vorreiter der Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets. Im Anschluss an die rheinland-pfälzische Modellerprobung wurde das Persönliche Budget schließlich als reguläre Leistungsform landesweit eingeführt und seit dem Jahr 2004 konnten in allen 36 Gebietskörperschaften in Rheinland-Pfalz Persönliche Budgets umgesetzt werden (vgl. Windheuser u.a. 2006, 2). Die Stadt Trier sowie die Landkreise Trier-Saarburg und Bernkastel-Wittlich beteiligten sich schließlich auch an der bundesweiten Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“. Was die Wirkungen der Einführung Persönlicher Budgets betrifft, so wurde der Modellversuch in Rheinland-Pfalz insgesamt als Erfolg gewertet, dies zeigt vor allem die Zufriedenheit der Budgetnehmer/innen: „Eine Steigerung ihrer Lebenszufriedenheit durch das Persönliche Budget wurde zumindest tendenziell festgestellt (…). Diese Einschätzung bezieht sich vor allem auf die veränderte Wohnsituation, ein gestiegenes Hilfe- und Pflegeangebot, die Nutzung von Freizeitmöglichkeiten sowie auf bessere Selbstbestimmungschancen. Ein Viertel der am Modellversuch Beteiligten konnte mit Hilfe des Budgets eine stationäre Einrichtung verlassen, bei ca. 60% der Personen wurde eine Aufnahme in ein Heim vermieden (…)“ (Hölscher u.a. 2004, 156).
Alles in allem bleibt zu würdigen, dass aufgrund dieses Modellvorhabens letztendlich eine flächendeckende Anwendung dieser Hilfeform im gesamten Bundesland Rheinland-Pfalz realisiert werden konnte. Dennoch gibt es auch kritische Aspekte. Ein wesentlicher Kritikpunkt bezieht sich beispielsweise auf die unzureichenden 46
47
Als Grund wird von der wissenschaftlichen Begleitforschung zum rheinland-pfälzischen Modellvorhaben angegeben, dass die Zahl der Budgetnutzer/innen noch zu gering war, um eine entsprechende Marktdynamik zu entfachen. Des Weiteren würde eine zeitliche Befristung – wie es dem Charakter von Modellerprobungen entspricht – zu einer abwartenden Haltung auf Seiten der Leistungserbringer beitragen. Dennoch haben einige Anbieter angefangen, ihre Leistungsangebote an eine veränderte Nachfrage anzupassen, wenn dies auch nicht in der breiten Masse zu beobachten war. Weiterhin entstanden neue Hilfsangebote in Form eines sogenannten „Helferpools“, im Rahmen dessen Privatpersonen ihre Arbeitskraft auf Honorarbasis angeboten haben (vgl. Kaas 2002, 164). Gewünscht wurden hierbei beispielsweise Anbieter, die auch eine stundenweise Betreuung bzw. eine Wochenendbetreuung vorhalten oder Ausflüge bzw. Urlaubsreisen organisieren könnten. Weiterhin wurde der Wunsch nach integrativen Angeboten zur Verbesserung von Kontaktmöglichkeiten zu nichtbehinderten Menschen geäußert (vgl. ebd., 128).
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infrastrukturellen Rahmenbedingungen, durch die die Einführung Persönlicher Budgets maßgeblich erschwert wurde. Zu nennen sind neben der mangelnden Beratung insbesondere fehlende ambulante (Wohn-) Angebote. Auch wenn einzelne Leistungsanbieter ihre Angebote im Zuge der veränderten Nachfrage angepasst haben, wurde die Unterstützung der Budgetnehmer/innen schwerpunktmäßig von den etablierten Einrichtungen wahrgenommen. Dabei zeichnete sich allerdings ab, dass diese den spezifischen Bedürfnissen nicht immer entsprechen konnten (vgl. Kaas 2002, 104ff.). Alles in allem blieb der Großteil des vorhandenen Behindertenhilfesystems von der Einführung Persönlicher Budgets relativ unberührt und Impulse zur Veränderung der (bestehenden) Unterstützungsangebote gingen von der Einführung Persönlicher Budgets (zunächst) scheinbar nicht aus. Ursachen hierfür könnten die mangelnde Information und Vorbereitung der Leistungsanbieter sowie das Fehlen an Beratung für die Budgetnehmer/innen sein. Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich insbesondere auf den strukturellen Ausschluss bestimmter Personengruppen aufgrund von Kostenaspekten: „Der Verdacht liegt nahe, dass es beim Persönlichen Budget nach rheinlandpfälzischem Zuschnitt doch weniger um das Angebot von ‚Hilfe nach Maß‘ zugunsten der Lebensqualität behinderungserfahrener Personen geht, als vielmehr um ein ‚Maßhalten bei den Kosten der Hilfe‘. Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen (insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen) werden auf diese Weise zu einem Leben in stationärer Hilfe zwangsverpflichtet, die Chancengleichheit bei der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bleibt ihnen in vielen Bereichen verwehrt“ (Hölscher u.a. 2004, 159).
Der Argumentation von Gitschmann (2004, 173) folgend muss abschließend angemerkt werden, dass aufgrund der „im Widerspruch zum individuellen Bedarfsdeckungsgrundsatz der Sozialhilfe stehende[n] Anlehnung an die Geldleistungsbeträge der Pflegeversicherung“ im Grunde genommen im rheinlandpfälzischen Modellvorhaben kein wirkliches Persönliches Budget im Sinne des SGB XI erprobt wurde.
4.2.2 Persönliche Budgets für Menschen mit Behinderung (Baden-Württemberg 2002-2005) Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen Zwischen 2002 und 2005 wurde in Baden-Württemberg unter der Federführung des Sozialministeriums das Modellprojekt „Persönliches Budget für Menschen
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mit Behinderung“ initiiert, in dessen Rahmen Persönliche Budgets in drei Landkreisen modellhaft erprobt wurden.48 Die Ziele des Modellprojekts spiegeln die in Kapitel 3 aufgefächerten Erwartungen an das Persönliche Budget facettenreich wider. Besonders hervorgehoben werden die Stärkung der Eigenverantwortung der Budgetnutzer/innen sowie der Fokus auf den Grundsatz „ambulant vor stationär“ (vgl. Gitschmann 2004, 180). Im Sinne des kurz davor in Kraft getretenen SGB IX war es daher das erklärte Ziel des Modellprojekts, „die Gleichberechtigung und Teilhabe behinderter Menschen [zu] unterstützen.“ Weiter heißt es in der Konzeption des Modellprojekts: „Die Bereitstellung persönlicher Budgets zielt darauf ab, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung zu fördern und einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen: Menschen mit Behinderung sollen nicht länger Objekt der Fürsorge, sondern Subjekt der eigenen Lebensgestaltung sein. Dies setzt Wahlmöglichkeiten bei der Gewährung von Hilfen voraus. Das Modellprojekt soll auch dazu beitragen, den Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ zu verwirklichen und Alternativen zur Heimunterbringung zu fördern“ (Konzeption des Modellprojekts „Persönliches Budget für Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg“ zitiert in: Kastl, Metzler 2005, 44; vgl. ebenso Diemer 2002, 400).
Entsprechend dieser impliziten Zielsetzung waren die wesentlichen Adressaten des Modellvorhabens insbesondere Menschen, „bei denen mit dem Budget eine stationäre Unterbringung beendet oder vermieden werden kann“ (Kastl, Metzler 2005, 49). Zu Beginn des Modellprojekts wurde weiterhin beschlossen, dass es keinen Ausschluss bestimmter Personengruppen aufgrund Art und Schwere der Behinderung geben sollte; Zielgruppe waren grundsätzlich alle Menschen mit Behinderung, unabhängig von der Höhe des Unterstützungsbedarfs und unabhängig von der Wohnform (vgl. Kastl, Metzler 2005, 53; Diemer 2002; Gitschmann 2004). Demnach konnten – entsprechend der Definition in § 2 Abs. 1 SGB IX – alle behinderten bzw. von Behinderung bedrohten Menschen als Teilnehmer am Modellprojekt in Frage kommen. Aus diesem Grunde musste auch ein gesetzlicher Schwerbehindertenstatus nicht gegeben sein (vgl. Barth 2004, 304). Insgesamt war es explizites Ziel des Modellprojekts, „dass sinnesbehinderte, körperlich, geistig und seelisch behinderte Menschen mit allen Schwe48
Die ursprüngliche Hoffnung war, mehr Landkreise und kreisfreie Städte für das Modellprojekt gewinnen zu können. Die geringe Beteilung von nur drei Landkreisen wird von Barth (2004, 303) darauf zurückgeführt, „dass vom Land keine Finanzmittel für die Modellregionen bereitgestellt wurden und dass im Falle von erfolgreichen Wechseln vom stationären Bereich zu selbstständigen Wohnformen die örtlichen Sozialhilfeträger, also die Kreise, als Kostenträger zuständig werden.“
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regraden der Behinderung vertreten sind“ (Diemer 2005, 400). Gleiches gilt für das Merkmal Geschlecht: „Behinderte Frauen und Männer sollen gleichermaßen berücksichtigt werden“ (ebd.). Einziges Ausschlusskriterium war das Alter: „Kinder und Jugendliche wurden (…) faktisch durch die Prämisse ausgeschlossen, dass Leistungen der schulischen Eingliederungshilfe nicht in die Budgetierung einbezogen werden sollten“ (Kastl, Metzler 2005, 53). Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Im Rahmen des Modeprojekts in Baden-Württemberg wurde bereits von Anfang an versucht, Leistungen zu konkretisieren, die in ein Persönliches Budget transformiert werden können. Generell war angedacht, alle Leistungen, die sich auf „alltägliche“, „regelmäßig wiederkehrende“ und „regiefähige“ Bedarfslagen beziehen, im Rahmen eines Persönlichen Budgets zu gestalten. Dabei wurde zunächst zwischen zwei Bereichen unterschieden: „Wohnen/private Lebensführung“ und „Teilhabe“. Diese sind wiederum unterteilt in verschiedene Unterbereiche (Haushaltsführung, Freizeit, Mobilität, Kommunikation usw.). Des Weiteren sollte personelle Unterstützung (z.B. persönliche Assistenz, Pflege, Begleitung) genauso in Frage kommen wie Sachmittel bzw. sächliche Hilfen (Fahrtkosten, Hilfsmittel etc.). Ausgeschlossen waren hingegen einmalige bzw. investive Leistungen (vgl. Diemer 2002, 401; für einen ausführlichen Überblick siehe Barth 2004, 305f.). Spezifisch für das baden-württembergische Projekt war zudem, dass alle Rehabilitationsträger aufgefordert waren, sich an dem Modellvorhaben zu beteiligen. Das Modellprojekt wurde dabei von vorneherein mit der anspruchsvollen Prämisse gestartet, möglichst alle Rehabilitationsträger in das Modellvorhaben einzubeziehen (vgl. Kastl, Metzler 2005, 31).49 Umgesetzt wurden schließlich Persönliche Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfe (dem früheren Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern als überörtlicher Träger der Sozialhilfe sowie einem örtlichen Sozialhilfeträger) und in der Zuständigkeit der Rentenversicherung (der damaligen Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg). Innovativ war zudem die Idee, dass jeder Leistungsträger ein Teilbudget zur Verfügung stellen sollte; ein Gedanke, der später in dem bundesdeutschen Modellvorhaben zur Erprobung sogenannter „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (siehe Kapitel 4.2.6) Programm wurde. Trägerübergreifende Budgets konnten im badenwürttembergischen Modellvorhaben allerdings nicht realisiert werden, obwohl in der Konzeption ausdrücklich ein trägerübergreifender Ansatz vorgesehen war. Gemäß der Konzeption des Modellprojekts sollten sich die Verfahren zur Bemessung des Persönlichen Budgets bei den Sozialhilfeträgern an den ge49
Im Gegensatz zu anderen Modellvorhaben sollten in Baden-Württemberg beispielsweise auch insbesondere Leistungen der Pflegeversicherung mit einbezogen werden (vgl. Gitschmann 2004, 180).
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bräuchlichen Bemessungsinstrumenten orientieren. Zur Gestaltung der Budgets wurde schließlich ein System bestehend aus fünf Hilfebedarfsgruppen und jeweils drei Untergruppen (nach Art der Behinderung: geistige, körperliche und seelische Behinderung) genutzt. Jeder dieser insgesamt 15 Gruppen wurde eine Pauschale zugeordnet.50 Die Pauschalen variieren dabei von 400€ (Hilfebedarfsgruppe 1) bis hin zu 1.300€ (Hilfebedarfsgruppe 5 für Menschen mit einer wesentlichen körperlichen Behinderung). Damit sind die baden-württembergischen Pauschalen etwas differenzierter als die Pauschalen im rheinland-pfälzischen Modellprojekt; zudem betragen sie fast die doppelte Summe (vgl. ebd., 49). Die Verfahren und Prozesse der Bedarfsfeststellung im Bereich der Rentenversicherung, der damaligen Landesversicherungsanstalt (LVA), wurden jedoch weniger streng reglementiert: „Das Persönliche Budget sollte nach dem Willen der LVA Baden-Württemberg von den Rentenversicherungsträgern nach dem individuellen Bedarf des behinderten Menschen festgelegt werden. Grundsätzlich sollten die im Rahmen des Persönlichen Budgets bewilligten Leistungen den Umfang der alternativ zu bewilligenden Sachleistung nicht übersteigen“ (ebd., 51). Aus diesem Grunde erfolgte die Bemessung entlang der Erfordernisse des Einzelfalls sowie der bereits etablierten Richtlinien für die in Frage kommenden Leistungen (z.B. Preisvereinbarungen über häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfen). Die im Rahmen des baden-württembergischen Modellprojekts bewilligten Eingliederungshilfebudgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfe wurden mit durchschnittlich 725€ bemessen und monatlich ausgezahlt. Der Großteil dieser Budgets besteht aus den genannten Pauschalbeträgen; am häufigsten wurden dabei Budgets mit 650€ (Hilfebedarfsgruppe II bei geistiger Behinderung) bewilligt. Die Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung wurden teilweise monatlich, teilweise halbjährlich ausbezahlt, in einem Fall auch als Einmalzahlung. Die Höhe der Budgets wird im Abschlussbericht als Gesamtbetrag ausgewiesen (zwischen 3.990€ und 45.870€), der sich – je nach Laufzeit – auf einen Zeitraum von bis zu 42 Monaten bezieht (vgl. ebd., 68). Beispielsweise wird einem Budgetnehmer ein Gesamtbudget von 41.170€ zur Verfügung gestellt, um 50
Gemäß der Einschätzung von Kastl und Metzler eignen sich eine pauschalierte Budgetbemessungen im Bereich der Sozialhilfe wesentlich besser als eine „punktgenaue Hilfebemessung“, weil sie eher dem Grundgedanken des Persönlichen Budgets entsprechen: „Der Vorteil gruppierender Verfahren liegt darin, dass eine Art generalisierte, typische Einstufung des Gesamtunterstützungsbedarfes erfolgt, die eben keine punktgenaue Hilfebemessung oder Hilfeplanung (…) beinhaltet. Eine punktgenaue Hilfebedarfsfeststellung (…) ist gerade bei den Hauptzielgruppen der Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen in vielen Fällen ohnehin illusorisch. Darüber hinaus entspricht eine punktgenaue Hilfebedarfsfeststellung, etwa über eine präzise Festlegung von Stunden professioneller, semiprofessioneller oder sonstiger Unterstützung prinzipiell eher der Sachleistungslogik, die gerade zu einer Reduktion zeitlicher, sachlicher und personeller Spielräume führen würde“ (Kastl, Metzler 2005, 209).
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damit statt einer im Sachleistungsprinzip vorgesehenen 2-jährigen Umschulung eine 3-jährige Ausbildung finanzieren zu können. Das Geld wird monatlich ausbezahlt; entsprechend beziehen sich die 41.170€ auf den gesamten Zeitraum von 3 Jahren.51 Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Zu Anfang des Projekts wurde anvisiert, mindestens 250 Persönliche Budgets in 2 Jahren umzusetzen (vgl. Kastl, Metzler 2005, 42; Gitschmann 2004, 180). Bis zur Mitte der Projektphase (März 2004) wurden zunächst aber nur 24 Persönliche Budgets bewilligt. Im Zuge der Initiative eines Einrichtungsträgers von Angeboten für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen sowie der damaligen Landesversicherungsanstalt als Träger der Rentenversicherung kam es schließlich zu einer „allmählichen Ausweitung des Teilnehmerkreises. Bis Ende 2004 verdoppelte sich die Teilnehmerzahl“ (Kastl, Metzler 2005, 41). Alles in allem wurden im Rahmen des baden-württembergischen Modellprojekts bis Ende der Datenerhebung (Mai 2005) insgesamt 117 Anfragen auf ein Persönliches Budget gestellt. Bewilligt werden konnten schließlich 49 Persönliche Budgets. Zuständiger Leistungsträger war bei 37 Budgets der Sozialhilfeträger,52 bei 12 Budgets die damalige Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg (LVA) als Träger der Rentenversicherung53 (vgl. ebd., 63ff.). Was den Personenkreis der Budgetnehmer/innen betrifft, so sind insbesondere die Merkmale Geschlecht, Alter und Art der Behinderung von Interesse: In Bezug auf die Geschlechterverteilung fällt auf, dass nur knapp ein Drittel der Budgetnehmer/innen Frauen waren. Erklärt werden kann dies jedoch – im Falle der Persönlichen Budgets in der Zuständigkeit der LVA – durch die Überrepräsentanz männlicher Rehabilitanden im Bereich der beruflichen Rehabilitation sowie – im Falle der Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger – durch den höheren Anteil an Männern in der am Modellprojekt beteiligten stationären
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Der Betrag entspricht den Kosten für eine 2-jährige Umschulung. Der Clou an dieser Budgetlösung ist, dass mit Hilfe eines Persönlichen Budgets eine 3-jährige Berufsausbildung realisiert werden kann, obwohl dies im Sachleistungssystem nicht vorgesehen ist, weil gemäß § 37 SGB IX Leistungen zur beruflichen Weiterbildung nicht länger als zwei Jahre dauern sollen. Durch die Nutzung eines Persönlichen Budgets kann daher der zur Verfügung gestellte Geldbetrag auch für eine 3-jährige Ausbildung genutzt werden (vgl. Kastl, Metzler 2005, 101ff.). Davon wurden 36 Persönliche Budgets als Leistungen der Eingliederungshilfe in der Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträger – dem früheren Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern – bewilligt und ein Persönliches Budget in der Zuständigkeit eines örtlichen Sozialhilfeträgers (Leistungen zur häuslichen Pflege). Hierbei handelt es sich um Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Übergangsgeld sowie ergänzende Leistungen.
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Einrichtung.54 Im Durchschnitt sind die Budgetnehmer/innen etwa 40 Jahre alt, wobei sich die Alterspanne von 23 Jahren bis hin zu 67 Jahren erstreckt. Der Großteil der Budgetnehmer/innen (knapp 40%) ist zwischen 40 und 49 Jahren alt (vgl. ebd., 70f.). Die Betrachtung der verschiedenen Behinderungen der Budgetnehmer/innen zeigt folgende Auffälligkeiten: Anfangs überwiegten noch Menschen mit psychischen Erkrankungen. Bis zum Ende der Datenerfassung im Mai 2005 bildeten dann aber Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung die größte Gruppe unter den Budgetnehmer/innen (19 Personen), gefolgt von Menschen mit einer körperlichen Behinderung (16 Personen) und Menschen mit einer psychischen Behinderung (14 Personen). Im Hinblick auf diese zahlenmäßige Verteilung liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Persönlichen Budgets fast zu gleichen Teilen von Menschen mit einer geistigen Behinderung, einer körperlichen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung genutzt werden, allerdings bestehen markante Unterschiede zwischen den bewilligten Budgets im Bereich der Sozialhilfe und den Budgets im Bereich der Rentenversicherung. Die Budgetnehmer/innen, die ihr Persönliches Budget vom Sozialhilfeträger bekommen, sind mehrheitlich Personen mit einer geistigen Behinderung (19 von 37 Personen) oder einer psychischen Erkrankung (13 von 37 Personen); nur ein kleiner Teil (5 von 37 Personen) der Budgetnehmer/innen im Bereich der Sozialhilfe haben eine körperliche Behinderung (einschließlich Sinnesbeeinträchtigungen). Auf der anderen Seite sind fast alle Budgetnutzer/innen (11 von 12 Personen), die ihr Budget von der Rentenversicherung bekommen, Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Persönliche Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfe wurden im baden-württembergischen Modellprojekt also eher von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung genutzt, während Menschen mit einer körperlichen Behinderung bei den Rentenversicherungs-Budgets dominieren (vgl. ebd., 74f.).55 54
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Eine Betrachtung der Wohnsituation der Budgetnehmer/innen vor Bewilligung des Persönlichen Budgets zeigt hierbei eine Überrepräsentanz von männlichen Bewohnern in der am Modellprojekt beteiligten stationären Einrichtung (vgl. Kastl; Metzler 2005, 71). In diesem Zusammenhang muss ergänzend darauf hingewiesen werden, dass die körperlichen Beeinträchtigungen der Budgetnehmer/innen im Bereich der Rentenversicherung als weniger schwerwiegend zu verstehen sind als die körperlichen Behinderungen der Budgetnehmer/innen, die ein Persönliches Budget vom Sozialhilfeträger bekommen. Da es sich bei den Persönlichen Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung um Leistungen im Bereich Arbeit handelt, sind die Behinderungen dieser Budgetnehmer/innen eher auf den Lebensbereich Arbeit bezogen. Abgesehen von einer Ausnahme „handelt es sich durchweg um Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates (Wirbelsäule bzw. Bandscheibenvorfall, Schultergelenk) bzw. um (Folgen) chronische(r) Erkrankungen (Angina Pectoris, Gelenkrheuma), die dazu führten, dass die körperlichen Anforderungen im alten Beruf nicht mehr bewältigt werden konnten. (…). Die Behinderungen sind äußerlich nicht sichtbar und wirken sich nur bei entsprechender körperlicher Belastung aus“ (Kastl, Metzler 2005, 74). Zudem wird von den
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Für eine genauere Analyse des Personenkreises der Budgetnehmer/innen im Hinblick auf Art der Behinderung erscheint aufgrund dieser Unterschiede eine separate Betrachtung der Sozialhilfe-Budgets als sinnvoll. Hierbei zeigt sich, dass Menschen mit einer körperlichen Behinderung im Bereich der Eingliederungshilfebudgets vergleichsweise wenige Budgets bewilligt wurden. Betrachtet man beispielsweise das Verhältnis zwischen Anträgen und bewilligten Budgets im Bereich der Sozialhilfe nach Art der Behinderung, so zeigt sich, „dass unter den Interessentinnen/Interessenten für ein Persönliches Budget der Anteil körperbehinderter Menschen signifikant höher liegt als bei den faktisch erfolgten Bewilligungen“ (ebd., 64). So wurden allein 48% aller Anträge auf ein Persönliches Budget von Menschen mit körperlichen Behinderungen gestellt, aber nur 14% der bewilligten Budgets entfallen auf diese Personengruppe.56 Auch eine genauere Betrachtung des Anteils der jeweils bewilligten Anträge im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Anträgen, die von Menschen mit körperlichen Behinderungen gestellt wurden, verdeutlicht diese Diskrepanz: Die Bewilligungsquote beträgt bei Menschen mit körperlichen Behinderungen gerade mal 18%, während diese Quote bei Menschen mit psychischen Behinderungen bei 59% und bei Menschen mit geistigen Behinderungen bei 54% liegt. Dies erscheint von daher verwunderlich, sind Menschen mit körperlichen Behinderungen doch „ausgerechnet die ideale Zielgruppe Persönlicher Budgets“ (ebd., 41). Als Gründe dafür werden genannt, dass der Unterstützungsbedarf zu hoch wäre, als dass dieser mit den Eingliederungspauschalen gedeckt werden könnte, sowie dass die Höhe der Budgets die Kosten einer vergleichbaren stationären Leistung übersteigen würden oder weil Vermögen vorhanden ist, welches entsprechend zur Bedarfsdeckung eingesetzt werden müsste. Aus diesem Grunde wird von den Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung folgende Schlussfolgerung formuliert: „Körperbehinderte Menschen mit höherem Hilfebedarf werden durch das Persönliche Budget, zumindest in der im Modellprojekt gültigen Ausgestaltung, nicht erreicht“ (ebd., 65). Was die Verwendung der Persönlichen Budgets und die jeweils eingekauften Leistungen betrifft, so muss ebenfalls zwischen Eingliederungshilfebudgets im Bereich der Sozialhilfe und Rentenversicherungsbudgets unterschieden werden:
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Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung herausgestellt, dass der Begriff „Unterstützungs- bzw. Hilfebedarf“, welcher für die Bewilligung von Sozialhilfeleistungen eine wesentliche Voraussetzung ist, bei den Budgetnehmer/innen der Rentenversicherung im Grunde so nicht verwendet werden kann. Schließlich bezieht sich dieser „Hilfebedarf“ ausschließlich auf den Bereich Arbeit. Zum Vergleich: 33% der Anträge wurden von Menschen mit geistigen Behinderungen gestellt, 19% von Menschen mit psychischer Behinderung. Der Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung liegt dann bei den bewilligten Budgets sogar bei 51%, Menschen mit psychischer Behinderung sind zu 35% unter den Budgetnehmer/innen vertreten.
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
139
Die Budgetverwendung im Bereich Sozialhilfe ist entsprechend der genannten „Unterstützungsbedarfe“ schwerpunktmäßig in den Bereichen „Freizeit“, „häusliche Lebensführung“ und Unterstützung in den Bereichen „Finanzen“ bzw. „Verwaltung (Behördengänge, Schriftwechsel u.ä.)“ angesiedelt (vgl. ebd., 76f.). Bei den Budgetnehmer/innen im Bereich der Rentenversicherung geht es ausschließlich um Unterstützung im Bereich „Arbeit“ (z.B. berufliche Weiterbildung). Im Hinblick auf die Wirkungen bzw. Ergebnisse der Einführung Persönlicher Budgets im Rahmen des baden-württembergischen Modellprojekts haben sich die Erwartungen im Grunde erfüllt. Vordergründig erfüllt hat sich beispielsweise die Hoffnung auf eine Verbesserung bzw. Veränderung der Wohnsituation, welche explizit als Kernziel des baden-württembergischen Modellprojekts („ambulant vor stationär“) benannt wurde. Demnach konnten alle Personen, die vor der Budgetbeantragung in einer stationären Einrichtung gewohnt haben, im Zuge der Budgetbewilligung in eine eigene Wohnung ziehen (vgl. ebd., 72). Die Äußerungen der Budgetnehmer/innen im Hinblick auf die Zufriedenheit mit dem Umzug in eine selbstständigere Wohnform wurden dabei als „geradezu begeistert“ beschrieben (vgl. ebd., 89). Die Dominanz dieser wahrgenommenen Verbesserung im Bereich Wohnen wird dabei von den Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung auch als das bestimmende Prinzip der Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget gesehen: So assoziierten die Budgetnehmer/innen bei der Frage nach der Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget oftmals lediglich die Veränderung der Wohnsituation, nicht aber die Potenziale, die sich mit dem Persönlichen Budget ebenfalls ergeben. Mit anderen Worten: Die veränderte Wohnsituation, „nicht etwa das Persönliche Budget als ‚Leistungsform‘ wird dann bewertet“ (ebd., 97). Dennoch werden von einigen Personen Verbesserungen genannt, die die Intentionen Persönlicher Budgets insbesondere im Bereich Selbstbestimmung und Flexibilität widerspiegeln: Etwa die Möglichkeit, Unterstützungspersonen bzw. Dienstleister selbst auswählen zu können, mehr Spielräume im Bereich Freizeit zu haben, unabhängiger sein zu können, mehr Verantwortung zu tragen, flexibler in der Lebensgestaltung zu sein oder auch Geld für andere Dinge „ansparen“ zu können. Ergebnisse bzw. Wirkungen hinsichtlich anderer Erwartungshaltungen, die mit der Einführung Persönlicher Budgets ebenfalls in Verbindung stehen, werden im baden-württembergischen Projekt allerdings recht nüchtern gesehen. Was beispielsweise Erwartungen hinsichtlich der Veränderung der Angebotsstruktur betreffen, so konnten aufgrund der eher gering gebliebenen Anzahl an Persönlichen Budgets „erwünschte Markteffekte etwa im Sinne des Auftretens neuer Anbieter oder auch neuer Angebote nicht eintreten“ (ebd., 41). Wenn sich auch diese Wirkungsdimension in Grenzen hielt, konnten Modifikationen der bestehenden Angebote sowie Verpreislichungen der Leistungsangebote dennoch be-
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obachtet werden. Kritisch wird zudem herausgestellt, dass ein großer Teil der Personen mit einem Eingliederungshilfebudget ihr Persönliches Budget gar nicht selbst bzw. ohne fremde Hilfe verwalteten; des Weiteren hatten über 40% der Budgetnehmer/innen, die ihr Budget vom Sozialhilfeträger bekommen, eingeschränkte oder teilweise nur marginale Vorstellungen darüber, was ein Persönliches Budget ist. Aus diesem Grunde verweisen die Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung auch darauf, dass die „Übernahme einer ‚Kundenrolle‘ zumindest bei den Budgetnehmerinnen und Budgetnehmern selbst eher die Ausnahme bleibt“ (vgl. ebd., 97). Alles in allem fällt das Urteil, was die Globalerwartungen – etwa hinsichtlich der Elemente Selbstbestimmung und Kundenrolle – betrifft, eher moderat aus: „Auffällig ist des Weiteren, dass die hohen Erwartungen an die Selbstbestimmungspotentiale des Persönlichen Budgets, die im sozialpolitischen Diskurs bestimmend sind, von den Betroffenen bei insgesamt sehr positiver Bewertung des Persönlichen Budgets viel nüchterner und pragmatischer gesehen werden, euphorische Bewertungen bildeten eher die Ausnahme. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass der durch das Persönliche Budget direkt bewirkte Ermächtigungseffekt sehr oft gar nicht so beträchtlich war. Die Mehrheit der Betroffenen nimmt Unterstützung im Umgang mit Geld in Anspruch, so dass das Persönliche Budget überwiegend nicht oder nur in Teilen selbstständig verwaltet wird. Das Budget selbst spielt dadurch in der subjektiven Erfahrung der Betroffenen eine vergleichsweise geringe Rolle; für die Menschen entscheidender sind die Veränderungen in der Lebensführung als solcher (z.B. eigene Wohnung, Freizeitaktivitäten usw.)“ (ebd., 41).
Kritische Würdigung des baden-württembergischen Modellprojekts Ähnlich wie in Rheinland-Pfalz konnte das Persönliche Budget schließlich auch in Baden-Württemberg ausgeweitet und auch in anderen Landkreisen umgesetzt werden. Die Bedeutung, die das baden-württembergische Modellprojekt jedoch insbesondere für diese Arbeit hat, liegt in dem qualitativen Forschungszugang begründet, der wiederum nach Aussagen der Autor/innen aber eher zufälliger Art war: „Er [der Erkenntnisgewinn] liegt vielmehr darin, dass erstmals detaillierte qualitative Einblicke gewonnen wurden, wie Menschen mit Behinderung und ihr professionelles und nicht professionelles Lebensumfeld mit gewährten Spielräumen umgehen, welche produktiven Potentiale dabei entstehen (…). Dass ein solcher lebensweltlich-biografisch orientierter qualitativer Zugang überhaupt möglich war, verdankt sich auch dem Umstand, dass die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geringer war als zunächst geplant“ (ebd., 10f.).
Aus dieser Not heraus eine Tugend machend, betonen die Autor/innen an mehreren Stellen, dass es insbesondere der „Intensität“ der qualitativen Analysen zu
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verdanken ist, gerade das kreative Potenzial und damit auch den eigentlichen „Charme“ Persönlicher Budgets in der jeweiligen individuellen Verwendung abbilden zu können. Eine wichtige Bedeutung gewinnt das baden-württembergische Modellprojekt besonders durch seinen konsequenten Einbezug der Lebenssituation und Biografie der Budgetnehmenden zur Erklärung der Budgetnutzung (vgl. dazu insbesondere Kapitel 5.2.2). Die ausführlichen qualitativen Analysen, in denen die Budgetnehmer/innen selbst „zu Wort kommen“ und ihre subjektiven Stellungnahmen darlegen, eröffnen einen völlig anderen Zugang zur Bewertung Persönlicher Budgets, nämlich, dass eine Betrachtung Persönlicher Budgets im Sinne einer wissenschaftlichen Begleitforschung und im Hinblick auf die Evaluation von Wirkungen „auch die konkrete Nutzung im Kontext der Lebenssituation der Betroffenen mit berücksichtigen muss“ (ebd., 99).
4.2.3 Persönliche Budgets im stationärem Kontext – das Projekt PerLe – Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität (NordrheinWestfalen 2003-2006) Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen Von August 2003 bis September 2006 wurde in Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Projekts PerLe („Personenbezogene Unterstützung und Lebensqualität“) Persönliche Budgets in einer stationären Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung in Bielefeld modellhaft erprobt (vgl. ausführlich Wacker u.a. 2005; Schäfers 2006; Schäfers, Wansing 2007, Wansing 2004). Besonders hervorzuheben ist, dass das Modellprojekt PerLe bundesweit bisher das einzige Projekt darstellt, in dem die Nutzung Persönlicher Budgets im stationären Wohnbereich erprobt wurde. Hintergrund des Projekts ist das Ziel, vor allem auch Menschen mit sogenannter geistiger und mehrfacher Behinderung eine selbstbestimmtere Organisation der Unterstützung mit Hilfe eines Persönlichen Budgets zu ermöglichen.57 Durch das Projekt soll nachgewiesen werden, dass Persönliche Budgets auch für Menschen mit Behinderung, die in stationären Einrichtungen leben und einen vergleichsweise hohen Hilfe- und 57
Ausgangspunkt dieser Intention ist die Tendenz, dass „Personen mit kognitiven bzw. mit komplexen Beeinträchtigungen und hohen Hilfebedarfen beim Zugang zu Direktzahlungen oft benachteiligt oder ausgeschlossen werden. Vor allem werden nicht immer hinreichende Rahmenbedingungen sichergestellt, damit auch dieser Personenkreis seine Unterstützung mit größerer Wahlfreiheit organisieren kann. (…). Im Rahmen des Projekts PerLe (…) wurde nun ein Rahmenkonzept für ein Persönliches Budget entwickelt, das zwar einerseits grundsätzlich offen für alle Menschen mit Unterstützungsbedarfen ist, aber andererseits explizit auf eine Beteiligung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ausgerichtet ist“ (Wansing u.a. 2004, 318).
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Unterstützungsbedarf haben, genutzt werden können. Im Vordergrund steht dabei die Annahme, dass es prinzipiell jedem behinderten Mensch, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, möglich ist, mit einem Persönlichen Budget zu leben (vgl. Wacker 2006, 89f.). Gerade weil sich die bisherigen Erfahrungen mit der Einführung Persönlicher Budgets meist auf ambulante Leistungen stützen, besteht der dringende Bedarf, auch Personen, die stationäre Wohnangebote nutzen, in eine Erprobung mit einzubeziehen. Zwar ist der Grundsatz „ambulant vor stationär“ ein Kernelement der Einführung Persönlichen Budgets, allerdings besteht durch diese Fokussierung auch die Gefahr, „Personen mit hohen Unterstützungsbedarfen (z.B. aufgrund kognitiver/mehrfacher Beeinträchtigungen), die bislang überwiegend in stationären Wohneinrichtungen leben, a priori von der Möglichkeit eines Persönlichen Budgets auszuschließen“ (Schäfers 2006, 61). Entsprechend lauten die Kernfragestellungen des Modellprojekts: „Ist ein Persönliches Budget im stationären Wohnbereich umsetzbar? Unter welchen Bedingungen können auch Menschen mit sogenannter geistiger und mehrfacher Behinderung über Geldleistungen in die Lage versetzt werden, mehr Einfluss auf Unterstützungsleistungen zu nehmen?“ (ebd., 61). Als Ziel des Modellversuchs galt es herauszufinden, inwiefern ein Persönliches Budget auch bei Bewohner/innen stationärer Wohneinrichtungen zu mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sowie zu einer Vergrößerung von Entscheidungsspielräumen beiträgt. Dabei sollten insbesondere Entscheidungsspielräume bei der Auswahl von Unterstützungsleistungen ermöglicht werden. Ein damit verbundenes Ziel war die Verbesserung der Teilhabechancen sowie eine Aktivierung bzw. Erschließung von Ressourcen. Zum anderen spielen aber auch leistungsrelevante Gesichtspunkte eine Rolle, etwa die Frage, inwiefern einzelne Teilhabeleistungen aus der Maßnahmepauschale der stationären Komplexleistung herausgelöst und in ein Persönliches Budget transformiert werden können. Schließlich sollten im Kontext dieses Modellversuchs auch die Möglichkeiten eines Leistungsmix, bestehend aus stationären und ambulanten Leistungen, ausgelotet sowie eine Vernetzung professioneller und privater Hilfen vorangetrieben werden (vgl. Wacker u.a. 2005, 119; Schäfers 2006, 62; Conty 2007, 10). An dem Modellprojekt beteiligte sich ein großer Einrichtungsträger in Bielefeld. Zwar erklärte sich ursprünglich auch noch eine weitere Einrichtung bereit, an dem Modellvorhaben teilzunehmen, allerdings konnte diese Teilnahme nicht realisiert werden, weil es in der unmittelbaren Region dieser Einrichtung kaum ambulante Dienstleister gab und dadurch die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt waren.58 In Bielefeld hingegen konnten einige Anbieter ambulanter Angebote gefunden werden, so dass ein „Einkauf“ von Unterstützungsleistungen außerhalb der stationären Einrichtung tendenziell möglich ist (vgl. dazu Wacker u.a. 2005, 111ff.). 58
Diese Einrichtung befindet sich im Gegensatz zu Bielefeld in einer ländlichen Region.
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Erwähnt werden muss außerdem, dass die Teilnahme am Modellversuch auf freiwilliger Basis erfolgte und eine Rückkehr zur Sachleistung jederzeit und umgehend ermöglicht werden sollte. Dies stellte letztendlich eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg des Modellvorhabens „PerLe“ dar, weil eine solche Rückkehrgarantie insbesondere im Kontext stationärer Angebote unumgänglich erscheint (vgl. Schäfers 2006, 61). Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Die in dem Modellversuch teilnehmenden Personen erhalten ergänzend zur Sachleistung, die weiterhin von dem Wohnheim erbracht wird (z.B. Wohnheimkosten, individuelle Basisförderung und Gesundheitsförderung, Unterstützung bei der Haushaltsführung, Tagesstruktur usw.) einen Geldbetrag, den sie schwerpunktmäßig für ausgewählte Teilhabeleistungen innerhalb als auch außerhalb der Wohneinrichtung nach eigenen Wünschen organisieren und einsetzen können. Genannt werden hierbei beispielsweise „Leistungen zur Aufrechterhaltung und Förderung sozialer Kontakte, zur Teilnahme an Bildungsangeboten, zur Teilnahme an kulturellen Angeboten, Hilfen zur Mobilität, Freizeit und Erholung sowie psychosoziale Unterstützung“ (Wacker 2006, 88; vgl. dazu auch ausführlich Wacker u.a. 2005, 121ff.). Mit diesem Persönlichen Budget wird es den Budgetnehmer/innen ermöglicht, „externe Dienstleister in Bielefeld zu beauftragen, private Hilfen zu organisieren oder auch individuelle Absprachen mit den Mitarbeiter(inne)n des Wohnheims zu treffen“ (Schäfers 2006, 62). Aus diesem Grund musste zunächst das Gesamtleistungspaket modularisiert werden, um transparente Leistungsmodule vorhalten zu können. Damit sollte eine sichere Basis für potenziell in stationären Betreuungsstrukturen in Frage kommende budgetfähige Leistungen hergestellt werden; dies erschien auch insbesondere aufgrund der Unsicherheiten von Seiten der Budgetnehmer/innen wichtig. In einem ersten Schritt wurden daher „Basisleistungen“ definiert, die vom Wohnheim weiterhin erbracht werden sollen (z.B. Überlassung und Nutzung von Wohnraum, Pflege, Gesundheitsförderung, Tagesstrukturierung usw.). Andere Leistungen aus dem Bereich der Eingliederungshilfen sollten hingegen in ein Persönliches Budget einfließen (bspw. Leistungen zur Mobilität, Teilnahme an kulturellen Angeboten, Unterstützung bei sozialen Kontakten usw.). Entsprechend wurden dann die verschiedenen Budgets kalkuliert. Die gesamte Maßnahmepauschale musste zunächst in drei Leistungstypen differenziert werden: Ein Anteil (35%) für personenübergreifende Ausgaben sowie zwei Anteile (zusammen 65%) für personenbezogene Leistungen. Diese wurden wiederum differenziert in personenbezogene Leistungen zur Deckung von „Basisleistungen“ (Sachleistungen der Einrichtung) und personenbezogene Leistungen, die in ein Persönliches Budget überführt werden konnten (Teilhabe-
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leistungen). Auf Basis dieser Anteile wurden dann die Persönlichen Budgets bemessen, die je nach Leistungstyp und Hilfebedarfsgruppe zwischen knapp 370€ und 840€ betragen können (vgl. Wacker u.a. 2005, 123ff.; Schäfers 2006, 64). Die individuell zu kalkulierenden Budgets wurden in einem vierstufigen Verfahren festgelegt (Ermittlung individueller Unterstützungsbedarf, verfügbare Ressourcen, erforderliche Leistungen, Bildung von Budgets). Gemäß der zentralen Bedeutung von Teilhabe sollte bei der Bedarfsermittlung insbesondere die Kerngedanken der ICF der WHO berücksichtigt werden: „Der Fokus der Bedarfsermittlung ist damit weniger auf seelische, körperliche oder geistige (Funktions-)Beeinträchtigungen gerichtet, sondern vor allem auf Barrieren der Partizipation in der näheren und weiteren Umwelt, welche es durch passende Unterstützung zu beseitigen gilt“ (Wansing 2004, 321).
Zusammenfassend muss nochmals betont werden, dass nur bestimmte Leistungen in ein Persönliches Budget überführt wurden. Um die Grundversorgung wie beispielsweise Pflege, Nahrung und Gesundheitsfürsorge nicht zu gefährden bzw. die Qualität der Leistungen zu erhalten, wurden diese Leistungen von vorneherein ausgeschlossen. Diese Regelung entsprach nicht nur dem Anliegen der Einrichtung, sondern kam auch den Budgetnehmer/innen entgegen, weil damit ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor bei der Überlegung, ein Persönliches Budget zu beantragen, umgangen werden konnte (vgl. Wacker u.a. 2005, 121). Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Das Persönliche Budget wurde im Rahmen des Projekts PerLe nur in begrenztem Umfang erprobt. An dem Modellvorhaben nahmen insgesamt 18 von 24 Bewohner/innen eines Bielefelder Wohnheims teil, allesamt Menschen mit einer geistigen und mehrfachen Behinderung im Alter von 21 bis 73 Jahren; sechs Personen davon sind weiblich, zwölf männlich. Die beteiligten Personen konnten jederzeit ihre Teilnahme abbrechen und zum Sachleistungssystem zurückkehren, was sicher auch eine Voraussetzung dafür war, dass sich die Bewohner/innen auf das Modellvorhaben einließen (vgl. Schäfers 2006, 62; Wacker u.a. 2005, 117). Genutzt wurde das Persönliche Budget dann schwerpunktmäßig in den Bereichen Freizeit und Alltagsbewältigung. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets wollten die Budgetnehmenden beispielsweise bestimmte Freizeitaktivitäten realisieren oder aber Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben einkaufen (vgl. Schäfers, Wansing 2007). Nach zweijähriger Laufzeit des Modellvorhabens wird die Einführung Persönlicher Budgets im stationären Kontext insgesamt als positiv gewertet. Darauf deuten vor allem qualitative Daten aus den Interviews hin: „Zum Teil werden deutliche, durch das Persönliche Budget erweiterte Entscheidungsspielräume
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genannt, sowohl sachlicher Art (welche Hilfeleistungen werden ausgeführt) als auch sozialer Art (wer leistet die Unterstützung) und zeitlicher Art (wann wird die Unterstützung geleistet)“ (Schäfers 2006, 72). Diese Dispositionsspielräume manifestieren sich beispielsweise in abendlichen Aktivitäten (etwa Kino- und Diskothekenbesuche) oder in der Möglichkeit, bestimmte Freizeitpräferenzen realisieren zu können (etwa ein Fußballspiel zu besuchen). Weitere positive Wirkungen sind die Individualisierung der Unterstützung (verstärkte individuelle Absprachen) und damit zusammenhängend auch die Passgenauigkeit und Bedarfsgerechtigkeit der Unterstützung. Besonders hervorzuheben sind ferner die vermehrten Aktivitäten außerhalb des Wohnheims (vgl. dazu auch Schäfers, Wansing 2007). Weniger erfüllt hat sich hingegen die Erwartung, dass sich die Wohnheimbewohner/innen verstärkt Unterstützung von externen Anbietern außerhalb des Wohnheims einkaufen.59 Kritische Würdigung des Modellprojekts „PerLe“ Insgesamt ist die Intention des Modellvorhabens ausdrücklich zu würdigen, denn gerade der Personenkreis von Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen, die oftmals bereits seit Jahren in stationären Wohneinrichtungen leben, wurde bisher nur unzureichend bei der Umsetzung des Persönlichen Budgets erreicht bzw. berücksichtigt. Aus diesem Grunde konnten auf Basis des Modellprojekts PerLe wertvolle Erkenntnisse darüber gewonnen werden, „wie auch Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung und hohen Unterstützungsbedarfen eine größtmögliche Kontrolle über Hilfeleistungen und über ihren Alltag gewinnen können“ (vgl. Wacker u.a. 2005, 112). Gleichwohl stellt das Modellprojekt PerLe aber auch eine Art Sonderfall dar, schließlich wurde lediglich ein Teil der bisherigen Maßnahmepauschale als Persönliches Budget zur Verfügung gestellt. Der restliche Betrag ist nach wie vor für stationäre Leistungen der Einrichtung vorgesehen und eine Reduzierung dieser stationären Leistungen bei gleichzeitiger Aufstockung des Persönlichen Budgets ist nicht angedacht. So bleibt die Einrichtung in jedem Fall in gewissem Maße verantwortlich für die Leistungserbringung (vgl. dazu auch Conty 2007). Neben der besonderen Bedeutung für den stationären Bereich können die Ergebnisse des Projekts aber auch eine Reihe zusätzlicher und durchaus allgemein übertragbarer Anregungen liefern, etwa zur zentralen Bedeutung des Vorhandenseins (externer) ambulanter Anbieter sowie zur Bedeutung von Budgetas59
Als Ursache dafür führt Schäfers (2006, 75) aus: „Die Möglichkeit des Einkaufs von Unterstützungsleistungen bei externen Anbietern scheint vielen Budgetnehmer(innen) trotz vielfältiger Informationsbemühungen nicht bewusst zu sein. Zudem sind viele Bewohner(innen) vor allem in der Anfangsphase vorsichtig und reagieren zurückhaltend, was die Inanspruchnahme ‚fremder‘ Unterstützer(innen) angeht.“
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sistenz, insbesondere für Personen mit entsprechendem Unterstützungsbedarf. Letztendlich finden sich auch wichtige Hinweise zur Bedeutung von Information, Beratung und Bildung von (potenziellen) Budgetnehmer/innen (vgl. Windheuser u.a. 2006, 3), ohne die eine verstärkte Nutzung des Persönlichen Budgets im Sinne der Grundintentionen Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sicher erschwert werden dürfte.
4.2.4 Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets für Menschen mit Behinderung in Niedersachsen (2004-2005) Zeitpunkt und Hintergrund der Einführung, Ziele und Anspruchsvoraussetzungen In Niedersachsen wurde das Persönliche Budget ausschließlich im Bereich der ambulanten Eingliederungshilfe im Zeitraum von Januar 2004 bis Dezember 2005 erprobt. Als Ziele des Modellvorhabens werden genannt (vgl. Windheuser u.a. 2006, 4):
Optimierung der Prozesse und Verfahren im Umgang mit dem Persönlichen Budget Impulse zum Ausbau der ambulanten Strukturen und Angebotsvielfalt Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung; gleichzeitig aber auch Übertragung von Eigenverantwortung Einbezug der Leistungsberechtigten in die Hilfeplanung Kostenersparnisse aufgrund der Bemessung der Persönlichen Budgets
Einschränkende Regelungen bezogen sich hingegen vor allem auf die Reichweite des Projekts. So sollten beispielsweise keine trägerübergreifend konzipierten Persönlichen Budgets erprobt werden; die Bewilligung von Persönlichen Budgets blieb auf Sozialhilfeleistungen (Eingliederungshilfe) beschränkt. Des Weiteren sollten keine Budgets im stationären Kontext umgesetzt werden. Entsprechend kamen nur Personen in Frage, die Leistungen außerhalb von stationären Einrichtungen finanzieren wollten. Eine weitere Besonderheit stellt die Festlegung einer Obergrenze für die Budgetbemessung dar, die sich an der Anzahl an benötigten Fachleistungsstunden orientiert und in etwa 850€ pro Monat beträgt.60 Die Aufgabe der wissenschaftlichen Begleitung bestand dabei in der Evaluation der Zielerreichung des Modellvorhabens. Empirische Erhebungen konzentrierten sich auf die Verfahren zur Hilfebedarfsermittlung und -planung auf Seiten der Leistungsträger einerseits sowie auf die Wirkungsaspekte des Persönlichen 60
Als Obergrenze für jedes Persönliche Budget wurden 6 Fachleistungsstunden à 35€ pro Woche veranschlagt (vgl. Windheuser u.a. 2006, 4).
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Budgets auf Seiten der Budgetnehmer/innen andererseits. Dabei spielten insbesondere die persönliche Lebenssituation und Erwartungen der Budgetinteressent/innen an das Persönliche Budget eine forschungsleitende Rolle (ebd. 4f.). Bedarfsfeststellung, Budgetbemessung und relevante Leistungen Die Persönlichen Budgets im niedersächsischen Modellvorhaben wurden auf Basis eines individuellen Hilfeplanverfahrens bemessen. Die Bedarfskalkulation erfolgte dabei in Form von individuellen Zeitbudgets, welche dann mittels Fachleistungsstunden in einen Geldbetrag umgerechnet wurden (vgl. ebd., 85). Angaben zu den jeweils im Rahmen der Persönlichen Budgets bewilligten Leistungen sind im Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitforschung nur in Form einer Tabelle dargestellt. Im Grunde handelt es sich dabei ausschließlich um Leistungen im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens („ambulante Assistenz“), in zwei Fällen wurde Hilfe zur Pflege bewilligt (vgl. ebd., 84). Nähere Informationen lassen sich jedoch dem Abschlussbericht nicht entnehmen. Im Durchschnitt betrug ein Persönliches Budget im niedersächsischen Modellprojekt monatlich 513€ und liegt damit unter den Werten, die für die rheinland-pfälzischen und baden-württembergischen Budgets angegeben werden. Über ein Drittel der bewilligten Budgets wurden dabei mit Beträgen zwischen 400€ und 499€ bewilligt, weitere knapp 20% bewegten sich zwischen 300€ und 399€ (vgl. ebd., 17f.). Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Insgesamt wurden im Rahmen des niedersächsischen Modellprojekts 67 Anträge auf ein Persönliches Budget gestellt, von denen 53 bewilligt wurden.61 Ein interessantes Ergebnis des niedersächsischen Modellvorhabens ist in diesem Zusammenhang, dass nur wenige Anfragen auf ein persönliches Budget von den Budgetinteressent/innen selbst oder von ihren Angehörigen ausgingen. In lediglich 30% der Fälle wurden die Menschen mit Behinderung bzw. ihre Angehörigen aktiv. Der Großteil der Anfragen (knapp zwei Drittel aller Anfragen) ging auf die Initiative von gesetzlichen Betreuer/innen oder Leistungsanbietern zurück (vgl. ebd., 10). Betrachtet man die Personengruppe der Budgetnehmer/innen nach ausgewählten Merkmalen (vgl. dazu ebd., 12), zeigen sich Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten zu anderen Modellvorhaben: Eine erste Besonderheit ist bei61
Die Autoren verweisen dabei auf eine außerordentlich hohe Bewilligungsquote von 80%; dahingegen lag die Bewilligungsquote beispielsweise in Baden-Württemberg bei nur 42% (vgl. Windheuser u.a. 2006, 8). Inwiefern dies allerdings mit den bereits vor der Antragstellung wirksamen Zugangsbeschränkungen (keine Persönlichen Budgets im stationären Kontext, Höchstgrenze von etwa 850€) zusammenhängen könnte, sei an dieser Stelle nur beiläufig erwähnt.
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spielsweise, dass im niedersächsischen Modellprojekt etwas mehr Frauen als Männer unter den Budgetnehmer/innen vertreten sind (55% Frauen, 45% Männer). Eine weitere Auffälligkeit ist der relativ hohe Anteil an Budgetnehmer/innen mit einer geistigen Behinderung (43% aller Budgetnehmer/innen), während der Personenkreis von Menschen mit einer körperlichen Behinderung deutlich unterrepräsentiert ist (lediglich 3 Personen bzw. 6%).62 Wie im rheinland-pfälzischen Modellvorhaben sowie in den bundesweiten Modellprojekten zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (vgl. Kapitel 4.2.6) sind jedoch auch in Niedersachsen Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Mehrzahl (51%). Hinsichtlich der Altersstruktur zeigen sich allerdings kaum Unterschiede zu anderen Modellvorhaben. Am stärksten ausgeprägt ist die Altersgruppe zwischen 33 und 46 Jahren (41%), gefolgt von Personen im Alter von 18-32 Jahren (23%) und 47-60 Jahren (21%). In Niedersachsen wurden aber auch über 60-jährigen Personen Budgets bewilligt (15%).63 Was die Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget betrifft, so wird in dem Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung einerseits beleuchtet, welche Vor- und Nachteile das Persönliche Budget aus Sicht der Budgetnehmer/innen hat, andererseits sollte aber auch herausgefunden werden, inwiefern das Persönliche Budget die Zufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation bedingt. Was die Vor- und Nachteile des Budgets betrifft, so steht an erster Stelle der Zugewinn an Flexibilität hinsichtlich der Auswahl der Leistungserbringer. Weiterhin wird mit dem Persönlichen Budget assoziiert, dass mehr Hilfe (als vorher) eingekauft werden kann oder dass die Hilfe bzw. Unterstützung „besser“ sei. Hingegen können die Informationen zur aktuellen Lebenssituation nicht immer direkt auf die Nutzung eines Persönlichen Budgets übertragen werden, wenn auch einige der befragten Budgetnehmer/innen das Persönliche Budget durchaus mit einer Verbesserung der allgemeinen Lebenszufriedenheit in Verbindung bringen. Häufig wird dabei relativ abstrakt auf eine Verbesserung der „Lebensqualität“ sowie auf psycho-soziales Wohlbefinden und gesundheitliche Stabilisierung verwiesen, ohne dass konkret erklärt wird, inwiefern das Persönliche Budget hierfür ursächlich ist. Einen deutlichen Bezug zum Persönlichen Budget findet man allerdings bei den Themen „Teilhabe“ und „Flexibilität“ sowie bei den Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus 62
63
Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass es sich bei diesen 3 Budgetnehmer/innen um einen Personenkreis handelt, den man eher als „mehrfach behindert“ bezeichnen müsste. Insofern wird konstatiert, dass „nach wie vor kein einziger Budgetteilnehmer nur eine körperliche Behinderung aufweist“ (Windheuser u.a. 2006, 13; Hervorhebung im Original). Als Gründe für die mangelnde Teilnahme von Menschen mit körperlicher Behinderung wird von den Autoren angegeben: zu hoher Unterstützungsbedarf oder zu hohes Einkommen/Vermögen. Über die Gründe dieser etwas seltsam anmutenden Alterskategorisierung liegen keine weiteren Informationen vor.
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einer stationären Einrichtung ausgezogen sind. An diesen Stellen wird deutlich, dass das Persönliche Budget mit einem Zugewinn an außerhäuslichen Aktivitäten und Wahlmöglichkeiten einhergeht (vgl. dazu ebd., 33f.). Schließlich sollte auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Einführung Persönlicher Budgets mit einer Veränderung der Angebotsstruktur einherging. Im Kern wurden im Projektzeitraum drei Entwicklungen dokumentiert: Erstens ließ sich ein Trend zur Differenzierung bestehender Angebote beobachten, zweitens hat sich die Anzahl der Anbieter ambulanter Dienste erhöht und drittens konnte eine Zunahme an ambulant betreuten Menschen mit Behinderung verzeichnet werden. Nach Ansicht der Autoren kann allerdings lediglich der Trend zur Differenzierung der Angebote eindeutig auf die Einführung Persönlicher Budgets zurückgeführt werden, während sich die anderen beiden Entwicklungen durchaus auch unabhängig von der Einführung Persönlicher Budgets vollzogen haben könnten (vgl. ebd., 72ff.). Kritische Würdigung des niedersächsischen Modellvorhabens Aufgrund der qualitativen Ausrichtung der empirischen Untersuchungen ergeben sich einige interessante Impulse für die vorliegende Arbeit. Besonders zu nennen sind dabei die qualitativen Auswertungen zu den Hintergründen der Budgetbeantragung und Erwartungen der Budgetnehmer/innen, die allerdings in Kapitel 5.1.3 näher dargestellt werden. Insofern liegen aus dem niedersächsischen Modellvorhaben zumindest in Ansätzen einige Erkenntnisse zu den subjektiven Perspektiven der Budgetinteressent/innen vor. Weitere Bedeutung für die vorliegende Fragestellung hat die Analyse der Initiative der Antragstellung. Es wird deutlich, dass Menschen mit Behinderung in den seltensten Fällen von sich aus aktiv wurden, wohingegen die Impulse zur Antragstellung größtenteils von Leistungsanbietern oder gesetzlichen Betreuer/innen ausging. Ein Ergebnis, das in der Form bisher noch in keinem Modellprojekt so deutlich aufgegriffen wurde und in Bezug auf die Frage nach den Motiven der Budgetbeantragung durchaus kritisch reflektiert werden muss.
4.2.5 Persönliche Budgets in Hamburg (2003-2005) Das eher in kleinem Rahmen und auch nur mit einer begrenzten Anzahl an Teilnehmer/innen umgesetzte Modellvorhaben in Hamburg wurde nicht wissenschaftlich begleitet. Wegen der geringen Informationen zum Modellprojekt in Hamburg sollen daher Zielsetzung und Ergebnisse nur kurz skizziert werden. Aufgrund einer Informationsfahrt nach Großbritannien und in die Niederlande im Jahre 1998, an der die damalige Behindertenbeauftragte des Stadtstaa-
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tes Hamburg sowie Vertreter/innen von Behindertenverbänden und Einrichtungsträgern teilnahmen, entstand in Hamburg die Idee, ein entsprechend angepasstes Persönliches Budgets für Menschen mit Behinderung zu entwickeln. Daraufhin wurde in einem von der Hamburger Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales vorgelegten Bericht im Jahr 1999 festgeschrieben, dass in den Bereichen, „in denen die Selbstbestimmung der behinderten Menschen bisher infolge institutionalisierter und pauschaler Sachleistungen unnötig eingeschränkt war, (…) Modelle persönlicher Budgets erprobt werden [sollen]“ (Eckert 2001, 102). Schließlich wurde eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern der Behörde sowie der Landesarbeitgemeinschaft für Menschen mit Behinderung (LAG), gegründet, die sich zum Ziel setzte, die Rahmenkonzeption sowie inhaltliche Ausrichtung eines Modellvorhabens zur Erprobung Persönlicher Budgets in Hamburg zu entwickeln. Dabei verzichtete die Arbeitsgruppe bewusst auf zu enge Regelungen; die Konzeption hinsichtlich des in Frage kommenden Personenkreises, Art der Leistungen usw. sollte möglichst offen sein. Folgende Eckpunkte wurden im Vorfeld formuliert (vgl. ebd., 103f.):
Das Persönliches Budgets sollte tendenziell allen behinderten Menschen offen stehen und nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sein; angestrebt wurde eine entsprechende Erfahrungsbreite, die eine Umsetzung Persönlicher Budgets bei möglichst unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit Behinderung vorsah. Es ging vor allem darum, verschiedene Leistungen auszuprobieren, die in ein Persönliches Budget – auch kombiniert miteinander – einfließen können (etwa Eingliederungshilfen, Leistungen zur Pflege, Hilfen zur Weiterführung des Haushalts usw.). Die Zusammensetzung sowie Höhe der Budgets sollten nach den individuellen Hilfebedarfen ausgerichtet werden. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets sollte ausdrücklich die Wahlfreiheit gewährleistet werden, Hilfen bei unterschiedlichen Leistungsanbietern einzukaufen, sei es hinsichtlich ambulanter, teilstationärer oder stationärer Hilfen. Eine regelmäßige Begleitung und Unterstützung der Budgetnehmenden (Budgetassistenz) sollte ebenfalls als Hilfebedarf anerkannt und entsprechend abgesichert werden, um insbesondere Menschen mit sogenannter geistiger und/oder mehrfacher Behinderung die Nutzung eines Persönlichen Budgets zu ermöglichen. Diese Begleitung und Unterstützung wurde während des Modellversuchs von der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen (LAG) erbracht. Maßstab der Bewertung des Modellvorhabens sollte ausdrücklich die Bewertung der Budgetnehmenden sein. Die subjektive Einschätzung der Budgetnutzer/innen war dahingehend zu betrachten, inwiefern sich deren Lebensbedingungen verbessert haben. Andere Zielsetzungen, wie etwa
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
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Kosteneinsparungen auf Seiten der Kostenträger sollten das Modellprojekt nicht mit Erwartungen überfrachten oder gar bestimmen. Die Rückkehr zur Sachleistung sollte jederzeit gewährleistet sein.
Auch in dem Hamburger Modellvorhaben stand eine Verschränkung von verschiedenen Fragestellungen an. Neben den Wirkungen auf Seiten der Budgetnutzer/innen (Eigenverantwortlichkeit, stärke Dispositionsspielräume) ging es insbesondere auch um die Bewertung, inwiefern der individuelle Bedarf durch eine Pauschalisierung von Leistungen gedeckt werden kann, wie sich die Einführung Persönlicher Budgets auf die Entwicklung der Sozialhilfeausgaben auswirkt und ob sich eine Verbesserung der Verwaltungsverfahren erzielen lässt (vgl. Gitschmann 2004, 179). Der Stadtstaat Hamburg initiierte schließlich eine Modellerprobung zwischen Anfang des Jahres 2003 und Sommer 2005. Auf der Grundlage der Verordnung nach § 101a BSHG sollte es in Hamburg allen behinderten Menschen, die einen Anspruch auf Eingliederungshilfe haben, ermöglicht werden, ein Persönliches Budget zu beantragen. Neben einem Solchen Anspruch auf Leistungen der (ambulanten) Eingliederungshilfe war eine weitere Voraussetzung, dass die Budgetnehmer/innen volljährig sind, in einer eigenen Wohnung in Hamburg leben und eigenverantwortlich mit dem Budget umgehen können (was an die Zugangsvoraussetzungen in Großbritannien erinnert): „Der Antragsteller muss eine Willenserklärung abgeben und in der Lage sein, das Budget zielgebunden einzusetzen und selbstständig zu verwalten. Dabei kann durchaus Unterstützung durch eine dritte Person erfolgen und im Rahmen des Arbeitgebermodells durch eine zusätzliche Pauschale finanziert werden. Es dürfen allerdings keine Zweifel daran bestehen, dass der Antragsteller grundsätzlich am Projekt teilnehmen kann, wie beispielsweise durch unwirtschaftliches Verhalten, mehrfache Mittellosigkeit, Überschuldung“ (Wacker u.a. 2005, 70).
Durch eine Hilfeplankonferenz sollte schließlich der Unterstützungsbedarf der Antragsteller/innen ermittelt werden. Im Rahmen dieser Konferenz wurden Ziele, Inhalt der Unterstützung sowie der Geldbetrag festgelegt. Die Höhe des Budgets richtete sich dabei nach verschiedenen Budgetposten. Dabei kann sich das Gesamtbudget aus folgenden Teilpauschalen zusammensetzen (ebd.):
„Pädagogische Betreuung im eigenen Wohnraum, Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, Haushaltshilfe, Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, Persönliche Assistenz.“
152
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
Zu Beginn des Modellvorhabens wurde die Zielsetzung formuliert, bis zu 100 Budgets im Bereich der ambulanten Eingliederungshilfe zu erproben (vgl. Gitschmann 2004, 178f.). Allerdings lief die Einführung Persönlicher Budgets nur zögerlich an. Bis Ende März 2004 konnten gerade einmal sieben Persönliche Budgets realisiert werden (vgl. Wacker u.a. 2005, 71) und bis zum Ende der Modellerprobung wurden insgesamt 18 persönliche Budgets bewilligt (vgl. Metzler u.a. 2007, 35).
4.2.6 Das bundesweite Modellvorhaben „Erprobung Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (2004-2007) Zeitpunkt und Hintergrund der Modellerprobung, Ziele und Konzeption der wissenschaftlichen Begleitung Zwischen Oktober 2004 und Juli 2007 wurde in einem bundesweit ausgerichteten Modellvorhaben in 14 einzelnen Modellprojekten die Einführung Persönlicher Budgets erprobt. Im Unterschied zu anderen regionalen Modellprojekten war es das erklärte Ziel des bundesweiten Modellvorhabens, insbesondere Persönliche Budgets umzusetzen, die trägerübergreifend konzipiert sind, d.h. aus Leistungen verschiedener Rehabilitationsträger (z.B. Sozialhilfeträger, Krankenkassen, Agentur für Arbeit usw.) bestehen. Insofern stellt das Modellvorhaben „Erprobung Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ eine Besonderheit in der Reihe der beschriebenen Modellprojekte dar. Die einzelnen Modellprojekte wurden dabei von einem Forschungsverbund bestehend aus dem Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der „Lebenswelten behinderter Menschen“ (Z.I.E.L.) an der Universität Tübingen, der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen, sowie der Universität Dortmund, Fakultät für Rehabilitationssoziologie, wissenschaftlich begleitet. Auftraggeber der wissenschaftlichen Begleitforschung war das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Die vorliegende Arbeit basiert auf der Auswertung der im Rahmen dieser wissenschaftlichen Begleitforschung erhobenen empirischen Daten. Aus diesem Grunde werden Vorgehensweise, Art der Befragungen und Datenbasis an anderer Stelle noch ausführlich beschrieben (Kapitel 6.2). Die nachfolgende Darstellung soll hingegen einen Überblick über Zielsetzung der wissenschaftlichen Begleitforschung, Anzahl und Ausgestaltung der bewilligten Budgets in den verschiedenen Modellprojekten sowie über den Personenkreis der Budgetnehmer/innen geben; ergänzend werden einige ausgewählte Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung vorgestellt. Eine ausführliche Dokumentation der Ergebnisse kann dem Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung entnommen werden (vgl. Metzler u.a. 2007).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
153
An der bundesweiten Modellerprobung beteiligten sich insgesamt 14 Modellregionen aus acht verschiedenen Bundesländern. Die Umsetzung von Persönlichen Budgets erfolgte dabei auf der Basis unterschiedlicher regionaler Vorrausetzungen und Gegebenheiten. So waren Großstädte vertreten wie Berlin, München und Düsseldorf, genauso aber auch relativ ländliche Regionen wie beispielsweise der Bezirk Mittelfranken oder die Landkreise Groß-Gerau, Marburg-Biedenkopf, Trier-Saarburg und Bernkastel-Wittlich. Neben diesen räumlichen Differenzen können die beteiligten Modellregionen aber auch durch unterschiedliche Projektorganisationen und verschiedene Herangehensweisen und Schwerpunktsetzungen charakterisiert werden. Tabelle 3 gibt einen Überblick über die 14 Modellregionen: Modellregionen Bayern Berlin Hessen Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
Mittelfranken München/Oberbayern Friedrichshain-Kreuzberg (u.a. Bezirke) Groß-Gerau Marburg-Biedenkopf Bielefeld Düsseldorf Bernkastel-Wittlich Trier Trier-Saarburg Magdeburg (u.a. Kreise/Städte) Schleswig-Flensburg Segeberg Gera
Tabelle 3: Modellregionen im bundesweiten Modellvorhaben zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (Quelle: Metzler u.a. 2007, 42) Als Kernziel der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte wurde zu Beginn des Modellvorhabens festgeschrieben:
154
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
„…förderliche und hinderliche Bedingungen für die Leistungserbringung in Form eines Persönlichen Budgets zu identifizieren und hieraus praxisnah Handlungsempfehlungen für den Gesetzgeber, die Leistungsträger und Leistungserbringer abzuleiten“ (ebd., 39).
Die wissenschaftliche Begleitforschung war von Anfang an mehrdimensional angelegt und sollte verschiedene Akteursgruppen in den Blick nehmen. Entsprechend wurden nicht nur unterschiedliche Personengruppen befragt, sondern auch verschiedene Erhebungsinstrumente eingesetzt (vgl. dazu ausführlich Kapitel 6.2). Im Sinne der oben genannten Zielsetzung sollten dabei insbesondere die Gestaltung Persönlicher Budgets sowie die jeweiligen Bewilligungsverfahren und Umsetzungsbedingungen in den einzelnen Modellregionen beleuchtet werden. Auf Seiten der Budgetnehmer/innen ging es schließlich vor allem darum, die Wirkungen Persönlicher Budgets zu verdeutlichen. Daneben interessierte aber auch, welche Bedeutung die Einführung Persönlicher Budgets für Leistungsanbieter hat, zumal diesen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten im Kontext der regionalen Infrastruktur zukommt. Zudem sollte die wissenschaftliche Begleitung nicht nur summativ angelegt sein, sondern auch formative Elemente beinhalten.64 Aus diesem Grunde bestand die Aufgabe der Begleitforschung neben der Betrachtung und Bewertung der Wirkungen Persönlicher Budgets insbesondere in der Beratung der einzelnen Modellregionen während der Einführung und Umsetzung von Persönlichen Budgets. Durch die Teilnahme der Mitarbeiter/innen der wissenschaftlichen Begleitforschung an regionalen Projektgruppen sowie der Durchführung überregionaler Workshops konnten die Ergebnisse regelmäßig rückgekoppelt und Beratungspro64
Eine zusammenfassende Auswertung zum Abschluss des Projekts sollte Aufschluss über Umsetzung und Wirkung des Persönlichen Budgets geben. Zum Zwecke der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation wurden verschiedene Erhebungs- und Dokumentationsinstrumente entwickelt, die in den einzelnen Modellregionen allerdings über den gesamten Projektverlauf hinweg zum Einsatz kamen. Dabei sollten immer wieder Zwischenauswertungen vorgenommen werden, um die Ergebnisse den Vertreter/innen der Modellprojekte zurückzukoppeln, etwa zur Optimierung der Verfahrens- und Bewilligungsabläufe oder zur Verbesserung der Beratungspraxis und Gewinnung weiterer Budgetinteressent/innen. Insofern beinhalteten die durchgeführten Erhebungen auch Aspekte einer formativen Evaluation. Die im Sinne einer formativen Evaluation und Projektbegleitung anfallenden Aufgaben der wissenschaftlichen Begleitforschung erstreckten sich dabei von der konkreten Beteiligung an konstituierenden Sitzungen regionaler sowie überregionaler Arbeitskreise und Projektgruppen zum regelmäßigen Erfahrungs- und Meinungsaustausch über die kontinuierliche Rückkopplung und Kommunikation von (neuen) Ergebnissen in Form von Berichten, Vorträgen oder im Internet (die Projekthomepage www.projekt-persoenliches-budget.de wurde mittlerweile eingestellt) bis hin zur kooperativen Entwicklung von Informationsmaterialien, Verfahrenshilfen oder Instrumentarien (vgl. dazu die ausführliche Darstellung der verschiedenen Phasen der wissenschaftlichen Begleitung in Metzler u.a. 2007, 58ff.).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
155
zesse initiiert werden. Wesentliche Themen solcher Projekttreffen und Workshops waren beispielsweise das Erleichtern des Zugangs zu Persönlichen Budgets, der Abbau von Hemmnissen und Vorbehalten, die Informationspolitik, die Bedeutung von regionalen Angebotsstrukturen, das Antragsverfahren, die jeweiligen Verfahren der Bedarfsfeststellung und Budgetbemessung, Gestaltung von Zielvereinbarung sowie Erfahrungen mit der Verwendung der Budgets. Leistungen, Budgetbemessung und Höhe der Budgets Im Unterschied zu anderen Modellvorhaben (mit Ausnahme des badenwürttembergischen Modellprojekts) wurden im Rahmen der Bundesmodellprojekte auch Persönliche Budgets in der Zuständigkeit verschiedener Leistungsträger sowie – wenn auch nicht im dem ursprünglich intendierten Umfang – trägerübergreifend konzipierte Persönliche Budgets bewilligt. Dabei konnten Persönliche Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger, der Rentenversicherung, des Integrationsamts, der Agentur für Arbeit und der Kriegsopferversorgung und -fürsorge umgesetzt werden. Wenn auch nicht als zuständige, aber zumindest als beteiligte Leistungsträger, flossen zudem Leistungen der Pflegeversicherung, der Krankenkasse und der Jugendhilfe in einige Persönliche Budgets ein. Betrachtet man jedoch die quantitative Verteilung der verschiedenen Leistungsträger, so zeigt sich, dass allein 94% aller Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfe bewilligt wurden. Entsprechend dominieren „Ambulante Eingliederungshilfen im häuslichen Bereich“ und „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ unter den bewilligten Budgets. Trägerübergreifende Budgets konnten nicht in dem erwünschten Maße umgesetzt werden. 95% aller dokumentierten Persönlichen Budgets wurden in Einfachzuständigkeit bewilligt, meist in der Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers. Mit einer Anzahl von nur 44 Budgets beläuft sich der Anteil trägerübergreifend konzipierter Persönlicher Budgets auf nur 5% an allen bewilligten Budgets. An diesen 44 Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets ist wiederum in allen Fällen der Sozialhilfeträger beteiligt, in 43 Fällen ist er der beauftragte Leistungsträger. Betrachtet man schließlich noch die jeweiligen Trägerkombinationen, zeigt sich, dass über zwei Drittel dieser trägerübergreifend konzipierten Persönlichen Budgets aus Leistungen der Sozialhilfe und der Pflegeversicherung bestehen. Die restlichen Kombinationen entfallen auf Sozialhilfeleistungen und entweder Leistungen der Krankenkasse, Leistungen der Integrationsämter, Leistungen der Agentur für Arbeit oder Jugendhilfeleistungen. In drei Fällen wurden ferner Budgets bewilligt, an denen auch mehr als zwei verschiedene Leistungsträger beteiligt sind.65 Aufgrund des quantitativen Übergewichts von Sozialhilfe65
Für ausführliche Informationen zu den verschiedenen Kombinationen und bewilligten Leistungen siehe Metzler u.a. 2007, 89ff.
156
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
leistungen in Kombination mit Leistungen der Pflegeversicherung dominieren „Hilfen zur Pflege“, „Ambulante Eingliederungshilfen“ und „Pflegegeld“. Was die Budgetbemessung betrifft, so wurden in den einzelnen Modellregionen möglichst vielfältige Erfahrungswerte gesammelt und gegenübergestellt. In der Praxis zeigten sich dabei auch unterschiedliche Verfahren und Zielvorstellungen, die jedoch im Grunde einem der beiden Pole „Pauschalierung“ auf der einen Seite oder einer exakten individuellen Bemessung des Budgets (z.B. in Form von Fachleistungsstunden) auf der anderen Seite zugeordnet werden können. In einigen Fällen wurden beide Verfahrenswege auch miteinander kombiniert. Entsprechend ergeben sich drei idealtypische Bemessungsmodalitäten (vgl. ebd., 141ff.):
Das Persönliche Budget wird anhand exakt ermittelter Zeiteinheiten, die den individuellen Unterstützungsbedarfs abbilden sollen, bemessen (z.B. Stunden pro Woche oder Monat). Die Kalkulation des Persönlichen Budgets erfolgt dann durch die Multiplikation der benötigten Stunden mit den entsprechenden Stundensätzen. Dabei werden für verschiedene Dienste und Unterstützungsleistungen durchaus auch verschiedene Stundensätze zugrunde gelegt.66 Das Persönliche Budget wird als Pauschalbetrag bewilligt, welcher sich an vordefinierten Hilfebedarfsgruppen orientiert. Das Persönliche Budget stellt eine Kombination dieser beiden Verfahren dar und setzt sich aus exakt ermittelten „Stundensätzen“ (z.B. für ambulante Betreuung) und „Pauschalbeträgen“ (z.B. für zusätzliche Freizeitaktivitäten, Teilnahmegebühren an Kursen oder Mitgliedsbeiträge für Sportstudios) zusammen.
Es zeigte sich hierbei, dass alle drei Bemessungsansätze entsprechende Vor- und Nachteile haben, so dass die Frage nach dem „optimalen“ Weg der Budgetbemessung nicht ohne Weiteres beantwortet werden kann, wenn auch eine leichte Präferenz für pauschale Beträge in den Empfehlungen der wissenschaftlichen Begleitforschung zu erkennen ist.67 66
67
Stundensätze für qualifizierte professionelle Fachkräfte (Fachleistungsstunden) betragen üblicherweise zwischen 30€ und 40€ pro Stunde. Stundensätze für nicht-professionelle Leistungserbringer liegen jedoch selten höher als 10-15€ (vgl. Metzler u.a. 2007, 143). Der an (Fach-) Leistungsstunden orientierte Ansatz hat beispielsweise den Nachteil, dass die Budgetbemessung ständig angepasst werden muss, wenn sich der Unterstützungsbedarf auch nur geringfügig ändert. Dies führt mitunter zu Mehraufwand auf Seiten der Leistungsträger und zu Verunsicherung auf Seiten der Budgetnehmenden. Weiterhin ist auch die Nachweiserbringung in der Regel äußerst exakt zu führen, was wiederum zu Mehraufwand beiträgt. Pauschalen sind hingegen als Korridore zu verstehen, die nicht nur zu einem geringeren Aufwand in der Bewilligung, Nachweiserbringung und Kontrolle beitragen, sondern auch größere Spielräume in der Budgetverwendung eröffnen (vgl. Metzler u.a. 2007, 145).
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
157
Ein Persönliches Budget wurde dabei in den Modellregionen im Durchschnitt mit 1.041€ bemessen. Trotz dieses hohen Durchschnittswerts betrugen allerdings über drei Viertel aller Budgets weniger als 1.000€ im Monat. Dieses Phänomen kommt dadurch zustande, dass einige besonders hohe Beträge den Durchschnittswert verzerren (der gegen solche Verzerrungen unanfälligere Median beläuft sich hingegen auf etwas über 500€). Auffallend ist daher auch die enorme Spannweite der Verteilung. So erstreckten sich die Beträge von 36€ bis hin zu 13.275€. Die relativ große Streuung ergibt sich insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Leistungen, die in ein Persönliches Budget eingingen. In höheren Budgets sind in der Regel Leistungen zur häuslichen Pflege enthalten, während Persönliche Budgets, die ausschließlich aus Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bestehen, relativ niedrig sind. Trägerübergreifende Persönliche Budgets wurden generell deutlich höher bemessen. Die Unterschiede schlagen sich daher auch in der Art der Behinderung nieder. Menschen mit körperlicher Behinderung erhielten im Schnitt deutlich höhere Budgets als Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung. Die Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets wurden allerdings wiederum schwerpunktmäßig von Menschen mit einer körperlichen Behinderung nachgefragt, und in diesen Budgets sind häufig Hilfen zur Pflege integriert. Nachfrageentwicklung, Personenkreis der Budgetnutzer/innen und Wirkungen Was die Nachfrageentwicklung betrifft, so kann diese zu Anfang des Projekts noch als verhalten bezeichnet werden. Im weiteren Projektverlauf entwickelte sich die Bewilligung Persönlicher Budgets jedoch äußerst dynamisch. Dabei verdreifachte sich beispielsweise die Anzahl der Persönlichen Budgets binnen eines Jahres zwischen Januar 2006 und Januar 2007 (vgl. Abbildung 5). Bis zum Abschluss der Datenerfassung im Mai 2007 konnten schließlich in den Modellregionen 494 Persönliche Budgets dokumentiert werden.
158
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
500 450 Anzahl bewilligter Budgets
400 350 300 250 200 150 100 50 0 vo r 2005
1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4. 1. Q uartal Q uartal Q uartal Q uartal Q uartal Q uartal Q uartal Q uartal Q uartal 2005 2005 2005 2005 2006 2006 2006 2006 2007
B e willig te B ud g e ts im Ze itre ih en v e rg le ic h (n=4 7 8 )
Abbildung 5:
Entwicklung der Budgetbewilligungen in den Modellregionen im Zeitvergleich (Quelle: Meyer, Rauscher 2007a, 4)
Zusätzlich zu den 494 bewilligten Persönlichen Budgets in den Modellregionen wurden seit April 2006 noch weitere Persönliche Budgets außerhalb der Modellregionen dokumentiert. Grund dafür war der Erlass einer Verwaltungsrichtlinie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales („Richtlinie für die Gewährung von Zuschüssen zu dem projektbezogenen Mehraufwand, der Leistungsträgern im Rahmen der Bewilligung von Persönlichen Budgets in der Modellphase entsteht“ vom 7. April 2006), aufgrund dessen alle Leistungsträger in der gesamten Bundesrepublik Deutschland einen Zuschuss zu ihrem Verwaltungsaufwand erhalten, wenn sie Persönliche Budgets bewilligen. Voraussetzung für den Erhalt des Zuschusses war allerdings, dass die bewilligten Budgets dokumentiert und die Unterlagen der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Verfügung gestellt werden (vgl. Metzler u.a. 2007, 61). Bis zum Ende der Datenerfassung im Mai 2007 gingen daher zusätzlich zu den Dokumentationsformularen aus den Modellregionen noch insgesamt 353 weitere Dokumentationen von bewilligten Budgets außerhalb der Modellprojekte ein. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung wurden diese schließlich ebenfalls mit in die Auswertung einbezogen, um dadurch ein größeres Datenfundament vorhalten zu können. Aus diesem Grunde beläuft sich die Gesamtzahl aller dokumentierten Persönlichen Budgets bis zum Ende des Projektszeitraums auf insgesamt 847 und die im Rahmen des Abschlussberichts vorliegende Auswertung
159
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
bezieht sich auf diese Gesamtzahl an Persönlichen Budgets. Die folgenden Tabellen 4 und 5 geben einen Überblick über die jeweilige Anzahl aller bewilligten Persönlichen Budgets innerhalb und außerhalb der Modellregionen: Modellregionen des Projekts „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“
Anzahl bewilligter Budgets
Mittelfranken
97
München/Oberbayern
12
Berlin
Friedrichshain-Kreuzberg (u.a. Bezirke)
88
Hessen
Groß-Gerau
20
Marburg-Biedenkopf
42
Bielefeld
32
Düsseldorf
14
Bernkastel-Wittlich
32
Trier-Saarburg
35
Trier
32
Sachsen-Anhalt
Magdeburg (u.a. Kreise/Städte)
22
Schleswig-Holstein
Schleswig-Flensburg
17
Segeberg
28
Gera
23
Bayern
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Thüringen
Gesamt: Alle Modellregionen
494
Tabelle 4: Anzahl der bewilligten Budgets in den Modellregionen (Quelle: Metzler u.a. 2007, 78) Die jeweiligen Unterschiede in den einzelnen (Modell-) Regionen bzw. Bundesländern lassen sich dabei vermutlich aufgrund unterschiedlicher infrastruktureller Voraussetzungen wie der Breite der Informationspolitik oder dem Vorhandensein ambulanter Unterstützungsangebote erklären. Eine wichtige Rolle scheinen zudem Multiplikatoren wie Selbsthilfeorganisationen, gesetzliche Betreuer/innen oder auch engagierte Mitarbeiter/innen der zuständigen Leistungsträger zu spielen. Besondere Bedeutung kommt aber vor allem zwei Aspekten zu: Erstens einem gut zu erreichenden und in ausreichendem Maße zur Verfügung stehenden Angebots an Beratung sowie der Tatsache, dass in einigen der oben genannten Regionen bzw. Bundesländern bereits Modellprojekte zur Erprobung Persönlicher Budgets durchgeführt wurden (vgl. dazu ausführlich Meyer, Rauscher 2007a).
160
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
Regionen außerhalb der Modellprojekte (nach Bundesländer)
Anzahl bewilligter Budgets
Baden-Württemberg
68
Bayern
20
Hamburg
33
Hessen
1
Mecklenburg-Vorpommern
1
Niedersachsen
18
Nordrhein-Westfalen
26
Rheinland-Pfalz
154
Sachsen
25
Schleswig-Holstein
2
Überregional (Deutsche Rentenversicherung Bund)
5
Gesamt: Alle Regionen außerhalb der Modellprojekte
353
Tabelle 5: Anzahl der bewilligten Budgets in Regionen außerhalb der Modellprojekte (Quelle: Metzler u.a. 2007, 78) Ein wesentlicher Gegenstand der Begleitforschung war schließlich auch die Frage, inwiefern bestimmte Zielgruppen von der Nutzung Persönlicher Budgets ausgeschlossen werden oder ob das Persönliche Budget prinzipiell für alle Menschen mit Behinderung in Frage kommt. Aus diesem Grund galt der Betrachtung des Personenkreises der Budgetnehmer/innen besondere Aufmerksamkeit. Diese Betrachtung zeigt über alle 847 dokumentierten Budgets hinweg, dass Persönliche Budgets unabhängig von Art und Schwere der Behinderung und unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation beantragt werden können. Demnach lassen sich verschiedene Personengruppen mit unterschiedlichen Behinderungen, unterschiedlichen Alters und in unterschiedlichen Lebenslagen finden. Auch hinsichtlich des Geschlechts bestehen kaum Unterschiede (54% männlich, 46% weiblich). Im Vergleich zu anderen Modellvorhaben lassen sich einige Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede erkennen (vgl. Metzler u.a. 2007, 81ff.; Meyer, Rauscher 2007a):
Ähnlich dem rheinland-pfälzischen und dem niedersächsischen Modellprojekt sind auch in der bundesweiten Gesamtschau Menschen mit einer psychischen Erkrankung deutlich überrepräsentiert (42% aller Budgetneh-
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
68
69
70
161
mer/innen). Knapp ein Drittel der Budgetnehmer/innen (31%) sind Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und 19% Menschen mit Körperbehinderung. Die restlichen 7% wurden zu der Kategorie „sonstige Behinderung“ zusammengefasst (z.B. Sinnesbeeinträchtigungen, chronische organische Erkrankungen, Anfallserkrankungen oder Entwicklungsverzögerungen bei Kindern).68 Eine weitere Gemeinsamkeit zu anderen Modellprojekten ist die Tatsache, dass über drei Viertel aller Budgetnehmer/innen (77%) bereits bei der Beantragung des Persönlichen Budgets in einer eigenen Wohnung lebten (in der Regel alleine). Das restliche Viertel wohnte zum Zeitpunkt der Antragstellung mehrheitlich in einer ambulant betreuten Wohnform. Nur eine Minderheit der Budgetnehmer/innen zog laut den Informationen aus den Dokumentationsunterlagen im Zuge der Budgetbeantragung aus einer stationären Wohneinrichtung der Behindertenhilfe aus.69 Dies bestätigt noch einmal mehr, dass das Persönliche Budget von weitaus weniger Personen zum Zwecke eines Auszugs aus einem stationären Kontext genutzt wird als ursprünglich intendiert. Unterschiede zu den bisher beschriebenen regionalen Modellvorhaben lassen sich allerdings hinsichtlich der Altersgruppen und insbesondere in Bezug auf den Unterstützungsbedarf der Budgetnehmer/innen erkennen. Was die Altersverteilung betrifft, so sind in den Bundesmodellprojekten alle Altersgruppen vertreten und die Altersspanne reicht von zwei Jahren (zum Zeitpunkt der Dokumentation) bis hin zu 82 Jahren. 10% der Budgetnehmer/innen sind dabei unter 20 Jahren und 6% über 60 Jahre alt.70 Ein besonders auffälliger Unterschied ist jedoch, dass in den Bundesmodellprojekten auch Personen mit einem umfassenden Pflege- und Unterstützungsbedarf ein Persönliches Budget bewilligt wurde. Dies wird dadurch In Anlehnung an Metzler u.a. (2007, 117) sei darauf verwiesen, dass die Überrepräsentanz von Budgetnehmer/innen mit einer psychischen Erkrankung möglicherweise damit zusammen hängen könnte, dass die Mehrzahl der Persönlichen Budgets im Bereich der ambulanten Eingliederungshilfe bewilligt wurden. Betrachtet man etwa die Leistungsbezieher von ambulanten Eingliederungshilfen im Sachleistungsprinzip, so zeigt sich, dass vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe beziehen. Menschen mit körperlichen Behinderungen sind beispielsweise im Sachleistungssystem im Verhältnis gesehen wesentlich seltener Empfänger von Leistungen zur ambulanten Eingliederungshilfe. Wie sich jedoch in den Daten der Budgetnehmerbefragung noch zeigen wird, ist der Anteil derjenigen Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget beantragt haben, um aus einer stationären Einrichtung auszuziehen, deutlich höher. Das Durchschnittsalter der Budgetnehmer/innen liegt allerdings ähnlich wie in anderen Modellprojekten bei 36 Jahren, die größten Anteile entfallen schließlich auf die Altersgruppen 2029 Jahre (26%) und 40-49 Jahre (24%).
162
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
augenscheinlich, dass bei etwa einem Drittel der Budgetnehmer/innen noch eine oder mehrere weitere Behinderungen angegeben wurden, bei 28% der Budgetnehmer/innen ein Pflegebedarf vorliegt (davon in einem Drittel der Fälle die Pflegestufe III) und Budgets mit über 10.000 Euro im Monat bemessen wurden. Dies bestätigt obige Deutung, dass Persönliche Budgets unabhängig von Art und Schwere der Behinderung genutzt werden können. Neben den im Zentrum der Begleitforschung stehenden Antrags-, Bemessungsund Bewilligungsverfahren auf Seiten der Leistungsträger sollte aber insbesondere auch die Wirkung Persönlicher Budgets auf Seiten der Budgetnehmer/innen untersucht werden. Kern dieser Wirkungsanalyse waren Fragen zu den Veränderungen der Lebenssituation der Budgetnehmer/innen, zur Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget sowie zu den empfundenen Vor- und Nachteilen. Die Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden (vgl. dazu ausführlich Metzler u.a. 2007, 209ff.):
Die Antworten auf die Frage nach den (empfundenen) Veränderungen der Lebenssituation seit Bewilligung des Persönlichen Budgets zeigen ein durchaus positives Bild: Über drei Viertel der befragten Budgetnehmer/innen gaben an, ihr Leben hätte sich positiv verändert. Der Rest sah entweder keine Veränderung (10%), sowohl positive als auch negative Veränderungen (8%) oder Verschlechterungen (3%). Die wahrgenommenen positiven Veränderungen umfassen dabei die Themen „Aktivität“, „Wohlbefinden“, „Flexiblere Planung und Gestaltung der Unterstützung“ sowie „Selbstbestimmung“ und „Unabhängigkeit von Anbietern“. So berichteten einige Budgetnehmer/innen von einem Zuwachs an Aktivitäten und sozialer Teilhabe oder einer Verbesserung der Freizeitsituation und der sozialen Kontaktmöglichkeiten. Andere Budgetnehmer/innen benannten insbesondere eine Stabilisierung ihres psychischen und gesundheitlichen Zustands sowie ihres allgemeinen Wohlbefindens. Wieder andere stellten eine Verbesserung der Unterstützungssituation heraus, dergestalt, dass die Unterstützung wesentlich flexibler geplant und nachgefragt werden kann. Die durch das Persönliche Budget möglich gewordenen Entscheidungsfreiräume bei der Gestaltung und Auswahl der Unterstützungsleistungen und -personen wurden insgesamt als Bereicherung erlebt. Mit diesen Flexibilitätsgewinnen in Verbindung steht nicht selten auch ein wahrgenommener Zugewinn an Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Die „Kontrolle“ über das eigene Leben zu haben, wurde hierbei als wesentliche Verbesserung gesehen. Ferner verwiesen die Budgetnehmer/innen auf ein höheres Selbstbewusstsein und das Gefühl, nicht mehr nur „Bittsteller“ zu sein. Eine letzte Gruppe an Budgetnehmer/innen konnte
4.2 Modellprojekte zur Erprobung und Einführung Persönlicher Budgets
163
mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe realisieren, so dass auch dies als allgemeine Verbesserung der Lebenssituation beschrieben wird.71 Über zwei Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget72 hinweg äußerten sich die befragten Personen im Gros zufrieden: So gaben jeweils etwa 90% der Budgetnehmer/innen an, sie fänden das Persönliche Budget insgesamt „eine gute Sache" und sie würden sich durchaus nochmals für das Budget entscheiden. Betrachtet man schließlich noch die Fragen nach den Vor- und Nachteilen des Persönlichen Budgets, so zeigt sich ein weiteres positives Bild: Nahezu 90% der Budgetnehmer/innen sahen generell Vorteile. Die größte Rolle spielte hierbei die neu- bzw. wiedergewonnene Entscheidungsfreiheit, die Flexibilität in der Auswahl von Leistungserbringern, das Gefühl der Unabhängigkeit und Kontrolle sowie „passende(re) Hilfen“ und bessere Teilhabechancen.73
Letztendlich sollten auch die Wirkungen auf Seiten der Leistungsanbieter mit in den Blick genommen werden, d.h. inwiefern die Einführung Persönlicher Budgets Auswirkungen auf die Gestaltung und Ausrichtung der Angebote für Menschen mit Behinderung haben würde. Dabei sollte insbesondere im Hinblick auf eine bundesweite Einführung Persönlicher Budgets herausgefunden werden, welche Anforderungen sich diesbezüglich für die Leistungsanbieter abzeichnen könnten. In diesem Zusammenhang galt ein besonderes Augenmerk auch der Frage, ob sich neue Anbieter am Markt sozialer Dienstleistungen etablieren bzw. inwiefern bestehende Anbieter ihr Angebotsspektrum erweitern, modifizieren und modularisieren. Die zu diesem Themenkomplex dokumentierten Ergebnisse verweisen darauf, dass nur wenige Anbieter ihr Angebotsspektrum modifizieren oder erweitern mussten. Über ein Auftreten neuer Anbieter liegen hingegen kaum Informationen vor. Eine Befragung von Leistungsanbietern in den Modellregionen zeigte beispielsweise, dass über 50% aller Budgetnehmer/innen bereits schon vor der Bud71
72
73
Verschlechterungen werden hingegen insbesondere in dem höheren Aufwand und einer gestiegenen Verantwortung gesehen. Weiterhin wird die enge Zweckbindung des Budgets und rigide Nachweispflichten kritisch herausgestellt. In der Befragung wurden absichtlich zwei verschiedene Fragen zur Zufriedenheit und Zustimmung zum Persönlichen Budget gestellt, um die Antworttendenzen auf eine breitere Basis stellen zu können. Die Fragen waren im Einzelnen: „Was würden sie insgesamt sagen, ist das Persönliche Budget eine gute Sache für Sie?“ sowie „Wenn Sie sich nochmals entscheiden dürften, würde Sie sich wieder für das Persönliche Budget entscheiden?“ Nachteile wurden hingegen von einer nicht unerheblichen Gruppe an befragten Budgetnehmer/innen benannt. Dabei ging es im Wesentlichen um die Themen „Beantragungsverfahren“, „Budgetverwaltung“ sowie „Nachweiserbringung“, Planungsunsicherheiten und fehlende Spielräume aufgrund von Zweckbindung.
164
4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
getbeantragung von denselben Einrichtungen und Dienstleistern betreut wurden. In einigen dieser Fälle wird die Leistungserbringung zudem über eine sogenannte „Abtretungserklärung“ organisiert (d.h. das Budget wird direkt vom Leistungsträger an den Leistungserbringer überwiesen). Des Weiteren gaben 80% aller Leistungserbringer, die auch Budgetnehmer/innen betreuten, an, dass sie ihre bestehende Angebotspalette nicht verändern mussten. Zwar betonten die meisten der befragten Leistungsanbieter, dass die Einführung Persönlicher Budgets den Markt sozialer Dienstleistungen verändern werde, allerdings nicht in absehbarer Zeit. Dies gilt besonders für ländliche Regionen (vgl. ebd., 199ff.). Die Ergebnisse der Budgetnehmerbefragung zeigen einen ähnlichen Trend: Auf die Frage, wie die Budgetnehmer/innen zu den unterstützenden Personen und Diensten gekommen sind, gab die überwiegende Mehrheit der Befragten an, auf bereits bekannte Personen bzw. Einrichtungen zurückgegriffen zu haben. Weiterhin berichtete immerhin jede/r vierte befragte Budgetnehmer/in von Problemen, geeignete Anbieter in der unmittelbaren Region finden zu können (vgl. Metzler u.a. 2007, 195ff.; Meyer, Rauscher 2007b, 50f.). Aus diesem Grund lässt sich die Frage, inwiefern die Einführung Persönlicher Budgets tatsächlich zu einer Veränderung der Angebotslandschaft beitragen konnte, nicht abschließend beantworten. Zusammenfassung und Bedeutung für die vorliegende Arbeit Die im Rahmen der bundesweiten Erprobung zur Einführung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ gewonnenen Erkenntnisse basieren auf dem bislang umfassendsten Datenbestand zum Thema „Persönliches Budget“. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Anzahl der dokumentierten Budgets, sondern auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Regionen und spezifischen Umsetzungsbedingungen. Ferner wurde eine Vielzahl an Befragungen mit unterschiedlichen Akteuren durchgeführt (vgl. dazu auch Kapitel 6.2.). Die in diesem Rahmen durchgeführte Befragung von 196 Budgetnehmer/innen stellt die Basis der nachfolgenden empirischen Analyse der Nutzung Persönlicher Budgets dar (vgl. Kapitel 7). Die Befragungsergebnisse zeigen insgesamt deutlich, wie hoch die Zufriedenheit mit dem Persönlichen Budget ist. Angemerkt werden muss allerdings, dass einige der gesetzten Ziele nicht erreicht werden konnten: Zum einen blieb die Anzahl der bewilligten „Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets“ deutlich hinter den Erwartungen zurück, zum anderen lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, inwiefern es durch die Einführung Persönlicher Budgets zu einer Veränderung der Angebotsstruktur kommen wird. Dennoch bleibt im Vergleich zu anderen Modellprojekten festzuhalten, dass Persönliche Budgets in der Zuständigkeit verschiedener Rehabilitationsträger realisiert werden konnten. Die bewilligten Persönlichen Budgets bestehen dabei aus einer Vielfalt an unterschiedlichen Leistungen. Entsprechend wird ersichtlich, dass Persönliche Bud-
4.3 Zusammenfassung
165
gets in verschiedenen Lebenssituationen und von einem heterogenen Personenkreis genutzt werden können. Dies bestätigt auch der Befund, dass Persönliche Budgets unabhängig von Alter und Unterstützungsbedarf der Antragsteller/innen bewilligt wurden. Die Vielfalt der Lebenssituationen, aus denen heraus ein Persönliches Budget beantragt wurde, sowie die Heterogenität des Personenkreises, die ein Persönliches Budget nutzen wollten, stellt letztendlich Hintergrund und Ausgangspunkt der vorliegenden Auseinandersetzung dar.
4.3 Zusammenfassung – Persönliche Budgets in der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Ländern 4.3 Zusammenfassung Was die Realisierung und Umsetzung Persönlicher Budgets betrifft, so zeigt ein europaweiter Vergleich deutliche Unterschiede zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien, Schweden und den Niederlanden. Die Unterschiede gehen dabei auf die in diesen Ländern bereits seit längerem bestehenden Erfahrungen im Umgang mit Persönlichen Budgets sowie auf die jeweils verschiedenen sozialpolitischen Rahmenbedingungen zurück. Innerhalb Deutschlands wurden in den letzten zehn Jahren verschiedene Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets durchgeführt. Auch in dieser Hinsicht können Unterschiede konstatiert werden, etwa im Hinblick auf Zugangsvoraussetzungen oder Personenkreis der Budgetnehmer/innen. Allerdings lassen sich auch Gemeinsamkeiten erkennen, z.B. was die budgetfähigen Leistungen, angestrebten Wirkungen und sozialpolitischen Hintergründe betreffen. Im Folgenden sollen die Unterschiede und Parallelen kurz zusammengefasst werden. Die wesentlichen Leitfragen sind: 1.
2.
Wie sehen die Zugangsvoraussetzungen zur Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets aus und wird der in Frage kommende Personenkreis von vorneherein festgelegt? Wie werden die Angebote angenommen und wie ist die Zufriedenheit damit einzuschätzen? Welche Wirkungen lassen sich identifizieren?
Voraussetzungen zur Inanspruchnahme und Personenkreis der Budgetnehmer/innen Insgesamt zeigt ein europaweiter Vergleich eine erhebliche Spannweite, was beispielsweise die Zielgruppen bzw. Zugangsvoraussetzungen potenzieller Budgetnutzer/innen betrifft. Entsprechende Unterschiede werden auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sichtbar. Die im europäischen Kontext gesammel-
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4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
ten Erfahrungen mit Persönlichen Budgets verdeutlichen dabei, dass es den „typischen“ Nutzer bzw. die „typische“ Nutzerin von Persönlichen Budgets nicht gibt, da die jeweiligen Verfahrenswege und Ausgestaltungen Persönlicher Budgets in verschiedene sozialrechtliche Traditionen und sozialstaatliche Versorgungsmuster eingebettet sind. Die erprobten Konzepte unterschieden sich dabei vor allem hinsichtlich der potenziell in Frage kommenden Personen sowie der jeweiligen Bemessung und Ausgestaltung der Persönlichen Budgets. Eine wesentliche Rolle spielen hierbei die Zugangsvoraussetzungen sowie die Verfahren der Budgetbemessung:
Neben einer Altersbeschränkung (z.B. in Großbritannien und Schweden) lassen sich Zugangsvoraussetzungen vor allem daran festmachen, inwiefern Menschen mit Behinderung in der Lage sein müssen, das Budget selbstständig zu nutzen und zu verwalten. Während es beispielsweise in den Niederlanden, in Schweden oder in den Modellvorhaben in Baden-Württemberg, Niedersachsen und in der bundesweiten Modellerprobung keinen Ausschluss bestimmter Personengruppen gibt, werden in Großbritannien sowie in dem Modellversuch in Rheinland-Pfalz eher restriktive Regelungen getroffen, „um so von vorneherein sicherzustellen, dass Budgetempfänger über ausreichende Fähigkeiten verfügen, das Budget selbst oder mit einer überschaubaren Hilfestellung für sich einzusetzen“ (Arntz, Spermann 2004, 18). Eine weitere Einschränkung der Nutzung Persönlicher Budgets ergibt sich aufgrund unterschiedlicher Bemessungsgrundsätze. In den Niederlanden und in Schweden gibt es beispielsweise kein „Ausgabenlimit“ (abgesehen von einer regionalen Deckelung in den Niederlanden) und die Höhe eines Persönlichen Budgets kann auch einer 24-stündigen Betreuung entsprechen. In Schweden wird dabei vollständig auf eine Orientierung an den Kosten einer vergleichbaren Sachleistung verzichtet (Ausgangspunkt der Budgetbemessung ist einzig und allein der subjektive Unterstützungsbedarf), während die Bemessung eines Persönlichen Budgets in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eng an die Sachleistung gekoppelt ist. Dies erschwert es beispielsweise Menschen mit einem vergleichsweise hohen Unterstützungsbedarf aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe auszuziehen, weil die Höhe des Persönlichen Budgets an den Kosten einer ambulanten Betreuung bemessen wird (also anhand der Höhe der Sachleistung nach einem Auszug). Analog der Empfehlungen der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ sollte daher die geltende Regelung zur Bemessung eines Persönlichen Budgets weniger restriktiv interpretiert werden, denn bei „einer Beendigung stationärer Betreuung werden in der Regel die Kosten der ambulanten Dienstleistungen (als ‚ohne das Budget zu bewilligende Leistungen‘),
4.3 Zusammenfassung
167
nicht jedoch die stationären Vergütungssätze zugrunde gelegt. Damit kann in vielen Fällen eine Bedarfsdeckung nicht erreicht werden“ (Metzler u.a. 2007, 244). Alles in allem deuten die Erfahrungen in den bisherigen Modellvorhaben in der Bundesrepublik Deutschland darauf hin, dass insbesondere Menschen mit einem sehr umfassenden Pflege- und Unterstützungsbedarf vielfach von den Leistungen eines Persönlichen Budgets ausgeschlossen werden. Dies gilt besonders für Verfahren, in denen Budgetstufen mit definierten Obergrenzen festgelegt wurden. Gemeinsamkeiten lassen sich hingegen im Hinblick auf eine Beschränkung Persönlicher Budgets auf Leistungen außerhalb stationärer Wohnformen sowie nicht-medizinischer Leistungen ausmachen. In allen europäischen Ländern sowie in der Bundesrepublik Deutschland sind medizinisch-therapeutische Leistungen sowie die Unterbringung in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung von der Nutzung im Rahmen eines Persönlichen Budgets ausgenommen. Was den jeweiligen Personenkreis der Budgetnutzer/innen betrifft, so gibt es auffällige Unterschiede zwischen den Niederlanden, Großbritannien, Schweden und der Bundesrepublik Deutschland: In den Niederlanden wird das Persönliche Budgets beispielsweise schwerpunktmäßig von Menschen mit körperlichen und sogenannten geistigen Behinderungen genutzt; Menschen mit psychischen Erkrankungen stellen eher eine Minderheit dar. Auch für Großbritannien und Schweden wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der Budgetnutzer/innen Menschen mit körperlichen Behinderungen sind. Die Ausgangsbedingungen sind dabei jedoch grundverschieden: Für Großbritannien ist beispielsweise anzunehmen, dass die Überrepräsentanz von Menschen mit körperlichen Behinderungen auf Zugangsbarrieren im Antragsverfahren zurückgeführt werden können (aufgrund dieser Zugangsbarrieren wird es beispielsweise Menschen mit geistigen Behinderungen und chronischen psychischen Erkrankungen strukturell erschwert, Direktzahlungen zu beantragen). In Schweden hingegen führte letztendlich eine Gesetzesinitiative für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf dazu, dass Persönliche Assistenz unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung beantragt werden kann. Davon profitierten wiederum vor allem Menschen mit körperlichen Behinderungen. Betrachtet man hierzu die bisherigen Ergebnisse in der Bundesrepublik Deutschland, stellt sich der Personenkreis der Budgetnehmer/innen etwas anders dar: In den meisten Modellprojekten wurde der Großteil der bewilligten Persönlichen Budgets von Menschen mit psychischen Erkrankungen genutzt. Menschen mit körperlichen Behinderungen waren hingegen vergleichsweise selten unter den Budgetnehmer/innen vertreten. Dies gilt insbesondere für die Modellvorhaben in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen sowie für die bundesweite Modellerprobung. Bedingt lässt sich dies aber auch im baden-württembergischen Modell-
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4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
projekt erkennen.74 Lediglich das Projekt PerLe stellt hierbei eine Ausnahme dar, weil insbesondere Personen mit einem komplexen Unterstützungsbedarf in die Erprobung Persönlicher Budgets miteinbezogen werden sollten. Erklärt werden kann diese Tendenz vor allem aufgrund der mehr oder weniger expliziten Ausrichtung der Modellprojekte auf Leistungen der (ambulanten) Eingliederungshilfe, denn es sind „vor allem Menschen mit psychischer Erkrankung (und Suchterkrankung), die Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe beziehen (…)“ (Metzler u.a. 2007, 117). Ein Einbezug anderer Leistungen, wie z.B. Pflegeleistungen oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, waren hingegen in einigen Modellvorhaben gar nicht vorgesehen. Dies sind allerdings Leistungen, die häufiger von Menschen mit körperlichen Behinderungen in Anspruch genommen werden. Nachfrageentwicklung, Positive Wirkungen und Zufriedenheit Die genaue Anzahl aller bewilligten Persönlichen Budgets in den Niederlanden, in Großbritannien und Schweden lässt sich schwer schätzen, dazu sind die Angaben zu wage und teilweise widersprüchlich. Schätzungen auf Basis von Zahlen aus den Jahren 2003 und 2004 gehen von zusammengerechnet knapp 100.000 Budgetnehmer/innen in allen drei Ländern aus (vgl. dazu Metzler, Rauscher 2007, 17). Zählt man die jeweils höchsten Angaben zur Anzahl der Budgetnehmer/innen aus den Kapiteln 4.1.1 – 4.1.3 zusammen, so müssten in diesen drei Ländern etwa 142.000 Menschen mit Behinderung ein Persönliches Budget nutzen (100.000 Budgetnehmer/innen in den Niederlanden, 27.000 Budgetnehmer/innen in Großbritannien und 15.000 Budgetnehmer/innen in Schweden). Dagegen fallen die Zahlen in der Bundesrepublik Deutschland eher bescheiden aus, wenn auch aktuellere Schätzungen von mittlerweile 3.000 bis 9.000 Persönlichen Budgets im Bereich der Eingliederungshilfe ausgehen (vgl. Metzler 2009, 28). Die bislang vorliegenden Evaluationen im europäischen Ausland belegen insgesamt, dass Menschen mit Behinderungen das Persönliche Budget positiv beurteilen. Dies wird nicht zuletzt auch darin deutlich, dass die Nachfrage oftmals die bestehenden Möglichkeiten übersteigt. Aber auch in den bisher durchgeführten Modellvorhaben zur Einführung Persönlicher Budgets in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich größtenteils positive Wirkungsaspekte herausstellen. Die positiven Wirkungen in der Wahrnehmung der Budgetnehmer/innen beziehen sich dabei im Wesentlichen auf folgende Aspekte: 74
Im baden-württembergischen Modellprojekt stellten Menschen mit psychischen Erkrankungen zumindest in der ersten Hälfte des Projektzeitraums noch die größte Gruppe unter den Budgetnehmer/innen dar. Letztendlich waren Menschen mit körperlichen Behinderungen vor allem unter den Sozialhilfebudgets vergleichsweise selten vertreten. Dass deren Anteil gegen Ende des Projektzeitraums über dem der Menschen mit psychischen Erkrankungen lag, lässt sich vor allem dadurch erklären, dass diese Personengruppe unter den Rentenversicherungsbugdets dominierte.
4.3 Zusammenfassung
169
Bei der Beantragung des Persönlichen Budgets geht es nicht selten um das grundsätzliche Prinzip der Wahlmöglichkeiten zwischen Geld- und Sachleistungen. Dies wird von den Budgetnehmer/innen als bereichernd empfunden. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das positiv bewertete Gefühl der Kontrolle über die Unterstützung und die direkte Einflussnahme auf die Tätigkeit der Leistungsanbieter. Gemeint ist damit auch eine Stärkung der Rolle als „Kunde“ und „Leistungsnachfrager“, die sich in Form einer „Kundensouveränität“ manifestiert (vgl. Arntz, Spermann 2004). Gemeinsam ist allen Erfahrungen zudem die Realisierung erweiterter Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung. Betrachtet man hierzu die Aussagen von Budgetnehmer/innen, fallen die Bewertungen des Persönlichen Budgets durchweg positiv aus. Geäußert werden eine hohe Zufriedenheit mit den Flexibilitätsgewinnen durch das Persönliche Budget sowie ein gesteigertes Selbstbewusstsein. Positiv herausgestellt werden auch die Möglichkeiten einer selbstständigen Lebensführung sowie Verbesserungen der sozialen Teilhabe. Auch konnten in vielerlei Hinsicht neue und individuell passende Formen der Unterstützung realisiert werden. Zudem gelang es einigen Menschen mit Behinderung, die davor in stationären Wohneinrichtungen gelebt haben, mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Kontexten auszuziehen. Ein Leben im Heim oder auch Heimaufenthalte konnten in vielen Fällen vermieden werden.
In der Summe zeigen die wissenschaftlichen Begleitstudien vielfach, dass die veränderte Rolle der Hilfeempfänger, die empfundene Kontrolle sowie die Selbstbestimmung eine wesentliche Bedeutung bei den Wirkungsaspekten einnehmen. Arntz und Spermann (2004) zitieren hier beispielhaft die Ergebnisse einer britischen Begleitstudie: „‚[The research project] found that direct payments offer disabled people a higher degree of choice and control. […]. People receiving direct payments had markedly higher levels of overall satisfaction with their support arrangements than service users‘” (Evans, Hasler 1996 zitiert in Arntz; Spermann 2004, 19).
Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der festgestellten Veränderungen der Angebotslandschaft in der Behindertenhilfe. Für die Niederlande, Großbritannien und Schweden lässt sich ein flächendeckender Ausbau ambulanter Unterstützungssysteme konstatieren. Insbesondere in Schweden leben beispielsweise Menschen mit Behinderung fast vollständig außerhalb von stationären Wohneinrichtungen. Dieses Bild stellt sich in der Bundesrepublik Deutschland jedoch anders dar. Zwar konnte in einigen Modellprojekten beobachtet werden, dass
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4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
einzelne Anbieter ihr Angebotsspektrum verändert haben, die bisherigen Erfahrungen bleiben jedoch, was Ausbau und Entwicklung differenzierter ambulanter Angebote betrifft, hinter den Erwartungen zurück. Eine abschließende Betrachtung der verschiedenen Modellprojekte in der Bundesrepublik Deutschland zeigt zusammenfassend: Die dargestellten Modellvorhaben können im Grunde im Hinblick auf zwei verschiedene Vorgehensweisen unterschieden werden: Erstens, inwiefern geplant war, eine möglichst breite Personengruppe anzusprechen, und zweitens, ob es Begrenzungen bei der „Reichweite“ Persönlicher Budgets geben sollte. Sowohl die jeweils einzubeziehenden Personengruppen als auch die zu berücksichtigenden Bedarfe wurden in den bisherigen Modellvorhaben unterschiedlich definiert. Weitere Fragestellungen wie die Anspruchsvoraussetzungen und jeweils relevanten Leistungen, die Verwendungsmöglichkeiten der Persönlichen Budgets sowie die benötigte Organisation der Unterstützung usw. sind mitunter von der Beantwortung dieser Frage abhängig. Alles in allem sind auf Basis der bundesdeutschen Modellprojekte noch keine systematischen Rückschlüsse auf die Bandbreite der Möglichkeiten der Budgetverwendung möglich. Dafür waren die Modellprojekte zu unterschiedliche ausgelegt. Dies gilt nicht nur für die jeweiligen Zugangsvoraussetzungen und die finanziellen Budgetausstattungen, sondern auch für die Nutzungsmöglichkeiten (d.h. „budgetfähige“ Leistungen). Tabelle 6 zeigt diese Nutzungsvoraussetzungen nochmals in einer Zusammenstellung. In den bisherigen Modellprojekten in der Bundesrepublik Deutschland wird deutlich, dass vor allem ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger dominieren. Dazu gibt es zwei Erklärungen: Einerseits waren diese Leistungen in der Konzeption der dargestellten Modellprojekte oftmals explizit so vorgesehen; andererseits werden stationäre Leistungen entweder als zu teuer oder als nicht umsetzbar angesehen (eine Ausnahme bildet hier das Projekt PerLe, das explizit auf die Erprobung des Persönlichen Budgets im stationären Kontext ausgerichtet ist). Im Gegensatz zu den genannten europäischen Nachbarn gelang es daher in Deutschland bisher kaum, Menschen mit einem umfassenden und komplexen Hilfe- und Unterstützungsbedarf mittels eines Persönlichen Budgets in nennenswertem Umfang ein Leben außerhalb von stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zu ermöglichen. Nur in wenigen Fällen konnte ein Persönliches Budget bewilligt werden, das bedarfsdeckend und individuell so zugeschnitten war, dass Menschen mit Behinderungen ohne stationäre Unterstützung selbstständig leben können. Auch in Bezug auf allzu enge Kriterien was „individuelle Kompetenzen“ betrifft, die z.B. für die Selbstverwaltung eines Budgets gefordert werden, kann es zu einem Ausschluss bestimmter Personenkreise kommen. Insgesamt zeigt sich deutlich, dass die jeweiligen leistungsrechtlichen Voraussetzungen einen entscheidenden Einfluss auf die Rekrutierung von Budgetnehmer/innen hatten.
171
4.3 Zusammenfassung
Modellregion
Zeitraum
RheinlandPfalz
09/98 12/00
BadenWürttemberg
NordrheinWestfalen (PerLe)
Niedersachsen
Hamburg
Modellprojekte „TPB“
10/02 05/05
08/03 09/06 01/04 12/05 01/03 06/05
10/05 06/07
Anzahl Budgetnehmer/ innen 119
49
Budgetleistungen
Personenkreis
Ambulante Eingliederungshilfe (Sozialhilfeträger)
Schwerpunktmäßig Menschen mit psychischen Erkrankungen
Ambulante Eingliederungshilfe (Sozialhilfeträger) Teilhabe am Arbeitsleben (Rentenversicherung)
Relativ gleichverteilt Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung sowie Menschen mit psychischen Erkrankungen
18
Ausgewählte Leistungen stationärer/ ambulanter Eingliederungshilfe
Schwerpunktmäßig Menschen mit Mehrfachbehinderung
53
Ambulante Eingliederungshilfe (Sozialhilfeträger)
Schwerpunktmäßig Menschen mit psychischen Erkrankungen
18
Ambulante Eingliederungshilfe (Sozialhilfeträger)
k.A.
Schwerpunktmäßig ambulante Eingliederungshilfen, aber auch andere Leistungen in der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger 494
Leistungen anderer Leistungsträger (z.B. Integrationsamt, Bundesagentur für Arbeit)
Schwerpunktmäßig Menschen mit psychischen Erkrankungen
Trägerübergreifende Persönliche Budgets
Tabelle 6: Übersicht über Modellprojekte zum Persönlichen Budget in Deutschland (Quelle: Metzler 2006, 45; modifiziert und erweitert um die Modellprojekte „TPB“)
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4 Umsetzung von Persönlichen Budgets in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
Da für die vorliegende Arbeit insbesondere die Themen „Motive zur Budgetbeantragung“ und „Budgetverwendung“ relevant sind, sollen die zu diesen Themenbereichen vorliegenden Ergebnisse in einem weiteren Kapitel dargestellt werden. Ausführlich nachgegangen wird im folgenden Kapitel daher der Frage, warum sich die Budgetnehmer/innen für ein Persönliches Budget entschieden haben und welche Leistungen sie mit dem Budget finanzieren. Die Hintergründe der Budgetbeantragung sowie die Budgetverwendung werden dabei anhand der Ergebnisse aus den Modellprojekten in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Niedersachsen analysiert. Da detaillierte Informationen zu den Motiven der Budgetbeantragung aus den Modellprojekten in Hamburg und NordrheinWestfalen fehlen, wird nicht weiter auf diese Modellprojekte eingegangen.75 Die Ergebnisse der bundesweiten Modellerprobung werden ebenfalls ausgespart, weil die systematische empirische Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung und der Verwendung des Persönlichen Budgets auf Basis der im Rahmen des bundesweiten Modellvorhabens durchgeführten Budgetnehmerbefragung Gegenstand des siebten Kapitels ist.
75
Im Falle des Modellprojekts in Hamburg fehlen detaillierte Dokumentationen vollständig, weil das Modellprojekt nicht wissenschaftlich begleitet wurde. Zu den Hintergründen der Budgetbeantragung und der Budgetverwendung im Rahmen des nordrhein-westfälischen Modellvorhabens PerLe liegen zwar vereinzelt Informationen vor, jedoch ist der Zuschnitt dieser Modellerprobung als so speziell einzuschätzen, dass eine ausführliche Beschäftigung im Hinblick auf die hier vorliegende Fragestellung nicht zweckdienlich erscheint. Auch merken die Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Projekt PerLe selbst an, dass die meisten Interviewpartner/innen auf die Frage, warum sie das Persönliche Budget haben wollten, keine Antwort geben konnten (vgl. Wacker u.a. 2005, 137).
5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen – was weiß man über die individuellen Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung? 5
Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
Wie bereits in Kapitel 3 dargestellt, werden auf theoretischer Ebene vielfältige Erwartungen im Hinblick auf die Einführung Persönlicher Budgets formuliert, allerdings in der Regel von denjenigen Personen, die selbst keine Persönlichen Budgets nutzen. Aus diesem Grunde sollen in diesem Kapitel die Budgetnehmer/innen selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, denn die Motivation, ein Persönliches Budget zu beantragen und die Art und Weise, wie dieses Persönliche Budget eingesetzt wird, ist stets eingebunden in einen konkreten Lebenskontext, in dem das Persönliche Budget einen spezifischen Nutzen erfüllt. So zeigen die skizzierten Modellvorhaben bisher vor allem eins: Menschen mit Behinderung beantragen das Persönliche Budget im Grunde deswegen, weil sie sich damit zuallererst eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhoffen, durch die sie ihrer Vorstellung eines „normalen“ und selbstbestimmten Lebens einen Schritt näher kommen. Die Ergebnisse der bisherigen Modellvorhaben verdeutlichen zudem, dass die „Wirkungen“ Persönlicher Budgets insbesondere davon abhängen, wie diese Form der Leistungserbringung zu dem jeweiligen Lebenskontext der behinderten Menschen „in Passung“ tritt (vgl. Kastl, Metzler 2005, 11). Aus diesem Grunde scheinen die Gründe der Budgetbeantragung eher einer individuellen Logik zu folgen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die Nutzung eines Persönlichen Budgets eine Konsequenz individueller Gewohnheiten, Werte und biografischer Erfahrungen ist und nicht von allgemeinen (behinderungs-) politischen Motiven und/oder abstrakten ideologischen Beweggründen geleitet wird. Ebenso wenig entsprechen die Budgetnutzer/innen dem „Bild“ eines kalkulierenden und abwägenden „Kunden“ (vgl. Baldock 2004). Alles in allem liegen zu den Motiven der Budgetbeantragung aus Sicht der Budgetnehmer/innen vergleichsweise wenige und nur sehr undifferenzierte Informationen aus den genannten Modellvorhaben vor, insbesondere wenn es um die Frage geht, welche Funktion das Persönliche Budget in der konkreten Lebenssituation der Budgetnutzer/innen spielt. Dies gilt in noch stärkerem Maße
T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
für die detaillierte Betrachtung der jeweiligen Unterstützungsarrangements und deren Einbettung in den spezifischen Lebenskontext der Budgetnehmer/innen. Im Gegensatz zu den vielfach dokumentierten normativen Erwartungen an das Persönliche Budget sind Erklärungsansätze und Betrachtungen auf der individuellen Ebene der Budgetnutzer/innen bislang kaum expliziert worden und die Bewertung und Verwendung von Persönlichen Budgets werden in den beschriebenen Modellvorhaben in der Regel meist nur im Hinblick auf vorab definierte Erwartungen und Ziele des Modellprojekts untersucht. Eine empirische Betrachtung der jeweils spezifischen individuellen Motivlagen wird hierbei jedoch nicht oder nur ansatzweise berücksichtigt. Erklärt werden kann dies vermutlich dadurch, dass die wissenschaftliche Begleitung dieser Modellvorhaben in der Tradition einer als Evaluationsforschung angelegten Begleitforschung konzipiert ist, die darauf abzielt, bereits vorab definierte Indikatoren zur Wirkungsmessung heranzuziehen. Diese in der Zielsetzung der Begleitforschungsprojekte angelegte Verengung auf im Vorfeld festgelegte Indikatoren macht es vermutlich unmöglich, den Blick für individuell relevante Motive zu öffnen und entsprechende theoretische Erklärungen dafür zu finden. Mit anderen Worten: Die Konzentration der Evaluationsstrategien auf vorab definierte Indikatoren (was naturgemäß der Idee der Evaluation entspricht) erfasst die Budgetnutzung lediglich aus der Sicht der Evaluatoren, d.h. auf Basis vorab definierter Erwartungen. Diese Sichtweise muss aber nicht unbedingt den Erwartungen und Motiven der Budgetnutzer/innen entsprechen. Aus diesem Grunde soll in dem nachfolgenden Kapitel der Frage nachgegangen werden, warum die Budgetinteressent/innen ein Persönliches Budget haben wollten und welche Leistungen sie sich damit einkaufen (Kapitel 5.1). Damit in Zusammenhang steht schließlich auch der Versuch, das „Nutzungsverhalten“ der Budgetnehmer/innen zu beleuchten und zu typisieren (Kapitel 5.2). Diese Perspektive soll daraufhin den Rahmen für die nachfolgende empirisch begründete Typenbildung der Budgetnutzung abstecken.
5.1 Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung Was die Motive der Budgetbeantragung sowie die Art und Weise der Budgetverwendung betrifft, so liegen aus drei verschiedenen Modellvorhaben verwertbare Informationen vor. Im Folgenden wird beschrieben, welche Schlussfolgerungen aus den Modellprojekten aus Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Niedersachsen zu diesen beiden Themengebieten gezogen werden können.
5.1 Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung
175
5.1.1 Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung im rheinlandpfälzischen Modellvorhaben In der Dokumentation der wissenschaftlichen Begleitforschung zum rheinlandpfälzischen Modellvorhaben lassen sich nur indirekt Angaben zu den Motiven der Budgetbeantragung finden. Analysiert wurden lediglich die jeweils beantragten Hilfearten. Demnach stellten der überwiegende Teil der Budgetnehmer/innen (68% aller Budgetnehmer/innen) bereits im Vorfeld einen Antrag auf ein Persönliches Budget außerhalb einer Einrichtung oder des Betreuten Wohnens. Der Rest der Budgetnehmer/innen beantragte eine Förderung im Rahmen des Betreuten Wohnens, welche mit Hilfe eines Persönlichen Budgets arrangiert werden konnte76 (vgl. Kaas 2002, 89). Ziel war es also, mit Hilfe eines Persönlichen Budgets einen Auszug aus einer vollstationären Einrichtung bzw. aus dem Betreuten Wohnen zu realisieren oder aber die Unterstützung in einer privaten Wohnung bzw. im Betreuten Wohnen durch ein Persönliches Budget zu organisieren und damit eine selbstständige Lebensform aufrecht zu erhalten. In 24% der Fälle haben die Budgetnehmer/innen dann auch tatsächlich einen Auszug aus einer vollstationären Einrichtung vollzogen und in 2% der Fälle fand ein Auszug aus dem Betreuten Wohnen statt. Bei insgesamt 59% aller Budgetnehmer/innen konnte mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine Aufnahme in ein Wohnheim und bei 3% eine Aufnahme in das Betreute Wohnen vermieden werden. In den restlichen Fällen erhielten Budgetnehmer/innen, die im Betreuten Wohnen leben, ein Persönliches Budget zur Deckung eines Mehrbedarfs, weil ihr Bedarf über der durch das Betreute Wohnen abgedeckten Unterstützung lag (vgl. ebd., 102f.). Was die Budgetverwendung betrifft, so wurden die Persönlichen Budgets – entsprechend der Fokussierung auf den Bereich Wohnen – schwerpunktmäßig für Betreuung und Unterstützung im häuslichen Bereich verwendet. Dabei handelt es sich in der Regel um Leistungen, die dem Leistungsspektrum des ambulant betreuten Wohnens zugeordnet werden können (Gespräche führen, Erarbeitung von Konfliktlösungsstrategien, psychosoziale Betreuung, Hilfe bei Behörden- und Geldangelegenheiten, Unterstützung im Haushalt wie etwa Putzen, Einkaufen, Wäschepflege usw.). Einige Personen verwendeten einen Teil ihres Budgets jedoch auch für die Freizeitgestaltung.77 Einerseits handelte es sich 76
77
In sieben Fällen wurde allerdings kein spezifischer Antrag auf ein Persönliches Budget gestellt, sondern ursprünglich auf eine Aufnahme in eine vollstationäre Einrichtung bzw. ins Betreute Wohnen. Dabei stellte sich im Begutachtungsverfahren heraus, dass diese Personen die Voraussetzungen zur Inanspruchnahme eines Persönlichen Budgets erfüllen. Daraufhin nutzten diese sieben Personen ein Persönliches Budget im privaten Haushalt. Im Rahmen der Befragung durch die wissenschaftliche Begleitforschung des rheinlandpfälzischen Modellvorhabens wird ein Prozentsatz von etwas über 60% aller befragten Budgetnehmer/innen angegeben (vgl. Kaas 2002, 123).
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5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
hierbei um (bereits bestehende) Freizeitangebote für Menschen mit Behinderung, andererseits wurde mit dem Budget aber auch der Besuch kultureller Veranstaltungen, Konzerte, Kino, Hobbies oder Fahrtkosten finanziert. Daneben finden sich im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung auch weitere „exotischere“ Beispiele der Budgetverwendung: Eine Person beschrieb z.B. die Verbesserungen durch das Persönliche Budget damit, dass sie „sich mal ein Taxi leisten [könne], um in die Stadt zu fahren oder um Getränkekisten nach Hause transportieren zu lassen“ (ebd., 115). Andere Budgetnehmer/innen sahen sich mit Hilfe des Budgets in die Lage versetzt, „Nachbarn oder Freunden eine kleine Aufmerksamkeit als Dank für Gefälligkeiten geben zu können. Sie sehen sich dadurch nicht mehr so sehr in der Rolle der Bittsteller“ (ebd.). Die Ergebnisse der Befragung im Rahmen der rheinland-pfälzischen Begleitstudie zeigen ferner, dass die Budgetnutzer/innen ihr Budget nicht nur für Unterstützung im häuslichen Bereich einsetzen wollen, sondern durchaus auch ein Bedürfnis nach „individuellen“ Lösungen bzw. alternativen Wegen formulieren. So würden über ein Drittel der befragten Budgetnehmer/innen einen Teil ihres Persönlichen Budgets gerne für einen Urlaub ansparen. Ein weiteres Drittel „nannten die unterschiedlichsten Dinge, wofür sie gerne einen Teil ihres Budgets verwenden würden: um Rücklagen zu bilden, beispielsweise als Vorsorge für die eigene Beerdigung, zum Kauf elektrischer Geräte – wie Wäschetrockner, Fernseher, Videorecorder –, für Möbel, ein Handy, Inline Skater, für den Führerschein oder eine Fortbildung“ (ebd., 113f.). 5.1.2 Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung im badenwürttembergischen Modellprojekt Die Hintergründe der Budgetbeantragung sowie die Art und Weise der Budgetnutzung, d.h. für welche Leistungen und welche Leistungsanbieter das Budget verwendet wird, wurden im Rahmen des baden-württembergischen Modellprojekts anhand von qualitativem Fallmaterial intensiv und detailliert beleuchtet (vgl. Kastl, Metzler 2005, 101-162). Da sich sowohl der Personenkreis als auch die Nutzung der Persönlichen Budgets im Bereich der Sozialhilfe von den Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung deutlich unterscheiden (siehe Kapitel 4.2.2) erfolgt die Betrachtung der jeweiligen Motive der Budgetbeantragung sowie der Budgetverwendung getrennt nach den Bereichen Sozialhilfe und Rentenversicherung. Bei den Budgetnutzer/innen von Eingliederungshilfebudgets stellten quantitativ gesehen der Wunsch nach „Verselbstständigung“ und „Autonomisierung von professioneller Betreuung“ die wichtigsten Motive zur Budgetbeantragung dar. 27 von 37 Persönlichen Budgets in der Zuständigkeit der Sozialhilfe werden
5.1 Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung
177
im Abschlussbericht diesem Motivkomplex zugeordnet (vgl. ebd., 109ff.). Genau genommen handelt es sich um Budgetnehmer/innen, die im Zuge der Budgetbeantragung entweder einen Auszug aus einer stationären Wohnform bzw. aus dem elterlichen Haushalt anstrebten oder die bisherige ambulante Betreuung selbst organisieren wollten. Die größte Gruppe sind hierbei wiederum Personen, die vor der Budgetbeantragung in einer stationären Einrichtung gelebt haben: „Etwa die Hälfte [18 von 37 Personen] der Budgetnehmer/innen [im Bereich der Sozialhilfe] wohnte zuvor in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe, (…). Sie zogen alle in eine eigene Wohnung“ (ebd., 72). Eine wichtige Rolle für die Budgetbeantragung spielte auch der „Erhalt der bisherigen Wohnsituation“. Dieser Wunsch hatte dabei verschiedene Hintergründe. Genannt wurde beispielsweise der Tod der Eltern: „‚Die Eltern sind tot‘ – das steht bei den betroffenen Personen in engem Bezug zum Persönlichen Budget. Durch den Tod des noch verbliebenen Elternteils entfiel die zentrale Bezugsperson. Um ein Leben im bisherigen Wohnkontext zu ermöglichen, wurde das PB eingesetzt“ (ebd., 82). Ein eindrückliches Beispiel zweier älterer Brüder mit einer geistigen Behinderung verdeutlicht diese Motivlage, weil „deren energische Willensbekundung, unbedingt im elterlichen Haus wohnen bleiben zu wollen, überhaupt erst Anstoß für die Beantragung eines Persönlichen Budgets [war]“ (ebd., 96). Analog dem Kernziel des baden-württembergischen Modellprojekts steht das Motiv nach einer selbstständigen Lebensführung – sowohl im Sinne eines Auszugs in eine eigene Wohnung als auch im Sinne eines Erhalts einer eigenständigen Wohnsituation – durchaus in Verbindung mit dem Grundsatz „ambulant vor stationär“. Betrachtet man weitere in den Fallbeispielen dargestellte Beweggründe der Budgetbeantragung, zeigt sich zudem, dass es einigen Personen speziell um die Auswahl der unterstützenden Personen ging. Dabei sollte das Persönliche Budget oftmals dafür genutzt werden, restriktive Regelungen im Sachleistungsprinzip zu umgehen. Genannt werden kann hier das Fallbeispiel eines jungen Mannes mit einer psychischen Erkrankung, in dessen Fall das Persönliche Budget beantragt wurde, um eine bereits bestehende Betreuungssituation aufrecht zu erhalten. Das der Budgetbeantragung zugrunde liegende Problem bestand in diesem Zusammenhang darin, dass der junge Mann eine bereits bekannte Fachkraft für die pädagogische Betreuung beauftragen wollte. Diese Person wurde allerdings vom zuständigen Sozialhilfeträger nicht zugelassen, weil die Fachkraft bei einem Träger angestellt war, dessen Schwerpunkt die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung darstellt. Aufgrund der Tatsache, dass der junge Mann aber eine psychische Erkrankung hat, intendierte der Sozialhilfeträger, einen anderen Dienst für die Betreuung des jungen Mannes zu beauftragen. Mit Beantragung des Persönlichen Budgets konnte jedoch die gewünschte Betreuung trotzdem realisiert werden (vgl. ebd., 110ff.). Auch andere Beispiele machen deutlich, wie Budgetnutzer/innen sich Hilfe von bestimmten Personen einkauften, die sie bereits seit
178
5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
Jahren kennen (vgl. ebd., 115ff.). Diese Fälle zeigen dabei deutlich, dass es den Betroffenen weniger um das Ausüben einer „Kundenrolle“ geht, geschweige denn um einen direkten Einfluss auf den „Markt“ sozialer Dienstleistungen oder um einen Wechsel des Anbieters. Mit dem Persönlichen Budget sollte lediglich eine bestehende Betreuungssituation in Form einer Unterstützung durch bereits bekannte Personen aufrechterhalten bleiben – eine Suche nach anderen, möglicherweise sogar „billigeren“ Kräften, wäre in solchen Fällen undenkbar und sicher auch nicht von den Leistungsempfängern gewünscht. Die hier relevanten Motive und Hilfearrangements gründen in der Spezifik des jeweiligen Unterstützungsbedarfs und häufig stehen diese mit einem Auszug aus einer stationären Einrichtung in Verbindung. Wie das oben skizzierte Beispiel zeigt, stellt das Persönliche Budget in manchen Fällen eher eine Art „Notlösung“ gegenüber bürokratischen und rechtlichen Unwägbarkeiten im Sachleistungsprinzip dar und gerade in diesen Fällen ermöglicht das Persönliche Budget Flexibilitäts- und Möglichkeitsspielräume, die im herkömmlichen Sachleistungsprinzip so nicht gegeben wären. Ein weiteres grundlegendes Motiv bezieht sich insbesondere auf den Wunsch nach Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft oder einer „sinnvollen“ Freizeitgestaltung. Meist ist diese Intention jedoch Bestandteil eines allgemeinen Motivs zu Verselbstständigung und entsprechend ist der Großteil des Budgets für ambulante Betreuung geplant. Ein kleinerer Teil jedoch kann für soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten ausgegeben werden. Dabei lassen sich auch Budgetnehmer/innen finden, die Angebote von Einrichtungen nutzen, in denen sie früher bereits gelebt haben. Das Persönliche Budget wurde hierbei beantragt, um bereits bekannte Angebote auch nach dem Auszug aus einer Wohneinrichtung wahrnehmen zu können. Die Palette solcher Angebote erstreckt sich dabei von der Teilnahme an gemeinsamen Essen bis hin zu Gruppenangeboten wie Ausflüge, gemeinsame Freizeitaktivitäten usw. (vgl. ebd., 120ff.). Die Budgetverwendung im Bereich Sozialhilfe ist entsprechend der genannten Zielsetzungen und Motive schwerpunktmäßig in den Bereichen „ambulante Betreuung im häuslichen Bereich“ angesiedelt. Die dabei genutzten Unterstützungsleistungen beziehen sich in der Regel auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten (z.B. Unterstützung und Anleitung im Haushalt) sowie auf sozialpädagogische Betreuung in Form von Gesprächen, „Alltagsbegleitung“ und der Vermittlung alltagspraktischer Fähigkeiten. Je nach Lebenssituation und Hilfebedarf können aber auch spezielle Tätigkeiten anfallen, wie etwa die Unterstützung im Umgang mit „Finanzen“ und „Behördenangelegenheiten“, die Klärung von beruflichen Fragen, Motivationsförderung oder auch dem Auf- und Ausbau sozialer Netzwerke. Eine weitere relevante Leistungskategorie ist Unterstützung im Bereich „soziale Teilhabe“ und Freizeitgestaltung. Wie oben bereits erwähnt, setzten Budgetnehmer/innen einen Teil ihres Persönlichen Budgets dafür ein, verschiedene
5.1 Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung
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Angebote von Einrichtungen, in denen sie vor dem Auszug gelebt haben, auch weiterhin nutzen zu können. Die betreffenden Einrichtungen haben dafür oftmals ihren Leistungskatalog modularisiert, d.h. in Einzelleistungen differenziert und mit Preisen versehen, um so den Einkauf bestimmter Angebote ermöglichen zu können und auch transparent zu machen. Neben den über Einrichtungen angebotenen Freizeit- und Kontaktmöglichkeiten nutzten die Budgetnehmer/innen ihr Persönliches Budget aber auch außerhalb von Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die Palette reicht von sportlichen Aktivitäten über VHS-Kurse, Kosten für Internet und Computer, bis hin zu Eintrittskarten von verschiedenen Veranstaltungen wie einem Fußballspiel oder einem Formel-1-Rennen (vgl. ebd., 120ff.). Ein auffälliger Unterschied besteht weiterhin zwischen der Art und Weise, wie die Unterstützung organisiert wird, und der jeweiligen Motivation, die der Budgetbeantragung zugrunde liegt. Budgetnehmer/innen, die mit dem Persönlichen Budget eine Veränderung der Wohnsituation intendieren, beauftragten meist nur einen Anbieter, während Budgetnehmer/innen, denen es um den Erhalt der bisherigen Wohn- und Lebenssituation geht, ausschließlich auf einen „Mix“ aus verschiedenen Anbietern zurückgegriffen haben (vgl. ebd., 101). Erklärt wird dies vor allem durch den jeweils erreichten Grad an Autonomie und Eigenverantwortung gegenüber professioneller bzw. institutioneller Unterstützung. Ein entsprechend hoher Grad an Autonomie – was gleichzeitig auch Erfahrung mit einer selbstständige(re)n Lebensführung bedeutet – und das Vorhandensein von sozialen Ressourcen geht mit der Nutzung verschiedener Leistungsanbieter einher (vgl. ebd., 110). Wie im rheinland-pfälzischen Modellprojekt wurden auch im badenwürttembergischen Modellprojekt Bedürfnisse von Seiten der Budgetnehmer/innen formuliert, die über die im Rahmen des Modellprojekts formulierten Ziele und „übliche“ Budgetverwendung hinausgehen und die wiederum deutlich machen, welche Vielfalt an „individuellen“ Lösungen und alternativen Formen der Budgetverwendung möglich ist. Letztendlich verdeutlichen die hierbei geäußerten Interessen und Bedürfnisse der Budgetnehmer/innen, dass die Verwendungsmöglichkeiten Persönlicher Budgets keinesfalls ausgeschöpft und nach wie vor eine Vielfalt an Ideen denkbar sind, die einen spezifische Nutzen im Lebenskontext der Budgetnehmer/innen einnehmen. Beispielsweise folgt dem im Rahmen der Konzeption des baden-württembergischen Modellprojekts intendierten Ziel der Verselbstständigung in einigen Fällen auch der Wunsch, nun auch mit dem Partner bzw. der Partnerin in einer gemeinsamen Wohnung zusammenzuziehen. Dabei ist auch denkbar, dass beide Partner ein Persönliches Budget erhalten und für die Sicherung der benötigten Unterstützung in einer gemeinsamen Wohnung einsetzen (vgl. ebd., 91f.). Neben diesen verhältnismäßig „großen Bedürfnissen“ wurden aber auch eine Reihe an „kleinen Bedürfnissen“ geäußert, die vor allem im Bereich „Freizeit“ sowie „sozialer Kontakte“ angesiedelt sind. Die Be-
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dürfnisse repräsentieren dabei vielfältige subjektive Interessen und Bedarfslagen; sie reichen von der Teilnahme an Sportangeboten (Wandern, Gymnastik, Sportstudios, Rad fahren usw.) und diversen Kursen (Kochen, Tanzen usw.) über künstlerisch-musische Aktivitäten (z.B. in einem Chor singen, kulturelle Veranstaltungen besuchen) bis hin zu besonderen „Highlights“ (Ausflüge, Reisen, ein Fußballspiel besuchen, Rockkonzerte, Stadtfeste) oder ungewöhnlichen Anliegen wie ein „schnellerer Rechner“ oder ein „Boot“, mit dem ein als sozial isoliert beschriebener Mann einen nahe gelegenen See befahren kann (vgl. ebd., 93). Bei den Persönlichen Budgets im Bereich der Rentenversicherung geht es hingegen ausschließlich um den Bereich „Arbeit“ bzw. um berufliche Weiterbildung. Daher sind die Motive zur Beantragung von Rentenversicherungsbudgets ausschließlich darin zu sehen, dass sich für die Leistungsberechtigten bestimmte Vorteile in Bezug auf die Realisierungsmöglichkeiten einer beruflichen Weiterbildung ergeben haben. Besonders erwähnenswert sind hierbei die Beispiele von Personen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen ihren subjektiven Interessen und individuellen Neigungen entsprechenden Beruf erlernen wollten. Der „Charme“ der Budgetlösung liegt dabei darin begründet, dass mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine dreijährige Ausbildung realisiert werden kann, obwohl Leistungen zur beruflichen Weiterbildung nach § 37 SGB IX nicht länger als zwei Jahre finanziert werden können. Aus diesem Grunde wurde von dem angegangenen Rentenversicherungsträger eine Budgetlösung gewählt: Über ein Persönliches Budget konnte ein entsprechender Geldbetrag zur Verfügung gestellt werden, der normalerweise für eine zweijährige Umschulung gedacht ist. Mit diesem Geldbetrag kann dann ein Rehabilitand bzw. eine Rehabilitandin die gewünschte (dreijährige) Ausbildung finanzieren. Als Nachteil wird allerdings herausgestellt, dass durch die zeitliche Ausdehnung des für eine zweijährige Umschulung gedachten Gesamtbetrags auf einen Zeitraum von drei Jahren eine Art „Versorgungslücke“ entsteht. Diese Lücke konnte von den betreffenden Personen zum Teil aus „eigener Tasche“ (durch eine private Berufsunfähigkeitsversicherung) ausgeglichen werden, in anderen Fällen könnte sich allerdings durchaus auch eine prekäre finanzielle Situation einstellen (vgl. ebd., 102ff.). Gerade weil die budgetbeantragenden Personen diesen Nachteil aber in Kauf nahmen, wird wiederum deutlich, dass die Möglichkeitsspielräume, die mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets angestrebt werden konnten, die Nachteile aufwiegen. Die Budgetbeantragung steht daher im Kontext einer größeren Wahlfreiheit in der Auswahl der jeweils in Frage kommenden Leistungen und die Umstellung auf ein Persönliches Budget ermöglichte es den Leistungsberechtigten, eine „Ausbildung nach Wunsch“ zu realisieren. Im herkömmlichen Sachleistungsprinzip wäre den Leistungsberechtigten diese Möglichkeit tendenziell verwehrt geblieben (vgl. dazu auch Meyer 2006, 17).
5.1 Hintergründe der Budgetbeantragung und Budgetverwendung
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Bei den restlichen Rentenversicherungsbudgets besteht das Persönliche Budget beispielsweise aus Fahrtkostenpauschalen für berufliche Weiterbildungen (zusätzlich zum monatlich ausgezahlten Übergangsgeld): Das Budget wurde hierbei beantragt, um die Abwicklung der Zahlungen zu erleichtern bzw. die anfallenden Kosten am Monatsanfang verfügbar zu haben und nicht in Vorleistung treten zu müssen. Oder aber das Budget wurde zur Finanzierung bestimmter Voraussetzungen eingesetzt, die zu einer Erhöhung von Arbeitsmarktchancen bzw. zur Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit beitragen konnten (z.B. zur Finanzierung eines Führerscheins oder als „Starthilfe“ zur Eröffnung eines Restaurants).
5.1.3 Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung im niedersächsischen Modellvorhaben Die Erwartungen der Budgetinteressent/innen an das Persönliche Budget waren expliziter Bestandteil der empirischen Befragungen im Rahmen des niedersächsischen Modellprojekts. Insofern liegt eine Reihe an Erkenntnissen zu den Motiven der Budgetbeantragung und zur Budgetverwendung vor. Ein erster Zugang zu den Motiven der Budgetbeantragung eröffnet jedoch eine andere Fragestellung der Modellerprobung: Im niedersächsischen Modellvorhaben wurde ausgewertet, auf welche Initiative hin eine Anfrage auf ein Persönliches Budget gestellt wurde. Dabei wird deutlich, dass nur etwa 15% der Anfragen auf die Budgetinteressent/innen selbst zurückgehen, in weiteren 15% wurden Angehörige initiativ. Der Großteil der Anfragen stammte jedoch von gesetzlichen Betreuer/innen (31%) und Leistungsanbietern (33%). In 6% der Fälle ging die Initiative auf den Kostenträger zurück. In einer in diesem Kontext präsentierten Passage aus einem Interview mit einem Budgetnehmer wird deutlich, dass die Budgetbeantragung im Grunde genommen von der gesetzlichen Betreuerin ausging und nicht von dem Budgetnehmer selbst: „Mir ist es nicht leicht gefallen, das Persönliche Budget in Anspruch zu nehmen. Ich wollte das eigentlich erst gar nicht. Na ja, Frau X hat mich dann irgendwie überzeugt. Ich habe gemerkt, dass es vielleicht gut für mich sein könnte“ (Auszug aus einem Interview mit einem Budgetnehmer zitiert in Windheuser u.a. 2006, 10).
Letztendlich bestätigt sich dies auch in der Befragung der gesetzlichen Betreuer/innen, denn auch in anderen Fällen zeigte sich, „dass mehrere gesetzliche Betreuer in ihrer Eigenwahrnehmung das Instrument ‚Persönliches Budget‘ für ihre Klienten entdeckt und beantragt haben und sich in einer zentralen Rolle bei der Umsetzung des Budgets sehen“ (Windheuser u.a. 2006, 15f.; Hervorhebung im Original). Alles in allem verdeutlichen die qualitativen Interviews mit den
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Budgetnehmer/innen, dass die Motive zur Budgetbeantragung oftmals auf die „Überredungskunst“ der gesetzlichen Betreuer/innen oder der Leistungsanbieter zurückgehen und die jeweiligen Leistungsberechtigten das Persönliche Budget im Grunde gar nicht wirklich haben wollten – ein Ergebnis, das in anderen Modellvorhaben bisher noch nicht in der Tiefe dokumentiert wurde. Weitere Hinweise auf die Motive der Budgetbeantragung ergeben sich aus der Betrachtung der vorherigen Lebenssituation der Budgetnehmer/innen. Dabei zeigt sich, dass die meisten Budgetnutzer/innen bereits vor der Antragstellung in einer eigenen Wohnung gelebt haben. Nur sechs Personen (11%) realisierten mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus einer stationären Einrichtung (vgl. ebd., 14). Insofern spielte der Wunsch nach Verselbstständigung eine untergeordnete Rolle. Demgegenüber ging es der Mehrheit der Budgetnehmer/innen eher darum, in ihrer bereits bestehenden Selbstständigkeit unterstützt zu werden bzw. eine Heim- oder Klinikaufnahme zu vermeiden. Daneben werden im Rahmen der qualitativen Analyse der Budgetnehmerbefragung weitere Motive herausgearbeitet. So spielte beispielsweise insbesondere der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung im Umgang mit den gewährten Sozialleistungen eine Rolle bei der Budgetbeantragung. Windheuser u.a. (2006, 24) schreiben hierzu: „Oft betonen die Budgetnehmer jedoch schlicht und einfach den Nutzen der Regiemacht, zu der ihnen das Persönliche Budget verhilft (…).“ Eine weitere wichtige Bedeutung hat der Wunsch nach Unabhängigkeit von Anbietern, oftmals gepaart mit einer Unzufriedenheit mit vorherigen Leistungserbringern – darauf deuten weitere Interviewpassagen im Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitforschung des niedersächsischen Modellprojekts hin. Aus diesem Grunde – so die Autoren – wirke das Persönliche Budget „emanzipatorisch“ (ebd., 24). Exemplarisch dazu ein Auszug aus einer Interviewpassage: „Weil vorher, weiß ich nicht, die Dame, die ja vorher bei mir geputzt hat, (…). Die hat das ja alles nicht für voll genommen. Sie hat sich geweigert, mit mir einzukaufen. Sie hat nicht sauber gemacht richtig. Sie hat sich hier aufmüpfig verhalten, hier in meiner Wohnung. Hat mich angeschrieen. Daraufhin habe ich sie rausgeschmissen, weil so was muss ich mir in meiner eigenen Wohnung nicht bieten lassen. Entweder läuft es so, wie ich es gerne haben möchte oder es läuft gar nicht, weil dann mach ich meinen Kram allein. (…). Und jetzt ist es halt so, seit dem ich das halt auch selber bezahle und auch da bin, drinne bin, in diesem persönlichen Budget, läuft es auch.“ (ebd., 25).
Wieder andere Gründe beziehen sich auf die Möglichkeit, die unterstützenden Personen selbst aussuchen bzw. eine gewünschte Person direkt bezahlen zu können. Hierbei wird ein Beispiel erwähnt, in dem ein Budgetnehmer gezielt eine ihm vertraute Person auswählen wollte und das Persönliche Budget hierbei als eine Art „Alternativlösung“ benutzte:
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„Bei [Bezeichnung eines Leistungsanbieters], über die ich früher von Herrn Y betreut wurde, sollte es aus organisatorischen Gründen zum dritten Mal zu einem Betreuerwechsel kommen. Damit war ich nicht einverstanden. Herr Y schlug mir dann vor, ihn über das persönliche Budget direkt in Anspruch zu nehmen. Ich habe mich dazu entschieden, weil ich Herrn Y gerne behalten wollte (…)“ (ebd.).
Daneben wurde von einigen Budgetnehmer/innen noch Verbesserungen hinsichtlich sozialer Kontakte und gesellschaftlicher Teilhabe genannt, die sich im Bereich Freizeit manifestieren („auch mal ausgehen“, „irgendwas zusammen machen“). Alles in allem wird in den dargestellten Beispielen deutlich, dass die Motive zur Budgetbeantragung im Kontext der „typischerweise“ mit dem Persönlichen Budget in Verbindung stehenden Erwartungen nach mehr Selbstbestimmung und Teilhabe verwurzelt sind, aber auch relativ pragmatische Gründen eine Bedeutung haben (etwa eine bestimmte Person zu finanzieren, die sonst nicht hätte genutzt werden können). Daneben spielt aber auch der Einfluss anderer – insbesondere der gesetzlichen Betreuer/innen – eine Rolle bei der Beantragung eines Persönlichen Budgets. Was die Verwendung der Persönlichen Budgets betrifft, so liegen im Rahmen der dargestellten „Budgetgeschichten“ (vgl. ebd., 35ff.) Hinweise zu Art und Inhalt der eingekauften Leistungen sowie zu den jeweiligen Leistungserbringern vor; eine systematische Auswertung der Budgetverwendung fehlt allerdings. In den drei „Budgetgeschichten“ spielte Unterstützung und Anleitung bei alltagspraktischen Aufgaben (etwa im Haushalt, bei der Selbstversorgung usw.), psychosoziale Betreuung, Mobilitätshilfen sowie Begleitung in der Freizeit die Hauptrolle. Interessant in diesem Zusammenhang ist ferner, dass in zwei der drei Fällen auch oder sogar ausschließlich nicht-professionelle Leistungserbringer genutzt wurden. Betrachtet man die Frage, welchen Hilfebedarf die Budgetnehmer/innen haben und welche Leistungserbringer mit dem Persönlichen Budget bezahlt werden, lassen sich indirekt weitere Hinweise finden. Die Auswertung der in den Hilfeplangesprächen festgestellten Bedarfe zeigt, dass es in den meisten Fällen um eine Unterstützung bei der „alltäglichen Lebensführung“ (Haushaltsführung, Unterstützung bei Einkäufen und Zubereitung von Mahlzeiten, finanzielle und rechtliche Angelegenheiten usw.) geht; nahezu alle Budgetnehmer/innen haben in diesem Bereich Unterstützungsbedarf. Danach folgen die Bereiche „Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben“ (Freizeitgestaltung, Arbeit), „Emotionale und psychische Entwicklung“ (Umgang mit Angst, persönliche Lebensplanung usw.) sowie „Gestaltung sozialer Beziehungen“ (Partnerschaft, Freundschaften, Außenkontakte), die ebenfalls bei fast allen Budgetnehmer/innen angegeben wurden. Eine wichtige Rolle spielt ferner der Bereich „Gesundheitsförderung und -erhaltung“ (vgl. ebd., 16f.). Die genannten Bereiche zeigen deut-
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lich, dass es im Wesentlichen um die Sicherung der Versorgung (im eigenen Haushalt) und gleichzeitigen Verbesserung von sozialen Kontakten bzw. der gesellschaftlichen Teilhabe geht, Tätigkeiten, die „typischerweise“ dem ambulant betreuten Wohnen zugeordnet werden können. Weitere Informationen zur konkreten Verwendung des Budgets liegen noch in Bezug auf den Umgang mit Budgetresten vor. Hierbei zeigt sich, dass die verbleibenden Budgetreste im Wesentlichen für teilhaberelevante Aktivitäten verwendet wurden (Kurse, Mitgliedschaften, Sport, Kino usw.). In einigen Fällen wurden die Budgetreste aber auch für „Wohnungseinrichtung“, für Taxikosten oder für Güter des „alltäglichen Gebrauchs“ ausgegeben (vgl. ebd., 20). Was die Leistungserbringer betrifft, zeigt die Auswertung der Budgetnehmerbefragung folgendes Bild: Nur etwas weniger als ein Drittel aller Budgetnehmer/innen finanziert ausschließlich institutionelle bzw. professionelle Leistungsanbieter mit dem Persönlichen Budget, der größte Teil (36%) bezahlt ausschließlich Privatpersonen. Das restliche Drittel kauft sich hingegen Leistungen von professionellen Leistungserbringern als auch Privatpersonen ein. Differenziert betrachtet fällt hierbei auf, dass es insbesondere Budgetnehmer/innen mit einer psychischen Erkrankung sind, die sowohl professionelle Leistungserbringer als auch Privatpersonen nutzen (vgl. dazu ebd., 19f.). Die Ergebnisse des niedersächsischen Modellprojekts verdeutlichen zudem, dass die Leistungserbringer den Budgetnehmer/innen nicht selten bereits bekannt waren (vgl. ebd., 49f.). Dies lässt mitunter den Schluss zu, dass Budgetnehmer/innen den „Markt“ sozialer Dienstleister nicht systematisch nach (neuen) Anbietern sondieren, sondern eher auf bestehende Erfahrungen zurückgreifen. Die im Rahmen des Modellprojekts geäußerten Befürchtungen von Leistungsanbietern, „dass Dumpingpreise den Markt kaputt machen“ (ebd., 64), haben sich aufgrund dieser Orientierung an bestehenden Anbietern nicht bestätigt. 5.2 Typologien der Budgetnutzung Zwar lassen sich in den verschiedenen Modellvorhaben oftmals Zusammenfassungen der Budgetnutzer/innen zu Personengruppen finden, diese beziehen sich allerdings in der Regel auf personenbezogene Daten (etwa Alter, Geschlecht oder Art der Behinderung) oder auf die jeweiligen Leistungen, die im Rahmen eines Persönlichen Budgets genutzt werden. Abgesehen von diesen personenund leistungsbezogenen Daten wurde bislang kaum der Versuch unternommen, das Nutzungsverhalten zu typisieren. Ausnahmen stellen eine britische Untersuchung zur Nutzung von Direktzahlungen für pflegebedürftige ältere Menschen sowie das baden-württembergische Modellvorhaben dar. Die beiden Typologien zur Nutzung Persönlicher Budgets werden im Folgenden dargestellt.
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5.2.1 Nutzungsverhalten von Direktzahlungen am Beispiel von Menschen mit Pflegebudgets in Großbritannien Einige für die vorliegende Arbeit verwertbare Informationen finden sich in einer Untersuchung von Baldock (2004) zu der Art und Weise, wie in Großbritannien pflege- und hilfebedürftige ältere Empfänger/innen von Direktzahlungen für Pflege (payments for care) Unterstützungsformen arrangieren und Dienstleistungen auswählen. Auch wenn es sich hierbei um sogenannte „Pflegebudgets“ für pflegebedürftige Menschen über 60 Jahre handelt, können die Ergebnisse dafür genutzt werden, die Erwartungshaltungen von Nutzer/innen budgetierter Leistungen sowie die Einbettung der Unterstützung in deren Lebenssituation zu verstehen. Entsprechend verweist Baldock auf einen mangelnden Wissensstand in Bezug auf diese individuelle Perspektive der Nutzer/innen, d.h. hinsichtlich der Hintergründe und des Konsumverhaltens von Empfänger/innen von Pflegebudgets: „Relatively little is known about how users understand the new policies and about their ability to integrate them into their lives.”
Ausgehend von der Vermutung, dass es sich bei den Empfänger/innen von monetären Geldleistungen für Pflege um eine relativ homogene „Konsumentengruppe“ handelt, kam die Studie eher zu einem anderen Ergebnis: „(…) after six months, we observed that the people in our sample had constructed a wide variety of arrangements for, or ‚solutions‘ to, their care needs. Neither could this variety be explained in terms of needs or the availability of services. Payment for care and market mechanisms did play a substantial part in the arrangements that had been constructed, but their nature and frequency were a product of people‚s values, expectations and past experiences rather than their needs and their abilities to pay” (ebd., 42).
Mit Verweis auf die Erkenntnisse der Werbeforschung betont Baldock, dass Kaufentscheidungen (d.h. in diesem Fall Entscheidungen über den Einkauf von Unterstützungsleistungen) auf einem komplexen Zusammenspiel von Gewohnheiten, Wissen, individuellen Werten und (oftmals irrationalen) Gefühlen beruhen. Gleiches gilt auch für die Auswahl von Angeboten auf dem „Pflegemarkt“ und für die Organisation der Unterstützung. Dies würde Baldock zufolge auch erklären, warum es in Großbritannien nicht in dem erwünschten Maße zu einer Ausdifferenzierung von Angeboten auf dem Pflegemarkt gekommen ist, selbst wenn die „Marktteilnehmer“ über mehr oder weniger vollständige Marktkenntnisse verfügen:
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„We found a pattern of cultural and emotional obstacles to effective participation in the care market. Even where people knew of services or care products, needed them and could afford them, they still might find the prospect of buying them uncomfortable or inappropriate in some way. These, what might be called cultural and psychological blocks to the full flowering of the care market are complex and difficult to capture” (ebd., 43).
Die Ergebnisse der Studie von Baldock sind vor allem aufgrund des Versuchs einer Typisierung von vier verschiedenen „Konsumententypen“ sozialer Dienstleistungen bedeutsam für die vorliegende Arbeit. Auf Basis des empirischen Materials formuliert Baldock (ebd., 43ff.) vier verschiedene Typen: 1.
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„Consumerism“: Hierunter fallen Personen, die an ihre Selbstständigkeit und Eigenkontrolle gewöhnt sind; entsprechend lehnen Sie Leistungen ab, bei denen sie einen Kontrollverlust empfinden. Diese Personen fühlen sich als „Konsumenten“ und in der Regel werden private Unterstützungsformen bevorzugt. Dabei bewegen sich diese „Konsumenten“ relativ selbstsicher auf dem Markt sozialer Dienstleistungen und aufgrund der eigenen Initiative verstehen sie es, höchst effektive und passende Arrangements zu kreieren. Ein Beispiel dazu: “For example, one elderly couple, both of whom were disabled, had very good relations with a local taxi driver, a local building firm, a nearby grocer and a butcher (both of whom they persuaded to deliver to the house) and a number of neighbours who helped them in various ways in return for payments” (ebd., 44). “Privatism”: Bei diesem Typus handelt es sich um Personen, die sich relativ schwer auf dem Markt sozialer Dienstleistungen zurechtzufinden. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass eine Abhängigkeit von staatlichen Leistungen abgelehnt wird (diese werden als Almosen empfunden), andererseits besitzen diese Personen nach wie vor den starken Wunsch, für sich selbst sorgen zu können. Schließlich ist es dieser Personenkreis nicht gewohnt, die gewünschten sozialen Dienstleistungen zu finden, weil diese nicht – wie beispielsweise materielle Güter – einfach so im Laden gekauft werden können: „A privatised existence may work well when people are fit and the things they want are the products of mass consumerism. When they become ill and dependent and require products and services that are not available ‚off the shell‘ they have much more difficulty” (ebd.). „Welfarism“: Dieser Typus stellt eher eine Art „Haltung“ dar: Die Personen sehen sich als Teil eines Wohlfahrtsstaates und betrachten es als ihr legitimes Recht, staatliche Leistungen auch in Anspruch zu nehmen. Aufgrund eines in der Regel höheren Bildungsniveaus und eines besseren Ausdrucksvermögens formulieren diese Menschen ihre Bedürfnisse und Rechte und
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erhalten so einen unverhältnismäßig guten Zugang zu staatlichen Leistungen. Allerdings bestehen Vorbehalte gegenüber privaten Anbietern. „Clientalism“: Nach Baldock stellt dieser Typus den „klassischen“ Weg der Nutzung sozialer Dienstleistungen dar. Hierzu zählen Personen, die die von staatlicher Seite angebotenen Unterstützungsleistungen passiv und relativ „unkritisch“ in Anspruch nehmen. Die Angebote werden weder hinterfragt noch abgelehnt, sie werden als Selbstverständlichkeit hingenommen, vor allem so lange staatliche Leistungen und Unterstützungsformen in ausreichender Zahl vorhanden und umsonst sind: „This is the established modell of the post-war welfare State but it now exists more in the users‘ mind than it does in the real world of policy-makers and providers“ (ebd., 45).
Alle vier Typen formulieren unterschiedliche Ansprüche an Unterstützungsleistungen und versuchen auf verschiedene Art und Weise Zugang zu den bestehenden Angeboten zu bekommen. Trotz dieser Unterschiede gibt es eine Gemeinsamkeit: In allen vier Typen manifestieren sich biografische Erfahrungen und Werthaltungen, die auch das gegenwärtige Konsumverhalten beeinflussen. Diese Erfahrungen und Haltungen bedingen schließlich ein Konsumverhalten, das nur wenig dem Modell des „rational“ agierenden Kunden entspricht. Die Verhaltensweisen, Motive und Erwartungen der Nutzer/innen sozialer Dienstleistungen folgen damit einer ganz anderen Logik als die Intentionen, die beispielsweise von Seiten der Politik formuliert werden: „People responded in different ways and with different outcomes depending on their accumulated experience in using markets and their skills in doing so. People do not behave in the homogeneous and rational ways that policy makers who construct care markets expect” (ebd., 45).
Nach Baldock werden diese biografisch bedingten Werthaltungen und Erwartungen der Nutzer/innen völlig unterschätzt. Dies sieht er auch als Grund dafür an, warum die Wirksamkeit und Reichweite sozialpolitischer Veränderungen und sozialer Innovationen (wie es auch das Persönliche Budget darstellt) oftmals begrenzt bleiben. Eine weitere Schlussfolgerung der Untersuchung ist, dass die vielfältigen Unterstützungsarrangements nicht mit den üblichen Konzepten (z.B. ambulant vs. stationär; öffentliche vs. private Hilfen) erfasst und erklärt werden können, weil die eingeschlagenen Wege individuell ausgestaltet werden und nur wenig Ähnlichkeit mit den Konzepten und Erwartungen des Gesetzgebers haben (vgl. ebd. 47). Zuletzt sieht Baldock die Vorbehalte von Pflegebedürftigen, innovative Unterstützungskonzepte anzunehmen und umzusetzen, in einem Fehlen von gesellschaftlichen Erfahrungen mit solchen Konzepten begründet (ebd., 47f.). Dieser
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Gedanke ist durchaus auch auf den Bereich der Behindertenhilfe und insbesondere auf das Persönliche Budget übertragbar. Wie auch das Feld der Altenpflege spielte sich die Behindertenhilfe in der jüngsten Vergangenheit „versteckt“ vor der Öffentlichkeit ab. Dieser kulturelle Hintergrund macht es schwierig, neue, innovative und öffentlichkeitswirksame Konzepte zu entwickeln. Die Forderungen nach einer stärkeren Integration von pflege- oder hilfebedürftigen Menschen im Gemeinwesen und nach einem stärkeren Ausbau ambulanter Unterstützungsstrukturen stoßen hier auf ein Feld, auf dem bislang kaum Erfahrungen vorliegen. Die Einführung und Umsetzung solcher sozialen Innovationen wie es das Persönliche Budget darstellt, benötigen daher zunächst Zeit für gesellschaftliche Lernprozesse.
5.2.2 Lebensweltlich-biografisch orientierte Zugänge zur Budgetnutzung am Beispiel der baden-württembergischen Budgetnehmer/innen Sucht man nach Typologien der Budgetnutzung in den deutschen Modellprojekten wird der Anspruch einer detaillierten Analyse der individuellen Motive der Budgetnehmerinnen und Formen der Budgetverwendung am ehesten im badenwürttembergischen Modellvorhaben realisiert. Ursache dafür ist letztendlich der qualitative Zugang der empirischen Untersuchungen (welcher jedoch ein unbeabsichtigtes Resultat der geringen Anzahl an Teilnehmer/innen war; vgl. Kapitel 4.2.2) in Verbindung mit einem spezifischen Verständnis Persönlicher Budgets als etwas, „das in einem konkreten Lebensumfeld behinderter Menschen spielt und dessen Gelingen davon abhängig ist, wie dieses Instrument zu diesem Lebenskontext in Passung tritt“ (Kastl, Metzler 2005, 11). Im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung wird daher auf die Bedeutung der jeweiligen Lebenssituation und des biografischen Hintergrunds der befragten Budgetnehmer/innen verwiesen.78 Dieser biografische Hintergrund spielt letztendlich eine wichtige Rolle für die Entscheidung, ob das Persönliche Budget dafür genutzt wird, Veränderungen herbeizuführen oder um Bestehendes zu erhalten. Dieser Zweiteilung – Veränderung und Umorientierung vs. Erhalt von Bestehendem – kommt in der Betrachtung der Motive zur Budget78
In einer neuen Publikation von Kastl (2009) wird diese „lebensweltlich-biografische“ Perspektive aufgegriffen und weiterentwickelt. Am Beispiel einer intensiven Einzelfalldeutung der Budgetnutzung eines Budgetnehmers aus diesem Modellprojekt werden vier analytische Kriterien kombiniert und zu einer „soziobiografischen Perspektive“ integriert: biografische Daten, Informationen zu den sozialen Ressourcen sowie Angaben zur Lebenseinstellung und Lebensführung des Budgetnehmers (vgl. Kastl 2009, 71f.). Die Bedeutung fallrekonstruktiver Verfahren für das Verständnis der Nutzung Persönlicher Budgets wird in Kapitel 9.2 nochmals kurz aufgegriffen.
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nutzung im baden-württembergischen Modellprojekt eine Schlüsselrolle zu. Letztendlich ist diese Zweiteilung Ausgangspunkt der Typologie. Eine weitere Unterscheidung, die für die Typologie der Budgetnutzung im baden-württembergischen Modellprojekt bedeutsam ist, ist die Differenzierung zwischen Eingliederungshilfebudgets der Sozialhilfeträger und den Budgets der Rentenversicherung. Wichtig ist diese Unterscheidung deswegen, weil die Persönlichen Budgets der LVA Baden-Württemberg „schon von ihrer leistungsrechtlichen Einbettung her auf die Lebenssituation einer beruflichen Umorientierung bezogen [sind]“ (ebd., 100). Entsprechend können diese Budgets automatisch dem Pol „Veränderung und Umorientierung“ zugeordnet werden.79 Bei den Budgets in der Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers sind nach Ansicht der Autoren insbesondere zwei wesentliche Intentionen der Budgetnutzung erkennbar: Der einen Gruppe geht es bei der Beantragung und Nutzung eines Persönlichen Budgets vor allem darum, „einen unabhängig von den institutionellen Strukturen der Behindertenhilfe bereits bestehenden Lebenszusammenhang zu sichern, sein eigenes Leben weiter zu führen (kurz ‚Leben wie bisher‘)“, der anderen Gruppe geht es hingegen vordergründig um eine Veränderung ihrer bisherigen Wohn- und Lebenssituation, nämlich, „sich im Anschluss an eine meistens langjährige Lebensphase innerhalb von institutionellen Strukturen der Behindertenhilfe (stationäre Wohneinrichtung, ABW, aber auch Familienhilfe) auf den Weg in ein eigenes Leben zu machen, ein Weg, der zunächst über eine eigene Wohnung verläuft (kurz: ‚Leben nach dem Heim‘)“ (ebd.; Hervorhebungen im Original). Hinsichtlich der jeweiligen Funktion, die ein Persönliches Budget im spezifischen Lebenskontext der Budgetnutzer/innen einnimmt, schlagen die Autoren Kastl und Metzler drei verschiedene Typen vor, wobei die Dimensionen „Sozialhilfebudget“ und „Rentenversicherungsbudget“ wichtige Unterscheidungsmerkmale darstellen:
„Budgetnehmerinnen und Budgetnehmer mit einem Sozialhilfebudget, die bereits vor dem Beginn des Modellprojekts in einer Privatwohnung gelebt haben: Für sie geht es überwiegend darum, ihr eigenes Leben mit Hilfe des
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Von den Autoren der wissenschaftlichen Begleitstudie werden innerhalb der Rentenversicherungsbudgets noch vier Untergruppen benannt, die an dieser Stelle jedoch vernachlässigt werden, da alle vier Gruppen durch eine berufliche Umorientierung charakterisiert sind. Der Vollständigkeit halber jedoch einige Anmerkungen: Die Hälfte der Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung bestehen aus „ergänzenden Leistungen“ im Rahmen einer beruflichen Umschulung (Fahrtkosten, Lernmittel), ein Persönliches Budget soll dem Erwerb eines Führerscheins dienen (zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen) und der Rest sind Budgets, mit denen eine berufliche Ausbildung bzw. das Begründen einer selbstständigen Tätigkeit ermöglicht werden soll.
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Persönlichen Budgets zu sichern, weiter so zu leben, wie sie das bisher getan haben. Budgetnehmerinnen und Budgetnehmer mit einem Sozialhilfebudget, die vorher in einer stationären Einrichtung oder im Ambulant Betreuten Wohnen gelebt haben: Für sie geht es darum, (weitere) Schritte in ein eigenes Leben zu machen und sich mit Hilfe des Budgets zunehmend von institutionellen Strukturen so weit es geht zu lösen. Budgetnehmerinnen und Budgetnehmer, die nicht in ihrem alten Beruf arbeiten können und das Budget gezielt für die Finanzierung einer beruflichen Umorientierung nutzen [Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung]“ (ebd., 73).
Dieser Typologie liegen die im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung dargestellten Fallbeispiele zugrunde (vgl. ebd., 101-162), in denen facettenreich dargelegt wird, wie die Budgetnutzung aussieht und inwiefern das Persönliche Budget zur (gegenwärtigen) Lebenssituation der Budgetnehmer/ innen in „Passung“ tritt. Trotz dieser Vielfalt spiegeln die Ausführungen aber immer wieder die beiden Pole „Veränderung/ Neuorientierung“ sowie „Erhalt von Bestehendem“ wider. Dabei fällt zudem auf, dass sich die Budgetnehmergruppen hinsichtlich der jeweiligen Einbindung in soziale Netzwerke unterscheiden. Im Bereich der Eingliederungshilfebudgets verfügen beispielsweise die Budgetnehmer/innen, die mit dem Persönlichen Budget eine Verselbstständigung anstreben, kaum über entsprechende soziale Netzwerke, die diesen Verselbstständigungsprozess unterstützen können. Begründet liegt dies sicher auch darin, dass diese Personen vor der Budgetbeantragung teilweise bereits schon seit Jahren in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe gelebt haben: „Alle haben sie gemeinsam, dass nicht bereits ein durch Angehörige, Freunde, Partnerinnen/Partner oder Nachbarn gestütztes Leben auf sie wartet. Vielmehr geht es bei allen (…) darum, ein solches Netzwerk überhaupt erst aufzubauen und eine Wohnform zu begründen (…)“ (ebd., 109).
Im Gegensatz dazu verfügen die Budgetnehmer/innen von Eingliederungsbudgets, die das Persönliche Budget zum Erhalt einer selbstständigen Lebensführung einsetzen, sowie die Budgetnehmer/innen von Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung, oftmals über ein relativ dichtes Netz an sozialer Unterstützung und sozialen Ressourcen. Ein weiterer typologisch interessanter Zusammenhang besteht schließlich zwischen dem Vorhandensein von sozialen Ressourcen, dem Grad der Autonomie (d.h. der Möglichkeit einer selbstständigen Lebensführung) und der Art und Wei-
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se, wie Leistungen genutzt werden: Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe ihres Persönlichen Budgets eine Verselbstständigung anstreben (etwa einen Auszug aus einer stationären Wohnform), aber nur über wenig Erfahrungen mit einer selbstständigen Lebensform verfügen (etwa aufgrund langjähriger Hospitalisierungsbzw. Sozialisierungseffekte) und dadurch auch nur auf wenig bzw. keine sozialen Ressourcen zurückgreifen können, beauftragen meist nur einen Leistungsanbieter, wobei es sich oftmals um den gleichen Anbieter handelt, der die Budgetnehmer/innen auch bereits vor der Beantragung eines Persönlichen Budgets unterstützt hatte (z.B. im Rahmen stationärer Angebote).80 Es werden dann nicht selten Personen mit der Unterstützung beauftragt, die den Budgetnehmer/innen bereits aus der Einrichtung, in der sie vor dem Auszug gelebt haben, bekannt sind. Aufgrund oftmals fehlender sozialer Netzwerke greifen dann die Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget zur Verselbstständigung nutzen wollen, auf vertraute Betreuungspersonen zurück, sicher auch, um den Schritt in die Selbstständigkeit überhaupt erst wagen zu können. Bei all diesen Personen spielt das gewachsene Vertrauensverhältnis zu jenen Betreuungspersonen eine wesentliche Rolle und die „Beziehungen zu solchen Bezugspersonen haben sich in der Regel bereits im stationären oder teilstationären Setting entwickelt; den Budgetnehmerinnen und -nehmern ist es wichtig, dass diese Personen sie auf dem Weg in ihr neues Leben begleiten. (…). Die sozialen Ressourcen außerhalb dieser Strukturen (…) spielen dagegen (…) keine oder nur eine sehr geringe Rolle. Solche Netzwerke müssen bei nahezu allen Budgetnehmer/innen und Budgetnehmern dieser Gruppe überhaupt erst aufgebaut bzw. (neu) begründet werden“ (ebd., 124). Budgetnehmer/innen, die dagegen bereits selbstständig leben bzw. wohnen (und das Budget für den Erhalt dieser Lebenssituation einsetzen möchten) und zudem über ein hinreichendes soziales Netzwerk verfügen, nehmen eher verschiedene Leistungsanbieter in Anspruch, d.h. nutzen einen „Mix“ an verschiedenen Unterstützungspersonen bzw. -diensten (vgl. ebd., 101ff.). Auch wenn die im baden-württembergischen Modellprojekt vorgeschlagene Typologie ein sehr grobes Raster darstellt und sich die Typen vordergründig an der Trägerschaft der bewilligten Budgets orientieren, können verschiedene Überlegungen herausgearbeitet werden, die auch für die vorliegende Arbeit eine Bedeutung haben. Alles in allem spiegelt die Typologie im baden-württembergischen Modell-
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Es ist allerdings nicht klar, ob solche Hospitalisierungs- bzw. Sozialisierungseffekte in einem kausalen Zusammenhang mit der Nutzung von einzelnen Anbietern stehen. Dabei muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass auch emotionale Bindungen sowie ein oftmals jahrelang gewachsene Vertrauensverhältnis zu bestimmten Personen oder Diensten dafür verantwortlich sind, dass ein bestimmter Leistungsanbieter genutzt wird. Hierbei wäre eine Differenzierung oder Aufteilung in verschiedene Anbieter möglicherweise sogar kontraproduktiv (vgl. dazu auch das Fallbeispiel „Gioachino Lavorano“ bei Kastl, Metzler 2005, 110ff.).
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5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
projekt drei verschiedene Facetten der Budgetnutzung wider, die sich wiederum in verschiedene Dimensionen auffächern lassen:
Erstens gibt es Budgetnutzer/innen, die das Persönliche Budget beantragt haben, um damit ihr gewohntes Leben aufrechterhalten zu können. Im Grunde beinhaltet dieser Typus Personen, die mit dem Persönlichen Budget bestehende Unterstützung sichern und/oder erweiterte bzw. neue Unterstützungsarrangements kreieren wollen, um so ihren bisherigen Lebensstil beibehalten zu können. Die Vermeidung eines Heim- oder Klinikaufenthalts spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Erhalt (bestehender) sozialer Ressourcen und die Realisierung von subjektiv bedeutsamen Aktivitäten, die mit dem Lebensstil der Personen in Verbindung stehen. Dies zeigen auch die Fallbeispiele „Leben wie bisher – Persönliche Budgets zur Verhinderung einer stationären Betreuung“ (ebd., 129ff.). Indirekt stehen damit auch Bedürfnisse nach einer größtmöglichen Unabhängigkeit von professionellen Anbietern (z.B. aufgrund bestehender sozialer Ressourcen) und nach einer flexiblen Verwendung der Budgetmittel (z.B. zur Verwirklichung lebensstilrelevanter Aktivitäten) in Verbindung. Dafür spricht auch, dass diese Budgetnehmer/innen häufig verschiedene Leistungsanbieter miteinander kombinieren. Anderen Budgetnehmer/innen geht es primär um die Realisierung einer selbstständigen Lebensführung oder konkret um einen unmittelbar anstehenden „Verselbstständigungsprozess“. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets soll der Schritt in die „Selbstständigkeit“ ermöglicht werden und es müssen erst einmal Unterstützungsarrangements geschaffen werden, die eine solche Verselbstständigung möglich machen. Dazu gehört auch der oftmals notwendige Aufbau von Unterstützungsstrukturen und sozialen Netzwerken, die häufig gar nicht vorhanden sind (vgl. dazu die Fallbeispiele in ebd., 109ff.). Betrachtet man die jeweiligen Biografien, handelt es sich nicht selten um Menschen, die bereits eine „psychiatrische Karriere“ und/oder längere Aufenthalte in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe hinter sich haben (vgl. ebd., 79). Es kann dabei angenommen werden, dass der Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung in Kombination mit dem Fehlen sozialer Netzwerke und Ressourcen auch dazu führt, dass frühere Unterstützungsstrukturen (z.B. Angebote aus dem ehemaligen Heim, bereits bekannte Mitarbeiter/innen usw.) zunächst auch weiterhin genutzt werden, um diesen Verselbstständigungsprozess zu flankieren. Auch wenn der dritte Typus durch die Trägerschaft der Rentenversicherung dominiert wird, lassen sich ebenfalls wichtige Kernmerkmale herausfiltern: Im Grunde geht es um das Ermöglichen einer spezifischen Form der beruflichen Qualifizierung (z.B. eine 3-jährige Ausbildung anstatt einer 2-jährigen
5.3 Zusammenfassung
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Umschulung) zum Zwecke einer beruflichen Neu- bzw. Umorientierung, was nur durch ein Persönliches Budget realisiert werden konnte, weil die Bestimmungen im Sachleistungsprinzip solche Spielräume nicht zuließen (vgl. die entsprechenden Beispiele bei ebd., 101ff.). Aus diesem Grunde verweist die Budgetnutzung auf ein spezifisches Moment der „Passung“, d.h. auf das Ermöglichen individueller Lösungen (im Sinne einer Berufsausbildung nach Wunsch) sowie der „freien“ Auswahl der Dienstleister (im Sinne der Möglichkeit, die Ausbildung in einem selbst gewählten Lehrbetrieb absolvieren zu können). Persönliche Budgets können also individuelle Lösungen sowie passende Formen der Unterstützung ermöglichen, die im herkömmlichen Sachleistungssystem nicht realisierbar gewesen wären. 5.3 Zusammenfassung – welche Schlüsse können aus den Modellprojekten für eine empirische Betrachtung der Budgetverwendung gezogen werden? 5.3 Zusammenfassung Die Hintergründe der Budgetnutzung zeichnen sich durch eine Vielfalt an Lebenssituationen und Erwartungen an das Persönliche Budget aus. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten finden, was die Gründe der Budgetbeantragung und Art und Weise der Budgetverwendung betrifft. Diese Gemeinsamkeiten sollen abschließend zusammengefasst und den in Kapitel 3 herausgearbeiteten theoretischen Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets gegenüber gestellt werden.
Ein großer Teil der Budgetnehmer/innen versucht mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zu realisieren oder eine bereits bestehende selbstständige Lebensform aufrecht zu erhalten. Das Persönliche Budget wird demnach beantragt, um eine selbstständige Lebensführung dauerhaft aufrechterhalten zu können. Diese Art der Budgetverwendung lässt sich in allen dargestellten Modellvorhaben beobachten und stellt ein wesentliches Ziel der modellhaften Erprobung der Einführung Persönlicher Budgets dar. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten: Eine wesentliche Motivation, ein Persönliches Budget zu nutzen, ist der Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung. Damit in Verbindung steht häufig auch der Wunsch, unabhängig von professionellen Anbietern leben zu können. Dieser Wunsch nach Unabhängigkeit geht meist mit der Erwartung einher, über die Verwendung der bewilligten Sozialleistungen selbst entscheiden zu können. Insofern beinhaltet die Beantragung eines Persönlichen Budgets in manchen Fällen auch ein Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Diese Intentionen spiegeln sich vor allem in dem von Baldock vorgeschlagenen Typus
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5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
„Consumerism“ nieder. In den dargestellten Modellprojekten wurden diese Erwartungen von den Budgetnehmer/innen allerdings nur selten explizit benannt (lediglich im Abschlussbericht des niedersächsischen Modellvorhabens wird dieser Aspekt stärker betont). Insbesondere in dem baden-württembergischen Modellvorhaben wird deutlich, dass einige Budgetinteressent/innen ein Persönliches Budget beantragt haben, um damit eine bestimmte (meist bereits bekannte) Person mit der Unterstützung beauftragen zu können. Dieses hinter der Budgetbeantragung stehende Motiv verweist nur wenig auf eine „kritisch-rational abwägende“ Kundenrolle, sondern verdeutlicht eher die tragende Bedeutung gewachsener Vertrauensbeziehungen. Nicht selten steht diese Intention mit Verselbstständigung in Verbindung, etwa wenn das Budget zur Finanzierung von Personen eingesetzt werden soll, die die Budgetnehmer/innen bereits in einem früheren stationären Kontext unterstützt haben. Das gewachsene Vertrauensverhältnis spielt hierbei eine zentrale Rolle und in diesen Fällen werden Verselbstständigungswünsche mit der gewohnten Sicherheit kombiniert. Alles in allem geht es bei der Budgetbeantragung also oftmals um ein Aufrechterhalten bestehender Betreuungsstrukturen und das Persönliche Budget erfüllt hierbei die Funktion, die favorisierten Betreuungspersonen selbst auswählen zu können. Die personelle Flexibilität steht dann im Vordergrund der Budgetbeantragung. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Bereich Freizeit und soziale Teilhabe. Eine große Gruppe an Budgetnehmer/innen nutzt das Persönliche Budget, um damit Freizeitaktivitäten realisieren und/oder soziale Kontakte knüpfen zu können. Der Vorteil des Persönlichen Budgets besteht dabei in der Möglichkeit, individuelle Wege der Freizeitgestaltung und kontaktstiftende Aktivitäten außerhalb von Einrichtungen der Behindertenhilfe umsetzen zu können. Es lassen sich aber auch Budgetnehmer/innen finden, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets Angebote in Einrichtungen der Behindertenhilfe finanzieren, die sie beispielsweise aufgrund eines Auszugs aus stationären Einrichtungen nicht mehr wahrnehmen können. Fünftens versuchen Menschen mit Behinderung mit Hilfe des Persönlichen Budgets individuelle Unterstützungsarrangements zu kreieren, die nicht nur ihren individuellen Unterstützungsbedarf abbilden, sondern auch der Realisierung eines eigenen Lebensstils dienlich sind. Insofern spielt der Wunsch nach individuellen und passenden Lösungen eine weitere tragende Rolle. Hier zeigen die Beispiele facettenreich, wie Menschen mit Behinderung alternative Wege einschlagen, um individuelle Vorlieben und Wünsche umsetzen zu können. Dies wird letztendlich nicht nur im Bereich Freizeit und Wohnen deutlich, sondern auch in den Beispielen, in denen Budgetnehmer/innen eine ihren subjektiven Interessen und individuellen Neigungen
5.3 Zusammenfassung
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entsprechende Ausbildung realisieren können. Insofern spielt die inhaltliche Flexibilität der Budgetverwendung eine tragende Rolle bei der Budgetbeantragung und diese Flexibilität trägt wiederum zu einer Unabhängigkeit von Institutionen der Behindertenhilfe bei. Letztendlich zeigt insbesondere das niedersächsische Modellvorhaben, dass die Initiative zur Budgetbeantragung nicht immer von den Budgetnehmer/ innen selbst ausging. Entsprechend lassen sich auch Budgetnehmer/innen finden, die das Persönliche Budget eigentlich gar nicht haben wollten und die Budgetbeantragung eher auf die Initiative anderer Personen (z.B. gesetzliche Betreuer/innen, Leistungserbringer) zurückgeht.
Stellt man diese Befunde den in Kapitel 3 formulierten theoretischen Erwartungen gegenüber, so zeigt die Betrachtung der Budgetnutzung ein differenzierteres Bild: 1.
2.
3.
Was die erste Ebene – die normativ-ethische Ebene – betrifft, so spielen Aspekte der Selbstbestimmung, Emanzipation und Regiekompetenz in den Aussagen der Budgetnehmer/innen eher eine untergeordnete Rolle. Bedeutung wird lediglich dem Element Flexibilität beigemessen, wobei es vor allem darum geht, Personen selbst auswählen zu können. Besonderes Gewicht kommt hingegen dem Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung zu. In allen Modellvorhaben spielt dieses Motiv eine dominierende Rolle. Hinsichtlich der professionstheoretisch-fachlichen Ebene lässt sich festhalten, dass die Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten sowie das Realisieren individueller Lösungen und Lebenspläne eine zentrale Bedeutung einnehmen. Entsprechend streben die Budgetnehmer/innen mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets immer auch eine Unabhängigkeit von Institutionen der Behindertenhilfe an. Persönliche Budgets scheinen demnach auch in der Wahrnehmung der Budgetnutzer/innen eine wichtige Rolle bei der Verbesserung von Teilhabechancen sowie der Umsetzung von Normalisierung und Deinstitutionalisierung zu spielen. In Bezug auf die dritte Ebene – der sozialpolitischen Ebene – deutet die Budgetnutzung durchaus auf eine verstärkte Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ hin. Ein nicht unerheblicher Teil der Budgetnehmer/innen konnte mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ausziehen. Ein weiterer großer Teil der Budgetnutzer/innen intendiert zudem, eine selbstständige Lebensform aufrecht zu erhalten, indem mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine ambulante Unterstützung finanziert wird. Nur wenig zu bestätigen scheint sich hingegen die Erwartung, die Budgetnehmer/innen würden als „kritisch-rational abwägende“ Kunden auf dem Markt sozialer Dienstleistungen auftreten. Ein
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5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
gewachsenes Vertrauensverhältnis scheint demgegenüber eine größere Rolle zu spielen. Weder sondieren die Budgetnehmer/innen systematisch den Markt nach neuen Anbietern, noch kommt es in nennenswertem Umfang zu einem Wechsel der Anbieter. Einige Personen haben sogar ein Persönliches Budget beantragt, um frühere Unterstützungspersonen und Dienstleister (weiterhin) nutzen zu können. Alles in allem haben Persönliche Budgets – ergänzend oder auch im Gegensatz zu den auf theoretischer Ebene formulierten Erwartungen an die Einführung des Persönlichen Budgets – zuallererst eine spezifische Funktion in der Lebenssituation der Budgetnutzer/innen. Entsprechend ist die Frage nach den Funktionen und Potenzialen Persönlicher Budgets nicht nur auf Basis theoretischer und normativer Überlegungen zu beantworten, sondern insbesondere im Kontext der jeweiligen Lebenssituation der Budgetnehmer/innen. So sind Wirkungen Persönlicher Budgets vor allem davon abhängig, „in welchen Lebenskontext ein Persönliches Budget eingebettet wird, in welchen Situationen die Nutzerinnen und Nutzer biografisch und sozial sind, und welche persönlichen, sozialen und sonstigen Ressourcen darin verfügbar sind“ (Kastl, Metzler 2005, 69). Die dargestellten Befunde leiten zur Zielsetzung und den forschungsleitenden Fragen der nachfolgenden empirischen Analyse über und bilden gleichermaßen Ausgangsbasis der inhaltlichen sowie methodischen Vorgehensweise. Inhaltlich orientiert sich die empirische Analyse zunächst an den dargestellten theoretischen Erwartungen an das Persönliche Budget. Diese theoretischen Annahmen bezüglich der Potenziale Persönlicher Budgets werden in der Auswertung allerdings schrittweise ergänzt durch die individuellen Sichtweisen und Erwartungen der Budgetnehmer/innen. Methodisch wird sich die Vorgehensweise daher stärker an den individuellen Erwartungshaltungen der Budgetnutzer/innen anlehnen. Daher steht eine qualitative Analyse am Anfang der nachfolgenden Auswertungen. Um die Potenziale und jeweiligen Funktionen Persönlicher Budgets auch auf Basis der jeweiligen biografischen Hintergründe und der Lebenssituation der Budgetnutzer/innen verstehen zu können, stehen folgende sechs Fragestellungen im Zentrum der nachfolgenden Auseinandersetzung:
Erstens steht die Frage im Vordergrund, ob das Persönliche Budget für eine selbstständige Lebensführung genutzt wird. Darunter zusammengefasst sind Veränderungen der bisherigen Lebenssituation sowie die Stabilisierung der Selbstständigkeit. Relevante Dimensionen sind beispielsweise der Wunsch nach Verselbstständigung (Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe; Auszug aus dem elterlichen Haushalt), genauso wie der Wunsch nach einem Erhalt der selbstständigen Lebenssituation, beispiels-
5.3 Zusammenfassung
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weise aufgrund eines bereits vor der Budgetbeantragung erfolgten Auszugs oder um weitere Heim- bzw. Klinikaufenthalte zu vermeiden. In diesen Fällen gilt es auch zu prüfen, ob die Unterstützung von bereits bekannten Diensten und/oder Mitarbeiter/innen aus ehemaligen Einrichtungen erbracht wird. Zweitens gilt es zu prüfen, inwiefern die Elemente Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Regiekompetenz eine wesentliche Rolle bei der Budgetbeantragung gespielt haben. Relevante Dimensionen sind dabei nicht nur der Wunsch nach einem selbstbestimmten Umgang mit den bewilligten Sozialleistungen, sondern insbesondere das Bedürfnis, mit Hilfe des Persönlichen Budgets wesentliche Teile des eigenen Lebens selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Der Aspekt der Regiekompetenz müsste sich zudem in dem Wunsch manifestieren, die Organisation der Unterstützung sowie die Verwaltung des Budgets eigenständig wahrzunehmen. Drittens wird danach gefragt, welche Bedeutung der Wunsch nach Emanzipation bzw. Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern bei der Budgetbeantragung hat. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, inwiefern dieser Wunsch nach Unanhängigkeit mit einem Wechsel der Anbieter einhergeht – etwa aufgrund von Unzufriedenheit mit den bisherigen Leistungserbringern. Viertens soll herausgefunden werden, welche Rolle eine flexiblere Handhabung der bewilligten Leistungen bei der Budgetbeantragung spielt, etwa um Art der Leistungen, Zeitpunkt und unterstützende Personen selbst auswählen zu können. Die relevanten Dimensionen sind dabei inhaltliche, personelle sowie zeitliche Dispositionsspielräume, d.h. die Auswahl der Angebote, die Rekrutierung geeigneter Dienste oder Unterstützungspersonen sowie der Wunsch nach mehr zeitlicher Flexibilität bei der Leistungserbringung. Fünftens muss nach der jeweiligen Einbettung des Persönlichen Budgets in die konkrete Lebenssituation der Budgetnehmer/innen sowie nach behinderungsspezifischen Aspekten der Budgetnutzung gefragt werden. Hierbei geht es vor allem darum herauszufinden, inwiefern mit der Budgetbeantragung und -nutzung passende bzw. individuelle Lösungen in Bezug auf eine spezifische Lebenssituation und/oder zur Kompensation behinderungsbedingter Folgen realisiert werden sollen (etwa um den „Einkauf“ alternativer Formen der Unterstützung oder spezifischer Hilfeformen zu ermöglichen, um passendere Arrangements zu schaffen usw.). Hierbei gilt es, der Spezifik der Lebenssituation der Budgetnutzer/innen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, um verstehen zu können, warum sich individuelle und passgenaue(re) Hilfen durch ein Persönliches Budget besser realisieren lassen. Sechstens müssen auch teilhaberelevante Motive in den Blick genommen werden. Hierbei gilt es zu prüfen, inwiefern die Budgetnutzung zur Verbes-
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5 Die Bedeutung Persönlicher Budgets im Lebenskontext der Budgetnutzer/innen
serung von Teilhabechancen beiträgt. Dabei sind wiederum zwei Möglichkeiten denkbar: Geht die Budgetbeantragung auf das Fehlen eines geeigneten sozialen Umfelds zurück oder wird eher der Erhalt eines (bestehenden) sozialen Umfelds intendiert. Aus diesem Grunde wird einerseits der Frage nachgegangen, ob durch das Persönliche Budget eine Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten (z.B. soziale Kontakte, Erschließen sozialer Ressourcen, verstärkte Freizeitaktivitäten usw.) angestrebt wird, oder andererseits, ob mit Hilfe des Persönlichen Budgets bestehende soziale Netzwerke und Ressourcen erhalten werden sollen.
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Ziel der nachfolgenden Analyse ist eine empirisch begründete Typologie von Nutzer/innen eines Persönlichen Budgets. Ausgangspunkt dieser Typologie sind die beiden Leitfragen:
Aus welchen Gründen haben die Budgetnutzer/innen ein Persönliches Budget beantragt und wie hängen diese Motive mit der jeweiligen Lebenssituation der Budgetnehmer/innen zusammen? Für was nutzen die Budgetnehmer/innen ihr Persönliches Budget und wie wird die Unterstützung organisiert?
Die im Rahmen der bundesweiten Modellprojekte zur Erprobung Trägerübergreifender Persönlicher Budgets durchgeführte Budgetnehmerbefragung bildet dabei die Basis der empirischen Analyse. Zu Beginn der Modellprojekte wurde das Ziel formuliert, in jeder Modellregion mindestens 50 Persönliche Budgets zu realisieren. Für die Budgetnehmerbefragung war aus diesem Grunde zunächst ein quantitatives Design geplant. Die schleppende Umsetzung Persönlicher Budgets im ersten Projektjahr machte es jedoch notwendig, qualitative Elemente stärker in den Vordergrund zu stellen. Das für die Budgetnehmerbefragung entwickelte Instrumentarium stellt daher eine Verschränkung qualitativer und quantitativer Frageanteile dar, d.h. es wurden standardisierte Fragen mit offenen, zu Erzählungen auffordernden Fragen, kombiniert. Diese multimodale Vorgehensweise spiegelt sich schließlich auch in den verschiedenen Befragungswegen, die den Budgetnehmer/innen jeweils angeboten wurden, wider. So konnten sich die Budgetnehmer/innen zwischen einem persönlichen Interview, einem telefonischen Interview oder einem schriftlichen Fragebogen entscheiden. Entsprechend wurden ein Interviewleitfaden sowie ein schriftlicher Fragebogen entworfen, wobei sich beide Instrumente sowohl inhaltlich, als auch was die Anordnung und Formulierung der Fragen betrifft, vollständig entsprachen (vgl. dazu ausführlich Kapitel 6.2). So enthält der Interviewleitfaden neben offenen Fragen dieselben standardisierten Fragen (einschließlich der jeweiligen vorab konstruierten Antwortkategorien) wie der schriftliche Fragebogen. Aus diesem Grunde kann man eher von einem standardisierten und strukturierten Interviewleitfaden T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
mit einzelnen erzählgenerierenden Fragen sprechen. Andererseits wurden die entsprechenden erzählgenerierenden Fragen als offene Fragen im Fragebogen aufgenommen. Insofern stellt der Fragebogen wiederum eher einen halbstrukturierten Fragebogen mit einigen offenen Anteilen dar. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung konnten somit sowohl quantitative als auch qualitative Auswertungen vorgenommen werden. Entsprechende Ergebnisse finden sich im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung. Die im Zentrum der Ergebnisdarstellung stehenden quantitativen Auswertungen wurden so durch einige, mittels qualitativer Fallanalysen gewonnenen „Budgetbeispiele“, ergänzt (vgl. Metzler u.a. 2007, 222ff.). Alles in allem stand jedoch – wie geplant – eine quantitative Auswertungslogik im Vordergrund der Ergebnisdarstellung des Abschlussberichts. Da das Befragungsinstrument zur Budgetnehmerbefragung aus einer Verschränkung qualitativer und quantitativer Anteile besteht, sind zwar sowohl qualitative als auch quantitative Auswertungsverfahren möglich, die nachfolgende Typologie soll jedoch auf Basis einer quantitativen Auswertung mit Hilfe einer Clusteranalyse erfolgen. Hierfür gibt es drei Gründe:
Zum einen wurden knapp 200 Budgetnehmer/innen befragt, was allein aufgrund der großen Anzahl an Befragungspersonen für eine quantitative Auswertung spricht. Zum anderen erscheint die Aussagekraft und Reichweite einer rein auf qualitativen Verfahren beruhenden Typologie fragwürdig, weil die Befragung ursprünglich quantitativ geplant war und nicht in ausreichendem Maße offene Fragen im Instrument integriert wurden. Für eine ausschließlich qualitativ begründete Typologie sind somit die vorliegenden Daten nicht umfangreich genug, wenn auch qualitative Auswertungen zur Vorbereitung einer quantitativ begründeten Typologie durchaus zur Anwendung kommen (siehe Kapitel 6.3). Drittens können zwar qualitative Daten quantifiziert, d.h. in quantitative Daten transformiert werden (z.B. durch Kategorienbildung), andersherum ist dies jedoch nicht möglich, da quantitative Daten nicht nachträglich zu qualitativen Informationen gemacht werden können. Aufgrund dieser Einschränkung hätten in einer qualitativ orientierten Typologie nicht alle in dem Befragungsinstrument gestellten Fragen berücksichtigt werden können bzw. die verwertbaren Informationen wären auf wenige Fragen beschränkt geblieben (etwa aufgrund von geschlossenen Antwortvorgaben oder fehlender bzw. zu kurzer Antworten in den schriftlichen Fragebögen).
Eine ausschließlich qualitativ begründete Typologie wäre also aus den genannten Gründen nur wenig fundiert und möglicherweise auch nur von geringer Aussa-
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung
201
gekraft. Dennoch spielt ein qualitativer Zugang eine wichtige Rolle in der nachfolgenden empirischen Analyse. Entscheidend für die weitere Vorgehensweise ist nämlich, dass die beiden für die Typenbildung im Zentrum stehenden Fragen nach den Motiven der Budgetbeantragung und der Verwendung des Persönlichen Budgets in beiden Befragungswegen – d.h. sowohl im Interview als auch im schriftlichen Fragebogen – in Form einer offenen, erzählgenerierenden Frage gestellt wurden. Da keine Antwortkategorien vorgegeben waren, müssen diese qualitativen Anteile der Befragung in quantitative Variablen transformiert werden. Entsprechend ist es notwendig, eine qualitative Analyse vorzuschalten, um aufgrund der Ergebnisse dieser qualitativen Analyse eine quantitative Auswertung vornehmen zu können; dies gelingt mit Hilfe eines Kategorienschemas. In dem folgenden Kapitel 6.1 soll geklärt werden, welche Bedeutung Typologien in den Sozialwissenschaften haben und was unter einem Typus zu verstehen ist. Um zu einer adäquaten Verwendung des Typusbegriffs für die nachfolgende empirisch begründete Typologie von Budgetnutzer/innen zu gelangen, werden die Begriffe „Idealtypus“ und „Realtypus“ als zwei Vorgehensweisen der Typenbildung kurz diskutiert. Dabei wird allerdings deutlich werden, dass eine einfache Verwendung des Typusbegriffs als „Kombination von Merkmalen“ für die weitere Vorgehensweise ausreicht. Im Anschluss daran wird das Verfahren der Clusteranalyse als „gruppierendes Verfahren“ zur Gewinnung von empirischen Typen dargestellt. In Kapitel 6.2 wird schließlich die der Typenbildung zugrunde liegende Datenbasis ausführlich beschrieben. Hierbei soll ein kurzer Überblick über die Methodik der wissenschaftlichen Begleitforschung im Allgemeinen und eine detaillierte Beschreibung der Budgetnehmerbefragung im Speziellen erfolgen. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine Betrachtung der einzelnen Auswertungsschritte, die die Typologie vorbereiten sollen (Kapitel 6.3).
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung „Typenbildungen“ bzw. „Typologien“ können zu den Kerninstrumenten der empirischen Sozialforschung gezählt werden. Deren Verwendung geht ursprünglich auf die Idee des „Idealtypus“ bei Max Weber zurück (vgl. Weber 1904/1988). Typen bzw. Typologien haben seit jeher eine zentrale Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Forschung und Theorienbildung (Kluge 1999). Insofern haben sie deskriptiven als auch theoretischen Wert: „Auf deskriptiver Ebene dienen sie [Typen] dazu, den Untersuchungsgegenstand überschaubar zu machen und dessen Charakteristika hervorzuheben, sodass zentrale Gemeinsam- oder Ähnlichkeiten sowie bedeutsame Unterschiede im Datenmaterial deutlich werden, die wiederum dazu anregen, über die ihnen möglicherweise zugrun-
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6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
de liegenden Mechanismen nachzudenken. Hierin liegt der heuristische Wert von Typen; sie geben der Hypothesenbildung eine Richtung (…)“ (Lamnek 2005, 230).
Der wesentliche Nutzen von Typologien in der empirischen Sozialforschung wird deutlich, wenn man eine Analogie zum Alltagswissen zieht, denn auch im Alltag erfüllen Typologien einen spezifischen Nutzen: Typisierungen dienen im Alltag vor allem der Reduktion von Komplexität, weil es sonst nicht gelänge, die Fülle an Informationen zu verarbeiten. Anders ausgedrückt sind Typen „notwendige Mittel des pragmatischen Umgangs mit der Welt“ (Honer 1993 zitiert in Kluge 1999, 13; Hervorhebungen im Original). Wie der Alltagsmensch ist auch die empirische Sozialwissenschaft oftmals darauf angewiesen, die jeweils vorgefundene Vielfalt an Individualitäten und Eventualitäten zu abstrahieren und in ein bestimmtes Muster zu bringen, um dadurch die Komplexität der sozialen Welt zunächst einmal zu reduzieren. Typologien sind daher insbesondere dann ein geeignetes Werkzeug in den Sozialwissenschaften, wenn die Komplexität der sozialen Realität nicht mehr über einfache Klassifikationssysteme erfasst, verarbeitet oder abgebildet werden kann (vgl. dazu ausführlich Kluge 1999). Erkenntnisgewinn bedeutet in diesen Fällen, die Komplexität der verfügbaren Informationen so zu reduzieren, dass ein Spektrum an überindividuellen Mustern abgebildet werden kann. Typologien können dann als Raster und Orientierungspunkt fungieren, um dadurch die soziale Realität beschreibbar und für Andere nachvollziehbar zu machen (vor allem letzterer Punkt ist für die Wissenschaft nicht unerheblich). Dabei geht es vor allem um eine Gradwanderung zwischen notwendiger Abstraktion und dem Erhalt der vorgefundenen Vielfalt. Im Grunde sind Typologien daher mehr als nur Zusammenfassungen von Merkmalen, weil es immer auch darum geht, die zusammengefassten Merkmale in Bezug auf Inhalt und Kombinationen mit anderen Merkmalen detailliert zu beschreiben (vgl. dazu auch Mayring 2002, 130). Wie sich bereits in der Betrachtung der verschiedenen Modellvorhaben zur Erprobung Persönlicher Budgets gezeigt hatte, geht die Budgetnutzung mit den unterschiedlichsten Lebens- und Bedürfnislagen einher. Es kann daher angenommen werden, dass die Hintergründe der Budgetbeantragung sowie die verschiedenen Formen der Budgetverwendung durch eine Vielfalt an Beweggründen, Lebenssituationen und Erwartungen charakterisiert sind. Letztendlich bildet dies den Hintergrund dafür, dass in der vorliegenden Analyse auf eine Typenbildung zurückgegriffen wird.
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung
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6.1.1 Der Begriff des Typus in den Sozialwissenschaften Die Sichtung der Fachliteratur zum Thema Typenbildung zeigt zunächst, dass der Begriff Typus nicht immer einheitlich benutzt wird und auch jeweils verschiedene Bedeutungen haben kann. So ist die Rede von „Idealtypen“, „idealtypischen Konstrukten“, „empirischen Typen“, „Realtypen“, „Prototypen“, „Durchschnittstypen“, „Extremtypen“, „reinen Typen“ usw. (ein Überblick über die verschiedenen Begriffe findet sich bei Kluge 1999, 23ff. sowie Lamnek 2005, 230ff.). Aus diesem Grunde muss der Begriff des „Typus“ zunächst definiert werden. Kluge merkt hierzu treffend an: „Bevor man aber nicht weiß, was überhaupt gebildet werden soll, kann auch nicht bestimmt werden, wie es gebildet werden soll. (…). Denn für einen eindeutig definierten Typusbegriff lassen sich auch allgemeine Regeln formulieren, um zu einer systematischen und nachvollziehbaren Typenbildung zu gelangen“ (Kluge 1999, 17; Hervorhebungen im Original).
Im Grunde geht es bei der jeweiligen Verwendung des Typusbegriffs zumeist um das Verhältnis von heuristischen zu empirischen Typen, wobei diese Diskussion bereits auf die Einführung des Typusbegriffs in die Sozialwissenschaften durch Max Weber (1904/1988) zurückgeht. Um die Unterschiede beider Konzepte zu verstehen, sollen die Begriffe „Idealtypus“ und „Realtypus“ kurz vorgestellt werden. Da der Begriff des Typus bzw. der Typenbildung im Allgemeinen eher der qualitativen Sozialforschung nahe steht, lohnt ein Blick in die entsprechende Literatur. In der Grundlagenliteratur bzw. in Lehrbüchern zur qualitativen Sozialforschung wird dabei meist auf den Begriff des „Idealtypus“ im Sinne Max Webers verwiesen (vgl. beispielsweise Lamnek 2005, 231, Mayring 2002, 130f.). Nach Weber ist ein Idealtypus ein reines Gedankenbild, eine Konstruktion gedachter miteinander zusammenhängender Eigenschaften: „Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist“ (Weber 1904/1988, 190; Hervorhebung im Original). Bestimmte Merkmale bzw. Eigenschaften werden dabei herausgegriffen und übersteigert beschrieben, so dass sich ein in sich schlüssiges Gedankenbild konstruieren lässt, welches in dieser Reinform allerdings nicht in der Wirklichkeit vorkommt: „Er [der Idealtypus] wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, (…)“ (ebd., 191; Hervorhebungen im Original).
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6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Der Idealtypus stellt damit weder einen „Durchschnitt“ noch einen real existierenden Typus dar. Er dient vielmehr als eine Art Schablone, anhand derer die Wirklichkeit genauer betrachtet und verglichen werden kann, um in „jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, (…)“ (ebd.). Die Bildung von Realtypen zielt hingegen auf eine möglichst „realistische“ Abbildung der untersuchten Wirklichkeit ab, während Idealtypen eher ein „Modell“ bzw. eine Art Gedankenbild darstellen. Realtypen stützen sich auf vorfindbare Merkmalskombinationen, welche in der Untersuchung faktisch gegeben sind. Realtypen sind demnach real existierend und können in einer Untersuchungsgruppe auch tatsächlich aufgefunden werden (vgl. Lamnek 2005, 231). Nach Mayring besteht ein realtypisches Vorgehen darin, „‚echte‘ Fälle als typisch im Material zu identifizieren und dann genau zu beschreiben“ (Mayring 2002, 131). Die Existenz von Realtypen wird also sozusagen angenommen, während Idealtypen in „Reinform“ in der untersuchten sozialen Wirklichkeit nicht vorkommen und entsprechend auch nicht gefunden werden können. Sinn und Zweck der Idealtypenbildung ist daher eine bewusste Pointierung bestimmter für die Typenbildung relevanter Merkmale. Durch Weglassen unwesentlicher Merkmale und Übersteigerung wesentlicher Merkmale wird eine Art Gedankenbild entworfen und solchermaßen konstruierte Typen stellen „einen analytischen Orientierungsrahmen dar, dienen als Raster der Analyse realer Fälle, als Bezugspunkte bzw. Vergleichsmaßstäbe, mit deren Hilfe sich die Eigenarten des Untersuchungsgegenstands herausfiltern lassen“ (Kelle, Kluge 1999 zitiert in Lamnek 2005, 231). Genau dies ist aber auch der Kritikpunkt am Konzept des „Idealtypus“. So kritisieren beispielsweise Verfechter/innen von Realtypen, Idealtypen würden eher „intuitiv“ und wenig systematisch gewonnen. Zudem sei es auch nur wenig nachvollziehbar, wie Idealtypen letztendlich konstruiert worden sind. Entsprechend wird dem Konzept der Idealtypenbildung vor allem der fehlende Bezug zur jeweiligen Datenbasis vorgeworfen: „Da Idealtypen dabei zwangsläufig von der konkreten Realität und den in ihr gegebenen empirischen Häufigkeitsverteilungen abstrahieren, wird ihnen häufig ein fehlender Empiriebezug vorgeworfen. Die für die Diskussion des Typenbegriffs zentrale Kontroverse zwischen Ideal- und Realtypus basiert damit vor allem auf der Frage, wie sich Empirie und Theorie zueinander verhalten (…)“ (Kluge 1999, 24).
Die Diskussion über Vor- und Nachteile von Ideal- bzw. Realtypen kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter verfolgt oder gar abgeschlossen werden. Zusammenfassend sollte lediglich angemerkt werden, dass auch Realtypen die Realität niemals exakt abbilden können, da eine Typenbildung immer in gewisser Weise eine Abstraktion darstellt. Ziel dieses Kapitels ist es hingegen, zu einem für die nachfolgende empirisch begründete Typologie der Budgetnutzung angemessenen Verständnis
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung
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des Typusbegriffs zu gelangen. Da die Typenbildung aufgrund einer Verschränkung von qualitativen (Inhaltsanalyse) und quantitativen Verfahren (Clusteranalyse) vorgenommen wird, muss nach einem Typusverständnis gesucht werden, das sowohl qualitative als auch quantitative Vorgehensweisen ermöglicht. Insofern soll im Folgenden ein Typusbegriff verwendet werden, der sozusagen den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ verschiedener begrifflicher Ansätze beinhaltet. Beispielsweise kann danach gefragt werden, welche Gemeinsamkeiten verschiedene Typusbegriffe haben. Gemeinsam ist dabei allen Ansätzen, dass es sich bei einem Typus immer um eine spezifische Kombination von Merkmalen handelt (vgl. dazu Kelle, Kluge 1999 zitiert in Lamnek 2005, 230f.). Diese Merkmale müssen im Vorfeld festgelegt werden und sind für jede Form der Typenbildung leitend. Die Ausprägungen und Kombinationen der vorab definierten Merkmale sind demnach Ausgangspunkt jeder Typenbildung (vgl. Mayring 2002, 131). Dieser „kleinste gemeinsame Nenner“ der verschiedenen Typenbegriffe findet seinen Niederschlag in dem Konzept des „Merkmalsraums“ von Barton und Lazarsfeld. Ein „Typus“ wird hier verstanden als ein „Merkmalsbündel“, d.h. er besteht aus einer Kombination von Eigenschaften „und diese Eigenschaften [bestimmen] den jeweiligen Merkmalsraum (…), der den Typen bzw. der Typologie zugrunde liegt“ (Kluge 1999, 18). Hintergrund dieser Orientierung an dem Konzept des Merkmalsraums sind nicht zuletzt auch der bereits genannte begrenzte Umfang qualitativer Informationen sowie die große Anzahl an befragten Personen. Zudem ermöglichen die aufgrund der standardisierten Befragung erzielten vergleichbaren Daten eine fundierte Betrachtung der verschiedenen Kombinationen von Eigenschaften, die Gegenstand der Clusteranalyse sind. 6.1.2 Grundidee und Vorgehensweise einer Typenkonstruktion Ziel einer empirisch begründeten Typologie ist die Reduktion von Komplexität bei der Auswertung komplexer Daten. Typologien sind dann im Grunde sich mehr oder weniger an der Realität orientierende Vorschläge zur Erklärung der sozialen Realität und es geht darum, die untersuchten Subjekte in einer sinnvollen Gruppeneinteilung zusammenzufassen. Eine Typologie ist demnach „grundsätzlich das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses“ (Lamnek 2005, 232). Auf Basis dieser Gruppierung kann schließlich das „Typische“ bzw. Charakteristische dieser Gruppen beschrieben werden. Wie oben bereits angemerkt, erfolgt eine solche Gruppierung im einfachsten Fall auf Basis der Kombination von Merkmalen. Was die Vorgehensweise einer Typenbildung betrifft, so können verschiedene Strategien ausgemacht werden, die sich in der Regel aufgrund einer eher qualitativ oder quantitativ orientierten Typenkonstruktion unterscheiden. Im
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6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Kern besteht eine Typenbildung jedoch aus zwei verschiedenen Schritten – der Konstruktion von Typen auf Basis definierter Merkmale (bzw. Untersuchungsvariablen) und eines anschließenden Vergleichs der Typen hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede: „Meist werden Typen zunächst gebildet, um eine Reihe von Untersuchungselementen nach ihren Unterschieden und Ähnlichkeiten zu ordnen und zu gruppieren. Durch die Zusammenfassung von ähnlichen Elementen bzw. Phänomenen wird die komplexe Realität reduziert und man erhält einen wesentlich besseren, nämlich geordneten Überblick über einen Gegenstandsbereich. In einem weiteren Arbeitsschritt können sowohl Gemeinsamkeiten, also das Typische, der einzelnen Typen als auch Differenzen zwischen Typen ermittelt und erfasst werden“ (Kluge 1999, 23).
Ausgangspunkt einer Typologie sind zunächst bestimmte Merkmale, auf deren Basis die Typologie gebildet werden soll. Anschließend werden die gebildeten Typen in Bezug auf die jeweiligen Ausprägungen dieser Merkmale miteinander verglichen. In diesem Schritt sind dann auch quantitative Auswertungen möglich, etwa um die quantitative Verteilung der Typen auf Basis der Zuordnung der einzelnen Fälle zu den gebildeten Typen abzubilden. Die Zuordnung erfolgt dabei aufgrund der jeweiligen Ausprägungen, die jeder einzelne Fall innerhalb der vorab definierten Merkmale annimmt. Demnach lassen sich zwei Schritte unterscheiden: Die Typenkonstruktion auf Basis festgelegter Typisierungsmerkmale sowie die Typendeskription (vgl. dazu Mayring 2002, 132). Des Weiteren lässt sich eine Typenkonstruktion durch einen dritten Schritt ergänzen, der für die nachfolgende quantitativ orientierte Typenbildung der Budgetnutzung eine wichtige Funktion erfüllt: Sind die einzelnen Typen konstruiert und auch hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie in ihrer quantitativen Verteilung beschrieben, können sie mit weiteren Merkmalen (bzw. Untersuchungsvariablen) konfrontiert werden, um auch in Bezug auf andere Kriterien die Qualität der gefundenen Typen zu untermauern. In diesem dritten Schritt geht es also darum herauszufinden, ob sich die gefundenen Typen auch hinsichtlich anderer Merkmale unterscheiden.81
81
Vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung der berühmten Marienthal-Studie von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel in Diekmann 2008, 552ff. In dieser Studie wurde eine Typologie der von Arbeitslosigkeit betroffenen Familien erarbeitet, die auf qualitativen Daten beruht. Dabei werteten Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel das qualitativ erarbeitete Datenmaterial ebenfalls in drei Schritten aus: Zunächst mussten Merkmale festgelegt werden, deren Vorhandensein und bestimmte Art der Kombination eine Gruppeneinteilung ermöglichen. Danach wurden Typen konstruiert, die sich in Bezug auf das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Merkmals sowie aufgrund spezifischer Kombinationen zwischen diesen Merkmalen unterscheiden. In diesem Zusammenhang wurde die Zugehörigkeit der einzelnen Fälle zu diesen Typen ermittelt, so dass sich Aussagen über die quantitative Verteilung treffen ließen. In einem
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung
207
Mindestanforderung einer Typologie ist insgesamt das Vorhandensein zweier deutlich voneinander abgrenzbarer Typen. Daher müssen die Typen über Eigenschaften konstruiert werden, die eine Vergleichbarkeit zulassen. Um schließlich zu einer Typologie zu gelangen, müssen die jeweiligen Untersuchungsobjekte innerhalb eines Typus in Bezug auf diese Eigenschaften möglichst homogen sein und sich aber gleichzeitig von den anderen Untersuchungsobjekten, die in einem anderen Typus zusammengefasst werden, unterscheiden. Aus diesem Grunde sollte eine Typologie stets aus einer möglichst großen „internen Homogenität“ und gleichzeitiger „externer Heterogenität“ bestehen (vgl. dazu Lamnek 2005, 232). Genau diese Möglichkeit eröffnet die Clusteranalyse, die im folgenden Kapitel dargestellt wird. 6.1.3 Quantitative Typenbildung: Die Clusteranalyse „Unter dem Begriff Clusteranalyse versteht man Verfahren zur Gruppenbildung. (…). Die Mitglieder einer Gruppe sollen dabei eine weitgehend verwandte Eigenschaftsstruktur aufweisen; d.h. sich möglichst ähnlich sein. Zwischen den Gruppen sollen demgegenüber (so gut wie) keine Ähnlichkeiten bestehen. (…). Bei allen Problemstellungen, die mit Hilfe der Clusteranalyse gelöst werden können, geht es immer um die Analyse einer heterogenen Gesamtheit von Objekten (…), mit dem Ziel, homogene Teilmengen von Objekten aus der Objektgesamtheit zu identifizieren“ (Backhaus u.a. 2000, 329; Hervorhebung im Original).
Im Wesentlichen besteht das Ziel einer Clusteranalyse darin, diejenigen Untersuchungsobjekte (z.B. Befragungspersonen) zusammenzufassen, die sich hinsichtlich bestimmter Merkmale besonders „ähnlich“ sind (z.B. ähnliche Eigenschaften besitzen, die sich in einem bestimmten Antwortverhalten ausdrücken). Neben dieser Ähnlichkeit zielt die Clusteranalyse aber auch darauf ab, dass sich bestimmte Untersuchungseinheiten nicht nur gleichen, sondern zu anderen Untersuchungsobjekten eine deutliche Unähnlichkeit aufweisen. Es geht also um die Berechnung von Ähnlichkeit (zu einer bestimmten Gruppe von Objekten) und gleichzeitiger Differenz (zu einer anderen Gruppe an Objekten): „Die durch einen festen Satz von Merkmalen beschriebenen Objekte (…) werden nach Maßgabe ihrer Ähnlichkeit in Gruppen (Cluster) eingeteilt, wobei die Cluster intern möglichst homogen und extern möglichst gut voneinander separiert sein sollen. (…). Mit der Clusteranalyse werden die untersuchten Objekte so gruppiert, dass die Unterschiede zwischen den Objekten einer Gruppe bzw. eines ‚Clusters‘ möglichst gering und die Unterschiede zwischen den Clustern möglichst groß sind“ (Bortz 2005, 565). dritten Schritt ging es schließlich um die „Validierung der Typologie und Prüfung der Erklärungskraft anhand von Außenkriterien“ (Diekmann 2008, 557).
208
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Die Gruppenbildung durch eine Clusteranalyse basiert dabei auf zwei verschiedenen Schritten (vgl. dazu Backhaus u.a. 2000, 329). In einem ersten Schritt werden die einzelnen Untersuchungsobjekte zunächst auf Basis der für die Clusteranalyse ausgewählten Merkmale (z.B. bestimmte Fragen) hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit zu den anderen Untersuchungsobjekten betrachtet. Dabei werden jeweils zwei Objekte miteinander verglichen, d.h. die jeweiligen Eigenschaften bzw. Merkmale eines Objekts werden den Eigenschaften bzw. Merkmalen eines anderen Objekts gegenübergestellt. Diese „Paarvergleiche“ werden dann sukzessive zwischen allen in der Untersuchung einbezogenen Objekten vorgenommen. In einer Gruppe von Befragungspersonen wird beispielsweise jede einzelne Person hinsichtlich der erhobenen Merkmale „Geschlecht“, „Schulabschluss“, „Familienstand“ usw. mit den anderen Personen jeweils paarweise verglichen. Zwei Personen sind dann „ähnlich“, wenn sie gleichen Geschlechts sind, den gleichen Schulabschluss sowie den gleichen Familienstand haben usw. Die jeweilige Ähnlichkeit zweier Personen wird dabei durch eine spezielle Maßzahl berechnet. Der zweite Schritt besteht dann darin, die einzelnen Personen auf Basis dieser Maßzahlen zu Gruppen zusammenzufassen. Zur Bestimmung der Ähnlichkeit im ersten Schritt müssen zunächst geeignete Maßzahlen gefunden werden. Dies gelingt mit Hilfe sogenannter Ähnlichkeits- oder Distanzmaße. Im Falle nominaler Daten werden Ähnlichkeitsmaße verwendet, während bei metrisch skalierten Daten auf Distanzmaße zurückgegriffen werden sollte. Ähnlichkeitsmaße symbolisieren im Falle nominaler Daten das von einer Gruppe an Untersuchungsobjekten gemeinsame Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein bestimmter Eigenschaften (z.B. gleiche Schulabschlüsse), während Distanzmaße den rechnerischen „Abstand“ der jeweiligen Werte zwischen den einzelnen Objekten messen (z.B. etwa gleich hohe Einkommen). In ersterem Fall sind sich Untersuchungsobjekte „ähnlich“, wenn sie bestimmte Merkmale gleichermaßen besitzen, in letzterem Falle sind sich diejenigen Objekte ähnlich, die die geringste Distanz bei den jeweiligen Werten aufweisen. Dabei ist die Clusteranalyse so aufgebaut, dass zunächst eine Quantifizierung dieser „Ähnlichkeit“ bzw. „Distanz“ erfolgen muss, d.h. es wird eine statistische Maßzahl verwendet, mit der diese „Ähnlichkeit“ bzw. „Distanz“ messbar und beschreibbar wird (sogenannte Proximitätsmaße). Dabei lassen sich wiederum analog der Unterscheidung zwischen nominal und metrisch skalierten Variablen Ähnlichkeits- und Distanzmaße unterscheiden. Ähnlichkeitsmaße sind statistische Maßzahlen, die eine Ähnlichkeit zwischen zwei Objekten auf Basis des gemeinsamen Vorkommens verschiedener Eigenschaft beschreibbar machen. Rechnerisch bedeutet dies: Je höher der Wert, desto ähnlicher sind sich zwei Objekte. Distanzmaße geben hingegen die Stärke der Unterschiedlichkeit wieder. Rechnerisch drückt sich dies so aus: Je höher die Distanz, desto unähnlicher sind sich zwei Objekte (vgl. dazu Backhaus u.a. 2000, 332; Bortz 2005, 566ff.).
6.1 Die Funktion von Typologien in der empirischen Sozialforschung
209
Die Gruppenbildung im zweiten Schritt wird dann auf der Grundlage der zuvor berechneten Ähnlichkeits- bzw. Distanzmaßen vorgenommen. Die Zusammenfassung der Objekte kann dabei mit Hilfe zweier verschiedener Verfahren vorgenommen werden: Partitionierende und hierarchische Verfahren. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass partitionierende Verfahren von einer vorgegebenen Anzahl an „Clustern“ ausgehen (Ausgangspartition), d.h. es muss im Vorfeld festgelegt werden, wie vielen Clustern die Untersuchungsobjekte zugeteilt werden sollen. Das partitionierende Verfahren sortiert dann die jeweiligen Objekte so lange von einem Cluster in das andere, bis eine optimale Lösung gefunden wurde (vgl. dazu Bortz 2005, 573). Hingegen ist es gerade Sinn und Zweck von hierarchischen Verfahren, die Anzahl der Cluster erst durch die Datenanalyse bestimmen zu lassen. Hierarchische Verfahren können wiederum in agglomerative und divisive Verfahren unterteilt werden, wobei den agglomerativen Verfahren in der Literatur ein größerer Stellenwert zukommt (vgl. hierzu Backhaus u.a. 2000, 349; Bortz 2005, 572). Die charakteristische Vorgehensweise der agglomerativen Verfahren ist es, ausgehend von den kleinstmöglichen Einheiten sukzessive größere Gruppen, d.h. Cluster zu bilden. Dabei werden zunächst alle Untersuchungsobjekte eines Datensatzes für sich gesehen als ein „Cluster“ betrachtet, d.h. jedes Objekt stellt ein mögliches Cluster dar. Daraufhin wird schließlich die Ähnlichkeit bzw. Distanz jedes einzelnen Objekts zu anderen Objekten betrachtet. Die Ähnlichkeit bzw. die geringste Distanz zu einem oder mehreren anderen Objekten macht dann wiederum eine Zusammenfassung zu einem „neuen“ Cluster möglich. Schrittweise werden so – beginnend von den ähnlichsten Objekten – Gruppen gebildet. Gemeinhin wird dabei empfohlen, Clusteranalysen mit explorativer Funktion mit Hilfe hierarchischer Verfahren vorzunehmen, da nur auf Basis hierarchischer Verfahren die Anzahl der Cluster bestimmt werden kann. Auf Basis dieser hierarchischen Lösung kann dann im Nachgang noch ein partitionierendes Verfahren eingesetzt werden, bei dem die Anzahl der durch ein hierarchisches Verfahren gefundenen Cluster als Anfangspartition fungiert (vgl. Backhaus u.a. 2000, 349f.; Bortz 2005, 571f.). Insgesamt handelt es sich bei der Clusteranalyse also um ein Verfahren, welches die Gruppierung einzelner Fälle über die Betrachtung der verschiedenen Kombinationen von Merkmalen im Sinne des oben beschriebenen Konzepts des Merkmalsraums in optimaler Art und Weise ermöglicht. Zusätzlich wird gleichzeitig auch noch die Unähnlichkeit der Untersuchungspersonen mit berücksichtigt, was die Qualität des Gruppierungsprozesses erhöht. Des Weiteren kann eine hierarchische Clusteranalyse dazu genutzt werden, die Anzahl der gefundenen Cluster zu bestimmen. Aus diesem Grunde ist die Clusteranalyse ein geeignetes Werkzeug zur Konstruktion von Typologien, die sich lediglich an der Kombination von Merkmalen orientieren. Der Einsatz ist zudem besonders dann sinnvoll, wenn im Vorfeld nicht bekannt ist, um wie viele Typen es sich handeln könnte.
210
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung: Die Befragungen im Rahmen der Modellprojekte zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ 6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung Zur Datenerhebung im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ wurden sowohl quantitative als auch qualitative Methoden eingesetzt. Mit Hilfe von sechs verschiedenen Erhebungsinstrumenten wurden Daten zu verschiedenen Themenschwerpunkten erhoben82:
Bestandsaufnahme und Dokumentation aller in den Modellregionen bewilligten Persönlichen Budgets: Mit Hilfe eines standardisierten Dokumentationsformulars sollten die beauftragten Leistungsträger sämtliche Anträge auf ein Persönliches Budget dokumentieren. Bestandteil dieser Dokumentationsunterlagen sind personenbezogene Daten des/der Antragsteller/in (Alter, Geschlecht, Art der Behinderung, Arbeits- und Wohnsituation, Pflegebedürftigkeit, bisheriger Leistungsbezug usw.) sowie Angaben zur Fallbearbeitung (Dauer des Antragverfahrens, anfallende Tätigkeiten, Beratung, Kooperation mit anderen Leistungsträgern, Hilfebedarfsfeststellung und Abschluss einer Zielvereinbarung usw.). Das Dokumentationsformular umfasst dabei den gesamten verwaltungstechnischen Ablauf von der Antragstellung bis hin zur Bewilligung oder Ablehnung bzw. Zurücknahme eines Antrags. Damit sollten auch die verschiedenen Umsetzungsschritte rekonstruiert werden. Kam schließlich ein Persönliches Budget zustande, sollte zudem noch angegeben werden, wie hoch das Budget ist und welche Leistungen jeweils in das Budget eingehen (Leistungsart und monetäre Bemessung) sowie die Laufzeiten der Zielvereinbarungen. Was die Budgetbewilligungen betrifft, wurde von Seiten der wissenschaftlichen Begleitforschung eine Vollerhebung angestrebt; Ziel der Dokumentation war es daher, alle in den Modellregionen bewilligten Persönlichen Budgets zu erfassen. Bis zum Ende der Datenerhebung im Mai 2007 konnten so insgesamt 494 bewilligte Persönliche Budgets aus den Modellregionen dokumentiert werden, die die Basis der Budgetnehmerbefragung darstellen.83
82
Für eine ausführliche Darstellung der Vorgehensweise, Zielsetzung und Inhalt der verschiedenen Erhebungsmethoden siehe Metzler u.a. 2007, 61ff. Wie bereits in Kapitel 4.2.6 erwähnt, stützt sich die empirische Basis der durch Dokumentationsformulare erfassten Persönlichen Budgets auf eine Gesamtzahl von 847 Budgets (dabei entfallen insgesamt 494 Budgets auf die Modellregionen und weitere 353 Persönliche Budgets auf Regionen außerhalb der Modellprojekte). Da diese 353 Budgets jedoch lediglich erfasst, aber nicht weiter untersucht wurden bzw. eine Befragung von Budgetnehmer/innen von Vorneherein ausgeschlossen war, sollen sie an dieser Stelle nicht weiter betrachtet werden. Entsprechend
83
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
211
Persönliche, telefonische oder schriftliche Befragung der Budgetnehmer/ innen und/oder ihres sozialen Umfeldes: Parallel zur systematischen Sammlung und Dokumentation der bewilligten Budgets wurden in regelmäßigen Abständen Befragungen der Budgetnehmer/innen bzw. des sozialen Umfelds (Eltern, gesetzliche Betreuer/innen) durchgeführt. Mit jedem bewilligten Budget wurden der wissenschaftlichen Begleitforschung Kontaktdaten der Budgetnehmer/innen und eine Einverständniserklärung zur Befragung zugesendet. Nach etwa drei bis sechs Monaten (es sollten zunächst erste Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget gemacht werden) wurden die Budgetnehmer/innen schließlich angeschrieben und um eine Teilnahme an der Erhebung gebeten. Je nach Präferenz der Befragungspersonen konnten diese sich dann entscheiden, ob die Befragung in Form eines persönlichen Interviews, eines Telefoninterviews oder eines schriftlichen Fragebogens erfolgen sollte. Weiterhin wurde es den Befragungspersonen freigestellt, ob sie Bezugspersonen bei den Interviews mit dabei haben wollten. In einigen Fällen fanden die Befragungen ausschließlich mit Stellvertreter/innen statt, entweder, weil sich die Budgetnehmer/innen nicht in der Lage sahen, an der Erhebung teilzunehmen, oder weil sie aus verschiedenen Gründen nicht teilnehmen wollten. Ziel der Befragungen war es, nähere Informationen über die Veränderung der Lebenssituation der Budgetnehmer/innen sowie über die subjektive Bewertung des Persönlichen Budgets zu erhalten. Insgesamt konnten schließlich 196 Personen befragt werden, etwa die Hälfte dieser Budgetnehmer/innen wurde im Rahmen einer Nacherhebung nochmals zu Veränderungen und zu neuen Erfahrungen schriftlich befragt. Expertengespräche mit den Leistungsträgern: Mittels leitfadengestützter Interviews sollten zusätzlich die Erfahrungen der Leistungsträger in die Begleitforschung einbezogen werden. Insgesamt wurden hierzu 14 Interviews mit vorwiegend Mitarbeiter/innen von Sozialhilfeträgern durchgeführt. Dabei galt es vor allem herauszufinden, wie das Bewilligungsverfahren von Persönlichen Budgets in den verschiedenen Modellregionen ablief und welche Verwaltungsabläufe dabei jeweils anfielen. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Verfahren und Instrumente der Bemessung des Hilfe- und Unterstützungsbedarfs der Antragsteller/innen sowie auf die jeweiligen Richtlinien und Grundlagen der Berechnung der Höhe eines bewilligten Persönlichen Budgets gelegt. Weitere Themen waren: Die Information und Beratung potenzieller Budgetinteressent/innen, die Regelungen von Verwendungsnachweisen, die regionale Versorgungsstruktur, Aspekte der Qualitätssicherung sowie die besteht die in Frage kommende Grundgesamtheit für die nachfolgend beschriebene Budgetnehmerbefragung ausschließlich aus der Anzahl der in den Modellregionen dokumentierten Budgetnehmer/innen (n=494).
212
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Zielvereinbarungen. Dieser Einbezug der Erfahrungen der Leistungsträger spielte schließlich vor allem bei der Rückkopplung der Ergebnisse in den verschiedenen Projektsitzungen, Arbeitskreisen oder überregionalen Workshops eine wichtige Rolle. Schriftliche Befragung von regionalen Leistungsanbietern: Die dritte „Säule“ im „leistungsrechtlichen Dreieck“ der klassischen Behindertenhilfe (vgl. Kapitel 3) sind neben den Leistungsberechtigten und den zuständigen Leistungsträgern die Leistungsanbieter. Da diese im Zuge der Veränderung des leistungsrechtlichen Dreiecks durch die Einführung Persönlicher Budgets ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, wurden auch verschiedene Leistungsanbieter in den Modellregionen befragt. Die Befragung fand ausschließlich schriftlich statt und sollte Informationen über die Einschätzungen zum Persönlichen Budget sowie über erste Erfahrungen mit Budgetnehmer/innen erbringen. In dem zweigeteilten Fragebogen befanden sich jeweils Fragen zu bestimmten Strukturmerkmalen der Leistungsanbieter (z.B. Trägerschaft, Zielgruppe, Qualifikation der Mitarbeiter/innen, Angebotsspektrum usw.) sowie zu Fragen rund um das Persönliche Budget (z.B. zukünftige Einschätzung des Stellenwerts des Persönlichen Budgets, Wissensstand und Informationsbedarf, bisherige Nachfrage von Budgetnehmer/innen, etwaige Dienstleistungserbringung und erste Erfahrungen mit Budgetnehmer/innen, Modularisierung und Verpreislichung des Angebotsspektrums, Auswirkungen des Persönlichen Budgets auf die eigene Position im „Dienstleistungsmarkt“ usw.). Insgesamt beteiligten sich knapp 100 Leistungsanbieter mit unterschiedlichen Leistungsschwerpunkten (stationäre, teilstationäre und/oder ambulante Leistungen) an der Befragung. Schriftliche Befragung von gesetzlichen Betreuer/innen: Da die Ergebnisse anderer Modellprojekte darauf hindeuten, dass die gesetzlichen Betreuer/innen eine erhebliche Rolle als Multiplikatoren und „Promotoren“ des Persönlichen Budgets spielen (vgl. Windheuser u.a. 2006, 15, 54ff. sowie Kastl, Metzler 2005, 95), sollten auch im bundesweiten Modellvorhaben zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ gesetzliche Betreuer/innen befragt werden. Die Befragung wurde ausschließlich schriftlich durchgeführt und zielte darauf ab, die Bedeutung der gesetzlichen Betreuer/innen in zweierlei Hinsicht zu beleuchten: Einerseits sollte untersucht werden, inwiefern die Budgetbeantragung auf die Initiative der gesetzlichen Betreuer/innen zurückgeht, andererseits, welchen Stellenwert gesetzliche Betreuer/innen im Unterstützungssetting der Budgetnehmer/innen haben und in welchem Umfang sie entsprechende Tätigkeiten wahrnehmen (etwa hinsichtlich der Budgetverwaltung, der Auswahl und Organisation der Leistungserbringung usw.). Weitere Themen waren der Wissensstand und Informationsbedarf sowie die Vor- und Nachteile des Persönlichen Budgets.
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
213
Befragt wurden insgesamt 33 Betreuer/innen, die mindestens eine/n Budgetnehmer/in gesetzlich betreuen. Dokumentenanalyse der Zielvereinbarungen: Nach einem allgemeinen Aufruf wurden der wissenschaftlichen Begleitforschung von einigen Leistungsträgern auch Zielvereinbarungen zur inhaltsanalytischen Auswertung zur Verfügung gestellt (insgesamt 224 Zielvereinbarungen, d.h. 45% aller bewilligten Persönlichen Budgets). Diese Zielvereinbarungen bilden eine weitere Datenquelle der im Rahmen der Modellprojekte durchgeführten empirischen Analysen. Relevante Fragenstellungen der Inhaltsanalyse waren neben der systematischen Sichtung und Auswertung der vereinbarten Ziele die Bemessungsgrundlage der Budgets (z.B. nach Pauschalen, in Fachleistungsstunden), Regelungen zur Budgetverwendung und Auswahl von Leistungserbringern (z.B. Zweckbindung des Budgets), Laufzeit der Zielvereinbarungen, Regelungen zur Weiterbewilligung, Qualitätssicherung, Überprüfung der Zielereichung und Auswertungsgespräche, Verwendungsnachweise und Umgang mit Resten, Budgetassistenz usw. Die anonymisierten schriftlichen Dokumente sollten quantitativ ausgewertet werden, so dass ein Kategoriensystem entwickelt werden musste, mittels dem das vorliegende Textmaterial gesichtet, aufbereitet und analysiert werden konnte.
Da sich die vorliegende Arbeit ausschließlich auf die individuelle Sichtweise der Budgetnehmer/innen konzentriert, sollen im Folgenden die methodische Vorgehensweise, Zielsetzung und Datengrundlage der Budgetnehmerbefragung ausführlich vorgestellt werden (Kapitel 6.2.1 und 6.2.2). Daran anschließend werden die verschiedenen Auswertungsschritte der empirischen Analyse skizziert (Kapitel 6.3). 6.2.1 Die Budgetnehmerbefragung – Vorgehensweise, inhaltliche Schwerpunkte und Datenbasis der Erstbefragungen Ziel der (Erst-)Befragung der Budgetnehmer/innen war es, detaillierte Informationen über die Gründe der Budgetbeantragung sowie über die konkrete Verwendung des Budgets zu erhalten. Aufgrund der Zielsetzung der wissenschaftlichen Begleitforschung stellten zudem die Veränderungen der Lebenssituation der Budgetnehmer/innen sowie die Bewertung des Persönlichen Budgets wesentliche Kernaspekte der Befragungen dar. Hierbei galt es herauszufinden, welche Veränderungen sich seit der Nutzung des Persönlichen Budgets ergeben haben und wie zufrieden die Budgetnehmer/innen mit dieser neuen Situation sind. Weiterhin wurde erfragt, wie und von wem die Budgetnehmer/innen über das Persönliche Budget erfahren haben, wie das Antragsverfahren erlebt wurde und inwie-
214
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
fern sie ihre Wünsche in die Budgetgestaltung einbringen konnten. Insgesamt standen daher neben den Beweggründen und Erwartungen, der konkreten Verwendung des Persönlichen Budgets und (ersten) Wirkungsaspekten aus Sicht der Menschen mit Behinderung zugleich auch die Erfahrungen mit der Budgetbeantragung und -gestaltung im Zentrum der Befragung. 6.2.1.1
Zur Vorgehensweise der Budgetnehmer(erst)befragung
Die Befragung von Menschen mit Behinderung erfordert eine besondere Offenheit und Flexibilität und stellt in Abhängigkeit der kommunikativ-kognitiven Kompetenzen der Befragten hohe Anforderungen an das eingesetzte Instrumentarium (zu den Schwierigkeiten einer Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung vgl. insbesondere Hagen 2002). Um dem gerecht zu werden, mussten Einschränkungen auf zwei Ebenen hingenommen werden: 1) Die Notwendigkeit, multimodale Befragungswege anzubieten Aufgrund der Spezifik bestimmter Formen von Behinderung und um möglichst allen Budgetnehmer/innen die Chance zu eröffnen, sich an der Befragung zu beteiligen, mussten verschiedene Befragungsoptionen angeboten werden. Je nach Präferenz und kommunikativen Fähigkeiten konnten die in Frage kommenden Budgetnehmer/innen auswählen zwischen:
einem persönlichen Interview („Face-to-face-Interview“), einem telefonischen Interview, einer schriftlichen Befragung.
Aus diesem Grunde musste von vorneherein ein Befragungsinstrument entwickelt werden, welches jeweils mündlich (in Form eines Interviewleitfadens) als auch schriftlich (in Form eines Fragebogens) eingesetzt werden konnte. Als zentrale Voraussetzung dafür sollte sich allerdings sowohl Aufbau und Inhalt als auch die Formulierungen der Fragen jeweils entsprechen. Die einzelnen Fragestellungen wurden daher dem Wortlaut nach vorgegeben und sollten im Falle von „Face-toface-Interviews“ oder Telefoninterviews nur bei Verständnisproblemen erklärt werden. Dazu wurden im Interviewleitfaden diverse Intervieweranweisungen integriert, um bei verschiedenen Interviewer/innen eine gewisse Einheitlichkeit zu ermöglichen und suggestive Frageformulierungen zu vermeiden. Die Interviewer/ innen sollten zudem darauf achten, den Sinngehalt der Frage nicht zu verändern. Weiterhin sollten die jeweiligen Fragen im Hinblick auf den befragten Personenkreis und etwaige kommunikative Erschwernisse möglichst einfach formuliert sein. Gemäß den Grundregeln für die Formulierung von Fragen in empirischen
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
215
Befragungen84 wurde versucht, kurze Fragen mit einfachen Formulierungen zu verwenden. Weiterhin sollten mehrdimensionale Fragen, doppelte Verneinungen, Fremdwörter oder unübersichtliche Satzkonstruktionen vermieden werden. Drittens galt es, neutrale Frageformulierungen zu bevorzugen und wertende Formulierungen oder Suggestivfragen zu vermeiden.85 Die von den einzelnen Budgetnehmer/innen favorisierte Befragungsform wurde der wissenschaftlichen Begleitforschung jeweils durch ein vorformuliertes Antwortschreiben mitgeteilt, so dass Termine für ein persönliches oder telefonisches Interview ausgemacht bzw. ein schriftlicher Fragebogen verschickt werden konnte.86 Die persönlichen sowie telefonischen Interviews wurden mehrheitlich von dem Autor selbst im Rahmen der Projektmitarbeit an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/Reutlingen durchgeführt. Etwa ein Drittel der Interviews wurden von Anke Springer und Christine Rauscher von der Universität Tübingen sowie von Markus Schäfers und Gudrun Wansing von der Universität Dortmund übernommen. Das Versenden und der Rücklauf der schriftlichen Fragebogen oblagen vollständig der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/Reutlingen. 2) Berücksichtigung von Erschwernissen bei der direkten Befragung In den Fällen, in denen eine direkte Befragung weder mündlich noch schriftlich möglich war oder nur unter erschwerten Bedingungen hätte durchgeführt werden können (z.B. aufgrund erheblicher kognitiv-kommunikativer Einschränkungen) mussten zwei alternative Möglichkeiten angeboten werden: Eine stellvertretende Befragung von Bezugspersonen (Angehörige, gesetzliche Betreuer/innen, Assistenten/innen) oder eine gemeinsame Interviewsituation in Anwesenheit von Vertrauenspersonen der Budgetnehmer/innen. Aus diesem Grunde mussten einige Befragungen stellvertretend durch oder in Anwesenheit von diversen Bezugspersonen realisiert werden. 84 85
86
Zur Vermeidung von „Frageeffekten“ vgl. beispielsweise ausführlich Diekmann 2008, 458ff. sowie 479ff.; ebenso Schaffer 2002, 84ff. Das multimodal einsetzbare Erhebungsinstrument wurde schließlich in zweierlei Hinsicht getestet und validiert: Zum einen in Form einer Gruppendiskussion mit Vertretern der Selbsthilfevereinigung „Arbeitsgemeinschaft für Selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen e.V. in Berlin (ASL e.V.), zum anderen durch einen Pretest mit einer Budgetnehmer/in (simulierte Interviewsituation). Aufgrund entsprechender Anregungen und abschließender Diskussion wurde das Instrument vor allem im Hinblick auf Formulierungen und Ergänzungen überarbeitet (vgl. dazu Metzler u.a. 2007, 63). Um die jeweils gewünschte Befragungsform im Vorfeld herausfinden zu können, wurden alle Budgetnehmer/innen (bzw. deren gesetzliche Vertreter/innen), von denen Informationen aufgrund der Dokumentationsunterlagen der Leistungsträger inklusive Einverständniserklärung zur Befragung vorlagen, direkt angeschrieben. In dem Anschreiben wurden sie dann gebeten, den jeweiligen bevorzugten Befragungsweg anzugeben und der wissenschaftlichen Begleitforschung zurückzusenden. Dem Anschreiben wurde daher ein frankierter Rückumschlag beigelegt.
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6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Es liegt in der Notwendigkeit der Sache begründet, ein solches Vorgehen zu wählen und entsprechend stellen einige Befragungsergebnisse lediglich eine Annäherung an die subjektiven Meinungen und Perspektive der Budgetnehmer/innen dar. Dies gilt es in der nachfolgenden Analyse zu bedenken. 6.2.1.2
Konstruktion des Instruments und inhaltliche Schwerpunkte
Ein wesentliches Anliegen der Budgetnehmerbefragung war es von Anfang an, die betroffenen Personen als „Experten in eigener Sache“ zu verstehen und entsprechende Antworten zuzulassen. Aus diesem Grunde sollte der Interviewleitfaden, respektive schriftliche Fragebogen, als halbstrukturiertes Instrument konstruiert werden, indem sowohl offene Fragen als auch geschlossene Fragen verwendet wurden. Insofern sollten bei manchen Themen mehr oder weniger ausführliche Erzählungen bzw. schriftliche Ausführungen angeregt werden, andere Informationen hingegen konnten mit Hilfe von Ankreuzoptionen standardisiert erfasst werden. Diese Mischung ermöglichte es schließlich, dass sowohl qualitative Analysen als auch quantitative Auswertungen vorgenommen werden können. Insbesondere in der Erstbefragung ging es zunächst darum, einen möglichst umfassenden Einblick in die Lebenssituationen der Budgetnehmer/innen zu erhalten, um auf dieser Basis die Gründe der Budgetbeantragung zu verstehen. Die jeweiligen Hintergründe der Budgetverwendung konnten daraufhin sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet werden, etwa in Form von vertiefenden Fallanalysen (vgl. dazu die Fallbeispiele in Metzler u.a. 2007, 209ff.). Der Interviewleitfaden bzw. Fragebogen beinhaltet insgesamt 33 Fragen zu unterschiedlichen Themenbereichen. Was diese inhaltlichen Schwerpunkte betrifft, so sollten in der Budgetnehmerbefragung folgende Fragestellungen abgedeckt werden:
Personenbezogene Angaben: Alter, Geschlecht, Schulbildung, Wohn- und berufliche Situation, Behinderung und Unterstützungsbedarf, Leistungsbezug. Bei den Fragen in diesem Komplex handelt es sich größtenteils um geschlossene Fragen, die mit entsprechenden Ankreuzhilfen im Interviewleitfaden bzw. Antwortvorgaben im Fragebogen versehen waren. Lediglich die Fragen zur Wohn- und beruflichen Situation wurden als halboffene Fragen konstruiert, um Veränderungen der Lebenssituation durch das Persönliche Budget in den Blick zu bekommen.87
87
Im ersten Teil der Frage sollten die Budgetnehmer/innen jeweils Angaben zu ihrer derzeitigen Wohn- und beruflichen Situation machen; anschließend wurden sie aber auch danach gefragt, inwiefern sich diese Situation durch den Bezug des Persönlichen Budgets verändert hatte. Bei dem zweiten Teil der Frage handelt es sich dabei um eine offene Frage ohne Antwortvorgaben.
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
217
Information und Beratung: Wann, wie bzw. durch wen haben die Budgetnehmer/innen von dem Persönlichen Budget erfahren und inwieweit fühlten sie sich ausreichend informiert und beraten? Die Fragen in diesem Fragekomplex wurden größtenteils offen gestellt. Zur Unterstützung bzw. Orientierung wurden jedoch Ankreuzoptionen in den Interviewleitfaden integriert. Mit Hilfe einer Intervieweranweisung wurden die Interviewer/innen dazu aufgefordert, diese Fragen zunächst offen zu stellen, um eine vorzeitige Einschränkung zu vermeiden. Die jeweiligen Vorgaben fungierten hingegen als Ankreuzhilfen oder Gedankenstütze, z.B. wenn sich die befragten Personen nicht mehr genau erinnern konnten. Lediglich bei der Frage nach der Güte der Beratung sollte eine dreistufige Skala benutzt werden. Motive und Hintergründe der Budgetbeantragung: Aus welchen Gründen haben die befragten Personen ein Persönliches Budget beantragt und welche Erwartungen stehen damit in Verbindung? Diese Frage sollte bewusst offen gestellt werden, um Erzählungen anzustoßen; als weitere Anregung wurden entsprechende Intervieweranweisungen im Interviewleitfaden integriert. Sowohl in dem Interviewleitfaden als auch im schriftlichen Fragebogen wurde dabei aber auf Ankreuzhilfen verzichtet (in der schriftlichen Fragebogenversion wurde an dieser Stelle eine dreiviertel Seite Platz gelassen, um den Befragten genügend Raum zu geben, ihre Motive ausführlich zu beschreiben). Partizipation der Antragsteller/innen im Budgetverfahren: Inwiefern konnten die Budgetinteressent/innen ihre Wünsche und Vorstellungen bei der Hilfebedarfsermittlung und Gestaltung ihres Persönlichen Budgets einbringen? Die entsprechende Frage wurde halboffen gestellt, d.h. zunächst in Form einer geschlossenen Frage, die dann – je nach Antwort – durch eine offene Frage ergänzt wurde („wobei haben Sie sich übergangen gefühlt?“). Unterstützung bei der Budgetverwaltung und -verwendung: Erhalten die Budgetnehmer/innen Unterstützung bei der Budgetverwaltung und Organisation der Leistungserbringung? In diesem Themenkomplex wurden Fragen gestellt, die sich im Wesentlichen auf das Persönliche Budget selbst beziehen, z.B. ob die Budgetnehmer/innen wissen, wie hoch ihr Budget ist, ob sie das Persönliche Budget auf ihr eigenes Konto überwiesen bekommen, ob die Budgetnehmer/innen ihr Budget selbst verwalten oder dabei unterstützt werden und inwiefern sie autonom über die Verwendung des Budgets entscheiden können. Die meisten Fragen wurden dabei als halboffene Fragen konstruiert, um gegebenenfalls Informationen darüber einholen zu können, wer die Budgetnehmer/innen bei der Verwaltung bzw. Verwendung des Budgets unterstützt. Verwendung des Persönlichen Budgets: Wie sieht die Budgetverwendung im Einzelnen aus? Welche Leistungserbringer werden beauftragt und welche Leistungen werden durch das Persönliche Budget finanziert? Die Fragen zur
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6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Budgetverwendung wurden wie auch die Frage nach den Gründen der Budgetbeantragung offen gestellt. Mit Hilfe dieser Fragen sollte vor allem in Erfahrung gebracht werden, inwiefern es sich bei den beauftragten Leistungsanbietern um professionelle Dienstleister bzw. Fachkräfte handelt und welche Arten von Leistungen jeweils eingekauft werden. Da jedoch die genannten Leistungserbringer und eingekauften Leistungen für eine spätere quantitative Auswertung kategorisiert werden mussten, wurden im Interviewleitfaden entsprechende Anweisungen eingebaut, um zu vermeiden, dass lediglich die Namen der unterstützenden Personen (z.B. „Herr Schmidt“ oder „Frau Maier“) genannt werden. Analog wurden im schriftlichen Fragebogen Erklärungen und Hinweise zum Beantworten dieser Frage aufgenommen. Rekrutierung von Leistungserbringern und Zufriedenheit mit der Unterstützung: Wie kamen die Budgetnehmer/innen auf die unterstützenden Personen oder Dienstleistungen? Welche Kriterien waren den Budgetnehmer/innen bei der Auswahl wichtig und wie zufrieden sind sie mit der Unterstützung? In dieser Fragenbatterie wurden einige Fragen zu den beauftragten Leistungserbringern gestellt. Es sollte beispielsweise herausgefunden werden, wie sich die Rekrutierung gestaltete, auf welche Aspekte die Budgetnehmer/innen bei der Auswahl der Dienstleister besonders geachtet haben und wie zufrieden sie mit der eingekauften Unterstützung sind. Die Fragen wurden größtenteils halboffen gestellt, um die Antworten nicht auf bestimmte Vorgaben zu verengen und beispielsweise auch Informationen darüber zu erhalten, mit welchen Unterstützungsleistungen die Budgetnehmer/innen weniger zufrieden sind. Allgemeine Bewertung des Persönlichen Budgets: Wie bewerten die Budgetnehmer/innen das Persönliche Budget insgesamt, und inwiefern hat sich die Lebenssituation der Budgetnehmer/innen seit dem Bezug verändert? Diese abschließende Fragenbatterie stellte einen wesentlichen Schwerpunkt der Budgetnehmerbefragung dar, ging es doch insbesondere um die Analyse der Wirkungen und subjektiven Bewertungen des Persönlichen Budgets. In Form einer halboffenen Frage sollten die Budgetnehmer/innen beispielsweise angeben, ob sich ihre Lebenssituation verbessert oder verschlechtert hat bzw. ob sie unverändert geblieben ist. Durch eine offene Frage sollte die jeweilige Antwort dann noch begründet werden. Weiterhin wurden die Budgetnehmer/innen nach den Vor- und Nachteilen des Persönlichen Budgets befragt. Den Abschluss bilden zwei geschlossene Fragen, die auf die konkrete Bewertung des Persönlichen Budgets abzielten („Was würden Sie insgesamt sagen: Ist das Persönliche Budget eine gute Sache für Sie?“; „Wenn Sie sich heute noch mal entscheiden müssten, würden Sie sich wieder für das Persönliche Budget entscheiden?“) Postskriptum: Im Falle einer persönlichen oder telefonischen Befragung wurde dem Interviewleitfaden ein Postskriptum beigefügt, welches vor allem der
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
219
Reflexion und Evaluation des Interviewverlaufs dienen sollte (Anmerkungen, Besonderheiten, Probleme usw.). Nach einer persönlichen oder telefonischen Befragung sollte jede/r Interviewer/in zusätzlich verschiedene Eindrücke zur Interviewsituation festhalten. Beispielsweise sollte angekreuzt werden, ob das Interview mit den Budgetnehmer/innen alleine, in Anwesenheit mit einer oder mehreren Bezugspersonen (Angehörige, gesetzliche Betreuer/innen, Assistent/innen usw.) oder stellvertretend mit einer Bezugsperson ohne die Budgetnehmer/innen durchgeführt wurde. Weiterhin wurde im Postskriptum dokumentiert, wie lange das Interview dauerte, ob es Störungen bzw. Unterbrechungen gab, ob das Interview vorzeitig beendet wurde, ob Verständnisprobleme bei bestimmten Fragen auftauchten (sowohl von Seiten der interviewten Personen als auch bei den Interviewer/innen) und inwiefern die Interviewsituation zu Ängstlichkeit, Überforderung oder Konzentrationsschwierigkeiten geführt hatte. Aufgrund der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit, die Hintergründe der Budgetbeantragung sowie die Budgetverwendung näher zu beleuchten, konzentriert sich die nachfolgende Auswertung schwerpunktmäßig auf die Themen „Motive und Hintergründe der Budgetbeantragung“ und „Verwendung des Persönlichen Budgets“. Da es sich in beiden Fällen um offene Fragen handelt, wird die Auswertung in Form einer Verschränkung qualitativer und quantitativer Analysen vorgenommen (vgl. dazu näheres in Kapitel 6.3). Andere Themen der Budgetnehmerbefragung werden jedoch ebenfalls in die Auswertung einbezogen, dienen allerdings der Kontrastierung und Validierung der Typenbildung (vgl. dazu Kapitel 6.1.3). Besondere Bedeutung kommt beispielsweise den personenbezogenen Angaben zu, weil diese vermutlich in engem Bezug zur Budgetbeantragung und Verwendung des Budgets stehen (z.B. Geschlecht, Alter, Art der Behinderung usw.). Im Kontext der Budgetverwendung soll ebenso betrachtet werden, wie sich die Rekrutierung der Unterstützungspersonen bzw. Dienstleister gestaltete. Andere Themen der Budgetnehmerbefragung werden hingegen nicht berücksichtigt. 6.2.1.3
Durchführung, Datenbasis und Vergleich zur Grundgesamtheit
Mit jedem neu bewilligten Persönlichen Budget in den Modellregionen sind der wissenschaftlichen Begleitforschung entsprechende Kontaktdaten und eine Einwilligungserklärung zur Befragung zugeleitet worden. Im Falle einer Einwilligung wurden die Budgetnehmer/innen dann nach einem zeitlichen Abstand von mindestens drei Monaten nach Bewilligung des Budgets88 direkt angeschrieben 88
Dieser Zeitraum wurde festgelegt, damit die Budgetnehmer/innen erste Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget sammeln konnten.
220
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
und zunächst nach der jeweils gewünschten Erhebungsart (schriftlich, telefonisch, persönlich) gefragt. Nach entsprechender Rückmeldung der Budgetnehmer/innen konnten dann die jeweiligen Befragungen vorgenommen werden. Da während des gesamten Projektzeitraums immer wieder neue Budgets bewilligt wurden, erstreckte sich die Erstbefragung über einen Zeitraum von über einem Jahr. Die ersten mündlichen Befragungen wurden dabei im Februar 2006, die letzen im März 2007 durchgeführt. Schriftliche Fragebögen gingen allerdings noch bis Mai 2007 ein. Insgesamt konnten im Rahmen der Erstbefragung 196 Budgetnehmer/innen befragt werden. Betrachtet man dabei die verschiedenen, jeweils von den Budgetnehmer/innen favorisierten Befragungswege, so überwiegen schriftliche Befragungen. Tabelle 7 zeigt die Verteilung der durchgeführten Erhebungen. Art der Befragungen Schriftliche Befragungen
100
51%
Telefonische Interviews
53
27%
Persönliche Interviews
43
22%
Gesamt
196
100%
Tabelle 7: Anzahl der durchgeführten Erhebungen nach Befragungsart (Quelle: Metzler 2007, 69; verkürzt dargestellt) Was wiederum die Teilnahme der Budgetnehmer/innen an diesen Befragungen betrifft, so wird deutlich, dass die meisten Befragungen unter Anwesenheit der Budgetnehmer/innen durchgeführt wurden. Tabelle 8 zeigt die entsprechende Verteilung nach Befragungspersonen und Erhebungsform. Die meisten Befragungen (61%) konnten demnach mit den Budgetnehmer/ innen allein realisiert werden. In 17% der Fälle waren neben den Budgetnehmer/ innen andere Personen anwesend. Bei insgesamt 78% aller Befragungen waren die Budgetnehmer/innen daher direkt an der Erhebung beteiligt, so dass davon auszugehen ist, dass die Mehrheit der Befragungen die subjektiven Einschätzungen und Wahrnehmungen der Budgetnehmer/innen repräsentieren. In den restlichen Fällen konnte keine direkte Befragung der Budgetnehmer/ innen erfolgen. Grund dafür war, dass es sich entweder um Kinder handelte oder dass sich die Budgetnehmer/innen aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sahen, an der Erhebung teilzunehmen. Stattdessen wurden in 22% der Fälle Stellvertreter/innen der Budgetnehmer/innen befragt (z.B. Angehörige, gesetzli-
221
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
che Betreuer/innen oder andere Vertrauenspersonen). Dabei überwiegten insbesondere telefonische Interviews mit den Eltern der Budgetnehmer/innen. Inwiefern diese Stellvertreter/innen die subjektiven Sichtweisen der Budgetnehmer/ innen adäquat wiedergeben konnten, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Da es sich aber mehrheitlich um Eltern oder gesetzliche Betreuer/innen handelt, ist davon auszugehen, dass diese Einschätzungen zumindest eine Annäherung darstellen. Art der Befragung Befragte Person(en)
Befragung mit einer Person
Befragung mit mehreren Personen
Total
persönlich
schriftlich
telefonisch
Gesamt
Budgetnehmer/in selbst
23
72
25
120
Gesetzliche Betreuer/innen
2
1
6
9
Angehörige*
1
11
20
32
Sonstige Personen (Haushaltshilfe, Pflegeeltern)
-
-
2
2
Budgetnehmer/in und gesetzliche Betreuer/innen
4
13
-
17
Budgetnehmer/in und Angehörige/Partner
3
-
-
3
Budgetnehmer/in und (Budget-)Assistent/innen
5
3
-
8
Sonstige Konstellation**
5
-
-
5
43
100
53
196
* In den meisten Fällen war dies die Mutter (n=25). ** Zusammen mit mehreren Personen (gesetzliche Betreuer/innen und Angehörige/Partner, Assistent/innen)
Tabelle 8: Befragte Personen nach Befragungsart (modifiziert nach Metzler u.a. 2007, 69) Die Anzahl der befragten Budgetnehmer/innen sowie einige ausgewählte personenbezogene Aspekte können weiterhin den Dokumentationsunterlagen aus den Modellregionen gegenübergestellt werden, um zu überprüfen, inwiefern die
222
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
durch die Befragung erfassten Budgetnehmer/innen die „Grundgesamtheit“ repräsentieren.89 Demnach wurden mit einer Anzahl von 196 befragten Budgetnehmer/innen bei einem Stand von 494 Persönlichen Budgets in den Modellregionen knapp 40% aller dokumentierten Persönlichen Budgets erfasst. Betrachtet man jedoch die verschiedenen Gründe, warum eine Befragung nicht zustande kam, relativiert sich diese „Realisierungsquote“ etwas. Folgende Einschränkungen sind dabei zu beachten:
Von insgesamt 142 Budgetnehmer/innen wurden der wissenschaftlichen Begleitforschung entweder von Anfang an keine Kontaktdaten zugeleitet (vermutlich, weil die Budgetnehmer/innen ihre Einwilligung zur Umfrage nicht erteilt hatten) oder aber die Budgetnehmer/innen selbst verweigerten eine Teilnahme an der Befragung schriftlich. Eine weitere Einschränkung ergibt sich dadurch, dass einige Persönliche Budgets zum Zeitpunkt der Erhebung bereits wieder ausgelaufen, eingestellt oder (erfolgreich) beendet wurden und andere Budgets nur als Einmalzahlung bewilligt worden sind. In insgesamt 16 Fällen wurde daher auf eine Befragung verzichtet. Da als Voraussetzung für die Teilnahme an der Erhebung festgelegt wurde, dass die in Frage kommenden Personen seit mindestens 3 Monaten schon ein Persönliches Budget haben sollten, wurden letztendlich nur Budgetnehmer/innen angeschrieben, die ihr Budget bereits vor dem Januar 2007 erhalten haben. Personen, deren Persönliches Budget erst ab Januar 2007 bewilligt wurde, sollten hingegen nicht mehr befragt werden. Hierbei handelt es sich um weitere 84 Budgetnehmer/innen, die nicht mehr erfasst werden konnten.
Fasst man diese Einschränkungen zusammen, standen im Grunde genommen nur 252 Budgetnehmer/innen potenziell für die Erstbefragung zur Verfügung. Eine Neuberechnung der Realisierungsquote auf dieser Basis ergibt schließlich eine Quote von 78%.
89
Die Gesamtzahl aller Dokumentationsunterlagen aus den Modellregionen (n=494) bildet den Ausgangspunkt der Befragung und stellt damit die „Grundgesamtheit“ dar. Mit Verweis auf Kastl, Metzler (2005, 62) kann sicher kritisch hinterfragt werden, inwiefern man im Kontext von Modellprojekten überhaupt von einer Grundgesamtheit sprechen kann, weil nur Daten in bestimmten Modellregionen gesammelt werden. Allerdings konnte zu diesem Zeitpunkt auf keine andere Grundgesamtheit zurückgegriffen werden.
223
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
Anzahl aller dokumentierten Persönlichen Budgets
494
Fehlende Kontaktdaten/Einwilligungserklärung
142
Budget vorzeitig wieder eingestellt/beendet/ausgelaufen
16
Beginn des Budgets erst ab Januar 2007
84
Potenziell in Frage kommenden Budgetnehmer/innen
252
Durchgeführte Befragungen
196
Realisierungsquote
78%
Tabelle 9: Anzahl der realisierten Befragungen im Verhältnis zur Grundgesamtheit (Quelle: Metzler u.a. 2007, 68) Da auf Basis der Dokumentationsunterlagen aus den Modellregionen detaillierte Informationen zum Personenkreis aller 494 Budgetnehmer/innen vorliegen, können einige personen- und budgetbezogene Merkmale wie Alter, Geschlecht, Art der Behinderung, Höhe und Zusammensetzung der Budgets dem Personenkreis der befragten 196 Budgetnehmer/innen gegenübergestellt werden (Tabelle 10). Insgesamt zeigt sich, dass die im Rahmen der Budgetnehmerbefragung erfassten Personen die Grundgesamtheit aller 494 dokumentierten Budgetnehmer/ innen mit kleineren Einschränkungen widerspiegeln. Unterschiede zwischen der Gesamtgruppe und der befragten Budgetnehmer/innen bestehen jedoch in Bezug auf
das Geschlechterverhältnis (in der Befragung wurden etwas mehr Männer als Frauen erfasst), Art der Behinderung (Menschen mit psychischen Erkrankungen sind im Gegensatz zur Gesamtgruppe unterrepräsentiert, während Menschen mit körperlichen Behinderungen deutlich stärker vertreten sind), Höhe und Zusammensetzung der Persönlichen Budgets (in der Befragung wurden im Verhältnis zur Gesamtheit mehr Trägerübergreifende Persönliche Budgets erfasst; entsprechend fällt auch die durchschnittliche Höhe der Persönlichen Budgets unterschiedlich aus).
224
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Personenbezogene Angaben Alle Budgetnehmer/innen (dokumentierte Budgets)
Befragte Budgetnehmer/innen
494
196
Anzahl
Geschlecht
54% 46%
Durchschnittsalter
Art der vorrangigen Behinderung
männlich (n=269) weiblich (n=225)
59% 41%
37 Jahre
46% 29% 18% 7%
männlich (n=115) weiblich (n=81)
38 Jahre
Psychische Erkrankung Geistige Behinderung Körperliche Behinderung Sonstige Behinderung*
37% 29% 25% 9%
Psychische Erkrankung Geistige Behinderung Körperliche Behinderung Sonstige Behinderung*
Einfachzuständigkeit Trägerübergreifend
90% 10%
Einfachzuständigkeit Trägerübergreifend
Budgetbezogene Angaben Trägerübergreifende Budgets
Durchschnittliche Höhe der Budgets
94% 6%
1.041€
1.231€
* Sonstige Behinderung: chronische (organische) Erkrankungen, Sinnesbeeinträchtigungen (Hör- und Sehbehinderung), Entwicklungsverzögerungen bei Kindern.
Tabelle 10: Personen- und budgetbezogene Merkmale der befragten Budgetnehmer/innen im Vergleich zur Gesamtzahl aller Budgetnehmer/innen (modifiziert nach Metzler u.a. 2007, 69) Neben der eher typischen geschlechtsspezifischen Bereitschaft, sich an empirischen Erhebungen zu beteiligen, und den unterschiedlichen kognitiv-kommunikativen Voraussetzungen, die es insbesondere Menschen mit körperlichen Behinderungen erleichtert, an Befragungen teilzunehmen, lassen sich diese Differenzen auch durch die unterschiedliche Realisierungsquote in den verschiedenen Modellregionen erklären. Beispielsweise ist der Anteil an Budgetnehmer/innen mit einer körperlichen Behinderung und einem Trägerübergreifenden Persönlichen
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
225
Budget in der Modellregion Berlin relativ hoch und insbesondere in Berlin konnten eine Vielzahl an Befragungen realisiert werden. Auf der anderen Seite ist beispielsweise der Anteil der Personen mit einer psychischen Erkrankung unter den Befragungspersonen vergleichsweise niedrig, obwohl diese Gruppe doch nahezu die Hälfte aller Budgetnehmer/innen in der Gesamtgruppe darstellt. Diese Personengruppe ist allerdings wiederum insbesondere in den Modellregionen stärker ausgeprägt, in denen im Verhältnis gesehen weniger Befragungen durchgeführt werden konnten (etwa in Rheinland-Pfalz oder in Bielefeld). Die Unterschiede in der Höhe und Zusammensetzung der Persönlichen Budgets bedingen sich hingegen gegenseitig und resultieren wiederum aus der Überrepräsentanz von Menschen mit körperlicher Behinderung. Da in der Budgetnehmerbefragung im Verhältnis gesehen mehr Menschen mit Körperbehinderung erfasst wurden, liegt auch der Anteil an trägerübergreifend konzipierten Budgets vergleichsweise hoch, weil insbesondere Menschen mit körperlichen Behinderungen ein Trägerübergreifendes Persönliches Budget erhalten. Da solche trägerübergreifend konzipierten Budgets wiederum im Schnitt deutlich höher bemessen werden als Budgets in Einfachzuständigkeit, ergibt sich ein höherer Durchschnittswert in der Befragungsgruppe. 6.2.2 Die Wiederholungsbefragung Für die nachfolgende Analyse werden die Ergebnisse der Wiederholungsbefragung zwar nur zum Teil berücksichtigt, dennoch sollen Zielsetzung, Vorgehensweise und Datenbasis der Wiederholungsbefragung kurz vorgestellt werden, weil beispielsweise Fragen zu den Erwartungen an das Budget sowie nach Veränderungen der Budgetverwendung zentraler Bestandteil der Nachbefragung sind. Da die vorliegende Arbeit intendiert, die Motive der Budgetbeantragung sowie die Budgetverwendung detailliert zu untersuchen, sollen Ergebnisse aus diesem Themenbereich in die Betrachtung mit einfließen. Als Ergänzung zur kontinuierlich laufenden Erstbefragung sollten diejenigen Budgetnehmer/innen, die bereits im Rahmen der ersten Erhebung befragt worden waren, nach einer gewissen Zeit nochmals zu einer Nachbefragung angeschrieben werden. Die Wiederholungsbefragung wurde im Gegensatz zur Erstbefragung ausschließlich schriftlich durchgeführt und fand Anfang des Jahres 2007 statt.90 Zwar sollten so viele Budgetnehmer/innen wir möglich in die Wiederholungsbefragung einbezogen werden, Voraussetzung war allerdings, dass zwischen der Erstbefragung und der Zweitbefragung ein Abstand von etwa einem 90
Mit der Erstbefragung wurde versucht, jede/r neue Budgetnehmer/in in die Befragung einzubeziehen, unabhängig davon, wann das Persönliche Budget bewilligt wurde. Im Gegensatz dazu fand die Wiederholungsbefragung nur in einem bestimmten Zeitraum statt (Januar – Februar 2007).
226
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
halben Jahr liegt, damit entsprechende Erfahrungen mit dem Budget gesammelt werden konnten. Aus diesem Grunde stellt die Gruppe der wiederholt befragten Budgetnehmer/innen nur eine Teilgruppe innerhalb der Gruppe aller befragten Budgetnehmer/innen dar. Das wesentliche Ziel dieser Wiederholungsbefragung bestand darin herauszufinden, ob die Budgetnehmer/innen nach wie vor ein Persönliches Budget erhalten. Daneben sollten aber insbesondere Veränderungen in der Budgetnutzung berücksichtigt werden. Um Entwicklungen bzw. Veränderungen zur Erstbefragung in den Blick zu bekommen, mussten die Nachbefragung ähnlich gestaltet werden. Aus diesem Grunde besteht der Fragebogen für die Wiederholungsbefragung aus den gleichen Themen wie in der Erstbefragung, so dass die Ergebnisse der Erstbefragung gegenübergestellt werden können. Neben der Frage, ob die betreffenden Personen immer noch ein Persönliches Budget erhalten, wurde danach gefragt,
ob sich an der Lebenssituation der Budgetnehmer/innen etwas verändert hat, seitdem sie das Persönliche Budget erhalten und ob in Zukunft (weitere) Veränderungen erwartet werden (Erstbefragung: Wohn- und Beschäftigungssituation), ob sich die Erwartungen an das Persönliche Budget, d.h. was sich die Budgetnehmer/innen von der Nutzung des Persönlichen Budgets versprochen hatten, erfüllt haben (Erstbefragung: Motive der Budgetbeantragung), ob sich die Verwendung des Budgets zwischenzeitlich verändert hat bzw. eine Veränderung gewünscht wird (Erstbefragung: Budgetverwendung), ob die Budgetnehmer/innen (weitere) Beratung und Unterstützung im Umgang mit dem Persönlichen Budget benötigen (Erstbefragung: Informationen/Beratung zum Persönlichen Budget; Unterstützung bei der Budgetverwaltung und -verwendung), ob sich etwas an der Höhe des Budgets geändert hat und inwiefern das Budget bisher ausgereicht hatte (Erstbefragung: Bemessung der Budgets), ob sich die befragten Personen wieder für das Persönliche Budget entscheiden würden und inwiefern sie mit dieser Lösung zufrieden sind (Erstbefragung: Bewertung des Budgets).
Insgesamt liegen im Rahmen dieser Nacherhebung Informationen von 84 Budgetnehmer/innen vor. Dies entspricht etwa 43% aller befragten Budgetnehmer/innen. Einschränkend muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass nicht alle 196 Budgetnehmer/innen für die Wiederholungsbefragung angeschrieben werden konnten, da ein Abstand von einem halben Jahr zwischen der Erstbefragung und der Zweitbefragung liegen sollte. Aus diesem Grunde kamen zum Erhebungszeitpunkt der Nachbefragung Anfang des Jahres 2007 nur 153 Personen in Frage.
227
6.2 Empirische Daten der wissenschaftlichen Begleitforschung
Von diesen 153 Personen wollten wiederum 6 Budgetnehmer/innen von vorneherein nicht an der Zweitbefragung teilnehmen, so dass insgesamt 147 schriftliche Fragebögen verschickt wurden. Bemisst man daher den Rücklauf anhand der versendeten Fragebögen ergibt sich eine Rücklaufquote von 57%. Personenbezogene Angaben
Anzahl
Geschlecht
59% 41%
Durchschnittsalter
Art der vorrangigen Behinderung
Alle befragten Budgetnehmer/innen
Wiederholt befragte Budgetnehmer/innen
196
84
männlich (n=115) weiblich (n=81)
62% 38%
38 Jahre
37% 29% 25% 9%
männlich (n=52) weiblich (n=32)
39 Jahre
Psychische Erkrankung Geistige Behinderung Körperliche Behinderung Sonstige Behinderung*
30% 27% 31% 12%
Psychische Erkrankung Geistige Behinderung Körperliche Behinderung Sonstige Behinderung*
Einfachzuständigkeit Trägerübergreifend
88% 12%
Einfachzuständigkeit Trägerübergreifend
Budgetbezogene Angaben Trägerübergreifende Budgets
Durchschnittliche Höhe der Budgets
90% 10%
1.231€
1.526€
* Sonstige Behinderung: chronische (organische) Erkrankungen, Sinnesbeeinträchtigungen (Hör- und Sehbehinderung), Entwicklungsverzögerungen bei Kindern.
Tabelle 11: Personen- und budgetbezogene Merkmale der wiederholt befragten Budgetnehmer/innen im Vergleich zur Gesamtzahl aller befragten Budgetnehmer/innen (eigene Berechnungen) Eine Gegenüberstellung ausgewählter personen- und budgetbezogener Merkmale zwischen der Gesamtgruppe aller 196 Befragungspersonen und der im Rahmen der Wiederholungsbefragung erfassten 84 Budgetnehmer/innen, zeigt ebenfalls Unterschiede (vgl. Tabelle 11). Dabei kann vermutet werden, dass sich die be-
228
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
reits oben diskutierten Ursachen für die Unterschiede zwischen der Gesamtgruppe aller 494 erfassten Budgetnehmer/innen und der Befragungsgruppe (vgl. Tabelle 10) auch an dieser Stelle reproduzieren bzw. noch verstärken. Entsprechend spielen auch in der Teilgruppe der wiederholt befragten Budgetnehmer/innen regionenspezifische Charakteristika eine Rolle. Ebenso gehen die Unterschiede auf die bereits in der Erstbefragung überproportional vertretenen Menschen mit körperlichen Behinderungen zurück (Anteil trägerübergreifender Budgets, durchschnittliche Höhe der Persönlichen Budgets). 6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte – Verschränkung qualitativer und quantitativer Analysen 6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte Da es sich bei der Budgetnehmerbefragung um ein halbstrukturiertes Befragungsinstrument handelt, liegen qualitativ verwertbare Informationen als auch quantitative Daten vor. Nach einer erfolgten Kategorisierung der offenen Nennungen ist es aber auch möglich, qualitative Informationen ebenfalls einer quantitativen Analyse zugänglich zu machen. Daher konnten alle 196 ausgefüllten Interviewleitfäden bzw. Fragebögen mit Hilfe des Statistikprogramms SPSS elektronisch erfasst und verarbeitet werden. Die persönlichen Interviews liegen zudem in transkribierter Form vor und zu den Telefoninterviews wurden jeweils Gesprächsprotokolle mit relevanten Kontextinformationen angefertigt. Aufgrund dieser Materialvielfalt kann bei der Auswertung sowohl auf „Text“ (Interviews, offene Fragen) als auch auf kategorisierte Variablen (geschlossene Fragen) zurückgegriffen werden. Entsprechend eröffnet sich eine Vielfalt an Auswertungsmöglichkeiten, und es sind sowohl qualitative Analysen einzelner Themen als auch quantitative Auswertungen möglich. Da die qualitativen Informationen aber nach erfolgter Kategorisierung auch quantifiziert werden konnten, sind alle Fragen einer quantitativen Auswertung zugänglich. Im Folgenden wird ausführlich beschrieben, welche verschiedenen Analysen durchgeführt und welche Datengrundlage dazu jeweils ausgewertet werden. Da es sich um verschiedene Auswertungsschritte handelt, wird im Anschluss die Chronologie der Auswertungen aufgefächert. 6.3.1 Die qualitative Analyse Bei beiden Schwerpunktthemen (Motive der Budgetbeantragung sowie Budgetverwendung) besteht der erste Auswertungsschritt stets in einem qualitativen Analyseschritt. Da es sich bei den beiden Fragen nach den Motiven der Budgetbeantragung und nach dem Inhalt bzw. der Organisation der Budgetverwendung
6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte
229
jeweils um offene Fragen handelt, war es erforderlich, zunächst Kategorien zu bilden, um eine spätere quantitative Auswertung vornehmen zu können.91 In einem ersten Schritt musste daher die Vielfalt an Antworten zunächst durch eine Kategorisierung reduziert werden. Aus diesem Grunde wurde zur systematischen Durchsicht des Materials (transkribierte Interviews, Protokolle der Telefoninterviews, schriftlich ausgefüllte Fragebögen) ein Kategoriensystem entwickelt. Entsprechende Textpassagen konnten dann den Kategorien zugeordnet werden, weil nur auf Basis dieser Kategorien eine anschließende quantitative Auswertung ermöglicht werden kann. Methodisch lehnt sich die Kategorienbildung an die qualitative Inhaltanalyse an (vgl. Mayring 2002, 114ff.). Die Technik der qualitativen Inhaltsanalyse sei daher kurz beschrieben: Inhaltsanalytische Verfahren sind stärker „theoriegeleitet“ als andere qualitative Auswertungsverfahren und ein wesentlicher Vorteil der inhaltsanalytischen Verfahren ist es, dass auch quantitative Auswertungen möglich sind (vgl. dazu ebd., 117). Aus diesem Grunde eignet sich das Verfahren für die vorliegende Zielsetzung besonders. Voraussetzung für die Inhaltsanalyse ist dabei die Entwicklung eines Kategoriensystems. Die Verwendung von Kategorien, die meist aus theoretischen Annahmen vorab entwickelt werden, ist dabei gleichermaßen das wesentliche Kennzeichen inhaltsanalytischer Verfahren: „Kategorien werden an das Material herangetragen und nicht unbedingt daraus entwickelt, wenngleich sie immer wieder daran überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen ist das Ziel hier vor allem die Reduktion des Materials“ (Flick 2007, 409).
Ein solches Kategoriensystem wird meist im Vorfeld festgelegt und dient als Struktur und Gerüst für den (ersten) Materialdurchgang: „Sie [die Inhaltsanalyse] zerlegt ihr Material in Einheiten, die sie nacheinander bearbeitet. Im Zentrum steht dabei ein theoriegeleitet am Material entwickeltes Kategoriensystem; durch dieses Kategoriensystem werden diejenigen Aspekte festgelegt, die aus dem Material herausgefiltert werden sollen“ (Mayring 2002, 114).
91
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die qualitative Analyse darauf abzielte, stets das gesamte Textmaterial (d.h. das gesamte transkribierte persönliche Interview bzw. Protokoll des Telefoninterviews oder den gesamten schriftliche Fragebogen) nach bestimmten Aussagen zu durchforsten und sich nicht nur die Antworten auf die beiden Kernfragen nach den Gründen der Budgetbeantragung und dem Inhalt und der Organisation der Budgetverwendung zu konzentrieren. Unabhängig von diesen beiden Fragen im Interviewleitfaden bzw. im Fragebogen wurde daher auch in anderen Themenbereichen nach inhaltlich relevanten Informationen gesucht, die mit der Intention der Budgetbeantragung und der Verwendung des Budgets in Verbindung stehen.
230
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Zusätzlich zu den im Vorfeld festgelegten Kategorien (deduktive Kategorienbildung) können aber auch Kategorien induktiv gebildet werden (vgl. Mayring 2002, 115f.). Die Vorgehensweise sieht dabei folgendermaßen aus: Entlang eines im Vorfeld festgelegten Kategoriensystems wird das Material nach Passagen durchsucht, die diesen Kategorien (eindeutig) zugeordnet werden können. Wenn bestimmte Textstellen den vorab definierten Kategorien nicht mehr zuordenbar sind, sind neue Kategorien – induktiv – zu entwickeln. Lassen sich also in einem ersten Materialdurchgang nicht alle Passagen dem (ersten) Kategoriensystem unmittelbar zuordnen, können in einem zweiten Materialdurchgang auch neue, zusätzliche Kategorien aus dem Material heraus entwickelt werden, die mit dem vorgegebenen Kategoriensystem bisher nicht abgedeckt werden konnten. Die Vorgehensweise der Kategorienbildung erfolgte daher zweigeteilt und stellt letztendlich eine Verschränkung von „Suchen“ und „Finden“ dar. Insofern ist es möglich, das gesamte Material umfassend zu bearbeiten und sämtliche Textstellen zu „verwerten“. Die beiden Arbeitsschritte werden im Folgenden kurz erklärt. 1) Deduktion: Festlegen eines Kategoriensystems (theoriegeleitete Kategorienbildung) Für einen ersten Materialdurchgang werden im Vorfeld verschiedene abstrakte Begriffe – Kategorien – festgelegt, die als Gerüst für die Zuordnung der Textpassagen dienen. Die Kategorien sollen dabei so gebildet werden, dass sie eindeutig voneinander abgegrenzt sind. Zu diesem Zweck empfiehlt es sich, die Kategorien zu dimensionieren, d.h. es muss klar sein, welche „Ausprägungen“ eine Kategorie beinhaltet und welche nicht (vgl. ebd., 100f.). Kategorien können zu diesem Zweck unterteilt werden in verschiedene Unterkategorien, die sinnlogisch innerhalb einer Kategorie zusammengefasst werden. Unterkategorien stellen also sozusagen die verschiedenen „Ausprägungen“ einer Kategorie dar. Bezogen auf die vorliegende Fragestellung bildet eine Unterkategorie beispielsweise ein konkretes „Motiv“ der Budgetbeantragung ab (z.B. eine bestimmte Freizeitaktivität zu finanzieren), welches wiederum einer übergeordneten Kategorie – einem Motivkomplex – zugeordnet ist (z.B. Verbesserung sozialer Kontakte bzw. von Teilhabechancen). Im Gegensatz zum zweiten Materialdurchgang, in dem die Kategorienbildung induktiv erfolgt und die Kategorien erst nach der Kodierung konstruiert werden können, wurde im ersten Materialdurchgang bereits im Vorfeld genau festgelegt, nach welchen inhaltlichen Informationen gesucht werden soll. Dieser Arbeitsschritt stellt ein deduktives Element im Auswertungsprozess dar. Dabei wurden zunächst (abstrakte) Kategorien gebildet und dann überlegt, welche Unterkategorien jeweils relevant sein könnten. Dieses Kategoriensystem (einschließlich der Unterkategorien) diente dann als Raster für den ersten Materialdurchgang: Können einzelne Passagen dann einer Unterkategorie zugeordnet werden,
6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte
231
sind sie gleichermaßen automatisch auch einer Oberkategorie zugeordnet. Die Unterkategorien sollten es dabei aufgrund eines höheren Konkretisierungsgrads ermöglichen, potenzielle Textstellen besser zu finden und zu verarbeiten. Am Beispiel der Motive zu Budgetbeantragung lässt sich ein solches Kategorienschema exemplarisch darstellen. In Anlehnung an die vorangestellte theoretische Auseinandersetzung mit den Erwartungen an das Persönliche Budget (Kapitel 3) und der systematischen Sichtung der Ergebnisse verschiedener Modellprojekte (Kapitel 4 und 5) kamen zunächst folgende Kategorien in Frage: Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Einflussnahme, Flexibilität, individuelle Lösungen, soziale Beziehungen. Zu jeder einzelnen Kategorie wurden weiterhin verschiedene „Ausprägungen“ gesucht und entsprechende Unterkategorien entwickelt, die in der folgenden Tabelle dargestellt sind:92 Kategorie
Selbstständigkeit
Selbstbestimmung
Unabhängigkeit
Einflussnahme
Flexibilität
92
Unterkategorie, Ausprägungen (Kode) Verselbstständigung in Form eines Auszugs aus stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe Verselbstständigung in Form eines Auszugs aus dem elterlichen Haushalt Erhalt der selbstständigen Lebensführung; Vermeidung einer Klinikoder Heimaufnahme Verbesserung der Selbstständigkeit (etwa nach einem Auszug aus stationären Einrichtungen oder zur Vorbereitung eines Auszugs) Wunsch nach einer selbstbestimmter Lebensführung, eigenverantwortliche Lebensplanung, Entscheidungsfreiheit Selbstbestimmter Umgang mit Leistungen Regiekompetenz und Verfügungsmacht über das Budget Unzufriedenheit mit (bisherigen) Leistungsanbietern Wunsch nach einem Wechsel der Anbieter Vermeidung der Abhängigkeit von professionellen Diensten Veränderung der Rolle als abhängiger Hilfeempfänger; verändertes (Macht-)Verhältnis zw. Leistungserbringer und -empfänger; Wahrnehmen der Machtposition als „kritischer“ Kunde Wettbewerbsdruck zwischen Leistungsanbietern erzeugen Qualitätsverbesserung bisheriger und zukünftiger Leistungsanbieter Flexibilität in der zeitlichen Gestaltung der Unterstützung Flexibilität in der personellen Auswahl der Unterstützungspersonen und Dienstleister Flexibilität in der inhaltlichen Ausgestaltung der Leistungen
Einige Unterkategorien wurden jedoch in einem zweiten Materialdurchgang erst nachträglich induktiv gebildet; diese sind in Tabelle 12 kursiv gekennzeichnet.
232
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Kategorie
Unterkategorie, Ausprägungen (Kode)
Soziale Beziehungen
Teilhabechancen und soziale Kontakte durch Verbesserung von Mobilität und Aktivität Erhalt sozialer Netzwerke und Ressourcen
Individuelle Lösungen
Subjektiv favorisierte Unterstützung, individuelle und passende Unterstützungsarrangements Betonung eines individuellen Lebensstils Innovative Lösungen und Alternativen zur professioneller Unterstützung Lebensphasenorientierte Unterstützungsformen Verwirklichung musisch-kultureller und intellektueller Interessen
Tabelle 12: Vordefinierte Kategorien und zugeordnete Unterkategorien zum Thema „Motive der Budgetbeantragung“ Die Darstellung zeigt, inwiefern die gewählten Kategorien inhaltlich „mit Leben gefüllt“ wurden. Etwa sind in der Kategorie „Selbstständigkeit“ Unterkategorien wie die „Verselbstständigung in Form eines Auszugs aus einer stationären Einrichtung“ oder „in Form eines Auszugs aus dem elterlichen Haushalt“ genauso wie die Unterkategorien „Erhalt“ bzw. „Verbesserung einer selbstständigen Lebensführung“ zusammengefasst, weil es in allen diesen Motivlagen um das Realisieren einer selbstständigen Lebensführung geht. Ein weiteres Beispiel ist die Kategorie „Flexibilität“, die sich wiederum aus drei Unterkategorien speist, nämlich dem Wunsch nach zeitlichen, personellen und inhaltlichen Dispositionsspielräumen. Zusätzlich zu diesen Kategorien wurden in einem zweiten, induktiven Materialdurchgang noch weitere Kategorien gefunden, die im Folgenden dargestellt werden: 2) Induktion: Entwicklung neuer Kategorien aus dem Material (offenes Kodieren) Passagen, die keiner der oben genannten Kategorien zugeordnet werden konnten, mussten zunächst mit einem neuen Kode versehen werden. Hier lief der Auswertungsprozess allerdings andersherum ab: Zunächst erfolgte der Materialdurchgang offen, d.h. für die aus dem ersten Materialdurchgang übrig gebliebenen Stellen (d.h. noch nicht verkodeten Passagen) musste zunächst einmal ein Kode gefunden werden. Diese Form der Verkodung erfolgte daher nach dem Prinzip des „offenen Kodierens“: die jeweiligen Kodes entstehen in dieser Vorgehensweise erst während der Durchsicht und werden nicht zu Anfang festgelegt. In einem nächsten Schritt können diese Kodes dann gruppiert bzw. kategorisiert werden, so dass eine neue (Unter-) Kategorie entsteht (vgl. dazu auch Mayring 2002, 115f.; Flick 2007, 388ff.).
6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte
233
Diese Vorgehensweise ermöglichte eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der inhaltlichen Bedeutung und Richtung der jeweils gewählten Bezeichnungen. Somit konnten die Bezeichnungen der vergebenen Kodes auch sukzessive hinsichtlich inhaltlicher Aussage und Begrifflichkeit verändert bzw. angepasst werden. Bei jeder Zuordnung einer bestimmten Textstelle zu einem Kode wurde jedes Mal ausführlich geprüft, ob ein bereits gebildeter Kode die jeweilige Aussage und Intention abzubilden vermag, oder ob ein neuer Kode konstruiert werden muss bzw. die inhaltliche Ausgestaltung der zur Verfügung stehenden Kodes entsprechend verändert bzw. angepasst werden sollte. Insgesamt wurde dann aufgrund dieses relativ arbeitsintensiven und ausführlichen Kodierens eine Vielfalt verschiedener Kodes konstruiert. Da jedoch eine größere Anzahl an gefundenen Kodes noch keine merkliche Komplexitätsreduktion erwarten ließ, mussten die gefundenen Kodes nochmals daraufhin geprüft werden, ob sie sich weiter gruppieren bzw. abstrahieren lassen. In einem zweiten Schritt wurde daher versucht, die durch das offene Kodieren entstandene Vielfalt an Kodes wiederum zu Kategorien zusammenzufassen. In jede induktiv gewonnene Kategorie ging dann eine Gruppe inhaltliche ähnlicher Kodes ein. Die Ergebnisse dieses Arbeitsschritts lassen sich ebenfalls am Beispiel der Motive der Budgetbeantragung verdeutlichen: Die Zusammenfassung zu abstrakteren Kategorien erfolgte auf Basis verallgemeinerbarer Aussagen zur Budgetbeantragung, wie sie sich jeweils aus inhaltlich ähnlichen Kodes ergeben haben: Kategorie Ersatzlösungen
Versorgungssicherheit
Vereinfachung
Unterkategorie, Ausprägungen (Kode) Alternativlösung; Umgehen der Restriktionen des Sachleistungsprinzips Notlösungen; kurzfristige Lösungen Sicherstellung alltagspraktischer Unterstützung Sicherung psychosozialer Unterstützung Erhalt gewohnter Unterstützungsstrukturen Reduktion des Verwaltungs-/Abrechungsaufwands mit den Kostenträgern Finanzielle Vereinfachung/Planbarkeit Wunsch von Seiten der Eltern nach Entlastung
Entlastung
Wunsch von Seiten der Budgetnehmer/innen nach Entlastung der Eltern Entlastung anderer Angehöriger
Initiative Anderer
Anraten anderer Personen; Initiativ werden anderer Personen
Tabelle 13: Aus dem Prozess des offenen Kodierens gewonnene Kategorien zum Thema „Motive der Budgetbeantragung“
234
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Abschließend sei erwähnt, dass es sich bei der im Rahmen der qualitativen Analyse durchgeführten Kodierung und Kategorienbildung stets um eine Abstraktion handelt und die verschiedenen Antworten entsprechend vielfältiger ausfallen. Die Konstruktion von Kodes und zusätzlicher Bildung von Kategorien stellt allerdings einen Versuch dar, die Komplexität und Vielfalt der Nennungen so zu reduzieren, dass diese einer quantitativen Auswertung zugänglich sind. Zwar beinhaltet eine solche Zusammenfassung immer auch einen Informationsverlust, allerdings war die Zusammenfassung der Informationen im vorliegenden Fall notwendig, um neue Variablen generieren zu können, die einer anschließenden statistischen Auswertung zugänglich sind. Insofern konnte der vermutete Informationsverlust wiederum durch einen Zugewinn an Auswertungsmöglichkeiten kompensiert werden. 6.3.2 Quantifizierung der qualitativ gewonnenen Kategorien Vorteil der inhaltsanalytischen Auswertung ist es, dass die gefundenen Stellen (bzw. Kategorien) sowohl inhaltlich gedeutet, als auch „ausgezählt“, d.h. quantifiziert werden können. Nach einem abschließenden Materialdurchgang liegen somit nicht nur die entsprechenden inhaltlichen Zuordnungen der Textpassagen zu einer Kategorie vor, sondern auch Informationen darüber, wie häufig eine Kategorie vorkommt, d.h. genannt wurde (vgl. dazu auch Mayring 2002, 117). Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse konnte es daher gelingen, die textförmig vorliegenden Informationen bestimmten Kategorien zuzuordnen. Dabei wurde versucht, den vorliegenden Text systematisch durchzuarbeiten und umfassend zu verkoden. Diese Vorgehensweise erforderte es zunächst, dass das Material analytisch auseinander genommen und „zerschnitten“ wurde, d.h. jede einzelne Passage sollte jeweils einer passenden Kategorie zugewiesen werden, welche die Textstelle adäquat repräsentiert. Schlussendlich wurde angestrebt, sämtlichen Stellen im Text entsprechenden Kategorien zuzuteilen. Ergebnis der Materialanalyse ist daher nicht nur ein „Set“ an Kategorien mit Bezug zu den verschiedenen Textpassagen, sondern auch gleichzeitig die Zuordnung von Kategorien zu jedem einzelnen Fall. Da auf Basis dieser Zuordnung von Kategorien zu den Fällen nun auch ersichtlich ist, wie häufig jede einzelne Kategorien genannt wurden, kann letztlich eine quantitative Auswertung vorgenommen werden. Über alle Fälle hinweg ist es nun möglich, die Häufigkeit der genannten Kategorien auszuzählen. Aus diesem Grunde ist die Technik der qualitativen Inhaltsanalyse auch geeignet, qualitativ vorliegendes Material in quantifizierbare Informationen zu transformieren. Die gefundenen Kategorien können damit inhaltlich (im Sinne einer zugeordneten Textstelle) als auch statistisch (im Sinne von Häufigkeiten)
6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte
235
ausgewertet werden. Für die hier angestrebte empirisch begründete Typenbildung ist diese Vorgehensweise besonders wichtig, weil sie es erlaubt, jeder einzelnen Befragungsperson einen entsprechenden Wert zuzuweisen, je nachdem, ob eine Kategorie (z.B. ein bestimmtes Motiv) genannt wurde oder nicht. Dies gelingt am einfachsten mittels einer Transformation der verschiedenen Kategorien in binäre Zahlenkodes (dichotome Daten). Da es sich bei den gewonnenen Kategorien um dichotome, nominal skalierte Daten handelt, können diese mit einer simplen „ja-nein“ – Zuordnung versehen werden. „Ja“ würde etwa bedeuten, dass ein bestimmtes Motiv oder eine bestimmte Art der Budgetverwendung genannt, „nein“ hingegen, dass jenes Motiv oder jene Art der Budgetverwendung nicht angeführt wurde. Die jeweiligen Antwortmöglichkeiten können dann mit entsprechenden Zahlenwerten (0=nein, 1=ja) kodiert und jedem einzelnen Fall zugeordnet werden. Abschließend erhält man je Kategorie eine dichotome (bzw. binäre) Variable, die darüber Auskunft gibt, wie viele Untersuchungseinheiten eine bestimmte Kategorie genannt haben und wie viele nicht.
6.3.3 Die quantitative Analyse In einem dritten Schritt sollten nun die in binäre Variablen transformierten Kategorien quantitativ ausgewertet werden. Wie oben beschrieben, musste dazu das in qualitativer Form vorliegende Material „quantifiziert“ werden, d.h. so vereinheitlicht werden, dass den gewonnenen qualitativen Informationen bestimmte Zahlenwerte zugeordnet werden, die dann einer statistischen Auswertung zugänglich sind. Über mehrere Kategorien hinweg eröffnete dies zudem die Möglichkeit, alle relevanten Befragungspersonen zu clustern, die ein ähnliches Antwortverhalten aufweisen, d.h. ähnliche Kategorien in Kombination benannt haben. Ziel dieses quantitativen Auswertungsschritts war es daher, einerseits Aussagen über die Häufigkeit der verschiedenen Kategorien treffen zu können, andererseits aber auch Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Kategorien aufzudecken, die dann in eine Typologie einfließen können. Aus diesem Grunde lassen sich im quantitativen Auswertungsteil wiederum drei verschiedene Analyseschritte unterscheiden: 1.
Univariate Datenanalyse: Durch die Dichotomisierung der im Rahmen der qualitativen Analyse extrahierten Motive der Budgetbeantragung und Formen der Budgetverwendung („ja“=1, „nein“=0) sind die jeweiligen Themen einer quantitativen Häufigkeitsauszählung zugänglich und es konnte z.B. ausgewertet werden, welche Motive am häufigsten genannt werden oder für welche Leistungen das Persönliche Budget am meisten eingesetzt wird.
236 2.
3.
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Multivariate Datenanalyse: Die Quantifizierung der qualitativen Informationen ermöglicht es zudem, die Vielfalt der Nennungen in Beziehung zueinander zu setzen, indem beispielsweise betrachtet wird, welche Kategorien häufig in Kombination genannt werden. Diese Vorgehensweise bildet die Basis der nachfolgenden empirisch begründeten Typenbildung mit Hilfe einer Clusteranalyse, weil sich auf Basis dieser Kombinationen einzelne Fälle mit ähnlichem Antwortverhalten gruppieren lassen. Dazu wurde zunächst eine Faktorenanalyse über die Motive der Budgetbeantragung durchgeführt. Wesentlicher Vorteil einer Faktorenanalyse als „‚Daten reduzierendes‘ Verfahren“ (Bortz 2005, 513) ist es dabei, die Vielfalt der genannten Motive zunächst einmal reduzieren zu können, weil Motive, die häufig in Kombination genannt wurden, in einem Faktor zusammengefasst werden. Mit Hilfe einer Faktorenanalyse können „Variablen gemäß ihrer korrelativen Beziehungen in voneinander unabhängige Gruppen klassifiziert werden“ (ebd., 512). Insofern konnte damit die Anzahl der in die Analyse einbezogenen Motive zunächst einmal verringert werden. Das Hauptziel der Faktorenanalyse bestand jedoch darin, dass sie die Clusteranalyse vorbereiten sollte. Zum einen erleichtert eine Reduktion der Variablenzahl die Durchführung einer Clusteranalyse (vgl. dazu Bühl, Zöfel 2000, 482), zum anderen können mittels einer Faktorenanalyse für jeden einzelnen Fall sogenannte Faktorenwerte berechnet werden, die angeben, wie stark die zu einem Faktor zusammengefassten Kategorien bei jeder einzelnen Untersuchungsperson ausgeprägt sind (vgl. dazu Bortz 2005, 519; zur Verschränkung von Faktorenanalyse und Clusteranalyse vgl. insbesondere Bühl, Zöfel 2000, 482ff.). Diese Faktorenwerte haben schließlich den Vorteil, dass sie als metrische Daten betrachtet werden können, da es sich in der Regel um Werte zwischen –3 und +3 handelt (vgl. dazu Bühl, Zöfel 2000, 456 sowie Backhaus u.a. 2000, 295ff. sowie 312ff.). Insofern konnte im vorliegenden Fall das bestehende nominale Skalenniveau (ja/nein bzw. 0/1) in eine metrische Variable transformiert werden. Auf Basis dieser Faktorenwerte wurde dann eine Clusteranalyse durchgeführt, die es ermöglicht, diejenigen Fälle, die einen ähnlichen Faktorenwert bezüglich eines Faktors besitzen, zusammenzufassen. Die verschiedenen Untersuchungseinheiten wurden also hinsichtlich der gefundenen Faktoren gruppiert (in diesem Fall hinsichtlich der Motive der Budgetbeantragung). Die Ergebnisse der Clusteranalyse über die faktorierten Motive mündeten dann in eine neue Variable, in der jeder einzelne Fall einem bestimmten Cluster zugeordnet ist. Diese neue Variable konnte dann als Grundlage für die anschließende Typologie verwendet werden. Bivariate Datenanalysen: Anschließend sollten die gefundenen Cluster hinsichtlich weiterer Merkmale kontrastiert werden. Die mit Hilfe der Clusteranalyse gefundenen Gruppierungen stellen gleichermaßen eine neue nomina-
237
6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte
le Variable dar, in der jeder einzelne Fall einem bestimmten Cluster zugeordnet ist. Diese Variable konnte schließlich für bivariate Analysen mittels Kreuztabellen und Mittelwertvergleichen genutzt werden. Gegenstand solcher bivariaten Betrachtungen sollten daraufhin ausgewählte personenbezogene Merkmale (Alter, Geschlecht, Art der Behinderung) sowie die Formen der Budgetverwendung und die Organisation der Unterstützung sein.93 Auf Basis der zur Anwendung kommenden bivariaten Analysen konnten so weitere Muster herausgearbeitet werden, die letztendlich die empirisch begründete Typologie der untersuchten Budgetnutzer/innen untermauern. Die Vorgehensweise der Datenanalyse unterscheidet sich insgesamt hinsichtlich der beiden Forschungsthemen „Motive der Budgetbeantragung“ und „Formen der Budgetverwendung“. Die Chronologie der einzelnen Auswertungsschritte kann zur Veranschaulichung nochmals wie folgt zusammengefasst werden: 1) Motive der Budgetbeantragung Analyseschritt
Methode
Ergebnis
1)
Qualitative Auswertung der Motive zur Budgetbeantragung
Qualitative Inhaltsanalyse
Kategoriensystem Zuordnung von Motiven zu den einzelnen Untersuchungsobjekten
2)
Quantitative Auswertung der Häufigkeit der Motive
Univariate Datenanalyse
Information über die am häufigsten genannten Motive Rangfolge der Motive
Faktorenanalyse
Extraktion von Faktoren auf Basis der Motive Erste inhaltliche Hinweise auf eine Typologie Transformation der nominalen Merkmale in metrische Merkmale durch Berechnung der Faktorenwerte
3)
93
Dimensionsreduktion der herausgearbeiteten Motive und Vorbereitung der Clusteranalyse
Zwar hätten die qualitativ vorliegenden Informationen zur Budgetverwendung ebenfalls in die Clusteranalyse miteinbezogen werden können, zumal die Formen der Budgetverwendung wie auch die Motive unter Zuhilfenahme eines Kategorienschemas in binäre Daten transformiert wurden. Allerdings bestünde dann die Gefahr, die Ergebnisse der Clusteranalyse zu verzerren, weil die Formen der Budgetverwendung zu sehr den Motiven entsprechen (der Sache nach beeinflussen die Motive der Budgetbeantragung ja die Art und Weise der Budgetverwendung). Aus diesem Grunde werden die Formen der Budgetverwendung dafür genutzt, die Charakteristik der Typologie zu untermauern und mit Inhalt zu füllen.
238
6 Methodik, Datenbasis und Vorgehensweise der empirischen Analyse
1) Motive der Budgetbeantragung Analyseschritt 4)
5)
Methode
Ergebnis
Typisierende Gruppierung der Fälle auf Basis der Faktorenwerte
Clusteranalyse
Extraktion der Cluster in Form einer neuen nominal skalierten Variable Zahlenmäßige Verteilung der Gruppen Inhaltliche Festlegung der Typen
Kontrastierung der Cluster mit personenbezogenen Informationen
Bivariate Analysen mittels Kreuztabellen und Mittelwertvergleichen
Unterschiede zwischen den Clustern hinsichtlich Alter, Geschlecht und Art der Behinderung Inhaltliche Interpretation der Unterschiede und Untermauerung der Typologie
2) Budgetverwendung Analyseschritt
Methode
Ergebnis
6)
Qualitative Auswertung der Art und Weise der Budgetverwendung
Qualitative Inhaltsanalyse
Kategoriensystem Zuordnung der Art und Weise der Verwendung zu den einzelnen Untersuchungsobjekten
7)
Quantitative Auswertung der Häufigkeit der Verwendungsformen
Univariate Datenanalyse
Information über die am häufigsten genannten Formen der Verwendung Rangfolge der Verwendungsformen
8)
Zusammenhang zwischen Clusterung (Motive der Budgetbeantragung) und Inhalt der Budgetverwendung sowie Organisation der Unterstützung
Bivariate Analysen mittels Kreuztabellen
Unterschiede zwischen den Typen hinsichtlich Inhalt der Budgetverwendung Unterschiede zwischen den Typen hinsichtlich Organisation der Unterstützung Inhaltliche Interpretation der Unterschiede und Rückschlüsse auf die bisherige Typologie
Bivariate Analysen mittels Kreuztabellen
Unterschiede zwischen den Typen hinsichtlich Entscheidung und Verfügung über das Budget Unterschiede zwischen den Typen hinsichtlich Verwaltung des Budgets Inhaltliche Interpretation der Unterschiede und Rückschlüsse auf die bisherige Typologie
9)
Zusammenhang zwischen Clusterung (Motive der Budgetbeantragung) und Entscheidung über das Budget sowie Verwaltung des Budgets
239
6.3 Vorgehensweise und Auswertungsschritte
2) Budgetverwendung Analyseschritt 10) Zusammenhang zwischen Clusterung (Motive der Budgetbeantragung) und Rekrutierung der Unterstützungspersonen bzw. -dienste 11) Gegenüberstellung mit den Ergebnissen der Wiederholungsbefragung: Veränderungen zur Erstbefragung
Methode
Ergebnis
Bivariate Analysen mittels Kreuztabellen
Unterschiede zwischen den Typen hinsichtlich Auswahl der Unterstützungspersonen und -dienste Inhaltliche Interpretation der Unterschiede und Rückschlüsse auf die bisherige Typologie
Bivariate Analysen mittels Kreuztabellen
Unterschiede zwischen den Typen hinsichtlich Veränderungen zur Erstbefragung Inhaltliche Interpretation und Rückschlüsse auf die bisherige Typologie
Tabelle 14: Chronologie der Vorgehensweise der Datenanalyse mit Blick auf die verschiedenen Auswertungsverfahren und Themen der Untersuchung
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Im nachfolgenden Kapitel 7.1. werden zunächst die Ergebnisse der empirischen Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung („Motive“) beschrieben. Dabei soll zunächst die qualitative Auswertung ausführlich dargestellt und mit Fallbeispielen und Auszügen aus den Interviews bzw. schriftlichen Fragebögen untermauert werden (Kapitel 7.1.1); daran anschließend erfolgt eine Darstellung der auf Basis der qualitativ konstruierten Kategorien vorgenommenen quantitativen Datenanalyse (Kapitel 7.1.2). Eine univariate Auswertung soll dabei zunächst erhellen, welche Motive am häufigsten genannt wurden (Kapitel 7.1.2.1). Schließlich wird in Kapitel 7.1.2.2 eine Faktorenanalyse durchgeführt, um Zusammenhänge zwischen den Motiven aufdecken zu können und auf Basis der ermittelten Faktorenwerte eine Clusterung der Fälle zu ermöglichen. 7.1.2.3 stellt dann die Ergebnisse der Clusteranalyse dar und endet mit einer inhaltlichen Beschreibung eines ersten Entwurfs der Typologie. Den Abschluss bildet eine Kontrastierung der gefundenen Cluster mit Hilfe personenbezogener Merkmale wie Alter, Geschlecht und Art der Behinderung (Kapitel 7.1.3). Ziel dieses abschließenden Kapitels ist es herauszufinden, inwiefern es Unterschiede zwischen ausgewählten personenbezogenen Merkmalen in den gefundenen Clustern gibt Kapitel 7.2. hat schließlich das Thema Budgetverwendung zum Gegenstand. Auch hier sollen zunächst die Ergebnisse der qualitativen Auswertung und der Kategorienbildung beschrieben werden (Kapitel 7.2.1), um ebenfalls mit Hilfe einer quantitativen Auswertungen (Kapitel 7.2.2) Aussagen zur Häufigkeit der verschiedenen Formen der Budgetverwendung treffen zu können (Kapitel 7.2.2.1). Kapitel 7.2.2.2 besteht dann in einer Gegenüberstellung dieser Verwendungsformen mit den gefundenen Clustern. Die jeweiligen Ergebnisse fließen inhaltlich in die Typologie mit ein und untermauern charakteristische Merkmale der einzelnen Typen. Anschließend werden die Organisation der Unterstützung (Kapitel 7.2.3) sowie die Rekrutierung der unterstützenden Personen und Dienste (Kapitel 7.2.4) im Kontext der Typologie gedeutet. In Kapitel 7.3. werden die bisherigen Erkenntnisse noch mit den Befunden der Wiederholungsbefragung kontrastiert. Auf Basis dieses letzten Analyseschritts wird die Typologie abgerundet. In Kapitel 8 findet dann eine zusammenfassende Beschreibung der gefundenen Typen statt. T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
242
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung 7.1.1 Qualitative Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung – Ergebnisse der Kategorienbildung Eine qualitativ orientierte Frage in der Budgetnehmer-Befragung war die offene Frage nach den Beweggründen, die zu einer Beantragung des Persönlichen Budgets geführt haben („Was gab den Ausschlag?“, „Warum wollten Sie das Persönliche Budget beantragen?“).94 Zwar lassen sich bereits durch diese Frage Bezüge zur (intendierten) Budgetverwendung herstellen, die folgende qualitative Auswertung konzentriert sich allerdings schwerpunktmäßig auf die Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung. Die Budgetverwendung soll jedoch als Kontextinformation an der entsprechenden Stelle mit in die Darstellung einfließen, wird allerdings in Kapitel 7.2 nochmals gesondert aufgegriffen. Mittels einer systematischen Durchsicht der transkribierten face-to-face – Interviews, der schriftlichen Fragebögen sowie der Protokolle der Telefoninterviews wurden in einem ersten Schritt entsprechende Passagen im Text einem Set an vordefinierten Kategorien zugeordnet. Ein direkter Hinweis auf die Zuordnung einer bestimmten Passage zu einer Kategorie konnte hierbei über einen Abgleich der Nennungen mit den relativ konkreten inhaltlichen Kodes gewährleistet werden. Erst in einem zweiten Materialdurchgang sind weitere Kategorien analog dem Prinzip des „offenen Kodierens“ in dem gesichteten Textmaterial lokalisiert worden. Im Anschluss daran wurden „übergeordnete“ Kategorien gesucht, um die Vielfalt der gefundenen Kodes in aggregierter Form abzubilden. Die nachfolgende Darstellung stellt bereits das Ergebnis des zweiten Schritts, d.h. der ergänzenden offenen Kodierung dar; auf eine ausführliche Darstellung des Prozesses der Verkodung und daran anschließender Kategorisierung ist aufgrund der Leserfreundlichkeit verzichtet worden. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Budgetnehmer/innen in der Regel mehrere Gründe angaben (Mehrfachantworten) und es zum Teil Überschneidungen zwischen den gebildeten Kategorien gibt, da sich diese nicht immer trennscharf abbilden lassen. Inhaltlich anzumerken ist zudem, dass bei der Kodierung bewusst von einer schematischen Orientierung an verschiedenen Lebensbereichen wie beispielsweise „Wohnen“, „Arbeit“, „Freizeit“ usw. Abstand genommen wurde, wenn 94
Hierzu gilt es anzumerken, dass diese Informationen streng von den „Zielvereinbarungen“, d.h. von den im Rahmen der Budgetbeantragung mit den Leistungsträgern vereinbarten Zielen, unterschieden werden muss. Sinn und Zweck dieser Frage war es, ausschließlich die subjektiv relevanten Beweggründe der Budgetnehmer/innen selbst herauszufinden und möglicherweise weichen diese subjektiven Beweggründe von den durch die Leistungsträger festgeschriebenen Zielen ab. Aus diesem Grunde sei darauf hingewiesen, dass die wesentliche Intention dieser Frage auf die für die Budgetnehmer selbst – und nur für diese – bedeutsamen Beweggründe abzielt.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
243
auch diese Lebensbereiche hintergründig in die Interpretation der Ergebnisse eingeflossen sind. Ziel der Kodierung war es allerdings nicht, die Art der Leistung zu systematisieren, da die jeweilige Leistungsart unabhängig davon ist, ob ein Leistungsempfänger sie als Sachleistung oder als Persönliches Budget in Anspruch nimmt. Stattdessen interessierte bei der Kodierung eher, warum ein Persönliches Budget anstatt einer Sachleistung gewählt wurde – also die durch die Budgetbeantragung angestrebten Veränderungen bzw. Ziele. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass das Persönliche Budget keine neue Leistung im Sinne von Unterstützung im Bereich Wohnen (etwa ambulante Betreuung im eigene Wohnraum), Unterstützung im Bereich Arbeit (Teilhabe am Arbeitsleben, Arbeitsassistenz usw.) oder Unterstützung in der Freizeit (z.B. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) ist, sondern nur eine Form der Leistungserbringung. Aus diesem Grunde würde es auch keinen Sinn machen, die Motive zur Budgetbeantragung an der Art der Leistungen auszurichten, sondern eher an den Veränderungen, die sich aufgrund der Umstellung auf ein Persönliches Budget in der Lebenssituation der Budgetnehmer/innen ergeben. Die verschiedenen Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit fließen daher differenzierend in die gefundenen Kategorien ein, bilden aber nicht deren Ausgangspunkt.
7.1.1.1
Selbstständigkeit
Eine Vielzahl an Nennungen umfassen den Wunsch, das Persönliche Budget zur „selbstständige(re)n“ bzw. „eigenständige(re)n Lebensführung“ einzusetzen. Die Art und Weise, wie diese selbstständige Lebensführung erreicht wird sowie die jeweils dieser Intention zugrunde liegenden Ausgangssituationen sind jedoch grundverschieden. Gemeinsam ist allen diesen Budgetnehmer/innen jedoch, dass sie sich von dem Persönlichen Budget (bessere) Möglichkeiten für eine selbstständige Lebensführung versprechen – insofern handelt es sich um ein und dasselbe Motiv, unabhängig von der jeweiligen Ausgangssituation. Was diese jeweiligen Ausgangssituationen betrifft, so bestehen die wesentlichen Unterschiede vor allem darin, ob die jeweiligen Budgetnehmer/innen bereits vor der Budgetbeantragung in einer eigene Wohnung lebten und das Budget zur Sicherung bzw. zum Ausbau ihrer Selbstständigkeit nutzen wollten (um etwa eine Aufnahme in eine stationäre Einrichtung der Behindertenhilfe zu vermeiden), oder ob sie mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus einer stationären Einrichtung bzw. aus dem elterlichen Haushalt realisieren konnten. Zu dieser Kategorie sind alle Kodes zusammengefasst worden, in denen es mehr oder weniger explizit um das Leben in einer eigenen Wohnung und selbstständigen Gestaltung des Alltags geht.
244
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
„Leben selbst managen“ – Erhalt und Ausbau einer selbstständigen Lebensführung In Abgrenzung zu dem Wunsch nach einer „Verselbstständigung“ (siehe unten) geht es bei diesen Budgetnehmer/innen nicht um einen unmittelbar mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets in Verbindung stehenden Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe bzw. aus dem Elternhaus.95 Diese Budgetnehmer/innen lebten bereits vor der Budgetbeantragung in privaten Wohnformen und das Persönliche Budget wird dafür genutzt, eine selbstständige Lebensform zu erhalten bzw. auszubauen. Eine genauere Betrachtung der einzelnen Nennungen zeigt Formulierungen wie „Leben selbst managen“ (Budgetnehmerin, 44 Jahre), “mehr Selbstständigkeit“ (Budgetnehmerin, 24 Jahre), „Leben in der eigenen Wohnung“ (Budgetnehmerin, 39 Jahre) oder „Selbstständigkeit, freier, nicht mehr so hilflos“ (Budgetnehmer, 48 Jahre). Bezieht man schließlich weitere Informationen zur früheren bzw. gegenwärtigen Lebenssituation der Budgetnehmer/innen in die Betrachtung mit ein, so lassen sich drei verschiedene Lebenslagen zusammenfassen, in denen der Wunsch nach einem Erhalt bzw. einer Verbesserung der selbstständigen Lebensführung wirksam wird:
Eine Gruppe an Budgetnehmer/innen intendiert mit dem Persönlichen Budget, eine bisher eigenständige bzw. selbstständige Lebens- und Wohnform aufrecht zu erhalten, die wegen einer mehr oder weniger plötzlich eingetretenen Behinderung gefährdet ist. Hierbei handelt es sich um Menschen, bei denen erst aufgrund einer kürzlich zurückliegenden Erkrankung oder eines Unfalls eine Behinderung entstanden ist und die mit dem Persönlichen Budget eine Aufnahme in eine Einrichtung der Behindertenhilfe vermeiden wollen, beispielsweise ein 39-jähriger Budgetnehmer, der aufgrund eines Schlaganfalls auf umfassende Pflege und Unterstützung angewiesen ist, bei dem aber eine Heimaufnahme umgangen werden konnte, weil seine gesetzliche Betreuerin ein gut funktionierendes Unterstützungsarrangement mit Hilfe des Persönlichen Budgets aufbauen konnte. Weitere Beispiele sind ein 57-jähriger Budgetnehmer, der nach einem Krankenhausaufenthalt aufgrund einer Krebserkrankung „alleine nicht mehr in der Lage [ist], den Haushalt zu führen und das Anwesen (…) instand zu halten“ und mit dem Persönli-
95
Um sicherzugehen, dass es sich bei den jeweiligen Antworten, die dem Kode „Erhalt bzw. Verbesserung der selbstständigen Lebensführung“ zugeordnet wurden, nicht um einen Verselbstständigungsprozess im Sinne eines Auszugs aus einer Einrichtung der Behindertenhilfe bzw. aus dem elterlichen Haushalt handelt, wurden alle entsprechenden Fälle noch dahingehend überprüft, ob es im Zuge der Budgetbeantragung und -bewilligung eine Veränderung der Wohnsituation gab (Bestandteil der Befragung war auch die Frage, ob sich seit der Budgetbeantragung bzw. -bewilligung die Wohnsituation verändert hatte und wenn ja, inwiefern).
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
245
chen Budget die benötigte Unterstützung organisiert, oder eine 40-jährige Budgetnehmerin, die „aufgrund [ihrer] Krankheit Hilfe im Haushalt und bei Einkäufen [braucht]“ und sich mit der Beantragung des Persönlichen Budgets erhofft, „dass [sie] selbstständig bleibe“. Die Motivation der zweiten Gruppe Budgetnehmer/innen kann dahingehend interpretiert werden, dass diese nach „ersten Schritten“ in die Selbstständigkeit (etwa nach einem Auszug aus einer Einrichtung der Behindertenhilfe) versuchen, ihre neu erreichte Selbstständigkeit und Eigenständigkeit mit Hilfe des Persönlichen Budgets zu erhalten und auszubauen. Diese Personen lebten bereits vor der Budgetbeantragung nicht mehr in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, befinden sich jedoch immer noch in einem Verselbstständigungsprozess. Oftmals handelt es sich bei diesen Personen um Menschen mit sogenannten Lern- und geistigen Behinderungen. Hier soll das Persönliche Budget einerseits dazu dienen, die Selbstständigkeit und Eigenständigkeit zu erhalten, andererseits aber auch, diese zu verbessern und entsprechende (neue) Kompetenzen zu erlernen. Hintergrund dieser Motivation ist, dass die Organisation der Unterstützung mit Hilfe eines Persönlichen Budgets auch gewisse „Managementkompetenzen“ abverlangt, die erst einmal angeeignet werden müssen. Als Motiv der Budgetbeantragung werden dann beispielsweise genannt „…Hilfe zur Selbstständigkeit, Eigenständigkeit, selbstständiger Umgang mit Geld, Buchführung (…) eigenständige Kontoführung, Lernen mit Geld umzugehen…“ (Budgetnehmer, 39 Jahre), „in der Wohnung bleiben können, Ausbau Selbstständigkeit (Budgetnehmerin, 40 Jahre) oder „für mehr Selbstständigkeit im Alltag (…)“ (Budgetnehmer, 29 Jahre). Andere Personen verweisen bereits auf einen Zugewinn an Selbstständigkeit seit sie das Persönliche Budget erhalten, wie das folgende Beispiel zeigt: „…durch das Persönliche Budget selbstständiger geworden, Überblick über die eigenen Finanzen, durch das Persönliche Budget fühle ich mich als freierer Mensch…“ (Budgetnehmer, 48 Jahre). Die dritte Gruppe an Budgetnehmer/innen kann durch einen oftmals schon seit Jahren bestehenden Wechsel zwischen stationärer Unterbringung und selbstständiger Lebensform charakterisiert werden und diese Personen blicken mittlerweile auf jahrelange „Einrichtungskarrieren“ zurück. Meist handelt es sich hierbei um Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen und die häufigen Wechsel sind bedingt durch Klinik- und Heimaufnahmen im Zuge akuter Phasen. Mit dem Persönlichen Budget soll dabei versucht werden, die „Selbstversorgung [zu] sichern, Arzt-Besuche und Therapiestunden sicher[zu]stellen, Klinikaufenthalte [zu] vermeiden, Eigenständigkeit [zu] stärken.“ (Budgetnehmer, 45 Jahre), „Klinik- bzw. Psychiatrieaufenthalt vorzubeugen und Selbstständigkeit zu erhalten“ (Budgetnehmerin, 38 Jahre),
246
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
„…die eigene Wohnung zu erhalten…“ (Budgetnehmer, 37 Jahre) oder das „Wohnen in der eigenen Wohnung sicher stellen“ (Budgetnehmer, 34 Jahre). Das Persönliche Budget soll in dieser Hinsicht eine wichtige Funktion zur „Stabilisierung“ und „Vermeidung einer Heimunterbringung“ erfüllen (Budgetnehmer, 41 Jahre) bzw. zu einer „… Sicherung der eigenen Wohnung und Verhinderung einer psychischen Verschlechterung…“ beitragen (Budgetnehmer, 43 Jahre). In speziellen Einzelfällen hat die Beantragung eines Persönlichen Budgets das Ziel, besonders prekäre Lebenssituationen aufzufangen, beispielsweise aufgrund des Wegfalls von Unterstützung oder zur Stabilisierung einer mehr oder weniger akuten Krisensituation. So erklärt z.B. eine 52-jährige Budgetnehmerin die Hintergründe der Budgetbeantragung dadurch, dass sie durch den „Tod des Mannes nicht mehr alleine im Alltag zurecht [kam]“. Aufgrund des dadurch bedingten Wegfalls von Unterstützung (die Frau wurde vorher schwerpunktmäßig von ihrem Mann unterstützt), ist ein Persönliches Budget zur Sicherung der selbstständigen Lebensführung beantragt worden. Andere Beispiele für solche „prekären“ Umstände sind eine 45-jährige Budgetnehmerin, die „…über drei Jahre keine Wohnung“ hatte und „erst mal neu lernen [musste] zu leben, klar [zu] kommen erst mal wieder…“, ein 43-jähriger Budgetnehmer, der „Ersatz für Betreutes Wohnen“ brauchte und mit dem Persönlichen Budget die „Sicherung der eigenen Wohnung und Verhinderung einer psychischen Verschlechterung“ intendiert, sowie ein 52-jähriger Budgetnehmer, der aufgrund der Kündigung des Betreuungsvertrags mit einem ambulanten Anbieter nach einer Alternative zur Heimunterbringung gesucht hatte. Wesentliches Ziel der Budgetbeantragung war es dabei, die Betreuung im eigenen Wohnraum aufrechterhalten zu können.
Aus naheliegenden Gründen bestehen bei allen Gruppen deutliche Überschneidungen zu anderen Motiven, vor allem zu dem Motiv „Versorgungssicherheit“ (siehe Kap. 7.1.1.8). Beispielsweise ist der Wunsch nach einem Aufrechterhalten einer selbstständigen Lebensform bzw. einer eigenen Wohnung oftmals gekoppelt mit dem Bestreben, eine regelmäßige haushaltsnahe oder psychosoziale Unterstützung mit Hilfe des Persönlichen Budgets zu organisieren. „Im Alltag Fuß zu fassen“ – Verselbstständigung durch Auszug aus Einrichtungen der Behindertenhilfe Analog der bereits in anderen Modellprojekten angestrebten Zielsetzung, Menschen mit Behinderung zu einem Auszug aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zu motivieren, lassen sich auch in der bundesweiten Befragung einige Budgetnehmer/innen identifizieren, die das Persönliche Budget beantragt haben, um einen solchen Auszug in eine selbstständigere Wohnform zu realisieren.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
247
Betrachtet man die verschiedenen Ausgangsbedingungen dieses Verselbstständigungswunsches, zeigt sich auch hier eine Vielfalt an Lebenssituationen und hintergründig wirksamen Motiven, so dass eine einheitliche Darstellung der Verselbstständigungsprozesse nahezu unmöglich ist. Dennoch lassen sich – je nach Lebenssituation und „Grad“ der Verselbstständigung – vier unterschiedliche Gruppen zusammenfassen:
Zunächst kann unterschieden werden zwischen Verselbstständigungsabsicht und realisierter Verselbstständigung. In Bezug auf eine Verselbstständigungsabsicht können als erste Gruppe auch solche Budgetnehmer/innen zur Kategorie „Verselbstständigung“ gezählt werden, die das Persönliche Budget bereits im stationären Kontext nutzen, aber einen Auszug noch nicht umgesetzt haben. Auch wenn diese Personen noch in stationären Wohneinrichtungen leben, wurde das Persönliche Budget bereits mit der Absicht beantragt, mittel- oder langfristig einen solchen Auszug zu initiieren. Im Kern handelt sich um Personen, die in dem „sicheren“ Rahmen einer Wohneinrichtung den Umgang mit dem Persönlichen Budget und der selbstständigen Organisation der Unterstützung erst einmal „üben“ möchten, um sich damit auf ein Leben in einer selbstständigeren Lebensform vorzubereiten. Eine 34-jährige Budgetnehmerin mit einem Persönlichen Budget im stationären Kontext beschreibt dies folgendermaßen: „Eventuell irgendwann mal eigenständig zu wohnen, Lernen das Geld zu verwalten, alleine die Wohnung zu versorgen und zu kochen, Wäsche pflegen (…).“ Meist erhalten diese Personen nur einen kleinen Teil der gesamten Maßnahmepauschale der Wohnheimkosten als Budget (z.B. die Kosten für Freizeitaktivitäten oder Unterstützung im Haushalt) und können sich mit diesem Betrag Unterstützung im Bereich Freizeit oder Haushalt eigenverantwortlich einkaufen. Das Besondere daran ist, dass dies auch Anbieter außerhalb des Wohnheims sein können. Abschließend muss jedoch betont werden, dass diese Art der Budgetnutzung eher eine Seltenheit darstellt. Ein weiterer Unterschied besteht hinsichtlich der zugrunde liegenden Intention zur Verselbstständigung. So gibt es auf der einen Seite Budgetnehmer/innen, bei denen ein bewusster und zielgerichteter Verselbstständigungswunsch Ausgangspunkt der Budgetbeantragung war, auf der anderen Seite aber auch Budgetnehmer/innen, bei denen die Verselbstständigungsabsicht eher eine „erzwungene“ Konsequenz war. Dem Kode „Verselbstständigung“ zugeordnet sind daher auch Verselbstständigungsprozesse, die mit entsprechenden Lebensumständen in Verbindung stehen, in denen unmittelbar nach einer Alternative zur bisherigen Heimunterbringung gesucht werden musste, beispielsweise weil der Betreuungsvertrag mit der Einrichtung gekündigt wurde, oder weil sich die betreffenden Personen aufgrund
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
einer Entlassung aus einer Klinik (neu) orientieren mussten. Die gesetzliche Betreuerin einer 49-jährigen Budgetnehmerin mit einer kognitiven Beeinträchtigung berichtet beispielsweise von einer solchen „Notsituation“: Aufgrund der Kündigung des stationären Betreuungsvertrags von Seiten der Einrichtung wegen „Untragbarkeit“ musste eine neue Wohnmöglichkeit für die Klientin gefunden werden. Allerdings wollte keine Einrichtung die Klientin mehr aufnehmen. Aus dieser Situation heraus nahm schließlich der Wunsch zur Verselbstständigung Gestalt an und es wurde ein Persönliches Budget beantragt, um die benötigte umfassende Unterstützung zu sichern. Im Zuge dessen konnte die Frau aus dem Wohnheim in eine betreute Wohnform ziehen. Ein Beispiel für eine weitere auslösende Situation aufgrund einer Klinikentlassung stellt eine 33-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung dar. Da die junge Frau aufgrund ihrer spezifischen Erkrankung (dissoziative Anfälle) im Grunde nur nachts eine Betreuung benötigt, wurde als Alternative zu einer Heimunterbringung ein Persönliches Budget beantragt, um diese nächtliche Betreuung sicherzustellen. Eine dritte Gruppe sind Personen, die sich in einer Art „Übergangsphase“ befinden. Betrachtet man die in der Befragung vorgebrachten Beantragungsmotive, so gewinnt man in diesen Fällen eher den Eindruck, das Persönliche Budget diene der temporären Unterstützung in einer solchen „Übergangsphase“ und der Nutzen des Persönlichen Budgets würde sich darin erschöpfen, lediglich den Übergang in eine selbstständigere Lebensform zu flankieren, wie es etwa die folgenden Beispiele nahe legen: „Das Persönliche Budget habe ich beantragt, um meine Nachsorge im Anschluss an 96 meinen TWG-Aufenthalt zu finanzieren“ (Budgetnehmer, 54 Jahre). „Zur Unterstützung beim Wechsel von einem stationären Aufenthalt zu einem Einzug in eine Außenwohngruppe bis hin zum selbstständigen Einzelwohnen“ (Budgetnehmer, 31 Jahre). „Vor dem Budget lebte ich ein Jahr in einer Außenwohngruppe für psychisch kranke Menschen. Mein Gesundheitszustand stabilisierte sich und ich wollte wieder mit meiner Tochter in eine eigene Wohnung ziehen. Das Budget ist für Hilfe zur weiteren psychischen Stabilisierung“ (Budgetnehmerin, 22 Jahre).
Insofern ist das Persönliche Budget zwar eingebettet in einen Wunsch nach Verselbstständigung, nimmt aber insbesondere in der „Übergangsphase“ eine wichtige Rolle ein. 96
TWG = Therapeutische Wohngruppe
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
249
Neben dem Einsatz Persönlicher Budgets im stationären Kontext, aufgrund „erzwungener“ Situationen oder in Form von auf einen Übergang abzielenden Beweggründen, lassen sich allerdings eine ganze Reihe an Budgetnehmer/innen finden, bei denen die angestrebte Verselbstständigung zielgerichtet erfolgte und mit dem Versuch einhergingen, die benötigte Unterstützung längerfristig sicher zu stellen. Die vierte Gruppe bilden daher Budgetnehmer/innen, auf die der Begriff „Verselbstständigung“ idealtypisch passt, geht es diesen Budgetnehmer/innen doch vordergründig um das Verlassen von Wohneinrichtungen, weil sie ein eigenständiges Leben mit Unterstützung außerhalb stationärer Strukturen führen möchten. Der Entschluss ist in der Regel bereits seit längerem gefasst und das Persönliche Budget soll es ermöglichen, entsprechende Unterstützungsstrukturen aufzubauen und selbstständig zu organisieren. In ein paar Fällen wird dieser Verselbstständigungswunsch auch mit dem Wunsch kombiniert, mit den jeweiligen Partner/innen in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen.
In den genannten Motiven wird zudem deutlich, dass der Verselbstständigungsprozess erst dann realisiert wird, wenn gleichzeitig ein gewisses (Mindest-) Maß an Unterstützung sicher gestellt werden kann, etwa weil sich die betreffenden Personen ein eigenständiges Leben ohne entsprechende Hilfe und Unterstützung (noch) nicht zutrauen oder aufgrund von Gewöhnungseffekten an die „RundumVersorgung“ in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe. Insofern gibt es – wie auch bereits bei dem Motiv nach „Erhalt bzw. Verbesserung der Selbstständigkeit“ – auch bei dem Motiv nach „Verselbstständigung“ deutliche Überschneidungen zu den Motiven „Sicherstellung der psychosozialen Unterstützung“ und „Sicherstellung alltagspraktischer Hilfen“ (Kapitel 7.1.1.8). „Vom Elternhaus in eine eigene Wohnung“ – Ablösung durch Auszug aus dem elterlichen Haushalt Von der oben genannten Verselbstständigung im Sinne eines Auszugs aus Einrichtungen der Behindertenhilfe ist der Auszug aus dem elterlichen Hauhalt zwar zu unterschieden, dennoch handelt es sich ebenfalls um einen angestrebten Verselbstständigungsprozess. Insofern entspricht das Motiv dem globalen Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung in den eigenen „vier Wänden“. Der Sache nach sind in dieser Gruppe eher Personen jüngeren Alters vertreten und gemeinsam ist ihnen der Wunsch nach Verselbstständigung im Kontext eines lebensphasenspezifisch begründeten Bedürfnisses nach Ablösung von den Eltern und einem selbstständigen Leben als erwachsener Mensch in der Gesellschaft. Deutlich wird dieses Bedürfnis in der folgenden Aussage einer 37jährigen Budgetnehmerin:
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
„Ich wollte weg von meinen Eltern und eine eigene Wohnung, wollte Hilfe zur Führung eines eigenen Haushalts.“
Im Grunde steht dieser Wunsch mit einer in unserem Kulturkreis völlig „normalen“ Entwicklungsaufgabe junger Erwachsener in Verbindung, welche sich in einer Demonstration von Eigenständigkeit in Form eines Auszugs in eine eigene Wohnung ausdrückt. In den Worten einer 26-jährigen Budgetnehmerin: „eine eigene Wohnung und da zurecht kommen“. Nicht selten spielen dabei – ebenfalls völlig „normale“ – Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern eine Rolle: „Ich wollte selbstständig werden, eigene Wohnung, wegen Differenzen mit den Eltern“ (Budgetnehmer, 26 Jahre). Letztendlich wird – ebenfalls völlig „normal“ – dieser Ablösungs- und Verselbstständigungsprozess nicht selten zunächst in Form einer Wohngemeinschaft vollzogen, wie etwa auch der Wunsch einer 20jährigen Budgetnehmerin zeigt, „…vom Elternhaus in eine eigene Wohnung [zu ziehen] mit einer Freundin als Mitbewohnerin…“
7.1.1.2
Selbstbestimmung
Im Spiegel der in Kapitel 3 dargestellten theoretischen Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets stellt dieser Motivkomplex ein Kernanliegen Persönlicher Budgets dar und findet seinen Niederschlag in der Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks. Durch diese Auflösung ergibt sich eine Verlagerung der Definitionsmacht und Regiekompetenz zugunsten der Leistungsempfänger, so dass Menschen mit Behinderung ihre Unterstützung mit Hilfe des Persönlichen Budgets selbstbestimmt(er) und eigenverantwortlich(er) auswählen und planen können. Diese Veränderung ermöglicht also zuallererst einen selbstbestimmteren Umgang mit den bewilligten Sozialleistungen. Insgesamt geht es in diesem Kapitel daher um Budgetnehmer/innen, die die Vorteile des Persönlichen Budgets insbesondere in der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens sehen und diese Möglichkeiten auch ausschöpfen möchten. Festgemacht werden soll diese Motivation an der Intention, einen selbstbestimmte(re)n und eigenverantwortliche(re)n Umgang mit Unterstützungsleistungen zu realisieren sowie an dem Wunsch nach „Regiekompetenz“ über die gewährten Finanzmittel. „Nach eigenen Vorstellungen gestalten“ – Selbstbestimmte Lebensführung und eigenverantwortliche Lebensplanung Ein theoretisch besonders relevantes wie auch in der Praxis durchaus zu beobachtendes Kernmotiv der Budgetbeantragung stellt der Wunsch nach einer
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
251
selbstbestimmten bzw. eigenverantwortlichen Lebensplanung dar – auch wenn dieses Motiv von den befragten Budgetnehmer/innen nur selten explizit in dieser Begrifflichkeit formuliert wurde. Dieses Motiv weist deutliche Überschneidungen zu dem nachfolgenden Motiv „Unabhängigkeit“ (siehe dazu das nächste Kapitel) sowie zur Kategorie „Flexibilität“ (siehe Kapitel 7.1.1.5) auf, unterscheidet sich aber dennoch durch einen explizit als auch implizit formulierten Wunsch nach einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung. Im Kern geht es diesen Budgetnehmer/innen um das Bedürfnis, ihr Leben möglichst selbstbestimmt gestalten zu können, d.h. selbst bestimmen und entscheiden zu können, wie sie leben, wo sie leben und nach welchen Gesichtspunkten sie ihr Leben organisieren möchten. Dieser Wunsch nach Selbstbestimmung erstreckt sich von „Kleinigkeiten“ wie der Art und Weise der Nahrungsmittel und Essenszubereitung, der Zeitpunkt des zu Bett Gehens, bestimmte Vorlieben in der Freizeitgestaltung, die Demonstration eines eigenen Lebensstils usw. bis hin zu Entscheidungen „globaler“ Reichweite wie berufliche Pläne, Familienplanung und andere Lebensentwürfe. Betrachtet man schließlich die verschiedenen Nennungen, die dem Bereich Selbstbestimmung zugeordnet wurden, wird deutlich, dass das Motiv „selbstbestimmte Lebensplanung“ in drei verschiedenen Facetten auftaucht:
Zum einen gibt es Budgetnehmer/innen, die mehr oder weniger explizit die Begriffe „Selbstbestimmung“ und/oder „Eigenverantwortung“ verwenden. Die entsprechenden Formulierungen verbleiben allerdings meist auf einem relativ abstrakten Niveau, beispielsweise Formulierungen wie „Unabhängigkeit und Selbstbestimmung“ (Budgetnehmer, 33 Jahre), „mehr Selbstbestimmung“ (Budgetnehmerin 25 Jahre), „Planung in Eigenverantwortung“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre), „selber bestimmen können“ (Budgetnehmerin, 50 Jahre), „selbstbestimmte Inhalte, autonome Lebensgestaltung“ (Budgetnehmer, 29 Jahre), „höheres Maß an Selbstbestimmung, (…) eigene Verantwortung“ (Budgetnehmer, 47 Jahre), „Sachen selbst steuern können, Eigenverantwortung“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre) oder „unabhängiger werden, selbstbestimmter leben“ (Budgetnehmerin, 48 Jahre). Ein 25-jähriger Budgetnehmer betont beispielsweise, durch das Persönliche Budget würde „die Selbstbestimmung erhalten [bleiben]“ (Budgetnehmer, 25 Jahre). Auch wenn die Begrifflichkeiten „Selbstbestimmung“ oder „Eigenverantwortung“ explizit formuliert werden, fehlt oftmals ein konkreter Anhaltspunkt, in welcher Hinsicht, in welchem Bereich und hinsichtlich welcher Art von Unterstützung Selbstbestimmung angestrebt ist. Es kann in diesen Fällen schließlich nur vermutet werden, dass sich die befragten Budgetnehmer/innen einem mit der Leistungsform des Persönlichen Budgets in Verbindung stehenden allgemeinen Motiv bedienen und die jeweils darin verankerten Forderungen entsprechend kommunizieren.
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97
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Eine zweite Gruppe von Budgetnehmer/innen gebraucht den Begriff Selbstbestimmung nicht explizit, benennt aber Motive, die im Kontext eines Wunsches nach mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stehen. Besondere Bedeutung kommt hierbei allerdings vor allem den „kleinen Dingen“ im Leben zu. Einem 33-jährigem körperbehinderten Budgetnehmer geht es bei der Budgetbeantragung beispielsweise vor allem darum, nicht von den Arbeitszeiten eines Pflegedienstes abhängig zu sein und den Zeitpunkt des zu Bett Gehens „selbst bestimmen“ zu können. Vor dem Persönlichen Budget erhielt der Budgetnehmer Unterstützung durch einen Pflegedienst in Form von Sachleistung; allerdings war er mit der Leistungserbringung äußerst unzufrieden, weil er wegen den Arbeitszeiten des Pflegedienstes bereits um 22:00 Uhr ins Bett gehen musste. Mit dem Persönlichen Budget – so der Budgetnehmer – könne er jetzt so leben, wie er es schon immer wollte und seinen Alltag „nach eigenen Vorstellungen gestalten“; wenn er möchte, kann er jetzt auch „erst um 5:00 Uhr morgens ins Bett gehen“. Ähnlich schildert dies eine andere Budgetnehmerin: „Zeitpunkt des ins Bett gehen selbst bestimmen können, abends mal ausgehen können“ (Budgetnehmerin, 45 Jahre). Selbstbestimmung kann aber auch bedeuten, bestimmte Vorlieben bzw. einen individuellen Lebensstil zu realisieren, wie es das Beispiel einer 37jährigen Budgetnehmerin zeigt: „…im Wohnheim sind Alkohol und Kerzen verboten (…) und ich liebe Kerzen. (…) Ich könnte abends immer Kerzen anhaben und ein Glas Wein oder Bier (…) und das war im Wohnheim nicht möglich.“ Auch die dritte Gruppe Budgetnehmer/innen formuliert die Begrifflichkeit „Selbstbestimmung“ nicht explizit, hier stehen jedoch durchaus „größere“ Wünsche mit globalerer Reichweite im Vordergrund. Zu solchen größeren Wünschen zählen etwa Motive, wie eine berufliche Neuorientierung bzw. eine selbstbestimmte „Berufswahl“ genauso wie ein eigenverantwortliches Leben was Freizeitinteressen, Wohnform oder Partnerschaft97 anbetrifft. Selbstbestimmung bezieht sich hierbei auf mehr oder weniger konkrete Lebensentwürfe, d.h. selbst bestimmen zu können, wo man arbeitet, was man arbeitet, wie und wo man lebt, mit wem man zusammenlebt, ob man Kinder haben möchte usw. Zwar ergeben sich hier deutliche Überscheidungen zu dem Motiv „Selbstständigkeit“, das Spezifische daran ist jedoch, dass es den Budgetnehmer/innen nicht (nur) um eine selbstständige Lebensführung geht, sondern insbesondere um das Realisieren von Lebensentwürfe, die für den Auch das Thema „Partnerschaft“ wird implizit von dieser Selbstbestimmungsidee bestimmt. So gibt es einige Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus einer stationären Wohneinrichtung realisieren, um mit ihren jeweiligen Partner/innen zusammenzuziehen und eine „selbstbestimmte“ Partnerschaft leben zu können.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
253
Großteil der Bevölkerung als völlig „normal“ gelten. Schließlich bedeutet „Normalität“ aber auch, Verantwortungen zu übernehmen und ggf. „Risiken“ in Kauf zu nehmen. Aus diesem Grund reicht der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung – hier verstanden als „selbstbestimmte Lebensplanung“ – über den Wunsch nach Verselbstständigung hinaus. Im Bereich Arbeit kann dies bedeuten, mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine Ausbildung nach Wahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anstatt in dem „sicheren Rahmens“ einer Werkstatt für behinderte Menschen absolvieren zu können (Budgetnehmer, 19 Jahre). Im Bereich Wohnen und Freizeit streben die entsprechenden Budgetnehmer/innen längerfristig an, „alleine die Wohnung zu versorgen“ und auch die finanziellen Angelegenheiten selbst zu regeln, „Lernen das Geld zu verwalten“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre), „selbst über Geld entscheiden können“ (Budgetnehmer, 55 Jahre). Eine 57-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung beschreibt diese Verbindung zwischen selbstbestimmter Lebensführung und Eigenverantwortung treffend: „Ich wähle jetzt eigenständig, so wie ich es will. Obwohl ich Verpflichtungen habe, aber die erledige ich gerne, die nehme ich gerne in Kauf. Ich muss um mich selbst sorgen, nicht wie im Heim. Aber ich mache das gerne. (…) Wenn ich im Heim war, da habe ich dreimal am Tag Essen gehabt und musste mich um Zahlungen nicht kümmern. Dann habe ich Betreuung gehabt. (…) Jetzt verwalte ich es selber.“
Dieser Aspekt der Selbstbestimmung, die (Wieder-) Erlangung der Eigenverantwortlichkeit für das eigene Leben, drückt sich noch deutlicher in der folgenden Passage aus dem Interview mit derselben Budgetnehmerin aus: „Und jetzt bin ich Ich. Eine kranke – angeblich kranke – Frau, die ihr Leben in eigene Hände genommen gehabt. Und dadurch hat es sich erfüllt, dass ich alleine lebe, persönliches Budget bekomme, und dies hat sich erfüllt.“
Die dargestellten Motivlagen, in deren Kontext die Budgetnehmer/innen ein Persönliches Budget beantragt haben, verweisen zwar im Grunde auf den Wunsch, ein von (professioneller) Bevormundung weitestgehend unabhängiges Leben führen zu können, allerdings wird das Thema Behinderung und Unterstützung keinesfalls negiert. Um ein solchermaßen selbstbestimmtes Leben führen zu können, bedarf es einer Entsprechung in den jeweiligen Rahmenbedingungen, in die das Leben behinderter Menschen eingebettet ist. Dies ist wiederum der Grund der Budgetbeantragung. Im Speziellen geht es darum, sich die jeweiligen Leistungen, die unterstützenden Personen und Dienstleister sowie den Zeitpunkt
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
der Hilfeerbringung selbst aussuchen und die Unterstützung nach den eigenen Vorlieben und Wünschen gestalten zu können. Mit „Selbstbestimmung“ ist also vor allem der selbstbestimmte(re) und eigenverantwortliche(re) Umgang mit den gewährten Unterstützungsleistungen gemeint. Deutlich wird dies beispielsweise in Äußerungen eines 20-jährigen Budgetnehmers, der explizit als Grund angibt, dass es ihm um den „selbstbestimmten Umgang in der Verwendung der Mittel“ geht, oder ein 50-jähriger Budgetnehmer, der „selbstbestimmter mit den gewährten Sozialleistungen umgehen“ möchte. Alles in allem steht der Wunsch nach „Selbstbestimmung“ daher vor allem mit dem Motivkomplex „Flexibilität“ (siehe Kapitel 7.1.1.5) in Verbindung, geht es bei dem Bedürfnis nach einem selbstbestimmteren Umgang mit den bewilligten Sozialleistungen doch gerade auch um die flexiblere Auswahl von Unterstützungspersonen sowie dem Zeitpunkt der Unterstützung. So verbindet eine 34-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung die Idee, selbst Personen einkaufen zu können mit dem „Gefühl, dass nicht über mich bestimmt wird (…) dass man nicht bevormundet wird“ und „dass nicht irgendwelche doofen Anordnungen kommen, mit denen ich nichts anfangen kann“. Die oben geschilderten Dimensionen der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung beschreiben die von den Budgetnehmer/innen gewünschten Effekte des Persönlichen Budgets. Daneben gibt es aber auch vereinzelte Aussagen, bei denen der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung sogar auf einer Art „Metaebene“ festgemacht wird, nämlich in der Form, dass bereits die Beantragung des Persönlichen Budgets Ausdruck von Selbstbestimmung ist. Hierbei steht – neben anderen Gründen – die Motivation im Vordergrund, das Persönliche Budget allein aus Gründen der Wahlmöglichkeit zwischen Sachleistung und Persönlichem Budget zu beantragen. Beispielswiese gibt ein 48-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung an, er habe das Budget schlicht und einfach deswegen beantragt, „um selbst entscheiden zu können, ob das was Gutes ist“. Ähnlich formuliert dies eine 33-jährige Budgetnehmerin, ebenfalls mit einer körperlichen Behinderung, indem sie betont, sie „wollte es einfach mal ausprobieren, ob es was für mich ist (…) Ich habe schon immer so meine genauen Vorstellungen darüber, wie so was organisiert werden könnte. Dann habe ich gesagt, ja, wenn ich in der Richtung irgendwas verbessern könnte, klar bin ich dabei.“ Die Beispiele zeigen, dass bereits die Möglichkeit des Wählen Könnens zwischen Sachleistung und Persönlichem Budget als Ausdruck von Selbstbestimmung wahrgenommen wird. „Ich bin der Boss und entscheide, wer wofür Geld bekommt“ – Verfügungsmacht und Regiekompetenz In einigen Fällen betonen die befragten Budgetnehmer/innen explizit die durch das Persönliche Budget eingeräumte Regiekompetenz. Entsprechend wird von
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diesen Personen angegeben, dass sie das Persönliche Budget beantragt haben, um selbst über die finanziellen Mittel zu verfügen und den Geldfluss entsprechend dieser Verfügungsmacht eigenverantwortlich und nach eigenen Vorstellungen steuern zu können. Diese „Regiekompetenz“ korrespondiert – wie bereits in Kapitel 3 gezeigt – in höchstem Maße mit der Kernintention Persönlicher Budgets: Durch die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks verändern sich die Machtverhältnisse zugunsten der Leistungsempfänger, weil diese schließlich selbst über die leistungsrelevanten Ressourcen verfügen. Im Kern geht es dieser Personengruppe bei der Budgetbeantragung um die „eigene Verfügung über Ressourcen“ (Budgetnehmer, 47 Jahre), darum, „selbst über Geld entscheiden [zu] können, freier in Entscheidungen [zu] fühlen“ (Budgetnehmer, 55 Jahre) bzw. um das „Geldausgeben nach eigenem Ermessen“ (Budgetnehmer, 29 Jahre). Eine 29-jährige Budgetnehmerin bringt dies mit folgender Aussage auf den Punkt: „Totale Kontrolle, Eigenverantwortlichkeit. Ich bin der Boss und entscheide, wer wofür Geld bekommt“. Zwar gibt es Überschneidungen zu dem Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung, aber die angestrebte Regiekompetenz geht deutlich darüber hinaus, weil diese Budgetnehmer/innen nicht nur mit Hilfe von Unterstützung selbstständig leben wollen, sondern die Unterstützung an sich völlig eigenständig organisieren möchten, wie die folgende Aussage einer 44-jährigen Budgetnehmerin zeigt: „Durch die eigenverantwortliche Organisation von Hilfeleistungen wollte ich mein Leben wieder selbst managen“ (Budgetnehmerin, 44 Jahre). Für einen 48-jährigen Budgetnehmer gehört dazu beispielsweise auch, einen „Überblick über die eigenen Finanzen“ zu haben und sich dadurch als „freierer Mensch“ zu fühlen. Eine 38-jährige Budgetnehmerin betont beispielsweise, dass es ihr wichtig ist, dass sie „Entscheidungsfreiheit habe“. Der gewünschte Gewinn in Form der zugestandenen Regiekompetenz erstreckt sich damit auf sämtliche Facetten der Organisation von Unterstützung und auch der jeweilige Einsatz von beispielsweise mehreren Unterstützungspersonen wird allein von den Budgetnehmer/innen geplant. Oftmals werden hierzu regelrechte Einsatz- bzw. Dienstpläne erstellt und auch die Kosten für die verschiedenen anfallenden Arbeiten werden je nach erforderlicher Qualifikation und zu verrichtender Tätigkeiten individuell kalkuliert. Diese Budgetnehmer/innen möchten beispielsweise selbst entscheiden, wie viel Geld sie für welche Art der Unterstützung bezahlen (Budgetnehmerin, 33 Jahre), wen sie damit beauftragen, „wer wann unterstützt“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre), welche Dienstzeiten diese Personen einzuhalten haben und in welcher Form die Beschäftigung organisiert ist (etwa über Honorarverträge, Dienstleistungsverträge oder im Rahmen eines Arbeitgebermodells). Alles in allem bezieht sich also Regiekompetenz auf die Koordination des gesamten Unterstützungssettings. Die Budgetnehmer/innen übernehmen hierbei
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
teilweise vollständig die Gesamtverantwortung – von der Auswahl der Personen und dem Festsetzen des Preises bis hin zur Organisation der Dienstpläne und der Abrechung der geleisteten Stunden. In diesen Fällen obliegt den Budgetnehmer/innen auch oftmals die Anleitungskompetenz und die Qualifikations- sowie Qualitätsstandards werden in „Eigenregie“ festgelegt. Für das Arbeitgebermodell ist es dabei sinnbildlich, dass die gesuchten Unterstützungspersonen von den Budgetnehmer/innen „selbst eingestellt“ werden und nach entsprechenden, von den Budgetnehmer/innen festgelegten Konditionen, tätig sind (Budgetnehmer, 48 Jahre). Eine besondere Gruppe sind abschließend auch Budgetnehmer/innen, die diese Regiekompetenz erst einmal erlernen wollen. Nach (ersten) Schritten in ein selbstständige(re)s Leben möchte eine 34-jährige Budgetnehmerin beispielsweise zunächst einmal „lernen, das Geld zu verwalten“ und ein 39-jähriger Budgetnehmer wünscht sich einen „selbstständigen Umgang mit Geld, Buchführung usw. (…) eigenständige Kontoführung (…) Lernen, mit Geld umzugehen.“ Unter dem Motiv „Regiekompetenz“ sind daher auch Budgetnehmer/innen zusammengefasst, die – neben anderen Gründen – den eigenverantwortlichen Umgang mit dem bewilligten Geldern zunächst „probeweise“ wahrnehmen bzw. erlernen möchten und dies als Kompetenz- und Verantwortungszugewinn erleben. Als letztes Beispiel sei ein 33-jähriger Budgetnehmer mit einer kognitiven Beeinträchtigung erwähnt, der mit Hilfe seines gesetzlichen Betreuers ein Persönliches Budget beantragt hatte, um die bereits seit längerem als Sachleistung bestehenden Unterstützungsleistungen von seinem eigenen Konto selbst zu bezahlen und damit den Umgang mit dem gewährten Geldmitteln zu verinnerlichen. Angestrebt ist, dass der junge Mann sein „Leben selbst mehr in die Hand nimmt“ und zukünftig auch Entscheidungen bezüglich der Unterstützungspersonen und der Art der Unterstützung übernimmt. Beispielsweise wird auch der Werkstattplatz des jungen Mannes vom eigenen Konto bezahlt. Geplant für die Zukunft ist, das Budget eventuell irgendwann einmal für einen Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt einzusetzen – „am besten bei Opel!“ (Budgetnehmer, 33 Jahre).
7.1.1.3
Unabhängigkeit
Ähnlich wie der Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensführung bzw. einem selbstbestimmten Umgang mit den benötigten Unterstützungsleistungen stellt auf theoretischer Ebene auch das veränderte Verhältnis zu den Leistungsanbietern einen westlichen Kerngedanken Persönlicher Budgets dar. Dieses veränderte Verhältnis schlägt sich ebenfalls in der Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks nieder. Menschen mit Behinderung treten fortan als Kunden und
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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nicht mehr als „abhängige“ Leistungsempfänger auf, was nicht zuletzt einem stärkeren Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderung zuträglich sein dürfte. Eine größere Unabhängigkeit sowie ein verändertes Machtverhältnis zwischen Leistungsempfängern und Leistungsanbietern in Richtung eines Verhältnisses „auf gleicher Augenhöhe“ werden damit möglich. Insgesamt geht es also in diesem Motivkomplex um Budgetnehmer/innen, die die Vorteile des Persönlichen Budgets insbesondere in der Unabhängigkeit von Leistungsanbietern sehen und die (neuen) Möglichkeiten der „Kundenrolle“ entsprechend ausschöpfen möchten. In der vorliegenden Analyse wurden verschiedene Hinweise gefunden, die auf eine solche Motivation hindeuten. Der Wunsch nach Unabhängigkeit von (professionellen) Leistungsanbietern spielt in den Aussagen der befragten Budgetnehmer/innen dabei eine relativ große Rolle und wird in vielerlei Hinsicht kommuniziert. Die jeweiligen Hintergründe für dieses Motiv sind jedoch äußerst heterogen. Im Kern geht es jedoch entweder um die Unzufriedenheit mit (bisherigen) Anbietern oder um den Versuch, bestehende informelle Unterstützungsstrukturen zu erhalten bzw. auszubauen und eine Abhängigkeit von professionellen Anbietern zu vermeiden. Zusammengefasst werden daher im Folgenden Motive, die sich entweder aus der Unzufriedenheit mit den bisherigen Leistungserbringern speisen (was sich schließlich in einem intendierten Wechsel der bisherigen Dienstleister mit Hilfe des Persönlichen Budgets äußert) oder aber in dem Wunsch bestehen, eine Abhängigkeit von professioneller Unterstützung durch den Erhalt der Unabhängigkeit und Nutzung von alternativen Unterstützungsformen und -personen zu umgehen. Letztendlich geht es den Budgetnehmer/innen aber insbesondere auch um den Vorteil einer gestärkten Rolle im Gefüge der Behindertenhilfe, d.h. um eine Veränderung des bisherigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Hilfeempfänger und Leistungserbringer. So verweisen Budgetnehmer/innen, die sich eine größere Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern erhoffen, nicht selten auch auf das Anliegen, sich nicht mehr als „Fall“ fühlen zu müssen, sondern als „Person“. „Keine Kompromisse mehr mit Einrichtungen“ – Unzufriedenheit mit bisherigen Leistungserbringern Der Wunsch nach einer größtmöglichen Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern wird häufig aufgrund einer merklichen Unzufriedenheit mit (bisherigen) Leistungserbringern formuliert, wie dies sinnbildlich die folgende Aussage einer 29-jährigen Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung unterstreicht: „keine Kompromisse mehr mit Einrichtungen (…), es ist nun möglich eigenverantwortlich zu leben.“ Spezifisch an dem Streben nach Unabhängigkeit von Anbietern ist dabei der Wunsch nach Unabhängigkeit von der Willkür und
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
den Qualitätsdefiziten der (bisherigen) Anbieter, oftmals gepaart mit dem Wunsch nach einem Wechsel der Anbieter. In den meisten Fällen geht dieses Bestreben mit schlechten Erfahrungen bzw. einer manifesten Unzufriedenheit mit bisherigen Leistungserbringern einher und die Beantragung eines Persönlichen Budgets verweist auf das Anliegen, zeitnah andere Anbieter rekrutieren oder direkten Einfluss auf die Qualität der Leistungserbringung nehmen zu können. Dies kann sich in manchen Fällen auf Preisfragen (z.B. billigere Anbieter), in anderen Fällen aber insbesondere auf Qualitätsstandards oder mangelnde Serviceorientierung beziehen. Zwei Beispiele sollen diese Verkettung von Ursachen, die zur Beantragung eines Persönlichen aufgrund einer Unzufriedenheit mit den Anbietern geführt haben, verdeutlichen:
Den Ausschlag zur Beantragung eines Persönlichen Budgets für einen 60jährigen Mann mit einer kognitiven Beeinträchtigung gab die Unzufriedenheit mit den Dienstleistungen, die im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens erbracht wurden: Die hauswirtschaftliche Unterstützung ging dem Herrn nach Aussagen der gesetzlichen Betreuerin „auf die Nerven“. Noch schlimmer wiegten jedoch die Qualitätsdefizite der in diesem Rahmen erbrachten Leistungen.98 Durch die Bewilligung eines Persönlichen Budgets konnte schließlich ein neuer Dienstleister mit hinzu gezogen werden. Zunächst wurden die Stunden zwar noch zwischen dem neuen und dem alten Leistungserbringer aufgeteilt, nach und nach wurde aber schließlich der alte Dienstleister vollständig aus dem Unterstützungssetting ausgeschlossen. Die Qualität der Arbeit und auch das Verhältnis zu den unterstützenden bzw. betreuenden Personen haben sich durch den Wechsel der Anbieter deutlich verbessert. Seit der Bewilligung des Persönlichen Budgets könne man nun mehr auf die Qualität der erbrachten Dienstleistung achten, denn „wenn man selber bezahlt, schaut man genauer hin“ – so die gesetzliche Betreuerin im Interview. Ferner ermögliche es die Entscheidungsfreiheit bezüglich der Auswahl der Anbieter sowie dem Zeitpunkt der Dienstleistungserbringung, nur den Bedarf abzudecken, der wirklich „gebraucht“ wird. Man wird „sparsamer“ und es sei dennoch eine höhere Qualität möglich.
98
Es wurde anscheinend nicht richtig geputzt, so dass nach einem Madenbefall die gesamte Wohnung renoviert werden musste. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Freizeitgestaltung. Auch in diesem Punkt erbrachte der Dienstleister nach Aussagen der Betreuerin qualitativ schlechte und vor allem eher „fragwürdige“ Leistungen. Die begleitenden Personen gingen z.B. mit dem Budgetnehmer in gewalttätige Kinofilme, so dass dieser Alpträume bekam. Des Weiteren fanden trotz gesundheitlicher Einschränkungen häufige Cafébesuche statt, bei denen der Budgetnehmer Kaffee und Kuchen essen bzw. trinken durfte – und dies obwohl der Budgetnehmer unter Diabetes und Bluthochdruck leidet. Aufgrund dieser Mängel wurde schließlich die Freizeitbetreuung durch diesen Dienstleister eingestellt.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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In einem zweiten Beispiel trug insbesondere die Unzufriedenheit mit der merklichen „Motivationslosigkeit“ des Leistungserbringers zu einer Budgetlösung bei. Im Interview erzählte die 48-jährige Budgetnehmerin mit einer kognitiven Beeinträchtigung, der Dienstleister hätte lediglich „Dienst nach Stoppuhr“ gemacht. Teilweise musste die Budgetnehmerin richtiggehend vorplanen, was der Dienst zu machen hat oder sogar Vorarbeiten leisten, wenn etwas Größeres anstand. Die fehlende menschliche Zuwendung führte letztendlich dazu, dass die Frau “lieber keine Hilfe mehr“ annehmen wollte, „lieber die Wohnung vermüllen“ lies, als weiterhin den Dienstleister „in die Wohnung zu lassen.“ Aufgrund dieser Unzufriedenheit wurde schließlich ein Persönliches Budget beantragt, um zeitnah einen alternativen Leistungsanbieter suchen zu können. Mit dem Budget möchte die Budgetnehmerin nach eigenen Angaben nun endlich „unabhängiger“ von der Willkür der Leistungsanbieter werden.
Wie die genannten Beispiele bereits andeuten, geht es bei dem Wunsch nach Unabhängigkeit von Anbietern in den meisten Fällen auch darum, mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Wechsel der Anbieter zu intendieren, etwa einen „Wechsel der Betreuungsperson durch[zu]setzen“ (Budgetnehmerin, 50 Jahre) oder einen Wechsel von einem „unflexiblen ambulanten Dienst“ zu einem flexibleren Dienst (Budgetnehmerin, 34 Jahre) zu ermöglichen. Auch folgendes Beispiel zeigt eindrücklich, inwiefern die Budgetbeantragung mit Unzufriedenheit und der Möglichkeit des Wechsels der Leistungserbringer zusammenhängt: „In der Vergangenheit hatte mich ca. drei Mal im Monat eine Mitarbeiterin einer Einrichtung des Betreuten Wohnens besucht, weiterhin, teils alleine, teils mit einem Mitarbeiter, ein Herr, der eine Firma für Hilfen im Haushalt betreibt. Beides war schon seit längerem nicht mehr sehr harmonisch verlaufen – das Stichwort wäre vielleicht etwas wie emotionale Kompetenz –, was dazu geführt hatte, dass mein Betreuer, im Einvernehmen mit mir, vier Monate zuvor beides beendigt hat. Nun meinte er: ’Dies könnte etwas für Sie sein’. Eben weil ich mir selbst Personen suchen könnte, wo ich dann auch ein gutes Gefühl hätte – und eben in eigener Initiative“ (Budgetnehmer, 55 Jahre).
Insgesamt lassen sich bei diesen Unabhängigkeitsbestrebungen Überschneidungen zu dem Bedürfnis nach einer „selbstbestimmten Lebensführung“ beobachten. Allerdings besteht in den geschilderten Beispielen ein ausdrücklicher Wunsch nach Unabhängigkeit von einem spezifischen (professionellen) Dienst, während das Bedürfnis nach Selbstbestimmung unspezifischer sein dürfte. Weiterhin ergeben sich aufgrund des naheliegenden Bezugs Überschneidung zur Kategorie „Flexibilität“ (siehe Kapitel 7.1.1.5), geht es doch in den geschilderten
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Fällen immer auch um den Wunsch, die Anbieter und den Zeitpunkt der Unterstützung selbst aussuchen zu können. Entsprechend spielen bei dem Motiv nach einer größeren Unabhängigkeit von Anbietern auch Argumente eine Rolle wie die „persönliche Auswahl der Leistungen und der Leistungsträger“99 (Budgetnehmer, 26 Jahre) oder „nicht von Dienstplänen abhängig zu sein“ (Budgetnehmerin, 54 Jahre). Letztendlich steht der Wunsch nach einer Unabhängigkeit von Anbietern auch mit den jeweiligen regionalen Angebotsstrukturen in Verbindung. Hierbei geht es manchen Budgetnehmer/innen nicht (nur) um eine Emanzipation von Leistungsanbietern aufgrund von Qualitätsdefiziten, sondern eher um eine Alternative zu bestehenden Angeboten in der Region. Mit dem Persönlichen Budget soll dabei versucht werden, eine alternative Unterstützung zu gestalten, weil es beispielsweise nur „unpassende“ Angebote in der unmittelbaren Region gibt. „Es ist privater, nicht so distanziert“ – Vermeidung einer Abhängigkeit von professionellen Diensten durch private Hilfen und informelle Unterstützung In etwas anders gelagerten Fällen hängt der Wunsch nach Unabhängigkeit vor allem damit zusammen, dass die Budgetnehmer/innen von vertrauten Personen aus dem unmittelbaren Nahraum unterstützt werden möchten, um dadurch weitestgehend unabhängig von professioneller Unterstützung leben zu können, wie auch das folgende Beispiel zeigt: „…eine Sachbearbeiterin, die einmal wöchentlich kommt, bleibt eine Fremde und offizielle Person. Durch die Möglichkeit, einer Bekannten Geld anzubieten, konnte diese sich mehr Zeit nehmen und es ist privater, nicht so distanziert. (…) einmal wöchentlich Treffen mit netter Bekannten, mit der ich mehr anfangen kann als mit professionellem Dienst“ (Budgetnehmerin, 44 Jahre).
Die Motivation zu einer größtmöglichen Unabhängigkeit von professionellen Anbietern durch informelle, private Hilfen zeigt sich aber auch in Fällen, in denen (noch) keine Erfahrungen mit professionellen Dienstleistern bestehen und versucht werden soll, eine unabhängige Lebensführung sowie ein bestehendes und funktionierendes soziales Netzwerk zu erhalten. Nicht selten geht es dabei um eine Vermeidung der Abhängigkeit von (professionellen) Pflegediensten oder sogar einer Heimaufnahme. Durch die Beantragung eines Persönlichen Budgets erhoffen sich diese Menschen, die benötigten Hilfen weiterhin in Form privater und informeller Unterstützungsarrangements zu organisieren und damit weitestgehend „unabhängig“ von professioneller Unterstützung zu bleiben. Inso99
Gemeint sind mit der von dem Budgetnehmer hier fälschlicherweise verwendeten Begrifflichkeit „Leistungsträger“ die „Leistungserbringer“.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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fern wird das Persönliche Budget eher als „Instrument“ zum Erhalt bestehender informeller Unterstützungsstrukturen eingesetzt. Dazu wurden vielfältige Beispiele dokumentiert. In allen Fällen ging es jedoch im Wesentlichen darum, das Budget zur Finanzierung einer (bestehenden) informellen Unterstützung zu nutzen. Dies kann in Form von Entlohnung erfolgen, genauso gibt es aber auch Budgetnehmer/innen, die mit ihrem Persönlichen Budget Geschenke für ihre Unterstützungspersonen finanzieren, den Eintritt bezahlen oder die Spritkosten übernehmen (z.B. bei Freizeitaktivitäten). Im Vordergrund steht dabei oft auch der Wunsch, sich für die unentgeltliche Unterstützung erkenntlich zeigen zu können. Dieser Wunsch wird im Folgenden etwas genauer betrachtet. „Vom Abhängigkeitsgefühl wegzukommen“ – Veränderung der Rolle als abhängiger Hilfeempfänger In den gesichteten Motiven zur Budgetbeantragung lassen sich auch Beweggründe finden, in denen explizit die Erwartung formuliert wird, dass sich durch eine Umstellung von der herkömmlichen Sachleistung auf ein Persönliches Budgets auch das bisherige „Machtgefälle“ zwischen Leistungsempfänger und Leistungserbringer verändern werde. Unter anderem steht hierbei auch der Wunsch im Vordergrund, sich aus einem (bestehenden) Abhängigkeitsverhältnis zu den Leistungserbringern zu lösen, um diesen „auf gleicher Augenhöhe“ zu begegnen. Budgetnehmer/innen, die explizit eine Veränderung ihrer Rolle anstreben, erhoffen sich dadurch, besser mit Abhängigkeitsstrukturen bzw. mit dem Angewiesensein auf Unterstützung oder mit Entmündigung und Bevormundung umgehen zu können. Im Kern geht es den Budgetnehmer/innen, die ein solches Motiv formulieren, vor allem darum, „vom Abhängigkeitsgefühl wegzukommen“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre). Ähnlich beschreiben auch andere Personen die Ausgangssituation der Budgetbeantragung: „Ich fühlte mich durch die professionelle Eingliederungshilfe entmündigt“ (Budgetnehmerin, 44 Jahre), „Abhängigkeitsverhältnis war sehr belastend“ (Budgetnehmerin, 38 Jahre). Neben dem Wunsch, Abhängigkeits- und Entmündigungsgefühle zu umgehen, wünschen sich die Budgetnehmer/innen zudem, „keine Rechenschaft schuldig [zu] sein“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre). Wie oben bereits angedeutet, spielen neben diesen Abhängigkeits- und Entmündigungsgefühlen aber auch Schamgefühle oder das Gefühl, „Bittsteller“ zu sein, eine wichtige Rolle bei der Budgetbeantragung. Auch hinsichtlich dieser Aspekte wünschen sich Leistungsempfänger durch die Nutzung eines Persönlichen Budgets eine Rollenveränderung. Beispielsweise gibt es Budgetnehmer/ innen, die sich mit Hilfe des Persönlichen Budgets für eine bisher weitestgehend unentgeltliche Unterstützung erkenntlich zeigen möchten bzw. ihren Unterstützungspersonen (in der Regel private Hilfen) zumindest eine kleine Aufwandsentschädigung für die größtenteils unentgeltliche Unterstützung anbieten zu können.
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Für diese Zwecke wird ein Persönliches Budget beantragt. Sinn und Zweck der Budgetnutzung ist dabei einerseits das Aufrechterhalten der bisherigen Unterstützungsstrukturen, andererseits aber auch eine Verbesserung des Selbstbewusstseins der Budgetnehmer/innen, weil diese sich nicht mehr als „Bittsteller“ fühlen müssen und somit das Gefühl haben, wenigstens eine kleine finanzielle Entschädigung anbieten zu können.100 An zwei Beispielen sei dies verdeutlicht:
Ein erstes Beispiel stellt ein älteres Ehepaar (61 und 57 Jahre) – beide Budgetnehmer – dar, die ein Persönliches Budget beantragt haben, um die unentgeltliche Unterstützung durch ihre vier Kinder zu entschädigen.101 Beide sind nach eigenen Angaben so stark an Rheuma erkrankt, dass sie ihre Hände kaum mehr einsetzen können. Bei dem Mann besteht ferner eine Krebserkrankung, die Frau leidet zusätzlich an einer Atemwegserkrankung. Die Mobilität beider ist dadurch erheblich eingeschränkt. Aus diesem Grunde benötigen beide Unterstützung bei der alltäglichen Versorgung (unter anderem aufgrund der eingeschränkten Nutzung der Hände auch bei der Körperpflege), im Haushalt sowie hinsichtlich der Mobilität (Fahrdienste zu Ärzten, Freizeitaktivitäten). Die Unterstützung wird bislang ausschließlich von den Kindern erbracht. Ausschlaggebend für die Budgetbeantragung war letztendlich das Gefühl, bei den Kindern in der „Schuld“ zu stehen sowie ein gewisser finanzieller Druck (bedingt durch häufige Fahrten zum Arzt): „Wir beide haben es von alleine nicht mehr geschafft, die Familie konnte ja auch nicht mehr umsonst einspringen, Spritkosten usw. und im Haushalt“. Aufgrund dessen beschloss das Ehepaar, sich beim Sozialamt näher über Leistungen für behinderte Menschen zu informieren. Dort wurden sie dann auch auf das Persönliche Budget aufmerksam. Mit einem kleinen Budget können die beiden Eheleute nun eine Unterstützung im Haushalt sowie anfallende Fahrtkosten finanzieren. Das Budget wird ausschließlich für die helfenden Familienangehörigen eingesetzt, um sich diesen gegenüber „er-
100 Inwiefern diese Fallkonstellationen mit einem „Verfall“ unentgeltlicher Unterstützung und einer „Kommerzialisierung“ privater Hilfen einhergehen, kann und soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Auch wenn diese Vorgehensweise eine Legitimation dafür liefert, unentgeltliche, informelle Hilfe in Zukunft ebenfalls zu „bezahlen“ sei darauf hingewiesen, dass im Vordergrund die Sicherung der Versorgung und der Erhalt der Unterstützungsnetzwerke der Budgetnehmenden stehen. Im Vergleich zu den Kosten, die entstehen würden, wenn diese Personen auf eine professionelle Unterstützung zurückgreifen müssten oder sogar auf eine stationäre Unterbringung angewiesen wären, sind diese Kosten doch als äußerst gering einzuschätzen. Auch aus diesem Grund scheint ein solches „Vordringen“ bezahlter informeller Unterstützung durchaus gerechtfertigt. 101 Das Fallbeispiel wird ausführlich erläutert im Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (vgl. Metzler u.a. 2007, 228ff.).
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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kenntlich“ zu zeigen, indem die mit der Unterstützung entstehenden Ausgaben (z.B. Benzinkosten) erstattet werden: „…man muss nicht mehr bitten und betteln, du fühlst dich nicht total in die Ecke gestellt, auch gegenüber der Familie, also die haben früher schon manchmal dumm geschaut, dass sie jetzt wieder weit fahren müssen, also die haben keine Zeit gehabt, aber jetzt wenn sie eine Erkenntlichkeit …, ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, was man sonst verliert.“
Ein zweites Beispiel ist ein 23-jähriger junger Mann mit einer kognitiven Beeinträchtigung, für dessen Freizeitbetreuung (v.a. Ausflüge) die Mutter ein Persönliches Budget beantragt hatte. Zwar wird der Budgetnehmer regelmäßig von einem Einzelfallhelfer unterstützt, allerdings mussten nach Auskunft der Mutter immer mal wieder auch Freunde oder Bekannte „einspringen“. Zudem gäbe es im Bekanntenkreis einige Personen, die sich gut mit der Behinderung des Sohnes auskennen würden. Mit dem Budget werden nun insgesamt 12 Stunden Freizeitbetreuung pro Woche kalkuliert, die über verschiedene Personen verteilt werden. Finanziert wird damit ein Mix aus professionellen Kräften (Einzelfallhelfer) und privaten Hilfen, so dass die Betreuung in der Freizeit relativ flexibel gestaltet werden kann. Die Mutter sieht den Vorteil des Persönlichen Budgets vor allem darin, dass man nun dem „Sohn flexibel Wünsche ermöglichen“ könne, weil hierfür nicht nur ein einzelner Einzelfallhelfer zur Verfügung steht, sondern eine ganze Gruppe an Betreuungspersonen und es „immer Ersatz gibt, wenn jemand ausfällt“. Da jedoch Bekannte und Freunde kein Geld annehmen wollen, lädt die Mutter diese Personen öfter mal zum Essen ein oder finanziert entsprechende Kosten wie Eintrittsgelder oder Verköstigung.
Die Beispielen verdeutlichen, dass das Persönliche Budget auch kompensatorisch eingesetzt werden kann; dabei geht es nicht nur um ein verändertes Verhältnis zu den unterstützenden Personen und dem Wunsch, sich nicht mehr als Bittsteller zu fühlen, sondern auch um den Erhalt bestehender sozialer Netzwerke und Unterstützungsstrukturen. Diese Veränderung der Rollen macht sich zuletzt auch in den Antworten auf die Frage nach den Vorteilen des Persönlichen Budgets bemerkbar. Beispielsweise antwortet eine 34-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung auf die Frage, was sich denn in ihrem Leben verbessert hätte, seitdem sie das Budget erhalte, dass das Persönliche Budget eine Möglichkeit sei, „sich als erwachsener Mensch zu fühlen“ und nicht „auf den Status psychisch krank reduziert zu werden“. Andere Personen betonen ausdrücklich das Moment der „Gegenseitigkeit“ und dass kein „einseitiges Abhängigkeitsverhältnis“ mehr existiere
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
(Budgetnehmerin, 45 Jahre). Durchaus in Verbindung mit der Kernidee Persönlicher Budgets stehen ferner Äußerungen wie „…ich bin der Kunde bei der Einrichtung und nicht der Bezirk“ (Budgetnehmer, 51 Jahre). In wieder anderen Aussagen wird der Rollenwandel indirekt an der „Bezeichnung“ der Unterstützungspersonen deutlich. So spricht eine 33-jährige Budgetnehmerin mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht mehr von „ihrem Betreuer“ sondern von ihrer „bezahlten Person“.
7.1.1.4
Einflussnahme
Ein weiterer Kerngedanke des Persönlichen Budgets besteht in der Vorstellung, Menschen mit Behinderung würden fortan als „Kunden“ auftreten und dadurch einen entsprechenden Einfluss auf die Entwicklung der (regionalen) Angebotsstruktur ausüben. Das aufgrund der Nutzung eines Persönlichen Budgets entstehende „Kundenbewusstsein“ müsste sich dann sowohl auf die unmittelbare Gestaltung und Qualität der Angebote einzelner Leistungserbringer als auch auf die jeweilige regionale Angebotsstruktur im Allgemeinen auswirken. Diese Möglichkeit der Einflussnahme hängt ähnlich wie der Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensführung und Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern mit der Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks zusammen. Insofern ergeben sich deutliche Überscheidungen zu den oben genannten Motiven. Gerade weil durch die Veränderung der Zahlungswege das Machtverhältnis zugunsten der Leistungsempfänger verschoben wird, verfügen Menschen mit Behinderung selbst über die relevanten finanziellen Ressourcen und treten daher auch eher als Kunden auf und nicht mehr als „bloße“ Leistungsempfänger. Entsprechend können Budgetnehmer/innen nun direkten Einfluss auf Art und Inhalt der Leistungserbringung nehmen und damit die Entwicklungen auf dem Angebotsmarkt zunehmend mitgestalten, kurz: sie erhalten das Privileg, als „Kunde“ mehr oder weniger aktiv auf die Qualität der Unterstützung einwirken zu können. Auch in der Budgetnehmerbefragung konnten einige Budgetnehmer/innen identifiziert werden, denen es um eine solche Einflussnahme und „Kundenmacht“ geht. Die im Folgenden beschriebene Gruppe an Budgetnehmer/innen ist insofern von besonderem Interesse, weil sich hier einige der in Kapitel 3 formulierten theoretischen Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets widerspiegeln (Kundenrolle, Veränderung des Marktes sozialer Dienstleistungen usw.). Die Betrachtung der Hintergründe der Budgetbeantragung zeigt dabei auch deutlich, dass die betreffenden Personen unmittelbaren Einfluss auf die (mangelnde) Qualität der bisherigen Leistung nehmen möchten. Eine weitere Gruppe an Budgetnehmer/innen formuliert diesen Wunsch nach Einflussnahme
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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sogar noch etwas „globaler“ und verfolgt mit der Budgetbeantragung allgemeine behinderungspolitisch relevante Ziele. Das Persönliche Budget wird in diesem Fall als Möglichkeit gesehen, langjährige Forderungen behinderter Menschen nun endlich realisieren zu können. „Die Verbindlichkeit und Qualität der Anbieter steigern“ – unmittelbare Einflussnahme auf die Art der Leistungserbringung In diesem Motiv sind Personen zusammengefasst, deren Motivation zur Beantragung eines Persönlichen Budgets schwerpunktmäßig in dem Wunsch nach mehr „Einflussnahme“ auf Art, Inhalt und Qualität der (gegenwärtigen) Leistungserbringung wurzelt. Bei diesen Budgetnehmer/innen wird explizit die Erwartung formuliert, mit Hilfe des Persönlichen Budgets mehr Einfluss auf die Gestaltung und Qualität der Angebote nehmen zu können, wie etwa ein 48-jähriger Budgetnehmer mit körperlicher Behinderung betont. Ihm gehe es bei der Beantragung des Persönlichen Budgets darum, „die Verbindlichkeit und Qualität der Anbieter [zu] steigern.“ Von anderen Budgetnehmer/innen werden ähnliche Motive vorgebracht wie „Pflegeverbesserung“ (Budgetnehmer, 47 Jahre), eine „bessere hauswirtschaftliche Versorgung“ (Budgetnehmerin, 43 Jahre) oder „dass man mehr Mitsprache hat“ (Budgetnehmer, 54 Jahre). Besonderes Gewicht bekommt dieses Motiv vor allem im Kontext des Arbeitgebermodells, weil der darin angelegte Rollenwechsel es ermöglicht, dass die Budgetnehmer/innen die Qualitätsstandards der Unterstützung selbst definieren können. Dabei scheint das Ausüben einer Arbeitgeberrolle es besonders gut zu ermöglichen, die Qualität der Assistenz zu steigern, wie das folgende Beispiel zeigt: „…selbst eingestellte Assistenten sind ordentlicher und pünktlicher als Dienste“ (Budgetnehmerin, 30 Jahre). Nicht selten leiten diese Budgetnehmer/innen die Motivation zur stärkeren „Einflussnahme“ und Wahrnehmung einer „Kundenbewusstseins“ aus eigenen (schlechten) Erfahrungen mit Diensten bzw. Dienstleistern ab. Sie sind davon überzeugt, dass sich Menschen mit Behinderung durch das Persönliche Budget besser vor Willkür und Missbrauch schützen können und auch mehr Einfluss auf die Qualität und Art der Leistungserbringung nehmen sollten. Insofern gibt es Überschneidungen zu dem Motiv „Unzufriedenheit“, wie beispielsweise auch die Aussage einer 38-jährigen körperlich behinderten Budgetnehmerin zeigt, die von schlechten Erfahrungen mit Pflegestationen berichtet. Weil sie das „Abhängigkeitsverhältnis“ ihrer Einschätzung nach als „sehr belastend“ empfunden hatte und sich die Pflegestationen scheinbar auf ihre „Kosten und die der Pflegekräfte bereichert [haben]“, beschloss sie ein Persönliches Budget zu beantragen, weil solche Probleme mit „diesem Modell“ verhindert werden können.
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
„Die Anbieter von Pflegeleistungen müssen um die Nachfrage konkurrieren“ – Veränderung der Angebotslandschaft Das Bedürfnis nach „Einflussnahme“ kann in manchen Fällen – wie bereits eingangs erwähnt – durchaus „übergeordnete“ Dimensionen annehmen. Hierbei wird die Beantragung des Persönlichen Budgets in den Kontext allgemeiner Forderungen und Überzeugung gestellt, wie etwa auch das folgende Beispiel zeigt: „Wir sind darauf angesprochen worden, von der Schule und vom Sozialhilfeträger und vom Sozialamt. Außerdem denken wir, dass dies die zukünftige Entwicklung in der Behindertenunterstützung darstellt und der Behinderte selbst mehr Möglichkeiten hat, über das ihm zur Verfügung stehende Budget zu entscheiden. Die Anbieter von Pflegeleistungen müssen um die Nachfrage konkurrieren. Meines Erachtens ist dies für die Behinderten von Vorteil“ (Mutter eines Budgetnehmers, 10 Jahre).
Ähnlich dieser allgemeinen „ideologischen Überzeugung“ gibt es Budgetnehmer/innen, denen es bei der Budgetbeantragung vor allem darum ging, an dem „Modellprojekt (…) teilzunehmen, und so möglichst viel Einfluss auf das Projekt und die Ergebnisse nehmen zu können“ (Budgetnehmerin, 43 Jahre) oder „um sicherzustellen, dass es auch weiterhin bedarfsgerechte Unterstützungsformen geben wird" (Budgetnehmerin, 51 Jahre) und damit bereits in der Erprobungsphase Einfluss auf die weitere Entwicklung der Leistungsform Persönlicher Budgets zu nehmen. Wieder andere Budgetnehmer/innen möchten mit dem Persönlichen Budget direkt und bewusst die Serviceorientierung und Angebotsentwicklung von regionalen Leistungsanbietern mitgestalten. In diesen Fällen treten die Budgetnehmer/innen auch tatsächlich als „Kunden“ auf und „handeln“ entsprechende Konditionen aus. Vereinzelte Beispiele zeigen dabei, dass es Budgetnehmer/innen durchaus gelang, eine Anpassung der Angebote an die Bedürfnisse der Nachfragenden sowie eine Modularisierung und Verpreislichung der angebotenen Leistungen zu „erzwingen“.
7.1.1.5
Flexibilität
Nach Kastl und Metzler (2005, 13f.) ermöglichen Persönliche Budgets vor allem mehr Flexibilität in der Verwendung der bewilligten Sozialleistungen und damit auch in der unmittelbaren Gestaltung der Unterstützung. Flexibilität bezieht sich dabei auf sachliche, soziale sowie zeitliche Dispositionsspielräume. Die systematische Auswertung der Motive zur Budgetbeantragung zeigt, dass der Wunsch nach mehr Flexibilität in der Gestaltung der Unterstützung eine besonders große Rolle spielt und von einer Vielzahl von Budgetnehmer/innen
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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formuliert wurde. Zusammengefasst sind im Folgenden alle entsprechenden Nennungen, die sich auf diese Flexibilitätszugewinne beziehen. Zwar gibt es Budgetnehmer/innen, denen schwerpunktmäßig die zeitliche Flexibilität wichtig ist, andere hingegen betonen den Vorteil, sich die Unterstützungspersonen bzw. Dienstleister selbst aussuchen zu können und wiederum andere versuchen durch die Budgetbeantragung Art und Inhalt der Leistungserbringung gezielt steuern zu können. Alles in allem ist die Motivation der Budgetbeantragung jedoch fokussiert auf das Element „Flexibilität“. Aus diesem Grunde fließen alle drei Ebenen gleichermaßen in diesen Motivkomplex ein. Dabei lassen sich vor allem vielfältige Überschneidungen zwischen diesen drei Bereichen finden, wie die folgende Aussage exemplarisch zeigt: „Budget so einsetzen können, wie man es selber braucht, dass nicht alles so festgefahren ist, Inhalt, Zeitpunkt, Assistenzperson auswählen können“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre).
„Zeitpunkt der Hilfen selbst festlegen können“ – Zeitliche Flexibilität und bedarfsgerechte Organisation der Unterstützung Eine relativ große Bedeutung bei der Budgetbeantragung hat der Wunsch, insbesondere den Zeitpunkt der Leistungserbringung selbst bestimmen zu können. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: Eine Gruppe Budgetnehmer/innen intendiert mit der Beantragung des Persönlichen Budgets die erforderliche Unterstützungserbringung zeitlich flexibler organisieren zu können (etwa aufgrund persönlicher Präferenzen wie der Zeitpunkt des zu Bett Gehens, Unternehmungen am Abend oder spezifischer Bedarfslagen zu unterschiedlichen Tageszeiten), während es der anderen Gruppe eher darum geht, Leistungen nur dann „einzukaufen“, wenn sie tatsächlich benötigt werden bzw. darauf zu verzichten, wenn sie nicht gebraucht werden. In letzterem Falle wird es beispielsweise als vorteilhaft angesehen, dass Stunden (bzw. Geldbeträge) auch angespart und in andere Wochen oder Monate übertragen werden können. Die beiden Budgetnehmergruppen sollen auf Basis einiger ausgewählter Beispiele genauer beschrieben werden:
Die erste Gruppe möchte mit der Beantragung des Persönlichen Budgets erreichen, den Zeitpunkt einer regelmäßig anfallenden Unterstützung selbst bestimmen zu können, beispielsweise „lockerer Termine vereinbaren“ (Budgetnehmer, 46 Jahre), den „Zeitpunkt der Hilfen selbst festlegen können“ (Budgetnehmer, 27 Jahre), eine „flexiblere Alltagsgestaltung nach konkreten Bedürfnissen“ zu realisieren (Budgetnehmerin, 34 Jahre) oder aufgrund subjektiver Vorlieben den Zeitpunkt der Unterstützung anders zu legen als es der Leistungsanbieter vorsieht, d.h. „nicht von Dienstplänen
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
abhängig zu sein“ (Budgetnehmerin, 52 Jahre). Über einen 39-jährigen Budgetnehmer mit einer sogenannten geistigen Behinderung erzählt die gesetzliche Betreuerin beispielsweise, er wäre „kompliziert“ was den Zeitpunkt des morgendlichen Aufstehens betrifft. Entsprechend soll mit Hilfe des Persönlichen Budgets erreicht werden, die Dienstpläne stärker an den Bedürfnissen des Budgetnehmers auszurichten und die benötigte Versorgung eher auf den späteren Vormittag zu legen. Einer 45-jährigen Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung geht es hingegen darum, eine „flexible Unterstützung an den Abenden sicher[zu]stellen“; mit der Beantragung des Persönlichen Budgets intendiert sie, auch mal später ins Bett gehen zu können und sich nicht mehr nach den Zeiten des Pflegedienstes richten zu müssen. Anderen Budgetnehmer/innen ist wiederum die zeitliche Flexibilität bestimmter Tätigkeiten besonders wichtig, etwa ein 38-jähriger Budgetnehmer mit einer kognitiven Beeinträchtigung, der mehr Spielraum beim Einkaufen und Wäsche waschen haben möchte. Die zweite Gruppe intendiert eine flexiblere Verwendung der Geldbeträge. Zu denken ist beispielsweise an Budgetnehmer/innen mit einem eher unregelmäßigen Unterstützungsbedarf, denen aus diesem Grunde eine kurzfristige bzw. spontan anfallende Leistungserbringung sinnvoller erscheint oder die sporadisch auch mal eine Wochenend- oder Nachtbetreuung benötigen. Gemeinsam ist diesen Budgetnehmer/innen die bedarfsgerechte Organisation der Unterstützung ohne zeitliche Bindung, d.h. „je nach Bedarf Hilfe einzukaufen“ (Budgetnehmer, 33 Jahre). Ein entscheidender Vorteil wird dabei insbesondere in der Möglichkeit gesehen, die bewilligten Stunden selbst einzuteilen, wie auch eine Mutter einer 17-jährigen Budgetnehmerin mit einer sogenannten geistigen Beeinträchtigung betont: „Aufgrund des Persönlichen Budgets kann ich mir (…) die Stunden selbst einteilen, je nach Bedarf.“ Ähnlich dazu äußert sich ein 38-jähriger Budgetnehmer: „Heute brauche ich vielleicht weniger Zeit, morgen aber mehr“. Ein 48-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung, der seine Assistenz im Rahmen des Arbeitgebermodells organisiert, sieht das ähnlich: Er empfand es bisher als „ungeeignet, stets auf bestimmte Zeiten festgelegt zu sein“; seiner Meinung nach würden „manchmal auch nur 10 Stunden ausreichen“, an anderen Tagen bräuchte er hingegen vielleicht mal mehr Unterstützung. Sinnbildlich für diese bedarfsgerechte Steuerung der Unterstützung ist auch folgende Aussage einer Mutter eines 23-jährigen Budgetnehmers mit einer sogenannten geistigen Behinderung: „Geld verwenden je nach Wetterlage, man kann Geld ansparen für Zeiten mit schönem Wetter, oder wenn der Sohn mal krank ist ebenfalls Geld ansparen, um dann mal Ausflüge machen zu können.“
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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In letzterem Fall können angesparte Reste u.a. dafür verwendet werden, an anderen Tagen auch mal mehr Unterstützung zu nutzen. Diese „Sparmöglichkeit“ wird auch von anderen Budgetnehmer/innen herausgestellt. So formuliert eine 33-jährige Budgetnehmerin diesen Vorteil wie folgt: „Kann öfter am öffentlichen Leben teilnehmen. (…) Ich kann auch Geld sparen. Mal 10€ zu wenig gebraucht, kann ich das im nächsten Monat ausgeben.“ Diese Flexibilität geht in manchen Fällen sogar so weit, dass einzelne Budgetnehmer/innen Beträge „sparen“, um mit den Resten außerplanmäßige Aktivitäten realisieren zu können (z.B. Ausflüge oder Reisen mit ihren Assistent/innen). In wieder anderen Fällen werden die verbleibenden Reste aber auch an die Unterstützungspersonen ausbezahlt, beispielsweise als „Belohnung“ für „gute“ Arbeit. Eine 43-jährige Budgetnehmerin mit körperlicher Behinderung, die ihre Unterstützung in Form eines Arbeitgebermodells organisiert, stellt hierbei die Möglichkeit heraus, „Budgetüberschüsse als zweckgebundene Zuwendung an die Assistenten weiterzugeben.“ Weitere Unterschiede bestehen hinsichtlich der jeweiligen Lebenssituation, aus der heraus das Persönliche Budget beantragt wird. Zwar ist den hier relevanten Budgetnehmer/innen das Motiv gemeinsam, mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine zeitlich flexiblere Gestaltung der Unterstützung zu realisieren, aber die jeweiligen Hintergründe sind völlig verschieden. Im Groben können vier verschiedene Lebensbereiche – Wohnen, Arbeit, Schule, Freizeit – unterschieden werden, in die das Motiv zur zeitlichen Flexibilisierung der Unterstützung eingebettet ist:
Im Bereich Wohnen erfüllt die zeitliche Flexibilität insbesondere die Funktion, die Unterstützung zu selbstgewählten Zeitpunkten einzusetzen. Oben wurden bereits Beispiele genannt, in denen deutlich wird, dass der Zeitpunkt der von ambulanten Pflegediensten erbrachten Leistungen nicht unbedingt mit den subjektiven Wünschen und Bedürfnissen der Leistungsempfänger kompatibel ist. Meist geht es dabei um täglich anfallende und regelmäßig zu erbringende Tätigkeiten, die vorher von den Zeitvorgaben der Dienstleister bestimmt wurden. Mit der Budgetbeantragung intendieren die Budgetnehmer/innen hingegen, diese Zeitvorgaben je nach „Bedarf“ zu flexibilisieren. Eine weitere Ebene ist der Bereich „Arbeit“. Hierbei wurden z.B. in der Zuständigkeit der Integrationsämter Persönliche Budgets für Arbeitsassistenz beantragt, um damit Flexibilitätsgewinne zu erzielen. An einem Beispiel sei dies erläutert: Eine 34 Jahre alte gehörlose Frau arbeitet als selbstständige Modedesignerin und hat einen kleinen Laden in der Berliner Innenstadt. Nach § 102 Abs. 4 SGB IX erhält sie Arbeitsassistenz vom Integrationsamt in Form einer Gebärdensprachendolmetscherin, die die Bud-
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getnehmerin bei der (täglichen) Arbeit unterstützt.102 Den Ausschlag für das Beantragen des Persönlichen Budgets gab der Wunsch nach mehr Flexibilität in der Organisation und Planung der Arbeitsassistenz, da wichtige Geschäftstermine und Veranstaltungen nicht selten außerhalb der üblichen Arbeitszeit bzw. am Abend anfallen (z.B. Modenschauen). Die Entscheidung, wann und wie die Arbeitsassistenz erfolgen soll, wird in Absprache mit der Assistentin getroffen. Dies ist besonders wichtig, da die Budgetnehmerin aufgrund ihrer selbstständigen Tätigkeit oftmals nicht genau abschätzen kann, wann sie Assistenz benötigen und deswegen auf eine gewisse Flexibilität angewiesen ist. Im schriftlichen Fragebogen vermerkt die Budgetnehmerin: „Ohne das Budget würde es meinen Laden wahrscheinlich nicht mehr geben.“ Im Bereich Schule wird das Persönliche Budget eingesetzt, um damit eine Schulbegleitung bzw. Schulassistenz zu finanzieren. Der Vorteil der Budgetnutzung wurzelt dabei insbesondere in einer flexibleren Gestaltung der zur Verfügung stehenden Stunden: Eine 8-jährige Budgetnehmerin mit einer sogenannten geistigen Behinderung wird beispielsweise von einer Schulbegleitung im Rahmen eines integrierten Klassenmodells unterstützt. Vor der Bewilligung des Persönlichen Budgets war die Stundenzahl festgelegt und konnte nicht überschritten werden; zusätzlich geleistete Stunden mussten dann selbst bezahlt werden. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets kann die Mutter nun aber die Stunden der Schulbegleitung flexibler gestalten, z.B. „überziehen, wenn mal außerplanmäßig etwas ist“. Wenn weniger Stunden gebraucht werden (wenn z.B. Schulstunden ausfallen) ist es aber auch genauso möglich, Stunden anzusparen und in „andere Monate rüber zu schieben“. Im vierten Bereich – dem Bereich Freizeit – geht es bei der gewünschten zeitlichen Flexibilität vor allem darum, jeweils spezifische Vorlieben der Freizeitgestaltung realisieren zu können und/oder das Geld nur nach Bedarf „auszugeben“. Beispielsweise beantragte ein 38-jähriger Budgetnehmer, der in einer stationären Wohneinrichtung für behinderte Menschen lebt, ein Persönliches Budget, um außerhalb der üblichen Freizeitangebote der Einrichtung diverse Aktivitäten realisieren zu können. Mit einem geringen Budget kauft er sich daher Begleitung in der Freizeit ein (Essen gehen, Einkaufsbummel, Kino usw.). Begründet wird dies nicht zuletzt damit, dass „das Pflegepersonal für Freizeitgestaltung keine Zeit [hat]“. Ein weiteres Beispiel stellt ein 56-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung dar, dem es bei der Budgetbeantragung vor allem darum ging, die
102 Die Unterstützung umfasst dabei schwerpunktmäßig Kundengespräche, Telefonate, Kommunikation mit Ämtern und Geschäftspartnern, Unterstützung bei der Organisation von Modeschauen, PR- und Pressearbeit (Interviews) usw.
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Freizeit nach seinen persönlichen Vorstellungen zu gestalten, etwa „am Wochenende ins Stadion zu gehen“. Zusammenfassend muss herausgestellt werden, dass diese Motivation zur zeitlichen Flexibilität auch in Verbindung mit einem veränderten Selbstverständnis behinderter Menschen steht. Entsprechend gibt es vielfältige Überschneidungen zu den Motivkomplexen „Selbstbestimmung“ und „Unabhängigkeit“ (vgl. Kapitel 7.1.1.2; 7.1.1.3). „Selbst entscheiden, wer hilft“ – Flexibilität in der Auswahl der Unterstützungspersonen und Dienste Eine ähnlich große Bedeutung als Ursache für die Beantragung eines Persönlichen Budgets stellt die Möglichkeit dar, die Unterstützungspersonen bzw. Dienste frei auswählen zu können. Personelle bzw. soziale Dispositionsspielräume werden dabei von den unterschiedlichsten Budgetnehmer/innen in den verschiedensten Lebenssituationen genannt. Wie auch bei dem Wunsch nach einer „zeitlichen Flexibilität“ kann die Intention, mehr Spielraum bei der Auswahl der Unterstützungspersonen zu haben, in ähnlicher Art und Weise auf die vier Lebensbereiche Wohnen, Arbeit, Schule und Freizeit übertragen werden. Sinnvoller erscheint jedoch eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Gründe, warum die Budgetnehmer/innen ihre Unterstützungspersonen bzw. Dienstleister selbst auswählen möchten:
Eine Gruppe an Budgetnehmer/innen versucht beispielsweise die personellen Dispositionsspielräume auszuschöpfen, um besonders nahestehende Personen, etwa aufgrund freundschaftlicher und/oder familiärer Bindungen, in das über das Persönliche Budget finanzierte Unterstützungsarrangement miteinbeziehen zu können. Das Persönliche Budget wird hierbei vor allem im Kontext informeller bzw. privater Hilfen genutzt und es bestehen auch von Seiten der Leistungsträger keine Vorschriften zur Verwendung des Persönlichen Budgets (etwa in Form von Zweckbindungen für definierte professionelle Unterstützungspersonen bzw. soziale Dienste).103 Oftmals liegt dieser Wunsch nach personeller Flexibilität auch darin begründet, dass ein umfassendes Unterstützungsnetzwerk aufgebaut werden soll und entspre-
103 Tatsächlich zeigt die systematische Auswertung der Zielvereinbarungen im Rahmen des bundesdeutschen Modellprojekts zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“, dass in der Mehrheit der Fälle die Nutzung von professionellen Diensten oder Personen vorgeschrieben wurde. In 37% aller gesichteten Zielvereinbarungen wurde beispielsweise die Qualifikation der Leistungserbringer zumindest für einen Teil des Persönlichen Budgets festgelegt, in weiteren 36% geht diese Festlegung sogar so weit, dass Leistungserbringer in den Zielvereinbarungen namentlich genannt wurden (vgl. dazu Metzler u.a. 2007, 151).
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chend eine Vielzahl an Personen einbezogen werden müssen. Eine 32jährige Budgetnehmerin nutzt beispielsweise 16 verschiedene Unterstützungspersonen; einige davon sind Freunde und Bekannte. In dieser Gruppe zeigen sich daher auch Überschneidungen zu dem Motiv „Unabhängigkeit“ (vgl. Kapitel 7.1.1.3), weil die betreffenden Budgetnehmer/innen Angehörige, Freunde oder Bekannte oftmals gerade deswegen in das über ein Persönliches Budget finanziertes Unterstützungssetting einbeziehen, weil sie einer Abhängigkeit von professionellen Anbietern vorbeugen wollen oder weil sie sich informellen Helfer/innen gegenüber erkenntlich zeigen möchten. Ein weiterer wichtiger Grund für die Beantragung eines Persönlichen Budgets ist die Möglichkeit, die Unterstützungspersonen aufgrund von Sympathie und Vertrauenswürdigkeit auswählen zu können anstatt Hilfe von Personen annehmen zu müssen, die einem sozusagen „vorgesetzt“ werden. Dies betont etwa ein 25-jähriger Budgetnehmer mit den folgenden Worten: „keinen Helfer zugewiesen bekommen, sondern selbst entscheiden, wer hilft.“ Treffend formuliert dies auch ein 48-jähriger Budgetnehmer, der seine Unterstützung im Rahmen des Arbeitgebermodells organisiert: „Immerhin sind die Personen ja 10 Stunden jeden Tag da, da muss die Chemie schon stimmen“. Auch eine 32-jährige Budgetnehmerin verweist auf die Bedeutung von Sympathie, da sie aufgrund einer Anfallserkrankung vor allem eine nächtliche Bereitschaftswache braucht und die unterstützenden Personen aus diesem Grund auch bei ihr „übernachten“ müssen. Aus diesem Grunde ist ihr bei der Auswahl der Personen vor allem das Vertrauensverhältnis wichtig und die in Frage kommenden Personen schlafen zunächst nur eine Nacht bei der Budgetnehmerin, um „ein Mal [zu] testen, ob es passt“. Auch im Bereich Schulassistenz/Schulbegleitung spielen solche Beweggründe eine Rolle. So stellt die Mutter eines 8-jährigen Mädchens mit Schulassistenz vor allem die Möglichkeit heraus, „jemanden aussuchen [zu können], der zu dem Kind passt“. In der dritten Gruppe steht hingegen das Motiv im Vordergrund, bereits bekannte Fachkräfte für die Unterstützung rekrutieren zu können. Erst durch die personelle Flexibilität im Rahmen des Persönlichen Budgets wird dies überhaupt ermöglicht und ähnlich wie in den anderen Gruppen nehmen diese Budgetnehmer/innen keine oder nur ungern Hilfe von „fremden“ Personen an, beispielsweise aufgrund von Peinlichkeitsaspekten oder weil die Budgetnehmer/innen nur von bestimmten Personen Unterstützung bekommen möchten. Ein 38-jähriger Budgetnehmer, der mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus einer stationären Hilfeform ausgezogen ist, äußerte beispielsweise den Wunsch, dass seine gesetzliche Betreuerin die Unterstützung im eigenen Wohnraum übernehmen solle, was letztendlich nur mit Hilfe des Persönlichen
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Budgets möglich war. Ein 65-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung wurde bislang von einem ambulanten Dienst im Haushalt unterstützt, verweigerte die Unterstützung jedoch zunehmend, so dass der Dienstleister eine weitere Betreuung des Budgetnehmers schließlich ablehnte. Der gesetzliche Betreuer beantragte daraufhin ein Persönliches Budget, um damit eine dem Budgetnehmer bekannte Person mit der Unterstützung zu beauftragen, die als selbstständige Haushaltshilfe tätig ist und entsprechende Qualifikationen mitbringt. Nach Angaben des gesetzlichen Betreuers konnte so auf eine Betreuungsperson zurückgegriffen werden, die der Budgetnehmer auch an sich „ran lässt“. Ähnlich stellt sich dies auch bei einem 34-jährigen Budgetnehmer dar, der auf eine ihm bekannte Haushaltshilfe zurückgreift, weil er „nur schwer Vertrauen finden kann zu fremden Personen“. Die vierte Gruppe besteht hingegen aus Budgetnehmer/innen, denen es sozusagen um die „Sache selbst“ geht. Personelle Dispositionsspielräume gehen in diesem Fall auf einen Wunsch nach Qualitätsverbesserung der Unterstützung zurück oder spiegeln ein generelles Bestreben nach mehr Einflussnahme auf die eigene Lebens- und Unterstützungssituation wider. Entsprechend bestehen hier vielfältige Überschneidungen zu dem Motivkomplexen „Selbstbestimmung“ und „Unabhängigkeit“ (vgl. Kapitel 7.1.1.2 sowie 7.1.1.3). Die selbstständige Auswahl von Unterstützungspersonen bzw. das eigenverantwortliche „Einstellen“ von Assistent/innen wird hierbei als Ausdruck eines zunehmenden Selbstbewusstseins und einer veränderten Rolle behinderter Menschen in der Gesellschaft sowie als „Praxis“ der Selbstbestimmung empfunden. Diese Motivlage schlägt sich vor allem in dem sogenannten Arbeitgebermodell nieder. In der Budgetnehmerbefragung lassen sich hierzu einige Beispiele finden, in denen „freie Stellen“ in verschiedenen Medien ausgeschrieben (z.B. im Internet oder in der Zeitung) und regelrechte „Vorstellungsgespräche“ (Budgetnehmer, 48 Jahre) durchgeführt wurden. Als fünfte Gruppe sind Budgetnehmer/innen zu erwähnen, die die jeweiligen Unterstützungspersonen bzw. Dienste deswegen selbst auswählen wollen, weil sie dadurch auch gleichzeitig über Art und Inhalt der Leistungserbringung entscheiden können. Im Grunde hängt der Wunsch nach mehr Spielraum in der Auswahl der Unterstützungspersonen bzw. Dienste also auch damit zusammen, dass die Budgetnehmer/innen gleichzeitig eine größere Auswahl an Angeboten wahrnehmen können, weil beispielsweise einzelne Anbieter auch nur bestimmte Angebote vorhalten. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets soll es beispielsweise ermöglicht werden, in einzelnen Lebensbereichen eine den subjektiven Vorlieben und Bedürfnissen entsprechende Unterstützung zu realisieren. Um solchermaßen alternative Leistungen nutzen zu können, ist es jedoch notwendig, die entsprechenden Leistungserbringer selbst aussuchen zu können, weil beispielsweise bisher
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genutzte Anbieter die gewünschte Leistung nicht erbringen oder die zur Verfügung stehenden Angebote regionaler Leistungsanbieter den Bedarf nicht decken können. Vor allem im letzten Bereich können weitere Unterscheidungen getroffen werden, insbesondere hinsichtlich der jeweiligen Lebensbereiche, in denen diese Flexibilität angestrebt wird. Zu unterscheiden sind hierbei vor allem die Bereiche Freizeit und Arbeit:
Die gewünschten personellen Dispositionsspielräume im Bereich Freizeit zielen darauf ab, bestimmte Interessen und Vorlieben der Freizeitgestaltung besser realisieren zu können, was aber aufgrund der Unflexibilität mancher Leistungserbringer nur über die Auswahl alternativer Unterstützungspersonen möglich wird. Eine 45-jährige Budgetnehmerin mit körperlicher Behinderung möchte beispielsweise mit dem Persönlichen Budget erreichen, dass sie insbesondere an den Abendstunden eine Begleitung für die Freizeit hat („abends mal ausgehen können“). Da der bisherige ambulante Anbieter jedoch feste Zeiten vorgibt, entschied sie sich für eine Budgetlösung, um entsprechende Unterstützungspersonen für die Abendstunden selbst aussuchen zu können und damit die Einschränkungen des Dienstleisters nicht akzeptieren zu müssen. Die Lösung sieht nun so aus: Die Pflege am Vormittag verbleibt bei dem Pflegedienst und wird weiterhin im Rahmen einer Sachleistung erbracht. Die Pflege am Abend sowie die Begleitung in der Freizeit werden hingegen über das Persönliche Budget organisiert. Ein weiteres Beispiel stellt ein bereits oben erwähnter 38-jähriger Budgetnehmer dar, der in einer stationären Einrichtung lebt und ein kleines Budget für Freizeitaktivitäten erhält. Dabei intendiert er neben der zeitlichen Flexibilität insbesondere auch eine Unabhängigkeit von den dort angebotenen Freizeitaktivitäten. Indem er Personen zur Unterstützung in der Freizeit selbst aussuchen kann, wird es gleichzeitig auch möglich, die Art der Freizeitaktivitäten selbst zu bestimmen. Um solche „Synergieeffekte“ geht es auch bei einigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Über die spezifischen Eigenschaften einer Unterstützungsperson können dann bestimmte Freizeitaktivitäten besser realisiert werden, etwa indem die jugendlichen Budgetnehmer/innen wiederum von Gleichaltrigen in ihrer Freizeit begleitet werden. Ein 25-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung betont diesen Aspekt einer lebensphasenspezifischen Freizeitbetreuung beispielsweise wie folgt: „Muss nicht immer mit meinen Eltern was unternehmen. Kann mit Gleichaltrigen in Discos, Kino usw. Das trägt dazu bei, mein Selbstbewusstsein zu stärken. (…) Frei-
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zeit ist vielfältiger geworden, ich kann mit Personen meine Zeit verbringen, die ich gerne um mich habe.“
Die Möglichkeit, selbst entscheiden zu können, „wer“ die benötigte Unterstützung wahrnimmt, spielt auch bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine Rolle. Allerdings geht es hierbei weniger um eine Auswahl spezifischer Personen, sondern eher um die Auswahl der Dienstleister, die Leistungen zur Teilhabe im Arbeitsleben erbringen. Beispielsweise wurden einzelne Budgetnehmer/innen dokumentiert, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu umgehen versuchen. Dies kann sich einerseits auf den Berufsbildungsbereich beziehen (z.B. eine Ausbildung außerhalb der Werkstatt für behinderte Menschen), andererseits aber auch auf den Arbeitsbereich (z.B. eine alternative Tätigkeit außerhalb der Werkstatt für behinderte Menschen). In beiden Fällen wird versucht, die Leistung von der Institution „Werkstatt“ zu entkoppeln und alternative Anbieter mit der Unterstützung zu beauftragen. Junge Erwachsene mit Behinderung, die oftmals nach Beendigung der Schule in den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen wechseln würden, nutzen beispielsweise das Persönliche Budget, um damit ein Praktikum oder eine berufsbildende Maßnahme außerhalb der Werkstatt zu finanzieren. Unterstützt werden sie dabei durch einen Dienst, der ambulante Arbeitsassistenz anbietet. Menschen mit Behinderung, die bereits im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig sind, beantragen ebenfalls ein Persönliches Budget, um damit eine Tätigkeit außerhalb der Werkstatt ausüben zu können. Auch in diesen Fällen müssen sie durch ambulante Anbieter unterstützt werden.
„Neue Dinge ausprobieren können“ – Inhaltliche Flexibilität und Auswahl geeigneter Leistungen Ein dritter Grund, warum Menschen mit Behinderung aus Gründen der Flexibilität ein Persönliches Budget beantragen, sind sachliche bzw. inhaltliche Dispositionsspielräume. Hierbei geht es insbesondere um Spielräume bei der Auswahl von Art und Inhalt der Leistungen. Anstatt bzw. ergänzend zu den bereits dargestellten zeitlichen und personellen Dispositionsspielräumen intendieren diese Budgetnehmer/innen mehr Freiheiten hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung von Unterstützungsleistungen bzw. -angeboten, also zu „bestimmen, welche Unterstützung erbracht wird“ (Budgetnehmerin, 51 Jahre), „Vergrößerung der Spielräume“ in der Auswahl der Hilfen (Budgetnehmer, 45 Jahre) oder auch „neue Dinge ausprobieren können“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre). Wie bereits oben dargestellt, bestehen der Sache nach deutliche Überschneidungen zu dem Wunsch nach personeller Flexibilität, weil eine inhaltliche Flexibilität oftmals
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mit der Auswahl der zu unterstützenden Personen einhergeht. Eine Gruppe an Budgetnehmer/innen kombiniert daher soziale mit sachlichen Dispositionsspielräumen. Charakteristisch für eine andere Gruppe ist hingegen, dass die inhaltliche Flexibilität oftmals nur aufgrund von „Teilbudgets“ oder „Budgetresten“ möglich wird. Die inhaltliche Flexibilität bezieht sich in diesen Fällen also eher auf eine Flexibilität in der Verwendung der bewilligten Geldmittel.
Was die erste Gruppe betrifft, so kann wiederum unterschieden werden, in welchen Lebensbereichen diese inhaltliche Flexibilität angestrebt wird. Dabei spielt allerdings der Bereich Freizeit die Hauptrolle, wie die folgenden Beispiele zeigen: Durch das Persönliche Budget ermöglicht sich ein 56jähriger Budgetnehmer Freizeitaktivitäten, die seinen Wünschen entsprechen und die er mit Hilfe von selbstbeschafften Begleitpersonen realisiert (z.B. ein Fußballspiel im Stadion besuchen; ins Kino gehen, Kneipenbesuche). Inhaltlich ist sein Persönliches Budget dabei vom Kostenträger nicht festgelegt worden. Seinen Begleitpersonen bezahlt er beispielsweise den Eintritt und/oder Getränke. Mit der Beantragung des Persönlichen Budgets versucht der Mann nach eigenen Angaben vor allem „mehr raus zu kommen“. Einem 63-jährigen Budgetnehmer mit vielfältigen Interessen geht es in ähnlicher Art und Weise darum, bestimmte favorisierte Freizeitaktivitäten mit Hilfe des Persönlichen Budgets umsetzen zu können, etwa „Skat Spielen“ oder „Schwimmen Gehen“. Das besondere an dem Unterstützungsarrangement ist es ferner, dass er ausschließlich „Nachbarn“ für diese Freizeitbegleitung nutzt. In beiden Fällen ist das Persönliche Budget ausschließlich für den Bereich Freizeit gedacht, und es steht den Budgetnehmer/innen völlig frei, wer diese Unterstützung übernimmt, wann sie erfolgt und zu welchem Zweck. Anders als bei den oben dargestellten Budgetnehmer/innen, deren Persönliches Budget vollständig für die Gestaltung der Freizeit verwendet werden darf und entsprechend zeitliche, personelle und inhaltliche Flexibilitätszugewinne miteinander kombiniert werden können, lässt sich jedoch eine zweite Gruppe von Personen identifizieren, bei denen sich die inhaltliche Flexibilität nur auf Teilbeträge oder Budgetreste beschränkt, die dann aber mehr oder weniger „frei“ zur Verfügung stehen und für vielfältige Aktivitäten und Sachmittel verwendet werden dürfen. Mit Hilfe dieser sachlichen Dispositionsspielräume nutzen die Budgetnehmer/innen bestimmte Maßnahmen, Angebote, Kurse oder Sachmittel und allgemeine Dienstleistungen, die im Rahmen der Sachleistung nicht in Anspruch genommen werden können. Dafür werden Teile des Budgets bzw. Budgetreste verwendet, während der andere Teil (meist sogar der Großteil) des Budgets für eine professionelle Unterstützung gedacht ist (z.B. ambulante psycho-soziale Betreuung).
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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Entsprechend dieser „alternativen“ bzw. „passgenauen“ Hilfen bestehen neben den zeitlichen und personellen Flexibilitätsgewinnen vielfältige Überschneidungen zu der Kategorie „Individuelle Lösungen“ (vgl. Kapitel 7.1.1.6). Die jeweils bewilligten Geldmittel können nach eigener Verantwortung für zweckentsprechende Leistungen eingesetzt werden. Dabei steht es den Budgetnehmer/innen oftmals frei, welche Art von Leistungen sie sich einkaufen. Das Persönliche Budget erfüllt daher insbesondere die Funktion, subjektiv als besonders hilfreich erachtete Angebote selbst aussuchen zu können, anstatt diejenigen Maßnahmen und Angebote nutzen zu müssen, die von Seiten der Leistungsträger im Rahmen der Sachleistung gestellt werden. Die entsprechenden Motive werden nachfolgend ausführlicher dargestellt: In der Befragung lassen sich einige Budgetnehmer/innen finden, die flexible Teile ihres Persönlichen Budgets für bestimmte Sachmittel und allgemeine Dienstleistungen einsetzen, von denen sie sich subjektiv eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen oder die ihren persönlichen Interessen und Neigungen entsprechen. Das Besondere daran ist, dass es sich nicht um Angebote von Einrichtungen der Behindertenhilfe oder um professionelle soziale Dienste handelt, sondern oftmals um alltägliche Dienstleistungen, sportliche Aktivitäten oder verschiedene (Bildungs-) Angebote. Das Spektrum reicht von kulturell-musischen Aktivitäten über vhs-Kurse, Mitgliedsbeiträge in Fitness-Studios, Teilnahmegebühren für Sportveranstaltungen oder Seminare bis hin zu einem Gasthörer- und Fernstudium. Bei diesen Personen handelt es sich vorwiegend um Menschen mit psychischen Erkrankungen, die mit dem Persönlichen Budget oftmals eine (professionelle) ambulante Betreuung mit selbstgewählten Freizeit- und Bildungsangeboten zu verbinden versuchen. Ein anschauliches Beispiel ist ein 44-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung, der mit einem Teil des Persönlichen Budgets (der andere Teil ist für eine ambulante psychosoziale Betreuung gedacht) verschiedene Bildungsangebote finanziert. Des Weiteren bezahlt dieser Budgetnehmer den Mitgliedsbeitrag für einen Sportverein sowie die Gebühren für seinen asiatischen Kampfsport aus dem Persönlichen Budget. Zielsetzung des Persönlichen Budgets ist Tagesstrukturierung, die Kompensation des sozialen Rückzugs sowie die Befriedigung intellektueller Interessen. Ein weiteres Beispiele ist eine 31-jährige Budgetnehmerin, die ebenfalls einen Teil ihres Persönlichen Budgets für ausschließlich interessengeleitete Zwecke einsetzt (Seminare, Veranstaltungen zu alternativen Heilmethoden usw.). Als drittes Beispiel kann noch ein 23-jähriger Budgetnehmer genannt werden, der ein Persönliches Budget für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhält. Das Budget wird zwar größtenteils dafür genutzt, Begleitung in der Freizeit zu organisieren (Schwimmen, Ausflüge, Kurse, Disko, Kino), ein Teil wird jedoch für Unterstützung im Umgang mit dem Computer bzw. Internet verwendet.
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Die dargestellten Beispiele zeigen abschließend, welches kreative Potenzial in diesen sachlichen Dispositionsspielräumen wurzelt und wie Menschen mit Behinderung individuell passende Unterstützungsarrangements konstruieren, die den jeweiligen Bedürfnissen und Neigungen einerseits, aber auch der Kompensation und Bewältigung von Behinderungserfahrungen andererseits dienlich sind. 7.1.1.6
Individuelle Lösungen
Eine gewichtige Rolle spielen Beantragungsmotive, in denen es darum geht, mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine individuell zugeschnittene Unterstützung zu ermöglichen bzw. passgenaue Hilfen zusammenzustellen. Die Passgenauigkeit bezieht sich dabei auf die jeweilige Lebenssituation, aus der heraus sich die Budgetbeantragung erklären lässt. In Abgrenzung zu dem oben beschriebenen Motiv einer Flexibilisierung der Unterstützung stehen allerdings nicht die zeitlichen, personellen oder inhaltlichen Gestaltungsspielräume im Umgang mit Unterstützungsleistungen im Vordergrund, sondern die Suche nach finalen individuellen Lösungen und die (Ein-) Passung der bewilligten Leistung in die jeweilige Lebenssituation. Dennoch gibt es der Sache nach deutliche Überschneidungen zum Motivkomplex „Flexibilität“, insbesondere zu dem Wunsch nach „sachlicher Flexibilität“. Während es jedoch bei den Motiven zur zeitlichen, personellen und sachlichen Flexibilisierung der Unterstützung schwerpunktmäßig um das „Wählen können“ geht, d.h. eine bleibende Flexibilität auch weiterhin gewünscht ist, zielen die Motive im Bereich „individuelle Lösungen“ im Kern darauf ab, jeweils individuell geeignete Hilfen und Hilfeformen zu kreieren und dauerhaft zu etablieren. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Personengruppe, die vor allem deswegen ein Persönliches Budget beantragt, weil erst dadurch ein (dauerhaftes) Unterstützungsarrangement nach individuellen Vorlieben und Bedürfnissen realisierbar wird. Da es in diesem Motivkomplex insbesondere auch um eine „Einpassung“ der Unterstützung in die individuelle Lebenssituation der Budgetnehmer/innen geht, können vier verschiedene Gruppen unterschieden werden: Eine Gruppe an Budgetnehmer/innen zielt darauf ab, eine optimale „Passung“ zwischen den bewilligten Leistungen und der jeweiligen Lebenssituation bzw. den individuellen Bedarfslagen herzustellen. Hierbei geht es insbesondere darum, „individuell zugeschnittene Hilfen“ zu kreieren, die mit den subjektiven Bedürfnissen und Lebenslagen in Einklang stehen und über eine Sachleistung nicht oder nur schwer zu realisieren gewesen wären. Bestandteil solcher Motive ist u.a. der Wunsch nach einer Kombination verschiedener Leistungen und Angebote. Diese werden oftmals nach eigenen Bedürfnissen und individuellen Vorstellungen zusammengestellt bzw. neu kreiert. Andere Budgetnehmer/innen intendieren
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hingegen mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets eine Veränderung der bisherigen Unterstützungssituation, indem die Leistungen beispielsweise stärker an der individuellen Situation und den persönlichen Bedürfnissen ausgerichtet werden. Eine wichtige Rolle kommt hierbei insbesondere lebensphasentypischen Bedürfnissen zu, etwa „jugendtypischer“ Interessen. Eine dritte Gruppe besteht aus Personen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets persönliche Interessen und Bedürfnisse verfolgen möchten, etwa musisch-kultureller oder intellektueller Art. Auch in diesem Fall handelt es sich um Budgetnehmer/innen, die individuell zugeschnittene Dienstleistungen „einkaufen“ möchten, die im Rahmen der Sachleistung nicht unmittelbar zur Verfügung stehen würden. Für die vierte Gruppe wird es mit Hilfe des Persönlichen Budgets überhaupt erst möglich, eine bestimmte Form der Unterstützung oder benötigte Sachmittel einzukaufen, weil so die Beschränkungen des Sachleistungsprinzips umgangen werden können. Das Persönliche Budget wird also dazu genutzt, alternative und oftmals ungewöhnliche Wege der Unterstützung einzuschlagen. „Hilfen individueller zusammenstellen“ – Individuelle und passgenaue Unterstützungsarrangements Das Motiv zur Realisierung individueller bzw. passgenauer Unterstützungsarrangements manifestiert sich in vielfältigen Lebenssituationen und Lebenslagen. Gemeinsam ist jedoch allen diesen Budgetnehmer/innen, dass die Gestaltung und Realisierung von passgenauer Unterstützung letztendlich nur mit Hilfe eines Persönlichen Budgets ermöglicht wird. Dabei können wiederum verschiedene Gruppen unterschieden werden: Eine erste Gruppe sind Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets keine bestehenden Leitungen oder Angebote einkaufen, sondern selbst individuelle und den subjektiven Interessen und Bedürfnissen entsprechende Unterstützungsarrangements kreieren. Sinnbildlich formulieren die befragten Budgetnehmer/innen dies beispielsweise so, dass sie mit Hilfe des Persönlichen Budgets „Hilfen individueller (…) zusammenstellen [können]“ (Budgetnehmerin, 24 Jahre), dass „Hilfe umfassender gestaltet werden [kann]“ (Mutter einer 9jährigen Budgetnehmerin) oder dass „Gestaltungsmöglichkeiten“ optimal „ausgeschöpft“ werden können (Budgetnehmerin, 43 Jahre). Auch die folgende Aussage einer 29-jährigen Budgetnehmerin verdeutlicht diese Form individualisierter Unterstützung: „Ich musste mir auf Grund meiner speziellen Einschränkung und der daraus resultierenden individuellen Notwendigkeit ein eigenes Konzept ausdenken, da es kein mir entsprechendes Angebot auf dem ’sozialen Markt’ gab. Um möglichst selbstständig leben zu können, brauchte ich eine auf mich zugeschnittene Lösung. Das Persönliche Budget hat es möglich gemacht.“
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Auffallend an solchen „individuellen“ Unterstützungsarrangements ist weiterhin, dass nicht selten eine Vielzahl an verschiedenen Unterstützungspersonen bzw. Diensten in das Arrangement miteinbezogen werden, wobei einzelne Personen oftmals spezifische Aufgaben oder Funktionen übernehmen. Dazu seien zwei Beispiele skizziert:
Ein plastisches Beispiel ist ein bereits in Kapitel 7.1.1.1 erwähnter 39jähriger Budgetnehmer, der aufgrund eines Schlaganfalls als geistig behindert bezeichnet wird und für den sich seine gesetzliche Betreuerin ein „eigenes“ Konzept ausdenken musste. Ausgangspunkt dieser Suche nach einer individuellen Lösung war dabei die anstehende Entlassung aus einer Klinik, gekoppelt mit dem Problem, dass zunächst kein geeigneter Heimplatz gefunden werden konnte. Aber auch der Budgetnehmer sprach sich vehement gegen eine stationäre Unterbringung aus. Aus diesem Grunde musste die Betreuerin einen Weg finden, die Versorgung und gezielte Förderung, die der Mann im eigenen Wohnraum benötigt, selbst zu organisieren. Schließlich baute sie zusammen mit dem Budgetnehmer ein komplexes Unterstützungsnetzwerk auf. Neben der hauswirtschaftlichen und pflegerischen Versorgung sollen unterschiedliche Fachkräfte den Budgetnehmer ebenso musiktherapeutisch und pädagogisch unterstützen. Genauso spielen aber auch physiotherapeutische und sportliche Aspekte eine Rolle. Ein Computerfachmann bringt dem Budgetnehmer ferner Grundkenntnisse im Umgang mit Computer und Internet bei. Organisiert werden alle diese Tätigkeiten im Rahmen eines Arbeitgebermodells. Bei der Budgetbeantragung standen die Bedürfnisse und Wünsche des Budgetnehmers im Vordergrund, und auch die Dienstpläne werden in Absprache mit seiner gesetzlichen Betreuerin von ihm selbst geplant. Besonderes Gewicht kommt dabei vor allem der gezielten Förderung bestimmter Fähigkeiten zu, was über entsprechend kompetentes und vielfältig qualifiziertes Personal auch zu gelingen scheint. Auch im Falle eines 27-jährigen Budgetnehmers mit einer komplexen Mehrfachbehinderung wurde ein ähnliches Unterstützungssetting zur gezielten Förderung aufgebaut. Die Mutter hat hierbei entsprechende Arrangements mit professionellen und semi-professionellen Kräften getroffen, die abwechselnd zur Förderung verschiedener Funktionen und Kompetenzen des jungen Mannes eingesetzt werden (die Mutter nennt dies im Interview „mobile Förderung“). Anstatt einer pauschalen Leistungserbringung konnte so eine gezielte Einzelförderung, die den individuellen Bedürfnissen und Neigungen des jungen Mannes entspricht, aufgebaut werden.
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„Mit anderen Jugendlichen was unternehmen“ – Lebensphasenorientierte Unterstützungsformen Eine weitere Gruppe sind Budgetnehmer/innen, bei denen es eher darum geht, eine lebensphasenspezifische Unterstützung zu organisieren. Die Idee passender Hilfen kann dabei verstanden werden, als „lebensphasenorientierte“ Unterstützung, d.h. Hilfen, die in einer bestimmten Lebensphase eine spezifische Funktion erfüllen. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um Kinder und Jugendliche. Zu denken ist etwa an Schulbegleitung bzw. Schulassistenz, bei der es vor allem um das Ermöglichen eines Grundschulbesuchs geht. Aufgrund spezifischer Anforderungen und Bedürfnisse des Kindes werden hierbei jeweils „passende“ Schulbegleiter/innen von den Eltern ausgesucht und über das Persönliche Budget finanziert. Zu denken ist aber auch an eine „jugendtypische“ Freizeitbetreuung. Besonders deutlich wird die Bedeutung einer solchen individualisierten Unterstützung beispielsweise bei jugendlichen Budgetnehmer/innen, bei denen es etwa um die Teilnahme an jugendkulturellen Veranstaltungen oder um einen stärkeren Kontakt zu anderen (vor allem nichtbehinderten) Jugendlichen geht. Insofern steht die Befriedigung lebensphasentypischer Bedürfnisse im Vordergrund und neben teilhaberelevanten Aspekten soll insbesondere eine jugendspezifische Freizeitnutzung ermöglicht werden. Eine solche Form der Unterstützung zielt letztendlich auch darauf ab, die sogenannte „Peer-Group“ als Sozialisationsinstanz und Lernfeld zu nutzen und damit die Bewältigung lebensphasenspezifischer Entwicklungsaufgaben erleichtern zu können, etwa die Ablösung von den Eltern und der Aufbau stabiler (Freundschafts-) Beziehungen zu Gleichaltrigen.104 Zwei Beispiele seien hier angeführt:
Die Eltern eines 21-jährigen Budgetnehmers mit einer sogenannten geistigen Behinderung wünschten sich bereits seit längerem eine Entlastung und vor allem, dass ihr Sohn in seiner Freizeit auch mal etwas ohne sie als Eltern unternimmt. Fernziel der Eltern war es schließlich, dass ihr Sohn „Freunde besuchen, mit anderen Jugendlichen was unternehmen und Hobbys nachgehen“ kann. Indirekt streben die Eltern aber vor allem eine schrittweise Ablösung und Unabhängigkeit ihres Sohnes an. Von anderen Eltern erfuhren sie schließlich von der Möglichkeit eines Persönlichen Budgets und finanzieren mit diesem Budget nun einen Studenten, der ihren
104 Auf eine nähere Betrachtung des Konzepts der Entwicklungsaufgaben sei an dieser Stelle verzichtet. Hingewiesen werden muss jedoch darauf, dass insbesondere die Gleichaltrigengruppe (Peer-Group) eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter darstellt, beispielsweise hinsichtlich der Ablösung von den Eltern, dem Aufbau von Identität sowie als „Übungsfeld“ für das Erwachsenenleben. Zusammenfassende Darstellungen finden sich beispielsweise bei Hurrelmann (2004, 26ff. sowie 118ff.).
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Sohn jeden Freitagnachmittag aus der Werkstatt für behinderte Menschen abholt und mit ihm ca. 5 Stunden lang etwas unternimmt (z.B. Schwimmen gehen, Cafebesuche, usw.). Den Eltern ist vor allem wichtig, dass der Student in etwa im gleichen Alter ist und auch eigene Ideen mit einbringt. Im Falle eines 17-jährigen Budgetnehmers, ebenfalls mit einer sogenannten geistigen Behinderung, ging der Wunsch nach mehr Kontakten zu Gleichaltrigen in der Freizeit von dem Jugendlichen selbst aus. Der Wunsch des Sohnes sowie das Bedürfnis der Mutter nach mehr Entlastung führten schließlich zur Beantragung eines Persönlichen Budgets. Finanziert werden damit zwei Student/innen und eine Bekannte der Familie. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets gestalten diese Personen nun an jedem zweiten Wochenende stundenweise mit dem Jugendlichen die Freizeit (Kino, Spaziergänge, Veranstaltungen in der Region besuchen). Nach Ansicht der Mutter haben sich dadurch nicht nur das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen ihres Sohnes verbessert, sondern auch eine vorsichtige Ablösung von der Mutter ergeben.
Neben Kindern und Jugendlichen lassen sich aber auch ältere Menschen finden, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets in „alterstypischen“ Lebenszusammenhängen unterstützt bzw. betreut werden möchten. Ein 65-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung besuchte beispielsweise eine Tagesstätte, mit der er zunehmend unzufrieden wurde, weil er dort der „Älteste“ war und fast nur mit jungen Menschen zusammenarbeiten musste. Nachdem er schließlich gegenüber dem sozialpsychiatrischen Dienst den Wunsch geäußert hatte, eine andere Tagesstätte zu finden, entstand die Idee des Persönlichen Budgets. Mit Hilfe dieses Budgets besucht er nun an drei Tagen in der Woche eine andere Tagesstätte, die auch von älteren Menschen genutzt wird. Des Weiteren gibt es dort spezielle Angebote, die eher den Interessen und Bedürfnissen seiner Altersgruppe entsprechen, etwa Gymnastik, Gedächtnistraining, das Diskutieren von Zeitungsberichten usw. „Ich kann jetzt mehr malen“ – Befriedigung musisch-kultureller und intellektueller Interessen Eine besondere Gruppe sind Budgetnehmer/innen, denen es bei der Budgetbeantragung vordergründig um spezifische Interessen ging, vor allem intellektueller oder kulturell-musischer Art. Zwar ist das Budget meist für eine ambulante Unterstützung gedacht, ein Teil des Budgets darf aber für Aktivitäten, Kurse, Bildungsmaßnahmen usw. ausgegeben werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Budgetnehmer/innen auf einen Teil der ambulanten Unterstützung verzichten, um die gewünschten Aktivitäten realisieren zu können, was letztendlich den
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subjektiven Vorteil der Budgetlösung erklärt und den Ausschlag für die Beantragung des Persönlichen Budgets gab. Aus diesem Grunde sind diese Personen ebenfalls dem Motivkomplex „Individuelle Lösungen“ zugeordnet und werden aufgrund dieser impliziten Zielsetzung auf kulturell-musische bzw. bildungsbezogene Aktivitäten gesondert aufgeführt. Von einem Großteil dieser Budgetnehmer/innen wird das Persönliche Budget (d.h. ein Teil des Persönlichen Budgets) genutzt, um bestimmte kulturelle Aktivitäten realisieren zu können, etwa Ausstellungsbesuche im Museum (Budgetnehmer, 23 Jahre) oder Theater- und Konzertbesuche (Budgetnehmer, 64 Jahre). Aber nicht nur der Besuch von Kursen oder kulturellen Veranstaltungen soll mit Hilfe eines Persönlichen Budgets ermöglicht werden, sondern auch, sich selbst künstlerisch zu betätigen und auszudrücken. Ein interessantes Beispiel ist ein 33-jähriger Künstler, der aus dem Persönlichen Budget Geldbeträge verwenden darf, um seinen künstlerischen Neigungen nachgehen zu können. Das Persönliche Budget ist zwar für eine psychosoziale Betreuung gedacht, der Budgetnehmer darf aber bei Nichtinanspruchnahme dieser Unterstützung aus den verbleibenden Beträgen Malutensilien kaufen. Dies ermöglicht ihm, in stärkerem Maße seiner künstlerischen Tätigkeit nachzugehen („Ich kann jetzt mehr malen“). Andere Budgetnehmer/innen verfolgen mit dem Budget eher intellektuelle Interessen, etwa ein „Studium als Gasthörer“ (Budgetnehmer, 44 Jahre).105 Diese Form der „Unterstützung“ mag für manche Budgetnehmer/innen durchaus eine adäquate und vor allem „passende“ Hilfe darstellen, zumindest geht damit eine Art Tagesstrukturierung einher. Wieder andere Budgetnehmer/innen verfolgen durchaus pragmatische Ziele, die u.a. auch zur Kompensation behinderungsbedingter Nachteile beitragen, etwa ein Computer-Kurs als „Weiterbildungsmaßnahme“, um damit bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben (Budgetnehmer, 47 Jahre). Insgesamt handelt es sich bei diesen Budgetkonstellationen in den meisten Fällen um eine Kombination zwischen einer mehr oder weniger festgelegten Stundenzahl für eine ambulante Betreuung durch professionelle Dienstleister und disponiblen Geldbeträgen, die die Budgetnehmer/innen für musisch-kulturelle 105 In der Befragung gibt dieser Budgetnehmer an, dass er das Persönliche Budget ursprünglich für ein Zweitstudium "Deutsch“ ausgeben wollte. Da das Studium aber sozialrechtlich nicht gefördert werden konnte, nutzt er das Budget für ein Gasthörerstudium. Des Weiteren finanziert dieser Budgetnehmer einen Chi-Gong-Kurs, einen Tai-Chi-Kurs sowie einen Englisch Kurs. Mit dem Einsatz des Persönlichen Budgets werden damit tagesstrukturierende Ziele und die Befriedigung intellektueller Interessen verfolgt. Die Kosten für das Gasthörer-Studium sowie die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel werden mit einem Teil des Persönlichen Budgets abgedeckt; der restliche Teil ist für eine ambulante Wohnbetreuung gedacht, von der der Budgetnehmer allerdings nur einen Teil in Anspruch nimmt, um die Restbeträge für die dargestellten Aktivitäten nutzen zu können.
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oder bildungsrelevante Aspekte ausgeben dürfen, weil diese Art der Unterstützung ihrem subjektiven „Hilfebedarf“ (d.h. in diesem Fall die Befriedigung persönlicher Interessen) genauso entspricht wie eine psychosoziale Unterstützung durch professionelle Dienstleister. Das Besondere daran ist, dass die Budgetnehmer/innen auf einen Teil der ambulanten Unterstützung verzichten, um mit diesen „Restbeträgen“ andere Leistungen einkaufen zu können. Wird beispielsweise eine ambulante Betreuung in Höhe von vier Stunden wöchentlich bewilligt, kann mit dem Leistungsträger vereinbart werden, dass nur drei Stunden genutzt und die Restbeträge für andere Dienstleistungen verwendet werden. Eine Einbettung in die konkrete Lebenssituation wird insofern deutlich, dass die über das Budget finanzierten Kurse, Seminare, Schulungsmaßnahmen usw. nicht nur reiner „Zeitvertreib“ sind, sondern durchaus einen wichtigen Zweck zur Verbesserung der behinderungs- bzw. erkrankungsbedingten Lebenssituation erfüllen. Diese Form der Budgetnutzung kann einerseits zur Verbesserung von Teilhabe und sozialen Kontakten beitragen, etwa weil die Teilnahme an bestimmten Kursen auch mit Kontaktmöglichkeiten einhergeht, andererseits dienen bestimmte Aktivitäten oftmals auch dem Umgang mit den Folgen einer Behinderung bzw. Erkrankung. In einzelnen Fällen werden daher auch künstlerisch-musische Ausdrucksformen als therapeutische Elemente mit Hilfe des Persönlichen Budgets in das Unterstützungssetting einbezogen, etwa eine 29-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung, die mit dem Persönlichen Budget ergänzend zu einer ambulanten Betreuung musikpädagogische Angebote finanziert (Klavierunterricht, Gitarrenunterricht). Auf die Frage nach den Gründen der Budgetbeantragung antwortete sie beispielsweise: „Dass ich weiterhin Musikunterricht bekommen kann und mir das sonst nicht leisten könnte“. Weiterhin sei ein 25jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung erwähnt, der mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine „sinnvolle Freizeitbeschäftigung“ realisieren möchte. Mit dem Persönlichen Budget finanziert er sich ebenfalls einen Gitarrenkurs. Ein anderes Beispiel, ein 26-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung, kauft sich mit seinem Persönlichen Budget eine Kunsttherapeutin ein, mit der er stundenweise kunsttherapeutisch arbeitet. Bestandteil des Budgets sind ferner die Kosten für Farben und die Anmietung eines Raumes. So kann der Budgetnehmer auch außerhalb der kunsttherapeutischen Sitzungen künstlerisch tätig bleiben. „Mehr Möglichkeiten alternative Wege zu gehen“ – Alternativen zur professionellen Unterstützung Neben dem Wunsch, mit Hilfe des Persönlichen Budgets intellektuelle oder kulturell-musische Bedürfnisse zu befriedigen, gibt es noch eine Gruppe an Budgetnehmer/innen, die den Wunsch nach „individuellen Hilfen“ dahingehend
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formulieren, dass sie das Persönliche Budget ausschließlich oder in Kombination mit professionellen Anbietern für informelle Formen der Unterstützung einsetzen wollen. Einige Beispiele wurden bereits in Kapitel 7.1.1.5 erwähnt, insofern bestehen Überschneidungen zu den genannten „sachlichen Dispositionsspielräumen“. Aufgrund der Prägnanz dieser Motive sollen zwei markante Beispiele allerdings kurz dargestellt werden: Beispielsweise nutzt eine 31-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung etwa ein Drittel ihres Budgets (zweckgebunden), um damit die Teilnahme an verschiedenen Seminaren, Kursen oder Veranstaltungen zu finanzieren, bei denen es um Ursachen von und den Umgang mit psychischen Erkrankungen oder um alternative Heilmethoden (Reiki) geht.106 Insgesamt stehen ihr dafür 140€ zur Verfügung, wobei sie wiederum für 50€ keine Verwendungsnachweise einreichen muss. Neben den genannten Teilnahmegebühren finanziert sie mit dem Geld auch Fahrtkosten für Fahrten zu ihren Eltern. Nach Ansicht der Budgetnehmerin ist es ein wesentlicher Vorteil des Persönlichen Budgets, dass man „mehr Möglichkeiten“ hat, „alternative Wege zu gehen“, was sie als „Erweiterung der Sozialhilfe“ bezeichnet. Äußerst bemerkenswert ist ein weiteres Beispiel einer 34-jährigen Budgetnehmerin, die sich aus ihrem Persönlichen Budget etwas Geld ansparen möchte, um sich davon ein tragbares Navigationsgerät kaufen zu können. Ihrer Ansicht nach brauche sie im Grunde keine professionelle Betreuung sondern „nur“ eine (technische) Orientierungshilfe, damit sie sich wieder „raus traut“ (sie berichtet von plötzlichen Panikattacken, von „Black-outs“, weil es oft vorkommt, dass sie plötzlich nicht mehr weiß, wo sie ist). Konkretes Ziel ist es daher, sich von den „Resten“ des Persönlichen Budgets – das Persönliche Budget wird derzeit vor allem für eine ambulante Betreuung eingesetzt – ein mobiles Navigationsgerät (GPS) zu kaufen, um sich unterwegs besser orientieren zu können. Nutzen und Vorteil des Geräts beschreibt sie wie folgt: „Dass wenn ich mich nicht vernünftig orientieren kann, dass da so, wenn es das technisch hergibt und halbwegs bezahlbar ist, dann würde ich das immer einem menschlichen Begleiter – sag ich mal – bevorzugen, weil so ein Gerät setzt mich nie unter Druck und ist nicht launisch und lächelt nett. (…) Wenn da solche Black-outs kommen, dass ich die pure Panik kriege. Noch fünf Minuten davor wusste ich, wo ich bin, und jetzt weiß ich’s nicht mehr und jedermann orientiert sich ganz locker und natürlich, nur ich steh auf der Stelle wie ein Idiot und weiß nicht mehr wohin. Und dann pack ich mein Navi raus und dann geb’ ich die Straße ein und dann kann ich auch keine Ärztetermine verpassen.“ 106 Zum Zeitpunkt der Befragung wird die Budgetnehmerin in ihrer Wohnung ambulant betreut, was etwa zwei Drittel des Persönlichen Budgets ausmacht. Das restliche Drittel des Budgets kann die Budgetnehmerin für vorab festegelegte Aktivitäten und Dienstleistungen verwenden.
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Sinnbildlich zeigt sich die Bedeutung einer solchermaßen „individualisierten“ Form der Unterstützung auch in den weiteren Erzählungen der 34-jährigen Budgetnehmerin. Im Interview schildert sie die Situation ihrer Hilfeplankonferenz zur Bemessung ihres Persönlichen Budgets, bei der sie die Idee mit dem Navigationsgerät eingebracht hatte: „Die fanden das so überraschend, dass man darauf kommen kann; für mich ist es das Natürlichste von der Welt (…). Das mit dem Navigationsgerät ist teilweise auf Unverständnis gestoßen, auf ratlose Blicke, und teilweise auf völlige Begeisterung, das man sich so was einfallen lässt. Und ich war die Einzige, die wusste, dass man so ein Navigationsgerät für Fußgänger benutzen kann und nicht nur für Autos.“
Die dargestellten Budgetnehmer/innen finanzieren sich also keine ausschließlich personelle Unterstützung, sondern kombinieren diese mit allgemeinen Dienstleistungen oder Sachmitteln, weil diese „Formen“ der Unterstützung den individuellen Wünschen und Bedürfnissen eher entsprechen oder weil diese „Hilfen“ mit der gegenwärtigen Lebenssituation besser in Passung treten. Dies können Teilnahmegebühren für bestimmte Kurse als auch Gebrauchsgegenstände wie ein tragbares Navigationsgerät sein. In einem Fall wird das Persönliche Budget sogar dafür genutzt, die Unterhaltskosten eines Autos zu finanzieren, weil der 44–jährige Budgetnehmer aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität soziale Kontakte besser pflegen und so auch mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann.
7.1.1.7
Ersatzlösung
In einigen Fällen wurde von den befragten Personen mehr oder weniger deutlich auf den Umstand hingewiesen, dass die Beantragung des Persönlichen Budgets eher eine Art „Ersatzlösung“ darstellt, etwa um eine bestimmte Maßnahme oder Dienstleistung in Anspruch nehmen zu können, die im Rahmen der Sachleistung nicht genutzt werden konnte oder nicht zur Verfügung steht. Diesen Budgetnehmer/innen geht es vor allem darum, mit Hilfe des Persönlichen Budgets spezielle Therapieformen, spezifische Angebote und Maßnahmen oder ausgewählte Fachkräfte finanzieren zu können, deren Nutzung im Sachleistungsprinzip verwehrt geblieben wäre. In diesen Fällen nimmt das Persönliche Budget eher den Charakter einer „Ersatzlösung“ an, weil sich erst mit einer Umstellung auf ein Persönliches Budget bestimmte Möglichkeiten realisieren ließen.107 107 Ein Pendant dieser „Ersatzlösungen“ lässt sich auch im baden-württembergischen Modellprojekt finden. Zu denken ist beispielsweise an die in Kapitel 4.2.2. genannten Persönlichen Budgets in der Zuständigkeit der Rentenversicherung, mit Hilfe derer es im baden-württembergischen Mo-
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In Bezug auf die in Kapitel 3 diskutierten idealtypischen Erwartungen an die Nutzung eines Persönlichen Budgets handelt es sich bei diesen Budgetnehmer/innen um eine besondere Gruppe. Letztendlich geht es diesen Personen weniger um einen Zugewinn an Selbstbestimmung oder Selbstständigkeit, noch erhoffen sich diese eine aktive Einflussnahme auf den Markt sozialer Dienstleistungen. Das Persönliche Budget ist hingegen nichts anderes als der „Weg“, eine gewünschte Leistung in Anspruch nehmen zu können. Vermutlich spielt es für diese Budgetnehmer/innen auch keine Rolle, ob die gewünschte Leistung als Sachleistung oder mit Hilfe eines Persönlichen Budgets erbracht wird. Zwar gibt es Überschneidungen zu dem Motivkomplex „individuelle Leistungen“, der Unterschied liegt aber darin begründet, dass sich die Budgetnehmer/innen kein individuelles Unterstützungsarrangement schaffen wollen, sondern eine (oftmals bereits bestehende) Leistung über den „Umweg“ der Budgetbeantragung „problemlos“ erschließen möchten. Der Vorteil der Budgetlösung wurzelt dabei insbesondere darin, dass Leistungen direkt von den Leistungsempfängern eingekauft werden können und damit von bestimmten Reglementierungen und Auflagen des Sachleistungsprinzips entkoppelt sind. Insofern stellt die Beantragung eines Persönlichen Budgets oftmals eher eine „Vereinfachung“ der Fallgestaltung dar. So ging es den Budgetnehmer/innen entweder darum, bestimmte Leistungen überhaupt erst nutzen zu können, die im Sachleistungsprinzip nicht vorgesehen oder nicht umsetzbar gewesen wären, oder die Budgetinteressenten beantragten das Persönliche Budget um bisherige Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen aufrecht zu erhalten, weil diese weggefallen sind. Daher können zwei Gruppen unterschieden werden: Eine Gruppe an Personen versucht mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine alternative Leistung oder Maßnahme finanzieren zu können, die bisher im Sachleistungsprinzip nicht umsetzbar gewesen wäre (das Budget wird zur Realisierung von „Alternativlösungen“ eingesetzt). Zu diesen „Alternativlösungen“ zählen außerdem Budgetnehmer/innen, die bestimmte Personen mit der Unterstützung beauftragen wollten, welche im Kontext der Sachleistung nicht „zugelassen“ geworden wären oder schlichtweg nicht zur Verfügung stehen (z.B. bestimmte Personen mit spezifischen Qualifikationen). Die zweite Gruppe beantragte das Persönliche Budget um bereits genutzte Leistungen und gewohnte Betreuungsstrukturen aufrecht zu erhalten bzw. die Versorgung weiterhin zu sichern (das Budget wird praktisch als „Notlösung“ beantragt). In letzterem Fall spielt oftmals auch die Anbindung an bereits genutzte Leistungen bzw. an die Betreuung in einer ehemaligen (stationären) Einrichtung eine große Rolle, etwa indem bestimmte (Einzel-) Leistundellprojekt ermöglicht wurde, dass die betreffenden Personen eine reguläre 3-jährige Ausbildung absolvieren konnten, obwohl im Sachleistungsprinzip nur eine 2-jährige Umschulung vorgesehen ist (vgl. dazu ausführlich Kastl, Metzler 2005, 101ff.).
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gen oder einzelne Mitarbeiter/innen aus der ehemaligen Leistung weiterhin genutzt werden. Im Folgenden werden diese beiden Motivlagen ausführlicher dargestellt. „Die Therapie aussuchen (…), die man für sinnvoll hält“ – Das Persönliche Budget als Alternativlösung Die ersten Gruppe an Budgetnehmer/innen versucht mit Hilfe des Persönlichen Budgets bestimmte „Alternativlösungen“ zu realisieren, d.h. durch eine Bewilligung des Persönlichen Budgets sollte ermöglicht werden, bestimmte Leistungen oder Personen zu finanzieren, die in Form einer Sachleistung nicht in Frage kommen. Das Persönliche Budget stellt dabei eher eine Art „Umweg“ dar, über den es den Budgetnehmer/innen ermöglicht wird, besonders favorisierte Maßnahmen, alternative Dienste, spezifische Angebote oder spezielle Fachkräfte nutzen können. Hierbei lassen sich beispielsweise Personen identifizieren, die eine bisher im Kontext der Sachleistung nicht anerkannte Therapieform oder Maßnahme über ein Persönliches Budget einkaufen. Oder aber die Budgetnehmer/innen benötigen eine bestimmte Fachkraft bzw. ein spezifisches Angebot. Nicht selten spielen hierbei die Spezifik des Unterstützungsbedarfs und die Verfügbarkeit der Angebote und entsprechenden Qualifikationen eine entscheidende Rolle, wie auch die nachfolgenden Beispiele zeigen:
Eine ganze Reihe an Budgetnehmer/innen finanziert eine autismusspezifische Therapie mit Hilfe des Persönlichen Budgets. Hierbei handelt es sich um Kinder zwischen 4 und 6 Jahren mit autistischen Verhaltensweisen, bei denen die Eltern ein Persönliches Budget beantragt haben, um diese spezielle Therapie nutzen zu können. Grund der Budgetbeantragung ist letztendlich, dass diese Therapieform von den Leistungsträgern im Rahmen der Sachleistung nicht finanziert werden konnte. Vor der Budgetbeantragung hatten die Kinder oftmals andere Angebote genutzt (z.B. ein Autismustherapiezentrum), mit denen die Eltern allerdings äußerst unzufrieden waren. Eine Mutter formuliert dies in der Befragung wie folgt: „Mein Sohn geht da für zwei Stunden pro Woche hin, das bringt nichts. Lernen Sie mal Fremdsprachen, wenn Sie nur zwei Stunden pro Woche lernen.“ Stattdessen favorisieren die Eltern eine in den USA entwickelte Methode, die sogenannte ABA-Methode („Applied Behavior Analysis“, zu Deutsch: „angewandte Verhaltensanalyse“),108 die in Deutschland nach Aussage der befragten El-
108 Eine Besonderheit der ABA-Methode ist, dass die Therapie auf einer Zusammenarbeit mit den Eltern (als Co-Therapeuten) beruht und während der Therapie z.B. auch Workshops mit den Eltern durchgeführt werden. Die Therapieform zielt darauf ab, das therapeutische Setting in den familiären Lebensraum einzubetten. Die begleitende Erklärung der Hauptprinzipien sowie
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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tern als Therapieform im Rahmen der Frühförderung nicht anerkannt ist. Aufgrund dieser fehlenden Anerkennung wird die Therapie vom zuständigen Sozialhilfeträger nicht bezahlt. Dies gab letztendlich den Ausschlag dafür, ein Persönliches Budget zu beantragen. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets werden nun die benötigten Therapiestunden inklusive Förder- und Spielmaterialien finanziert. Als wesentlicher Vorteil des Persönlichen Budgets wird entsprechend herausgestellt, „dass man selbst das Geld bekommt und sich die Therapie aussuchen kann, die man für sinnvoll hält“ (Mutter eines 4-jährigen Budgetnehmers). Aufgrund einer seltenen Stoffwechselerkrankung ist ein 5 Jahre altes Kind auf tägliche medizinische Versorgung (Infusionen) angewiesen; unter Umständen kann es sogar zu lebensbedrohlichen Situationen kommen. Vor der Beantragung des Persönlichen Budgets befand sich das Kind in einer heilpädagogischen Kindertagesstätte, welche aber von den Eltern als „ungeeignet“ beschrieben wurde. Die Eltern wünschten sich bereits seit langem, dass ihr Kind einen „normalen“ Kindergarten bzw. einen speziellen „KreativKindergarten“ besuchen kann, der die individuellen Interessen und Fähigkeiten ihrer Tochter optimal zu fördern vermag. Der von den Eltern gewünschte Kindergarten erklärte sich zwar grundsätzlich bereit, das Mädchen aufzunehmen, konnte aber mit dem zur Verfügung stehenden Personal dem umfassenden Unterstützungs- und Pflegebedarf des Mädchens nicht entsprechen (das Mädchen braucht eine entsprechend qualifizierte medizinische Fachkraft, die ständig in der Nähe des Kindes ist). Aus diesem Dilemma resultierte schließlich die Überlegung, eine geeignete „Begleitperson“ über das Persönliche Budget zu finanzieren, um so den Besuch dieses Kindergartens zu ermöglichen. Der Sozialhilfeträger zahlt daher den Eltern ein Persönliches Budget, welches in etwa den Kosten der vorherigen heilpädagogischen Kindertagesstätte entspricht. Da nun die Möglichkeit bestand, geeignete Personen selbst aussuchen zu können, konnte schließlich eine medizinische Fachkraft gefunden werden (examinierte Kinderkrankenschwester und Heilerziehungspflegerin), welche das Kind nun jeden Tag in den „Kreativ-Kindergarten“ begleitet. Das Kind nimmt dabei „ganz normal am Tagesablauf teil“ und die Kinderkrankenschwester ist „vor Ort, falls etwas passiert“ (z.B. wenn es Komplikationen mit den Infusionen gibt). der wichtigsten Anwendungsmethoden gehören daher zum Grundprinzip der Therapie. In Form von regelmäßigen Konsultationen (Besuche bei der Familie) wird ein individuelles Förderprogramm für das Kind konzipiert und gleichzeitig werden die Eltern mit der ABA-Methode vertraut gemacht. Wesentliches Anliegen der Methode ist daher nicht nur die gezielte Förderung des Kindes, sondern auch der Einbezug und die Schulung der Eltern. Auf der Homepage des Knospe-Instituts findet man hierzu den Satz: „Wir helfen Eltern, den Kindern zu helfen“ (vgl. http://www.knospe-aba.com).
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Wegen einer Tropenkrankheit musste sich ein 58-jähriger Budgetnehmer mehreren Herzoperationen unterziehen. Aufgrund der Operationsfolgen ist er mittlerweile in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt. Zusätzlich benötigt er aufgrund offener Wunden Drainagen, die mehrmals am Tag gewechselt werden müssen. Durch diese Krankheits- und Operationsfolgen ist der Budgetnehmer auf eine tägliche Versorgung angewiesen, wobei es schwerpunktmäßig um das Wechseln der Drainagen sowie Unterstützung im Haushalt und beim Einkaufen geht. Mit Verlassen des Krankenhauses wurde daher nach einer Lösung gesucht, damit der Budgetnehmer weiterhin medizinisch und pflegerisch zuhause versorgt werden kann. Dabei musste aber auch sichergestellt werden, dass diese Tätigkeit von einer entsprechend qualifizierten Fachkraft erbracht wird. Eine solche Kombination von medizinischer und hauswirtschaftlicher Versorgung im Auftrag ortsansässiger ambulanter Dienste gestaltete sich allerdings schwer, weil die in Frage kommenden Leistungserbringer nicht über entsprechend qualifiziertes Personal für dieses komplizierte Krankheitsbild verfügten.109 Da der Budgetnehmer über zwei Jahre im Krankenhaus war und dort von einer bestimmten Krankenschwester betreut wurde, entstand die Idee mit dem Persönlichen Budget. Eben diese Krankenschwester wird nun über das Persönliche Budget finanziert, weil es so möglich ist, dass der Budgetnehmer von einer speziell examinierten Krankenschwester weiterhin gepflegt und versorgt werden kann: „Es musste diese Krankenschwester sein. (…) solche Qualifikationen sind rar (…) es gibt nicht allzu viele Schwestern, die das können“. Alles in allem steht die Budgetbeantragung also insgesamt im Kontext der Sicherung einer speziellen Unterstützungssituation. Als letztes Beispiel ist ein 7-jähriges Kind mit einer Hörbehinderung zu nennen. Die bisherige Therapie der ersten Jahre zielte darauf ab, dem Kind die Lautsprache zu vermitteln. Diese Therapie wurde von dem Jungen aber als äußerst anstrengend empfunden und er verweigerte sich zunehmend (u.a. entwickelten sich somatische Beschwerden). Die Familie entschied sich daher für einen anderen Weg und im Alter von 5 Jahren sollte der Junge beginnen, die Gebärdensprache zu lernen (und mit ihm auch die Familie). Die Familie suchte hierzu Beratung beim zuständigen Sozialhilfeträger und wurde dabei über das Persönliche Budget informiert. Mit dem Budget wird nun eine pädagogische Fachkraft finanziert, die gebärdenkompetent ist und den Jungen im häuslichen Umfeld in der Gebärdensprache spielerisch unter-
109 Nach Auskunft des Budgetnehmers hatten sich Mitarbeiter verschiedenster Dienste die Situation angeschaut und sind schließlich zu dem Schluss gekommen, dass „sie das nicht können“: Grundsätzlich musste also eine entsprechend geschulte Person gefunden werden („selbst der Hausarzt macht das nicht“).
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richtet. Die Mutter wohnt diesen Sitzungen bei, um ebenfalls die Gebärdensprache zu erlernen. Die aufsuchende Arbeit und das natürliche Einfügen der Fachkraft in das häusliche Umfeld werden dabei äußerst positiv bewertet. Des Weiteren gibt es nach Auskunft der Mutter „keine vergleichbaren Angebote in der Region“. In etwas anders gelagerten Fällen wird das Persönliche Budget als „Alternativlösung“ beantragt, um damit bestimmte Personen finanzieren zu können, die die Unterstützung im Rahmen einer Sachleistung nicht erbringen können. Auch hier stellt das Persönliche Budget sozusagen einen „Umweg“ dar, weil die dadurch gewonnenen Dispositionsspielräume es ermöglichen, entsprechende Vereinbarungen überhaupt erst treffen zu können. Beispielsweise beantragte ein 38jähriger Budgetnehmer mit einer sogenannten geistigen Behinderung ein Persönliches Budget, um damit seine gesetzliche Betreuerin als Leistungserbringer nutzen zu können. Dabei war es der erklärte Wunsch des jungen Mannes, dass die gesetzliche Betreuerin die ambulante Unterstützung nach seinem Auszug aus einem Wohnheim übernehmen sollte, was letztendlich nur über ein Persönliches Budget ermöglicht werden konnte (die Betreuerin wird nach Fachleistungsstunden bezahlt). „Ohne Budget würde meine Tochter jetzt in der Luft hängen“ – Das Persönliche Budget als Notlösung Die zweite Gruppe besteht aus Budgetnehmer/innen, die mit dem Persönlichen Budget keine spezifischen (neuen) Leistungen bzw. Angebote finanzieren möchten, sondern denen es bei der Budgetbeantragung eher um das Aufrechterhalten eines bereits bestehenden Unterstützungssettings oder um das Gewährleisten einer regelmäßigen Unterstützung geht. Eine Budgetlösung wird deswegen angestrebt, weil die benötigte Unterstützung aus unterschiedlichen Gründen weggefallen ist oder nicht (mehr) im Rahmen einer Sachleistung erbracht werden kann (Budget als „Notlösung“). Entsprechend sind diese Motive eher als pragmatische Überlegungen zu sehen und ausschlaggebend ist oftmals eine Veränderung der Lebenssituation der Budgetnehmer/innen oder ihres sozialen Umfelds. An folgenden Beispielen kann dies verdeutlicht werden:
Eine 18-jährige Budgetnehmerin mit einer sogenannten geistigen Behinderung besuchte bereits vor der Beantragung des Persönlichen Budgets eine teilstationäre Förder- bzw. Betreuungsgruppe. Die Leistung wurde bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres vom Jugendamt getragen, mit Erreichen des 18. Lebensjahres ging dieser Leistungsanspruch jedoch in die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers über. Da die Mutter ihrer Tochter die Teilnahme an
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dieser Fördergruppe weiterhin ermöglichen wollte, wurde die Fortsetzung der teilstationären Betreuung als Persönliches Budget im Rahmen der Eingliederungshilfe beim Sozialhilfeträger beantragt. Motiv der Budgetbeantragung war nach Auskunft der Mutter vordergründig die Sicherstellung der weiteren Teilnahme an diesem Angebot aufgrund des Wegfalls der Leistungsverpflichtung durch das Jugendamt. Die Mutter äußert sich im Telefoninterview dazu mit den Worten „ohne Budget würde meine Tochter jetzt in der Luft hängen“. Im Falle einer 53-jährigen Budgetnehmerin wurde ein Persönliches Budget beantragt, weil das betreute Wohnen durch den Wegfall der Pflegestufe II „nicht mehr finanzierbar“ war. Auch in diesem Kontext ging es letztendlich darum, die bestehende Unterstützung in dieser Wohnform weiterhin nutzen zu können und mit dem Persönlichen Budget sollte nun versucht werden, die bisherige Wohnform so gut wie möglich aufrecht zu erhalten, „da alle anderen Wohnversuche (…) fehl schlugen“ und die Budgetnehmerin in dieser Wohnform „selbstständiger wurde“. Durch den Tod der Mutter einer 12-jährigen Budgetnehmerin mit einer sogenannten geistigen Behinderung stand der Vater zunächst vor dem Problem, die Betreuung der Tochter nach der Schule zu organisieren. Da der Vater aber unregelmäßige Arbeitszeiten hat, gestaltete sich diese Organisation äußerst schwierig. Mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets sollte daher die Betreuung sichergestellt werden, ohne auf feste Zeiten angewiesen zu sein. Aus dem Persönlichen Budget wird nun ein flexibler familiärer Dienst bezahlt, mit dem die Problematik der Lebenssituation von Vater und Tochter aufgefangen werden kann; die Tochter wird dabei zuhause betreut, bis der Vater von der Arbeit kommt.
Zusammenfassend verdeutlichen die Beispiele, dass eine Reihe an Budgetnehmer/innen bzw. deren gesetzliche Vertreter/innen das Persönliche Budget (nur) beantragt haben, um damit leistungsrechtliche Spielräume besser ausschöpfen zu können. Dabei scheint es bei der Budgetbeantragung eher darum zu gehen, Beschränkungen im Sachleistungsprinzip zu umgehen bzw. eine Vereinfachung bei komplizierten Fallgestaltungen zu erreichen. In diesen Fällen kann angenommen werden, dass es den betreffenden Personen primär nicht um das Persönliche Budget ging. Dieses stellt lediglich eine Möglichkeit dar, die gewünschten Leistungen bzw. favorisierte Personen finanzieren zu können. Daher würde auch eine flexibilisierte Sachleistung dem Anliegen dieser Personengruppe entsprechen.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
7.1.1.8
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Versorgungssicherheit
Einige Aussagen sind so zu deuten, dass es den Budgetnehmer/innen vordergründig darum ging, mit dem Persönlichen Budget eine Art „Versorgungssicherheit“ zu schaffen bzw. behinderungs- oder erkrankungsbedingte Folgen zu kompensieren. Dieses Motiv verweist weder auf Flexibilitäts- und Selbstbestimmungswünsche noch auf eine angestrebte Unabhängigkeit von Anbietern oder gezielte Einflussnahme (wobei diese Ziele durchaus hintergründig wirksam sein können), sondern im Kern auf die Sicherstellung einer bestmöglichen „Versorgung“. Der Aspekt der „Sicherheit“ spielt hierbei – wie sich weiter unten noch zeigen wird – eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess und letztendlich ist es dieser „Sicherheitsaspekt“, der den Ausschlag zur Beantragung des Persönlichen Budgets gab. Dabei stellt der Motivkomplex „Versorgungssicherheit“ eine interessante Besonderheit dar, weil gerade dieses „Sicherheitsdenken“ im Widerspruch zu den in Kapitel 3 formulierten theoretischen Grundannahmen steht. So wird das Persönliche Budget ja gerade mit einer Abkehr vom Versorgungs- und Fürsorgeparadigma und einer Hinwendung zum Selbstbestimmungsparadigma in Verbindung gebracht, was der Sache nach auch eine gewisse „Risikobereitschaft“ beinhaltet. Die Budgetbeantragung muss in diesen Fällen in verschiedenen Kontexten gesehen werden: So spielt es einerseits eine Rolle, inwiefern bisherige Versorgungsstrukturen als unzureichend empfunden werden und das Persönlichen Budget einer Verbesserung dieser Situation dienen soll. Andererseits geht es aber auch darum, ausreichende Versorgungsstrukturen erst einmal (neu) aufzubauen, etwa aufgrund eines Auszugs aus einer Einrichtung der Behindertenhilfe oder aus dem elterlichen Haushalt. Naheliegende Überschneidungen gibt es daher vor allem zu dem Motivkomplex „Selbstständigkeit“, weil im Rahmen von Verselbstständigungsprozessen oftmals Versorgungsstrukturen geschaffen und abgesichert werden müssen. Inhaltlich können ferner Motive unterschieden werden, die auf eine alltagspraktische Unterstützung abzielen sowie Motive, bei denen es um die Sicherstellung einer psychosozialen Betreuung geht. „Praktische Hilfen zum Leben“ – Sicherstellung alltagspraktischer Unterstützung Budgetnehmer/innen, die solche Motive formuliert haben, verweisen in erster Linie auf die Sicherstellung einer adäquaten und ausreichenden alltagspraktischen Unterstützung. Die jeweiligen Angaben reichen von allgemeinen Aussagen wie „praktische Hilfen zum Leben“ (Budgetnehmer, 56 Jahre) „besser mit dem Alltag zurecht kommen“ (Budgetnehmerin, 24 Jahre), „Unterstützung in der Alltagsbewältigung“ (Budgetnehmerin, 35 Jahre) über konkretere Formulierungen wie „Wohnung in Ordnung halten“ (Budgetnehmer, 27 Jahre), „drohende Verwahrlo-
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sung vorzubeugen“ (Budgetnehmer, 34 Jahre), „Verwahrlosung in Griff zu bekommen, Wohnung in bewohnbaren Zustand zu bekommen“ (Budgetnehmer, 65 Jahre) oder „dass ich im Haushalt unterstützt werde“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre) bis hin zu regelrechten Aufzählungen verschiedener „Leistungsposten“, wie auch die folgende Ausführung eines 37-jährigen Budgetnehmers zeigt: „Ich wollte eine begleitende Hilfe für meinen Alltag. Ich wollte Unterstützung bei Behördenangelegenheiten, (…) teilweise Begleitung bei Arztbesuchen und für alle lebenspraktischen Bereiche, die ich alleine nicht schaffe. Das wären z.B. Gestalten der Wohnung, größere Einkäufe, Kochen, Wäschepflege (…).“
Die Hintergründe der Budgetbeantragung korrespondieren mit spezifischen behinderungs- oder erkrankungsbedingten Einschränkungen. Eine hauswirtschaftliche Versorgung ist beispielsweise dann indiziert, wenn bestimmte Tätigkeiten nicht mehr oder nur mit Unterstützung und Anleitung verrichtet werden können. Zwar spielen diese Hilfen bei allen Behinderungsarten eine Rolle, allerdings gibt es deutliche Unterschiede was die Reichweite der Unterstützung betrifft. Entsprechend hängen Art und Umfang der haushaltsnahen und alltagspraktischen Unterstützungen generell von der jeweiligen Einschränkung ab, wobei dieser Umfang wiederum im einzelnen Fall noch variieren kann. Ein 41-jähriger Budgetnehmer mit rheumatischen Beschwerden beschreibt seine Situation beispielsweise wie folgt: „Wenn ich eine viertel Stunde putze, dann tun mir dermaßen die Hände weh und die Handgelenke, dann kann ich meine Hände nicht mehr richtig spüren und dann kann ich auch nichts mehr anfassen.“
Generell sind unter alltagspraktischen Hilfen alle Arten haushaltsnaher Dienstleistungen (insbesondere Haushaltshilfen), aber auch Unterstützung in alltäglichen Belangen wie Behördenangelegenheiten, Schriftverkehr usw. zu verstehen. Inhaltlich erstreckt sich die durch die Budgetbeantragung gewünschte Unterstützung über „Hilfen beim Einkaufen“ (Budgetnehmer, 39 Jahre), „Haushaltspflege“ (Budgetnehmer, 59 Jahre), „Unterstützung im Haushalt, Einkauf, Haushaltsführung, Hilfsmittelversorgung“ (Budgetnehmerin, 35 Jahre) bis hin zu aktivierenden Tätigkeiten (etwa einen 34-jährigen Budgetnehmer dazu zu motivieren „selbstständig Arztbesuche wahrzunehmen“). Des Weiteren werden von einigen Budgetnehmer/innen konkrete Ziele verbalisiert, etwa: „Vermeidung von Sammelverhalten (…) Herstellen einer akzeptablen Wohnsituation“ (Budgetnehmer, 46 Jahre), „in meiner Haut wohl fühlen, in meiner Wohnung wohlfühlen“ (Budgetnehmer, 38 Jahre) oder „Wohnung in Ordnung halten (…) [um] Freunde und Arbeitskollegen mal einladen können“ (Budgetnehmer, 42 Jahre).
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
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Das Persönliche Budget erfüllt hierbei den Zweck, eine ausreichende Versorgungsstruktur über längere Sicht zu gewährleisten, entweder, weil die bisherige Versorgungsstruktur von den Budgetnehmer/innen als unzureichend oder unbefriedigend beurteilt wurde (etwa aufgrund unzuverlässiger Leistungserbringung oder aber auch aufgrund persönlicher Differenzen mit den Leistungserbringern), oder weil eine adäquate Versorgungsstruktur erst einmal aufgebaut werden muss (z.B. aufgrund eines Verselbstständigungsprozesses). Des Weiteren lassen sich Budgetnehmer/innen identifizieren, die mit Hilfe einer entsprechenden Versorgungsstruktur eine bereits erreichte Selbstständigkeit erhalten möchten. Insofern lassen sich drei Motivlagen unterscheiden:
Budgetnehmer/innen, die die Sicherung der alltagspraktischen Versorgung aufgrund einer früheren Versorgungssituation angestrebt haben, verweisen auf eine unbefriedigende Leistungserbringung, etwa Unzuverlässigkeit oder mangelnde Qualität. Insofern lassen sich Überschneidungen zu dem Motiv „Unabhängigkeit“ (vgl. Kapitel 7.1.1.3) finden. Beispielsweise berichtete der oben genannte 41-jährige Budgetnehmer mit rheumatischen Beschwerden im Interview, dass ein (im Rahmen der Sachleistung) vom Sozialamt beauftragter „Putzdienst“ sehr selten und auch nur unregelmäßig vorbei kam, so dass sich sein soziales Umfeld zunehmend über den Zustand der Wohnung beschwerte. Oftmals wollen Budgetnehmer/innen dabei auch vertraute Personen in die Versorgungsstruktur einbeziehen, so dass es ferner Überschneidungen zum Motivkomplex „Flexibilität“ (vgl. 7.1.1.5) gibt, etwa weil die Budgetnehmer/innen „nur von bestimmten Personen Hilfe [annehmen]“ (Budgetnehmer, 34 Jahre) oder „niemand an sich ran [lassen]“ (Budgetnehmer, 65 Jahre). Die zweite Fallkonstellation – Budgetnehmer/innen, die aufgrund eines Verselbstständigungsprozesses eine alltagspraktische Versorgung sichern wollen – nutzen das Persönliche Budget, um eine möglichst umfassende und gleichzeitig individuelle Versorgungsstruktur aufzubauen. Zentrales Moment der Budgetbeantragung ist es dabei, mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine dem subjektiven Empfinden nach größtmögliche „Sicherheit“ in diesem Verselbstständigungsprozess zu ermöglichen. Die den Verselbstständigungsprozess begleitenden Unterstützungsarrangements sollen so gestaltet sein, dass sich die Budgetnehmer/innen „sicher“ fühlen und somit auch den Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Im Falle einer 42-jährigen Budgetnehmerin mit einer sogenannten geistigen Behinderung wird von dem gesetzlichen Betreuer beispielsweise ausdrücklich betont, dass es bei der Budgetbeantragung im Grunde um die „Sicherstellung lebenspraktischer, hauswirtschaftlicher und pädagogischer Betreuung nach [dem] Aus-
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zug aus einem Wohnheim (…) in eine eigene Wohnung“ ging. Eine große Rolle bei der Verselbstständigung spielt aber vor allem auch das Anliegen, bisherige Betreuungsstrukturen zu erhalten bzw. in die neue Lebenssituation „mitzunehmen“ und so den Verselbstständigungsprozess zu flankieren. Die Verbindung von Versorgungsaspekten und selbstständiger Lebensführung zeigt sich zusätzlich auch in Argumenten der dritten Gruppe von Budgetnehmer/innen, die sich nicht (mehr) in einem Verselbstständigungsprozess befinden, sondern bereits selbstständig leben, und denen es eher darum geht, eine bestehende selbstständige Lebensform zu erhalten oder auszubauen. Letztendlich wird auch von dieser Personengruppe antizipiert, dass die Sicherstellung der Versorgung gleichzeitig eine Garantie für die (weitere) selbstständige Lebensführung darstellt, wie auch die Aussage eines 43jährigen Budgetnehmers verdeutlicht: „Betreuungs- und Begleitungsbedarf wird gedeckt (…), anderenfalls wäre Heimunterbringung erforderlich“. Ähnlich versucht auch eine 40-jährige Budgetnehmerin ihre Selbstständigkeit zu erhalten, indem sie mit dem Persönlichen Budget Hilfen im Haushalt finanziert.
Insgesamt ermöglicht es das Persönliche Budget also, Verselbstständigungsprozesse mit Sicherheitsaspekten zu kombinieren. Aus diesem Grunde schließen sich die beiden Motivlagen – Selbstständige Lebensführung und Sicherstellung der Versorgung – keinesfalls aus, sondern ergänzen sich sinnvoll. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass der Sicherheitsgedanke die Grundidee des Persönlichen Budgets konterkariert, wenn ein implizites Versorgungsdenken einer Rückkehr zum Fürsorgeparadigma gleich kommt (ein gesetzlicher Betreuer drückt dies im Interview treffend aus, indem er über seinen Klienten sagt: „Alles ist da, Vollversorgung“). „Wieder ins Leben bringen“ – Sicherung psychosozialer Unterstützung Die Nennungen im Bereich „psychosoziale Unterstützung“ sind ähnlich vielfältig wie bei dem Motiv „Sicherstellung alltagspraktischer Hilfen“; entsprechend erstrecken sich die inhaltlichen Aussagen von allgemeinen Formulierungen wie „weitere psychische Stabilisierung“ (Budgetnehmerin, 22 Jahre), „Stabilisierung Psychose“ (Budgetnehmer, 42 Jahre), „wieder ins Leben bringen“ (Budgetnehmer, 62 Jahre), „um überhaupt wieder auf die Beine zu kommen“ (Budgetnehmer, 49 Jahre) über etwas greifbarere Nennungen wie „Verbesserung im Umgang mit Krankheit“ (Budgetnehmerin, 24 Jahre), „Unterstützung bei schwierigen Tagessituationen“ (Budgetnehmerin, 24 Jahre) bis hin zu konkreten Aussagen wie „Konflikte besprechen, Grenzen akzeptieren“ (Budgetnehmer, 27 Jahre) „Abwendung psychischer Krisen, Bearbeitung von Konflikten“ (Budget-
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nehmer, 26 Jahre) oder „Gespräche und Reflexion über meine Verhaltensweisen, Hilfe bei Entscheidungsfindung“ (Budgetnehmer, 37 Jahre). Inhaltlich umfassen die gewünschten Leistungen beispielsweise sozialtherapeutische und sozialarbeiterische Themenfelder wie Unterstützung im Umgang mit der Behinderung und/oder Erkrankung, „psychosoziale Begleitung im Alltag“ (Budgetnehmer, 35 Jahre) verhaltenstherapeutische Interventionen, Umgang mit Sucht bzw. Suchtprävention („alternative Wege aufzeigen“), Unterstützung in medizinischen Angelegenheiten bzw. Gesundheitsfürsorge, behördliche Angelegenheiten, Unterstützung im Umgang mit Geld, Schuldenberatung und -regulierung, usw. Aber auch speziellere Themen wie z.B. Partnerschaftsberatung werden genannt, etwa im Falle von zwei Budgetnehmer/innen (42 Jahre, 46 Jahre), die nach der Bewilligung eines Persönlichen Budgets aus einer stationären Einrichtung in eine betreute Wohnform gezogen sind. Betrachtet man schließlich die jeweiligen Hintergründe der Budgetbeantragung, so zeigt sich ebenfalls, dass der Wunsch nach einer (Ab-) Sicherung der psychosozialen Betreuung oftmals im Kontext von Unzufriedenheiten mit der bisherigen Betreuungssituation oder aufgrund von Verselbstständigungsprozessen bzw. dem Erhalt einer selbstständige Lebensführung motiviert ist. Insofern treffen die oben genannten Überlegungen zur Bedeutung des „Sicherheitsaspekts“ in gleichem Maße zu und bedürfen an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen. Im Wesentlichen wird das Persönliche Budget aus den gleichen Gründen beantragt, die bereits bei dem Motiv „Sicherstellung alltagspraktischer Hilfen“ dargelegt wurden:
Die erste Gruppe an Budgetnehmer/innen versucht mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine bisher subjektiv unbefriedigende psychosoziale Betreuung durch eine alternative Betreuung zu ersetzen. Hierzu lassen sich einige Beispiele finden, die bereits im Kontext des Motivs „Unanhängigkeit“ diskutiert wurden (vgl. Kapitel 7.1.1.3). Eine große Rolle spielen beispielsweise qualitative Erwartungen an eine psychosoziale Betreuung, die die bisherigen im Kontext der Sachleistung gestellten Anbieter aufgrund von Zeitdruck oder arbeitsorganisatorischen Zwängen nicht erfüllen konnten oder wollten. Ein 57-jähriger Budgetnehmer wünscht sich beispielsweise einen Anbieter, der nicht nur „Dienst nach Stoppuhr“ macht, sondern sich auch mal „Zeit für Gespräche nimmt“. Ein 28-jähriger Budgetnehmer, der über 10 Jahre in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung gelebt hatte, möchte mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine „gute Betreuung, die auf persönliche Wünsche und Bedürfnisse eingeht“, sichern. Eine zweite Gruppe nutzt das Persönliche Budget, um im Zuge eines Verselbstständigungsprozesses eine psychosoziale Betreuungsstruktur zu etab-
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lieren, wie auch das folgende Beispiel zeigt: „aufgrund der Beendigung des [ambulant betreutes Wohnens] (…) einen Gesprächspartner haben“ (Budgetnehmer, 45 Jahre). Spezifische „Sicherheitsbedürfnisse“ zeigen sich besonders in den Fällen, in denen der Unterstützungsbedarf höher ist als ursprünglich angenommen: „… und dadurch, dass ich ins betreute Wohnen umgezogen bin, hat sich Einiges verändert. Ich brauchte mehr Hilfe als (…) vorgesehen war. Ich wollte, dass man jederzeit jemand anrufen kann, der mir hilft“ (Budgetnehmerin, 42 Jahre). In ähnlicher Art und Weise formuliert auch eine 49-jährige Budgetnehmerin die Intention, mit Hilfe des Persönlichen Budgets „eine neue Wohnmöglichkeit mit ständigen Ansprechpartner“ zu finden oder ein 31-jähriger Budgetnehmer, der für einen „Wechsel von einem stationären Aufenthalt zu einem Einzug in eine Außenwohngruppe bis hin zum selbstständigen Einzelwohnen“ vor allem einen „Ansprechpartner in Krisensituationen“ benötigt. Von einer dritten Gruppe Budgetnehmer/innen wurde herausgestellt, dass die Sicherung der psychosozialen Unterstützung entscheidend zum Erhalt einer selbstständigen Lebensführung bzw. einer eigenen Wohnung beiträgt, wie auch ein 43-jähriger Budgetnehmer betont: „Sicherung der eigenen Wohnung und Verhinderung einer psychischen Verschlechterung.“ In einigen Fällen artikulieren die Budgetnehmerin auch konkret die Absicht, stationäre Aufenthalte zu vermeiden, etwa eine 38-jährige Budgetnehmerin, der es bei der Sicherstellung psychosozialer Unterstützung vor allem darum geht, einen weiteren „Klinik- bzw. Psychiatrieaufenthalt vorzubeugen und Selbstständigkeit zu erhalten.“
In allen drei Gruppen spielt die Regelmäßigkeit der Betreuung eine wichtige Rolle, wie auch die folgenden beiden Aussagen deutlich zeigen: „Dass jemand bei mir vorbeikommt und nach mir schaut“(Budgetnehmer, 38 Jahre), „dass man immer zu jeder Tages- oder Nachtzeit hingehen oder anrufen kann“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre). Insbesondere in diesen Aussagen wird ein spezifischer Aspekt deutlich, der eine besondere Rolle innerhalb dieser Versorgungssicherheit spielt: Das Wunsch nach Gesprächs- bzw. Ansprechpartnern als Ausdruck dieser Sicherung der psychosozialen Unterstützung: „Und dass man jemanden hat, mit dem man reden kann. Wenn man sonst die ganze Woche alleine ist. Da ist dann zweimal in der Woche jemand, mit dem man sich unterhalten kann. Dass man nicht total vereinsamt, dass ist auch schon mal ganz gut“ (Budgetnehmer, 41 Jahre).
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„Überbrückung auf dem Weg zur Selbstständigkeit“ – Erhalt gewohnter Unterstützungsstrukturen Die bereits oben angedeutete Verknüpfung zwischen Verselbstständigung und Sicherung der Versorgung stellt ein auffallendes Charakteristikum in diesem Motivkomplex dar, weshalb ausgewählte Fallgestaltungen nochmals unter einem anderen Blickwinkel gesondert dargestellt werden müssen. Eine spezifische Besonderheit bei diesen Budgetnehmer/innen ist der Wunsch, im Zuge eines Verselbstständigungsprozesses die gewohnten Unterstützungsstrukturen zu erhalten, um dadurch eine größtmögliche „Sicherheit“ auf dem Weg zur Verselbstständigung gewährleisten zu können. Insofern gibt es vielfältige Überschneidungen zu dem Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung bzw. Verselbstständigung (vgl. Kapitel 7.1.1.1). Dabei handelt es sich um Personen, die zwar eine Veränderung der Lebenssituation anstreben (z.B. einen Auszug aus einem Wohnheim), die bisherigen Unterstützungsstrukturen jedoch nicht vollständig aufgeben möchten. Hierbei spielt oftmals die Anbindung an bereits genutzte Leistungen bzw. an eine frühere (stationäre) Einrichtung eine bedeutsame Rolle. In einigen Fällen finanzieren die Budgetnehmer/innen Angebote oder sogar einzelne Mitarbeiter/innen aus ehemaligen (stationären) Einrichtungen. Da einrichtungsgebundene Leistungen in der Regel in einer sogenannten Komplexleistung zusammengefasst und Mitarbeiter/innen bei den jeweiligen Einrichtungen fest angestellt sind, wäre eine Leistungserbringung in Form einer Sachleistung nur schwer umzusetzen. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets können allerdings individuelle Leistungsverträge mit den jeweiligen Einrichtungen geschlossen werden. Aus diesem Grund wird es möglich, eine Verselbstständigung zu realisieren und gleichzeitig bestehende Unterstützungsstrukturen aufrechterhalten zu können. An drei Beispielen sei das verdeutlicht:
Eine 22-jährige Budgetnehmerin, die vor der Budgetbeantragung in einer Außenwohngruppe gelebt hatte, wollte mit Hilfe des Persönlichen Budgets den Umzug in eine eigene Wohnung realisieren. Ambulante Unterstützung wünscht sie sich am liebsten von einer Betreuerin der Außenwohngruppe, zu der die junge Frau ein gutes Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Diese Unterstützung wollte sie dabei zunächst „gesichert“ haben, bevor sie den Auszug in die Tat umzusetzen begann. Schließlich zog die Budgetnehmerin in eine eigene Wohnung und konnte mit Hilfe des Persönlichen Budgets weiterhin durch die Betreuerin aus der ehemaligen Wohngruppe an zwei Tagen in der Woche für insgesamt sechs Stunden unterstützt werden. In zwei Fällen bestand die Intention der Budgetbeantragung darin, den Auszug aus einer therapeutischen Wohngemeinschaft durch die Möglichkeit einer weiteren Nutzung der psychosozialen Unterstützung und tagesstruktu-
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rierenden Angebote der Einrichtung zu flankieren. Mit dem Persönlichen Budget sollte es dabei ermöglicht werden, weiterhin Unterstützung in Form von Gesprächstherapie oder Arbeitstherapie einzukaufen und so auch den Kontakt zu der ehemaligen Einrichtung und den vertrauten Mitarbeiter/innen halten zu können. Im Falle einer 33-jährigen Budgetnehmerin mit einer kognitiven Beeinträchtigung gestaltete es sich etwas anders, da der Verselbstständigungsprozess ursprünglich nicht beabsichtigt war. Bei der Budgetnehmerin liegt eine fortschreitende Erkrankung des Gehirns vor und sie lebte bis zur Beantragung eines Persönlichen Budgets in einem Wohnheim. Da sich ihr Hilfebedarf erhöht hatte und sich das Wohnheim auch nur begrenzt im Stande sah, die junge Frau weiter zu betreuen, wurde von Seiten der gesetzlichen Betreuerin überlegt, wie sie auch außerhalb stationärer Strukturen betreut und damit eine dauerhafte geschlossene Unterbringung vermieden werden könnte. Dazu musste aber eine umfassende Versorgung sichergestellt werden. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, mit dem Persönlichen Budget eine Betreuung in einer Pflegefamilie zu organisieren. Schließlich konnte dann auch eine Pflegefamilie gefunden werden, die bereit war, die junge Frau aufzunehmen. Das Budget ist trägerübergreifend konzipiert (Sozialhilfe, Pflegeversicherung) und ein Teil des Budgets ist für die Pflege und Unterstützung in der Pflegefamilie gedacht. Mit dem Rest wird ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem früheren Wohnheim finanziert.
Alles in allem zeigen die Beispiele deutlich, wie Verselbstständigungsprozesse bzw. eine bereits bestehende selbstständige Lebensführung mit dem Aufbau und Erhalt von (gewohnten) Betreuungsstrukturen kombiniert werden können. Dabei scheint das Persönliche Budget insbesondere in Übergangsphasen einen spezifischen Nutzen zu haben. Aus diesem Grunde gibt es vielfältige Überschneidungen zum Motiv „Selbstständige Lebensführung“ (Kapitel 7.1.1.1). Dieser besondere Nutzen des Persönlichen Budgets kann nochmals in den Worten eines 42jährigen Budgetnehmers wie folgt zusammengefasst werden: „Das Persönliche Budget ist eine gute Überbrückung auf dem Weg zur letztendlichen Selbstständigkeit.“
7.1.1.9
Soziale Beziehungen
Die diesem Motivkomplex zugeordneten Aussagen umfassen ein Spektrum an Nennungen, bei denen es im Kern um den Aufbau bzw. um den Erhalt von sozialen Beziehungen geht. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets soll es gelingen, in
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bestimmten gesellschaftlichen Bereichen partizipieren zu können, in denen sozialen Kontakte vermehrt stattfinden oder sich auf „natürliche“ Art und Weise ergeben. Insofern korrespondiert der Wunsch nach sozialen Beziehungen nicht selten auch mit einem Wunsch nach mehr Mobilität und Aktivität. Das Persönliche Budget wird in diesen Fällen beantragt, um verschiedene, von (professionellen) Dienstleistern und Einrichtungen unabhängige Aktivitäten finanzieren zu können, die es den Budgetnehmer/innen ermöglichen, auch außerhalb der üblichen Strukturen der Behindertenhilfe soziale Beziehungen aufbauen bzw. erhalten zu können. Dabei geht es den Budgetnehmer/innen nicht nur um eine „Finanzierungsmöglichkeit“ für verschiedene Freizeit- und kontaktstiftende Aktivitäten, sondern vor allem um die Möglichkeit, eigene Wege zur Verbesserung von Teilhabe und sozialen Kontakten beschreiten zu können. Insofern gibt es der Sache nach Überschneidungen zu den Motivkomplexen „individuelle Lösungen“ (Kapitel 7.1.1.6) und „Flexibilität“ (Kapitel 7.1.1.5) Grob lassen sich hierbei zwei Gruppen unterscheiden: Eine Gruppe an Budgetnehmer/innen möchte mit dem Persönlichen Budget aufgrund mangelnder sozialer Kontakte oder drohender Isolation vermehrt kontaktstiftende Aktivitäten realisieren. Dabei besteht das Ziel der Budgetverwendung nicht allein darin, (neue) soziale Kontakte zu knüpfen, sondern verstärkt auch in Umwelten außerhalb von Einrichtungen der Behindertenhilfe partizipieren zu können. Die andere Gruppe nutzt das Persönliche Budget hingegen dafür, bestehende soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten oder in gesellschaftlich relevanten Lebensbereichen, in denen vielfältige Kontaktmöglichkeiten bestehen, (weiterhin) teilhaben zu können. Eine wesentliche Rolle spielen in beiden Fällen Unterstützungen im Bereich Mobilität und Aktivität. „Bin überhaupt nicht mehr aus der Wohnung gekommen“ – Soziale Kontakte durch Verbesserung von Mobilität und Aktivität Die hier relevanten Budgetnehmer/innen benannten den Mangel an sozialen Kontakten als Ausgangsbasis für die Budgetbeantragung. Häufig gaben sie an, sich einsam und isoliert zu fühlen und oftmals mehrere Tage alleine in der Wohnung zu verbringen; kulturelle und gesellschaftliche Aktivitäten finden so gut wie keine statt. Bei diesen Budgetnehmer/innen spielt daher die Verbesserung der Mobilität und der sozialen Teilhabe die Hauptrolle bei der Beantragung eines Persönlichen Budgets. Hierzu gehört etwa der Wunsch nach mehr (außerhäuslichen) Freizeitaktivitäten sowie das Bedürfnis, vermehrt in kontaktstiftenden Umwelten partizipieren zu können (z.B. Sportvereinen, Fitness-Studios, gastronomische Einrichtungen, Tanzveranstaltungen usw.). Ein 45-jähriger Budgetnehmer mit einer chronischen organischen Erkrankung nutzt beispielsweise ein geringes Persönliches Budget ausschließlich als Mitgliedsbeitrag in einem Sport-Studio und formuliert die dadurch erreichten Verbesserungen seiner Lebenssituation wie folgt:
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„Durch das Persönliche Budget kann ich an Freizeitaktivitäten teilnehmen und habe wieder Kontakt zu anderen Menschen. (…) Kann die Freizeit sinnvoll nutzen, dadurch Kontakt zu anderen Menschen bekommen, was bei meiner Abstinenz hilft. [Das] hilft Menschen wie mir, wenn wir sehen, dass wir mit unserer Krankheit nicht allein gelassen werden. Das Persönliche Budget kann die Krankheit nicht heilen, aber hilft, das Leben etwas freundlicher zu gestalten.“
In einigen Fällen steht dieser Wunsch nach Verbesserung der sozialen Teilhabechancen mit einer akuten „Notlage“ (z.B. zunehmende Isolation und Vereinsamung) in Verbindung. Dabei kann eine solche „Notlage“ auch mit einem Verselbstständigungsprozess zusammenfallen, wie die folgende Aussage deutlich zeigt: „Aufgrund der Beendigung der Therapeutischen Wohngemeinschaft fühlte ich mich stark isoliert und habe Kontakte und Möglichkeiten gesucht, meine Depression und Rückfälle in den Griff zu bekommen. Bin überhaupt nicht mehr aus der Wohnung gekommen“ (Budgetnehmer, 44 Jahre).
Auch in anderen Aussagen wird deutlich, inwiefern die Budgetbeantragung ursächlich mit dem Wunsch nach verbesserter Mobilität und mehr Aktivitäten in Verbindung steht. Ein 45-jähriger Budgetnehmer formuliert hierzu kurz und prägnant: „Meine stark eingeschränkte Mobilität und Teilhabe am sozialen Leben verbessern.“ Wieder andere Budgetnehmer/innen verbalisieren dieses Ziele in ähnlicher Art und Weise, wie auch die folgenden Beispiele zeigen: „Mit Budget aktiver werden und nicht in der Wohnung verkriechen“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre), „Überwindung der Ängste und mehr Außenaktivitäten (…) mehr Kontakte“ (Budgetnehmerin, 40 Jahre), „war ziemlich allein (…) unter Menschen kommen (…) nicht mehr so einsam“ (Budgetnehmerin, 66 Jahre), „stabile soziale Beziehungen aufbauen“ (Budgetnehmer, 37 Jahre), „Kontakte zu anderen Menschen knüpfen“ (Budgetnehmer, 45 Jahre), „Möglichkeit zur Ausweitung sozialer Kontakte (…). Öfter raus aus Wohnung“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre), „aus der Isolation rauskommen, (…) Freizeitgestaltung, Kontakte knüpfen“ (Budgetnehmer, 35 Jahre), „wieder am öffentlichen Leben teilnehmen können“ (Budgetnehmer, 53 Jahre), „mehr Kontakt zur Außenwelt (…). Teilhabe an der Gesellschaft, regelmäßige Veranstaltungen, Mobilität, Spaß“ (Budgetnehmer, 45 Jahre). Der „Charme“ des Persönlichen Budgets besteht in diesen Fällen jedoch insbesondere darin, eigene Vorstellungen von kontaktstiftenden Aktivitäten umsetzen können. Die durch das Persönliche Budget ermöglichten „Freiheitsgrade“ nutzen die Budgetnehmer/innen vor allem dafür, in Umwelten partizipieren zu können, in denen sich soziale Kontakte quasi „von selbst“ ergeben und die sich außerhalb von Einrichtungen der Behindertenhilfe befinden. Mit dem Persönli-
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chen Budget werden beispielsweise (Mitglieds-) Beiträge für sportliche oder kulturelle Aktivitäten finanziert. Andere Budgetnehmer/innen bezahlen ihren Begleitungspersonen den Eintritt, Getränke oder die Benzinkosten, wenn diese mit ihnen Ausflüge unternehmen oder in Cafes, Restaurants und zu Tanzveranstaltungen gehen. In den meisten Fällen wird das Persönliche Budget daher zur Finanzierung von Unterstützung in den Bereichen „Mobilität“ und „Freizeitgestaltung“ verwendet. Die Bandbreite an kontaktstiftenden Aktivitäten ist allerdings groß und kann hier nicht erschöpfend dargestellt werden. Im Folgenden sollen lediglich einige ausgewählte und beispielhafte Konstellationen skizziert werden, in denen sich die Bedeutung von solchen selbstgewählten kontaktstiftenden Aktivitäten in besonders anschaulicher Art und Weise zeigt:
Besonders erwähnenswert sind hierbei zunächst Budgetnehmer/innen, die mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets auf einen Teil der (professionellen) Unterstützung verzichten, um mit den dadurch „frei werdenden“ Beträgen eigene Vorstellungen von Unterstützung realisieren zu können. Dabei handelt es sich in der Regel um Menschen mit psychischen Erkrankungen, die eine ambulante Betreuung durch professionelle Fachkräfte nutzen. Im Zuge der Budgetbeantragung wurde mit dem Kostenträger vereinbart, dass ein (kleiner) Teil dieser bewilligten Fachleistungsstunden als Geldbetrag zur freien Verfügung steht, mit dem sie eigene Ideen von Unterstützung umsetzen können. Im Kern finanzieren diese Budgetnehmer/innen dann vor allem Aktivitäten, bei denen sie Kontakte zu anderen (nicht behinderten) Menschen knüpfen können. Diese Aktivitäten erstrecken sich von Teilnahmegebühren für Bildungskurse über sportliche Aktivitäten bis hin zu künstlerisch-musischer Betätigung in den vielfältigsten Bereichen. Ähnlich dieser Gruppe gibt es weitere Budgetnehmer/innen, die eine behinderungs- oder erkrankungsbedingte Beeinträchtigung ihrer sozialen Teilhabe in Form von Sachmitteln oder Fahrtkosten zu kompensieren versuchen. Diese Personengruppe unterscheidet sich von der erst genannten Gruppe dadurch, dass es nicht um die Finanzierung von kontaktstiftenden Aktivitäten geht (z.B. in Form von Teilnahmegebühren oder Beiträgen), sondern um die Finanzierung von entsprechenden Voraussetzungen, solche kontaktstiftenden Aktivitäten überhaupt erst wahrnehmen zu können. Genannt werden können beispielsweise Fahrtkosten und Monatstickets, aber auch Gebühren für Telefon und Internet. In zwei Fällen finanzieren Budgetnehmer/innen aus Mitteln des Persönlichen Budgets sogar ein Auto, weil sie mit dieser Form der „Mobilitätshilfe“ besser soziale Kontakte knüpfen und pflegen können. Insgesamt geht es auch in dieser Gruppe darum, innovative und passende Lösungen zur Verbesserung von Teilhabechancen zu finden.
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7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Eine weitere, besonders erwähnenswerte Gruppe, sind Menschen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Einrichtungen ausziehen und den damit einhergehenden Verlust an sozialen Beziehungen mit (neuen) Kontaktmöglichkeiten kompensieren möchten. In diesen Fällen handelt es sich oftmals um Menschen, die aufgrund jahrelanger „Heimsozialisation“ über nur sehr eingeschränkte oder überhaupt keine sozialen Netzwerke verfügen. Nicht selten sind die Angehörigen die einzigen Kontaktpersonen. Im Zuge des Verselbstständigungsprozesses stellt sich nunmehr das Problem einer drohenden sozialen Isolation, und es muss nicht selten erst einmal ein neues soziales Netzwerk aufgebaut werden. Zur Kompensation eines fehlenden Netzwerkes greifen diese Budgetnehmer/innen häufig auf Angebote der ehemaligen Einrichtung zurück, um so ihre Kontakte zu ehemaligen Mitarbeiter/innen und/oder anderen Bewohner/innen nicht vollständig aufzugeben. Dabei werden solche Angebote aus dem Persönlichen Budget gezahlt. Auf der anderen Seite versuchen sie aber auch, kontaktstiftende Aktivitäten außerhalb von Angeboten der Behindertenhilfe zu realisieren. Insofern fahren diese Budgetnehmer/innen sozusagen „zweigleisig“. Eine vierte Gruppe sind schließlich Budgetnehmer/innen, die ein Persönliches Budget in stationären Einrichtungen nutzen, um die Organisation der Unterstützung und Verwendung eines solchen Budgets erst einmal im „sicheren Rahmen“ zu üben (vgl. dazu auch Kapitel 7.1.1.1). Dabei geht es vor allem darum, teilhaberelevante und kontaktstiftende Aktivitäten flexibler und selbstbestimmter auswählen und umsetzen zu können, auch weil die jeweils gewünschten Aktivitäten in der Einrichtung kaum oder nicht zur Zufriedenheit der Leistungsberechtigten angeboten werden, wie auch die Aussage eines 38-jährigen Budgetnehmers verdeutlicht: „Pflegepersonal hat für Freizeitgestaltung gar keine Zeit“. In diesem Fall bezahlt der Budgetnehmer einen Mitarbeiter der Einrichtung als individuelle Freizeitbegleitung, um Aktivitäten außerhalb der Einrichtung realisieren zu können („öfter rauskommen“, „mehr unternehmen“, „öfter Eis essen gehen“). In selteneren Fällen werden aber auch Anbieter von außerhalb rekrutiert. Entsprechend dem oben genannten Verselbstständigungsprozess kann in diesen Fällen ebenfalls von einer schrittweisen Ablösung von den gewohnten Heimstrukturen gesprochen werden, indem nicht nur der Umgang mit dem Persönlichen Budget „geübt“ wird, sondern zunehmend auch die unmittelbare Nahwelt erschlossen und kontaktstiftende Aktivitäten immer mehr nach außen verlegt werden. Abschließend gibt es noch eine fünfte Gruppe an jungen Budgetnehmer/ innen (bzw. deren gesetzliche Vertreter/innen), bei denen es vor allem um die Partizipation in „normalen“ Lebensbereichen geht. Hierunter fallen ei-
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nerseits Kinder und Jugendliche, deren Eltern das Persönliche Budget beantragt haben, um „klassische“ Einrichtungskarrieren zu umgehen und eine Integration in „normale“ Betreuungsstrukturen voranzutreiben. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets versuchen die Eltern beispielsweise die notwendige Unterstützung für den Besuch eines Regelkindergartens oder einer Regelschule zu organisieren. Auf die Frage nach den Beantragungsmotiven erklärt beispielsweise der Vater eines 6-jährigen Mädchens mit einer chronischen organischen Erkrankung, er wolle sein Kind „anders positionieren“, als „normales Kind unter anderen normalen Kindern.“ Andererseits sind in dieser Gruppe aber auch Kinder und Jugendliche zusammengefasst, denen es um kontaktstiftende Aktivitäten mit Gleichaltrigen bzw. um eine Partizipation in altersangemessenen Umwelten geht. Diese lebensphasenspezifischen Unterstützungsarrangements wurden bereits in Kapitel 7.1.1.6 dargestellt, seien aufgrund ihres Bezugs zum Thema „Soziale Beziehungen“ allerdings nochmals ausdrücklich genannt. So verweist die Mutter eines 21jährigen Budgetnehmers mit einer sogenannten geistigen Behinderung ausdrücklich auf das Ziel „mit anderen Jugendlichen etwas unternehmen können (…) und Freunde besuchen können“. Die dargestellten Beispiele zeigen, dass die befragten Budgetnehmer/innen den Vorteil des Persönlichen Budgets vor allem darin begründet sehen, dass sie ihre Vorstellungen von Mobilität, Aktivität und Teilhabe besser umsetzen können. Insofern bestehen insbesondere Überschneidungen zu den Motiven „individuelle Lösungen“ und „Flexibilität“, weil es im Grunde um eigene Wege der Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung zu Mitmenschen geht. „Noch nicht zum alten Eisen gehören“ – Soziale Teilhabe durch Erhalt von Mobilität und Aktivität In diese Gruppe fallen Budgetnehmer/innen, denen es weniger um eine akute Isolation geht, die aber eine solche Gefahr aufgrund ihrer Behinderung und/oder Erkrankung mittel- bis langfristig sehen. Dabei spielen beispielsweise progressive Erkrankungen und kumulierende Behinderungsfolgen eine wichtige Rolle. Oftmals verfügen diese Personen über ein gut funktionierendes soziales Netz, und bei der Budgetbeantragung geht es vor allem darum, die (bisherige) Mobilität und Aktivität zu erhalten, um weiterhin in gesellschaftlich relevanten Bereichen partizipieren und soziale Kontakte pflegen zu können. Auch ist es diesen Personen besonders wichtig, einen zu diesen Aktivitäten und Beziehungen zugehörigen Lebensstil so gut wie möglich beibehalten zu können. Eine wesentliche Bedeutung kommt hierbei der Unterstützung im Bereich Mobilität zu, weil es diesen Budgetnehmer/innen oftmals aufgrund von Behinderungsfolgen erschwert wird, kontaktstiftende Umwelten zu erreichen bzw. beste-
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hende Kontakte erhalten zu können. Jedoch sind es gerade diese Umwelten und Aktivitäten, die zur Kompensation der Behinderungsfolgen besonders bedeutsam sind. Außerdem wird die Unterstützung oftmals von den Personen erbracht, die Bestandteil des sozialen Netzes der Budgetnehmer/innen sind und ebenfalls über diese Umwelten rekrutiert werden. Auch hierzu gibt es eine Reihe an Beispielen:
Eine erste Gruppe an Budgetnehmer/innen nutzt das Persönliche Budget, um bestimmte kontaktstiftende Aktivitäten auch weiterhin tätigen zu können, die aufgrund der (progressiven) Behinderungsfolgen nicht mehr so einfach realisierbar sind. Dabei handelt es sich in der Regel um Aktivitäten, die einen festen Bestandteil des Lebensstils der Budgetnehmer/innen darstellen und deren Aufrechterhaltung auch gleichzeitig ein Aufrechterhalten wichtiger sozialer Beziehungen bedeutet. So nutzt beispielsweise eine 33-jährige Budgetnehmerin mit Multipler Sklerose einen Teil ihres Persönlichen Budgets, um damit die Unterstützung von Freunden und Bekannten am Wochenende zu finanzieren, etwa um Rockkonzerte oder gastronomische Einrichtungen zu besuchen und damit weiterhin Teil ihrer „Szene“ bleiben zu können. Deutlich wird der Wunsch, den (bisherigen) Lebensstil so gut wie möglich beizubehalten, auch bei einem 56-jährigen Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung, dem es vor allem darum geht, „noch nicht zum alten Eisen zu gehören“, „mobil zu bleiben“, „mehr raus zu kommen“ und ein „ganz normales Leben zu führen“. Ähnliche Ziele verfolgt auch eine 33-jährige Budgetnehmerin, ebenfalls mit einer körperlichen Behinderung, die sich selbst als „mobil“ und „unternehmungslustig“ beschreibt und nach eigenen Angaben einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat: „Weil ich bin halt ein sehr mobiler Mensch. Ich bin halt sehr gerne unterwegs.“ Mit dem Persönlichen Budget werden Zivildienstleistende finanziert, die die Budgetnehmerin bei vielfältigen Freizeitaktivitäten begleiten, z.B. ins Kino, in gastronomischen Einrichtungen, auf Konzerte, zu Veranstaltungen oder „wenn ich mal irgendwo eingeladen bin“. Ab und zu spart sie auch Beträge an, die dann für Tagesausflüge genutzt werden können. Eine andere Gruppe an Budgetnehmer/innen sind Personen, bei denen es nicht um die Aktivitäten selbst geht, sondern eher um die Finanzierung informeller bzw. privater Unterstützung (und damit indirekt auch um den Erhalt dieser informellen Unterstützung). Ein älteres Ehepaar mit rheumatischen Beschwerden (beide erhalten ein Persönliches Budget) finanziert z.B. mit dem Persönlichen Budget ausschließlich Unterstützung durch die eigenen Kinder.110 Sinn und Zweck des Arrangements ist es, dass sie ihren Kin-
110 Das Beispiel wurde bereits in Kapitel 7.1.1.3. behandelt, weil es gleichzeitig um eine veränderte Rolle als behinderter Mensch in der Gesellschaft geht.
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dern regelmäßig die Benzinkosten bezahlen, wenn diese sie beispielsweise mal zum Schwimmen fahren. Insofern wird das Budget im Grunde auch zur Stabilisierung bzw. zum Erhalt informeller Hilfen zur Mobilität verwendet. Ähnlich nutzt auch ein 63-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen und (progressiven) Sehbehinderung das Persönliche Budget, um die bereits existierende nachbarschaftliche Hilfe zu erhalten und auszubauen. Aufgrund seiner Behinderung ist er auf Begleitung bei außerhäuslichen Aktivitäten (z.B. Schwimmen gehen, Einkäufe usw.) angewiesen, und diese Begleitung wird schwerpunktmäßig von Personen aus der Nachbarschaft erbracht. Auch eine 60-jährige Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung verwendet das Persönliche Budget ausschließlich für informelle, private Unterstützung in der Freizeit. Mit dem Persönlichen Budget finanziert die Frau verschiedene „Geschenke“, um sich dadurch für die informellen Hilfen zur Mobilität durch Freunde und Bekannte erkenntlich zu zeigen. Wieder anderen Personen geht es im Wesentlichen um „finanzielle“ Gründe. Diese Personen beantragten das Persönliche Budget, um damit (zusätzliche) Unterstützung in den Bereichen „Mobilität“ und „Freizeitaktivitäten“ zu finanzieren, ebenfalls mit dem Ziel, in gewohnten Umwelten partizipieren zu können. Diese Personen betrachten das Persönliche Budget oftmals fälschlicherweise als „zusätzliches Geld“. Dass es sich bei einem Persönlichen Budget nicht um eine (neue) zusätzliche Leistung, sondern nur um eine andere Form der Leistungserbringung handelt, wird jedoch nicht reflektiert. Wahrgenommen wird lediglich ein Geldbetrag, der den Budgetnehmer/innen zunächst als „zusätzliche“ Möglichkeit erscheint. Ein Beispiel dazu ist ein 64jähriger Mann, der sein Persönliches Budget vor allem für Ausflüge oder für den Eintritt in klassische Konzerte ausgibt. Seiner Einschätzung nach könne man sich solche „Dinge (…) normal nicht leisten“ und durch diese „neuen“ finanziellen Möglichkeiten schildert er seine jetzige Lebenssituation als deutliche Verbesserung, weil er „weniger isoliert lebt“ und auch bereits „Bekannte wieder getroffen [hat]“. Auch eine 52-jährige Budgetnehmer/in mit einer körperlichen Behinderung beschreibt diesen „Zugewinn“ mit den Worten „dass ich mehr Geld habe, um was mit Freunden zu unternehmen.“
Alles in allem verdeutlichen die Aussagen, dass Persönliche Budgets nicht nur zu einer Verbesserung von Teilhabechancen beitragen, sondern auch eine wichtige Rolle für den Erhalt eines individuellen Lebensstils und damit für die Gestaltung sozialer Beziehungen spielen können. Motive im Bereich „Soziale Beziehungen“ umfassen dabei sowohl individuelle Vorlieben als auch die Auswahl der unterstützenden Personen bzw. Dienstleistungen. Die Überschneidungen sind daher vielfältig. Es lassen sich daher Bezüge zur selbstständigen Lebensführung
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(etwa hinsichtlich des Aufbaus bzw. Erhalts sozialer Netzwerke) als auch zu den Motiven „individuelle Lösungen“ und „Flexibilität“ finden.
7.1.1.10
Vereinfachung
In diesem Motivkomplex sind Beweggründe zusammengefasst, die sich weniger auf spezielle Leistungen oder die inhaltliche Ausgestaltung bestimmter Unterstützungsarrangements beziehen, sondern eher auf eine Vereinfachung bei der Inanspruchnahme von Leistungen. Vereinfachung bedeutet in diesem Fall, dass die Umstellung der Leistungserbringung von der Sachleistung auf ein Persönliches Budget einen „praktischen“ Nutzen für die Budgetnehmer/innen bzw. deren Stellvertreter/innen mit sich bringt. Eine solche Haltung drückt sich beispielsweise darin aus, dass das Persönliche Budget aus Gründen einer organisatorischen Vereinfachung, der Reduktion von Schnittstellen oder auch wegen finanzieller Vorteile beantragt wurde. Insgesamt wird die Leistungserbringung durch ein Persönliches Budget deswegen favorisiert, weil sich die Budgetnehmer/innen – oftmals neben anderen Gründen – eine Verbesserung im „Management“ der Leistungserbringung erhoffen. Durch eine Umstellung der Leistungserbringung auf ein Persönliches Budget werden dabei auf zwei verschiedenen Ebenen Vorteile erwartet: Einerseits wird es von den Budgetnehmer/innen als vorteilhaft angesehen, dass häufige oder „mühsame“ Interaktionen mit dem Kostenträger aufgrund des selbstständigen „Managements“ der Leistungserbringung vermieden werden können, andererseits wird es als hilfreich empfunden, dass das Geld aufgrund des Budgetcharakters im Voraus bezahlt wird und damit die Inanspruchnahme der Leistungserbringung besser planbar wird. „Weniger Bürokratie, leichtere Abwicklung der Abrechnungen“ – Reduktion des Verwaltungs- und Abrechungsaufwands mit den Kostenträgern Eine wesentliche Vereinfachung im „Management“ der Leistungserbringung stellt nach Ansicht der befragten Budgetnehmer/innen insbesondere die Reduktion des (bisherigen) Abstimmungsaufwands mit den Kostenträgern dar. Dabei kommt vor allem der Kommunikation und Interaktion mit verschiedenen Ämtern und den jeweiligen Ansprechpartnern eine bedeutende Rolle zu. Es wird dann beispielsweise erwartet, dass sich diese Interaktionen durch die Nutzung eines Persönlichen Budgets reduzieren werden, weil die Organisation der Unterstützung auf den Leistungsberechtigten selbst übergeht. Zwar bedeutet die Umstellung der Leistungsausführung auf ein Persönliches Budget immer auch eine gewisse Verantwortungszunahme und einen höheren Organisationsaufwand
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(beispielsweise hinsichtlich der Verwaltung des Budgets), auf der anderen Seite wird es aber als vorteilhaft bewertet, dass sich der Abstimmungs- und Abrechnungsaufwand mit den Leistungsträgern verringert. So zeigen einige Beispiele, dass es bei der Budgetbeantragung oftmals um den Wegfall der (bisherigen) „Nachweisprozedur“ (Mutter einer 25-jährigen Budgetnehmerin) ging, andere Budgetnehmer/innen berichten von einer „unkomplizierteren Handhabung“ (Budgetnehmer, 45 Jahre) oder dass „keine minutiösen Abrechnungen“ (Budgetnehmerin, 49 Jahre) mehr vorgenommen werden müssen. Bei einer näheren Betrachtung der hier relevanten Budgetnehmer/innen fällt auf, dass es sich in den meisten Fällen um Eltern von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern handelt, die bereits vor der Beantragung des Persönlichen Budgets Unterstützung in Form von Sachleistungen erhielten. So betonte etwa die Mutter einer 15-jährigen Jugendlichen vor allem die „einfachere Handhabung“ des Persönlichen Budgets. Hintergrund dessen ist, dass die Jugendliche bereits vor der Beantragung Unterstützung im Rahmen der Eingliederungshilfe durch selbstbeschaffte Kräfte erhielt, die Kosten aber regelmäßig mit dem Kostenträger abgesprochen und abgerechnet werden mussten. Auch die Mutter eines 9-jährigen Kindes mit einer Schulbegleitung musste vor dem Persönlichen Budget regelmäßig Stundennachweise für die Schulbegleitung einreichen, während die Verwendungsnachweise nun erst nach einem halben Jahr erbracht werden müssen. Zudem kann ein etwaiger monatlicher Mehr- und Minderbedarf noch bis zum Ende dieses halben Jahres ausgeglichen werden. Ähnlich empfindet es auch eine Mutter eines 19-jährigen Budgetnehmers als vorteilhaft, dass für die Betreuung ihres mehrfachbehinderten Sohnes nicht „über jede Stunde Rechenschaft abgelegt werden muss und die Planung nun erleichtert ist“. In diesem Fall müssen überhaupt keine Verwendungsnachweise erbracht werden. Insgesamt reduziere sich also nach Angaben der befragten Eltern der Verwaltungsaufwand erheblich. Aber auch unter erwachsenen Budgetnehmer/innen gibt es Personen, die von einer solchen Vereinfachung berichten. Etwa ein 59jähriger Mann, der darauf verweist, dass die Abstimmung mit dem Kostenträger vorher ein „größeres Hickhack“ war. Etwas konkreter formuliert dies auch ein 33-jähriger Budgetnehmer, indem er betont, dass er jetzt „weniger Verwaltungsaufwand als mit der Sachleistung“ hätte. Als ein besonderer Vorteil wird auch der trägerübergreifende Gedanke gesehen, schließlich ist es die Kernidee des „Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets“, dass es für die Budgetnehmenden nur noch einen Ansprechpartner geben soll, auch wenn an dem Persönlichen Budget verschiedene Leistungsträger beteiligt sind. Anhand einer markanten Passage aus einem Interview mit einer 33-jährigen körperbehinderten Budgetnehmerin mit einem Trägerübergreifenden Persönlichem Budget sei dies verdeutlicht. Hintergrund der Interviewpassage
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war die Frage, warum die junge Frau gerade ein Trägerübergreifendes Persönliches Budget beantragen wollte:111 „Ich sage mal so, deswegen bin ich da so begeistert, da dran teilzunehmen, weil ich habe vor, in den nächsten ein, zwei Jahren auszuziehen. Und ich werde aufgrund meiner Behinderung wohl auf 24 Stunden Betreuung angewiesen sein. Und ich habe dann auch auf der Kreisverwaltung gesagt, wenn ich mir vorstelle, dass es dieses trägerübergreifende Budget nicht gibt – weil ich kriege dann nachher, für die 24 Stunden Betreuung, ich weiß nicht, einmal Geld, um meine Arbeit zu bezahlen, dann kriege ich Geld für in meiner Wohnung, also für die Betreuung, dann kriege ich noch Geld von der Pflegekasse. Und ich habe dann drei oder vier verschiedene Ansprechpartner. Da sage ich, ich mache das jetzt, um das für mich jetzt mal im Kleinen auszuprobieren, wie es läuft. Damit ich dann später da schon mal keine Problem mehr habe. Damit ich, wenn ich, wenn ich ausziehe und einen größeren Betrag brauche, dass ich dann auch nur einen Ansprechpartner habe.“
Die gleiche Argumentation lässt sich auch bei einem 44-jährigen Budgetnehmer finden, der ebenfalls ein Trägerübergreifendes Persönliches Budget beantragt hatte (bestehend aus Leistungen der Krankenversicherung und des Sozialhilfeträgers). Auch ihm ging es vor allem um die trägerübergreifende Idee und wäre ihm dieses Trägerübergreifende Persönliche Budget nicht bewilligt worden, so hätte er nach eigenen Angaben auch kein Persönliches Budget mehr haben wollen. Als wesentliche Vorteile stellt er dabei heraus: „Weniger Bürokratie, leichtere Abwicklung der Abrechnungen mit dem Amt. Vereinfachung durch Trägerübergreifendes Budget, verlässliche Leistungen beider Leistungsträger, Verlässlichkeit, Planbarkeit. Vorteil, dass man alles übersichtlich hat (…).“ „Das Geld hat man jetzt im Vorfeld“ – Finanzielle Vereinfachung und Planbarkeit Ein zweiter Aspekt in diesem Motivkomplex ist die finanzielle Vereinfachung, die mit der Überweisung der Geldmittel zum Monatsanfang einhergeht. Dieser Vorteil betrifft insbesondere Personen, die bereits im Rahmen der Sachleistung auf selbstbeschaffte Kräfte zurückgegriffen haben und das Geld vorstrecken 111 Die 33-jährige Budgetnehmerin war eine der ersten Budgetnehmer/innen im Modellprojekt mit einem Trägerübergreifenden Persönlichen Budget. Das Budget besteht aus Leistungen des Integrationsamts und Leistungen des Sozialhilfeträgers. Im Interview ging es daher nicht nur um die Motive zur Beantragung eines Persönlichen Budgets, sondern vor allem um die Frage, warum sich die Budgetnehmerin für ein Trägerübergreifendes Persönliches Budget entschieden hatte. Es zeigt sich hierbei deutlich, dass ihr nicht nur der Zugewinn an Flexibilität und Entscheidungsfreiheit relevant erschien (die Budgetnehmerin erhielt vorher schon ein Freizeitbudget), sondern insbesondere die „Erleichterung“ durch die Idee des Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets.
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mussten, bevor sie es im Nachhinein vom Kostenträger zurück erstattet bekamen. In einigen der oben genannten Fälle spielt daher neben der Reduktion des Verwaltungs- und Abrechnungsaufwands auch die finanzielle Entlastung eine Rolle. Es wurden beispielsweise bereits Kinder erwähnt, für die von den Eltern ein Persönliches Budget beantragt wurde, um damit eine Schulbegleitung zu finanzieren. Die Kinder erhielten bereits vor der Budgetbeantragung ein Persönliches Budget, bisher wurden die Stunden für die Schulbegleitung allerdings erst am Monatsende mit dem Sozialamt abgerechnet und das Geld musste vorgestreckt werden. Zudem waren die Stunden für die Schulbegleitung stets festgelegt und ließen keine Spielräume zu. Zusätzlich benötigte Stunden mussten von den Eltern selbst bezahlt werden. Ausschlaggebend für die Beantragung eines Persönlichen Budgets war daher die Möglichkeit, das Geld zum Monatsanfang zu bekommen und Mehr- bzw. Minderbedarf flexibler handhaben zu können. Neben diesen Beispielen lässt sich eine weitere Gruppe an Budgetnehmer/ innen identifizieren, die ebenfalls „finanzielle Vorteile“ als Entscheidungskriterium für die Budgetbeantragung nannten, allerdings geht es diesen Personen um eine gefühlte (freie) Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln. Durch das Persönliche Budget können diese Personen sozusagen erstmals über Geldmittel verfügen, während sie dieser Geldbeträge im Kontext der Sachleistung nicht gewahr werden konnten. Da das Persönliche Budget jedoch keine neue Leistung ist, sondern nur eine andere Form der Leistungserbringung, sind diese Geldbeträge natürlich nicht als „zusätzliche“ Leistung zu verstehen. Vermutlich ist dieser Bezug zur Sachleistung jedoch nicht immer bekannt und scheint einige Budgetnehmer/innen zu der Annahme zu verleiten, dass durch eine Budgetbeantragung „neue“ bzw. „zusätzliche“ Geldmittel für bestimmte Aktivitäten erschlossen werden können. Auch wenn es sich in diesen Fällen um eine Fehlannahme handelt, sollen die Motivlagen dieser Budgetnehmer/innen kurz dargestellt werden, denn dieses Anliegen stellt ein in der subjektiven Wahrnehmung der befragten Personen ernstzunehmendes Motiv für die Budgetbeantragung dar, weil es diesen Personen letztendlich darum geht, relativ „frei“ über diese Geldmittel verfügen zu können:
Auf die Frage, warum er ein Persönliches Budget haben wollte, antwortete beispielsweise ein 27-jähriger Budgetnehmer mit der Formulierung „Geld zur Verfügung haben“. Eine 34-jährige Budgetnehmerin betont hierzu „das Persönliche Budget ist ‚Bares‘, was man gut gebrauchen kann“, eine 52jährige Budgetnehmerin beschreibt die Motivation zur Budgetbeantragung schlicht und einfach damit, dass sie „mehr Geld habe, um was mit Freunden zu unternehmen“ und ein 44-jähriger Budgetnehmer betont, er wäre jetzt „in der Lage (…) wichtige Dinge zu unternehmen, die [er] früher nicht finan-
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zieren konnte“. Bezug nehmend auf die prekäre finanzielle Situation betont eine 54-jährige Budgetnehmerin: „Da meine EU-Rente nicht ganz ausreicht, brauche ich das Persönliche Budget, um verschiedene Sachen zu bezahlen.“ Auch eine 69-jährige Budgetnehmerin verweist auf „finanzielle Engpässe“ und dass sie mit ihrer Rente und dem Lohn des Ehemanns „nicht auskommen“ würden, weil sie „mehr unternehmen [möchte] und etwas von [ihrem] Leben haben [will]." Ähnlich sieht dies auch ein 64-jähriger Budgetnehmer, der aus dem Persönlichen Budget die Teilnahme an Kursen oder den Eintritt für Konzerte finanziert, Dinge, die er sich „normal nicht leisten“ könne. Ein 45-jähriger Budgetnehmer beschreibt seine Situation wie folgt: „Meine finanziellen Mittel [Arbeitslosengeld II] lassen es nicht zu, dass ich am aktiven Leben teilnehmen kann. Durch das Trägerübergreifende Persönliche Budget kann ich an Freizeitaktivitäten teilnehmen und habe wieder Kontakt zu anderen Menschen.“
In anderen Fällen hängt diese wahrgenommene finanzielle Entlastung auch mit sozialrechtlichen Regelungen zusammen. So erzählt ein 38-jähriger Budgetnehmer, dass sein Antrag auf eine Pflegestufe bereits mehrfach abgelehnt wurde und er nun endlich „Geld“ habe, um seine Unterstützung selbstständig organisieren zu können („endlich Geld, um Hilfe einkaufen zu können“). Im Falle einer 53-jährigen Budgetnehmerin verhielt es sich hingegen so, dass durch den Wegfall der Pflegestufe das betreute Wohnen nicht mehr finanzierbar gewesen wäre. Die zur Verfügung stehenden Geldmittel durch die Beantragung eines Persönlichen Budgets werden entsprechend als „neue“ finanzielle Möglichkeit gedeutet, diese Wohn- und Unterstützungsform aufrecht zu erhalten. Eine besondere Gruppe sind weiterhin Budgetnehmer/innen, denen es ausdrücklich um „disponible“ bzw. „frei“ verfügbare Geldbeträge geht, die im Kontext der Sachleistung nicht in der Form hätten verwendet werden können. Zu nennen sind wiederum Beispiele von Budgetnehmer/innen, die bereits in anderen Kontexten vorgestellt wurden und einen Teil des Persönlichen Budgets für verschiedene Aktivitäten ausgeben (vgl. Kapitel 7.1.1.5). Andere Beispiele gehen in eine ähnliche Richtung. So betont etwa eine 34jährige Budgetnehmerin, die mit dem Persönlichen Budget sportliche Aktivitäten finanziert: „Das Persönliche Budget entlastet finanziell, da ich meinen Sport machen möchte“. Die finanzielle Situation sei nun „entspannter“ und sie könne „sorgloser“ Tai-Chi Kurse belegen. „Es [das Persönliche Budget] wird direkt auf das Konto überwiesen“ und sie brauche es „nicht immer einzufordern“; ferner könne sie „frei damit umgehen.“ Mittlerweile überlegt sie sogar, eine Ausbildung als Tai-Chi-Lehrerin zu absolvieren.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
7.1.1.11
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Entlastung
Ein besonderes Motiv, weil es hierbei nicht unmittelbar um die Budgetnehmer/innen selbst geht, stellt die Budgetbeantragung zum Zwecke der „Entlastung“ des sozialen Umfelds dar. Dabei geht es zwar in den meisten Fällen um eine Entlastung der Eltern, aber auch Partner/innen oder andere Angehörige sind hier mit einbegriffen. Dieses Motiv ist auch von daher eine Besonderheit, weil es auf theoretischer Ebene (vgl. Kapitel 3) so gut wie keine Rolle spielt. Sinn und Zweck der Budgetbeantragung ist implizit oder explizit eine Entlastung des sozialen Umfelds der Budgetnehmer/innen (meist der Eltern). Mit Hilfe des Persönlichen Budgets soll es beispielsweise ermöglicht werden, die Unterstützung flexibler gestalten oder auf „mehrere Schultern“ verteilen zu können. Aus diesem Grunde gibt es vielfältige Überschneidungen zu anderen Motiven, etwa zu dem Motivkomplex „Flexibilität“ (7.1.1.5), zu Verselbstständigungswünschen (7.1.1.1), zu „Individuellen Lösungen“ (7.1.1.6) und „Ersatzlösungen“ (7.1.1.7) sowie insbesondere zu den angestrebten Vereinfachungen (7.1.1.10). Was beispielsweise den Motivkomplex „Flexibilität“ betrifft, so erhoffen sich betroffene Eltern von einem Persönlichen Budget oftmals Entlastung, weil die Unterstützung auch zu „unüblichen“ Zeiten ermöglicht werden kann, etwa „eine Freizeitbegleitung auch am Wochenende“ zu gewährleisten (Mutter eines Budgetnehmers, 34 Jahre) oder die „Nachtbetreuung“ zu organisieren, weil eine Mutter berufstätig ist (alleinerziehende Mutter eines Budgetnehmers, 19 Jahre). Überschneidungen zu den „Ersatzlösungen“ gibt es beispielsweise im Falle von Eltern, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine alternative Autismustherapie realisieren können (vgl. Kapitel 7.1.1.7) und dadurch „der Sohn nicht mehr durch die Gegend gefahren werden muss, da die Therapie im häuslichen Bereich“ stattfindet (Mutter eines 6-jährigen Budgetnehmers). In anderen Fällen wird im Kontext einer als notwendig erachteten lebensphasenspezifischen Ablösung von den Eltern implizit auch auf eine Entlastung der Eltern verwiesen, etwa „Freizeitaktivitäten unabhängig von der Mutter [zu] ermöglichen, Ablöseprozess vorsichtig ein[zu]leiten, Kontakt zu Gleichaltrigen ermöglichen“ (Mutter eines Budgetnehmers, 17 Jahre). Weitere wichtige Gründe sind aber auch organisatorische Vereinfachungen wie die flexible Verwendung der Mittel. Das Entlastungsbedürfnis steht dabei im Wesentlichen mit drei verschiedenen Lebenslagen in Verbindung: Entweder handelt es sich um berufliche Gründe (z.B. unregelmäßige Arbeitszeiten der Eltern), um eine alleinerziehende Lebenssituation, oder aber um eine spezifische Überforderungssituation aufgrund anderer Faktoren, wie das folgende Beispiel zeigt: „Da mein Mann vor fünf Monaten verstorben ist und ich noch meine 91-jährige Schwiegermutter versorgen muss, bin ich froh, dass meine Tochter dadurch etwas mehr Freizeitgestaltung hat“
314
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
(Mutter einer Budgetnehmerin, 43 Jahre). Vereinzelt werden jedoch auch Motive genannt, die eher einen „Teilhabebedarf“ der Eltern vermuten lassen. So betont etwa die Mutter eines 26-jährigen Budgetnehmers, sie hätte das Persönliche Budget beantragt, um ab und zu auch mal „Freunde besuchen zu können“ oder „auf Geburtstage gehen zu können“. Die Entlastung wird dabei nicht nur über eine direkte Nutzung von (professionellen) Dienstleistern realisiert, es kommt auch vor, dass mit dem Persönlichen Budget eine bisher unentgeltliche und informelle Unterstützung finanziert und damit auch aufrechterhalten wird, z.B. indem sich die Eltern durch über das Budget finanzierte Gefälligkeiten und „Geschenke“ erkenntlich zeigen: „…dass Freunde, Bekannte mal einspringen können (…), im Bekanntenkreis gibt es Leute, die sich mit der Krankheit auskennen. Bekannte wollen oft kein Geld, die lad ich dann mal zum Essen ein oder man bezahlt denen was, z.B. Ausstellungsbesuche (…)“ (Mutter eines Budgetnehmers, 23 Jahre).
In diesen Beispielen wird deutlich, dass es im Grunde um eine Motivlage der Eltern geht; es ist jedoch nicht ersichtlich, ob dieses Motiv auch von den betreffenden Budgetnehmer/innen getragen wird.112 Zudem muss angenommen werden, dass eher die Eltern die Initiatoren der Budgetbeantragung waren. Dennoch lassen sich auch Beispiele finden, in denen durchaus der von Seiten der Budgetnehmenden formulierten Wunsch nach einer Entlastung von Angehörigen eine Rolle spielt, wie der folgende Auszug aus einem Interview mit einer 33-jährigen Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung zeigt: „… weil ich schon manchmal gesagt habe, meinen Eltern ist das auch zu viel, die ganze Hin- und Herfahrerei. Weil ich bin halt ein sehr mobiler Mensch. Ich bin halt sehr gerne unterwegs.“
Ähnlich formuliert dies auch eine ebenfalls 33-jährige Budgetnehmerin mit einer kognitiven Beeinträchtigung: „…meine Eltern haben nicht immer Zeit und ich brauche immer Betreuung, kann mich nicht alleine orientieren. Jetzt habe ich eine bezahlte Person, eine Freundin, mit der ich was unternehmen kann, Disko oder so…“
112 Erschwerend kommt hinzu, dass die jeweiligen Interviews ausschließlich mit den Angehörigen bzw. den Eltern geführt wurden, weil es sich in den meisten Fällen um Kinder oder um Jugendliche mit einer komplexen Mehrfachbehinderung und entsprechenden kognitiv-kommunikativen Einschränkungen handelt. Gleiches kann auch hinsichtlich der ausgefüllten schriftlichen Fragebögen vermutet werden.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
7.1.1.12
315
Initiative Anderer
Einzelne Budgetnehmer/innen konnten keine entsprechenden Motive benennen, aus denen eindeutig hervorgeht, warum sie das Persönliche Budget haben wollten. Im Gegenzug berichteten diese Personen eher davon, dass sie das Budget auf Anraten anderer (z.B. ihrer gesetzlichen Betreuer/innen) beantragt haben: „Mein Betreuer meinte, dass es besser und flexibler für mich wäre und mehr Möglichkeiten gebe, das Geld für Hilfen zu planen“ (Budgetnehmer, 28 Jahre).
In den meisten dieser Fälle wurde von den Budgetnehmer/innen darauf verwiesen, dass die Budgetbeantragung von den gesetzlichen Betreuer/innen ausging und es eher auf das „Interesse“ (Budgetnehmer, 45 Jahre), den „Vorschlag“ (Budgetnehmerin, 79 Jahre; Budgetnehmerin 24 Jahre) bzw. die „Initiative“ (Budgetnehmer, 26 Jahre) der gesetzlichen Betreuer/innen zurückzuführen ist, dass sie nun ein Persönliches Budget hätten. Deutlich kommt dies auch zum Ausdruck in der folgenden Aussage eines 30-jährigen Budgetnehmers: „Eigentlich war es der Wunsch meines Betreuers, der darauf bestand“.
Andere Akteure, die den Budgetnehmer/innen die Beantragung eines Persönlichen Budgets nahegelegt bzw. angeraten hatten, sind Angehörige und Kostenträger. So betonte ein 45-jähriger Budgetnehmer, dass er das Persönliche Budget ursprünglich gar nicht wollte und die Beantragung letztendlich auf seine Schwester zurückgeht: „Ich wollte es nicht. Meine Schwester hat mich dazu genötigt“ (Budgetnehmer, 45-Jahre). Andere Personen berichteten hingegen, dass ihnen das Budget vom Kostenträger quasi „aufgedrängt“ wurde, wie auch die Aussage eines 27-jährigen Budgetnehmers verdeutlicht: „Das Bezirksamt ließ mir gar keine Wahl. Man sagte mir, dass das Persönliche Budget in der Erprobungsphase sei und ich das bekommen würde“. Auch die Aussage einer 53-jährigen Budgetnehmerin verdeutlicht diesen Einfluss der Kostenträger: „Ich wollte das Persönliche Budget gar nicht haben. Beim Antrag der Finanzierung meiner Assistenz wurde mir das Budget von meinem Sozialhilfeträger ‚übergeholfen‘.“
7.1.2 Quantitative Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung – Ergebnisse der statistischen Auswertungen Nach erfolgter Kodierung können die dargestellten Motive in einem zweiten Schritt einer quantitativen Auswertung zugänglich gemacht werden, indem für
316
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
jedes einzelne Motiv eine dichotome Variable („Motiv genannt“, „Motiv nicht genannt“) konstruiert wird. Jeder einzelnen Befragungsperson wird dann zu jedem in der qualitativen Analyse gefundenen Motiv die entsprechende Ausprägung zugeordnet, je nach dem, ob das Motiv genannt wurde oder nicht (Motiv genannt=1, Motiv nicht genannt=0). Ergebnis ist ein dichotomes Mehrfachantwortenset, mit dem einerseits eine einfache Häufigkeitsauszählung sowie andererseits eine multivariate Analyse über die verschiedenen Motive hinweg vorgenommen werden können. In den nachfolgenden Unterkapiteln soll zunächst die Häufigkeitsverteilung der einzelnen Motive genauer betrachtet und dargestellt werden, d.h. wie häufig ein bestimmtes Motiv insgesamt genannt wurde. Dazu werden die Häufigkeiten entlang der qualitativ gebildeten Motivkomplexe dargestellt. Anschließend sollen die quantifizierten Motive einer Faktorenanalyse unterzogen werden, um Zusammenhänge zwischen den einzelnen Motiven aufdecken zu können und so die Vielfalt der gefundenen Motive zu reduzieren und in Faktoren zusammenzufassen. Die dadurch gewonnenen Faktoren sind gleichzeitig erste Hinweise für die nachfolgende Typologie der Budgetnutzung. Die faktorenanalytische Lösung ermöglicht es jedoch nicht, die Befragungspersonen zu Gruppen zusammenzufassen, da Sinn und Zweck der Faktorenanalyse nicht in der fallspezifischen, sondern in einer merkmalsbezogenen Zusammenfassung besteht, d.h. die Faktorenanalyse liefert Informationen darüber, welche Motive häufig in Kombination miteinander genannt werden, aber nicht, welche Fälle zueinander ähnlich sind. Allerdings kann die Faktorenanalyse dazu genutzt werden, jedem einzelnen Fall einen sogenannten Faktorenwert zuzuordnen, der angibt, wie stark bzw. schwach die extrahierten Faktoren bei den einzelnen Fällen ausgeprägt sind (vgl. dazu Bortz 2005, 519; Bühl, Zöfel 2000, 456). Diese Werte können wiederum dafür genutzt werden, eine Clusteranalyse durchzuführen, um so auch fallbezogene Zusammenfassungen vornehmen zu können. Ziel der Clusteranalyse ist es schließlich, diejenigen Fälle zusammenzufassen, die sich hinsichtlich der Nennung verschiedener Motive als ähnlich erweisen. Die dadurch gefundenen „Cluster“ werden daraufhin als „Typen“ ausgewiesen und in ihrem jeweiligen quantitativen Gewicht dargestellt. Den Abschluss bildet schließlich eine Gegenüberstellung der gefundenen Typen mit diversen personenspezifischen Variablen (Alter, Geschlecht, Art der Behinderung), um weiterführende Hinweise auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erhalten. 7.1.2.1 Häufigkeit der qualitativ gebildeten Beantragungsmotive Insgesamt wurde die Frage nach den Motiven und Beweggründen der Budgetbeantragung von 193 Personen beantwortet; in 3 Fällen fehlen Angaben hierzu. Folgende Häufigkeiten einzelner Motive können identifiziert werden:
317
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
Anzahl Nennungen
Anteil an allen Befragten (n=193)
Selbstständigkeit
83
43,0%
Selbstbestimmung
50
25,9%
Unabhängigkeit
48
24,9%
Einflussnahme
23
11,9%
Flexibilität
85
44,0%
Individuelle Lösung
59
30,6%
Ersatzlösung
25
13,0%
Soziale Beziehungen
61
31,6%
Versorgungssicherheit
82
42,5%
Vereinfachung
32
16,6%
Entlastung
30
15,5%
Initiative Anderer
9
4,7%
Motive
Tabelle 15: Häufigkeit der genannten Motive zur Budgetbeantragung (n=193; fehlende Angaben: 3; Mehrfachantworten) Die Häufigkeitsauszählung verdeutlicht, dass die am häufigsten genannten Motive der Wunsch nach einer flexible(re)n Gestaltung der Hilfen, nach einer selbstständigen Lebensführung sowie nach einer Sicherstellung der Versorgung sind. Jeweils über 40% aller befragten Personen beantragten aus diesen Gründen (neben anderen Motiven) ein Persönliches Budget. In etwa einem Drittel der Fälle spielten ferner die Themen soziale Beziehungen sowie individuelle und passende Hilfen eine Rolle bei der Budgetbeantragung und etwa ein Viertel der befragten Budgetnehmer/innen benannten Selbstbestimmung und Unabhängigkeit als handlungsleitende Motive. Die restlichen Motive wurden hingegen vergleichsweise selten genannt. Insgesamt zeigt sich deutlich, dass Flexibilität, selbstständige Lebensführung, Sicherheit, individuelle Hilfen und soziale Beziehungen die tragenden Säulen der Budgetbeantragung darstellen. Die insbesondere auf theoretischer Ebene als zentrale Aspekte der Budgetnutzung herausgestellten Themen Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Einflussnahme (d.h. Kundenbewusstsein) spielen hingegen eine vergleichbar geringere Rolle. 7.1.2.2 Zusammenhänge zwischen den gefundenen Motiven – Ergebnisse der Faktorenanalyse Der Clusteranalyse wird zunächst eine explorative Faktorenanalyse vorgeschaltet, weil die Faktorenanalyse wichtige Hinweise über Zusammenhänge zwischen
318
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
den einzelnen Motiven liefert. Das Vorschalten einer Faktorenanalyse wird aber auch aus anderen Gründen empfohlen: Zum einen eignet sich eine faktorenanalytische Vorgehensweise vor allem dann, wenn der Ausgangsdatensatz aus einer relativ große Anzahl an Variablen besteht. Mit Hilfe einer Faktorenanalyse kann diese Anzahl an Variablen dann auf wenige Faktoren reduziert werden (vgl. Bühl, Zöfel 2000, 482). Zweitens wird eine Faktorenanalyse angeraten, wenn die Ursprungsvariablen hoch korrelieren und damit die Ergebnisse der Clusteranalyse verzerren würden. Dann ermöglicht eine Faktorenanalyse, dass die Clusteranalyse auf Basis von unabhängigen Faktoren durchgeführt werden kann (vgl. Backhaus u.a. 2000, 381). Drittens empfiehlt es sich, die Clusteranalyse mit einer Faktorenanalyse zu kombinieren, wenn davon auszugehen ist, dass sich die gefundenen Faktoren auch in der Clusterlösung wiederfinden lassen (vgl. Bortz 2005, 569). Alle drei Punkte können im vorliegenden Fall angenommen werden. Eine Faktorenanalyse „ist ein Verfahren, das eine größere Anzahl von Variablen anhand der gegebenen Fälle auf eine kleinere Anzahl unabhängiger Einflussgrößen, Faktoren genannt, zurückführt. Dabei werden diejenigen Variablen, die untereinander stark korrelieren, zu einem Faktor zusammengefasst“ (Bühl, Zöfel 2000, 451). Vom methodologischen Standpunkt aus gesehen, ist eine Faktorenanalyse besonders hilfreich, „Strukturen in einem empirischen Datensatz zu erkennen“ (Backhaus u.a. 2000, 320). Demnach ist sie ein geeignetes Verfahren, wenn noch keine konkreten Vorannahmen oder Informationen über den Zusammenhang zwischen den Untersuchungsvariablen vorliegen. In diesem Verständnis erfüllt sie eher eine hypothesengenerierende bzw. explorative Funktion und ist damit ein „Analyseinstrument zur Aufdeckung unbekannter Strukturen“ (ebd.; vgl. ebenso Bortz 2005, 511). Ausgangspunkt einer Faktorenanalyse ist stets die Korrelation zwischen den einbezogenen Variablen, im vorliegenden Fall also die verschiedenen Korrelationen zwischen den Motiven. Dabei zeigt die Korrelationsmatrix zunächst folgende signifikanten Korrelationen (bei p<0,01): Besonders hoch – d.h. mit Werten über 0,5 – korrelieren die beiden Motive „Selbstständigkeit“ und „Versorgungssicherheit“ (0,65), die Motive „Selbstbestimmung“ und „Flexibilität“ (0,57), „Selbstbestimmung“ und „Unabhängigkeit“ (0,54) sowie die Motive „Ersatzlösung“ und „Vereinfachung“ (0,53) und „Entlastung“ und „Vereinfachung“ (0,50). Hohe Korrelationen lassen sich ferner zwischen den Motiven „Unabhängigkeit“ und „Flexibilität“ (0,45), „individuelle Lösungen“ und „soziale Beziehungen“ (0,44), „Entlastung“ und „Ersatzlösung“ (0,43) sowie „Selbstbestimmung“ und „Einflussnahme“ (0,40) finden. Daneben gibt es noch weitere schwächere aber ebenfalls signifikante Korrelationen, etwa zwischen den Motiven „Unabhängigkeit“ und „Einflussnahme“ (0,38) oder „Einflussnahme“ und „Flexibilität“ (0,32). Keine Korrelationen lassen sich hingegen zu dem Motiv „Initiative Anderer“ finden, was allerdings der Sache nach auch naheliegend ist.
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
319
Einen Hinweis auf die Güte einer faktorenanalytischen Lösung gibt das Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium. Dieses Kriterium wird in der Literatur gemeinhin als geeignete Prüfgröße beschrieben, um eine Entscheidung für oder gegen eine faktorenanalytische Lösung treffen zu können. Der Wertebereich dieses Kriteriums liegt zwischen 0 und 1 und zur Beurteilung der Eignung der Ausgangsdaten für eine Faktorenanalyse wird ein Wert von mindestens 0,5 vorgeschlagen. Werte zwischen 0,5 und 0,6 werden noch als „kläglich“ bezeichnet, während Werte zwischen 0,6 und 0,7 als „mittelmäßig“ und Werte zwischen 0,7 und 0,8 als „gut“ charakterisiert werden (vgl. Backhaus u.a. 2000, 269). Im vorliegenden Fall wird ein Wert von 0,712 erreicht, so dass der Datensatz als durchaus „geeignet“ für eine faktorenanalytische Betrachtung angesehen werden kann. Für die Durchführung der Faktorenanalyse wurde als Extraktionsmethode die Hauptkomponentenanalyse und zur Rotation der gefundenen Lösung die Varimax-Methode verwendet, weil diese in der Literatur als die „gebräuchlichsten“ Methode empfohlen werden (etwa Backhaus u.a. 2000, 284ff. sowie 293; Bühl, Zöfel 2000, 451). Demnach lassen sich vier Faktoren extrahieren, die zusammen 68% der Varianz erklären.113 Zusätzlich zu diesen vier Faktoren bildet das Motiv „Initiative Anderer“ ein eigenständiges „Motiv“, das in einer negativ korrelierenden Beziehung zu den vier Faktoren steht.114 Die dargestellten Motive verteilen sich wie folgt auf die gefundenen Faktoren:
113 Die rechnerische Ausweisung von vier Faktoren erfolgte über das sogenannte Kaiser-Krierium, welches die Zahl der zu extrahierenden Faktoren an der Anzahl der Faktoren mit einem Eigenwert größer als eins festmacht (vgl. dazu Backhaus u.a. 2000, 288). Diese rechnerische Bestimmung der Anzahl der Faktoren wurde zudem mit der grafischen Darstellung in einem Screeplot verglichen (zur Verwendung von Screeplots zur Bestimmung der geeigneten Anzahl an Faktoren siehe auch Backhaus u.a. 2000, 289f.; Bühl, Zöfel 2000, 466f.). Auch in diesem Fall werden eindeutig vier Faktoren ausgewiesen. 114 Das Motiv „Initiative Anderer“ hat der Sache nach keine Überschneidungen zu den anderen Motiven und stellt streng genommen auch kein wirkliches Motiv dar. Dennoch wurde es nicht aus der Faktorenanalyse ausgeschlossen, um auch für diese Fälle Faktorenwerte erhalten zu können. Dadurch ist es gewährleistet, dass alle 193 Personen auch in die Clusteranalyse einbezogen werden können. Würde man jedoch dieses Motiv aus der Faktorenanalyse ausklammern, erhöht sich die Qualität der faktorenanalytischen Lösung nochmals (Kaiser-Meyer-OlkinKriterium = 0,724).
320
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Faktoren
Motive 1
2
3
4
Selbstbestimmung
,812
-,198
-,002
-,041
Flexibilität
,778
,059
,106
-,001
Unabhängigkeit
,744
-,082
,174
-,091
Einflussnahme
,662
-,071
-,268
-,064
Vereinfachung
-,071
,819
-,014
-,021
Ersatzlösung
-,170
,782
-,215
,016
Entlastung
-,008
,781
,148
-,154
Individuelle Lösungen
-,043
-,051
,826
-,014
Soziale Beziehungen
,075
-,002
,820
-,035
Selbstständigkeit
-,287
-,319
-,293
,707
Versorgungssicherheit
-,446
-,313
-,102
,686
Initiative Anderer
-,311
-,270
-,253
-,777
Tabelle 16: Faktorenlösung mit 4 extrahierten Faktoren (n=193; fehlende Angaben: 3) Gemäß dieser Faktorenlösung bilden die Motive „Selbstbestimmung“, „Flexibilität“, „Unabhängigkeit“ und „Einflussnahme“ einen gemeinsamen Faktor. Der zweite Faktor besteht aus den Motiven „Vereinfachung“, „Ersatzlösung“ und „Entlastung“. Zu einem dritten Faktor lassen sich hingegen die Motive „individuelle Lösungen“ und „soziale Beziehungen“ zusammenfassen und der vierte Faktor konstituiert sich aus den Motiven „Selbstständigkeit“ und „Versorgungssicherheit“. Negativ zu diesen vier Faktoren setzt sich hingegen das Motiv „Initiative Anderer“ ab. Auf Basis dieser Faktoren werden schließlich die jeweils relevanten Faktorenwerte errechnet und für jede einzelne Befragungspersonen in vier neuen Variablen ausgewiesen. Sinn und Zweck dieser Faktorenwerte ist es, jedem einzelnen Fall entsprechende Werte für die gefundenen Faktoren zuzuordnen, d.h. die Ausprägung der Faktoren bei allen Untersuchungsobjekten zu bestimmen. Dazu wird für jedes einzelne Untersuchungsobjekt ein Faktorenwert pro Faktor berechnet (vgl. Backhaus u.a. 2000, 295ff.; Bühl, Zöfel 2000, 456). Mit Hilfe dieser Faktorenwerte ist schließlich ersichtlich, wie stark die gefundenen vier Faktoren bei jedem einzelnen Untersuchungsobjekt (n=193) ausgeprägt sind. Diese Werte ermöglichen wiederum eine Clusteranalyse auf Basis von Distanzmaßen, da die Faktorenwerte als metrische Daten – in diesem Fall als inter-
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
321
vallskalierte Daten – in einem Bereich von in der Regel –3 und +3 vorliegen (vgl. Bühl, Zöfel 2000, 456).
7.1.2.3
Motivtypen – Ergebnisse der Clusteranalyse
Zusätzlich zu den mit Hilfe der Faktorenanalyse zusammengefassten Kombinationen von Motiven der Budgetbeantragung, soll im Folgenden versucht werden, diese Antwortmuster und -kombinationen auch auf der Ebene der Befragungspersonen zu quantifizieren. Dies gelingt mittels einer clusteranalytischen Vorgehensweise. Die Clusteranalyse stellt hierbei einen Versuch dar, die einzelnen Befragungspersonen in sogenannten Clustern zusammenzufassen und abzubilden. Ziel der nachfolgenden Analyse ist es, auf Basis der gefundenen Faktoren eine (erste) Typologie zu entwickeln, die sich auf die Zusammenhänge der genannten Motive stützt („Motivtypen“). Diese „Motivtypen“ werden dann später (Kapitel 7.2) den Ergebnissen der Budgetverwendung gegenübergestellt. Die Clusteranalyse ist ein Verfahren, mit dem die Untersuchungsobjekte so gruppiert werden, „dass die Unterschiede zwischen den Objekten einer Gruppe bzw. eines ‚Clusters‘ möglichst gering und die Unterschiede zwischen den Clustern möglichst groß sind“ (Bortz 2005, 565). Im vorliegenden Fall wird daher der Frage nachgegangen, welche Personen sich hinsichtlich der herausgefundenen Motivkombinationen „ähnlich“ sind und sich gleichzeitig von Personen mit anderen Motivkombinationen unterscheiden. Ähnlichkeit wird dabei verstanden als eine Ähnlichkeit hinsichtlich bestimmter Merkmale (in diesem Fall hinsichtlich der genannten Motive). Dabei werden also diejenigen Untersuchungsobjekte zu Gruppen zusammengefasst, die auf ausgewählte Fragen gleiche oder ähnliche Antworten geben. Die Clusteranalyse „misst“ diese Ähnlichkeit aber immer auch in Abgrenzung zu anderen Objekten, d.h. inwiefern bestimmte Untersuchungsobjekte (in diesem Fall Befragungspersonen) ähnliche Antworten abgeben und sich dadurch auch gleichzeitig von dem Antwortverhalten anderer Objekte unterscheiden. Um eine solche Gruppenbildung sinnvoll vornehmen zu können, muss jedoch im Vorfeld entschieden werden, welche Verfahren sowohl zur Ähnlichkeitsmessung als auch zur Gruppierung der Objekte verwendet werden sollen. Diese Überlegungen zur Verfahrensanwendung ergeben sich dabei aufgrund datenspezifischer Fragen. Auch in der nachfolgenden Analyse muss daher begründet entschieden werden, welchen Verfahren die Clusteranalyse folgt. Dabei gilt es zu beachten, welche Datenstruktur der Auswertung zugrunde liegt:
322
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Verfahren zur Ähnlichkeitsmessung Je nach Skalierung der Daten sind unterschiedliche Proximitätsmaße zu verwenden. Dabei liegen die hier zu analysierenden Daten im Falle der kodierten Motive als nominale bzw. binäre Daten (ja=1; nein=0) und im Falle der Ergebnisse der Faktorenanalyse als metrische bzw. intervallskalierte Daten (-3 bis +3) vor. Für binäre Daten können nach Backhaus u.a. (2000, 332f.) nur bestimmte Proximitätsmaße verwendet werden (Tanimoto-Koeffizient, RR-Koeffizient, MKoeffizient, Dice-Koeffizient, Kulczynski-Koeffizient). In diesem Fall wird die Ähnlichkeit zwischen Fällen über sogenannte Ähnlichkeitsmaße berechnet. Der Wert des jeweiligen Ähnlichkeitsmaßes gibt dann die Stärke der Ähnlichkeit an. Generell gilt: „Je größer der Wert eines Ähnlichkeitsmaßes wird, desto ähnlicher sind sich zwei Objekte“ (Backhaus u.a. 2000, 332). Binäre Daten sind dabei so aufgebaut, dass es für jedes Merkmal nur zwei Werte gibt; so beschreibt der Wert „1“ das Vorliegen der Eigenschaft, während der Wert „0“ das Nichtvorhandensein der Eigenschaft bedeutet. Logischerweise sind sich dann Objekte ähnlich, die hinsichtlich einer zu beobachtenden Anzahl an Merkmalen den Wert „1“ gemeinsam haben. Das Gleiche gilt jedoch auch für den Wert „0“. Bei der Berechnung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit muss daher immer auch bedacht werden, dass das gleichzeitige Nichtvorhandensein eines Merkmals (also der Wert „0“) ebenfalls als Ähnlichkeit interpretiert wird und zu einer entsprechenden Gruppenzuordnung führt. Das gemeinsame Nichtbesitzen einer bestimmten Eigenschaft wird daher als Übereinstimmung interpretiert und kann mitunter zu erheblichen Verzerrungen führen. Im Falle binärer Daten ist daher – je nach Fragestellung und Untersuchungsziel115 – immer auch zu entscheiden, ob das Nichtvorhandensein einer Eigenschaft als Merkmal der Gruppenzugehörigkeit gewertet werden kann und ob man – je nach Koeffizient116 – den gemeinsamen Nichtbesitz einer Eigenschaft mit in die Berechnung der Ähnlichkeit einbeziehen möchte. In vorliegendem Fall kann allerdings nicht immer mit Gewissheit davon ausgegangen werden, dass das Nichtbenennen eines Motivs zwangsläufig auch bedeutet, dass dieses Motiv überhaupt keine Rolle spielt; möglicherweise wurde es schlichtweg nicht genannt. Da demnach der Wert „0“ nicht automatisch bedeutet, dass ein 115 In bestimmten Fällen kann es durchaus sinnvoll sein, das gemeinsame Nichtvorhandensein einer Eigenschaft als Ähnlichkeit zu interpretieren. Dies trifft vor allem auf Untersuchungen zu, bei denen man mit Gewissheit davon ausgehen kann, dass das Nichtbenennen eines Merkmals (d.h. ein „nein“ bzw. in der binären Logik der Wert „0“) in jedem Fall auch bedeutet, dass dieses Merkmal wirklich nicht vorhanden ist – im Grunde also nur bei sich gegenseitig ausschließenden Alternativen wie beispielsweise dem Merkmal Geschlecht (vgl. Backhaus u.a. 2000, 338). 116 Eine Ausnahme stellt hier der Tanimoto-Koeffizient (auch Jaccard- oder S-Koeffizient genannt) dar, weil in der Verwendung dieses Ähnlichkeitsmaßes das Nichtvorhandensein eines Merkmals unberücksichtigt bleibt (vgl. Backhaus u.a. 2000, 334ff.; Bortz 2005, 567).
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
323
bestimmtes Motiv nicht vorliegt, soll von einer Auswertung der binär vorliegenden Daten abgesehen werden. Im Falle von metrisch skalierten Daten (in diesem Fall die vorab generierten Faktorenwerte) verwendet man zur Ähnlichkeitsmessung sogenannte Distanzmaße, d.h. „Objekte bezeichnet man als sehr ähnlich, wenn ihre Distanz sehr klein ist“ (Backhaus u.a. 2000, 340). Dies bedeutet auf der anderen Seite, dass sich zwei Objekte mit steigender Distanz unähnlich sind. Zur Berechnung der Distanzwerte wird die Euklidische Distanz als auch die quadrierte Euklidische Distanz empfohlen, wobei insbesondere die quadrierte Euklidische Distanz für einige Verfahren zur Clusterbildung – auch für das in der vorliegenden Clusteranalyse verwendete Ward-Verfahren – vorausgesetzt wird (vgl. dazu Backhaus u.a. 2000, 342). Da mit Hilfe der Faktorenanalyse für jede Untersuchungseinheit jeweils metrisch skalierte Faktorenwerte für die extrahierten Faktoren errechnet wurden, können diese Werte für eine nachfolgende Clusteranalyse genutzt werden. Gruppierungsverfahren Als Gruppierungsverfahren wurde weiterhin eine hierarchische, agglomerativen Clusteranalyse gewählt, da eine wesentliche Anforderung der vorliegenden Typenbildung auch darin besteht, die Anzahl der Cluster bestimmen zu können. Dabei werden schrittweise Fälle zu Clustern zusammengefasst, wobei am Anfang jeder einzelne Fall sozusagen ein eigenständiges Cluster darstellt. Die Zusammenfassung läuft dann so ab, dass nach und nach ähnliche Fälle zu Clustern fusioniert werden bzw. die verbleibenden Fälle den bestehenden Clustern zugeordnet werden. Am Ende der Zusammenfassung sind dann alle Fälle in einem Cluster integriert und auf Basis der Agglomerationstabelle und/oder eines Dendogramms kann dann entschieden werden, wie viele Cluster die Lösung enthalten soll. In der Agglomerationstabelle wird die günstigste Anzahl der Cluster beispielsweise an der Stelle sichtbar, wo sich das verwendete Abstandsmaß „sprunghaft“ erhöht, d.h. es werden nur noch sehr weit voneinander entfernt liegende Cluster fusioniert (vgl. dazu Backhaus u.a. 2000, 375; Bühl, Zöfel 2000, 474ff.). Zur Clusterbildung wurde das sogenannte Ward-Verfahren verwendet. Das Ward-Verfahren beruht auf Distanzmaßen (im vorliegenden Fall wurde die quadrierte Euklidische Distanz verwendet117) und wird in der Literatur vielfach als „bewährtes“ Verfahren besonders hervorgehoben und als geeignet zum Generie117 Für das in der Literatur empfohlene und auch in der Praxis häufig angewendete „WardVerfahren“ wird geraten, Distanzmaße als Basis der Gruppierung zu verwenden. Diese erfordern jedoch mindestens binäre oder im besten Falle metrisch skalierte Daten (vgl. Backhaus u.a. 2000, 354, Bortz 2005, 575). Zwar liegen die Daten in dem hier verwendeten Datensatz bereits als binäre Daten vor, allerdings ermöglicht es die vorangestellte Faktorenanalyse, die binären Daten in metrisch skalierte Daten umzuwandeln, indem für jeden einzelnen Fall Faktorenwerte extrahiert wurden.
324
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
ren von Anfangspartitionen beschrieben (vgl. beispielsweise Bortz 2005, 575). Ein wesentlicher Vorteil des Ward-Verfahrens ist zudem, dass homogene, möglichst gleich große Gruppen gebildet werden (vgl. Backhaus u.a. 2000, 359ff.). Ergebnisse der Clusteranalyse Insgesamt entsprechen die gefundenen Cluster inhaltlich den oben genannten Faktoren. Analog zur beschriebenen Faktorenlösung legt auch die Clusteranalyse fünf Gruppierungen nahe: vier zusammengefasste Cluster sowie eine weitere „Restgruppe“, bestehend aus Personen, die kein eigenes Motiv benannt und das Persönliche Budget aufgrund der „Initiative Anderer“ beantragt haben.118 Genau genommen kann man im Falle dieser Restgruppe nicht von einem Cluster sprechen, da diese Gruppe nur die Initiative Anderer als Grund der Budgetbeantragung angegeben hatte und keine weiteren Motive zusammengefasst werden konnten. Die Restgruppe kann daher auch nicht als eigenständiger Typus begriffen werden, weil sie das Kriterium „Kombination von Merkmalen“, welches für den Typusbegriff konstitutiv ist, nicht erfüllt (vgl. dazu Kapitel 6.1). Die gefundene Clusterlösung wird schließlich als neue Variable gespeichert, in der jeder einzelne Fall einem der vier Cluster bzw. der Restgruppe zugeordnet ist. Auf Basis dieser neuen Variable können nun auch bivariate Analysen mit ausgewählten Merkmalen vorgenommen werden. Im Folgenden werden die vier zusammengefassten Cluster einschließlich der genannten Restgruppe zunächst in ihrer quantitativen Verteilung und in Bezug auf die einzelnen Motive in Form einer Kreuztabelle dargestellt (vgl. Tabelle 17). Dabei können die Prozentwerte des jeweiligen Anteils an Personen auf die Zeilen sowie auf die Spalten prozentuiert werden. Im ersten Fall beziehen sich die jeweiligen Prozentwerte auf die Zeilenrandhäufigkeiten, d.h. auf die Motive. Diese Randhäufigkeiten repräsentieren die bereits oben dargestellte Häufigkeit der Motivnennungen und prozentuiert wird auf die Gesamtzahl der Personen, die ein bestimmtes Motiv genannt haben (repräsentiert in der letzten Spalte). Somit kann abgebildet werden, wie sich die Gesamtzahl der Personen, die ein bestimmtes Motiv benannt haben, über die einzelnen Cluster hinweg verteilt. Im zweiten Fall beziehen sich die Prozentwerte hingegen auf die Spalten, d.h. auf die Cluster. Die betreffenden Randhäufigkeiten sind in der letzten Zeile zu finden und beschreiben die Größe der Cluster. Die auf diese Spaltenrandhäufigkeiten prozentuierten Werte verdeutlichen dabei die quantitative Verteilung der Motive innerhalb der gebilde118 Die Anzahl der Cluster kann einerseits aus der Agglomerations-Tabelle abgeleitet werden, andererseits eignet sich das sogenannte Dendogramm als Entscheidungsgrundlage für die Anzahl der interpretierfähigen Cluster (vgl. etwa Backhaus u.a. 2000, 353ff.). In beiden Fällen wird ersichtlich, dass es sich in der vorliegenden Zusammenfassung um fünf Gruppen, d.h. vier zusammengefasste Cluster sowie eine Restgruppe („Initiative Anderer“) handelt.
325
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
ten Cluster. Mit dieser Lesart können sozusagen der Stellenwert und das Gewicht der einzelnen Motive in jedem Cluster bestimmt werden, d.h. welche Motive in welchem Cluster überproportional häufig vorkommen.119 Gruppen Motive
Restgruppe
Zusammengefasste Motive (Cluster)
Gesamt
1
2
3
4
5
Selbstständigkeit*
60 (72%) (83%)
10 (12%) (21%)
13 (16%) (28%)
-
-
83 (100%) (43%)
Versorgungssicherheit*
65 (79%) (90%)
13 (16%) (28%)
4 (5%) (9%)
-
-
82 (100%) (43%)
Individuelle gen*
12 (20%) (17%)
41 (70%) (87%)
3 (5%) (7%)
3 (5%) (16%)
-
59 (100%) (31%)
10 (16%) (14%)
42 (69%) (89%)
7 (12%) (15%)
2 (3%) (11%)
-
61 (100%) (32%)
Selbstbestimmung*
-
14 (28%) (30%)
36 (72%) (78%)
-
-
50 (100%) (26%)
Unabhängigkeit*
-
19 (40%) (40%)
28 (58%) (61%)
1 (2%) (5%)
-
48 (100%) (25%)
9 (11%) (13%)
27 (32%) (57%)
42 (49%) (91%)
7 (8%) (37%)
-
85 (100%) (44%)
-
-
22 (96%) (48%)
1 (4%) (5%)
-
23 (100%) (12%)
Soziale gen*
Lösun-
Beziehun-
Flexibilität*
Einflussnahme*
119 Zusätzlich wurden die einzelnen Häufigkeitsverteilungen auch auf Signifikanz getestet und bezüglich diverser Zusammenhangsmaße untersucht. Dabei zeigt sich, dass sämtliche Verteilungen mit p<0,01 signifikant sind. Die Verwendung von Zusammenhangsmaßen für nominale Daten (Phi, Cramer’s V, Kontingenzkoeffizient) zeigt zudem hohe Zusammenhangswerte zwischen den einzelnen Motiven und den gefundenen Clustern (zwischen 0,51 und 0,77).
326
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Vereinfachung*
7 (22%) (10%)
6 (19%) (13%)
2 (6%) (4%)
17 (53%) (90%)
-
32 (100%) (17%)
Ersatzlösung*
7 (28%) (10%)
1 (4%) (2%)
-
17 (68%) (90%)
-
25 (100%) (13%)
Entlastung*
1 (3%) (1%)
11 (37%) (23%)
2 (7%) (4%)
16 (53%) (84%)
-
30 (100%) (16%)
-
-
-
-
9 (100%) (100%)
9 (100%) (5%)
72 (37%) (100%)
47 (24%) (100%)
46 (24%) (100%)
19 (10%) (100%)
9 (5%) (100%)
193 (100%) (100%)
Initiative Anderer*
Gesamt
* signifikant mit p<0,001; Phi/Cramers V/Kontingenzkoeffizient > 0,5
Tabelle 17: Quantitative Verteilung der Cluster und Bezug zu den Motiven (n=193; Mehrfachnennungen; Werte über oder unter 100% durch Rundungsfehler) Die identifizierten Cluster können auch mit den Ergebnissen anderer Clusterverfahren verglichen werden, um die Güte der gefundenen Clusterlösung zu untermauern. Zum Vergleich wurden noch drei weitere Clusteranalysen vorgenommen:
In einer zweiten Clusteranalyse wurde nochmals das Ward-Verfahren verwendet, allerdings direkt auf die binären Ursprungsdaten (Motive) bezogen und nicht auf die Faktorenwerte der vorgeschalteten Faktorenanalyse.120 Die dritte Clusteranalyse wurde mit Hilfe des Tanimoto-Koeffizienten121 für nominal skalierte Daten durchgeführt. Zur Clusterung wurde das Average Linkage – Verfahren122 verwendet.
120 Da es sich bei den kategorisierten Motiven um binäre Daten (d.h. um Werte zwischen 0-1) handelt, kann das Ward-Verfahren auch auf diese Variablen angewendet werden. Hintergrund dessen ist, dass binäre Daten auch als metrische Daten behandelt werden können, da es sich um einen Wertebereich zwischen 0 und 1 handelt. Entsprechend wird auch in der Literatur darauf hingewiesen, dass das Ward-Verfahren sowohl auf metrische als auch auf binäre Daten angewendet werden kann (vgl. Bortz 2005, 575). 121 Der Tanimoto-Koeffizient, auch Jaccard- bzw. S-Koeffizient genannt, eignet sich für binäre Daten vor allem dann, wenn das Nichtvorhandensein einer Eigenschaft – in diesem Falle das Nichtbenennen eines Motivs bzw. der Wert „0“ – nicht als Indiz für Ähnlichkeit gewertet werden soll (vgl. Backhaus u.a. 2000, 334ff.).
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
327
Als Viertes sollte dann noch eine Clusteranalyse mittels des Average Linkage – Verfahrens vorgenommen werden, in diesem Fall jedoch wiederum bezogen auf die Faktorenwerte der vorangeschalteten Faktorenanalyse (quadrierte euklidische Distanz).
Alle vier Clusteranalysen, sowohl mit Hilfe des Ward-Verfahrens als auch mit Hilfe des Average Linkage – Verfahrens, kommen auf identische Cluster. Die jeweiligen Motive wurden in allen Fällen denselben Clustern zugeordnet, wobei sich in manchen Varianten eine im Vergleich zur obigen Clusterlösung sogar noch deutlichere Trennung der gefundenen Cluster abzeichnet. Lediglich im Hinblick auf zwei Motive gibt es kleinere Unterschiede: „Flexibilität“ und „Soziale Beziehungen“. So nehmen diese beiden Motive – je nach Clusterlösung – immer auch eine gewisse Bedeutung in anderen Clustern ein (z.B. spielt das Motiv „Soziale Beziehungen“ auch eine Rolle im dritten Cluster, während das Motiv „Flexibilität“ häufiger im zweiten Cluster genannt wurde). Dennoch werden die beiden Motive in allen vier Lösungen eindeutig den oben genannten Clustern zugeordnet. Die clusteranalytischen Lösungen auf Basis der Kombinationen der beschriebenen Motive legen also insgesamt eine Konstruktion von vier Typen nahe. Wie bereits erwähnt, wird die Restgruppe nicht als eigenständiger Typus begriffen, weil es sich hierbei nicht um eine „Kombination von Merkmalen“ im Sinne des Typusbegriffs aus Kapitel 6.1 handelt. Analog der quantitativen Gewichtung der vier verschiedenen Cluster aus der ersten Clusterlösung (Ward-Verfahren, Faktorenwerte) können diese vier Cluster wie folgt charakterisiert werden:123
Cluster 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen (n=72) In dem zahlenmäßig größten Cluster bestätigt sich der bereits vielfach angedeutete Zusammenhang zwischen den Motiven „Selbstständigkeit“ und „Versorgungssicherheit“. Prozentuiert auf die Zeilenrandhäufigkeiten sind 72% aller Personen, die das Motiv „Selbstständigkeit“ angaben, und 79% der Personen, die den Wunsch nach „Versorgungssicherheit“ benannten, in diesem Cluster vertreten. In Bezug auf Zusammensetzung dieses Clusters (Spaltenrandhäufigkeiten) 122 Das Avarage Linkage – Verfahren oder auch „Linkage zwischen den Gruppen“ ist bei SPSS voreingestellt und wird insbesondere im SPSS-Handbuch empfohlen (vgl. dazu Bühl, Zöfel 2000, 493; ebenso Bortz 2005, 572). Das Verfahren misst die Distanz zwischen Clustern in Form des Durchschnitts der Distanzen aller Fälle dieser Cluster. 123 Die Eigenschaften der Restgruppe „Anraten anderer“ werden an dieser Stelle nicht weiter dargestellt. Es sei auf die Ausführungen in Kapitel 7.1.1.12 verwiesen.
328
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
sind jeweils 83% bzw. 90% aller Personen in diesem Cluster Budgetnehmer/ innen, die das Budget aus Gründen der „Selbstständigkeit“ bzw. „Versorgungssicherheit“ beantragt haben. Insgesamt beträgt der Anteil dieser Budgetnehmer/ innen in der Gesamtgruppe jedoch nur 43%. Aus diesem Grunde kann ein Typus gebildet werden, dessen Charakter die Vereinigung von „Selbstständigkeit“ und „Sicherheit“ darstellt. Verselbstständigungsabsichten oder der Wunsch nach Erhalt bzw. Stabilisierung einer selbstständigen Lebensführung gehen mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Sicherstellung der dafür notwendigen Unterstützung einher. Beides schließt sich somit keinesfalls aus und ist wechselseitig aufeinander bezogen. Das Persönliche Budget wird in diesen Fällen beantragt, um eine „selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ zu ermöglichen. Sinnbildlich dafür stehen beispielsweise Budgetnehmer/innen, die einen Verselbstständigungsprozess oder eine bereits bestehende selbstständige Lebensführung durch regelmäßige und bedarfsgerechte Unterstützung absichern möchten. Dabei kommt Leistungen oder Mitarbeiter/innen aus ehemaligen Einrichtungen oftmals eine wesentliche Bedeutung zu. „Sicherheit“ bedeutet in diesen Fällen, gewohnte Unterstützungsstrukturen aufrechtzuerhalten. Neben dem deutlichen Zusammenhang zwischen den Motiven „Selbstständigkeit“ und „Versorgungssicherheit“ spielen – wenn auch wesentlich schwächer ausgeprägt – die Motive „Individuelle Lösungen“, „Vereinfachung“, „Ersatzlösung“ und „Soziale Beziehungen“ eine gewisse Rolle in diesem Cluster. Im Zuge des oben genannten Zusammenhangs zwischen „Selbstständigkeit“ und „Sicherheit“ werden also auch individuelle Wege eingeschlagen sowie Vereinfachungen und Ersatzlösungen gesucht. Zur „Selbstständigkeit im geschützte Rahmen“ gehört vermutlich zudem die Möglichkeit, soziale Kontakte herstellen bzw. erhalten zu können. Auf der anderen Seite werden die Motive „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“ und „Einflussnahme“ überhaupt nicht genannt, was wiederum die vorgeschlagene Typencharakteristik nochmals bestätigt, denn die Beantragung eines Persönlichen Budgets aus Gründen der Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Einflussnahme geht auch immer mit der Bereitschaft einher, ein „Risiko einzugehen“. Dies widerspricht jedoch vollständig der Logik einer „selbstständigen Lebensführung in sicherem Rahmen“. Cluster 2 – Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität (n=47) Der Wunsch nach „Individuellen Lösungen“ hängt – neben anderen Motiven – insbesondere mit dem Wunsch nach „Sozialen Beziehungen“ zusammen, dies wird in Cluster 2 deutlich. Jeweils etwa 70% aller Personen, die diese Motive angaben, sind in diesem Cluster vertreten. Prozentuiert auf die Spaltenhäufigkeit, d.h. auf das Gewicht dieser Motive innerhalb des Clusters, zeigt sich, dass knapp 90% aller
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
329
Personen in diesem zweiten Cluster das Persönliche Budget aus Gründen „Individueller Lösungen“ und „Sozialer Beziehungen“ beantragt haben. Insgesamt liegt dieser Anteil jedoch bei unter einem Drittel der befragten Budgetnehmer/innen. Dieser Zusammenhang deutet darauf hin, dass die individuellen Lösungen auch darauf abgestimmt sind, soziale Kontakte zu ermöglichen bzw. zu erhalten. In den bereits dargestellten Beispielen zeigt sich facettenreich, inwiefern die Budgetnehmer/innen individuelle Unterstützungsarrangements kreieren und oftmals eigene Wege finden, ihre behinderungs- bzw. erkrankungsbedingte Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe und mangelnder Aktivität zu kompensieren. Dieses Cluster ist jedoch auch gleichzeitig das heterogenste Cluster, ist doch neben „Individuellen Lösungen“ und „Sozialen Beziehungen“ eine Vielzahl anderer Motive bedeutsam. So wurden beispielsweise in diesem Cluster ebenfalls die Motive „Selbstbestimmung“, „Flexibilität“, „Entlastung“ und vor allem „Unabhängigkeit“ von einer nicht unbedeutenden Anzahl an Personen genannt. Die große Bedeutung der Motive „Flexibilität“ und „Unabhängigkeit“ liegt jedoch auf der Hand: Zum einen kann angenommen werden, dass individuelle Lösungen – vor allem wenn sie der Möglichkeit zu sozialen Kontakten dienen – auch gleichzeitig flexible Lösungen sind. Zum anderen wird vermutlich eine Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhaben am ehesten über eine zunehmende Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern realisiert. Was letztendlich die Überschneidungen zum Motiv „Entlastung“ betrifft, so handelt es sich hierbei insbesondere um Eltern von Budgetnehmer/innen, die mit der Budgetbeantragung eine von den Eltern unabhängige Freizeitbetreuung bzw. -begleitung für ihre Kinder finanzieren möchten und somit auch gleichzeitig eine Entlastung der familiären Situation erreichen wollen. Cluster 3 – Emanzipation durch erweiterte Spielräume (n=46) Das Streben nach „Selbstbestimmung“ korreliert deutlich mit den Motiven „Unabhängigkeit“, „Flexibilität“ und „Einflussnahme“. 72% aller Personen, die mehr oder weniger explizit den Wunsch nach Selbstbestimmung als Hintergrund der Budgetbeantragung herausgestellt haben, knapp 50% der Befragten, die mehr Flexibilität intendieren, sowie 58% aller Personen, die eine größere Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern anstreben und nahezu alle Befragten, die mit der Beantragung des Persönlichen Budgets einen unmittelbaren Einfluss auf die Angebote der Leistungsanbieter nehmen möchten, sind Bestandteil dieses Clusters. Zudem kann wiederum Bezug auf die Spaltenrandhäufigkeiten genommen werden: Der Anteil der Personen, die diese Motive benannten, bewegt sich innerhalb dieses Clusters zwischen knapp 50% und über 90%, während er insgesamt zwischen 12% und 44% beträgt.
330
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Entsprechend kann ein dritter Typus gebildet werden, dessen Charakter die Verwirklichung der ideellen Ziele des Persönlichen Budgets widerspiegeln. Das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern geht unmittelbar mit dem Bedürfnis nach einer flexiblen Gestaltung dieser Hilfen einher. Kombiniert sind diese Motive wiederum oftmals mit der Intention, unmittelbar Einfluss auf Inhalt und Qualität der Leistungen auszuüben und damit den Angebotsmarkt aktiv mitgestalten zu können. Dass sich diese Motive in der Beantragung des Persönlichen Budgets kombiniert niederschlagen, weist auf die Bedeutung der vielfach genannten normativ-ethischen Forderungen und damit auf eine entsprechende Überzeugung bzw. einen „behinderungspolitisch“ motivierten Begründungszusammenhang hin. Das hinter diesem Motivtypus stehende Bewusstsein soll daher im Folgenden mit dem Begriff „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ umschrieben werden. Auffallend in diesem dritten Cluster ist ferner, dass es nur wenige Überschneidungen zu anderen Motiven gibt, lediglich der Wunsch nach Selbstständigkeit und nach einer Verbesserung der sozialen Beziehungen wird im Kontext dieser ideellen Motive in nennenswertem Umfang genannt. Zu den restlichen Motiven gibt es in diesem Cluster hingegen scheinbar kaum Berührungspunkte. Cluster 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets (n=19) Das letzte Cluster setzt sich aus den Motiven „Entlastung“, „Vereinfachung“ und „Ersatzlösung“ zusammen. In allen drei Fällen sind jeweils über die Hälfte aller Budgetnehmer/innen, die diese Motive benannt haben, in dem Cluster vertreten. Bezogen auf die Spaltenhäufigkeiten besteht dieses Cluster sogar zwischen 84% und 90% aus Budgetnehmer/innen, die aus diesen Gründen ein Persönliches Budget beantragt haben. Insgesamt gesehen beträgt dieser Anteil jedoch unter 20%. Der Zusammenhang zwischen „Entlastung“, „Vereinfachung“ und „Ersatzlösung“ ist auf den ersten Blick nicht sofort erkennbar, liegt allerdings unter Zuhilfenahme der oben skizzierten Fallgestaltungen auf der Hand: Es handelt sich hierbei um Personen, denen es vordergründig um die bestmögliche Einbettung des Persönlichen Budgets in die gegenwärtige Lebenssituation geht. Entsprechend wird das Persönliche Budget vermutlich weniger unter normativethischen, sondern eher unter pragmatischen Gesichtspunkten gesehen, etwa als eine Möglichkeit, die Nachteile des Sachleistungsprinzips zu umgehen oder um den bisherigen Organisations- und Abrechnungsaufwand zu minimieren. Es geht also um einen konkreten funktionalen Nutzen, weil durch die Umstellung auf ein Persönliches Budget Restriktionen des Sachleistungsprinzips umgangen werden können (etwa im Sinne der genannten „Ersatzlösungen“) oder weil sich eine Vereinfachung und Entlastung erzielen lässt. Wie die entsprechenden Fallbei-
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
331
spiele in den Kapiteln 7.1.1.7, 7.1.1.10 und 7.1.1.11 zeigen, sind überproportional Eltern von behinderten bzw. von Behinderung bedrohten Kindern in dieser Personengruppe vertreten, so dass es oftmals um einen funktionalen Nutzen für die Eltern geht. Sinnbildlich für dieses Cluster stehen daher Eltern von Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine bestimmte Unterstützung finanzieren wollten, die im Rahmen der Sachleistung nicht realisierbar gewesen wäre (z.B. ein autismusspezifisches Therapieverfahren, der Besuch eines Regelkindergartens usw.), oder auch Eltern, die durch die Umstellung auf ein Persönliches Budget eine Vereinfachung (etwa der Abrechungsmodalitäten) bzw. Entlastung anstrebten. Ähnlich wie in dem dritten Cluster lassen sich nur wenige Überschneidungen zu anderen Motiven finden. Da „Sicherheitsmotive“ (Cluster 1), „individuelle Gestaltungsmöglichkeiten“ (Cluster 2) als auch „ideelle Motive“ (Cluster 3) in diesen Fällen nicht relevant erscheinen, manifestiert sich der Nutzen ausschließlich in den Veränderungs- und Vereinfachungsmöglichkeiten gegenüber der Sachleistung. Entsprechend geht es diesen Personen vermutlich weniger um das Persönliche Budget selbst, sondern eher um die Spielräume, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets ausgeschöpft werden können. In diesem Zusammenhang kann sogar vermutet werden, dass möglicherweise gar kein Persönliches Budget beantragt worden wäre, wenn die erwünschten Leistungen und Vereinfachungen auch über das Sachleistungsprinzip hätten umgesetzt werden können. 7.1.3 Gegenüberstellung der gefundenen Typen mit ausgewählten personenbezogenen Merkmalen Neben der Berechnung der jeweiligen Häufigkeit der verschiedenen Cluster und der Verteilung der Motive innerhalb dieser Cluster ist in diesem Kapitel ebenfalls von Interesse, inwiefern sich Unterschiede zwischen den Clustern hinsichtlich ausgewählter personenbezogener Merkmale finden lassen. Letztendlich können damit auch Rückschlüsse darauf gezogen werden, inwiefern es sich bei den in den Clustern zusammengefassten Budgetnehmer/innen um bestimmte Personengruppen handelt. Für die nachfolgenden bivariaten Analysen wurden die Variablen „Geschlecht“, „Alter“ und „Behinderung“ ausgewählt. Zunächst zeigt ein Blick auf die Verteilung der Geschlechter innerhalb der gefundenen Cluster, dass sich keine nennenswerten Unterschiede in der geschlechtsspezifischen Zusammensetzung der Cluster finden lassen. Der jeweilige Anteil an Budgetnehmerinnen und Budgetnehmern in allen vier Clustern entspricht dabei in etwa der Gesamtverteilung. Ähnlich stellt sich dies auch bei der Betrachtung des Alters dar – mit einer Ausnahme: dem vierten Cluster „Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“. In den anderen drei Clustern beträgt
332
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
das Durchschnittsalter einheitlich in etwa 40 Jahre. Anders sieht dies allerdings in dem genannten vierten Cluster aus. Dort weicht der Altersdurchschnitt deutlich von den anderen drei Clustern ab: Im Schnitt sind die Budgetnehmer/innen in Cluster 4 um mehr als 20 Jahre jünger (vgl. Tabelle 18). Arithm. Mittel
Median
Standardabweichung
N
40,2
40,5
11,3
72
40,2
40,0
14,7
47
39,2
38,0
12,4
46
18,8
15,0
15,2
19
Restkategorie – Initiative Anderer
40,0
30,0
18,0
9
Gesamt
37,82
38,0
14,5
193
Cluster 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen Cluster 2 – Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität Cluster 3 – Emanzipation durch erweitere Spielräume Cluster 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Tabelle 18: Altersdurchschnitt in den gefundenen Clustern (n=193, Angaben in Jahren) Erklärt werden kann dieses niedrige Durchschnittsalter in Cluster 4 letztendlich durch die große Anzahl an Kindern und Jugendlichen, die in diesem Cluster vertreten sind: Über zwei Drittel dieser Budgetnehmer/innen (68%) sind unter 20 Jahre alt, während dies in den anderen drei Clustern gerade einmal etwa 6% sind. Auf der anderen Seite beläuft sich der Anteil der über 50-jährigen Budgetnehmer/innen in Cluster 4 auf nur 5%, in den anderen drei Clustern beträgt dieser Anteil über 20%. Die Betrachtung der gefundenen Cluster nach Art der (vorrangigen) Behinderung zeigt hingegen auffällige Unterschiede124: Menschen mit einer (vorrangigen) körperlichen Behinderung benennen im Verhältnis zu anderen Budgetnehmer/innen sehr viel häufiger Motive aus dem dritten Cluster „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“: Entsprechend setzt sich dieses Cluster zu über 50% aus Budgetnehmer/innen mit einer körperlichen Behinderung zusammen, während der Anteil der Budgetnehmer/innen mit einer körperlichen Behinderung in der Gesamtgruppe nur etwa ein Viertel beträgt. In den Clustern „Selbstständi124 Die Zusammenhänge in der nachfolgenden Häufigkeitsverteilung bestehend aus den gefundenen Clustern und der jeweiligen Behinderung sind mit p<0.001 signifikant. Als Zusammenhangsmaße für nominal skalierte Daten können wiederum Phi, Cramer’s V und der Kontingenz-Koeffizient genommen werden. Die Werte bewegen sich dabei – je nach Maß – zwischen 0,34 bis 0,59.
333
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
ge Lebensführung in sicherem Rahmen“ und „Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“ sind hingegen vergleichsweise wenige Budgetnehmer/innen mit körperlicher Behinderung vertreten; lediglich im Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ lassen sich noch in nennenswertem Umfang Menschen mit körperlicher Behinderung finden (vgl. Abbildung 6). Was die anderen Behinderungsarten betrifft, so fällt auf, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen die Hauptgruppen in Cluster 1 („Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“) und Cluster 2 („Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“) darstellen. Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen sind hingegen ebenfalls in Cluster 1 („Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“) sowie in Cluster 4 („Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“) überproportional häufig vertreten, allerdings in keinem Cluster dominierend. Die größte Personengruppe in Cluster 4 („Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“) sind hingegen Menschen mit „sonstigen Behinderungen“ (worunter Sinnesbeeinträchtigungen, chronische Erkrankungen sowie Entwicklungsverzögerungen bei Kindern zusammengefasst wurden). Dominierend in der Restkategorie „Initiative Anderer“ sind wiederum Budgetnehmer/innen mit psychischen Erkrankungen. 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität
Emanzipation durch erweiterte Spielräume
Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Restkategorie: Initiative Anderer
Gesamt
körperliche Behinderung
Abbildung 6:
geistige Behinderung
psychische Erkrankung
sonstige Behinderung
Zusammensetzung der Cluster nach Art der Behinderung (n=193; Angaben in Prozent)
100%
334
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Eine Möglichkeit, den „Umfang“ der Behinderung zu erfassen, ist die Anzahl der Bereiche, in denen die befragten Personen Unterstützung benötigen. Dazu wurde in der Befragung eine Liste von 10 Bereichen abgefragt. Die hierbei angegebenen Bereiche beziehen sich auf folgende Dimensionen:
Haushaltsführung (z.B. Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen usw.) Tägliche Versorgung (Ernährung, Körperpflege, Duschen/Baden usw.) Beziehung zu anderen Menschen (Freunde, Angehörige, Kollegen, Nachbarn usw.) Mobilität (Unterstützung und Begleitung, um irgendwo hinzukommen; Fahrdienste) Begleitung in der Freizeit/Freizeitgestaltung Umgang mit Behörden Verwaltung des Geldes (z.B. Bankgeschäfte) Arbeit/Ausbildung (Arbeitsassistenz, Aus- und Weiterbildung usw.) Gesundheit (Arzttermine, Sport, gesunder Lebensstil) Organisation der Unterstützung/Dienstleistungen
Auf Basis dieser Angaben zeigt ein Mittelwertvergleich über die Anzahl der jeweils in der Befragung genannten Unterstützungsbereiche, dass Personen, die dem dritten Cluster zugeordnet wurden, im Durchschnitt am wenigsten Unterstützung benötigen. Danach folgen Budgetnehmer/innen aus dem ersten und zweiten Cluster. Das vierte Cluster stellt wiederum eine Besonderheit dar. Im Schnitt gaben diese Budgetnehmer/innen (bzw. deren Stellvertreter/innen125) in der Befragung über 7 verschiedene Unterstützungsbereiche an (vgl. Tabelle 19). Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass emanzipatorische Bestrebungen mit einem verhältnismäßig niedrigen Umfang des Unterstützungsbedarfs (gemessen an der Anzahl der Unterstützungsbereiche) korrespondieren, während pragmatischere Sichtweisen mit einer im Verhältnis deutlich höheren Anzahl an Unterstützungsbereichen einhergehen. Vermutlich steigen also der Pragmatismus und damit auch die Orientierung am Sachleistungsprinzip mit dem Umfang des Unterstützungsbedarfs.
125 In diesem Fall sei darauf hingewiesen, dass sich das Cluster vorwiegend aus Kindern und Jugendlichen zusammensetzt, von denen einige eine komplexe Mehrfachbehinderung haben.
335
7.1 Hintergründe und Motive der Budgetbeantragung
Arithm. Mittel
Median
Standardabweichung
N
4,99
5,00
2,026
69
5,84
5,00
2,676
44
4,52
4,00
1,971
44
7,53
9,00
2,748
15
Restkategorie – Initiative Anderer
6,33
6,00
2,236
9
Gesamt
5,36
5,00
2,392
181
Cluster 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen Cluster 2 – Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität Cluster 3 – Emanzipation durch erweitere Spielräume Cluster 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Tabelle 19: Anzahl der in der Befragung genannten Unterstützungsbereiche nach Clustern (n=181) Es muss in diesem Zusammenhang jedoch kritisch angemerkt werden, dass die Anzahl der Unterstützungsbereiche nicht als einziges Kriterium zur Bestimmung von Schwere und Komplexität der Behinderung fungieren kann. Entscheidend sind vielmehr inhaltliche Fragen sowie das Zusammenwirken der verschiedenen Unterstützungsbereiche. Eine inhaltliche Betrachtung zeigt hier beispielsweise, dass Personen aus dem ersten Cluster („Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“) ihren Unterstützungsbedarf vor allem in den Bereichen „Haushaltsführung“, „Beziehung zu anderen Menschen“, „Umgang mit Behörden“, „Verwaltung des Geldes“, „Organisation der Unterstützung“ und „Gesundheit“ begründet sehen. Die wichtigsten Unterstützungsbereiche der Budgetnehmer/innen aus dem zweiten Cluster („Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“) sind hingegen „Beziehung zu anderen Menschen“, „Mobilität“, „Begleitung in der Freizeit“ und „Gesundheit“. Budgetnehmer/innen, die dem dritten Cluster „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ zugeordnet wurden, benannten insbesondere einen Unterstützungsbedarf bei der „täglichen Versorgung“ (Pflege, medizinische Versorgung) sowie im Bereich „Mobilität“ und „Begleitung in der Freizeit“. Andere Bereiche, etwa die Unterstützung bei Behördenangelegenheiten, bei der Budgetverwaltung oder im Umgang mit anderen Menschen, spielten hingegen so gut wie keine Rolle. Letztendlich sind im vierten Cluster („Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“) alle Unterstützungsbereiche gleichermaßen bedeutsam. Die Kontrastierung mit personenbezogenen Daten lässt sich abschließend wie folgt zusammenfassen:
336
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Bei den Budgetnehmer/innen, die sich für ein Persönliches Budget vor allem deswegen entscheiden, weil sie eine selbstständige Lebensführung mit Sicherheitsaspekten kombinieren möchten, handelt es sich vor allem um Menschen mit psychischen Erkrankungen und sogenannten geistigen Behinderungen. Diese Personengruppe gibt vor allem einen Unterstützungsbedarf in genau den Bereichen an, die mit den hier relevanten Motiven in Verbindung stehen (Haushaltsführung, Behördenangelegenheiten, Budgetverwaltung und Organisation der Unterstützung, soziale Beziehungen). Was das Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ betrifft, so ist das Verhältnis zwischen den verschiedenen Behinderungsarten relativ ausgewogen; Menschen mit psychischen Erkrankungen überwiegen jedoch leicht. Die genannten Unterstützungsbereiche entsprechen wiederum genau den in diesem Cluster relevanten Motivlagen (soziale Beziehungen, Mobilität, Freizeitbetreuung). Unter den Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget aus Gründen der Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Flexibilität und Einflussnahme beantragt haben, dominieren Menschen mit körperlichen Behinderungen und schwerpunktmäßig Unterstützungsbedarf bei der täglichen Versorgung, bei der Mobilität und der Freizeitbegleitung. Hingegen benötigen diese Personen nur wenig bzw. keine Unterstützung bei administrativen Tätigkeiten, organisationalen Fragen der Budgetverwendung und im Bereich „Soziale Beziehungen“. Die in Kapitel 3 diskutierten Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets scheinen daher tatsächlich in dieser Personengruppe eine gewichtige Rolle zu spielen. Das Cluster „Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“ fällt schließlich etwas aus der Reihe: In diesem Cluster dominieren insbesondere Budgetnehmer/innen mit „sonstigen“ Behinderungen. Darunter fallen Sinnesbeeinträchtigungen, (chronische) organische Erkrankungen und Entwicklungsverzögerungen bei Kindern. Aber auch sogenannte geistige Behinderungen spielen in dieser Personengruppe eine bedeutende Rolle. Wie oben gezeigt wurde, handelt es sich hierbei schwerpunktmäßig um Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, bei denen eine komplexe Mehrfachbehinderung vorliegt; dies zeigt auch die Betrachtung der Unterstützungsbereiche. Entsprechend kann vermutet werden, dass die Budgetbeantragung auf die Eltern zurückgeht und es vor allem um Entlastung oder Vereinfachung bzw. um ein Vermeiden von Nachteilen einer Leistungserbringung im Rahmen des Sachleistungsprinzips geht. Insgesamt steht dieser Pragmatismus nicht unbedingt mit den globalen Intentionen des Persönlichen Budgets in Verbindung (vgl. Kapitel 3) und entspricht in vielerlei Hinsicht eher einer flexibilisierten Sachleistung.
7.2 Budgetverwendung
337
Im Anschluss an die Betrachtung der Hintergründe der Budgetbeantragung stellt sich nun die Frage, inwiefern sich die Budgetverwendung zwischen den gefundenen Typen unterscheidet. Beispielsweise kann vermutet werden, dass der Typus „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ in ein Unterstützungsarrangement eingebettet ist, das vorwiegend aus professionellen Fachkräften besteht. Weiterhin ist zu erwarten, dass die Unterstützung in Form von relativ durchstrukturierten Dienstplänen organisiert ist, da insbesondere das Motiv „Versorgungssicherheit“ eine Rolle bei der Budgetbeantragung gespielt hatte. Der Typus „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ wird hingegen eher das „Risiko“ eingehen, die Unterstützung mit semi- oder nichtprofessionellen Kräften zu organisieren und entsprechend auch flexiblere Dienstpläne einsetzen, da die Regiekompetenz insbesondere den Budgetnehmer/innen obliegt. In der Gruppe der Budgetnehmer/innen, denen es vornehmlich um individuelle Hilfen und soziale Beziehungen geht, lässt sich wiederum vermuten, dass Freizeitbetreuung oder zweckgebundene Geldbeträge zur Realisierung spezifischer Aktivitäten (z.B. der Besuch einer Fitnesseinrichtung, Startgelder für Laufveranstaltung usw.) im Vordergrund der Budgetverwendung stehen. Was die letzte Gruppe an Budgetnehmer/innen bzw. deren Stellvertreter/innen aus dem Cluster „Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“ betrifft, so ist naheliegend, dass sich die Budgetverwendung in sachleistungsähnlichen Strukturen bewegt. Im nachfolgenden Kapitel wird daher die Budgetverwendung genauer betrachtet. Die bisherigen Ergebnisse zu den Motiven der Budgetverwendung sollen abschließend dieser Betrachtung gegenübergestellt werden. 7.2 Budgetverwendung Den zweiten Schwerpunkt der empirischen Analyse bildet die Betrachtung von Inhalt und Form der Budgetverwendung. Unter dem Oberthema „Budgetverwendung“ können hierbei verschiedene Themenbereiche unterschieden werden, die in dem nachfolgenden Kapitel schrittweise dargestellt werden: In einem ersten Schritt soll auf Basis einer qualitativen Analyse betrachtet werden, für was die Budgetnehmer/innen ihr Persönliches Budget verwenden, d.h. welche Leistungen mit dem Persönlichen Budget finanziert werden. Damit in Verbindung steht auch die Frage, wer mit dieser Leistungserbringung beauftragt wird, d.h. um welche Personen bzw. Dienstleister es sich bei den rekrutierten Leistungsanbietern handelt und über welche Qualifikationen die unterstützenden Personen verfügen. Daneben ist auch von Interesse, ob es sich um Einzelpersonen handelt (z.B. pädagogische Fachkräfte, Pflegekräfte, Haushaltshilfen, Assistent/innen) oder ob Leistungen in Einrichtungen (z.B. Werkstattleistungen, tagesstrukturierende Leistungen, Gruppenangebote usw.) eingekauft werden. Eine
338
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
dritte Möglichkeit besteht darin, allgemeine Dienstleistungen von privaten Leistungsanbietern (etwa Fitnessstudios oder Bildungsmaßnahmen) mit Hilfe des Persönlichen Budgets zu finanzieren. Die Ergebnisse werden in Kapitel 7.2.1 beschrieben. Die wesentlichen Referenzfragen im Interviewleitfaden bzw. im schriftlichen Fragebogen als Basis für die nachfolgende qualitative Auswertung lauten: „Für was bezahlen Sie…?“ und „Wen bezahlen Sie durch das Persönliche Budget…?“126 In beiden Fällen handelt es sich um eine offene Frage, d.h. es wurden keine Antwortkategorien vorgegeben, um die Vielfalt möglicher Nennungen nicht im Vorfeld einzuschränken (siehe Kapitel 6.2.2). Ähnlich wie bei den Motiven zur Budgetbeantragung wurden auch bei dieser offenen Frage heterogene Antworten abgegeben, so dass die einzelnen Nennungen ebenfalls in einem ersten Schritt qualitativ ausgewertet, d.h. zu inhaltlich ähnlichen Kategorien zusammengefasst werden mussten. Auf Basis dieser Kategorisierung konnte schließlich analog der Vorgehensweise in Kapitel 7.1 eine quantitative Auswertung erfolgen (Kapitel 7.2.2). Die Ergebnisse dieser Auswertung sollen dann den bereits gefundenen Clustern gegenübergestellt werden. Daran anschließend wird in einem weiteren Kapitel betrachtet, wie die Budgetverwendung organisiert wird. Hierbei interessieren zwei Aspekte: Erstens gilt es zu analysieren, in welcher Art und Weise die Leistungserbringung erfolgt, d.h. welche Regelungen jeweils zwischen Budgetnehmer/innen und Leistungsanbietern bestehen (z.B. Leistungsverträge mit Einrichtungen oder Fachkräften, Leistungsabkommen mit semiprofessionellen oder nicht-professionellen Kräften, Arbeitgebermodell). Die hierfür relevanten Informationen können ebenfalls der qualitativen Analyse entnommen werden. Zweitens soll in diesem Zusammenhang aber auch analysiert werden, inwiefern die Budgetnehmer/innen selbst über die Budgetverwendung entscheiden und wer das Persönliche Budget letztendlich verwaltet. Dazu wurden die beiden halboffenen Fragen „Wer entscheidet, wofür Sie das Budget ausgeben…?“ und
126 Bei beiden Fragen wurde eine entsprechende Intervieweranweisung beigefügt, da zu erwarten war, dass Schwierigkeiten bei der Beantwortung dieser Fragen auftreten könnten. In dieser Intervieweranweisung wurden die Interviewer/innen im Falle von Verständnisschwierigkeiten angehalten, Bezug zu den jeweiligen Unterstützungsbereichen herzustellen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Interview abgefragt wurden (z.B. „im Haushalt“, „tägliche Versorgung“, „um irgendwo hinzukommen“). Weiterhin war zu erwarten, dass auf die Frage nach den Leistungserbringern eventuell auch nur Namen von Personen genannt werden, aber nicht, um welche Berufsgruppe es sich bei dieser Person handelt. Aus diesem Grunde wurden die Interviewer/innen angewiesen, stets nachzufragen, wer genau die genannte Person ist (z.B. ob diese Person von einer Einrichtung kommt oder jemand ist, den man privat kennt usw.). Das Ziel bestand letztendlich darin herauszufinden, ob es sich um eine professionelle oder um eine nichtprofessionelle Arbeitskraft handelt.
7.2 Budgetverwendung
339
„Wer verwaltet das Budget“ ausgewertet.127 Die Organisation der Unterstützung sowie die Entscheidung über die Budgetverwendung und Budgetverwaltung sind Gegenstand von Kapitel 7.2.3. Die Ergebnisse werden ebenfalls im Kontext der gefundenen Cluster gedeutet. Die Budgetverwendung hängt letztendlich auch davon ab, wie die Rekrutierung der Leistungserbringer ablief, d.h. auf welchen Wegen die Leistungserbringer, die die Budgetnehmer/innen zum Zeitpunkt der Befragung im Rahmen eines Persönlichen Budgets unterstützten, gefunden wurden. Dabei stellt sich jedoch nicht nur die Frage, wie die Budgetnehmer/innen zu den Leistungserbringern gekommen sind, sondern auch, was ihnen an den ausgewählten Leistungsanbietern wichtig erschien. Die Fragen nach den Wegen der Rekrutierung und der Entscheidung für bzw. gegen einen bestimmten Leistungsanbieter werden in Kapitel 7.2.4 behandelt. Wie auch in den vorherigen Kapiteln wird diese Betrachtung im Hinblick auf die vier gefundenen Cluster erfolgen. Die bis hierhin dargestellten Erkenntnisse zum Thema „Budgetverwendung“ stützen sich allesamt auf die Budgetnehmer-Erstbefragung. Ergänzend sollen aber in einem abschließenden Kapitel 7.3 einige ausgewählte Ergebnisse der Wiederholungsbefragung dargestellt werden. Dabei interessiert beispielsweise, wie viele Budgetnehmer/innen gegen Ende des Projekts noch ein Persönliches Budget beziehen, inwiefern sich die vorherigen Erwartungen an das Budget erfüllt haben und ob die Budgetnehmer/innen die bisherige Budgetverwendung verändern wollen, d.h. andere, neue oder zusätzliche Leistungen finanzieren möchten. Auch diese Betrachtung wird im Kontext clusterspezifischer Unterschiede erfolgen. In dem anschließenden Kapitel 8 werden dann die beiden Themen Motive der Budgetbeantragung und Budgetverwendung nochmals miteinander in Beziehung gesetzt und zu einer Typologie verdichtet.
7.2.1 Ergebnisse der Kategorienbildung – Art und Inhalt der finanzierten Leistungen Informationen zu Art und Inhalt der finanzierten Leistungen wurden ähnlich wie in der qualitativen Analyse der Motive der Budgetbeantragung über das gesamte Material hinweg gesucht, d.h. nicht nur in den Antworten auf die Fragen „Für was 127 Im Interviewleitfaden bzw. schriftlichen Fragebogen wurden die beiden Fragen so gestellt, dass jeweils Antwortvorgaben vorgelesen bzw. vorgegeben wurden. Die Antwortvorgaben sind dreigeteilt aufgebaut und umfassen die drei Ausprägungen „entscheide/verwalte ich selbstständig/alleine“, „mit Unterstützung anderer“ und „entscheidet/verwaltet jemand anderes“. Zusätzlich zu den beiden zuletzt genannten Antwortvorgaben sollte noch erfragt werden, wer bei der Entscheidung/Verwaltung unterstützt bzw. wer die Entscheidung/Verwaltung übernimmt.
340
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
bezahlen Sie…?“ und „Wen bezahlen Sie durch das Persönliche Budget…?“. Im Großen und Ganzen lassen sich zwar besonders in den Aussagen zu diesen Fragen die relevanten Informationen finden, an einigen Stellen im Interview bzw. Fragebogen stellten sich aber zusätzliche Kontextinformationen oftmals als wichtig und hilfreich heraus, um die Budgetverwendung verstehen zu können. Für die nachfolgende Auswertung flossen beispielsweise auch Informationen zu den im Rahmen des Persönlichen Budgets bewilligten Leistungen ein, da diese Zusatzinformation die jeweiligen Interpretationen der Aussagen anreichern konnten (z.B. von welchem Leistungsträger die Budgetnehmer/innen das persönliche Budget bekommen, welche Leistungen jeweils beantragt und bewilligt wurden usw.). Eine weitere Rolle spielten Nennungen zum individuellen Unterstützungsbedarf sowie zu den Zielvereinbarungen, weil diese Informationen ebenfalls Hinweise auf die im Rahmen des Persönlichen Budgets finanzierten Unterstützungsleistungen liefern können. Insbesondere in den Zielvereinbarungen wurden beispielsweise die durch das Persönliche Budget einzukaufenden Leistungen sowie potenzielle Leistungserbringer empfohlen oder oftmals sogar konkret festgelegt. Die gefundenen Informationen spiegeln eine Vielfalt an Verwendungsmöglichkeiten wider und sind ebenfalls in einem zweistufigen Verfahren kategorisiert worden (theoriegeleiteter Materialdurchgang sowie anschließendes offenes Kodieren; vgl. Kapitel 6.3.3). Im Vorfeld festgelegte Kategorien der Budgetverwendung waren:
Alltagspraktische Unterstützung im Haushalt Pädagogische und psycho-soziale Unterstützung Persönliche Assistenz Spezielle Aktivitäten Sachmittel und Fahrtkosten
Wie bereits am Beispiel der Motive zur Budgetbeantragung dargestellt, konnten auch im Themenbereich „Budgetverwendung“ die im Vorfeld gewählten Kategorien nur einen Teil der Verwendungsmöglichkeiten abbilden, so dass zusätzliche Kategorien induktiv gebildet werden mussten. Diese auf Basis eines offenen Kodierungsvorgangs zusätzlich konstruierten Kategorien umfassen dabei weitere Verwendungsmöglichkeiten:
Spezielle Therapien und (Einzel-) Förderung Hilfen in Einrichtungen Ausbildung und Arbeit Budgetbezogene Dienstleistungen
7.2 Budgetverwendung
341
Auf eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse der qualitativen Analyse unter Verwendung von Fallbeispielen und Passagen aus den Interviews soll jedoch verzichtet werden, da die hierfür relevanten Informationen zur Budgetverwendung bereits in Kapitel 7.1 anhand der Motive zur Budgetbeantragung facettenreich dargestellt worden sind. Insofern erfolgt die Beschreibung der gefundenen Kategorien zusammenfassend und es werden lediglich Verweise zu entsprechenden Fallbeispielen eingeflochten.
7.2.1.1
Alltagspraktische Unterstützung im (eigenen) Haushalt
Ein Großteil der Budgetausgaben entfällt auf alltagspraktische Unterstützung im Haushalt. Darunter zu verstehen sind sämtliche haushaltsnahen Dienstleistungen und Reinigungstätigkeiten wie etwa Putzen, Staub saugen und Staub wischen, Wohnung aufräumen, Abwasch, Müllentsorgung, Wäsche waschen, Essen zubereiten, Einkaufen usw. Die Art und Weise, wie diese Unterstützung erfolgt, kann allerdings unterschiedlich ausfallen. Dabei lassen sich zwei Gruppen unterschieden:
Die erste Gruppe Budgetnehmer/innen finanziert mit dem Persönlichen Budget nur haushaltsnahe Dienstleistungen, d.h. Personen und/oder Dienste, die Haushalts- und Reinigungstätigkeiten für die Budgetnehmer/innen übernehmen, ohne dass sie selbst daran beteiligt sind. In den jeweiligen Aussagen der befragten Budgetnehmer/innen lassen sich dazu eher allgemeine Hinweise finden wie beispielsweise „Wohnungsreinigung für zwei Stunden pro Woche“ (Budgetnehmer, 55 Jahre), andere Budgetnehmer/innen benennen aber auch konkrete Tätigkeiten wie „Saubermachen, Einkaufen, Wäsche waschen“ (Budgetnehmer, 30 Jahre), „Wohnung aufräumen, Putzen Waschen, Kochen“ (Budgetnehmerin, 52 Jahre), „Waschen und Bügeln der Wäsche“ (Budgetnehmer, 53 Jahre), „Betten machen, Abspülen“ (Budgetnehmer, 59 Jahre), „Küche und Bad putzen, Abwasch, Fußboden wischen“ (Budgetnehmer, 41 Jahre) oder „einmal in der Woche für 2 Stunden Putzen, Staubsaugen, Spülen“ (Budgetnehmer, 38 Jahre). In ein paar Fälle übernehmen die Dienstleister aber auch „Botengänge“ (Budgetnehmer, 53 Jahre) oder den „Großeinkauf“ (Budgetnehmer, 42 Jahre). Die mit dem Budget finanzierte Unterstützung bezieht sich in der zweiten Gruppe aber nicht nur auf die unmittelbare Übernahme solcher haushaltsnahen Dienstleistungen und Reinigungstätigkeiten, sondern ebenso auf die pädagogische Anleitung und Förderung von Alltagskompetenzen im Umgang mit Aufgaben im Haushalt. Beispielsweise formuliert ein 29-jähriger Budget-
342
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
nehmer, es gehe ihm um die „Erlangung von Fertigkeiten in der Selbstversorgung, bei der Haushaltsführung und Wochenplanung“, ein 45-jähriger Budgetnehmer betont, er würde sich „Unterstützung (…) bei der Haushaltsführung“ einkaufen und ein 43-jähriger Budgetnehmer finanziert aus dem Persönlichen Budget neben anderen Leistungen eine „Anleitung bei der Hausordnung“. Häufig steht diese Anleitung und Förderung von Kompetenzen im Bereich der Haushaltsführung mit einem Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe in Zusammenhang. Beispielsweise geht es einer 44-jährigen Budgetnehmerin, die im Zuge der Budgetbewilligung aus einer stationären Wohneinrichtung ausgezogen ist, darum, die Versorgung in der Wohnung (d.h. Einkäufe, Kochen, Reinigungsarbeiten) weiter zu „trainieren“. Andere Beispiele hierfür sind aber auch Budgetnehmer/innen, die sich im stationären Kontext eine haushaltsnahe Unterstützung einkaufen, mit dem Ziel, durch diese Unterstützung den selbstständigen Umgang mit der Haushaltsführung zu erlernen. Was die Leistungserbringer betrifft, so erstreckt sich der relevante Personenkreis von (sozial) pädagogischen Fachkräften (im Falle von Anleitung und Förderung alltagspraktischer Fähigkeiten) über professionelle Haushaltshilfen, Hauswirtschaftler/innen oder semiprofessionelle Reinigungskräfte bis hin zu Nichtqualifizierten und privaten Hilfen (genannt werden z.B. Bekannte, Freunde, Familienangehörige, Nachbarn, Schüler/innen und Student/innen, Zivildienstleistende). Einzelne Personen konnten hierzu auch nur unspezifische Angaben machen, beispielsweise „Assistenzdienst“, „Sozialstation“, „ambulanter Pflegedienst“, „betreutes Wohnen“, „offene Hilfen“, oder aber es wurde nur der Name einer Einrichtung bzw. eines sozialen Dienstes genannt. Mitunter werden auch professionelle Reinigungsfirmen mit der Wohnungsreinigung, Entrümplung und Müllbeseitigung beauftragt, um einer drohenden Vermüllung der Wohnung beizukommen (z.B. im Falle eines 46-jährigen Budgetnehmers mit einem Messi-Syndrom).
7.2.1.2
Pädagogische und psycho-soziale Unterstützung
Leistungen in diesem Bereich beziehen sich schwerpunktmäßig auf lebenspraktische Hilfen in Form von sozialpädagogischer Unterstützung bzw. psychologischer Beratung. Die Tätigkeiten umfassen allgemeine Fragen der Lebensbewältigung und Hilfestellung im Alltag bis hin zu therapeutischer Unterstützung. Finanziert werden mit dem Persönlichen Budget entsprechend qualifizierte pädagogische und/oder psychologische Fachkräfte und die Tätigkeiten spiegeln das gesamte Spektrum psycho-sozialer Hilfen wider. Explizit genannt werden
7.2 Budgetverwendung
343
beispielsweise Sozialpädagog/innen, Heilpädagog/innen, Heilerziehungspfleger/innen, Lehrer/innen, Erzieher/innen, Ergotherapeut/innen, Psycholog/innen bzw. Psychotherapeut/innen, Sozialtherapeut/innen. Daneben gab es aber auch unspezifischere Berufsbezeichnungen wie Einzelfallhelfer/innen, pädagogische Fachkräfte bzw. pädagogische Mitarbeiter/innen, Mitarbeiter/innen des ambulant betreuten Wohnens oder einfach nur „Betreuer/innen“ bzw. „Betreuungskräfte“, „ambulanter Assistenzdienst“ und „Wohnassistenz“. Gegenstand der Unterstützung sind meist regelmäßige Gespräche zur Lebensbewältigung oder konkrete Unterstützungsleistungen bei anfallenden Aufgaben und Verpflichtungen. Insgesamt lassen sich drei Schwerpunkte unterschieden:
In den meisten Fällen kaufen die Budgetnehmer/innen Unterstützungsleistungen ein, die im Wesentlichen aus einer regelmäßigen ambulanten Betreuung in Form von psycho-sozialen Gesprächen und Alltagsbegleitung besteht. Manche Budgetnehmer/innen bezeichnen dies auch als „Hausbesuche“ (Budgetnehmer, 52 Jahre). Im Grunde geht es den Budgetnehmer/innen vor allem darum, einen „Ansprechpartner“ in lebenspraktischen Belangen oder in Krisensituationen zu haben. Dabei werden oftmals alltägliche Situationen geschildert wie „zusammen frühstücken, reden“ (Budgetnehmerin, 38 Jahre). Andere Budgetnehmer/innen verweisen aber auch auf spezifische Situationen, in denen „persönliche Gespräche und Beratung“ (Budgetnehmer, 44 Jahre), „Krisenintervention“ (Budgetnehmer, 43 Jahre), „Gesprächstherapie“ (Budgetnehmer, 41 Jahre) oder „Einzelgespräche“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre) notwendig werden. Themen solcher Gespräche sind beispielsweise die Bewältigung von Krisen und Unterstützung in schwierigen Situationen, der Umgang mit der Erkrankung oder Behinderung, Umgang mit Sucht, Konflikte mit anderen Menschen, Partnerschaft und Liebe usw. Wesentliche Ziele dieser pädagogischen und psychosozialen Unterstützung sind beispielsweise die Stabilisierung des psychischen Zustands, die Selbstständigkeit in der eigenen Wohnung, Krisenintervention, Aufbau von Selbstsicherheit, Motivation und Förderung von Aktivitäten sowie Aufbau und Förderung von sozialen Beziehungen. Beispielhaft können Aussagen gefunden werden wie „Unterstützung bei schwierigen Tagessituationen“ (Budgetnehmerin, 24 Jahre), „Alltagsreflexion“ (Budgetnehmerin, 22 Jahre), „Beratung bei der Lebenspraxis“ (Budgetnehmer, 55 Jahre) und „Unterstützung im Alltag, stabilisierende Gespräche“ (Budgetnehmerin, 36 Jahre). Neben diesen eher auf konkrete Beratung abzielenden Unterstützungsleistungen betonen andere Budgetnehmer/innen aber auch tagesstrukturierende und/oder aktivierende Elemente der Unterstützung, etwa ein 43-jähriger Budgetnehmer, der die „regelmäßige Tages- und Wochenstrukturierung“ und „sinnvolle Freizeitges-
344
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
taltung“ herausstellt, oder ein 29-jähriger Budgetnehmer, dessen psychosoziale Unterstützung auf den „Aufbau von Selbstsicherheit, Förderung von Aktivitäten, Erfolgserlebnisse“ abzielt. Die Tätigkeiten der ambulant betreuenden Dienste sind vielfältig und umfassen die konkrete Beratung in psychosozialen Belangen sowie tagesstrukturierende Maßnahmen oder aktivierende Interventionen, aber auch solche Dinge wie Hilfe beim „Brief schreiben an eine Brieffreundin“ (Budgetnehmer, 33 Jahre). In einigen Fällen benötigen die Budgetnehmer/innen zudem Unterstützung bei Behördenangelegenheiten und/oder im Umgang mit Finanzen. Betrachtet man hierzu exemplarische Nennungen, so zeigt sich, dass es zwei verschiedene Gruppen gibt: Die eine Gruppe nimmt vor allem Unterstützung bei Behördengängen und dem Schriftverkehr in Anspruch. Darunter sind zu verstehen: Termine bei Ämtern wahrnehmen, Begleitung bei Behördengängen, Unterstützung in Rechtsfragen, Ausfüllen von Formularen, Schriftverkehr, usw. Die andere Gruppe benennt hingegen neben behördlichen Angelegenheiten auch Unterstützung „bei der Verwaltung des Geldes“ (Budgetnehmer, 38 Jahre), bei der „Planung der Finanzen“ (Budgetnehmer, 46 Jahre) oder bei der „Einteilung des Haushaltsgelds“ (Budgetnehmerin, 35 Jahre). In diesen Fällen werden die Budgetnehmer/innen neben der Unterstützung in behördlichen Angelegenheiten und bei der Korrespondenz zusätzlich auch noch in finanzielle Dingen beraten, etwa Hilfe bei der Geldeinteilung, Schuldenberatung, usw. Besonders erwähnenswert ist hierbei die gezielte Förderung von Kompetenzen im Umgang mit finanziellen Mitteln, vor allem dann, wenn die Budgetnehmer/innen die selbstständige Verwaltung, Kontoführung und den Umgang mit den zur Verfügung stehenden Geldmitteln erlernen möchten.128 Ein dritter Schwerpunkt besteht in der Unterstützung im Bereich Gesundheitsfürsorge und -vorsorge. Hierunter werden Leistungen gefasst, die im weitesten Sinne der Förderung der Gesundheit dienen. Dies sind zum einen die Wahrnehmung von Arztbesuchen und ggf. „Begleitung zu Arztterminen“ (Budgetnehmer, 57 Jahre), zum anderen werden Budgetnehmer/innen aber auch bei der (kontrollierten) Einnahme von Medikamenten unterstützt, etwa im Falle einer 57-jährigen Budgetnehmerin, die das Persönliche Budget beantragt hatte, um nach dem Auszug aus einer stationären Einrichtung die Medikamenteneinnahme in dem ehemaligen Heim fortsetzen zu können (vgl. dazu Kapitel 7.1.1.1), oder im Falle eines 34-jährigen Budgetnehmers, der auf Fahrten zur Medikation begleitet wird. Drittens geht es aber auch um die Anleitung zu einem gesundheitsbewussten Leben (Ernährung, Be-
128 In diesem Zusammenhang sei nochmals auf das Beispiel eines 39-jährigen Budgetnehmers verwiesen, der – neben anderen Gründen – als Motiv für die Budgetbeantragung angab: „lernen mit Geld umzugehen“ (vgl. Kapitel 7.1.1.1).
7.2 Budgetverwendung
345
wegung). In einzelnen Fällen kombinieren die Budgetnehmer/innen die psycho-soziale Unterstützung auch mit speziellen Leistungen wie Sauna, Massagen oder Fußpflege.
7.2.1.3
Persönliche Assistenz
Leistungen im Bereich „Persönliche Assistenz“ sind weit gefasst und decken oftmals das gesamte Spektrum behinderungsbedingter Unterstützungsleistungen ab. Sie umfasst die Grundversorgung (z.B. Mahlzeiten zubereiten, Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme, zu Bett bringen, Ankleiden), die Körperpflege und hygiene (Waschen, Duschen usw.), medizinische Versorgung (z.B. Verbände wechseln, Wundversorgung) sowie Unterstützungsleistungen im Haushalt. Die befragten Budgetnehmer/innen gaben häufig nur an, sie würden das Persönliche Budget für ihre „Assistenz“ bzw. ihre „Assistent/innen“ verwenden. In den meisten Fällen bezieht sich diese persönliche Assistenz dabei auf die häusliche Pflege und tägliche Versorgung und nicht selten beläuft sich die Anzahl der benötigten Stunden auf mehr als 12 Stunden Unterstützung am Tag.129 Dabei arbeiten mehrere Assistent/innen teilweise sogar im Schichtbetrieb. Eine 51-jährigen Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung formuliert hierzu treffend: „Meine Assistenz ist aufgeteilt in Frühschicht, Spätschicht und Nachtschicht“. Besonders häufig werden diese Assistenzleistungen von Budgetnehmer/innen nachgefragt, die ihre Unterstützung im Rahmen des Arbeitgebermodells organisieren (siehe dazu ausführlich Kapitel 7.2.3). Diese Budgetnehmer/innen verfügen oftmals über eine Vielzahl an Assistent/innen, die verschiedene Tätigkeiten ausüben und keinem einzelnen Tätigkeitsbereich direkt zugeordnet werden können. Die Assistent/innen sind dabei in der Regel bei den Budgetnehmer/innen fest angestellt, teilweise arbeiten sie aber auch als Honorarkräfte oder als geringfügig Beschäftigte. Die Variationen hierbei sind vielfältig, in den meisten Fällen wird die Unterstützung jedoch so organisiert, dass festangestellte Assistent/innen regelmäßig und nach vorab festgelegten Dienstplänen eingesetzt und durch einen Pool an Honorarkräften und/oder geringfügig Beschäftigten ergänzt werden. Was die Qualifikationen dieser Assistent/innen betrifft, so lässt sich ein großes Spektrum an Berufsgruppen und beruflichen Hintergründen finden. Aufgrund spezifischer Anforderungen, wie etwa pflegerischer Tätigkeiten, handelt es sich bei den Assistent/innen jedoch häufig um medizinisch qualifizierte Fachkräfte (Krankenschwestern, Krankenpfleger, Heilerziehungspfleger/innen und 129 In speziellen Fällen beträgt die Anzahl der Assistenzstunden sogar mehr als 20 Stunden am Tag. Hierbei handelt es sich um trägerübergreifend gestaltete Budgets, die mit über 10.000€ im Monat bemessen wurden.
346
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
andere Pflegekräfte). Eingesetzt werden aber auch Sozialpädagog/innen bzw. Soziarbeiter/innen, Lehrer/innen, Heilpädagog/innen und Erzieher/innen. Auffallend ist ferner, dass es sich bei den Honorarkräften oftmals um spezifische Fachkräfte handelt, wie beispielsweise Musiktherapeut/innen, Ergotherapeut/innen, Kunsttherapeut/innen oder Computerfachkräfte. Zu den Tätigkeiten zählen neben versorgungsrelevanten, therapeutischen und pflegerischen Aufgaben aber auch alltagspraktische Dienstleistungen oder die Begleitung in der Freizeit. Aus diesem Grunde werden neben medizinisch und pädagogisch geschultem Personal auch besonders häufig Laienkräfte wie Student/innen, Zivildienstleistende, Freunde und Bekannte engagiert. 7.2.1.4
Spezielle Aktivitäten
Eine größere Anzahl an Budgetnehmer/innen verwendet des Persönliche Budget bzw. Teile davon für verschiedene Aktivitäten, die der Gestaltung der Freizeit bzw. der Befriedigung von spezifischen Interessen und/oder dem Knüpfen von sozialen Kontakten dienen sollen. Im Grunde können diese Aktivitäten auf zwei Arten realisiert werden:
Eine Gruppe an Budgetnehmer/innen finanziert mit Hilfe des Persönlichen Budgets Unterstützungspersonen, die die Budgetnehmer/innen bei den verschiedensten Freizeitaktivitäten unterstützen. Mit den unterstützenden Personen gehen die Budgetnehmer/innen beispielsweise in ein Café oder ein Restaurant, ins Freibad, ins Kino, ins Theater, in den Zoo, auf den Flohmarkt, machen Ausflüge oder werden zu Veranstaltungen, Konzerten, Fußballspielen oder in Diskotheken begleitet. Dabei geht es in der Regel um die Möglichkeit, soziale Kontakte knüpfen und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilnehmen zu können. Die Unterstützungspersonen können es den Budgetnehmer/innen aber auch ermöglichen, bestehende soziale Netzwerke zu erhalten, indem sie sie etwa „auf Parties“ (Budgetnehmerin, 52 Jahre) oder „zum Skatspielen“ (Budgetnehmer, 63 Jahre) begleiten. Der Sache nach handelt es sich hierbei selten um regelmäßige Zeiten, sondern eher um flexible Unterstützungsarrangements. Die Begleitungspersonen werden nach Bedarf angefragt oder stehen im besten Fall jederzeit zur Verfügung, um mit den Budgetnehmer/innen „was unternehmen zu können“. Zwar übernehmen durchaus auch professionelle Kräfte diese Freizeitbegleitung,130 die Budgetnehmer/innen greifen allerdings verhältnismäßig häufig
130 Dabei fällt auf, dass es sich meist um Mitarbeiter/innen etablierter Anbieter der Behindertenhilfe handelt. Nicht selten sind diese Mitarbeiter/innen den Budgetnehmer/innen auch bereits seit längerem bekannt (z.B. aus einer früheren Wohneinrichtung).
7.2 Budgetverwendung
347
auf private Hilfen oder Laienkräfte zurück (z.B. Student/innen, Schüler/innen, Freunde und Bekannte sowie Nachbarn). Dies liegt zum einen darin begründet, dass für diese Tätigkeiten oftmals keine spezifischen Qualifikationen benötigt werden. Ein weiterer Grund ist, dass diese Personen den lebensphasenspezifischen Interessen der Budgetnehmer/innen oftmals besser entsprechen als professionelle Fachkräfte (z.B. Freizeitbegleitung von Jugendlichen durch Gleichaltrige). Entsprechend handelt es sich in der Regel um kleinere Geldbeträge und die unterstützenden Personen werden eher auf Stundenbasis bezahlt oder sind auf geringfügig beschäftigter Basis für die Budgetnehmer/innen tätig. In einigen Fällen werden die unterstützenden Personen zudem gar nicht direkt durch das Persönliche Budget bezahlt. Stattdessen verwenden die Budgetnehmer/innen das Persönliche Budget dafür, ihren Begleiter/innen beispielsweise den Eintritt ins Kino, ins Schwimmbad oder zu einer Veranstaltung zu finanzieren, sie zum Essen oder einer Tasse Kaffee einzuladen oder Geschenke zu machen. Die andere Gruppe finanziert mit dem Persönlichen Budget keine Begleitpersonen, sondern die Aktivitäten selbst (z.B. in Form von Beiträgen, Unkosten usw.). Hierbei besteht das Persönliche Budget aus mehr oder weniger disponiblen Geldbeträgen, die zweckentsprechend für verschiedene Aktivitäten im künstlerischen, musischen oder sportlichen Bereich eingesetzt werden können, um damit beispielsweise die Gebühren für bestimmte Kurse und Seminare (z.B. an der Volkshochschule) oder Mitgliedsbeiträge in Sportvereinen oder Fitnessstudios zu finanzieren. Thematisch erstreckt sich dies von Zeichenkursen, Sprachkursen, Computerkursen, über asiatische Kampfsport- und Meditationstechniken (z.B. Tai-Chi, Chi-Gong) bis hin zu Trommel-Workshops oder Kochkursen. In anderen Fällen finanzieren die Budgetnehmer/innen auch Eintrittsgelder (z.B. ins Schwimmbad, ins Theater oder Stargelder für Laufveranstaltungen) über das Persönliche Budget. Daneben werden aber auch Ausgaben für bildungsrelevante Aktivitäten wie ein Fernstudium oder ein Gasthörerstudium getätigt. Einige Budgetnehmer/innen kreieren hierbei einen komplexen „Mix“ verschiedener Aktivitäten, die allesamt aus Mitteln des Persönlichen Budgets finanziert werden. Eine 34-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung bezahlt beispielsweise aus ihrem Persönlichen Budget folgende „Posten“: „Jahreskarte fürs Schwimmbad, Beitrag für Tai-Chi-Seminare, die Fahrtkosten zu den Seminaren“. Angemerkt werden muss ferner, dass diese Geldbeträge für spezielle Aktivitäten und Freizeitgestaltung in den meisten Fällen eine professionelle psycho-soziale Betreuung ergänzen aber nicht ersetzen.
348
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
7.2.1.5
Sachmittel und Fahrtkosten
Neben Geldmitteln für Kurse und Aktivitäten finanziert eine Reihe an Personen mit dem Persönlichen Budget aber auch Materialien, diverse Hilfsmittel oder Fahrtkosten. Grund dafür ist, dass diese Finanzierungsmöglichkeit den Budgetnehmer/innen als besonders hilfreich im Umgang mit ihrer Erkrankung oder Behinderung erscheint. Im Gegenzug wird oftmals auf professionelle Unterstützung verzichtet (etwa wenn Teile des Budgets für solche Sachmittel ausgegeben werden können). Hierbei kann unterschieden werden zwischen Geldmitteln für bestimmte Anschaffungen oder der Finanzierung von laufenden Kosten auf der einen Seite und Fahrtkosten bzw. Fahrdienste auf der anderen Seite:
Geldmittel für Anschaffungen und laufende Kosten werden von den Budgetnehmer/innen in vielerlei Hinsicht eingesetzt. Diese Praxis erstreckt sich von dem Einkauf von Bastel- oder Malutensilien über die Raummiete für die Kunsttherapie oder die Unterhaltskosten für ein Auto bis hin zu Budgetnehmer/innen, die aus Mitteln des Budgets die Kosten für einen Internetoder ein Telefonanschluss aufbringen (so finanziert beispielsweise ein 41jähriger Budgetnehmer aus Teilen des Budgets anfallende Telefonkosten, um damit besser soziale Kontakte pflegen zu können). Exotischere Beispiele wurden bereits an anderer Stelle beschrieben, etwa eine Budgetnehmer/in, die auf ein tragbares Navigationsgerät spart (vgl. dazu insgesamt die Beispiele in Kapitel 7.1.1.6). Im Bereich Frühförderung, Schule und Ausbildung können ferner Budgetposten für geeignete Spiel- und Lernmaterialien ausgegeben werden. Was Fahrtkosten betrifft, so erhalten die Budgetnehmer/innen einen fixen Geldbetrag, der für Fahrten zu unterschiedlichen Zwecken verwendet werden darf. Der konkrete Nutzen des Persönlichen Budgets besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Fahrten von den Budgetnehmer/innen selbstständig organisiert werden können bzw. das Beförderungsmittel frei gewählt werden kann. Sinn und Zweck dieser Fahrdienste bzw. Fahrtkosten erstreckt sich dabei von dem regelmäßigen Transfer zu Freizeitangeboten in Einrichtungen der Behindertenhilfe (z.B. Freizeittreffs, Jugendclubs)131 oder einem „Abhol- und Bringdienst“ in eine Tagesstätte (Budgetnehmer, 65 Jahre) über
131 In einigen Fällen werden aus Mitteln des Persönlichen Budgets die Hin- und Rückfahrt zu Veranstaltungen oder regelmäßigen Treffs in Einrichtungen der Behindertenhilfe bezahlt. Dabei handelt es sich oftmals um Freunde oder Bekannte, die diese Fahrdienste übernehmen und von den Budgetnehmer/innen bzw. deren Eltern selbst ausgesucht wurden. Ein entsprechendes Beispiel ist eine 25-jährigen Budgetnehmerin mit einer geistigen Behinderung, die an 9 Tagen im Monat von einer Bekannten zu einem Jugendclub gefahren wird um die Eltern zu entlasten.
7.2 Budgetverwendung
349
Fahrten zur Arbeit, Fahrten zum Arzt oder zu speziellen Therapien bis hin zu „Einkaufsfahrten“ (Budgetnehmer, 39 Jahre), Fahrten zur Familie oder Fahrten zu anderen freizeitrelevanten Aktivitäten (Seminare, Kurse usw.). Mit dem zur Verfügung stehenden monatlichen Geldbetrag beauftragen die Budgetnehmer/innen entweder (professionelle) Fahrdienste oder aber es werden unmittelbar Fahrtkosten finanziert. In letzterem Fall kann ferner unterschieden werden zwischen Budgetnehmer/innen, die aus Mitteln des Persönlichen Budgets öffentliche Verkehrsmittel bezahlen (z.B. Fahrkarten für Bus- oder Zugfahrten, Monatkarten usw.), Budgetnehmer/innen, die das Budget für Taxifahrten verwenden und Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets Benzinkosten anderer finanzieren. Bei der letztgenannten Gruppe handelt es sich um Budgetnehmer/innen, die sich bei bestimmten Personen in Form von Benzinkosten finanziell erkenntlich zeigen möchten, wenn diese Fahrdienste für die Budgetnehmer/innen übernehmen. Der Sache nach handelt es sich dabei häufig um bekannte, befreundete oder verwandte Personen, die zwar nicht direkt aus dem Persönlichen Budget bezahlt werden, denen aber mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine „Aufwandsentschädigung“ (z.B. Benzinkosten) ermöglicht werden kann.
7.2.1.6
Spezielle Therapien und (Einzel-)Förderung
Einige Budgetnehmer/innen finanzieren spezielle Therapien, besondere Maßnahmen oder eine gezielte Einzelförderung mit Hilfe des Persönlichen Budgets. Folgende Bereiche lassen sich dabei unterschieden:
Zu den speziellen Therapien zählen etwa Ergotherapie, Soziotherapie, Musiktherapie, Kunsttherapie usw.132 Genannt werden dabei meist auch die dazu passenden Berufsbezeichnungen. Unterstützt werden die Budgetnehmer/innen von qualifizierten Fachkräften wie Ergotherapeut/innen, Soziotherapeut/innen, Musiktherapeut/innen bzw. Musikpädagog/innen, Physiotherapeut/innen, Psycholog/innen usw., aber auch Sozialpädagog/innen bzw. Sozialarbeiter/innen oder andere pädagogische Fachkräfte wie Erzieher/innen oder Lehrer/innen werden erwähnt. Die entsprechenden Unterstützungsarrangements sind dabei sehr speziell und konnten oftmals nur über ein Persönliches Budget realisiert werden, wie etwa auch im Falle eines 26-jährigen Budgetnehmers mit einer psychischen Erkrankung, der
132 In einzelnen Fällen werden allerdings lediglich „Therapiestunden“ oder „Beratungsstunden“ bei Psychologen oder Therapeuten erwähnt, ohne dass näher erklärt wird, um welche Form der Therapie es sich handelt.
350
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
aus dem Persönlichen Budget kunsttherapeutische Sitzungen sowie Malutensilien und die Raummiete eines Ateliers bezahlt (vgl. dazu auch Kapitel 7.1.1.6). Zu dieser Kategorie zählen ebenfalls Kinder, deren Eltern das persönliche Budget beantragt haben, um dadurch eine autismusspezifische Therapie mit Hilfe des Persönlichen Budgets in Anspruch nehmen zu können. Die Budgetlösung wurde dabei gewählt, weil die Kosten für diese Therapie im Kontext des Sachleistungsprinzips sonst nicht übernommen worden wären (vgl. dazu ausführlich Kapitel 7.1.1.7). Weiterhin sind hier spezielle Fachkräfte zu nennen, die die Budgetnehmer/innen in Form von Einzelunterricht und -förderung gezielt unterstützen (etwa zum Erlernen der Gebärdensprache, um lesen und schreiben zu lernen, zu Förderung der Wegefähigkeit, Mobilitätstraining usw.) oder den Budgetnehmer/innen bestimmte Kenntnisse und Kompetenzen beibringen (z.B. EDV-Kenntnisse, Umgang mit neuen Medien, Gitarrenkurse, Klavierunterricht). Zudem erhoffen sich manche Angehörige, dass sie mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine spezifische Einzelförderung realisieren können, etwa die Mutter eines 45-jährigen Budgetnehmers mit einer sogenannten geistigen Behinderung, deren Ziel es ist, die „Fertigkeiten [des Sohnes] weiterhin [zu] erhalten oder aus[zu]bauen“ und „geistige und körperliche Anregungen“ durch eine individuelle Förderung zu ermöglichen. Zuletzt seien hier noch Kinder erwähnt, die von Schulbegleiter/innen bzw. Schulassistent/innen im Rahmen von Einzelförderung in Regelschulen unterstützt werden. Für wieder andere Kinder sind spezielle Fachkräfte tätig, die in Form von Leistungen zur Frühförderung sonderpädagogische Maßnahmen und Programme bei Entwicklungsverzögerungen anbieten.
7.2.1.7
Hilfen in Einrichtungen
Unter „Hilfen in Einrichtungen“ sind „einrichtungsgebundenen Leistungen“ zu verstehen, die von Einrichtungen der Behindertenhilfe angeboten werden und auch nur innerhalb bzw. im Rahmen des Angebotsspektrums einer solchen Einrichtung in Anspruch genommen werden können. Die Budgetnehmer/innen kaufen sich mit Hilfe des Persönlichen Budgets beispielsweise einzelne Angebote in den Räumlichkeiten der Einrichtungen ein oder verwenden das Budget für eine teilstationäre oder stationäre Unterstützung. Dazu sind drei verschiedene Konstellationen dokumentiert:
Ein Teil dieser Angebote in Einrichtungen sind beispielsweise spezielle gruppen- oder einzeltherapeutische Angebote, sportliche und kulturell-musische
7.2 Budgetverwendung
351
Angebote oder Freizeitaktivitäten, die von stationären Wohneinrichtungen angeboten werden. Das Besondere daran ist, dass diese Angebote nur für die Bewohner/innen der Einrichtung gedacht sind, durch ein Persönliches Budget können aber auch Budgetnehmer/innen, die nicht (mehr) in der Einrichtung wohnen, an diesen Angeboten teilnehmen. So kaufen sich einige Budgetnehmer/innen beispielsweise Angebote in Wohnheimen ein, in denen sie selbst früher gelebt haben, um so den Kontakt zu vertrauten Mitarbeiter/innen und/oder anderen Bewohner/innen aufrechterhalten zu können. Wieder andere Budgetnehmer/innen nutzen nach dem Auszug aus therapeutischen Wohneinrichtungen weiterhin die Gruppenangebote oder die therapeutischen Einzelsitzungen in der Einrichtung zum Zwecke der nachhaltigen psychischen Stabilisierung.133 Genauso erfasst sind mit dieser Kategorie aber auch Personen, deren Persönliches Budget für die Kosten einer teilstationären Maßnahme, wie etwa eine Tagesgruppe für Kinder oder ein tagesstrukturierendes Angebot (z.B. eine Tagesstätte oder eine Werkstatt für behinderte Menschen) gedacht ist. Diese Budgetnehmer/innen verwenden das Persönliche Budget vollständig oder einen Teil davon für die Finanzierung solcher teilstationärer Angebote. In anderen Konstellationen finanzieren Budgetnehmer/innen die Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen oder ambulanten Angeboten von Leistungsanbietern der Behindertenhilfe, beispielsweise Freizeittreffs, Sportangebote, Tanzveranstaltungen oder dergleichen. Im Unterschied zu den oberen beiden Konstellationen handelt es sich jedoch nicht um stationäre oder teilstationäre sondern um offene Angebote. Oftmals wird die Finanzierung solcher Angebote mit den Fahrtkosten zu den entsprechenden Einrichtungen kombiniert (vgl. dazu Kapitel 7.2.1.5).
Aufgrund der Bindung der Leistungen an eine bestimmte Einrichtung fehlen detaillierte Informationen über die jeweiligen Berufsgruppen bzw. Qualifikationen der unterstützenden Personen. Oftmals wurde lediglich erwähnt, dass es sich um Angebote der ehemaligen Einrichtung handelt. Auch hinsichtlich der teilstationären Angebote weisen die befragten Budgetnehmer/innen lediglich auf die Bezeichnungen der Einrichtungen hin (z.B. Gemeinde- oder Sozialpsychiatrisches Zentrum, Werkstatt für behinderte Menschen usw.). Insgesamt ist aber davon auszugehen, dass es sich um pädagogisch und therapeutisch qualifiziertes Fachpersonal handelt.
133 Sinn und Zweck dieser Form der Budgetverwendung wurden im Rahmen des Clusters „Selbstständige Lebensführung im sicheren Rahmen“ bereits angedeutet.
352
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
7.2.1.8
Ausbildung und Arbeit
Eine kleinere Gruppe an Budgetnehmer/innen kauft sich gezielt Unterstützung für die berufliche Bildung und Arbeitssuche oder – wenn die betreffenden Personen bereits in Arbeit stehen – für Unterstützung im Arbeitsleben ein. Einen größeren Teil dieser Leistungen machen dabei Leistungen zur Arbeitsassistenz in der Zuständigkeit des Integrationsamts aus. Daneben wurden aber auch (Teil-) Budgets dokumentiert, die für eine pädagogische Begleitung und Anleitung im Rahmen der Kosten für den Berufsbildungsbereich (Agentur für Arbeit) sowie für den Arbeitsbereich (Sozialhilfe) in einer Werkstatt für behinderte Menschen bewilligt wurden. Das Markante daran ist, dass die bewilligten Leistungen aber nicht in einer Einrichtung der Behindertenhilfe eingekauft werden (vgl. dazu Kapitel 7.1.1.5). Insgesamt können für den Bereich Ausbildung und Arbeit außerhalb von Einrichtungen der Behindertenhilfe exemplarisch drei Formen der Budgetverwendung beschrieben werden (vgl. dazu auch Meyer 2006):
Die erste Gruppe sind Budgetnehmer/innen, die Leistungen zur Arbeitsassistenz in der Zuständigkeit des Integrationsamts beziehen. Hierbei können beispielhaft zwei Budgetnehmer/innen mit einer Hörbehinderung genannt werden, die das Persönliche Budget für Gebärdendolmetscher/innen nutzen,134 sowie eine 33-jährige Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung, die Arbeitsassistenz für ihre Tätigkeit im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses in einer Verwaltung erhält. Ein anderer Budgetnehmer bekommt anstatt der Sachleistung für den Berufsbildungsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen ein Persönliches Budget. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets wird allerdings der Berufsbildungsbereich in einem privatwirtschaftlichen Betrieb im Rahmen eines Praktikumsverhältnisses und nicht in einer Werkstatt für behinderte Menschen absolviert. Eingesetzt wird das Budget für eine ambulante pädagogische Anleitung durch einen dafür qualifizierten ambulanten Leistungserbringer.
134 Beide Budgetnehmer/innen üben eine selbstständige bzw. freiberufliche Tätigkeit aus (es handelt sich um einen freiberuflich tätigen Gebärdensprachen-Dozent sowie um eine Modedesignerin mit eigenem Laden) und werden bei der (täglichen) Arbeit durch selbstgewählte Arbeitsassistent/innen unterstützt. Die Assistent/innen übersetzen dabei von der Gebärdensprache in die gesprochene Sprache und andersherum, um beispielsweise die Kommunikation mit Kunden, Geschäftspartnern oder Ämtern zu ermöglichen, Telefonate entgegen zu nehmen, Veranstaltungen zu organisieren usw. Beantragt wurde das Budget, um mehr Flexibilität in der Organisation und Planung der Arbeitsassistenz zu haben, vor allem außerhalb der üblichen Arbeitszeit.
7.2 Budgetverwendung
353
Eine dritte Form der Verwendung stellt ein 38-jähriger Budgetnehmer dar, der nur einen Teil seines Budgets für die Leistungen einer Werkstatt für behinderte Menschen verwendet. Finanziert werden lediglich 3 Tage in der Werkstatt, während er für die restlichen 2 Tage einen ambulanten Dienstleiter damit beauftragt, ihn im Rahmen eines Praktikums außerhalb der Werkstatt zu unterstützen.
Daneben gibt es noch eine Reihe an Budgetnehmer/innen, welche (noch) nicht in Ausbildung oder Arbeit stehen und pädagogische Fachkräfte finanzieren, die – oftmals neben anderen Tätigkeiten – bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz oder nach einer Arbeitsstelle behilflich sind. Auf psychosozialer Ebene zählen hierzu auch das Aufzeigen von Möglichkeiten sowie die Unterstützung beim Entwickeln und Finden geeignetere Berufsperspektiven. Beispielsweise beschreibt ein 29-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung Sinn und Zweck der Unterstützung in der „Entwicklung von Bildungsperspektiven“. Mit dem Persönlichen Budget finanziert er sich hierfür einen „Bildungscoach“.
7.2.1.9
Budgetbezogene Dienstleistungen und Kosten
In ein paar Fällen, insbesondere dann, wenn die Unterstützung im Rahmen eines Arbeitgebermodells organisiert ist, werden zusätzlich zu den unterstützenden Personen bzw. Assistent/innen auch externe Dienstleister zum Zwecke der Budgetberatung oder Budgetverwaltung aus dem Persönlichen Budget finanziert. Inhalte dieser Beratungs- bzw. Unterstützungstätigkeiten sind beispielsweise die Rekrutierung geeigneter Assistent/innen, die Organisation der Unterstützung, Übernahme der Budgetverwaltung und -abrechnung sowie Beratung in Sachen Lohnnebenkosten und Sozialversicherung. Bei diesen Unterstützungsleistungen lassen sich zwei verschiedene Akteure unterscheiden:
Zum einen werden Beratungsakteure aus Teilen des Persönlichen Budgets bezahlt, die Beratung oder Informationen rund um die Verwaltung und Verwendung des Persönlichen Budgets anbieten (z.B. Beratung zu den Abrechnungsmodalitäten und zu den Rahmenbedingungen des Arbeitgebermodells sowie Hilfestellung bei der Rekrutierung geeigneter Unterstützungspersonen oder -dienste). Leistungserbringer sind in der Regel Vereine oder Selbsthilfeorganisationen, die sich auf das Themenfeld „Budgetassistenz“ spezialisiert haben, etwa die „Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen e.V.“ (ASL) in Berlin (für weiterführende Informationen vgl. ASL e.V. 2005; Bezirksamt Friedrichshain Kreuz-
354
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
berg 2008, 25f.). ASL e.V. erbringt beispielsweise für eine Reihe an Budgetnehmer/innen in Berlin eine aus dem Persönlichen Budget finanzierte Budgetassistenz. Finanziert wird diese Dienstleistung anteilig aus dem Gesamtbudget, d.h. die Höhe des Budgets bestimmt die Kosten für die Beratung und Unterstützung durch ASL e.V. Die dadurch errechnete Summe wird als pauschale monatliche Zahlung an ASL e.V. überwiesen und der Budgetnehmer bzw. die Budgetnehmerin kann sich nach Bedarf Unterstützung und Beratung einholen. Die zweite Gruppe sind gewerbetreibende Dienstleister, die für einen bestimmten Betrag die Budgetverwaltung oder Abrechnungsmodalitäten übernehmen. Diese werden vor allem genutzt, wenn es beispielsweise um das Abführen von Lohnnebenkosten bzw. Sozialversicherungsbeiträgen der Assistent/innen geht. Leistungserbringer können beispielsweise professionelle Lohnbüros, Steuerberater oder auch Einzelpersonen mit entsprechender Ausbildung (Bürokaufleute, Personalfachkräfte usw.) sein.
Manchmal werden beide Arten von Dienstleistungen auch miteinander kombiniert. An einem Beispiel eines 48-jährigen Budgetnehmers mit einer körperlichen Behinderung, der beides – ein Lohnbüro sowie die Beratungsleistungen von ASL e.V. – in Anspruch nimmt, sei dies verdeutlicht: Das trägerübergreifende Persönliche Budget wurde für täglich 10 Stunden Assistenz bemessen, beträgt knapp 6.000€ und setzt sich aus Hilfen zur Pflege (Sozialhilfeträger) sowie Pflegegeld (Pflegeversicherung) zusammen. Der Budgetnehmer organisiert seine tägliche Assistenz nach dem Arbeitgebermodell. 29€ aus dem Gesamtbudget bezahlt er einem Lohnbüro, das ihn bei der Verwaltung des Geldes (v.a. Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen) unterstützt. Weiterhin sind monatlich 220€ pauschal für die Budgetberatung und -assistenz durch die Berliner Selbsthilfeorganisation ASL e.V. in dem Budget mit eingerechnet. Diese können für Beratungsgespräche und/oder weiterführende Informationen genutzt werden.135 Weitere Unkosten, die ebenfalls mit dem Arbeitgebermodell in Verbindung stehen können, sind Beträge, mit denen budgetbezogene Sachmittel finanziert werden. Beispielsweise wurden bei dem eben genannten 48-jährigen Budgetnehmer zusätzlich etwa 300€ für Büromaterial und mit dem Arbeitgebermodell in Verbindung stehende Unkosten in das Persönliche Budget einkalkuliert (z.B. wenn der Budgetnehmer eine Anzeige für Assistent/innen schaltet, für Briefmarken usw.). Alles in allem lassen sich diese zusätzlichen Posten unter dem Begriff 135 Allerdings muss der Budgetnehmer jeden Monat 220€ automatisch an ASL abführen, egal ob tatsächlich eine Beratung erfolgt oder nicht. Oft – so der Budgetnehmer – hätte er aber überhaupt keinen Bedarf an Beratung, zahle aber trotzdem jeden Monat 220€ an ASL. Eine stundenweise Beratung mit entsprechender Rechnungsstellung hält er daher für sinnvoller.
355
7.2 Budgetverwendung
„budgetbezogene Dienstleistungen und Kosten“ zusammenfassen, da sie nicht unmittelbar mit der eigentlichen Unterstützung zusammenhängen, sondern aufgrund der (Selbst-) Verwaltung des Budgets und der Mehrkosten anfallen.
7.2.2 Quantitative Analyse der Budgetverwendung – Ergebnisse der statistischen Auswertungen Wie bereits in Kapitel 7.1.2 am Beispiel der quantifizierten Motive der Budgetbeantragung dargestellt, lässt sich auch die Budgetverwendung in eine nominal skalierte, binäre Variable transformieren (Art der Budgetverwendung: 1=ja, 0=nein), so dass eine quantitative Auswertung möglich wird. Im Folgenden wird zunächst die jeweilige Häufigkeit der verschiedenen Verwendungsformen dargestellt. Anschließend werden die Verwendungsformen den aus den Motiven zur Budgetbeantragung gebildeten Clustern gegenübergestellt. Dabei gilt es zu zeigen, inwiefern die Art der Budgetverwendung mit einem jeweiligen Typus zusammenhängt.
7.2.2.1 Häufigkeit der qualitativ gebildeten Kategorien der Budgetverwendung Informationen zur Budgetverwendung liegen von 193 Personen vor. Die Häufigkeitsverteilung der gefundenen Formen der Budgetverwendung ist in Tabelle 20 dargestellt:
Art und Inhalt der Budgetverwendung (Kategorie)
Anzahl Nennungen
Alltagspraktische Unterstützung im (eigenen) Haushalt Pädagogische und psycho-soziale Unterstützung Persönliche Assistenz Spezielle Aktivitäten Sachmittel und Fahrtkosten
92 103 43 80 41
Anteil an allen Befragten (n=193) 47,7% 53,4% 22,3% 41,5% 21,2%
Spezielle Therapien und (Einzel-) Förderung
29
15,0%
Hilfen in Einrichtungen Ausbildung und Arbeit Budgetbezogene Dienstleistungen und Kosten
25 10 16
13,0% 5,2% 8,3%
Tabelle 20: Häufigkeit von Art und Inhalt der Budgetverwendung (n=193; Mehrfachantworten)
356
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Es zeigt sich, dass der weitaus größte Teil der Budgetnehmer/innen Unterstützung in lebenspraktischen Belangen mit Hilfe des Persönlichen Budgets finanziert. Dazu zählen insbesondere die Unterstützung im Haushalt sowie pädagogische und psycho-soziale Hilfen (einschließlich Unterstützung in Behördenangelegenheiten, im Umgang mit Geld sowie Unterstützung bei der Gesundheitsfürsorge). Jeweils etwa jede/r zweite Budgetnehmer/in finanziert solche Leistungen mit dem Persönlichen Budget. Danach folgen Leistungen für spezielle Aktivitäten, für persönliche Assistenz sowie Sachmittel und Fahrtkosten. Andere Bereiche spielen eine weitaus geringere Rolle. Die Häufigkeit der Leistungen steht in engem Bezug zu der in Kapitel 7.1.2 vorgestellten Häufigkeitsverteilung der Motive der Budgetbeantragung. Die häufigsten Verwendungsformen sind Leistungen, die mit dem Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung und Versorgungssicherheit sowie nach individuellen Lösungen und sozialen Kontakten zusammenhängen. Entsprechend spiegelt die Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Formen der Budgetverwendung die Häufigkeitsverteilung der Motive zur Budgetbeantragung wider.
7.2.2.2 Gegenüberstellung der Verwendungsformen mit den Motiven der Budgetbeantragung – die Budgetverwendung im Kontext der gefundenen Typen Ziel des folgenden Kapitels ist es, die gefundenen Kategorien zur Budgetverwendung den aus der Clusteranalyse hervorgehenden Typen zuzuordnen. Dabei soll die quantitative Verteilung der Verwendungsformen im Kontext der gefundenen vier Cluster und der Restgruppe dargestellt werden. Bivariate Analysen zeigen dabei folgende Verteilungen:136
136 Analog zur Berechnung der Verteilung der Motive auf die vier Cluster wird auch in dieser Analyse auf die Zeilenrandhäufigkeiten sowie die Spaltenrandhäufigkeiten prozentuiert. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, den Anteil der Personen, die eine bestimmte Form der Budgetverwendung angeben, über die verschiedenen Cluster hinweg darzustellen. Zum anderen können aber auch Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der einzelnen Cluster gezogen werden. Zudem wurden die jeweiligen Kreuztabellen einem Signifikanztest unterzogen. Es zeigt sich, dass die meisten bivariaten Zusammenhänge signifikant sind. Unter Zuhilfenahme verschiedener nominaler Zusammenhangsmaße (Phi/Cramers V/Kontingenzkoeffizient) lässt sich die Stärke des Zusammenhangs messen. Die jeweiligen Signifikanzniveaus und Zusammenhangsmaße sind in der nachfolgenden Tabelle dargestellt.
357
7.2 Budgetverwendung
Gruppen Zusammengefasste Motive (Cluster) Budgetverwendung
Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität
Emanzipation durch erweiterte Spielräume
Alltagspraktische Unterstützung im Haushalt*
52
16
17
(57%) (72%)
(17%) (34%)
(19%) (37%)
Pädagogische/ psycho-soziale Unterstützung*
57
19
20
(56%) (79%)
(19%) (40%)
(20%) (44%)
Hilfen in Einrichtungen Spezielle Aktivitäten** Sachmittel und Fahrtkosten** Persönliche Assistenz* Ausbildung und Arbeit
Restgruppe:
Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Initiative Anderer
2 (2%) (11%)
5 (5%) (63%)
(100%) (48%)
1 (1%) (5%)
5 (5%) (63%)
(100%) (53%)
Gesamt
92
102
25
14
6
2
3
(56%) (19%)
(24%) (13%)
(8%) (4%)
(12%) (16%)
-
(100%) (13%)
22
30
18
5
(28%) (31%)
(38%) (64%)
(23%) (39%)
(6%) (26%)
4 (5%) (50%)
(100%) (41%)
12 (29%) (17%)
19
4
(46%) (40%)
(10%) (9%)
5 (12%) (26%)
1 (2%) (13%)
(100%) (21%)
(100%) (22%)
79
41
8
9
21
3
(19%) (11%)
(21%) (19%)
(49%) (46%)
(7%) (16%)
2 (5%) (25%)
2 (20%) (3%)
2 (20%) (4%)
(60%) (13%)
-
-
-
1 (6%) (13%)
(100%) (8%)
2 (7%) (25%)
(100%) (15%)
43
10
6
(100%) (5%)
1
2
12
(6%) (1%)
(13%) (4%)
(75%) (26%)
Spezielle Therapien und (Einzel-) Förderung*
3 (10%) (4%)
9
4
11
(31%) (19%)
(14%) (9%)
(38%) (58%)
72
47
46
19
8
192
Gesamt
(38%) (100%)
(25%) (100%)
(24%) (100%)
(10%) (100%)
(4%) (100%)
(100%) (100%)
Budgetbezogene Dienstleistungen*
16
29
* signifikant mit p<0,001; Phi/Cramers V/Kontingenzkoeffizient > 0,3 ** signifikant mit p<0,005; Phi/Cramers V/Kontingenzkoeffizient > 0,2
Tabelle 21: Quantitative Verteilung der Verwendungsformen und Bezug zu den Clustern (n=192; Mehrfachantworten; Werte größer oder kleiner 100% durch Rundungsfehler)
358
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Die Häufigkeit des Vorkommens der verschiedenen Verwendungsformen in den vier Clustern verweist auf deutliche Zusammenhänge. Art und Inhalt der Budgetverwendung korrespondieren demnach relativ stark mit der jeweiligen Intention, die hinter der Budgetbeantragung steckt. Im Einzelnen lassen sich die Ergebnisse wie folgt zusammenfassen:
Cluster 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen Die am häufigsten zu beobachtenden Formen der Budgetverwendung (Hilfen im Haushalt; pädagogische/psycho-soziale Unterstützung) sind auch wiederum in dem zahlenmäßig größten Cluster am stärksten vertreten. Mehr als die Hälfte aller Budgetnehmer/innen, die diese Art der Budgetverwendung angeben, befinden sich in diesem Cluster. Ähnlich sieht dies auch bei den „Hilfen in Einrichtungen aus“: Ebenfalls mehr als die Hälfte aller Personen, die mit dem Persönlichen Budget Hilfen in Einrichtungen finanzieren, sind dem Cluster „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ zugeordnet. Die Häufigkeiten lassen sich auch in Bezug auf die Spaltenhäufigkeiten beschreiben. Hierbei zeigt sich, dass in etwa drei Viertel aller Budgetnehmer/innen dieses Clusters alltagspraktische Unterstützung im Haushalt und/oder psycho-soziale Unterstützung nutzen, während dies in der Gesamtbefragungsgruppe nur etwa die Hälfte aller Budgetnehmer/innen tun. Hilfen in Einrichtungen finanzieren zwar nur knapp 20% aller Budgetnehmer/innen dieses Clusters. Dieser Anteil ist aber dennoch höher als in der Gesamtbefragungsgruppe (13%). Es lässt sich daher festhalten: Budgetnehmer/innen, die eine selbstständige Lebensführung mit Versorgungssicherheit verknüpfen möchten, finanzieren insbesondere alltags- und lebenspraktische Unterstützung mit dem Persönlichen Budget. Dies steht sicher mit der spezifischen Koppelung von Verselbstständigungsabsicht bzw. dem Erhalt einer selbstständigen Lebensführung und dem Wunsch nach einer regelmäßigen und verlässlichen Unterstützung in Verbindung. Eine gewisse Bedeutung haben ferner Hilfen in Einrichtungen. Vermutlich spielt hierbei ebenfalls der Wunsch nach Versorgungssicherheit eine Rolle, weil in den meisten Fällen Leistungen aus der ehemaligen Einrichtung eingekauft werden. Alles in allem bestätigt demnach auch die Betrachtung der Budgetverwendung die Konstruktion des Typus „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“. Der wesentliche Charakter dieses Typus ist es, eine selbstständige Lebensführung mit einer gesicherten Versorgungsstruktur zu verbinden. Inhaltlich wird diese Versorgungssicherheit insbesondere über alltagspraktische Hilfen und psycho-soziale Betreuung gewährleistet. In einzelnen Fällen wird diese Unterstützung aber auch in dem „geschützten“ Rahmen einer (ehemaligen) Einrichtung bezogen.
7.2 Budgetverwendung
359
Cluster 2 – Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität Zwar spielen „Spezielle Aktivitäten“ sowie „Sachmittel und Fahrtkosten“ auch im ersten Cluster eine gewisse Rolle, dennoch lässt sich im Trend ein stärkerer Zusammenhang zwischen diesen Verwendungsformen und der Motivation, individuelle Möglichkeiten der Gestaltung von Teilhabe und Aktivität zu entwickeln, erkennen: Budgetnehmer/innen, die mit dem Persönlichen Budget spezielle Aktivitäten (Begleitung in der Freizeit, Beiträge und Kosten für verschiedene Aktivitäten) oder Sachmittel und Fahrtkosten finanzieren, sind demnach überproportional häufig im zweiten Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ vertreten. Dies zeigt sowohl ein Blick auf die Zeilenhäufigkeiten als auch auf die Verteilung innerhalb des Clusters (Spaltenhäufigkeiten). Vermutlich sind es also vor allem die Art und Weise der Freizeitbegleitung sowie die Verfügung über disponible Geldmittel und Fahrtkosten, die solche individuellen Unterstützungsarrangements zur Verbesserung von Teilhabe und Aktivität ermöglichen. Der Zusammenhang liegt durchaus auf der Hand: Diese Formen der Budgetverwendung entsprechen in höchstem Maße der Motivation, individuelle Wege zur Realisierung von Teilhabe und Aktivität entwickeln zu können. Insbesondere eine Verfügung über disponible Geldbeträge ermöglicht es diesen Budgetnehmer/innen, ein Unterstützungsarrangement zu konstruieren, das den individuellen Vorlieben und Interessen entspricht. Insgesamt bestätigt auch in diesem Fall die Betrachtung der Budgetverwendung die Konstruktion eines eigenständigen Typus „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“. Dabei geht es diesem Typus vor allem um benötigte Spielräume zur Realisierung von eigenen Vorstellungen zur Verbesserung von Teilhabechancen und Aktivität. Cluster 3 – Emanzipation und erweiterte Spielräume Überdurchschnittlich häufig sind in diesem Cluster Budgetnehmer/innen vertreten, die das Persönliche Budget für „Persönliche Assistenz“, „Ausbildung und Arbeit“ sowie für „Budgetbezogene Dienstleistungen“ verwenden: Betrachtet man die Zeilenhäufigkeiten, so sind knapp 50% aller Personen, die mit Hilfe des Persönlichen Budget eine persönliche Assistenz finanzieren, diesem Cluster zugeordnet. Sogar noch etwas stärker gilt dies für die beiden Verwendungsformen „Ausbildung und Arbeit“ (60%) sowie „Budgetbezogene Dienstleistungen“ (75%). Dasselbe Bild zeigt sich auch bei der Betrachtung der Spaltenhäufigkeiten: Auch wenn die jeweiligen Prozentwerte hierbei etwas niedriger sind (was daran liegt, dass diese Verwendungsformen insgesamt seltener genannt wurden), sind die Anteile dieser Budgetnehmer/innen im Vergleich zu den anderen Clustern erheblich höher.
360
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Was die große Bedeutung von Persönlicher Assistenz in diesem Cluster betrifft, so ist der Zusammenhang unschwer zu erkennen: Menschen mit Behinderung, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets mehr Selbstbestimmung und Flexibilität sowie eine größere Unabhängigkeit von professionellen Anbietern anstreben, versuchen dies vermutlich durch die Nutzung von Assistenzmodellen zu verwirklichen. Des Weiteren impliziert ja gerade die Idee Persönlicher Assistenz ein Moment der Einflussnahme, wie er in den Begriffen „Organisationskompetenz“, „Personalkompetenz“, „Anleitungskompetenz“, „Finanzkompetenz“ und „Orts- bzw. Raumkompetenz“ zum Ausdruck kommt. Alles in allem wird deutlich, dass der Wunsch nach Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Flexibilität und Emanzipation stärker als andere Motive mit dieser Verwendungsform des Persönlichen Budgets korrespondiert. Da Persönliche Assistenz häufig in Form des sogenannten Arbeitgebermodells organisiert ist, liegt auf der Hand, wieso budgetbezogene Dienstleistungen überproportional häufig diesem Cluster zugeordnet sind. So ist es gerade ein wesentliches Merkmal des Arbeitgebermodells, dass die Assistent/innen bei den Leistungsberechtigten und nicht bei einer bestimmten Einrichtung bzw. einem Dienstleister angestellt sind. Aus diesem Grunde müssen sozialversicherungsrechtliche Vorschriften eingehalten und entsprechende Lohnnebenkosten bzw. Versicherungsbeiträge abgeführt werden. Es ist in diesem Zusammenhang sicher nicht weiter zu begründen, warum diese Budgetnehmer/innen auf budgetbezogene Dienstleistungen zurückgreifen müssen, zumal das hierfür benötigte Knowhow keineswegs zum Allgemeinwissen gehört – auch nicht für Menschen ohne Behinderung. Die Verwendung des Persönlichen Budgets für die Bereiche „Ausbildung“ und „Arbeit“ ist hingegen in ihrer Bedeutung für dieses Cluster nicht sofort zu erkennen und erschließt sich letztendlich erst über eine genaue Betrachtung der konkreten Fälle. So zeigt eine solche Betrachtung, dass es insbesondere den Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget im Bereich Ausbildung und Arbeit einsetzen, um Alternativen zu den Angeboten der „klassischen“ Behindertenhilfe geht. Genannt werden können hierbei jene Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe einer durch das Persönliche Budgets finanzierte Unterstützung eine berufliche Bildung bzw. eine Tätigkeit außerhalb der Werkstatt für behinderte Menschen realisieren möchten. Genannt werden können aber auch jene Budgetnehmer/innen, die eine bestehende Tätigkeit mit Hilfe einer Arbeitsassistenz erhalten möchten. In allen diesen Fällen geht es implizit auch immer um die benötigten Spielräume, die das Persönliche Budget eröffnet und die es den Budgetnehmer/innen ermöglichen, weitestgehend selbstbestimmt und unabhängig von Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe leben zu können.
7.2 Budgetverwendung
361
Cluster 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets Im vierten Cluster sind vor allem „Spezielle Therapien und (Einzel-) Förderung“ relevant. 38% aller Budgetnehmer/innen, die diese Form der Budgetverwendung angegeben haben, sind in diesem Cluster zusammengefasst. In Bezug auf die Spaltenhäufigkeit zeigt sich, dass knapp 60% aller Budgetnehmer/innen dieses Clusters ihr Budget für diese Leistungen verwenden. Wie bereits vielfach beschrieben, setzt sich dieses Cluster aus Budgetnehmer/innen bzw. deren Stellvertreter/innen (Eltern) zusammen, die das Persönliche Budget nutzen, um spezielle Therapieformen und/oder alternative Angebote finanzieren zu können. Entsprechend spiegelt die Budgetverwendung die dahinter stehenden Motive wider. Diese Verwendungsform bestätigt deutlich, wie mit Hilfe des Persönlichen Budgets Alternativen und Vereinfachungsmöglichkeiten gegenüber der Sachleistung erschlossen werden sollen. Die Vorteile des Persönlichen Budgets manifestieren sich für diese Personengruppe weniger in ideellen Gründen, sondern ausschließlich in den erweiterten Möglichkeiten, geeignete Hilfen finanzieren zu können. 7.2.3 Organisation der Unterstützung und Entscheidung über die Budgetverwendung – Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen Neben den inhaltlichen Aspekten der Budgetverwendung ist auch von Interesse, wie die Budgetnehmer/innen die Verwendung des Persönlichen Budgets organisieren und welche Unterschiede hierbei zwischen den Clustern bestehen. Diese Themenstellung beinhaltet zum einen die Frage, wie die Leistungen eingekauft werden, d.h. welche organisatorischen Arrangements zwischen Leistungserbringern und Leistungsbeziehern vereinbart werden (z.B. Auftragsmodell, Arbeitgebermodell). In diesem Zusammenhang soll zudem betrachtet werden, um welche Art von Leistungserbringer es sich jeweils handelt (z.B. professionelle Dienstleister, Laienkräfte, allgemeine Dienstleistungen). Zum zweiten soll auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Budgetnehmer/innen selbst entscheiden können, für welche Leistungen das Budget ausgegeben wird und wer das Budget letztendlich verwaltet.
7.2.3.1
Organisatorische Hintergründe der Budgetverwendung
Die Leistungserbringung durch ein Persönliches Budget kann auf unterschiedliche Art und Weise organisiert werden. Auf Basis der Ergebnisse der Budgetnehmerbefragung können vier verschiedene Organisationsformen grob zusam-
362
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
mengefasst werden (vgl. dazu ausführlicher Metzler u.a. 2007, 190f. sowie Meyer, Rauscher 2007b):
Zum einen kann die Leistungserbringung auf Basis vertraglicher Festlegungen organisiert werden (Auftragsmodell). In diesem Fall schließen die Budgetnehmer/innen einen Vertrag mit einem Leistungserbringer, in dem beispielsweise Anzahl der Stunden, Art und Inhalt der zu erbringenden Leistungen, Einsatzzeiten sowie spezifische Regelungen (z.B. flexible Einsätze, Umgang mit nicht verbrauchten Stunden usw.) vereinbart werden. Die jeweiligen Leistungen und Anzahl an Stunden basieren dabei in der Regel auf im Vorfeld ausgehandelten Stundensätzen. Bei der Nutzung von professionellen Fachkräften und Diensten dienen oftmals bestehende Sätze für Fachleistungsstunden als Grundlage für die Vertragsgestaltung. Diese Fachleistungsstunden werden meist mit Stundensätzen zwischen 30€ und 50€ bemessen.137 Bei der Nutzung privater Hilfen bzw. sogenannter „selbstbeschaffter“ Kräfte werden die Stundensätze häufig individuell ausgehandelt und betragen in der Regel zwischen 8€ und 15€. Häufig werden aber auch professionelle Dienste mit privaten Hilfen kombiniert. Die zweite Organisationsform resultiert aus der spezifischen Charakteristik Persönlicher Budgets, aufgrund der inhaltlichen Spielräume auch allgemeine Dienstleistungen und Sachmittel finanzieren zu können. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger disponible Geldbeträge, die die Budgetnehmer/innen für eigene Vorstellungen von Unterstützung einsetzen, etwa Mitgliedsbeiträge für Fitnessstudios, Teilnahmegebühren für verschiedene Kurse (z.B. an der Volkshochschule) usw. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, die unterstützenden Personen bei den Budgetnehmer/innen selbst anzustellen bzw. in Form von Honorarverträgen zu beschäftigen (Arbeitgebermodell). Hierbei werden neben den zu zahlenden Löhnen auch Lohnnebenkosten in Form von Sozialversicherungsbeiträgen von den Budgetnehmer/innen abgeführt. Die Unterstützungspersonen werden von den meisten befragten Budgetnehmer/innen als „Assistenten“ bzw. „Assistentinnen“ bezeichnet und in allen Fällen handelt es sich um selbstbeschaffte Kräfte, die nicht selten auch über Stellenausschreibungen rekrutiert werden. Was die jeweiligen Qualifikationen anbetrifft, so zeigt sich eine enorme Bandbreite; häufig handelt es sich jedoch um Semiqualifizierte oder „Laienkräfte“ ohne spezifische Qualifikation (z.B. Studierende, Bekannte und Freunde usw.).
137 In den meisten Modellregionen betragen die Stundensätze über 40€ für sozialpädagogische Fachkräfte (vgl. dazu ausführlich Metzler u.a. 2007, 143).
7.2 Budgetverwendung
363
In einigen Fällen existiert kein direkter Zahlungsverkehr zwischen den Budgetnehmer/innen und den Leistungserbringern. Bei diesen Budgetnehmer/innen wurde im Zuge der Budgetbewilligung vereinbart, dass das Persönliche Budget direkt an einen (oftmals bereits im Vorfeld festgelegten) Leistungserbringer „abgetreten“ wird („Abtretungserklärungen“). Im Grunde unterscheidet sich diese Organisationsform nicht von der Sachleistung und die auf Basis solcher Abtretungserklärungen eingeschränkte Entscheidungsfreiheit widerspricht der Grundintention Persönlicher Budgets.
Was die ersten beiden Organisationsformen betrifft, so lassen sich in einigen Fällen verschiedene Kombinationen finden. So gibt es Budgetnehmer/innen, die einen Teil des Budgets für den Einkauf einer persönlichen Unterstützung – etwa in Form ambulant betreuten Wohnens – ausgeben (Auftragsmodell), den anderen Teil aber für spezifische Dienstleistungen und Sachmittel nutzen (disponible Geldbeträge). Genauso gibt es Budgetnehmer/innen, die einen Teil des Persönlichen Budgets für pädagogische Fachkräfte verwenden, mit dem anderen Teil aber unqualifizierte Kräfte finanzieren. Aus diesem Grunde können die genannten Organisationsformen zusätzlich noch im Hinblick auf die jeweils genutzten (Fach-) Kräfte und deren Qualifikationsniveau differenziert werden. Eine quantitative Betrachtung dieser Organisationsformen zeigt, dass die meisten Budgetnehmer/innen professionelle Personen oder Dienste auf Basis von Leistungsverträgen nutzen. Andere Organisationsformen sind hingegen selten. Insgesamt lassen sich die verschiedenen Modelle der Budgetverwendung wie folgt quantifizieren und beschreiben: 1) Auftragsmodell Knapp 50% aller Budgetnehmer/innen finanziert mit Hilfe des Persönlichen Budgets professionelle Fachkräfte bzw. Dienstleister im Rahmen eines Auftragsmodells (Leistungsverträge mit Einrichtungen, Dienstleistern oder einzelnen Fachkräften). Innerhalb dieser Personengruppe gibt es eine kleinere Gruppe an Budgetnehmer/innen, die ergänzend zu einer vertraglich geregelten (professionellen) Unterstützung einen (kleinen) Teil des Persönlichen Budgets in einem vorgegebenen Rahmen für allgemeine Dienstleistungen (Kurse, Bildungsangebote, Sport, künstlerische Tätigkeiten usw.) oder für spezifische Sachmittel (Sportausrüstung, Fahrtkosten usw.) verwendet. Da diese allgemeinen Dienstleistungen und/oder Sachmittel allerdings nur eine ergänzende Funktion einnehmen und der Großteil des Budgets für professionelle Anbieter eingeplant ist, werden diese Budgetnehmer/innen der Kategorie „Leistungsverträge mit professionellen Diensten/Fachkräften“ zugeordnet. Entsprechende Regelungen zur Budgetverwendung werden dabei meist in den Zielvereinbarungen festgelegt (Zweckbindung eines bestimmten Betrags für professionelle Hilfen). Die Budgetnehmer/
364
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
innen dürfen daraufhin einen kleinen Teil des Gesamtbudgets ergänzend zur Verwirklichung persönlicher Interessen einsetzen, verzichten aber im Gegenzug auf einen Teil der vereinbarten Stunden für professionelle Unterstützung. Eine kleinere Gruppe von etwa 14% aller Budgetnehmer/innen kombiniert professionelle Hilfen mit selbstbeschafften Kräften, meist private Hilfen bzw. unqualifizierte Personen. In der Regel bezieht sich die professionelle Unterstützung auf psychosoziale Hilfen bzw. Einzelfallhilfe im Rahmen der ambulanten Betreuung. Selbstbeschaffte Kräfte werden hingegen häufig im Bereich Haushalt und Freizeit eingesetzt. Im Kontrast zu den Budgetnehmer/innen, die schwerpunktmäßig professionelle Fachkräfte oder Dienstleister nutzen bzw. mit Laienkräften kombinieren, gibt es eine dritte Gruppe an Budgetnehmer/innen, die ausschließlich private Hilfen bzw. nicht-professionelle Unterstützung mit dem Persönlichen Budget finanzieren (knapp 13%). Dabei werden ebenfalls Vereinbarungen mit den entsprechenden Unterstützungspersonen geschlossen. Hierunter fallen Bekannte, Freunde, Nachbarn oder Angehörige sowie Studierende, Zivildienstleistende usw. Die Tätigkeiten beziehen sich in der Regel auf die Betreuung und Begleitung in der Freizeit sowie Hilfen im Haushalt. Ähnlich wie bei den Budgets für professionelle Unterstützung lassen sich auch hier ein paar Budgetnehmer/innen finden, die eine persönliche Unterstützung mit Beiträgen oder Teilnahmegebühren kombinieren und verschiedene Aktivitäten mit einem Teil des Persönlichen Budgets finanzieren. Das Spektrum erstreckt sich von Fahrtkosten bzw. Benzingeld für die jeweiligen unterstützenden Personen über Beiträge zu bestimmten Kursen bis hin zu Bastel- und Spielmaterialien oder der Finanzierung eines Autos. 2) Geldbeträge für allgemeine Dienstleistungen und Sachmittel Eine kleinere Gruppe an Budgetnehmer/innen finanziert ausschließlich allgemeine Dienstleistungen und/oder Sachmittel über das Persönliche Budget (6%). In diesen Fällen wird das Persönliche Budget vollständig für solche Dienstleistungen und/oder Sachmittel eingesetzt. Persönliche Unterstützung im Sinne professioneller ambulanter Dienste oder privater Hilfen wird hingegen nicht genutzt. Stattdessen setzen diese Budgetnehmer/innen ihr Budget für Fahrt- bzw. Benzinkosten, Teilnahmegebühren für Bildungs- und Sportangeboten oder für künstlerisch-musische Aktivitäten ein. Zu dieser Gruppe gehören zudem Budgetnehmer/innen, die mit ihrem Persönlichen Budget Geschenke und Gefälligkeiten für eine (bisher) unentgeltliche Unterstützung bezahlen möchten, um sich auf diesem Wege für die erbrachten Hilfen erkenntlich zeigen zu können. 3) Arbeitgebermodell Hierunter fallen alle Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets persönliche Assistent/innen beschäftigen (13%). In den meisten Fällen werden die
7.2 Budgetverwendung
365
unterstützenden Personen fest angestellt, in ein paar Fällen wird die Unterstützung aber auch über Honorarverträge organisiert. Das Spektrum der jeweiligen Beschäftigungsmodelle reicht von stundenweise Einsätzen über 400€-Kräfte bis hin zu Vollzeitstellen. Je nachdem, wie die Nutzung der Unterstützungspersonen organisiert ist, haben die Budgetnehmer/innen Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten. Charakteristisch ist ferner, dass die Budgetnehmer/innen in ihrer Rolle als „Arbeitgeber“ detaillierte Einsatzpläne verwenden. Die jeweiligen Tätigkeiten erfordern teilweise spezifische pflegerisch-medizinische Qualifikationen, teilweise aber auch therapeutisch-pädagogische Fachkenntnisse (z.B. Ergotherapeut/innen, Heilpädagog/innen, Musikpädagog/innen usw.). Oftmals werden allerdings semi- oder nicht-qualifizierte Personen rekrutiert (Bekannte, Freunde, Studierende usw.). 4) Abtretungserklärungen Als letzte Organisationsform können noch sogenannte Abtretungserklärungen genannt werden (7%). Das Besondere an diesen Abtretungserklärungen ist, dass die Budgetnehmenden eine Erklärung unterzeichnen, mit der sie die Leistungsträger ermächtigen, das Persönliche Budget direkt an den Leistungserbringer zu überweisen. Es muss sicher nicht weiter ausgeführt werden, inwiefern diese Praxis die Idee Persönlicher Budgets konterkariert. Dabei drängt sich zudem die Frage auf, warum die Leistungen nicht als Sachleistung beantragt wurden bzw. im Sachleistungsprinzip verblieben sind. Die Betrachtung dieser unterschiedlichen Organisationsformen differenziert nach den vier gefundenen Clustern zeigt einige Auffälligkeiten und Unterschiede.138 Die nachstehende Abbildung 7 verdeutlicht diese Unterschiede im Vergleich der vier Cluster. In der Betrachtung dieser Unterschiede wird wiederum deutlich, dass die jeweiligen Organisationsformen sowohl den Motiven der Budgetbeantragung als auch der inhaltlichen Verwendung der Budgets entsprechen:
Budgetnehmer/innen, die dem ersten Cluster („Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“) zugeordnet wurden, haben überproportional häufig Leistungsverträge mit professionellen Diensten bzw. Fachkräften abgeschlossen: Bei über 60% dieser Budgetnehmer/innen besteht eine Leistungsvereinbarung mit ausschließlich professionellen Diensten bzw. Fachkräften. Rechnet man den Anteil an Personen, die professionelle Unterstützung mit privaten Hilfen kombinieren mit hinzu, so organisieren drei Viertel aller Budgetnehmer/innen in diesem Cluster ihre Unterstützung im Rahmen von Leistungs-
138 Die Gegenüberstellung der Organisationsform mit den jeweiligen Clustern ist mit p<0,01 hoch signifikant und weist entsprechende Zusammenhangswerte auf (Phi, Cramers V, Kontingenzkoeffizient > 0,3).
366
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
verträgen mit professionellen Diensten/Fachkräften. Im Verhältnis gesehen hoch ist zudem der Anteil an Personen, die eine Abtretungserklärung abgeschlossen haben, was darauf hindeutet, dass einige Personen die gewünschte Kombination von selbstständiger Lebensführung und Sicherstellung einer (regelmäßigen) Unterstützung vermutlich über eine solche Abtretungserklärung realisieren wollten bzw. dazu „gezwungen“ waren. Dagegen ist der Anteil an Budgetnehmer/innen, die private Hilfen oder allgemeine Dienstleistungen und Sachmittel finanzieren oder die die Unterstützung im Rahmen eines Arbeitgebermodells organisieren, vergleichsweise niedrig. Alles in allem bestätigt diese Verteilung nochmals deutlich, inwiefern es diesen Budgetnehmer/innen im Wesentlichen um die Sicherstellung (professioneller) Versorgung geht. Im zweiten Cluster („Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“) fällt hingegen ein außerordentlich hoher Anteil an Budgetnehmer/innen auf, die ihre Unterstützung mit (selbstbeschafften) privaten Hilfen sowie in Form von allgemeinen Dienstleistungen und Sachmitteln organisieren. Betrachtet man zusätzlich noch diejenigen Budgetnehmer/innen, die Leistungsverträge mit professionellen Diensten/Fachkräften geschlossen haben, so sind wiederum vor allem diejenigen Personen in diesem Cluster stark vertreten, die diese regelmäßige Unterstützung mit disponiblen Geldbeträgen kombinieren. Die vergleichsweise hohe Bedeutung disponibler Geldbeträge und privater Hilfen deckt sich mit der Charakteristik des Clusters, geht es diesen Budgetnehmer/innen doch schwerpunktmäßig um die Verwirklichung von individuellen Vorstellungen von Teilhabe und Aktivität. Entsprechend lassen sich individuelle Vorstellungen vermutlich am Besten mit privaten Hilfen oder disponiblen Geldbeträgen realisieren. Besonders hoch im dritten Cluster (“Emanzipation durch erweiterte Spielräume“) ist hingegen der Anteil an Budgetnehmer/innen, die die Unterstützung im Kontext eines Arbeitgebermodells organisieren: Der Anteil dieser Personen ist in diesem Cluster dreimal so hoch als in der Gesamtbefragungsgruppe und liegt sogar höher als der Anteil der Personen, die Leistungsverträge mit professionellen Kräften abgeschlossen haben. Verhältnismäßig stark ausgeprägt ist ferner der Anteil der Budgetnehmer/innen, die ausschließlich private Hilfen nutzen. Daneben gibt es keine einzige Person in diesem Cluster, die eine Abtretungserklärung unterschrieben hat. Im Grunde spiegelt auch diese Verteilung die inhaltlichen Schwerpunkte dieses Clusters wider (z.B. Regiekompetenz, Unabhängigkeit von Anbietern, Selbstbestimmung im Umgang mit Unterstützung usw.). Was das vierte Cluster betrifft („Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“), so spielen wiederum professionelle Kräfte eine größere Rolle, vor allem aber wird dort die Kombinationen zwischen professionellen Diensten/Fachkräften und privaten Hilfen relativ häufig genannt. Dies er-
367
7.2 Budgetverwendung
klärt sich dadurch, dass Eltern die (professionelle) Unterstützung ihrer Kinder oftmals mit einer (billigeren) Betreuung durch Laienkräfte (v.a. im Bereich Freizeit) ergänzen. Stärker ausgeprägt als in den ersten beiden Clustern ist zudem das Arbeitgebermodell, was wiederum darin begründet liegt, dass einige Eltern aus Gründen der Vereinfachung von Abrechungsmodalitäten und einer höheren Flexibilität die Unterstützungspersonen direkt anstellen (häufig allerdings als geringfügig Beschäftigte). Die Häufigkeitsverteilung in der Restkategorie verdeutlicht wiederum ein Übergewicht an Leistungsverträgen mit professionellen Einrichtungen und Diensten. Daneben nutzen jeweils eine Person die restlichen Organisationsformen. Da es sich allerdings insgesamt nur um 9 Personen handelt, sind diese Häufigkeiten nur eingeschränkt interpretierbar. 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität
Emanzipation durch erweiterte Spielräume
Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Restkategorie: Initiative Anderer
Gesamt
Leistungsverträge mit professionellen Diensten/Fachkräften Leistungsverträge mit professionellen Diensten/Fachkräften und privaten Hilfen Leistungsvereinbarungen mit ausschließlich privaten Hilfen Arbeitgebermodell Allgemeine Dienstleistungen und Sachmittel Abtretungserklärungen
Abbildung 7:
Zusammensetzung der Cluster nach Organisationsform der Budgetverwendung (n=190; Angaben in Prozent)
100%
368 7.2.3.2
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Entscheidung über die Budgetverwendung und Budgetverwaltung
Eine wesentliche Grundintention des Persönlichen Budgets ist die Möglichkeit, relativ frei über die zur Verfügung stehenden Geldmittel verfügen zu können. Im Unterschied zur Sachleistung geht es beim Persönlichen Budget insbesondere darum, dass die Entscheidung über Art, Inhalt und Zeitpunkt der Leistungserbringung weitestgehend dem Leistungsberechtigten selbst überlassen bleibt. Von besonderem Interesse ist daher die Frage, wer über die Budgetverwendung entscheidet und wer das Budget verwaltet.139 Zunächst zeigt eine allgemeine Betrachtung der Entscheidungsgewalt über die Budgetverwendung, dass nur etwa ein Drittel aller Budgetnehmer/innen allein und autonom über die Verwendung des Budgets entscheiden. Etwa ein Viertel der befragten Budgetnehmer/innen gab an, bei dieser Entscheidung von anderen Personen unterstützt zu werden (meist durch die Eltern oder die gesetzlichen Betreuer/innen) und bei knapp 10% werden die Entscheidungen ausschließlich von anderen Personen getroffen (wiederum zumeist von den Eltern). Der Rest (etwa ein Drittel) verfügt über ein Budget, welches von vorneherein zweckgebunden bewilligt wurde, so dass Entscheidungsspielräume entsprechend eingeengt sind (in solchen Fällen wurde beispielsweise bereits in den Zielvereinbarungen festgelegt, für welche Leistungen bzw. Leistungserbringer das Persönliche Budget verwendet werden darf). Zu diesen „zweckgebundenen Budgets“ zählen ferner sogenannte Abtretungserklärungen. Dabei werden deutliche Unterschiede zwischen den gefundenen Clustern sichtbar (vgl. Abbildung 8):140
139 Zu beiden Themen wurden eigene Fragen im Interview bzw. im schriftlichen Fragebogen gestellt. Zum Thema „Entscheidung über die Budgetverwendung“ wurde die Frage „Wer entscheidet, wofür Sie das Budget ausgeben?“ konstruiert, zum Thema „Verwaltung des Budgets“ lautete die Frage „Wer verwaltet das Budget?“ Wenn angegeben wurde, dass dies nicht selbstständig erfolgt, wurde weiterhin danach gefragt, wer bei der Entscheidung über die Budgetverwendung bzw. bei der Verwaltung des Budgets unterstützt bzw. wer dies (stellvertretend) übernimmt. 140 Die Ergebnisse dieser Auswertung sind mit p<0,01 hoch signifikant und zeigen Zusammenhangswerte zwischen 0,31 und 0,63.
369
7.2 Budgetverwendung
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität Emanzipation durch erweiterte Spielräume Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Restkategorie: Initiative Anderer
Gesamt
Abbildung 8:
Selbstständige Entscheidung
Mit Unterstützung anderer
Entscheidung durch andere
Budget ist zweckgebunden; Abtretungserklärung
Zusammensetzung der Cluster nach Entscheidungsgewalt über die Budgetverwendung (n=193; Angaben in Prozent)
Eine Betrachtung des ersten Clusters („Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“) zeigt, dass der Anteil derjenigen, die bei der Entscheidung über die Budgetverwendung durch andere Personen unterstützt werden, besonders hoch ist, was wiederum der Logik einer „selbstständigen Lebensführung in sicherem Rahmen“ entspricht: Vermutlich steht auch die Entscheidung über die Budgetverwendung im Kontext der beschriebenen Verknüpfung von „Selbstständigkeit“ und „Sicherheit“, so dass diese Budgetnehmer/innen entsprechende Unterstützung bei der (selbstständigen) Budgetverwendung wahrnehmen möchten. Relativ hoch ist ebenfalls der Anteil an Personen, die ein zweckgebundenes Budget bzw. eine Abtretungserklärung unterschrieben haben. Im zweiten Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ gibt es hingegen keine größeren Unterschiede zum Gesamtschnitt. In Cluster 3 („Emanzipation durch erweiterte Spielräume“) entscheidet die Mehrheit der Budgetnehmer/innen hingegen selbst über die Verwendung des Budgets, während dies in den anderen Clustern nur eine Minderheit ist. Der Sache nach spiegelt diese Entscheidungsgewalt über die Budgetverwendung die genannten Motive in diesem Cluster wider.
370
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Auffällig ist der hohe Anteil an Personen mit zweckgebundenen Budgets in Cluster 4 („Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“). In einigen Fällen wird das Budget sogar direkt an den jeweiligen Dienstleister überwiesen, was einer Sachleistung gleich kommt (Abtretungserklärung). Hingegen gibt es in diesem Cluster keine/n einzige/n Budgetnehmer/in, der/die autonom über die Budgetverwendung entscheidet. Diese Dominanz zweckgebundener Persönlicher Budgets verdeutlicht noch einmal mehr, inwiefern es den diesem Cluster zugeordneten Budgetnehmer/innen um pragmatische Lösungen geht und nicht originär um das Grundanliegen Persönlicher Budgets. Vermutlich würden diese Personen durchaus die Sachleistung beibehalten, wenn die angestrebten Ziele auch ohne Persönliches Budget hätten realisiert werden können. Unter den Budgetnehmer/innen, die das Persönliche aus Gründen der „Initiative Anderer“ beantragt hatten, sind auffallend viele Personen vertreten, die weder alleine noch mit Unterstützung die Entscheidung zur Budgetverwendung wahrnehmen. Ebenso ist der Anteil an zweckgebundenen Budgets und Abtretungserklärungen relativ hoch.
Die Betrachtung der Frage, wer das Persönliche Budget verwaltet, zeigt ähnliche Tendenzen. Insgesamt gesehen verwaltet auch hier nur eine Minderheit das Budget selbst bzw. ohne Unterstützung (ein Drittel der befragten Budgetnehmer/ innen). Etwas mehr als ein Viertel der Budgetnehmer/innen wird dabei unterstützt. In der Mehrheit der Fälle (knapp 40%) wird das Budget jedoch von anderen Personen verwaltet bzw. eine Abtretungserklärung unterzeichnet. Eine Betrachtung differenziert nach Clustern bestätigt nochmals die bereits oben genannten Tendenzen (vgl. Abbildung 9).141
141 Auch in diesem Fall sind die Unterschiede hoch signifikant und zeigen Zusammenhangswerte auf Basis nominaler Zusammenhangsmaße zwischen 0,24 und 0,49.
371
7.2 Budgetverwendung
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Selbst st ändige Lebensf ührung in sicher em Rahmen Individuelle Gest alt ung von Teilhabe und Akt ivit ät Emanzipat ion durch erweit er t e Spielr äume Pr agmat ische Nut zung des Per sönlichen Budget s Rest kat egor ie: Init iat ive Ander er
Gesamt
Selbstst ändige Verwalt ung
Abbildung 9:
M it Unt erst ützung anderer
Verwalt ung durch andere, Abt ret ung
Zusammensetzung der Cluster nach Budgetverwaltung (n=191; Angaben in Prozent)
In Cluster 1 („Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“) wird die Budgetverwaltung in der Mehrheit der Fälle von anderen Personen übernommen (45%). Einige dieser Budgetnehmer/innen werden zwar bei der Budgetverwaltung unterstützt, die wenigsten nehmen dies jedoch selbstständig wahr. Scheinbar geht also die Koppelung von selbstständiger Lebensführung und Sicherung der Versorgung gleichermaßen auch mit einer Abgabe der Budgetverwaltung einher. Deutlich mehr Budgetnehmer/innen verwalten das Budget hingegen in Cluster 2 („individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“) autonom, wenn auch die Übernahme und Unterstützung durch andere Personen stärker ausgeprägt ist als die autonome Budgetverwaltung. Dennoch scheint sich zu zeigen, dass der Wunsch nach einer individuellen Gestaltung der Hilfen mit einer selbstständigeren Budgetverwaltung einhergeht. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass diese Budgetnehmer/innen häufiger über disponible Geldbeträge verfügen. Schließlich sind es vor allem die Budgetnehmer/innen in Cluster 3 („Emanzipation durch erweiterte Spielräume“), die ihr Budget selbstständig und ohne Unterstützung verwalten: 52% aller Budgetnehmer/innen in diesem Cluster gaben an, das Budget alleine zu verwalten, etwa ein Drittel nimmt
372
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
hierbei Unterstützung in Anspruch und in nur 13% der Fälle übernehmen andere Personen die Budgetverwaltung. Auch in Bezug auf das Thema Budgetverwaltung zeigt sich daher, inwiefern diese Budgetnehmer/innen einen eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgang mit den bewilligten Leistungen zu realisieren versuchen. Besonders wenige Personen verwalten das Budget hingegen in Cluster 4 („Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“)autonom, während bei fast 80% dieser Budgetnehmer/innen die Budgetverwaltung von anderen Personen wahrgenommen wird. Da es sich bei dieser Personengruppe jedoch häufig um Kinder und Jugendliche handelt, lässt sich dies aber vor allem durch die Rolle der Eltern erklären. Letztendlich nehmen auch in der Restgruppe („Rat anderer“) nur wenige Budgetnehmer/innen die Budgetverwaltung selbstständig oder mit Unterstützung wahr.
7.2.4 Rekrutierung von Dienstleistern Ein zentrales Thema in der Budgetnehmerbefragung war die Frage, wie die Budgetnehmer/innen zu den Leistungserbringern gekommen sind, die sie im Rahmen des Persönlichen Budgets unterstützen. Die Frage wurde im Interview zwar offen gestellt, allerdings befanden sich im Interviewleitfaden aus Gründen der Vereinfachung diverse Antwortvorgaben, die die Interviewer/innen ankreuzen konnten.142 Im schriftlichen Fragebogen wurden diese Antwortvorgaben hingegen belassen, um den Befragten eine Orientierung zu ermöglichen. Generell waren Mehrfachantworten zugelassen. Betrachtet man die Ergebnisse dieser Fragestellung, wird deutlich, dass die meisten Budgetnehmer/innen die Unterstützungspersonen bereits kannten. Oftmals handelt es sich dabei um Mitarbeiter/innen aus früheren Einrichtungen oder um Bekannte und Freunde. An zweiter und dritter Stelle folgen Empfehlungen durch Freunde/Bekannte oder Angehörige sowie Empfehlungen von Mitarbeiter/innen sozialer Einrichtungen. Betrachtet man diese Wege der Rekrutierung in Abhängigkeit der vier Cluster zeigt sich ein differenzierteres Bild (vgl. Tabelle 22):
142 Die Frage im Interviewleitfaden sowie im schriftlichen Fragebogen lautete: „Wie sind Sie an die Personen/Dienste gekommen, die Ihnen helfen?“ Im Interview wurde eine zusätzliche Intervieweranweisung beigefügt mit der folgenden Fomrulierung: „Bitte die Frage erst offen stellen! Vorgaben sind Ankreuzhilfen Wenn der/die Befragte sich nicht erinnern kann, dann fragen, ob die Person/Dienste denn schon bekannt waren.“
373
7.2 Budgetverwendung
Gruppen Zusammengefasste Motive (Cluster) Budgetverwendung
Restgruppe:
Gesamt
Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität
Emanzipation durch erweiterte Spielräume
Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Infos/Empfehlungen von Mitarbeiter(in) aus ehemaliger Einrichtung
10 (50%) (14%)
6 (30%) (13%)
3 (15%) (7%)
1 (5%) (6%)
-
20 (100%) (11%)
Gesetzliche/r Betreuer/in*
16 (70%) (23%)
2 (9%) (4%)
1 (4%) (2%)
-
4 (17%) (44%)
23 (100%) (12%)
Mitarbeiter/in Amt/ Behörde, Sozialpsychiatrischer Dienst, Klinik
7 (47%) (10%)
4 (27%) (9%)
3 (20%) (7%)
-
1 (7%) (11%)
15 (100%) (8%)
bereits bekannt (früherer Dienst, bekannte Personen)**
40 (35%) (57%)
33 (29%) (73%)
30 (26%) (65%)
9 (8%) (50%)
2 (2%) (22%)
114 (100%) (61%)
Empfehlungen durch Bekannte/Freunde/ Angehörige**
4 (13%) (6%)
10 (32%) (22%)
12 (39%) (26%)
4 (13%) (22%)
1 (3%) (11%)
31 (100%) (17%)
Vermittlung durch Budgetassistenz
5 (36%) (7%)
4 (29%) (9%)
5 (36%) (11%)
-
-
14 (100%) (7%)
Empfehlungen durch Mitarbeiter/in sozialer Einrichtungen
11 (38%) (16%)
5 (17%) (11%)
7 (24%) (15%)
5 (17%) (28%)
1 (3%) (11%)
29 (100%) (15%)
durch Zeitung, Inserate, Aushänge*
1 (5%) (1%)
4 (18%) (9%)
9 (41%) (20%)
7 (32%) (39%)
1 (5%) (11%)
22 (100%) (12%)
Information von Selbsthilfegruppen, Vereinen, Organisationen**
1 (11%) (1%)
2 (22%) (4%)
2 (22%) (4%)
Gesamt
70 (37%) (100%)
45 (24%) (100%)
46 (25%) (100%)
4 (44%) (22%) 18 (10%) (100%)
Initiative Anderer
9 (5%) (100%)
9 (100%) (5%) 188 (100%) (100%)
* signifikant mit p<0,01; Phi/Cramers V/Kontingenzkoeffizient > 0,3 ** signifikant mit p<0,05; Phi/Cramers V/Kontingenzkoeffizient > 0,2
Tabelle 22: Quantitative Verteilung der Rekrutierungswege von Leistungserbringern und Bezug zu den Clustern (n=188; Mehrfachnennungen; ohne Sonstige; Werte größer oder kleiner 100% durch Rundungsfehler)
374
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Budgetnehmer/innen, die dem ersten Cluster „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ zugeordnet wurden, rekrutierten ihre Leistungserbringer vor allem über spezifische Schlüsselpersonen. Hilfreich waren dabei zum einen Tipps oder Empfehlungen von Mitarbeiter/innen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen die Budgetnehmer/innen vermutlich vorher gelebt hatten und zu denen ein guter Kontakt bestand. Genauso spielten aber auch gesetzliche Betreuer/innen und Mitarbeiter/innen von Ämtern bzw. Behörden eine wichtige Rolle. Ein gewisser Teil dieser Budgetnehmer/innen nutzt zudem Leistungsanbieter, die bereits bekannt sind. Dabei handelt es sich nicht selten um Fachkräfte aus Einrichtungen, in denen die Budgetnehmer/innen vor der Budgetbeantragung gelebt hatten. Alles in allem lässt sich daraus schließen, dass diese Budgetnehmer/innen nicht auf ein bereits funktionierendes (informelles) Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen konnten und entsprechend Beratung und Unterstützung von professionellen Diensten in Anspruch nehmen mussten. Dies gilt in verstärktem Maße im Falle eines Verselbstständigungsprozesses. Eine im Verhältnis große Rolle spielen bereits bekannte Leistungserbringer aber vor allem für Budgetnehmer/innen, die dem zweiten Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ zugeordnet wurden. Knapp drei Viertel aller Budgetnehmer/innen in diesem Cluster greifen auf bekannte Personen bzw. Dienstleister zurück, während dieser Anteil insgesamt gesehen bei nur 61% liegt. Die Bedeutung dieser bekannten Unterstützungspersonen bzw. Dienste ergibt sich vor allem dadurch, dass es sich oftmals um Freunde oder Bekannte handelt, die eben jene passgenaue Unterstützung ermöglichen, weswegen diese Budgetnehmer/innen ein Persönliches Budget beantragt haben. Die Bedeutung informeller Hilfen zeigt sich auch darin, dass Empfehlungen von Freunden, Bekannten und Angehörigen in diesem Cluster ebenfalls eine überproportionale Rolle spielten. Empfehlungen von Freunden, Bekannten oder Angehörigen haben im dritten Cluster „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ allerdings ein noch höheres Gewicht. Zudem werden überproportional häufig Leistungserbringer über eine Budgetassistenz vermittelt. Aber auch Zeitungs- und Internetausschreibungen werden in diesem Cluster noch verhältnismäßig oft genutzt. Diese Praxis deckt sich durchaus mit den bereits dargestellten Charakteristika dieses Typus, schließlich geht es diesen Budgetnehmer/innen insbesondere um die freie und unkonventionelle Auswahl von Unterstützungspersonen sowie um eine Unabhängigkeit von professionellen Diensten. Für den vierten Typus sind im Wesentlichen drei Rekrutierungswege relevant: Erstens spielen Empfehlungen von Mitarbeiter/innen sozialer Einrichtungen eine wichtige Rolle, zweitens greifen die Budgetnehmer/innen vor
7.3 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget
375
allem auf Informationen von Selbsthilfegruppen, Vereinen oder Behindertenorganisationen zurück. Beides lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass es sich in diesem Cluster häufig um Eltern von behinderten bzw. von Behinderung bedrohten Kindern handelt, die sich nicht selten in solchen Vereinen oder Gruppen organisieren und Erfahrungen austauschen. Besonders markant ist drittens, dass die Rekrutierung geeigneter Leistungserbringer häufig über (Stellen-) Annzeigen und Aushänge abläuft. Hierbei schalten Budgetnehmer/innen auch Inserate im Internet oder in Zeitungen. Diese Tendenz spiegelt allerdings ebenfalls die Tatsache wider, dass in diesem Cluster überproportional Kinder und Jugendliche vertreten sind, so dass eigentlich die Eltern die „Budgetnehmer/innen“ sind.
7.3 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget – Ergebnisse der Wiederholungsbefragung im Spiegel der gefundenen Typen 7.3 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget Zum Abschluss der Modellprojekte zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ wurden Anfang des Jahres 2007 alle bis dahin erfassten Budgetnehmer/innen, die seit mindestens sechs Monaten ein Persönliches Budget erhielten, nochmals im Rahmen einer schriftlichen Wiederholungserhebung zu ihren Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget befragt. Angeschrieben wurden dabei 147 Budgetnehmer/innen; Rückmeldungen liegen von insgesamt 84 Personen vor (vgl. Kapitel 6.2.2). Allerdings sind nur Informationen von 83 wiederholt befragten Budgetnehmer/innen für die Betrachtung der gefundenen Cluster verwertbar.143 Die Verteilung der wiederholt befragten Personen auf die vier Cluster stellt sich wie in der folgenden Abbildung 10 dar. Es zeigt sich deutlich, dass die bisherige quantitative Gewichtung der Cluster im Rücklauf der Wiederholungsbefragung nicht beibehalten werden konnte. Zwar stellt das erste Cluster „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ nach wie vor das größte Cluster dar, gleich danach folgt allerdings das dritte Cluster „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“, welches in der Erstbefragung zahlenmäßig an dritter Stelle lag. Demnach scheinen sich vor allem Budgetnehmer/innen, die dem dritten Cluster zugeordnet wurden, an der Wiederholungsbefragung beteiligt zu haben.
143 Der Rücklauf der Wiederholungsbefragung beträgt zwar n=84, allerdings wurde bereits in der Erstbefragung von einer dieser 84 Personen keine Angaben zu den Motiven der Budgetbeantragung gemacht. Entsprechend taucht diese Person nicht in den gebildeten Clustern auf und die weitere Auswertung stützt sich lediglich auf n=83.
376
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
0%
10%
20%
30%
40% 35%
Selbst st ändige Lebensf ührung in sicher em Rahmen
37%
23%
Individuelle Gest alt ung von Teilhabe und Akt ivit ät
24%
31%
Emanzipat ion durch er weit er t e Spielr äume
24%
Pr agmat ische Nut zung des
10%
Persönlichen Budget s
10%
Zweitbefragung Rest kat egor ie: Init iat ive Anderer
1%
Erstbef ragung 5%
Abbildung 10: Anteil der wiederholt befragten Budgetnehmer/innen im Vergleich zur Erstbefragung nach Clustern (Wiederholungsbefragung: n=83; Erstbefragung: n=193; Angaben in Prozent) Die erste Frage in der Wiederholungsbefragung zielte schließlich darauf ab herauszufinden, ob die angeschriebenen Budgetnehmer/innen überhaupt noch ein Persönliches Budget erhalten. Dabei zeigt sich insgesamt, dass zwölf dieser 83 Personen zum Zeitpunkt der Wiederholungsbefragung kein Persönliches Budget mehr bezogen haben. Differenziert nach Clustern fällt jedoch auf, dass allein acht dieser 12 wieder eingestellten Budgets aus dem ersten Cluster „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ stammen, drei weitere eingestellte Budgets sind aus dem zweiten Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ und das letzte beendete Budget aus dem vierten Cluster „Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets“. Im dritten Cluster „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ sind hingegen noch alle Budgets existent (vgl. Abbildung 11).
377
7.3 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget 0 S e lb ststä n d ige L e b en sfü h ru n g in sich e re m R a hm e n
20
-8
In d ivid ue lle G e s ta ltu n g vo n T e ilh a b e un d A k tivitä t
60
80
21
-3
16
E m a n zip a tion d u rch e rw e ite rte S p ie lräu m e
26
P ra g m a tische N u tzu n g de s P e rsö n lich e n B u d ge ts
-1
R e stka te go rie : In itia tive A n de re r
G e s am t
40
7
1
-1 2
71
Abbildung 11: Anzahl noch existenter und beendeter Budgets in der Wiederholungsbefragung nach Clustern (existente Budgets n=71, beendete Budgets n=12) Die Gründe für das Beenden dieser zwölf Persönlichen Budgets sind vielschichtig und ausführlich im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung dargestellt (vgl. Metzler u.a. 2007, 115f). Von besonderem Interesse sind hierbei allerdings Aussagen, die auf eine Kürzung des Budgets hindeuten. So erwähnte beispielsweise eine 66-jährige Budgetnehmerin, die dem ersten Cluster „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“ zugeordnet ist, dass ihr Budget von 300€ auf 150€ gekürzt wurde. Als sie daraufhin Beschwerde einreichte, wurde das Budget von Seiten des Sozialhilfeträgers eingestellt, mit der Begründung, die Budgetnehmerin wäre ihrer Nachweispflicht nicht nachgekommen (d.h. die eingereichten Quittungen wären nicht ausreichend gewesen). Es muss in diesem Zusammenhang sicher nicht besonders betont werden, dass eine solche Budgetkürzung im Kontext eines Wunsches nach einer „Selbstständigkeit im sicheren Rahmen“ eher kontraproduktiv wirkte. Ähnliche Wirkung könnten auch leistungsrechtliche Hürden haben. Auf die Frage, warum das Persönliche Budget nicht mehr existiert, äußerste sich eine 52-jährige Budgetnehmerin beispielsweise mit den Worten: „Weil ich mich weigerte meine Ersparnisse von 2.500€ aufzulösen.“ Auch in anderen Fällen ging es um leistungsrechtliche Voraussetzungen (Einkommen bzw. Vermögen, Veränderung des Unterstützungsbedarfs), die restlichen Budgetnehmer/innen gaben hingegen die Beendigung von (befristeten)
378
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
Maßnahmen, die Verweigerung der erbrachten Unterstützung und Rückkehr zur Sachleistung, „Meinungsverschiedenheiten“ über die Verwendung des Budgets, die Zielerreichung sowie eine Klinikaufnahme als Begründung für das Einstellen der Budgetlösung an. Nach der Subtraktion der wieder eingestellten Budgets von der Gesamtanzahl der Befragungspersonen, die sich an der Wiederholungsbefragung beteiligte haben, bleibt ein Rest an 71 Budgetnehmer/innen, die zum Zeitpunkt der Zweitbefragung noch ein Persönliches Budget erhielten. Es zeigt sich hierbei, dass das dritte Cluster im Hinblick auf die „übrig gebliebenen“ Budgets nun zahlenmäßig das größte Cluster darstellt. Im Folgenden sollen auf Basis dieser 71 Budgetnehmer/innen einige ausgewählte Ergebnisse der Wiederholungsbefragung dargestellt werden. Diese Ergebnisse werden wiederum in Abhängigkeit zu den gefundenen Typen betrachtet.
7.3.1 Erfüllte Erwartungen an das Persönliche Budget Ein für die vorliegende Analyse zentrales Thema in der Wiederholungsbefragung war die Frage, inwiefern sich die Erwartungen an das Persönliche Budget bisher erfüllt haben.144 Diese Frage steht unmittelbar mit der Frage aus der ersten Erhebungswelle in Verbindung, warum die Budgetnehmer/innen ein Persönliches Budget haben wollten (Motive). Die Gesamtbetrachtung aller 71 wiederholt befragten Personen zeigt, dass über drei Viertel dieser Befragten (83%) ihre Erwartungen als umgesetzt betrachten. Der Rest gab an, die Erwartungen wären nur „zum Teil“ realisiert worden, aber keine einzige Person war der Meinung, die Erwartungen hätten sich nicht erfüllt. Betrachtet man die Verteilung differenziert nach Clustern zeigt sich ein heterogeneres Bild: Budgetnehmer/innen aus dem Cluster 3 „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ zeigten sich hierbei am „unzufriedensten“. Fast ein Drittel (31%) aller Budgetnehmer/innen, die diesem Cluster zugeordnet wurden, gaben an, ihre Erwartungen hätten sich nur „zum Teil“ erfüllt. Hingegen sahen vor allem die Budgetnehmer/innen (bzw. deren Eltern) aus dem vierten Cluster ihre Erwartungen umgesetzt (vgl. Abbildung 12).145
144 Die Frage wurde wie folgt formuliert: „Sie haben uns bei der ersten Befragung bereits erzählt, warum Sie sich für das Persönliche Budget entschieden haben. Was würden Sie insgesamt sagen: Hat sich das erfüllt, was Sie sich damals davon erhofft oder versprochen haben?“ 145 Eine weitere Auswertung der Restkategorie „Initiative Anderer“ wird bei der Wiederholungsbefragung nicht vorgenommen, da es sich nur noch um eine einzelne Person handelt.
379
7.3 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget
0%
Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität
20%
9,5%
80%
100%
87,5%
30,8%
Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
Gesamt
60%
90,5%
12,5%
Emanzipation durch erweiterte Spielräume
40%
69,2%
100,0%
16,9%
Erwartungen haben sich nur zum Teil erfüllt
83,1%
Erwartungen haben sich voll und ganz erfüllt
Abbildung 12: Anteil der Personen, deren Erwartungen sich an das Persönliche Budget nur zum Teil erfüllt haben, nach Clustern (n=70, ohne Restkategorie, Angaben in Prozent) Die Gründe, warum sich die Erwartungen nicht erfüllt haben, erstrecken sich von Aussagen wie „Budget reicht nicht aus“ (Budgetnehmer, 35 Jahre) über den (Organisations-) Aufwand und der aufgrund der Zweckbindung des bewilligten Budgets mangelnden Flexibilität bei der Verwendung der Geldmittel bis hin zu einer konkreten Unzufriedenheit mit den Leistungserbringern. So erwähnt beispielsweise ein 57-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung von den ersten Assistent/innen noch weitestgehend ignoriert wurden. Erst nach einem „Personalwechsel“ hätte sich schließlich seine Lage verbessert. Ein anderer 57-jähriger Budgetnehmer mit einer chronischen organischen Erkrankung sieht eher Mängel in der Flexibilität der Leistungserbringung: „Im Winter wäre eher eine hauswirtschaftliche Hilfe sinnvoll, im Sommer eher eine Hilfe ‚rund ums Haus‘“. Dem gegenüber kritisiert ein 33-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung eher die fehlende Flexibilität in der Verwendung der Geldmittel: „Eine flexiblere Gestaltung, will sagen, dass bei weniger Inanspruchnahme der Betreuung für mich und meine Malerei mehr raus springen könnte. Man könnte bei
380
7 Typologie der Budgetnutzung – Ergebnisse der empirischen Analyse
zwei Monaten Nichtbeanspruchung der Betreuung ruhig mal – zumindest am Ende des Jahres – was ausschütten. Damit noch genügend Polster da ist.“146
Fasst man die Aussagen im Trend zusammen, wird insbesondere eine mangelnde Flexibilität und eingeschränkte Möglichkeit des selbstbestimmten Umgangs mit Leistungen hervorgehoben. Dies ist vor allem deshalb interessant, weil es sich hierbei gerade um die Budgetnehmer/innen handelt, die dem dritten Cluster „Emanzipation durch erweiterte Spielräume“ zugeordnet wurden. Insofern scheint es zumindest bei den „unzufriedenen“ Budgetnehmer/innen ein Missverhältnis zwischen den Motiven zur Budgetbeantragung und den tatsächlichen Erfahrungen nach der Budgetbewilligung zu geben. Ausschlaggebend könnten zum einen restriktive Regelungen und/oder Zweckbindungen bei der Budgetverwendung gewesen sein, andererseits aber auch „Anpassungsschwierigkeiten“ der beauftragten Leistungserbringer. Deutlich zeigt sich diese Enttäuschung letztendlich auch in einem Zitat einer 43-jährigen Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung, die ihre Kritik mit den Worten formuliert: „Die freie Verfügung über das Persönliche Budget [hat sich nicht erfüllt].“
7.3.2 Alternative Budgetverwendung Etwas mehr als ein Viertel der Budgetnehmer/innen (27%) würde das Budget in Zukunft gerne (noch) für andere Dinge einsetzen.147 Auffallend ist hierbei, dass es sich meist um die Bereiche Freizeit (v.a. Reisen, Freizeitbetreuung und gestaltung, Auslagen wie Eintrittsgelder), Bildung (VHS-Kurse, Gasthörerstudium, Fernstudium, Büchergeld, Fortbildungen) und Arbeit (Kosten der WfbM, Arbeitsassistenz, Arbeitsplatz außerhalb der WfbM) handelt. Daneben konnten aber auch „Wünsche“ identifiziert werden, die in eine ganz andere Richtung gingen. So möchte beispielsweise ein 47-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung sein Budget in Zukunft für die Beratung, Begleitung und Supervision seiner Assistent/innen einsetzen (seinen Angaben nach u.a. auch für „Konfliktmanagement“). Betrachtet man schließlich den Wunsch nach einer alternativen Budgetverwendung in Abhängigkeit der gefundenen Cluster, zeigt sich ein differenzierteres Bild (vgl. Abbildung 13). 146 Der Budgetnehmer nutzt ein Teil des Budgets für die ambulante Betreuung, ein anderer Teil ist für seine Malerei gedacht. Dazu verfügt er über 100€ im Monat, die er für Malutensilien einsetzen kann. 147 Die entsprechende Frage lautete: „Anfangs wurde festgelegt, für was Sie das Budget ausgeben dürfen. Gab oder gibt es etwas anderes, das Sie gerne mit Ihrem Budget machen würden?“
381
7.3 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget
0%
Selbstst ändige Lebensf ührung in sicherem Rahmen Individuelle Gest altung von Teilhabe und Akt ivität
20%
19,1%
60%
80%
100%
80,9%
37,5%
Emanzipation durch erweit ert e Spielräume
28,0%
Pragmat ische Nutzung des Persönlichen Budgets
28,6%
Gesamt
40%
27,1%
Budget auch f ür andere Dinge nutzen
62,5%
72,0%
71,4%
72,9%
So wie bisher
Abbildung 13: Anteil der Personen, die das Budget in Zukunft auch für andere Leistungen einsetzen möchten, nach Clustern (n=70, ohne Restkategorie, Angaben in Prozent) Es zeigt sich, dass es insbesondere die Budgetnehmer/innen aus dem zweiten Cluster „Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität“ sind, die das Persönliche Budget gerne für andere Leistungen einsetzen würden.148 Dieser Befund lässt sich dabei im Kontext der in diesem Cluster im Zentrum stehenden Motive erklären: Wird mit Hilfe des Budgets angestrebt, „eigene Wege“ der Unterstützung zu entwickeln und umzusetzen, dann ist nur zu verständlich, dass sich diese Wege auch ändern können. Entsprechend ergeben sich Wünsche der Anpassung und Veränderung von Verwendungsmöglichkeiten. Im Gegensatz dazu ist beispielsweise der Anteil derjenigen Budgetnehmer/innen, die ihr Budget „wie bisher“ verwenden möchten, im ersten Cluster „Selbstständige Lebensführung im sicheren Rahmen“ besonders hoch. Auch dieser Befund lässt sich im Kontext der „Charakteristik“ dieses Typus erklären. So ist es gerade der Charakter der Stabilität und (Planungs-) Sicherheit, der diesen Typus kennzeichnet.
148 Das Ergebnis ist allerdings nicht signifikant
8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie – Das Persönliche Budget im Lebenskontext der befragten Budgetnutzer/innen 8
Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
Auf Basis der empirischen Analyse der Hintergründe der Budgetbeantragung konnten vier verschiedenen Typen von Budgetnutzer/innen konstruiert werden, die sich im Hinblick auf eine jeweils spezifische Kombination von Motiven unterscheiden. Daneben gibt es noch eine Restgruppe von Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget aufgrund der Initiative anderer Personen beantragt haben, von einem eigenständigen Typus kann in diesen Fällen jedoch nicht gesprochen werden. Durch eine Kontrastierung mit personenbezogenen Merkmalen und der Budgetverwendung konnte schließlich die Typologie untermauert werden. In einem abschließenden Kapitel werden die gefundenen Typen nochmals zusammenfassend dargestellt. Die nachfolgende Beschreibung der Typologie soll durch eine realtypische Darstellung ausgewählter Fallbeispiele angereichert werden. Dabei sollen insbesondere Bezüge zur Lebenssituation der jeweiligen Budgetnehmer/innen mit einfließen.
8.1 Typus 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen Der erste Typus bildet die größte Personengruppe der befragten Budgetnehmer/ innen ab: 72 von 193 Budgetnehmer/innen (37%) sind in diesem Typus zusammengefasst worden. Dominierend sind hierbei die Motive „Selbstständige Lebensführung“ und „Sicherung der Versorgung“. Diese Personen beantragen ein Persönliches Budget, um eine selbstständige Lebensführung realisieren bzw. erhalten zu können; gleichzeitig möchten sie diese Selbstständigkeit jedoch mit einer verlässlichen und regelmäßigen Unterstützung absichern. Es ist also zu vermuten, dass Verselbstständigungsprozesse oder der Wunsch nach einem Erhalt einer bereits bestehenden Selbstständigkeit mit dem Bestreben einhergehen, diese Lebensführung durch eine gesicherte Unterstützung zu flankieren. Dies gilt in verstärktem Maße für Menschen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Wohneinrichtungen oder aus dem elterlichen Haushalt ausziehen möchten.
T. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
Im Kontrast zu den anderen Typen wird vor allem deutlich, dass die Motive „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“ und „Einflussnahme“ überhaupt nicht und „Flexibilität“ nur von einer kleinen Anzahl Budgetnehmer/innen genannt wurden. Entsprechend existieren so gut wie keine Berührungspunkte zu dem dritten Typus „Emanzipation durch erweitere Spielräume“. Die Erklärung hierfür liegt auf der Hand: Eine selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensgestaltung geht der Sache nach mit einer – zumindest gefühlten – „Risikobereitschaft“ einher, also ein Zustand, den die Budgetnehmer/innen dieses Typus tendenziell vermeiden möchten. Die Motive „Individuelle Lösungen“ und „Soziale Beziehungen“ werden hingegen häufiger genannt. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Verselbstständigungsabsichten in der Regel mit der Entwicklung spezifischer Unterstützungsarrangements und dem Erhalt bzw. dem Aufbau sozialer Beziehungen und Netzwerke einhergehen. Häufiger benannt wurden ferner die Motive „Vereinfachung“ und „Ersatzlösung“, was sich eventuell dadurch erklären lässt, dass es den Budgetnehmer/innen besonders wichtig war, bestimmte Personen mit der Unterstützung zu beauftragen, die im Kontext der Sachleistung nicht hätten rekrutiert werden können (z.B. Mitarbeiter/innen aus einer ehemaligen Einrichtung). Die Budgetverwendung dieser Personen ist gekennzeichnet durch eine Konzentration auf haushaltsnahe und/oder psychosoziale Unterstützung, was letztendlich mit der gewünschten selbstständigen Lebensführung in Verbindung steht. Im Gegensatz zu den anderen Typen wird die Unterstützung überproportional häufig auf Basis von Leistungsverträgen mit professionellen Dienstleistern bzw. Fachkräften oder durch Abtretungserklärungen organisiert. Diese Form der Budgetverwendung verdeutlicht wiederum die Wichtigkeit einer gesicherten Versorgung (Verträge, Abtretungen). Nicht selten werden dafür Personen bzw. Dienstleister finanziert, die den Budgetnehmer/innen bereits bekannt sind bzw. von denen die Budgetnehmer/innen früher schon unterstützt wurden. Die Rekrutierung der unterstützenden Personen bzw. Dienstleister erfolgt zudem schwerpunktmäßig über Empfehlungen oder Tipps von Mitarbeiter/innen sozialer Einrichtungen oder über die gesetzlichen Betreuer/innen. Daneben nutzen diese Budgetnehmer/innen aber auch häufig „Hilfen in Einrichtungen“, wiederum eine Form der Budgetverwendung, die auf eine Verbundenheit mit bekannten (stationären) Einrichtungen verweist. Alles in allem lässt sich dieser Typus dadurch charakterisieren, dass er eine selbstständige Lebensführung mit einer gesicherten Versorgungsstruktur zu verbinden versucht. Die Versorgungssicherheit wird dabei insbesondere in ambulanten alltags- und lebenspraktischen Hilfen sowie in dem „geschützten“ Rahmen einer bekannten (ehemaligen) Einrichtung gefunden. Was den Personenkreis dieser Budgetnehmer/innen betrifft, so überwiegen Menschen mit psychischen Erkrankungen oder sogenannten geistigen Behinderun-
8.1 Typus 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
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gen. Der von diesen Budgetnehmer/innen angegebene Unterstützungsbedarf bezieht sich dabei schwerpunktmäßig auf Unterstützung bei der Haushaltsführung, bei der Bewältigung des Alltags, bei Behördenangelegenheiten, bei der Budgetverwaltung und -verwendung sowie im Bereich „Soziale Beziehungen“. Insofern spiegeln die eingekauften Leistungen die Intention der Budgetbeantragung und den Unterstützungsbedarf deutlich wider. Diesen Typus zeichnet insgesamt eine spezifische Lebenssituation aus, in der der Wunsch nach einer gesicherten und regelmäßigen Unterstützung vermutlich aus einem Fehlen sozialer Ressourcen resultiert. Dies bestätigt sich zum einen darin, dass die Motive „Individuelle Lösungen“ und „Soziale Beziehungen“ eine gewisse Rolle spielen, zum anderen aber auch in der Tendenz, dass oftmals Mitarbeiter/innen aus ehemaligen Einrichtungen bzw. Hilfen in Einrichtungen eingekauft werden. Die Verwirklichung einer selbstständigen Lebensführung in „sicherem Rahmen“ hängt damit in entscheidender Art und Weise davon ab, ob es den Budgetnehmer/innen gelingt, ein bestehendes soziales Netzwerk zu erhalten oder neue soziale Ressourcen zu erschließen. Dazu lassen sich auch Bezüge zu anderen Modellprojekten finden: Beispielsweise wird im Abschlussbericht zum badenwürttembergischen Modellprojekt darauf hingewiesen, dass die Lebenssituation von Menschen, die bereits seit Jahren in stationären Einrichtungen leben, durch einen Mangel an sozialen Ressourcen in Form von Netzwerken und informellen Unterstützungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Entsprechend müssen solche sozialen Netzwerke im Falle eines Auszugs aus stationären Wohneinrichtungen erst einmal aufgebaut werden (vgl. dazu Kapitel 4.2.2). Zudem zeigt sich im baden-württembergischen Modellprojekt, dass diese Budgetnehmer/innen eher auf einzelne Personen bzw. auf einen einzelnen Dienstleister zurückgreifen. Komplexere Unterstützungsarrangements, die aus mehreren Personen oder einer Kombination von Unterstützungspersonen und alternativen Dienstleistungen bestehen, sind hingegen eher selten zu beobachten. Dasselbe Phänomen lässt sich auch in der vorliegenden Befragungsgruppe beobachten. Zu diesem Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung und der Sicherstellung psychosozialer bzw. haushaltsnaher Versorgung wurden in der Befragung vielfältige Belege gefunden. In einigen Fällen wird zudem das Fehlen sozialer Ressourcen deutlich. Einige dieser realtypischen Beispiele sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden: Einem 41-jährigen Budgetnehmer geht es bei der Budgetbeantragung beispielsweise um die „…Sicherstellung der pädagogischen Begleitung und lebenspraktischen Unterstützung nach dem Auszug aus einem Wohnheim in eine eigene Wohnung.“ Ein 31-jähriger Budgetnehmer betont, wie wichtig es für ihn ist, nach dem Auszug aus dem Heim weiterhin einen „Ansprechpartner in Krisensituationen“ zu haben. Auch eine 42-jährige Budgetnehmerin verweist auf die
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Notwenigkeit, „dass man jederzeit jemand anrufen kann, der mir hilft.“ Deutlich wird die Verbindung zwischen Verselbstständigung und „Sicherheit“ auch in den Aussagen eines 51-jährigen Budgetnehmers: „Ich fühle mich sicherer in meiner Eigenständigkeit, da ich bei Bedarf Unterstützung erhalte.“ Ähnlich betont eine 36-jährige Budgetnehmerin die Notwendigkeit, „dass man immer zu jeder Tages- oder Nachtzeit hingehen oder anrufen kann. (…). Ich habe keine Angst mehr allein zu sein oder alleine mit Kind alles zu bewältigen“. Wie bereits vielfach erwähnt, geht der Wunsch nach einem Sicherstellen und Aufrechterhalten der benötigten Unterstützung in einigen Fällen soweit, dass Leistungen und/oder Mitarbeiter/innen aus ehemaligen Einrichtungen mit Hilfe des Persönlichen Budgets finanziert werden. Es stellt geradezu eine spezifische Besonderheit bei diesen Budgetnehmer/innen dar, im Zuge des Verselbstständigungsprozesses die gewohnten Unterstützungsstrukturen erhalten zu wollen. Möglicherweise geht dies mit einem Gefühl größtmöglicher „Sicherheit“ auf dem Weg zur Verselbstständigung einher. So lässt sich eine Vielzahl an Beispielen finden, in denen Budgetnehmer/innen Angebote oder Mitarbeiter/innen aus Einrichtungen finanzieren, in denen sie früher auch gelebt hatten. Der Charme der Budgetlösung wurzelt dabei vor allem darin, dass individuelle Leistungsverträge mit diesen Einrichtungen geschlossen werden können, die im Rahmen der Sachleistung nicht möglich gewesen wären. Eine gewohnte Unterstützung wird dann im Zuge des Verselbstständigungsprozesses sozusagen beibehalten, wie das folgende Beispiel zeigt: „…mit dem Persönlichen Budget bestand die Möglichkeit aus dem Heim raus, weiter von Bezugsperson betreut zu werden und im Alltag Fuß zu fassen“ (Budgetnehmerin, 54 Jahre). Ähnlich stellt sich dies bei einer 44-jährigen Budgetnehmerin dar, bei der ebenfalls ein Mitarbeiter aus der ehemaligen Einrichtung die Unterstützung übernehmen konnte, sowie bei einem 51-jährigen Budgetnehmer, der ausdrücklich vermerkt, dass die „Hilfen der Einrichtung weiter gewünscht [werden]“. Erste Schritte in die Selbstständigkeit werden also häufig gemeinsam mit den Personen getätigt, die die Budgetnehmer/innen bereits vorher schon unterstützt haben und zu denen die Budgetnehmer/innen ein langjähriges Vertrauen aufbauen konnten.149 Dieser Erhalt bestehender Betreuungsstrukturen kann dabei über ein Persönliches Budget gewährleistet werden. Vermutlich wird der Verselbstständigungsprozess gerade aufgrund dieser Möglichkeit letztendlich erst realisiert. Dies verdeutlicht auch das folgende Beispiel:
149 Eine wichtige Erklärung für dieses Phänomen ist wiederum das Fehlen sozialer Netzwerke, weil die sich verselbstständigenden Personen nicht selten bereits Jahre in Einrichtungen der Behindertenhilfe verbracht haben.
8.1 Typus 1 – Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen
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„…nach Auszug aus stationärer Einrichtung ins selbstständige Wohnen kein zu starker Abbruch der Beziehungen zur Betreuung gewünscht. Möglichkeit der Bildung eines sozialen Netzes und Gesprächsangebote bei Konfliktsituationen gewünscht“ (Budgetnehmer, 42 Jahre).
Zu diesem Zusammenhang zwischen einem Auszug aus einer stationären Einrichtung und der gleichzeitigen Nutzung der gewohnten Betreuung gibt es einige äußerst bemerkenswerte Beispiele, die im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden: Ein 51-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung und Suchterkrankung wohnte nach einer Entziehungskur zunächst in einer therapeutischen Wohngemeinschaft; dort nahm er auch an einer arbeitstherapeutischen Maßnahme teil. Nach zwei Jahren stand schließlich der Auszug in eine nicht betreute Wohngemeinschaft an. In diesem Zusammenhang erfuhr er von dem Persönlichen Budget. Ausschlaggebend für die Budgetbeantragung war schließlich der Wunsch, in der unbetreuten Wohngemeinschaft weiterhin Einzelgespräche mit einer vertrauten Sozialpädagogin aus der therapeutischen Wohngemeinschaft führen zu können und nach wie vor die Arbeitstherapie in der ehemaligen Einrichtung zu besuchen. Dem Budgetnehmer ging es letztendlich darum, den Kontakt zur Einrichtung zu halten, weil er darin eine Möglichkeit sieht, „auch in Zukunft trocken zu bleiben“. Mit dem Budget finanziert er nun Einzelgespräche mit der Mitarbeiterin der ehemaligen Einrichtung (im wöchentlichen Wechsel in seiner Wohnung und in der Einrichtung) sowie die Teilnahme an der arbeitstherapeutischen Maßnahme an vier Tagen die Woche für je dreieinhalb Stunden.150 Eine 42 Jahre alte Budgetnehmerin suchte zum Zwecke der Verselbstständigung eine in Laufnähe zur ehemaligen Einrichtung befindliche ambulant betreute Wohnform, da sie ihre vertraute Umgebung und die gewachsenen sozialen Strukturen nicht aufgeben wollte. Dabei war es der Budgetnehmerin besonders wichtig, Kontakt zur Einrichtung zu halten und auch weiterhin an Angeboten der Einrichtung teilnehmen zu können. Seitens der Einrichtung konnte jedoch eine solche ambulante Betreuung nicht angeboten werden, da die dafür vorgesehenen Plätze nur in der nächstgelegenen Stadt zur Verfügung standen. Ein Umzug in diese Stadt kam für die Frau aber nicht in Betracht. Aus diesem Grunde wurde ein Persönliches Budget beantragt, um eine ambulante Unterstützung durch Mitarbeiter/innen aus der ehemaligen Einrichtung in einer Privatwohnung in der Nähe der Einrichtung zu ermöglichen. Es besteht daher weiterhin eine enge Anbindung zum ehemaligen Wohnheim und die vertrauten Bezugspersonen konnten sozusagen in diese 150 Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Auch ein 49-jähriger Budgetnehmer – ebenfalls mit einer Suchterkrankung – finanziert mit Hilfe des Persönlichen Budgets die Teilnahme an einem Gruppenangebot der ehemaligen Einrichtung (Gesprächstherapie).
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neue Wohnform „mitgenommen“ werden, was der Budgetnehmerin nach eigenen Angaben half, schrittweise „im Alltag Fuß zu fassen“. Das Budget deckt ambulante Betreuung in einem Umfang von monatlich 20 Fachleistungsstunden sowie 4 Stunden Kleingruppensitzungen in der nahen Einrichtung ab. Die Unterstützung wird durch eine ihr vertraute Mitarbeiterin des Wohnheims erbracht. Die Budgetnehmerin geht weiterhin jeden Tag für etwa eine Stunde zum Arbeiten in die ehemalige Einrichtung (Putztätigkeit für einen geringen Lohn), um dadurch noch Kontakt zu den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern zu halten. Zudem kann sie an Freizeitaktivitäten der Einrichtung teilnehmen (z.B. an einer NordicWalking-Gruppe). Alles in allem stellt die Budgetnutzung also einen Versuch dar, bestehende Unterstützungsstrukturen im Zuge einer Verselbstständigung zu erhalten. Damit – so betont die Budgetnehmerin – werde ihr die Angst genommen, „draußen zu wohnen und allein gelassen zu werden“. Ein ähnliches Beispiel ist eine 50-jährige Budgetnehmerin, die ein Persönliches Budget beantragt hatte, um in einer eigenen Wohnung zu leben, gleichzeitig aber auch auf Betreuungs- und Versorgungsstrukturen der früheren stationären Einrichtung zurückgreifen zu können. Das entsprechend konstruierte Unterstützungsarrangement stellt sich wie folgt dar: Da gerade in den Nächten und am Wochenende ein Bedarf an verlässlicher (professioneller) psychosozialer Unterstützung besteht, verbringt die Budgetnehmerin – je nach Bedarf – zwei oder drei Tage bzw. Nächte pro Woche in der ehemaligen Einrichtung. Hierfür setzt sie das Persönliche Budget ein. Das Budget in Höhe von etwa 1.000€ ist so bemessen, dass sie insgesamt 10 Tage (bzw. Übernachtungen) im Monat für die Unterstützung in dieser Einrichtung finanzieren kann. Die restliche Woche verbringt sie dann aber ohne Betreuung in ihrer eigenen Wohnung. Letztendlich konnte dieser Spagat zwischen Verselbstständigung und Sicherstellung der vertrauten Strukturen nur mit Hilfe des Persönlichen Budgets ermöglicht werden. Eindrücklich wird dieser Verselbstständigungsprozess bei gleichzeitigem Aufrechterhalten gewohnter Betreuungsstrukturen auch in einem vierten Beispiel geschildert. Es handelt sich um eine 57-jährige Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung. Die Budgetnehmerin hatte bereits einige Klinikaufenthalte und zwei Einweisungen in eine stationäre Einrichtung hinter sich. Vor der Beantragung des Persönlichen Budgets lebte sie neun Monate lang in einer Wohneinrichtung für psychisch erkrankte Menschen. Nach eigenen Angaben war sie in dieser Einrichtung allerdings schon seit längerem überversorgt. Schließlich entschloss sie sich, mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus der Wohneinrichtung auszuziehen. Das Budget wollte sie dafür nutzen, weiterhin Leistungen in der Einrichtung einzukaufen. Die Budgetnehmerin bezog eine kleine Wohnung in der Nähe der Einrichtung und fährt jeden Werktag in das ehemalige Heim, um dort ihre Medikamente
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einzunehmen (für das Wochenende und für Feiertage bekommt sie jeweils die benötigten Medikamente mit). Ein Teil des Budgets ist für diese Unterstützungsleistung durch das Heim gedacht, ein weiterer Teil für eine Monatsfahrkarte. Zwar wäre es auch möglich, einen ambulanten Dienst für die Medikamenteneinnahme zu beauftragen, doch das gewachsene Vertrauensverhältnis zu dem Heim und der dadurch bleibende Kontakt zu den Mitbewohner/innen und Mitarbeiter/innen bedingten die Entscheidung für den Einkauf der Unterstützungsleistung in dem ehemaligen Wohnheim. Indirekt wird es ihr so ermöglicht, die bestehenden sozialen Kontakte zu erhalten: „Ich wurde groß unterstützt, besonders vom Heim. Meine Betreuerin, die wollte mich nicht aus dem Heim lassen. Die wollte mich weiterhin im Heim behalten. Aber das Heim hat mich voll unterstützt, dass das einzige wirklich die Medikamente sind. Sonst war ich im Heim fast überflüssig. Also ich komme im Leben zurecht. Ich muss nicht deswegen im Heim sein. Nur auf Grund von diesen Medikamenten – was ich selber vorgeschlagen habe – ist es gelaufen, dass der Auszug ermöglicht wurde. (…). Ich könnte die Medikamente auch bei meinem Psychiater nehmen, Nervenarzt. Dort wird es angeboten. Aber ich möchte mit dem Heim in Kontakt bleiben. Ich beteilige mich auch an Freizeitveranstaltungen und so, was das Heim betrifft. Ich bin eingeladen zu Geburtstagsfeiern, Weihnachten und Fasching. Ich nehme so teil am Leben des Heimes, gleichzeitig. Ich bin dadurch gemeinschaftlich integriert. Das ist zwei in einem. (…). Über den mobilen Sozialdienst würde ich das nicht machen wollen. Das habe ich mit meinem Arzt besprochen. Ich wünsche mir nicht, dass hier jeden Tag jemand hinkommt und dafür sorgt, dass ich Medikamente einnehmen muss. Ich will hingehen.“
Durch die tägliche Medikamenteneinnahme hält die Budgetnehmerin Kontakt zum Heim, zugleich wagt sie aber „erste“ Schritte in die Selbstständigkeit und versucht ihren Alltag eigenverantwortlich zu gestalten. Zwar wertet die Budgetnehmerin die Zeit im ehemaligen Heim als wertvoll und notwendig, allerdings sieht sie darin auch die Gefahr einer Separierung und Ausgrenzung. Eine vollständige Integration in die Gesellschaft lässt sich ihrer Meinung nach erst durch den Umzug in eine Privatwohnung realisieren. Aus diesen Motiven heraus entstand der beschriebene „Spagat“, denn vorher sei sie trotz ihrer intensiven Bemühungen, sich möglichst außerhalb des Heims aufzuhalten, aus der „gesunden Gesellschaft ausgekapselt“ gewesen. Daneben begreift sie die Verselbstständigung auch als etwas, das „erlernt“ bzw. auch wieder „verlernt“ werden kann; entsprechend ist diese Budgetnehmerin auch ein gutes Beispiel dafür, inwiefern Verselbstständigungsprozesse aufgrund von Gewöhnungseffekten durch das Leben in einer stationären Einrichtung erschwert werden:
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„Ich würde sagen, wenn jemand ein bisschen – dann soll er sich nicht auf ein Heim einlassen, damit er nicht mit der Zeit verkümmert, die Leute verkümmern. Die müssen zwar putzen einmal in der Woche, wenn es sich um ein Wohnheim handelt. Aber das machen sie mit der Zeit immer weniger, immer weniger, dann machen sie das überhaupt nicht mehr. Mit der Zeit verkümmern die Leute einfach. Wenn jemand sich ein bisschen anstrengt, dann wird er immer wieder mit Hilfe des Persönlichen Budgets integriert in die gesunde Gesellschaft. In der kranken Gesellschaft wird man noch mehr krank.“
Insgesamt zeigen die genannten Beispiele, dass eine Verselbstständigung in Form eines Sprungs „ins kalte Wasser“ wohl eher nicht den Regelfall darstellen dürfte und auch keinesfalls den Bedürfnissen der Budgetnehmer/innen entspricht. Auch der Wunsch nach einem Erhalt einer selbstständigen Lebensform steht in engem Bezug zu dem Bestreben, eine regelmäßige psychosoziale oder haushaltsnahe Unterstützung mit Hilfe des Persönlichen Budgets zu gewährleisten. Ein 38-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung intendiert beispielsweise mit der Beantragung eines Persönlichen Budgets die weitere Stabilisierung seiner selbstständigen Lebensführung, indem er sich Unterstützung durch „Ansprechpartner bei Wünschen, Fragen, Problemen“ sichert. Ein ebenfalls psychisch erkrankter 45-jährigen Budgetnehmer, für den gleichfalls Stabilisierung als Voraussetzung für eine eigenständige Lebensführung im Vordergrund steht, möchte vor allem „jederzeit Hilfe organisieren (…) können, wenn ich sie brauche, (…) und die nur mit Menschen meines Vertrauens“. Andere Budgetnehmer/innen betonen wiederum die Notwendigkeit, Hilfen im Haushalt nutzen zu können, etwa wegen drohender Vermüllung der Wohnung aufgrund eines Messi-Syndroms. So ging es laut Aussage eines 65-jährigen Budgetnehmers bei der Budgetbeantragung vor allem darum, die „Verwahrlosung in Griff zu bekommen, Wohnung in bewohnbaren Zustand zu bekommen, Wohnung [zu] erhalten“. Nicht selten lässt sich eine Kombination verschiedener Motive beobachten: Beispielsweise beantragte ein gesetzlicher Betreuer zusammen mit einem 46jährigen Mann mit psychischer Erkrankung ein Persönliches Budget, um dessen selbstständige Lebensführung in der eigenen Wohnung durch eine „flexible Gestaltung der notwendigen Hilfen“ zu ermöglichen. Voraussetzung dafür ist jedoch eine regelmäßige Unterstützung in Form von Einzelfallhilfe („Vermeidung von Sammelverhalten“) sowie regelmäßige haushaltsnahe Dienstleistungen zur „Herstellung einer akzeptablen Wohnsituation“ und zur „Entsorgung des Mülls aus der Wohnung“. Alles dies wird über das Persönliche Budget finanziert. Auch im Falle von Budgetnehmer/innen, die eine selbstständige Lebenssituation zu erhalten versuchen, werden bereits bekannte Mitarbeiter/innen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe über ein Persönliches Budget finanziert. Als Beispiel sei ein 52-jähriger Budgetnehmer genannt, der aufgrund der Kündigung
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des Betreuungsvertrags mit einem ambulanten Anbieter nach einer Alternative zur Heimunterbringung gesucht hatte. Wesentliches Ziel der Budgetbeantragung war es dabei, die Betreuung im eigenen Wohnraum aufrechtzuerhalten. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets konnte daraufhin ein vertrauter Mitarbeiter der regelmäßig besuchten Tagesstätte die ambulante Unterstützung wahrnehmen: „Mir wurde das betreute Wohnen gekündigt. Die wollten, dass ich wieder ins Heim gehe. Meine Betreuerin und ich wollten das nicht wie auch ein Mitarbeiter von der Tagesstätte. Der hat mir dann angeboten, mich über ein Persönliches Budget weiter ambulant zu betreuen.“
Stellt man diese Ergebnisse abschließend den in Kapitel 3 diskutierten theoretischen Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets gegenüber, so verdeutlicht dieser Typus insbesondere die Möglichkeiten einer selbstständigen Lebensführung mit Hilfe eines Persönlichen Budgets. Dies gilt jedoch nicht nur für Personen, die einen Auszug aus stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe oder aus dem elterlichen Haushalt anstreben (Verselbstständigung), sondern gleichermaßen auch für Menschen, die das Persönliche Budget dafür nutzen, eine selbstständige Lebensform zu erhalten (Vermeidung einer stationären Unterbringung). Die quantitative Bedeutung dieses Typus in der vorliegenden Untersuchung bestätigt daher auch die These, dass das Persönliche Budget in entscheidender Art und Weise zu einer Verwirklichung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ beitragen kann (vgl. dazu auch Wacker 2009, 8). Andere Potenziale wie beispielsweise Selbstbestimmung, Unabhängigkeit oder Flexibilität sowie die Möglichkeit, eine kritische Kundenrolle einnehmen zu können, spielen hingegen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil kennzeichnet es diesen Typus geradezu, dass eine möglichst gesicherte Unterstützung angestrebt wird und entsprechende Einschränkungen in der Unabhängigkeit und Flexibilität in Kauf genommen werden. Zusammenfassend lässt sich daher folgende Hypothese formulieren: Das Persönliche Budget kann in hohem Maße dazu beitragen, Verselbstständigungsprozesse von Menschen mit Behinderung zu unterstützen oder eine selbstständige Lebensführung zu erhalten. Dies hängt jedoch entscheidend davon ab, ob sich die Budgetnutzer/innen gleichzeitig in „sicheren“ Strukturen bewegen, die nicht selten eine „Mitnahme“ gewohnter Versorgungsstrukturen in die (neue) selbstständigere Lebensform erfordern. Insgesamt ist daher auch zu erwarten, dass Budgetnehmer/innen, die diesem Typus zugeordnet sind, solche Persönlichen Budgets favorisieren bzw. beantragen, die bedarfsgerecht ausgestaltet sind und den Charakter der Stabilität und
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Planungssicherheit beinhalten. Vermutlich werden diese Menschen den Schritt in eine selbstständigere Lebensführung nur dann wagen, wenn gleichzeitig die gewünschte Versorgungsstruktur gewährleistet ist. Schließlich stellt diese Sicherheit die Voraussetzung dafür dar, dass ein Auszug aus stationären Wohneinrichtungen bzw. aus dem elterlichen Haushalt überhaupt realisiert wird. Dies könnte auch einer der Gründe dafür sein, warum es in den meisten Modellprojekten nicht gelang, dass Menschen mit einem hohen und komplexen Unterstützungsbedarf in nennenswertem Umfang aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ausgezogen sind.
8.2 Typus 2 – Individuelle Gestaltung von Teilhabe und Aktivität Der zweite Typus besteht aus der zweitgrößten Gruppe der befragten Budgetnehmer/innen (24% bzw. 47 von 193 Budgetnehmer/innen). Was das inhaltliche Gewicht dieser Personengruppe betrifft, so spiegeln sich einige der in Kapitel 3 dargestellten theoretischen Erwartungen wider. Beispielsweise vereint dieser Typus Personen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets Teilhabechancen verbessern möchten, genauso aber auch versuchen, Angebote außerhalb der üblichen Strukturen der Behindertenhilfe zu nutzen (Deinstitutionalisierung, Individualisierung von Hilfen). Dabei werden äußerst innovative und kreative Unterstützungsarrangements geschaffen oder neue soziale Ressourcen erschlossen. Wenn auch andere Potenziale wie beispielsweise Selbstbestimmung oder Einflussnahme in der Selbstwahrnehmung der Budgetnehmer/innen nur eine kleine bzw. indirekte Rolle spielen, sind sie dennoch impliziter Bestandteil dieses Wunsches nach individuellen Lösungen. Insgesamt setzen diese Budgetnehmer/innen auch Impulse zur Weiterentwicklung und Differenzierung bestehender Angebote. In dem zweiten Typus sind Personen zusammengefasst, die die Suche nach individuellen Lösungen von Unterstützung mit dem Wunsch nach einer Verbesserung von Teilhabechancen verknüpfen. Die Beispiele zeigen facettenreich, dass die mit Hilfe des Persönlichen Budgets kreierten Lösungen vor allem dafür genutzt werden, individuelle Vorstellungen von Teilhabe und Aktivität umzusetzen. Diese Lösungen gehen oftmals mit Unterstützungsleistungen einher, die außerhalb von Angeboten und Institutionen der Behindertenhilfe gefunden werden. Nicht selten finanzieren die Budgetnehmer/innen dabei allgemeine Dienstleistungen oder Sachmittel und verzichten auf eine Unterstützung durch professionelle Dienste oder Fachkräfte, weil diese Form der Unterstützung eher ihren Vorstellungen entspricht. Neben dieser spezifischen Verknüpfung von individuellen Unterstützungsarrangements und dem Bestreben, soziale Kontakte knüpfen und bestimmte Ak-
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tivitäten realisieren zu können, spielen zu einem gewissen Grad außerdem die Motive „Selbstbestimmung“, „Flexibilität“, „Entlastung“ und „Unabhängigkeit“ eine Rolle. Auch wenn dieser Typus insbesondere im Hinblick auf den dominierenden Zusammenhang zwischen individuellen Lösungen und dem Wunsch nach sozialen Beziehungen konstruiert wurde, lassen sich vielfältige Überschneidungen zu anderen Motiven finden, so dass es sich bei diesem Typus auch gleichzeitig um den heterogensten Personenkreis innerhalb der Typologie handelt. Die vielfältigen Überschneidungen mit den genannten Motiven untermauern jedoch auch gleichzeitig die charakteristischen Merkmale dieses Typus. Beispielsweise hängt die Umsetzung individueller Lösungen zwangsläufig mit dem Bestreben nach mehr Flexibilität und Selbstbestimmung im Umgang mit den bewilligten Sozialleistungen zusammen, schließlich müssen die entsprechenden Unterstützungsarrangements erst einmal geschaffen und organisiert werden. Insbesondere der Wunsch nach mehr Flexibilität korrespondiert in hohem Maße mit dem Versuch, individuelle Formen der Unterstützung zu entwickeln. Zu denken sei vor allem an zeitliche und inhaltliche Dispositionsspielräume, die es den Budgetnehmer/innen ermöglichen, Art, Inhalt und Zeitpunkt der Hilfen selbst auswählen zu können. Ebenso können individuelle Vorstellungen von Unterstützung, Teilhabe und Aktivität oftmals erst dann realisiert werden, wenn eine gewisse Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern gewährleistet ist. Eine entsprechende Unabhängigkeit ermöglicht es beispielsweise auf der einen Seite, dass Unterstützungsarrangements auch außerhalb der üblichen Strukturen der Behindertenhilfe aufgebaut werden können, auf der anderen Seite kann es aber auch gelingen, bestehende Anbieter zu einer Differenzierung und Anpassung ihrer Angebote an die Bedürfnisse der Leistungsempfänger zu bewegen. Der Personenkreis der in diesem Typus zusammengefassten Budgetnehmer/innen ist entsprechend der Heterogenität der Beantragungsmotive auch im Hinblick auf personenbezogene Merkmale äußerst vielfältig. So lassen sich kaum Auffälligkeiten bezüglich der Geschlechterverteilung, des Alters oder der Art der Behinderung feststellen. Wie auch im ersten Typus stellen Menschen mit psychischen Erkrankungen die größte Gruppe dar, allerdings ist der Anteil an Menschen mit einer körperlichen Behinderung vergleichsweise hoch. Betrachtet man die jeweiligen Unterstützungsbereiche, so handelt es sich genau um die Bereiche, die mit den entsprechenden Motiven korrespondieren (es wird schwerpunktmäßig ein Unterstützungsbedarf in den Bereichen soziale Beziehungen, Mobilität und Freizeitbetreuung angegeben). Was die Budgetverwendung betrifft, so sind in diesem Typus überproportional viele Budgetnehmer/innen vertreten, die das Budget für „spezielle Aktivitäten“, d.h. für Freizeitbegleitung und Freizeitgestaltung, zur Befriedigung spezifischer Interessen oder zur Realisierung kontaktstiftender Aktivitäten nutzen. Diese
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Personengruppe zeichnet sich zudem durch einen besonders hohen Anteil an Budgetnehmer/innen aus, die die Unterstützung mit privaten Hilfen organisieren oder allgemeine Dienstleistungen und Sachmitteln finanzieren. Diejenigen Budgetnehmer/innen, die Leistungsverträge mit professionellen Anbietern geschlossen haben, kombinieren diese Unterstützung häufig mit allgemeinen Dienstleistungen und Sachmitteln. Eine besonders große Rolle spielen daher disponible Geldbeträge – entweder als ausschließlicher Bestandteil des Budgets oder ergänzend zu einer professionellen Unterstützung. Vermutlich lassen sich individuelle Vorstellungen von Teilhabe und Aktivitäten also insbesondere mit Hilfe mehr oder weniger frei verfügbarer Geldbeträge bzw. auf Basis einer Kombination von professioneller Unterstützung und disponibler Geldbeträgen umsetzen. Die Verknüpfung von „Individuellen Lösungen“ und „Sozialen Beziehungen“ wird aus diesem Grunde auch besonders deutlich in den Beispielen, in denen Budgetnehmer/innen auf einen Teil der ambulanten Betreuung durch professionelle Dienste verzichtet, um mit den verbleibenden Geldbeträgen eigene Vorstellungen von Unterstützung realisieren zu können. Mit diesen Lösungen versuchen Sie dann, kontaktstiftende Aktivitäten außerhalb von Einrichtungen oder Diensten der Behindertenhilfe zu finanzieren. Diese Fallgestaltungen stellen sich wie folgt dar: Im Zuge der Beantragung eines Persönlichen Budgets werden im Rahmen der Hilfebedarfsermittlung die benötigten Fachleistungsstunden für eine ambulante Wohnbetreuung festgelegt. Nun können Teile dieser bewilligten Stunden als disponible Geldbeträge herausgelöst werden, über die die Budgetnehmer/innen dann im Rahmen der über eine Vereinbarung festgelegten Ziele frei verfügen können. Damit können dann beispielsweise Kurse an der Volkshochschule, Mitgliedsbeiträge in Fitnessstudios, Teilnahmegebühren an Seminaren oder auch Sachmittel finanziert werden. Im Gegenzug verzichten die Budgetnehmer/innen aber auf die entsprechende Unterstützung durch einen (professionellen) ambulanten Dienst. Mit diesen disponiblen Geldbeträgen erschließen die Budgetnehmer/innen alternative Wege der Unterstützung, die eine zweckdienliche Ergänzung zur ambulanten Betreuung darstellen. Dabei werden in der Regel Angebote genutzt, die gleichzeitig zu einer Verbesserung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beitragen. Am Beispiel ausgewählter Fallbeispiele soll dies verdeutlicht werden: Ein 33-jähriger Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung finanziert neben einer ambulanten Betreuung Sportbekleidung (z.B. professionelle Laufschuhe) sowie die Startgebühren für Laufveranstaltungen. Hintergrund der Budgetbeantragung ist nach Aussage des Budgetnehmers, dass insbesondere das Laufen ihm helfen würde, mit seiner psychischen Erkrankung besser umzugehen, etwa um regelmäßig „Aggressivität und Frust abzubauen“. Auch hätte es seitdem weniger Rückfälle in seine Sucht gegeben. Des Weiteren bietet ihm die
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Teilnahme an Laufveranstaltungen aber insbesondere die Möglichkeit, Teil der „Community“ – wie er es selbst bezeichnet – zu sein und Kontakte mit anderen Sportlern knüpfen zu können. Der Budgetnehmer verzichtet auf eine Stunde ambulante Unterstützung im Monat und hat damit etwa 50€ monatlich für seinen Laufsport zur Verfügung. Äußerst vielfältig sind die über ein Persönliches Budget finanzierten Aktivitäten einer 36-jährigen Budgetnehmerin mit einer psychischen Erkrankung: Etwa die Hälfte des Budgets investiert sie in ambulante Betreuung in Höhe von ca. drei Stunden Unterstützung in der Woche durch eine professionelle Fachkraft. Eine Assistentin unterstützt sie hierbei in Sachen Schriftverkehr und Behördengängen sowie hinsichtlich der Verbesserung ihrer Antriebslosigkeit. Die andere Hälfte des Budgets nutzt sie, um eigenen Ideen in Sachen „Aktivierung“ umzusetzen, vor allem um mehr „raus zu kommen“. So hat sie einen Malkurs bei der Volkshochschule belegt, geht einmal pro Woche zum Trommeln, macht Wassergymnastik, hat eine Freundin in Dresden besucht, war im Theater, in der Sauna und beim Bowlen. Da bei ihr eine Lese-Rechtschreib-Schwäche diagnostiziert wurde, nimmt sie zudem Einzelunterricht, um das Schreiben zu erlernen. Interessant an diesem Fallbeispiel ist ferner, dass sie anfänglich gar nicht wusste, ob sie das Budget auch für solche Dinge einsetzen darf. Da von Seiten des Leistungsträgers aber keine Regelungen zur Verwendung des Budgets getroffen wurden, hat sie die genannten Aktivitäten „einfach [mal] gemacht“ und abgewartet, ob der Sachbearbeiter des Sozialamts diese Ausgaben beanstandet. Insofern verdeutlicht dieses Beispiel auch, dass die Möglichkeit zur relativ freien Verwendung des Persönlichen Budgets keinesfalls mit der Gefahr eines Missbrauchs einhergeht.151 Heute – so die Budgetnehmerin – könne sie sich „nicht mehr hinter ihrer Krankheit verstecken“. Eine zweite Gruppe an Budgetnehmer/innen mit dem Bedürfnis nach individuellen Lösungen zur Verbesserung von Kontaktmöglichkeiten sind Personen, die ihr gesamtes Budget bzw. einen Großteil davon für Sachmittel ausgeben. Ein innovatives Beispiel, wie Sachmittel anstatt personeller Unterstützung zur Verbesserung von Teilhabechancen eingesetzt werden können, ist ein 44-jähriger Budgetnehmer, der mit Hilfe des Persönlichen Budgets ein eigenes Auto finanziert, weil diese Möglichkeit zur Mobilität seiner Meinung nach die beste Lösung darstellt, der drohenden Isolation und Vereinsamung beizukommen.152 Hinter151 Dies bestätigen auch die Ergebnisse der bundesweiten Modellerprobung. So wurden nur 8% aller 494 dokumentierten Persönlichen Budgets wieder eingestellt, wobei wiederum nur ein Bruchteil dieser abgebrochenen bzw. eingestellten Budgets auf einen Missbrauch der bewilligten Geldmittel zurückgeführt werden können (vgl. dazu Metzler u.a. 2007, 115f.). 152 Siehe ausführlich dazu auch die Fallbeschreibung im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung (vgl. Metzler u.a. 2007, 226f.).
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grund dieser Idee ist, dass der Budgetnehmer aufgrund seines Übergewichts in seiner Mobilität stark eingeschränkt ist und sich daher auch stark isoliert fühlt; Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sind beispielsweise nicht mehr zu bewerkstelligen. Wesentlicher Ausschlag der Budgetbeantragung war daher, aus dieser Isolation heraus zu kommen (u.a. berichtet der Budgetnehmer auch von Depressionen) und „wieder am Leben teilzunehmen“. Als es um die Feststellung seines Hilfebedarfs sowie um die Verwendungsmöglichkeiten des Persönlichen Budgets ging, äußerte der Budgetnehmer den Vorschlag, ein Auto damit zu finanzieren. Ihm wurde schließlich ein Persönliches Budget bewilligt, das aus ambulanten Eingliederungshilfen sowie Leistungen zur Teilhabe bzw. Mobilität besteht. Aus einem kleineren Teil des Budgets bezahlt er eine Haushaltshilfe, die er sich selbst ausgesucht hat. Der restliche Teil (200€) ist für Mobilität bzw. Freizeitaktivitäten gedacht und der Budgetnehmer kann frei darüber verfügen. Aus diesem Betrag finanziert er die Unterhaltskosten für ein Auto: „Ich kann frei entscheiden da drüber, d.h. ich kann auch mit dem Bus fahren, ich kann auch mit dem Zug fahren. Für mich ist es halt durch die Erkrankung ein bisschen umständlich, (…) mit dem Auto ist es relativ gut auszuhalten.“
Nach Auskunft des Budgetnehmers ist es insbesondere dieser Möglichkeit geschuldet, dass er wieder aktiv am sozialen Leben teilnehmen kann. So berichtet er davon, dass er nun den „ganzen Tag unterwegs“ ist und somit besser soziale Kontakte aufbauen und pflegen kann: „Weil ich vorher isoliert war, und das Budget macht es mir möglich, am öffentlichen Leben, am sozialen Leben wieder teilzunehmen. Ich kann mich in mein Auto setzen, ich kann hinfahren, wo ich will. Ich kann dadurch auch viele soziale Kontakte knüpfen (…). Ja, mein Bewegungsfreiraum, der hat sich dermaßen erweitert durch das Budget, dass ich das wieder bezeichnen kann, voll im sozialen Mittelpunkt und Leben zu stehen. (…). Das hat mir auch sehr viel geholfen, dieses Budget, auch meine psychischen Probleme loszuwerden.“
Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Auch ein 65-jähriger Budgetnehmer mit einer chronischen organischen Erkrankung nutzt das Budget, um damit ein Auto zu finanzieren. Hierbei geht es analog dem obigen Beispiel ebenfalls darum, soziale Kontakte knüpfen und pflegen zu können. Ebenso spielt es aber auch eine Rolle, dass der Mann aufgrund seiner Atemwegserkrankung in die nahegelegenen Berge fahren kann, weil die dortige Höhenluft besonders gesundheitsförderlich für ihn ist. Eine dritte Personengruppe, bei der sich die spezifische Kombination zwischen „Individuellen Lösungen“ und „Sozialen Beziehungen“ deutlich zeigt, sind Jugendliche und junge Erwachsene, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine
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lebensphasenspezifische Unterstützung finanzieren. Dabei spielt insbesondere die Auswahl der Unterstützungspersonen eine wesentliche Rolle: Um spezifische Eigenschaften der Unterstützungsperson geht es beispielsweise im Falle eines 15-jährigen Mädchens mit einer sogenannten geistigen Behinderung, die sich durch die Auswahl einer bestimmten Begleitperson eine lebensphasentypische Freizeitbegleitung erhofft. Daher wurde für die 15-jährige Budgetnehmerin ein Persönliches Budget beantragt, um die Unterstützung in der Freizeit nach jugendgerechten Gesichtspunkten gestalten zu können. Über das Persönliche Budget soll eine gleichaltrige Freizeitbegleitung finanziert werden, weil diese für eine Jugendliche angemessener erscheint als eine erwachsene Fachkraft. Dadurch – so die Mutter – könne die Tochter „von einer gleichaltrigen Betreuungsperson begleitet werden und so gemeinsam mit anderen Jugendlichen etwas unternehmen“. Interessant in diesem Fall ist, dass die rekrutierte weibliche Betreuungsperson nur knapp zwei Jahre älter ist als die Budgetnehmerin, also selbst noch eine Jugendliche. Der Kontakt kam dabei über die Schwester der Budgetnehmerin zustande. Die Budgetnehmerin kannte ihre jetzige Betreuungsperson bereits aus dem Freundeskreis ihrer Schwester und hatte sie angesprochen, ob sie sich vorstellen könne, so etwas zu machen. Dadurch gelang es, eine altersgerechte Freizeitgestaltung mit dem gleichzeitigen Einbezug in eine Jugendszene zu kombinieren. Beispielsweise nimmt die Betreuungsperson die Budgetnehmerin auch zu Treffen mit ihren Freundinnen mit. Die spezifische Koppelung von „Individuellen Lösungen“ und „Sozialen Beziehungen“ lässt sich jedoch nicht nur bei Budgetnehmer/innen finden, die soziale Kontakte aufbauen und Teilhabechancen verbessern wollen, sondern gleichermaßen auch bei Personen, die ihre sozialen Netzwerke aufrecht erhalten möchten. Aus diesem Grunde besteht eine vierte Gruppe aus Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget zum Erhalt und zur Stärkung sozialer Ressourcen einsetzen. Das Beispiel einer 60-jährigen Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung und einem relativ umfassenden Pflege- und Unterstützungsbedarf verdeutlicht dies: Die Budgetnehmerin verfügt über ein gut funktionierendes familiäres Netzwerk und einen großen Freundeskreis. Dieses soziale Netzwerk spielt eine zentrale Rolle für die Unterstützung der Budgetnehmerin, weil die Betreuung und die Pflege ausschließlich von Angehörigen und Freund/innen – unentgeltlich – erbracht werden. Aus diesem Grunde lebt sie völlig unabhängig von sozialen Diensten und kann ihre Unterstützung flexibel gestalten; ohne diese Hilfen wäre die Frau wahrscheinlich hochgradig auf professionelle Anbieter angewiesen. Allerdings ist es gerade diese unentgeltliche Unterstützung, die den Ausschlag für das Interesse am Persönlichen Budget gab, denn auf der anderen Seite fühlt sie sich zunehmend als „Bittstellerin“. Im Interview berichtete sie davon, wie unangenehm es ihr teilweise ist, „ständig Danke sagen zu müssen“,
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
sich „ständig als Bittsteller zu fühlen“. Das Persönliche Budget wurde schließlich beantragt, damit sich die Budgetnehmerin für die „kostenlose“ Betreuung durch Angehörige und Freunde irgendwie erkenntlich zeigen kann. Dadurch wird es ihr letztendlich auch möglich, mit Abhängigkeits- und Peinlichkeitsgefühlen besser umgehen zu können und wieder „auf andere Leute [zu] zu gehen und sich nicht [zu] verstecken, nicht das Gefühl [zu] haben, dass man Bittsteller ist“. Mit einem Persönlichen Budget in Höhe von 200€ im Monat steht ihr nun Geld zur Verfügung, welches sie für freizeitrelevante Aktivitäten einsetzen kann. Mit dem Budget finanziert die Frau ihren Angehörigen, Freunden und Bekannten „kleinere Geschenke“ wie beispielsweise Blumensträuße, Kuchen oder spontane Einladungen zum Mittagessen oder „mal ’nen Cappuccino“, wenn jemand mit ihr in der Stadt spazieren geht. Nachweise müssen keine erbracht werden und das Geld kann disponibel für teilhaberelevante Zwecke ausgegeben werden. Diese individuelle Lösung ermöglicht es der Budgetnehmerin, sich einerseits nicht mehr als Bitstellerin fühlen zu müssen und gleichzeitig aber auch ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu stärken. Das Beispiel zeigt damit auch, dass „Unabhängigkeit“ von (professionellen) Anbietern in einem anderen Fall auch bedeuten kann, ein gut funktionierendes und stabiles informelles Unterstützungsnetzwerk zu erhalten. Insgesamt soll damit nicht nur eine Unabhängigkeit von professionellen Pflegediensten ermöglicht werden, sondern es geht vor allem auch um den Erhalt eines individuellen Lebensstils und der Nutzung sozialer Ressourcen. Letztendlich lassen sich auch in der Literatur Beispiele finden, bei denen die Budgetverwendung den oben beschriebenen Intentionen folgt und die ohne weiteres diesem Typus zugeordnet werden können. Kastl (2009) beschäftigt sich beispielsweise in einer Einzelfallanalyse („Hannes Kühn“) detailliert mit einem Budgetnehmer mit einer psychischen Erkrankung, der einen Teil seines Persönlichen Budgets für Unterstützung im Haushalt verwendet, mit dem anderen Teil allerdings verschiedene Aktivitäten und Sachmittel finanziert (u.a. ein Fahrrad, um damit „den Stimmen davon zu fahren“). In Form einer fallrekonstruktiven Auseinandersetzung mit der Biografie und den sozialen Ressourcen dieses Budgetnehmers verdeutlicht Kastl anschaulich, inwiefern das Persönliche Budget einen spezifischen individuellen Nutzen in der Lebenssituation des Mannes erfüllt: „Er hört seit Jahren Stimmen, die ihm ans Leben wollen, ihn verhöhnen und beherrschen. (…). Er spekuliert auf den ‚Tod‘ dieser Stimmen in 20 bis 30 Jahren und gestaltet bis dahin seinen Tagesablauf mit einer Reihe von Aktivitäten, die, wie er sagt, ihm helfen, die Stimmen zu ertragen oder sogar zu bekämpfen (I-Ging-Orakel, Gitarrenund Klavierunterricht und tägliches Üben, Meditation, Radfahren). Diese Aktivitäten bezahlt Hannes Kühn aus einem (…) Persönlichen Budget“ (Kastl 2009, 11).
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In dem Beispiel wird deutlich, wie mit Hilfe des Persönlichen Budgets eigene Vorstellungen von Aktivität und Teilhabe umgesetzt werden und damit eine Verbesserung der Lebenssituation erzielt wird. Die Budgetverwendung steht hierbei in engem Bezug zur Bewältigung der Folgen der psychischen Erkrankung. Entsprechend können die mit Hilfe des Persönlichen Budgets finanzierten Aktivitäten „als eine Form der selbst gewählten Therapie“ (ebd., 145) verstanden werden, wie auch die Schilderungen des Budgetnehmers auf die Frage nach den Gründen der Budgetverwendung zeigen: „Und da hat’s auf der einen Seite mal geheißen, ja okay, hier, jemand, wo mir hilft sauber machen und so, wär wichtig. Und dann Hobby, Sport und Gitarreüben und Spielen, no. (…). Dass ich also in der Woche wirklich was hab, wo ich was zu tun hab. Damit ich weniger wegen meiner Stimmen und so, jetzt, ins Grübeln komm und so, gell“ (Auszug aus dem Interview mit Hannes Kühn in ebd., 12).
Insgesamt verdeutlichen die dargestellten Beispiele facettenreich, welche kreative Potenzialen durch die Nutzung Persönlicher Budgets angeregt werden können. Insofern kann der Aussage, die „Experimentierfreudigkeit“ von Menschen mit Behinderung wäre aufgrund von Abhängigkeitserfahrungen „oft wenig entwickelt“ (Wacker 2009, 5), nur bedingt zugestimmt werden. Wesentlicher Vorteil der beschriebenen Budgetgestaltungen ist schließlich, dass Menschen mit Behinderung eigene Ideen der Unterstützung außerhalb der bestehenden Angebote der Behindertenhilfe entwickeln und umsetzen. Des Weiteren wird es den Budgetnehmer/innen möglich, längerfristig einen eigenen Lebensstil zu entfalten. Damit tragen Persönliche Budgets gleichzeitig immer auch zur Deinstitutionalisierung und Individualisierung von Hilfen in der Behindertenhilfe bei. Insgesamt kann daher folgende Hypothese aufgestellt werden: Persönliche Budgets bieten optimale Voraussetzungen dafür, individuelle Formen der Unterstützung zu entwickeln oder zu erschließen. Diese Unterstützungsarrangements sind gleichzeitig der Verbesserung von Teilhabechancen und der Realisierung verschiedener Aktivitäten dienlich. Mit Hilfe von Persönlichen Budgets können daher persönliche Vorlieben und Interessen sowie ein individueller Lebensstil entfaltet und umgesetzt werden. Da sich Vorlieben und Interessen aber auch verändern, eignen sich besonders disponible Geldbeträge. Markant an den dargestellten Beispielen ist letztendlich, dass die Budgetnehmer/innen zugunsten disponibler Geldbeträge auf einen Teil der (professionellen) Unterstützung verzichten. Andere Budgetnehmer/innen sehen wiederum vollständig von einer professionellen Unterstützung ab. Insgesamt kann daher vermutet werden, dass diese Personen das Persönliche Budget vor allem deswegen
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
beantragt haben, um finanzielle Mittel von der Sachleistung zu entkoppeln, die ganz oder anteilsmäßig für individuelle Lösungen genutzt werden können. Wie vielfach dargestellt, sind es auch tatsächlich solche disponiblen Geldbeträge, die individuelle Unterstützungsarrangements zur Verbesserung von Teilhabe und Aktivität letztendlich erst ermöglichen konnten. Entsprechend zeigt auch die Wiederholungsbefragung, dass sich vor allem die im zweiten Typus zusammengefassten Budgetnehmer/innen eine (weitere) Flexibilität in der Verwendung des Persönlichen Budgets wünschen. So ist der Anteil derjenigen Personen, die ihr Persönliches Budget in Zukunft für andere Leistungen einsetzen möchten, in dieser Personengruppe am höchsten. Es ist also anzunehmen, dass sich individuelle Vorstellungen über Unterstützung, Teilhabe und Aktivität im Verlauf der Zeit auch ändern können und demnach veränderte Verwendungsmöglichkeiten gewünscht werden. Dies gelingt dabei am Besten mit Hilfe disponibler Geldbeträge. Es scheint also insbesondere die mehr oder weniger freie Verfügung über die bewilligten Mittel zu sein, die für diese Personengruppe attraktiv ist.
8.3 Typus 3 – Emanzipation durch erweiterte Spielräume Der dritte Typus umfasst 46 von 193 Budgetnehmer/innen (24%) und stellt demnach die drittgrößte Personengruppe dar. In Bezug auf die in Kapitel 3 vorgestellten theoretischen Erwartungen bildet dieser Typus sicherlich die meisten der diskutierten Potenziale ab. So sind in diesem Typus Personen vereint, denen es sowohl um Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Flexibilität und Regiekompetenz, als auch um eine unmittelbare Einflussnahme und „Kundenmacht“ geht. Alles in allem entspricht dieser Typus sozusagen der „Idealvorstellung“ eines Budgetnehmers bzw. einer Budgetnehmerin. Auf Basis der ausgewerteten Daten lassen sich daher durchaus Personen finden, die diese Idealvorstellung verkörpern und als „Träger der Grundidee“ Persönlicher Budgets fungieren, wenn es sich auch nicht – wie im vorliegenden Fall – um die größte Gruppe handelt. Die in diesem Typus zusammengefassten Personen benannten die Motive „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“, „Flexibilität“ und „Einflussnahme“ häufig in Kombination miteinander. Entsprechend der naheliegenden Verknüpfung von Flexibilität und Selbstbestimmung mit einer daraus resultierenden Unabhängigkeit und der Möglichkeit zur Einflussnahme stehen emanzipatorische Bestrebungen im Vordergrund der Budgetbeantragung. Dieser dritte Typus scheint daher besonders auf die Verwirklichung der ideellen Ziele des Persönlichen Budgets zu insistieren. In ihm spiegeln sich sowohl das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von (professionellen) Anbietern als auch der Wunsch nach einer flexibleren Gestaltung der Unterstützung und mehr
8.3 Typus 3 – Emanzipation durch erweiterte Spielräume
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Einfluss auf Art, Inhalt und Qualität der angebotenen Leistungen wider. Entsprechend geht es einigen dieser Personen auch darum, den zukünftigen Angebotsmarkt aktiv mitzugestalten. Auf der anderen Seite gibt es nur wenige Überschneidungen zu anderen Motiven, so dass dieser Typus nicht nur eine hohe interne Homogenität aufweist, sondern sich auch deutlich von den anderen Typen unterscheidet. Beispielsweise tauchen Motive wie „Versorgungssicherheit“, „individuelle Lösungen“, „Vereinfachung“, „Ersatzlösung“ und „Entlastung“ kaum auf. Lediglich die Motive „Selbstständigkeit“ und „Soziale Beziehungen“ werden in nennenswertem Umfang genannt, haben aber dennoch eine untergeordnete Bedeutung. Entsprechend lassen sich zu den anderen Typen so gut wie keine Berührungspunkte finden. Eine genauere Betrachtung dieses Personenkreises zeigt, dass der Anteil von Menschen mit körperlichen Behinderungen überdurchschnittlich hoch ist; diese Personengruppe stellt sogar die Mehrheit unter den in diesem Typus zusammengefassten Budgetnehmer/innen dar. Unterstützung benötigen diese Budgetnehmer/innen daher auch schwerpunktmäßig in den Bereichen „Tägliche Versorgung“, „Mobilität“ und „Freizeit“. Eine im Verhältnis zu den anderen Typen gewichtige Rolle spielt ferner ein Unterstützungsbedarf in dem Bereich „Ausbildung und Arbeit“. Auf der anderen Seite werden die Themen „Organisation der Unterstützung“, „Verwaltung des Geldes“ oder „Umgang mit Behörden“ vergleichsweise selten genannt. Dies deckt sich letztendlich auch mit dem Befund, dass die Entscheidungsgewalt über das Budget sowie die Budgetverwaltung schwerpunktmäßig von den Budgetnehmer/innen selbst wahrgenommen wird. Die Budgetverwendung ist besonders gekennzeichnet durch Persönliche Assistenz im weitesten Sinne. Daneben spielen aber auch alltags- und lebenspraktische Hilfen (was mitunter ebenfalls als „Persönliche Assistenz“ aufgefasst werden kann), spezielle Aktivitäten und insbesondere Unterstützung im Bereich „Ausbildung/Arbeit“ sowie „budgetbezogene Dienstleistungen“ eine Rolle. Wie unschwer zu erkennen ist, steht die überproportionale Bedeutung von Persönlicher Assistenz mit den Motiven der Budgetbeantragung in Verbindung. So eröffnen Assistenzmodelle geradezu idealtypisch Selbstbestimmungspotenziale und entsprechende Dispositionsspielräume, weil die Entscheidung über Unterstützungspersonen sowie über Inhalt und Zeitpunkt der Leistungserbringung vollständig beim Leistungsberechtigten verbleibt (Organisations-, Personal- und Raumkompetenz). Des Weiteren lässt sich eine größtmögliche Einflussnahme auf die Art und Qualität der Unterstützung im Grunde genommen nur durch die Übernahme der Finanz- und Anleitungskompetenz realisieren. Die Organisation der Unterstützung in Form eines Arbeitgebermodells ist dabei eine hervorragende Möglichkeit, diese Kompetenzen zu vereinen. Im Grunde finden der Anspruch auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im
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Arbeitgebermodell eine „idealtypische Form, wenn die Budgetnehmenden eigenverantwortlich Personen als Persönliche Assistenten und Assistentinnen rekrutieren, mit Arbeitsverträgen anstellen und entlohnen“ (Baumgartner 2009, 79). Tatsächlich wird das Arbeitgebermodell auch schwerpunktmäßig von Budgetnehmer/innen dieses Typus genutzt. Gleichzeitig kann dadurch auch erklärt werden, warum insbesondere der in diesem Typus zusammengefasste Personenkreis budgetbezogene Dienstleistungen finanziert. Wenn die unterstützenden Personen nicht bei einem Leistungsanbieter angestellt sind, sondern bei den Budgetnehmer/innen selbst, muss die Lohnabrechnung einschließlich des Abführens von Lohnnebenkosten von den Budgetnehmer/innen selbstständig erbracht werden. Dies stellt eine Verpflichtung dar, die nicht nur für Menschen mit Behinderung mit hohen Anforderungen verbunden ist. Ein weiteres markantes Verwendungsfeld stellt die Unterstützung im Bereich Ausbildung und Arbeit dar. Hierbei geht es insbesondere um Alternativen zu einer Tätigkeit in Werkstätten für behinderte Menschen. In diesem Kontext wird das Budget beispielsweise dafür genutzt, die „üblichen“ institutionellen Karrieren zu umgehen bzw. eine bestehende Beschäftigung aufrechtzuerhalten. Das Persönliche Budget erfüllt demnach immer auch den Zweck, eine Unabhängigkeit von den Institutionen der Behindertenhilfe aufrechterhalten zu können. Insgesamt vereint der hier zusammengefasste Personenkreis nahezu alle mit dem Persönlichen Budget in Verbindung gebrachten Potenziale in sinnbildlicher Art und Weise: Eine spezifische Koppelung von Selbstbestimmungsbestrebungen, der Wunsch nach einer stärkeren Unabhängigkeit von Anbietern und nach einer flexibleren Gestaltung der Unterstützung sowie das Bestreben, direkten Einfluss auf die Qualität und Entwicklung der Angebote von Leistungserbringern nehmen zu können. Die spezifische Verbindung von „Flexibilität“, „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“ und „Einflussnahme“ schlägt sich letztendlich darin nieder, dass die Budgetnehmer/innen selbst wählen können, wer die Unterstützung erbringt, wann diese zu erfolgen hat und welche Art von Unterstützung es sein soll. Dann können Budgetnehmer/innen auch tatsächlich entscheiden, wie sie die ihnen zugebilligten finanziellen Ressourcen einsetzen und für welche Unterstützung sie bezahlen möchten. Damit einher geht letztendlich auch die Möglichkeit, unabhängig von der Willkür der Leistungserbringer leben zu können und eine neue Rolle im Rehabilitationssystem einzunehmen. Deutlich zeigt sich diese Verkettung von „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“, „Flexibilität“ und „Einflussnahme“ beispielsweise am Beispiel eines 57jährigen Budgetnehmers griechischer Abstammung mit einer körperlichen Behinderung. Aufgrund eines Schlaganfalls ist der Mann auf umfassende Pflege und Unterstützung angewiesen. Zunächst wurde diese Unterstützung von einer Sozialstation erbracht und die Mahlzeiten kamen als „Essen auf Rädern“ ins Haus. Mit
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diesen Dienstleistungen wurde der Mann jedoch zunehmend unzufrieden. Die Mitarbeiter/innen des Sozialdienstes nahmen sich seiner Ansicht nach keine Zeit für Gespräche und die angelieferten Mahlzeiten schmecken nicht – „gutes (griechisches) Essen“ ist ihm allerdings sehr wichtig. Schließlich beantragte der Mann ein Persönliches Budget, um selbst entscheiden zu können, wer ihn unterstützt und von wem er das Essen bekommt. Er fand eine „Assistentin“, ebenfalls Griechin, die seiner Aussage nach nicht nur gut (griechisch!) kochen kann, sondern über die Pflege und Versorgung hinaus auch eine bessere psychosoziale Unterstützung leistet. Mit der Lösung lebt er nun unabhängig von (früheren) Leistungsanbietern. Die wesentlichen Dispositionsspielräume bestehen für ihn darin, dass er sich seine Assistentin selbst aussuchen, individuelle Dienstpläne aushandeln und die Leistung nach seinen Vorstellungen gestalten kann (auch wenn es „nur“ um gutes griechisches Essen geht). Mit dem Budget haushaltet er so, dass er nur Unterstützung einkauft, wenn er sie benötigt. Dabei spart er immer wieder nicht benötigte Beträge. Mit den gesparten Budgetresten möchte er mit seiner Assistentin irgendwann eine Griechenlandreise unternehmen. Die Möglichkeit, selbst wählen zu können, wer die Unterstützung jeweils wahrnimmt, hat auch bei Persönlichen Budgets eine wesentliche Bedeutung, die für den Bereich Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt wurden. Wie am Beispiel der Budgetverwendung gezeigt, spielt der Bereich Arbeit eine wichtige Rolle in diesem Typus. Im Rahmen der Modellerprobung konnte dabei eine Handvoll Budgetnehmer/innen befragt werden, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets nach Alternativen für eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen suchten, um damit beispielsweise mit der entsprechenden Unterstützung eine Ausbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt absolvieren zu können oder die gewährte Unterstützung außerhalb der Werkstatt zu nutzen. Entsprechend wurde das Budget beantragt, um die Leistung von der Werkstatt zu entkoppeln und so alternative Anbieter mit der benötigten Unterstützung zu beauftragen. Dabei lässt sich wiederum eine spezifische Verbindung von „Flexibilität“ (hierbei vor allem soziale und sachliche Flexibilität), „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“ und „Einflussnahme“ erkennen, wie auch die folgenden beiden Beispiele zeigen:153 Bei einem 19-jährigen Budgetnehmer mit einer sogenannten geistigen Behinderung stand nach dem Abschluss einer Schule für Geistigbehinderte die Frage der beruflichen Ersteingliederung an. Üblicherweise liegt hierbei der Berufsbildungsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen nahe. Der junge Mann signalisierte jedoch im Beratungsgespräch, dass er nicht in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten möchte. Des Weiteren interessieren ihn Berufszweige wie Fortwirtschaft, Müllentsorgung oder Automechanik, allesamt Ausbildungen, die in 153 Eine ausführlichere Darstellung beider Beispiele findet sich im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung (vgl. Metzler u.a. 2007, 229ff.; vgl. ebenso Meyer 2006).
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einer Werkstatt für behinderte Menschen üblicherweise nicht angeboten werden.154 Aus diesem Grunde entstand die Idee, die Ausbildungswünsche mit Hilfe eines Persönlichen Budgets außerhalb einer Werkstatt für behinderte Menschen zu realisieren, d.h. die sozialen Dispositionsspielräume des Persönlichen Budgets dafür zu nutzen, dass die bewilligten Leistungen durch Akteure außerhalb einer Werkstatt erbracht werden können. Um die entsprechende Unterstützung zu gewährleisten, musste aber ein ambulanter Anbieter gefunden werden, der den jungen Mann bei verschiedenen Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterstützt. Die Agentur für Arbeit bewilligte schließlich ein solches Persönliches Budget, es wurde jedoch vorausgesetzt, dass die im Rahmen dieser ambulanten Arbeitsassistenz angedachte Unterstützung der Qualität einer Berufsbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen entspricht. Die bewilligte Leistung wurde durch die Umstellung auf ein Persönliches Budget sozusagen von der Institution WfbM entkoppelt und es bestand damit auch die Möglichkeit, einen ambulanten Dienst mit der Betreuung und Unterstützung zu beauftragen.155 Der junge Mann erhält nun ein Persönliches Budget in Höhe der vergleichbaren WfbM-Leistung, mit dem er sich Unterstützung durch einen ambulanten Anbieter einkauft, der ihn im Rahmen der betrieblichen Berufsbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt betreut. Ein zweites Beispiel stellt ein 38 Jahre alter Mann mit einer körperlichen Behinderung dar, der zum Zeitpunkt der Budgetbeantragung in einer Werkstatt für behinderte Menschen im Produktionsbereich beschäftigt war. Bereits seit längerem engagierte sich der Mann schon im Werkstattrat und ist ehrenamtlich in einer Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderung tätig. Er fühlte sich in der WfbM „unterfordert“ und wollte nach eigenen Angaben „immer schon raus aus der Werkstatt“. Die Selbsthilfeorganisation, für die er bereits seit längerem ehrenamtlich aktiv ist, bot ihm schließlich eine Referententätigkeit (Weiterbildung von Werkstatträten) für zwei Tage in der Woche an. Um diese Tätigkeit ausüben zu können, benötigt er aber eine Assistenz im Umfang von ca. 24 Wochenstunden. Aus diesem Grunde wurde beim zuständigen Sozialhilfeträger (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) ein Antrag auf ein Persönliches Budget zur Deckung dieses Assistenzbedarfs gestellt. Kalkulationsgrundlage für das Persönliche Budget, das den Assistenzbedarf für zwei Tage in der Woche 154 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass im Rahmen der beruflichen Bildung bzw. der beruflichen (Erst-) Eingliederung auch darauf geachtet werden soll, einen der persönlichen und fachlichen Eignung der Rehabilitanden entsprechenden Berufswunsch zu fördern und das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsempfängers zu beachten. 155 Weiterführende Informationen zur Problematik einer solchen räumlichen Entkoppelung der Leistung von der WfbM, beispielsweise hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen „Risiken“, etwa weil die Budgetnehmer/innen mit „Verlassen“ der Werkstatt Ansprüche an die Sozialversicherung verlieren oder erhebliche Einbußen, etwa bei der Rentenversicherung, hinnehmen müssen, finden sich in Scholdei-Klie 2009, Jähnert 2009, Storck 2009, Shafaei 2009.
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decken soll, ist der Tagessatz, den die WfbM für ihre Leistungen erhält. Das Persönliche Budget für die Referententätigkeit wird daher anteilsmäßig an der gesamten Maßnahmepauschale bemessen (etwa 2/5 der Maßnahmekosten). Mit Hilfe des Persönlichen Budgets kann der Budgetnehmer nun an zwei Tagen in der Woche als Weiterbildungsreferent für Werkstatträte bei der genannten Selbsthilfeorganisation tätig sein, die restlichen drei Tage arbeitet er wie bisher in der WfbM.156 Für die budgetfinanzierte Assistenz, die während der Referententätigkeit benötigt wird, beauftragt der Budgetnehmer einen Pflegedienst, welcher bereits im privaten Bereich Leistungen für den Budgetnehmer erbrachte. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war zum Einen die hohe Zufriedenheit mit diesem Dienstleister, zum Anderen, dass dieser bereit war, den bisherigen Preis so abzusenken, dass das Budget ausreicht, sonst – so der Budgetnehmer – „gehe [er] zur Konkurrenz". Die vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten, die diesen Typus insgesamt kennzeichnen, werden letztendlich vor allem deswegen möglich, weil die Leistungsempfänger/innen aufgrund der Verfügungsmacht über die finanziellen Ressourcen auch gleichzeitig eine Definitionsmacht gewinnen. Besonders deutlich wird diese Definitionsmacht letztendlich in dem sogenannten „Arbeitgebermodell“. Der Zugewinn an Regiekompetenz ermöglicht es den Budgetnehmer/ innen, die Organisation der Unterstützung völlig autonom und eigenverantwortlich zu planen. Dies schlägt sich beispielsweise in regelrechten Dienstplänen nieder, die die Budgetnehmenden in Absprache mit ihren Assistent/innen treffen. Darüber hinaus nehmen Budgetnehmer/innen dieses Typus oftmals auch die Verwaltung des Budgets eigenverantwortlich wahr. Letztendlich streben diese Budgetnehmer/innen eine radikale Veränderung der bisher durch ein vertikales Machtgefälle gekennzeichneten Unterstützungssituation an. Die Arbeitgeberrolle ermöglicht es dabei, das Machtverhältnis faktisch umzudrehen. Budgetnehmer/innen, die sich bewusst für diese Form der Organisation der Unterstützung entscheiden, formulieren daher auch oftmals den Wunsch nach einer Veränderung der (bisherigen) Rolle als abhängiger Hilfeempfänger, was sich auch in der folgenden Aussage zeigt: „Arbeitgeber zu sein, freier zu sein, Entscheidungsgewalt, (…) direkte Vorgesetzte sein“ (Budgetnehmerin, 34 Jahre). Ein 33-jähriger Budgetnehmer mit einer körperlichen Behinderung betont in diesem Zusammenhang ebenfalls ein „geändertes Verhältnis zu den Assistenten“ und dass man jetzt die Möglichkeit hätte, „leben [zu] können, wie man will, Gefühl zu haben, dass man nicht abhängig ist, selbst steuern“. Ein markantes Beispiel ist eine 33-jährige Budgetnehmerin mit einer körperlichen Behinderung, die ein Trägerübergreifendes Persönliches Budget erhält. 156 Zu den Besonderheiten dieses Budgets, beispielsweise hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Aspekte, vgl. Meyer 2006.
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Das Beispiel ist aus drei Gründen besonders interessant: Erstens verdeutlicht die Budgetnutzung, welche Flexibilitätsgewinne und Gestaltungsmöglichkeiten sich durch die Umstellung auf ein Persönliches Budget ergeben können. Zweitens finanziert diese junge Frau neben anderen Leistungen auch Leistungen zur Teilhabe im Arbeitsleben, eine Form der Budgetverwendung, die bei diesem Typus häufig vorkommt. Zuletzt soll das Beispiel auch vorgestellt werden, weil sich in keinem anderen Beispiel so deutlich zeigt, wie Menschen mit Behinderung unmittelbar Einfluss auf die Entwicklung von Angebotsstrukturen nehmen können. Die 33-jährige Budgetnehmerin arbeitet in einer Verwaltung und wurde bereits vor der Budgetbeantragung durch Arbeitsassistenz in Form einer Sachleistung unterstützt. Kostenträger ist das Integrationsamt. Da die Budgetnehmerin zusätzlich noch verschiedene andere Sachleistungen bekommt (Teilhabeleistung für die Freizeitgestaltung vom Sozialamt, Pflegeleistungen von der Pflegekasse), entstand die Idee eines Trägerübergreifenden Persönlichen Budgets. Zu einem Trägerübergreifenden Persönlichen Budget wurden schließlich die Arbeitsassistenz (monatlich 716€) sowie Teilhabeleistungen des Sozialhilfeträgers (200€ monatlich für Freizeitaktivitäten) zusammengefasst. Unterstützt wird die Budgetnehmerin dabei schwerpunktmäßig von Zivis und Studenten, die für die Arbeitsassistenz 7,89€ und für die Begleitung in der Freizeit 10€ in der Stunde bekommen. Der gesamte Budgetbetrag kann nun selbst eingeteilt und die beiden Teilbudgets können flexibel gehandhabt und ggf. nicht oder zuviel genutzte Stunden angespart oder ausgeglichen werden. Überstunden während der Arbeit sind dabei im Budget eingeplant und flexibel handhabbar, auf der anderen Seite können nicht gebrauchte Stunden der Arbeitsassistenz für Freizeitaktivitäten genutzt werden. Die junge Frau spart zudem regelmäßig Stunden an, die sie beispielsweise für „längere Tagesausflüge“ nutzt: „Was ich damit mache, dass ist mir überlassen. Ich bin jetzt flexibler.“ Ein weiterer Vorteil ist, dass separate Kostenabrechnungen für die beiden Teilbereiche nicht mehr nötig sind. In diesem Beispiel wird zudem besonders deutlich, inwiefern Budgetnehmer/innen einen direkten Einfluss auf die Angebotsgestaltung, das PreisLeistungs-Verhältnis, sowie auf die Serviceorientierung von (potenziellen) Leistungserbringern ausüben können: Vor der Budgetbewilligung bezog die Budgetnehmerin ihre Assistenten noch über einen anderen Anbieter. Dieser Leistungsanbieter hatte jedoch ihren Angaben zufolge „nicht immer Zivis“ zur Verfügung und sie musste oftmals auf professionelle Kräfte zurückgreifen, die aber wiederum teurer waren („manche Einrichtungen nutzen die Hilflosigkeit behinderter Menschen aus“). Im Zuge der Budgetbeantragung informierte sich die Budgetnehmerin daher – ganz im Sinne einer „kritisch-rationalen“ Kundenrolle – ausführlich darüber, welche Anbieter in der Region welche Leistung zu welchen Konditionen anbieten:
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„Ja, wie gesagt, der eine Dienstleister hat zu hohe Preise gehabt. (…). Dann habe ich mir das Telefonbuch geholt. Und ich habe gedacht, so jetzt – (…). Ich weiß nicht, dann habe ich bei [Name des Dienstleisters] angerufen, weil die ja auch verschiedene Behindertenwerkstätten haben. Aber die haben sofort gesagt, so was machen sie nicht. Ich glaube dann waren [Name des Dienstleisters] auch die zweiten oder dritten, die ich angerufen habe. Die haben dann gesagt, ja sie haben so was noch nie gehabt, aber die junge Dame, die als erste am Telefon war, ist die Assistenz der Geschäftsführung, die meinte, ja wie stellen Sie sich das denn vor. Ich habe ihr dann ein paar Eckdaten gegeben und sie meinte, ja ich spreche mal mit meinem Chef und rufe Sie dann im Laufe des Tages zurück. Und ich weiß nicht, zwei oder drei Stunden später hat sie schon angerufen und meinte, ja das würden sie gerne mal versuchen. Und dann ist auch ein Mitarbeiter zu mir gekommen, zu mir nach Hause gekommen. Und dann haben wir das mal in Ruhe besprochen. Und ich habe gesagt, wie es bisher, bei dem anderen Dienstleister war, und wie es eigentlich sein muss (…). Und was die so machen müssen. Dann hat der gesagt, die müssen erst mal gucken, dass wir einen Zivi bekommen. Er sagte, kündigen Sie mal bei der einen Stelle noch nicht, sagen Sie dem mal noch nichts, bis wir Ihnen wirklich ein Okay geben können. Ungefähr sechs Wochen später – der sagte auch, das dauert jetzt ein bisschen und dann habe ich schon gesagt, oh das gibt bestimmt nichts mehr – da habe ich dann einen Anruf bekommen und der meinte dann, ja wir haben jetzt noch keinen neuen Zivi bekommen, aber den Zivi den wir haben. Also wir haben unsere Dienstpläne umgestellt und den konnten wir für Sie freistellen, also wenn Sie wollen, können wir. Das war Ende Oktober und dann habe ich ab zweiten November von denen den Dienst bekommen.“
Die Passage schildert nicht nur eindrücklich, wie die Budgetnehmerin ihre neu gewonnene Kundenrolle wahrnimmt und sich auf die Suche nach „passenden“ Anbietern macht, sondern auch, wie sich der angefragte Anbieter auf die Wünsche der Budgetnehmerin einzustellen versucht und seine Dienstpläne schließlich umgestellt hat. Deutlich wird zudem, dass der Anbieter durch sein „kundenorientiertes“ Verhalten zur Zufriedenheit der Budgetnehmerin beiträgt und damit letztendlich auch den „Zuschlag“ bekommt. Welchen Vorteil dies für den Anbieter hat, verdeutlicht die folgende Passage, in der die Budgetnehmerin schildert, wie sie nochmals wegen einer anderen Leistung bei demselben Leistungserbringer nachgefragt hatte: „Dann habe ich auch (…) gesagt, ich kriege jetzt auch ein Budget für die Freizeit, ich würde Euch gerne auch mal für die Freizeit in Anspruch nehmen. Ich weiß auch, Ihr habt nicht immer so viel Zivis zur Verfügung. Und schicken Sie mir doch mal ein Angebot zu, wo sie vielleicht so einen Preis kalkulieren, wo sie dann die Wahl haben, mir für die Freizeit, angenommen ich bestell einen Dienst, wo sie die Auswahl haben, mir einen Student oder einen Zivi schicken zu können. Einen Preis, der so dazwischen liegt. Dann habe ich auch die Gewissheit, dass sie mir jemanden stellen können. Und auch für sie, dass wenn sie öfters mal einen Zivi einstellen, dann machen sie quasi einen Gewinn.“
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
Ausschlaggebend für den Wechsel des Leistungsanbieters war also mitunter der Preis („die bringen dieselbe Leistung für weniger Geld“; „wenn die mal keinen Zivi haben sondern nur eine professionelle Kraft, dann ändert sich auch der Preis nicht“). Aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen mit dem vorherigen Anbieter veranlasste die Frau daher eine vertraglich festgelegte Bezahlung, die unabhängig von der Qualifikation Bestand haben sollte: „Ich habe mit denen einen Vertrag, wo das alles geregelt ist, auch mit dem Preis. Und wenn die keinen Zivi, wegen Lehrgang oder Krankheit, da haben – die haben auch Ziviknappheit – und die jemand anderen schicken müssen, dann ist das aber nicht mein Problem.“
Abschließend muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass ein solchermaßen beobachtetes „Kundenbewusstsein“ selten so deutlich ausgeprägt ist wie in obigem Beispiel. Dennoch beginnen Budgetnehmer/innen zunehmend, sich mit dieser Rolle auseinanderzusetzen und in einigen Fällen ist es vermutlich eher die „mangelnde Übung“, warum ein solches Bewusstsein (noch) fehlt. Deutlich wird dies beispielsweise auch in Erzählungen eines 38-jährigen Budgetnehmers mit einer körperlichen Behinderung, der über sich selbst berichtet, er müsse erst einmal lernen, „sich mehr als Kunde [zu] fühlen und den Mut zu haben, mehr Flexibilität von seinem Assistenten zu fordern“. Erst nach einer gewissen Zeit hätte er dann auch tatsächlich kommuniziert, dass er manchmal weniger und manchmal mehr Unterstützung bräuchte. Zusammenfassend kann als Hypothese festgehalten werden: Das Persönliche Budget ermöglicht potenziell einen selbstbestimmteren und flexibleren Umgang mit den bewilligten Leistungen. Damit einhergehend wird die Unabhängigkeit gegenüber Leistungserbringern gestärkt und die Möglichkeit geschaffen, auf die Art und Qualität der Leistungserbringung direkten Einfluss zu nehmen. Menschen mit Behinderung, die diese Möglichkeiten für sich in Anspruch nehmen möchten, können das Persönliche Budget unter bestimmten Voraussetzungen dafür nutzen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und weitreichende Entscheidungen zu treffen. Voraussetzungen dafür sind allerdings ausreichende Wahlmöglichkeiten, eine entsprechende Bereitschaft der Leistungserbringer sowie das Vermeiden von Zweckbindung und Überregulierung. Gleichzeitig birgt eine solche Verknüpfung vielfältiger hoher Erwartungen an das Persönliche Budget aber auch die Gefahr der Enttäuschung. Dies deckt sich auch mit den Befunden der Wiederholungsbefragung: Auf die Frage, inwiefern sich die Erwartungen an das Persönliche Budget bisher erfüllt haben, äußerten sich insbesondere Budgetnehmer/innen dieses Typus unzufrieden. Die Gründe
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hierfür sind einerseits bei den Leistungsträgern, andererseits aber auch bei den Leistungserbringern zu suchen. So berichten Budgetnehmer/innen immer wieder davon, wie schwer sich Leistungserbringer mit den neuen Anforderungen tun. Sind die Erwartungen zu hoch gesteckt, stellt sich möglicherweise auch schnell eine Ernüchterung oder gar Enttäuschung ein, vor allem dann, wenn keine Auswahl an Leistungserbringern besteht. Neben solchen „Anpassungsschwierigkeiten“ der Leistungserbringer können aber auch restriktive Regelungen bzw. zu enge Zweckbindungen bei der Budgetbewilligung ausschlaggebend für Enttäuschungen mit dieser neuen Leistungsform sein. Budgetbewilligende Leistungsträger sollten daher insbesondere bei dieser Personengruppe darauf achten, die Potenziale des Persönlichen Budgets nicht durch zu strenge Regelungen der Budgetverwendung und Nachweiserbringung im Vorfeld wieder einzuschränken.
8.4 Typus 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets Der vierte Typus stellt mit 19 Budgetnehmer/innen die kleinste Gruppe dar. Typisch für diese Personengruppe ist die Kombination der Beantragungsmotive „Entlastung“, „Vereinfachung“ und „Ersatzlösung“. Auslöser für die Beantragung eines Persönlichen Budgets waren in diesen Fällen vor allem pragmatische Gesichtspunkte, d.h. das Persönliche Budget wurde beantragt, weil sich die Budgetinteressent/innen auf der einen Seite eine Verbesserung gegenüber dem Aufwand oder den restriktiven Regelungen der Sachleistung versprochen haben, auf der anderen Seite spielt aber auch die Entlastung des sozialen Umfelds eine Rolle. Aus diesem Grunde ist es auch kein Zufall, dass in dieser Personengruppe überproportional viele Angehörige (v.a. Eltern) von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern vertreten sind. Entsprechend niedrig ist auch der Altersdurchschnitt der Budgetnehmer/innen in dieser Gruppe. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets versuchen diese Personen den bisherigen Organisations- und Abrechnungsaufwand zu reduzieren, finanzielle Belastungen zu vermeiden und Angebote bzw. Leistungserbringer zu finanzieren, die im Rahmen der Sachleistung nicht hätten genutzt werden können. Oftmals soll all dies gleichzeitig zu einer Entlastung des sozialen Umfelds beitragen. Insgesamt besteht das Ziel der Budgetbeantragung also vor allem darin, die Nachteile des Sachleistungsprinzips im Hinblick auf Entlastung und Vereinfachung zu kompensieren. Dabei kann vermutet werden, dass es dieser Personengruppe gar nicht wirklich um die Idee des Persönlichen Budgets geht. Das Persönliche Budget ist im Grunde nur ein Werkzeug, die strukturellen Probleme der Leistungserbringung im Rahmen des Sachleistungsprinzips zu umgehen. Diese Annahme deckt sich letztendlich auch mit dem Befund, dass die Motive „Selbstständige Lebensführung“, „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
und „Einflussnahme“ überhaupt keine Rolle bzw. nur eine sehr geringe Rolle bei der Budgetbeantragung gespielt haben. Vereinzelt wurden lediglich noch die Motive „Individuelle Lösungen“, „Soziale Beziehungen“ und vor allem „Flexibilität“ genannt, wobei sich die Bedeutung von Flexibilität letztendlich wiederum im Kontext des Wunsches nach Vereinfachung und Entlastung erklären lässt. Alles in allem kann auch dieser Typus im Hinblick auf die interne Struktur als äußerst homogen beschrieben werden, zu anderen Motiven bestehen entsprechend so gut wie keine Überschneidungen. Der in diesem Typus zusammengefasste Personenkreis der Budgetnehmer/innen wird dominiert von Kindern und Jugendlichen mit vorrangig Sinnesbeeinträchtigungen, chronischen organischen Erkrankungen und Entwicklungsverzögerungen. Aber auch sogenannte geistige Behinderungen kommen relativ häufig vor, während körperliche Behinderungen und psychische Erkrankungen eine vergleichsweise geringe Bedeutung haben. Die Initiative zur Budgetbeantragung geht in diesen Fällen auf die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen zurück, die das Persönliche Budget deswegen beantragt haben, weil sie damit eine normalerweise im Rahmen der Sachleistung nicht so einfach zu realisierende Unterstützung finanzieren können und gleichzeitig eine Vereinfachung (z.B. der Abrechnungsmodalitäten) und/oder Entlastung (z.B. durch die Nutzung flexibler Unterstützungsarrangements) erzielen. Die Budgetverwendung spiegelt diese Motivation deutlich wider. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets versuchen die Budgetnehmer/innen bzw. deren Eltern bestimmte Hilfen oder alternative Angebote zu erschließen, die einerseits einen besonderen Vorteil in Bezug auf die Unterstützung erhoffen lassen und andererseits eine Vereinfachung bzw. Entlastung mit sich bringen. Das Persönliche Budget wird dabei schwerpunktmäßig für spezielle Therapien oder Einzelförderung verwendet (beispielsweise sei auf Eltern verwiesen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine spezielle Autismustherapie nutzen oder ihrem Kind alternative Angebote wie den Besuch eines Regelkindergartens ermöglichen). Eine gewisse Rolle spielen aber auch „Spezielle Aktivitäten“, „Sachmittel und Fahrtkosten“ sowie „Hilfen in Einrichtung“. Finanziert werden dabei vor allem professionelle Dienste oder Fachkräfte, jedoch auffallend häufig in Kombination mit privaten Hilfen bzw. sogenannten „Laienkräften“; Leistungsverträge mit ausschließlich privaten Hilfen kommen hingegen kaum vor. Diese starke Fokussierung auf eine kombinierte Lösung erklärt sich möglicherweise dadurch, dass die Budgetnehmer/innen bzw. deren Stellvertreter/innen zwar nicht auf eine professionelle Unterstützung verzichten möchten, die ergänzende Nutzung von Laienkräften aber zusätzliche inhaltliche oder auch finanzielle Spielräume eröffnet (z.B. im Bereich Freizeit). Was die Entscheidung über die Budgetverwendung sowie die Budgetverwaltung betrifft, so nimmt dieser Typus eine Sonderstellung ein: Keine einzige
8.4 Typus 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
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Budgetnehmerin bzw. kein einziger Budgetnehmer entscheidet allein über die Verwendung der Gelder und nur eine verschwindend kleine Gruppe verwaltet das Budget selbst. Diese Auffälligkeit lässt sich jedoch vor allem dadurch erklären, dass es sich schwerpunktmäßig um Kinder und Jugendliche handelt. Eine andere Auffälligkeit, die sich jedoch nicht durch das Alter der Budgetnehmer/innen erklären lässt, ist der relativ hohe Anteil an Personen, die eine Abtretungserklärung unterschrieben haben bzw. deren Budget von vorneherein zweckgebunden bewilligt wurde. Insofern tragen diese Persönlichen Budgets eher den Charakter einer Sachleistung, was die obige Annahme bestätigt, dass es im Grunde um eine „flexibilisierte“ Sachleistung geht und das Persönliche Budget lediglich der Weg dazu ist. Die pragmatische Nutzung eines Persönlichen Budgets in Form eines Zusammenhangs zwischen den Motiven „Ersatzlösung“, „Vereinfachung“ und „Entlastung“ lässt sich in den dokumentierten Beispielen – wie bereits erwähnt – vor allem bei Eltern von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern finden. Einige Beispiele beziehen sich dabei auf Schulbegleitung/Schulassistenz. Dabei wird das Persönliche Budget meist aus drei verschiedenen Gründen beantragt: Erstens werden insbesondere die Möglichkeiten zur flexibleren Gestaltung der zur Verfügung stehenden Stunden als vorteilhaft eingeschätzt, zweitens stellt die Überweisung zum Monatsanfang eine finanzielle Entlastung für die Eltern dar und drittens wird mit einer Umstellung der Sachleistung auf ein Persönliches Budget der Abrechnungsaufwand reduziert (Verwendungsnachweise, Stundenabrechnungen). Eine 8-jährige Budgetnehmerin mit einer sogenannten geistigen Behinderung wird beispielsweise von einer Schulbegleitung im Rahmen eines integrierten Klassenmodells unterstützt. Den Ausschlag zur Beantragung des Persönlichen Budgets gaben die genannten pragmatischen Gründe: Vor der Bewilligung des Persönlichen Budgets war die Stundenzahl festgelegt und konnte nicht überschritten werden; zusätzlich geleistete Stunden mussten dann selbst bezahlt werden. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets kann die Mutter nun aber die Stunden der Schulbegleitung flexibler gestalten, d.h. „überziehen, wenn mal außerplanmäßig etwas ist“. Wenn weniger Stunden gebraucht werden (wenn z.B. Schulstunden ausfallen) ist es aber auch genauso möglich, Stunden anzusparen und in „andere Monate rüber zu schieben“. Der Mutter einer 9-jährigen Budgetnehmerin mit Schulbegleitung ging es hingegen vor allem um die Reduktion des Abrechnungsaufwands sowie um finanzielle Entlastung. Vor der Budgetbeantragung wurden die Stunden dieser Schulbegleitung am Monatsende mit dem Sozialamt abgerechnet, so dass die Mutter das Geld immer erst im Nachhinein zurück erhielt, was nach Angaben der Mutter eine „außerordentliche finanzielle Belastung“ darstellte. Nun bekommt
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
sie es monatlich im Voraus, was zu einer erheblichen Entlastung und Planungssicherheit beiträgt. Weiterhin fielen im Rahmen der Sachleistung regelmäßige Stundennachweise für die Schulbegleitung an, während die Verwendungsnachweise nach Beantragung eines Persönlichen Budgets nun erst nach einem halben Jahr erbracht werden müssen. Entsprechend sieht die Mutter einen wesentlichen Vorteil des Persönlichen Budgets darin begründet, dass „nicht immer über jede Stunde Rechenschaft ab[zu]legen“ ist. Zudem kann ein etwaiger monatlicher Mehr- und Minderbedarf nun noch bis zum Ende eines halben Jahres ausgeglichen werden, während die Stunden für die Schulbegleitung im Sachleistungsprinzip von Anfang an festgelegt waren und keine Spielräume zuließen; zusätzlich geleistete Stunden mussten entsprechend selbst bezahlt werden. Den Ausschlag für die Beantragung des Persönlichen Budgets gab daher der Wunsch, das Geld nicht mehr vorstrecken zu müssen und Mehr- bzw. Minderbedarf flexibler handhaben zu können. Nach Ansicht der Mutter könne man jetzt „über das Geld besser verfügen (…). Das Geld hat man jetzt im Vorfeld“. Einen pragmatischen Nutzen haben Persönliche Budgets aber auch für Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die bereits dargestellte Verschränkung von Vereinfachung und Entlastung hängt hier noch etwas stärker mit dem Motiv „Ersatzlösung“ zusammen, wie auch die folgenden beiden Beispiele zeigen: Eine 25-jährige Budgetnehmerin mit einer umfassenden körperlichen und geistigen Behinderung, die noch in der elterlichen Wohnung lebt, besuchte bereits seit längerem jeden Freitag und Samstag und zusätzlich an einem Sonntag im Monat einen Jugendclub, der verschiedene Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderung anbietet. Bisher hatten die Eltern den Transport ihrer Tochter zu diesem Jugendclub (ca. 1,5 Stunden Hin- und Rückfahrt) übernommen. Da die Eltern allerdings über 60 Jahre alt sind und diese Fahrten nur noch eingeschränkt wahrnehmen können, entstand die Idee mit dem Persönlichen Budget. Ziel der Budgetbeantragung war es schließlich, der Tochter die Teilnahme am Jugendclub weiterhin zu ermöglichen und gleichzeitig eine Entlastung der Eltern zu bewirken. Da die Tochter sich jedoch nach Aussage der Eltern mit fremden Personen „schwer tut“, kam ein professioneller Fahrdienst nicht in Betracht. Mit dem Budget finanzieren die Eltern nun stellvertretend für die Tochter den Transport zum Jugendclub, der von einer Bekannten übernommen wird, zu der die Tochter auch großes Vertrauen hat. Die Budgetbeantragung war also insbesondere dadurch motiviert, eine Ersatzlösung zu finden und somit zur Entlastung der Eltern beitragen zu können. Ein 27-jähriger mehrfach behinderter Budgetnehmer besuchte bereits vor Beantragung des Persönlichen Budgets eine Fördergruppe. Laut Auskunft der Mutter drohte ihn diese Fördergruppe allerdings zunehmend zu überfordern. Grund der Budgetbeantragung war es schließlich, eine Alternative zu der bisherigen Betreuung in der Fördergruppe suchen zu können, wobei die Mutter aufgrund des Schwe-
8.4 Typus 4 – Pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets
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regrads der geistigen Behinderung eine systematische Einzelbetreuung favorisierte. Zwar wäre die Teilnahme an Angeboten anderer Einrichtungen denkbar gewesen, da die Familie allerdings in einer ländlichen Gegend wohnt, gestaltete sich die Suche nach solchen speziellen Angeboten als außerordentlich schwierig und die Mutter hätte sehr lange Fahrtzeiten auf sich nehmen müssen. Als langfristige Perspektive blieb schließlich nur die Möglichkeit, die Betreuung privat zu organisieren und dafür bot sich das Persönliche Budget an. Seit Bewilligung des Persönlichen Budgets wird der Sohn nun von privat rekrutierten Personen zuhause betreut und gezielt gefördert. In diesem Beispiel zeigt sich zudem, dass die Verfügbarkeit, d.h. die regionalen Wahlmöglichkeiten, eine wesentliche Rolle für die Beantragung eines Persönlichen Budgets spielen können. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Eine kleinere Gruppe an Budgetnehmer/innen nutzt das Persönliche Budget schwerpunktmäßig aus pragmatischen Gründen. Dabei spielen die gegenüber der Sachleistung gewonnenen Möglichkeitsspielräume in der Verwendung der bewilligten Leistungen eine entscheidende Rolle bei der Budgetbeantragung. Die dargestellten Beispiele zeigen, dass es diesem Personenkreis im Grunde genommen nicht um die ideellen Ziele des Persönlichen Budgets geht. So werden weder allgemeine behinderungspolitische Forderungen, die mit dem Persönlichen Budget in Verbindung stehen, noch eine Emanzipation von der Vorherrschaft der Leistungsanbieter angestrebt. Im Zentrum der Budgetbeantragung steht hingegen ein funktionaler Nutzen zur Vermeidung der Nachteile des Sachleistungsprinzips. Vermutlich besteht für diesen Personenkreis der wesentliche Nutzen des Persönlichen Budgets nur in den „indirekten“ Vorteilen, die eine Umstellung der bisher im Rahmen einer Sachleistung erbrachten Leistungen auf ein Persönliches Budget mit sich bringen. Die Orientierung an solchen Vorteilen in Form erweiterter Spielräume gegenüber der Sachleistung lässt weiterhin vermuten, dass es diesen Personen weniger um das Persönliche Budget an sich geht, sondern eher um die Möglichkeiten, die ihnen im Sachleistungsprinzip verwehrt geblieben sind. Alles in allem hat die Budgetverwendung daher den Charakter einer flexibilisierten Sachleistung und möglicherweise hätten diese Personen auch gar kein Persönliches Budget beantragt, wenn diese Bedingungen und Spielräume im Sachleistungsprinzip gegeben wären. Insgesamt kann daher die These aufgestellt werden: Das Persönliche Budget erfüllt für bestimmte Personen lediglich den Zweck, Restriktionen und Nachteile einer Leistungserbringung im Rahmen des Sachleistungsprinzips zu umgehen. Insofern trägt die Nutzung Persönlicher Budgets immer auch dazu bei, Beschränkungen im Sachleistungsprinzip auszuhebeln.
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8 Zusammenfassende Betrachtung der Typologie
Auch wenn sich dieses Motiv im Spiegel der vieldiskutierten Potenziale des Persönlichen Budgets eher bescheiden ausnimmt, darf jedoch eines nicht unterschätzt werden: Eine solchermaßen motivierte Budgetverwendung trägt immer auch dazu bei, strukturelle Schwächen im Sachleistungsprinzip aufzudecken. Die Beseitigung dieser Schwächen und die Flexibilisierung von Sachleistungen bleibt letztendlich eine parallel zu erledigende Aufgabe.
9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
Aufbauend auf der herausgearbeiteten Typologie sollen abschließend Überlegungen zur weiteren Auseinandersetzung mit den Potenzialen des Persönlichen Budgets dargelegt werden. Das Kapitel stellt gleichermaßen Zusammenfassung und Rückbindung mit den Kernfragen dieser Arbeit dar. Dabei stehen drei Themen im Vordergrund: Zum einen sollen Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Persönlichen Budget gezogen werden. In Anlehnung an die in Kapitel 3 dargestellten Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets werden auf Basis der empirischen Erkenntnisse weiterführende Überlegungen zu den Kernthemen dieser Betrachtung vorgestellt. Die Überlegungen beziehen sich auf die Themen Selbstbestimmung, selbstständige Lebensführung, Normalisierung, Deinstitutionalisierung, Teilhabe, Ambulantisierung und Kundenbewusstsein. Im Kontext dieser Begriffe soll anhand der gefundenen Typen nochmals die Frage nach Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets aufgegriffen und diskutiert werden. Zweitens wird eine kritische Auseinandersetzung mit der Bewertung der Wirkungen Persönlicher Budgets erfolgen. Diese Überlegungen sind insbesondere für die Planung und Durchführung von Evaluationsvorhaben oder (Begleit-) Forschungsprojekten relevant, können aber auch als Impuls für die Qualitätssicherung in der Behindertenhilfe verstanden werden. Die Ergebnisse der empirisch begründeten Typologie werden dabei in der Logik der Wirkungsforschung interpretiert. Es soll in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass eine auf vordefinierten Indikatoren basierende Evaluation nur wenig zum Verständnis der Nutzung Persönlicher Budgets beitragen kann. Stattdessen muss der Vielfalt an Lebenssituationen und den unterschiedlichen Erwartungen der Budgetnutzer/innen Rechnung getragen werden. Dies macht einen stärkeren Einbezug der Sichtweisen der Nutzer/innen sowie einen Perspektivenwechsel in Richtung qualitativer und fallrekonstruktiver Verfahren notwendig. Abgerundet wird die Darstellung mit Überlegungen zur Gestaltung von Persönlichen Budgets sowie zu den jeweils in Bezug auf die Typologie als sinnvoll erscheinenden Regelungen zur Budgetverwendung. Es soll in diesem Zusammenhang verdeutlicht werden, dass die Vielfalt der Lebenssituationen und HinT. Meyer, Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets, DOI 10.1007/978-3-531-92683-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
tergründe der Budgetbeantragung bei der Ausgestaltung eines Persönlichen Budgets stets zu berücksichtigen sind. 9.1 Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Persönlichen Budget – Überlegungen zu Anspruch und Wirklichkeit der Budgetnutzung 9.1 Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung Im Kern verdeutlichen die Ergebnisse der empirisch begründeten Typenbildung, dass Menschen mit Behinderung das Persönliche Budget zu unterschiedlichen Zwecken nutzen und – je nach Typus – verschiedene Formen der Unterstützung favorisieren. Die Motivation, ein Persönliches Budget zu beantragen, und die Art und Weise der Organisation der Unterstützung ist jeweils davon anhängig, welchen Nutzen es in der konkreten Lebenspraxis eines Leistungsempfängers hat und inwiefern es auf diese Lebenssituation bezogen ist. Analog zu den Ergebnissen des baden-württembergischen Modellprojekts ist daher das „Gelingen“ Persönlicher Budgets davon abhängig, „wie dieses Instrument zu diesem Lebenskontext in Passung tritt“ (Kastl, Metzler 2005, 11). Zuletzt bleibt daher die Frage: Lassen sich die im theoretischen Teil dieser Arbeit dargestellten Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets (vgl. Kapitel 3) auch in der konkreten Nutzung wieder finden? Im Grunde lautet die Antwort auf diese Frage „ja – aber abhängig vom jeweiligen Typus“. Betrachtet man rückblickend die dargestellten Erwartungen und deutet diese in dem konkreten Lebenskontext der Budgetnehmer/innen, so zeigen sich manche Aspekte oftmals erst auf den zweiten Blick und auch nicht bei allen Budgetnehmer/innen gleichermaßen. Die Abhängigkeit vom jeweiligen Typus besteht darin, dass sich die Motive der Budgetbeantragung und die Formen der Budgetnutzung von Typus zu Typus unterscheiden und sich demnach spezifische Erwartungen auch wiederum nur bei bestimmten Typen identifizieren lassen. Zusammenfassend seien hierzu einige Überlegungen skizziert; die Überlegungen orientieren sich dabei an den in Kapitel 3 dargestellten Ebenen. 9.1.1 Überlegungen auf normativ-ethischer Ebene – Selbstbestimmung und selbstständige Lebensführung „Große“ und „kleine“ Selbstbestimmungspotenziale In Bezug auf die globale Erwartung nach den Selbstbestimmungspotenzialen Persönlicher Budgets muss zunächst betont werden, dass der Begriff „Selbstbestimmung“ von den befragten Budgetnehmer/innen nur selten explizit genannt bzw. ausformuliert wurde. Dennoch spielen die Abkehr von einem Fürsorgepa-
9.1 Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung
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radigma und eine entsprechende Unabhängigkeit von Leistungsanbietern häufig eine wichtige Rolle bei der Beantragung und Nutzung Persönlicher Budgets. Besonderes Gewicht kommt dabei allerdings weniger dem abstrakten Ziel „Selbstbestimmung“ als eher der konkreten Erweiterung sozialer, inhaltlicher und zeitlicher Dispositionsspielräume zu, also einer Selbstbestimmung im Umgang mit den bewilligten Leistungen. Der Wunsch nach einer umfassenden Selbstbestimmung, verstanden als „die Möglichkeit, einen Lebensplan zu entwickeln, dabei individuelle und selbstgewählte Lebenswege zu gehen und Entscheidungen im Alltag wie auch im Lebenslauf zu treffen, die den eigenen Vorstellungen und Zielen entsprechen“ (Wacker u.a. 2005, 17; vgl. ebenso Westecker 1999b, 25), lässt sich hingegen in der befragten Untersuchungsgruppe eher selten identifizieren. Ein solches Verständnis von Selbstbestimmung trifft am ehesten noch auf die Budgetnehmer/innen zu, denen es im Kern um die Übernahme von Regiekompetenz geht und die die Unterstützung in Form eines Assistenz- bzw. Arbeitgebermodells organisieren. Die Daten verdeutlichen jedoch, dass das Arbeitgebermodell von nur etwa jedem achten Budgetnehmenden genutzt wird. Eine weitere Personengruppe, die diesem Verständnis von Selbstbestimmung vermutlich zugeordnet werden kann, sind Budgetnehmer/innen, die nach Alternativen zu den „klassischen Karrieren“ in der Behindertenhilfe suchen und damit auch einen alternativen Lebensplan verfolgen (z.B. Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets eine Tätigkeit oder Berufsbildung außerhalb einer Werkstatt für behinderte Menschen realisieren wollen). Aber auch diese Budgetnehmer/innen stellen quantitativ gesehen eine eher zu vernachlässigende Gruppe unter den befragten Budgetnehmer/innen dar. Wenn auch beide Personengruppen in der Minderheit sind, zeigen diese Beispiele dennoch deutlich, wie es Menschen mit Behinderung gelingt, individuelle Lebensentwürfe umzusetzen. Selbstbestimmung manifestiert sich in der Praxis jedoch oftmals auch in Form einer Ausschöpfung von Möglichkeiten, „die kleinen Dinge“ des Lebens selbst entscheiden zu können. Zu solchen „kleinen Wünsche“ gehört beispielsweise die Gestaltung der Freizeit oder die Entscheidung, wann und wie die Unterstützung im Alltag zu erfolgen hat. In Bezug auf sachliche, zeitliche und personelle Dispositionsspielräume geht es also vor allem darum, die Art und Weise der Unterstützung selbst zu gestalten, den Zeitpunkt der Unterstützung selbst zu bestimmen sowie entsprechende Unterstützungspersonen oder Dienstleister selbst auswählen zu können. Selbstbestimmung meint hierbei also vor allem eine Selbstbestimmung in der Auswahl und Gestaltung der Unterstützung. Diesen Gedankengang stellen auch die Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung zum baden-württembergischen Modellprojekt deutlich heraus:
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
„Mit ‚Selbstbestimmung‘ ist (…) nicht eine abstrakte Autonomie oder irgendein Idealzustand bezeichnet. In der Alltagspraxis ist vielmehr – unabhängig von der Frage der Behinderung – Selbstbestimmung immer mit ‚Fremdbestimmung‘ verbunden in dem Sinne, dass es fast keinen Bereich des Lebens gibt, in dem man ohne Rücksicht auf andere Menschen und kleine oder größere Zwänge, die man sich nicht selbst ausgesucht hat, handelt. Bei dem ‚Weg ins eigene Leben‘, den die Budgetnehmerinnen und Budgetnehmer je auf ihre Weise zurücklegen, geht es vor allem um elementare Spielräume der Organisation des täglichen Lebens, die in der modernen Gesellschaft als ‚normal‘ gelten. Aufgrund ihrer ‚Normalität‘ werden sie häufig nicht unter den Begriff der ‚Selbstbestimmung‘ subsumiert; es gilt vielmehr als mehr oder weniger banal, z.B. die zeitliche Rhythmisierung des Tagesablaufs selbst vorzunehmen (…), zu entscheiden, was man mit seiner Freizeit anfängt (…), über eine Privatsphäre (…) zu verfügen, (…) usw. Für Menschen mit Behinderung, die über langfristige Erfahrungen des Lebens in betreuten Zusammenhängen verfügen, stellen solche Spielräume jedoch vielfach einen großen Schritt auf dem Weg in ein ‚eigenes Leben‘ dar“ (Kastl, Metzler 2005, 109).
In einem solchen Verständnis lassen sich bei einem nicht unerheblichen Teil der befragten Budgetnehmer/innen auch tatsächlich Selbstbestimmungsabsichten identifizieren. Dies trifft im Grunde auf mindestens zwei der vier konstruierten Typen zu. So stehen die Aspekte Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Flexibilität und Einflussnahme explizit im Vordergrund der Budgetbeantragung des dritten Typus. Individuelle Lösungen und spezielle Unterstützungsarrangements können wiederum nur durch einen flexiblen und selbstbestimmten Umgang mit den bewilligten Geldmitteln umgesetzt werden, so dass eine so verstandene Selbstbestimmung auch im Nutzungsverhalten des zweiten Typus eine Rolle spielt. Bei beiden Typen wird deutlich, dass Selbstbestimmung in der Organisation und Gestaltung der Unterstützung zu einem zentralen Moment der Budgetverwendung wird. Was die anderen beiden Typen betrifft, so lassen sich nur wenige Hinweise auf einen ausdrücklichen Wunsch nach Selbstbestimmung finden. Auch widersprechen die Intentionen dieser Budgetnehmer/innen bzw. derer Stellvertreter/innen der Grundidee von Selbstbestimmung, da es in den meisten Fällen eher um eine Sicherstellung der Versorgung, um Ersatzlösungen oder um Vereinfachungen geht. Dabei werden manchmal sogar Abstriche in der Flexibilität und Unabhängigkeit hingenommen und die Budgetnutzung verweist eher auf eine Orientierung an einem „klassischen“ Fürsorgedenken. Dies zeigt sich nicht nur in den Motiven der Budgetbeantragung, sondern gleichermaßen auch in der Art und Weise, wie die Unterstützung organisiert wird: Nur selten entscheiden die Budgetnehmer/innen selbst über die Verwendung des Budgets und in einigen Fällen werden sogenannte Abtretungserklärungen unterschrieben. Lediglich in Bezug auf den ersten Typus bleibt zu überlegen, inwiefern der Wunsch nach
9.1 Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung
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einem Erhalt vertrauter Betreuungsstrukturen, selbst wenn es sich um Angebote einer (ehemaligen) stationären Einrichtung handelt, gewissermaßen auch als Ausdruck von Selbstbestimmung interpretiert werden könnte. Fasst man die dargestellten Ergebnisse in einer Hypothese zusammen, lässt sich folgende Aussage treffen: Selbstbestimmung verstanden als die Möglichkeit, „große“ Lebensentscheidungen treffen zu können, ist auch bei Menschen mit Behinderung, die ein Persönliches Budget nutzen, eher eine Seltenheit. Versteht man Selbstbestimmung hingegen als selbstbestimmter Umgang mit den bewilligten Leistungen, wurzeln die wichtigsten Potenziale des Persönlichen Budgets in elementaren Spielräumen des alltäglichen Lebens. Bedingungen für eine gelingende Verselbstständigung und Umsetzung einer selbstständigen Lebensführung Als zweite wesentliche Erwartungshaltung auf normativ-ethischer Ebene wurde in Kapitel 3 die Umsetzung einer selbstständigen Lebensführung benannt. Was diese Erwartung betrifft, zeigen die empirischen Erkenntnisse, dass das Persönliche Budget sowohl eine initiierende als auch unterstützende Wirkung hat. Zum einen realisieren Menschen mit Behinderung in vielfältiger Art und Weise mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder aus dem elterlichen Haushalt, zum anderen wird das Persönliche Budget aber auch dafür genutzt, eine bereits bestehende selbstständige Lebensform aufrechtzuerhalten. Dies zeigt sich deutlich am Beispiel des ersten Typus „Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen“. Die Motivation zur Budgetbeantragung aus Gründen einer Verselbstständigung oder Sicherung der Selbstständigkeit hat jedoch bei den anderen Typen keine primäre Bedeutung, da diese Personen mit Ausnahme des vierten Typus bereits eigenständig leben und das Budget für andere Aspekte einsetzen wollen. Besondere Bedeutung hat dieser Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung also vor allem für Budgetnehmer/innen, die entweder Verselbstständigungsabsichten hegen oder eine eigenständige Wohn- und Lebensform bedroht sehen. Das Persönliche Budget scheint in diesen Fällen besonders geeignet zu sein, entsprechende Prozesse zu unterstützen. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei jedoch der Versorgungssicherheit und – damit zusammenhängend – dem Vorhandenseins von sozialen Ressourcen und Netzwerken zu. Neben der Sicherstellung einer ambulanten Unterstützung, beispielsweise im Übergang von einer stationären in eine selbstständigere Wohnform, trägt häufig das Vorhandensein eines sozialen Umfelds nicht unwesentlich zum Gelingen eines Verselbstständigungsprozesses bei, zumal gerade Menschen aus stationären Wohneinrichtungen oftmals nur über eingeschränkte soziale Kontakte verfügen, die sich schwerpunktmäßig auf andere Heimbewohner/innen oder
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
Familienangehörige beziehen. Aus diesem Grunde besteht eine wesentliche Anforderung an eine selbstständige Lebensführung immer auch darin, soziale Ressourcen und Netzwerke zu erschließen, aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Dies gilt gleichermaßen auch für Menschen mit Behinderung, die bereits außerhalb von stationären Einrichtungen leben und diese eigenständige Lebensform erhalten und absichern wollen. Diese Notwendigkeit eines Vorhandenseins geeigneter Betreuungsstrukturen und sozialer Netzwerke leitet zu den wesentlichen Vorteilen eines Persönlichen Budgets über: Zwar schafft ein Persönliches Budget nicht automatisch Abhilfe für fehlende Netzwerke und Ressourcen (soziale Netzwerke können schließlich nicht „gekauft“ werden), allerdings wird es mit Hilfe des Persönlichen Budgets möglich, bestehende Betreuungsstrukturen und soziale Ressourcen zu erhalten oder auch neu aufzubauen. Anhand des ersten Typus wurden dazu bereits einige Beispiele dargestellt. Zu denken ist etwa an Budgetnehmer/innen, die aus stationären Einrichtungen ausgezogen sind und mit Hilfe Persönlicher Budgets weiterhin an den Freizeitangeboten der ehemaligen Einrichtung teilnehmen oder Mitarbeiter/innen aus der früheren Einrichtung für die ambulante Unterstützung nutzen. Weiterhin können aber auch neue Kontexte und soziale Beziehungen erschlossen werden, indem die Budgetnehmer/innen verschiedene kontaktstiftende Aktivitäten finanzieren. Zusammenfassend lässt sich daher folgende Hypothese formulieren: Aufgrund von inhaltlichen und personellen Dispositionsspielräumen können Budgetnehmer/innen, die sich in einem Verselbstständigungsprozess befinden, eine subjektiv relevante Versorgungssicherheit herstellen, beispielsweise indem sie bekannte Betreuungsstrukturen weiterhin nutzen. Soziale Netzwerke können zwar durch Persönliche Budgets nicht “eingekauft” werden, wohl aber die Möglichkeiten, solche Netzwerke zu erhalten oder weiter auszubauen. 9.1.2 Überlegungen auf professionstheoretisch-fachlicher Ebene – Normalisierung, Deinstitutionalisierung und Teilhabe Deinstitutionalisierungs- und Normalisierungspotenziale durch individuelle Lösungen Deinstitutionalisierung führt zu einer Reduktion institutioneller Zwänge und sozialer Kontrolle. Dadurch wird erzielt, dass sich Menschen mit Behinderung nicht mehr ausschließlich den institutionellen Vorgaben von Einrichtungen der Behindertenhilfe beugen müssen. Insofern hängt Deinstitutionalisierung auch stark mit Normalisierung zusammen. Indem nun Budgetnehmer/innen mit Hilfe des Persönlichen Budgets individuelle Lösungen der Unterstützung entwickeln,
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tragen sie ihrerseits zu Deinstitutionalisierung bei. Im Zuge dieser individuellen Lösungen wird es weiterhin möglich, ein Leben „so normal wie möglich“ zu führen. Normalisierung sollte allerdings nicht gleichgesetzt werden mit dem Leben nichtbehinderter Menschen, denn Menschen mit Behinderung bleiben bei der Verwirklichung ihrer Interessen und Bedürfnisse stets abhängig von sozialer Unterstützung und staatlichen Transferzahlungen, auf die sie gerade wegen ihrer Behinderung Anspruch haben. Daraus ergibt sich eine gewisse Paradoxie, die nicht ohne weiteres ignoriert werden kann: Zwar beinhaltet die Nutzung Persönlicher Budgets durchaus Normalisierungs- und Deinstitutionalisierungspotenziale, allerdings können Menschen mit Behinderung ein Persönliches Budget wiederum nur aufgrund ihres Status als „behinderte Menschen“ beantragen. Diese Paradoxie gilt es schließlich bei der Frage nach den Normalisierungs- und Deinstitutionalisierungspotenzialen des Persönlichen Budgets zu bedenken. Betrachtet man zunächst die Deinstitutionalisierungspotenziale, so zeigen die dargestellten Beispiele facettenreich, welche Spielräume das Persönliche Budget für eigene Ideen der Unterstützung eröffnet. Dabei werden auch Unterstützungsarrangements geschaffen, die außerhalb der klassischen Strukturen der Behindertenhilfe angesiedelt sind. Oftmals finanzieren Budgetnehmer/innen neben oder auch anstatt professionellen Anbietern auch private Hilfen, Sachmittel sowie kommerzielle Dienstleistungen (Fitnessstudios, Volkshochschulkurse usw.). Insofern beinhaltet die Nutzung Persönlicher Budgets unmittelbar Deinstitutionalisierungspotenziale. Das Normalisierungsprinzip zielt hingegen im Kern darauf ab, „für Menschen mit Behinderung weitestgehend normale Lebensbedingungen zu schaffen, d.h. es ihnen zu ermöglichen, dem Grunde nach so zu leben, wie es dem kulturell üblichen Standard der jeweiligen Gesellschaft (…) entspricht“ (Aselmeier 2008, 46). Implizit geht damit auch die Forderung einher, dass Menschen mit Behinderung „so wenig wie möglich in abgesonderten Zusammenhängen leben“ (Kastl, Metzler 2005, 15). Versteht man das Konzept der Normalisierung daher als Forderung, Menschen mit Behinderung die in einer Gesellschaft „üblichen“ bzw. „normalen“ Handlungsmöglichkeiten und sozialen Rollen so gut es geht zu ermöglichen, erscheint das Persönliche Budget als durchaus geeignet, Normalisierungspotenziale anzustoßen. Diese Deinstitutionalisierungs- und Normalisierungspotenziale spiegeln sich der Sache nach in dem Wunsch nach einem selbstbestimmten und flexiblen Umgang mit den bewilligten Leistungen sowie in dem Bestreben nach Unabhängigkeit von Leistungsanbietern wider. Insofern kann in Bezug auf den dritten Typus sicher von entsprechenden Potenzialen ausgegangen werden. Gleichermaßen kommt diese Idee aber auch in dem Wunsch nach individuellen Lösungen zum Ausdruck. Beispielhaft genannt werden können Budgetnehmer/innen, die kommerzielle Dienstleistungen oder Bildungsangebote nutzen und damit „nor-
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malen“ Konsummustern folgen. Zu denken ist aber auch an eine lebensphasentypische Unterstützung, die es jugendlichen Budgetnehmer/innen ermöglicht, an den „üblichen“ jugendkulturellen Freizeitaktivitäten teilzuhaben. Die Finanzierung eines Autos oder von Sportbekleidung und Startgebühren sind weitere Beispiele, wie Menschen mit Behinderung mit Hilfe des Persönlichen Budgets so leben können, wie es dem „kulturell üblichen Standard“ entspricht. Demnach geht die Nutzung Persönlicher Budgets bei mindestens zwei der vier Typen mit Deinstitutionalisierung und Normalisierung einher. Anders sieht dies jedoch beim ersten und insbesondere beim vierten Typus aus. Was den ersten Typus betrifft, so sind die Normalisierungs- und Deinstitutionalisierungspotenziale als ambivalent einzuschätzen. Normalisierung hängt stark davon ab, inwiefern es Menschen mit Behinderung gelingt, „normale“ Alltagsvollzüge realisieren zu können, obwohl sie ein Leben mit Unterstützung führen müssen. Deinstitutionalisierung hingegen bedeutet immer auch eine Abkehr von „klassischen“ Angeboten bzw. Institutionen der Behindertenhilfe und eine Hinwendung zu neuen Formen der Unterstützung. Indem Budgetnehmer/innen versuchen, mit Unterstützung (erste) Schritte in die Selbstständigkeit zu wagen bzw. ihre Selbstständigkeit zu erhalten, emanzipieren sie sich zwar aus der Abhängigkeit von „klassischen“ Leistungsanbietern und schaffen sich ein stückweit „Normalität“ (zudem stehen bestimmte Rollen auch erst dann zur Verfügung, wenn eine selbstständige Lebensführung erreicht worden ist). Auf der anderen Seite widerspricht der Wunsch nach einer größtmöglichen „Versorgungssicherheit“ aber auch wieder der Idee der Normalisierung, weil eine „Vermeidung von Risiken“ die Rollenvielfalt und Eigenverantwortung wiederum einschränkt. Insbesondere Budgetnehmer/innen, die weiterhin Angebote aus ehemaligen Einrichtungen nutzen, bleiben – mehr oder weniger beabsichtigt – in „abgesonderten Zusammenhängen“ verhaftet. Die mit diesem Verselbstständigungsprozess zusammenhängende Orientierung an Sicherheit und „Versorgung“ lässt eine Normalisierung und Deinstitutionalisierung daher nur bedingt zu. Was den vierten Typus betrifft, so widerspricht auch die pragmatische Nutzung des Persönlichen Budgets dem Prinzip der Deinstitutionalisierung und Normalisierung. Die schwerpunktmäßig von den Eltern initiierte Beantragung eines Persönlichen Budgets leistet oftmals einer weiteren Sonderbehandlung Vorschub, weil es den Eltern eher um eine Verbesserung der (Einzel-) Betreuung, um eine optimale Förderung und Versorgung, oder um einen gezielten Einsatz der Mittel geht. Augenscheinlich widerspricht auch die nach wie vor starke Orientierung an der Sachleistung den Prinzipien von Normalisierung und Deinstitutionalisierung.
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Fasst man diese Überlegungen in einer Hypothese zusammen, lässt sich folgende Behauptung aufstellen: Persönliche Budgets beinhalten durchaus Deinstitutionalisierungs- und Normalisierungspotenziale, vor allem dann, wenn Menschen mit Behinderung individuelle Unterstützungsarrangements entwickeln (können) und einen eigenverantwortlichen Umgang mit den bewilligten Leistungen anstreben. Dazu sind monetäre Freiheiten in Bezug auf die Finanzierung alternativer Dienstleistungen unabdingbar. Besonders geeignet erscheinen hierbei disponible Geldbeträge. Eine (weitere) Nutzung von Angeboten in Einrichtungen der Behindertenhilfe, eine Konzentration auf Einzelförderung und eine pragmatische Orientierung an Versorgungssicherheit beschränken hingegen die ausgemachten Normalisierungs- und Deinstitutionalisierungspotenziale. Soziale Teilhabe durch eigene Wege der Unterstützung Budgetnehmer/innen, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets versuchen, innovative Wege der Unterstützung zu entwickeln, versuchen damit gleichermaßen kontaktstiftende Aktivitäten bzw. eine Teilhabe in subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen zu realisieren. In Anlehnung an das in Kapitel 2.3.2 dargestellte bio-psycho-soziale Behinderungsmodell der ICF bestätigt sich in diesen Beispielen der Zusammenhang zwischen Aktivität und Partizipation (Teilhabe). Aus diesem Grunde verhelfen Persönliche Budgets zu vielfältigen Aktivitäten und damit auch zu Teilhabechancen. Dass unter anderem (kommerzielle) Dienstleistungen außerhalb der Behindertenhilfe finanziert werden, ist unter teilhaberelevanten Gesichtspunkten durchaus positiv zu werten, zumal die Unterstützung durch (professionelle) Leistungsanbieter der Behindertenhilfe Teilhabe auch gleichzeitig erschweren kann (vgl. Rohrmann 2009). Analog zu der Hypothese zu den Deinstitutionalisierungs- und Normalisierungspotenzialen Persönlicher Budgets spielen disponible Geldbeträge auch bei der Verbesserung von Teilhabechancen eine wesentliche Rolle. Mit Hilfe solcher Geldbeträge wird es den Budgetnehmer/innen letztendlich ermöglicht, bestimmte Freizeitaktivitäten zu realisieren, Kurse zu besuchen, in (Sport-) Vereine zu gehen usw. – vorausgesetzt solche Möglichkeiten sind in dem bewilligten Budget mit inbegriffen. Die Möglichkeit, neben oder anstatt funktionsgebundener Budgets (z.B. für ambulante Betreuung) über disponible Geldbeträge verfügen zu können, ist also unter teilhaberelevanten Gesichtspunkten elementar wichtig. Ein entsprechend ausgestaltetes Persönliches Budget ist also per se teilhabeförderlich und in der befragten Personengruppe lassen sich etliche Beispiele finden, wie Budgetnehmer/innen innovative Lösungen entwickeln, um damit ihre eingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verbessern. Es sei in diesem Zusammenhang auf Budgetnehmer/innen verwiesen, die neben oder anstatt einer ambulanten Betreuung Kurse, Mitgliedsbeiträge, Fahrkarten usw. finanzieren und so Kontakte knüpfen oder sogar Teil einer Gruppe werden können. Besonders
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deutlich wird dies bei Budgetnehmer/innen des zweiten Typus, die eine Verbindung von individuellen Lösungen und teilhabeförderlichen Aktivitäten anstreben. Aber auch im dritten Typus wird analog zu Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen eine Teilhaberelevanz deutlich. Zu denken ist beispielsweise an Budgetnehmer/innen, die das Persönliche Budget für die selbstbestimmte Freizeitgestaltung und zur Entfaltung eines individuellen Lebensstils nutzen. Was den ersten und vierten Typus betrifft, so sind die Teilhabepotenziale etwas differenzierter zu betrachten. Beim vierten Typus steht beispielsweise die Teilhabeidee nicht unmittelbar im Zentrum der Budgetbeantragung und die angestrebten Lösungen sind aufgrund der Orientierung am Sachleistungsprinzip nicht selten einfach nur Fortsetzungen der bestehenden Unterstützungsstruktur. In Bezug auf den ersten Typus hängen die Teilhabechancen hingegen davon ab, welche Unterstützungsleistungen finanziert werden, denn es sind vor allem soziale Ressourcen und Netzwerke, die zu einer Stabilisierung der Verselbstständigung beitragen können (siehe Kapitel 9.1.1). Wird das Persönliche Budget dann für kontaktstiftende Aktivitäten eingesetzt, geht der Verselbstständigungsprozess auch mit Teilhabepotenzialen einher. Wie oben allerdings gezeigt wurde, versuchen Budgetnehmer/innen dieses Typus schwerpunktmäßig den Kontakt zu einer (ehemaligen) Einrichtung aufrechtzuerhalten anstatt neue Kontakte zu erschließen. Durch eine solche Orientierung an gewohnten Betreuungsstrukturen beschränken sich soziale Kontakte wiederum auf Institutionen der Behindertenhilfe. Wansing u.a. (2004, 328f.) beschreiben weitere Rahmenbedingungen zur Verbesserung sozialer Teilhabe durch ein Persönliches Budget: So könnten beispielsweise Kontaktmöglichkeiten angeboten werden, an denen sich mehrere Budgetnehmer/innen – wenn möglich wohnortnah – treffen. Solche Kontaktangebote könnten offene Treffs oder Gruppenangebote sein. Auch der gezielte Aufbau eines Pools an Freiwilligen, die von den Budgetnehmer/innen für Freizeitaktivitäten genutzt werden können, ist denkbar. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Kontaktangebote auf einer formalen Ebene. Um jedoch den Kontakt zu nichtbehinderten Menschen mit dem Ziel informeller Beziehungen und Bekanntschaften herstellen zu können, ist es besonders wichtig, soziale Kontexte mit Hilfe disponibler Geldbeträge zu erschließen (z.B. Vereine oder kirchliche Gruppen, Sportgruppen, Interessengruppen usw.). Folgende Hypothese kann zusammenfassend konstruiert werden: Was die Potenziale zur Verbesserung sozialer Teilhabe betrifft, so ist davon auszugehen, dass vor allem die inhaltlichen Spielräume Persönlicher Budgets teilhabeförderliche Aktivitäten erleichtern können. Unter teilhaberelevanten Gesichtspunkten kommt daher disponiblen Geldbeträgen eine besondere Bedeutung zu. Zwar kann „Teilhabe“ an sich nicht eingekauft werden, das Persönliche Budget ermöglicht jedoch eine Finanzierung der entsprechenden teilhabe- und kontaktförderlichen Aktivitäten.
9.1 Schlussfolgerungen für die theoretische Auseinandersetzung
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9.1.3 Überlegungen auf sozialpolitischer Ebene – Ambulantisierung und Kundenbewusstsein Ambulantisierungspotenziale zum Erhalt selbstständiger Wohnformen Die vorliegenden Daten zeigen, dass ein Auszug aus einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe nicht selten Ausgangspunkt der Budgetbeantragung war. Daneben lassen sich allerdings weitere Budgetnehmer/innen finden, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets versuchen, eine selbstständige Lebensführung zu erhalten oder eine Heim- bzw. Klinikaufnahme zu vermeiden. Insofern spielt die ambulante Betreuung im eigenen Wohnraum eine Hauptrolle bei der Beantragung eines Persönlichen Budgets. Dies trifft nicht nur auf Budgetnehmer/innen des ersten Typus zu, sondern auch auf Budgetnehmer/innen, die den anderen Typen zugeordnet wurden (eine Ausnahme bilden Budgetnehmer/innen des vierten Typus, da es sich hierbei um Kinder und Jugendliche handelt, die noch bei ihren Eltern wohnen). Zusammengefasst stellt der Personenkreis der Budgetnehmer/innen, die durch und mit dem Persönlichen Budget eine selbstständige Lebensführung realisieren, quantitativ gesehen die bedeutsamste Gruppe in der Untersuchung dar. Was jedoch die ursprüngliche Intention vieler Modellprojekte betrifft, Menschen mit Behinderung dazu zu bewegen, mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Einrichtungen auszuziehen, so sind auch die Ergebnisse in der bundesweiten Erprobung zur Einführung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ eher ernüchternd. Beispielsweise zeigt die Betrachtung der Wohnsituation der Budgetnehmer/innen zum Zeitpunkt der Antragstellung, dass die meisten Budgetinteressent/innen keineswegs in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe untergebracht waren. Die Untersuchungsergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zum bundesweiten Modellvorhaben verdeutlichen hingegen, dass 77% aller Budgetnehmer/innen bereits vor der Budgetbeantragung in einer eigenen Wohnung gelebt haben. Weitere 19% befanden sich bereits in einer ambulant betreuten Wohnform (vgl. dazu Metzler u.a. 2007, 88). Das Persönliche Budget scheint demnach eher dem Erhalt einer selbstständigen Lebensführung und weniger als „Sprungbrett“ in eine ambulant betreute Wohnform zu dienen. Dies bestätigen auch andere Modellvorhaben.157 Quantitativ gesehen spielen Budgetneh157 Kontrastiert man diesen Befund mit der im baden-württembergischen Modellprojekt vorgehaltenen Typologie, so überwiegen auch dort die Budgetnehmer/innen, „die bereits vor dem Beginn des Modellprojekts in einer Privatwohnung gelebt haben: Für sie geht es überwiegend darum, ihr eigenes Leben mit Hilfe des Persönlichen Budgets zu sichern, weiter so zu leben, wie sie das bisher getan haben“ (Kastl, Metzler 2005, 73). Auch im niedersächsischen Modellvorhaben wurde die Beobachtung gemacht, dass die „meisten Budgetnehmer und Budgetnehmerinnen schon vor der Budgetgewährung in eigenen Wohnungen gelebt [haben], und zwar vorwiegend allein (…)“ (Windheuser u.a. 2006, 13).
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mer/innen, die eine selbstständige Lebensform durch ambulante Unterstützung aufrechterhalten wollen, daher eine größere Rolle bei der Nutzung Persönlicher Budgets. Bezogen auf den Grundsatz „ambulant vor stationär“ bedeutet dies, dass das Persönliche Budget erheblich zu einer Ambulantisierung in der Behindertenhilfe beitragen kann, allerdings weniger bezogen auf einen Auszug aus stationären Kontexten, sondern eher im Sinne einer Vermeidung einer stationären Unterbringung. Vermutlich tritt das Persönliche Budget also insbesondere zu solchen Lebenssituationen in Passung, in denen es um den Erhalt der Selbstständigkeit geht. Bestätigt wird diese Vermutung auch im Abschlussbericht des niedersächsischen Modellvorhabens. Dort wurde explizit der Frage nachgegangen, inwiefern es im Zuge der Einführung Persönlicher Budgets zu einer Abnahme der Anzahl stationär untergebrachten Personen in den untersuchten Modellregionen gekommen ist (vgl. dazu Windheuser u.a. 2006, 79ff.). Die Daten verdeutlichen, dass es keine Veränderungen in den Belegungszahlen der stationären Einrichtungen gab. Ebenfalls nicht verändert hat sich die Anzahl stationär betreuter Menschen mit Behinderung in Relation zur Einwohnerzahl. Zum Dritten konnten im Rahmen der Datenerhebung nur wenige Personen gezählt werden, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets einen Auszug aus stationären Wohneinrichtungen realisieren konnten. Die Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung fassen das Ergebnis in Bezug auf die ursprünglichen Ziele des Modellvorhabens daher wie folgt zusammen: „Fast zwei Drittel aller Budgetnehmer hat vor Budgetgewährung bereits in eigenen Wohnungen gelebt und ambulante Betreuung als Sachleistung erhalten; diese wurde dann in ein Persönliches Budget umgewandet. (…). Nur 6 Budgetnehmer haben bis unmittelbar oder kurz vor Budgetbeginn in stationären Strukturen gelebt und wechselten dann in eine andere Wohnform. Das ist wenig angesichts der Zielsetzung des Modellvorhabens, Menschen anzusprechen, ‚die bereits in einem Heim leben und in eine ambulante Betreuungsform wechseln möchten (…)‘. Es lässt sich allerdings nicht abschätzen, bei wie vielen Budgetnehmern das Persönliche Budget mitgeholfen hat, einen Wechsel in ein Heim o.ä. zu verhindern“ (Windheuser u.a. 2006, 13f.; Hervorhebungen im Original).
Ob dies nun als Beleg dafür genommen werden kann, dass sich keine oder nur geringe Ambulantisierungspotenziale eingestellt haben, ist schwer zu beantworten. Ergänzend muss daher auf eine weitere interessante Entwicklung im niedersächsischen Modellvorhaben hingewiesen werden: Zwar hat die Anzahl der stationär untergebrachten Menschen mit Behinderung in den Modellregionen in Niedersachsen nicht abgenommen, ist aber auch nicht angestiegen, und dies obwohl sich die Anzahl der Empfänger/innen von Leistungen zur Eingliederungshilfe im Projektzeitraum erhöht hat. Diese Entwicklung legt daher den Schluss nahe, dass das Persönliche Budget durchaus Potenziale zur Verwirklichung des Grundsatzes „am-
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bulant vor stationär“ eröffnet, aber eben im Sinne einer Vermeidung stationärer Unterbringung. Entsprechend resümieren die Autoren der wissenschaftlichen Begleitforschung in Niedersachsen: „Während des Modellzeitraums ist die Zahl der im System der Eingliederungshilfe betreuten erwachsenen Menschen mit Behinderung leicht angestiegen (…); dieser Anstieg konzentriert sich ausschließlich auf die ambulante Hilfe, während die Zahl der von der Eingliederungshilfe finanzierten Klienten im stationären System konstant bleibt. Das heißt: Die Umsetzung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär‘ führt dazu, dass das stationäre System trotz derzeit noch steigender Klientenzahlen nicht ausgeweitet werden musste“ (ebd., 82).
Ob das Persönliche Budget letztendlich dazu beitragen wird, dass Menschen mit Behinderung vermehrt aus stationären Einrichtungen ausziehen werden, lässt sich auch mit den vorliegenden Daten nicht eindeutig beantworten. Auch ist unklar, ob die Einführung Persönlicher Budgets zu einer merklichen Abnahme der Anzahl stationär untergebrachter Menschen mit Behinderung führen wird; die bisherige Datenlage scheint dem eher zu widersprechen. Nicht zuletzt zeigt hierbei ein Blick in das Nachbarland Schweden (vgl. Kapitel 4.1.3), dass (weitere) politische Anstrengungen und Gesetzesinitiativen nötig sein werden, um Ambulantisierung im Sinne eines Abbaus stationärer Wohnformen voranzutreiben. Letztendlich sollten diese Forderungen vor allem im Kontext der (nach wie vor) ansteigenden Anzahl an stationären Betreuungsplätzen und gerichtlichen Verfügungen zu stationärer Unterbringung (vgl. dazu Rohrbach 2008) gedeutet werden. Zusammenfassend lässt sich daher die Hypothese formulieren: Zu einer umfassenden Ambulantisierung und gleichzeitigem Abbau stationärer Wohnformen wird das Persönliche Budget alleine nicht beitragen können. Interpretiert man den Grundsatz „ambulant vor stationär“ im Lichte der Ergebnisse jedoch neu, können zumindest in Bezug auf den Erhalt selbstständiger Lebensformen Ambulantisierungspotenziale erhofft werden. Ein Kundenbewusstsein ist noch kaum ausgeprägt Gemeinhin wird mit der Einführung Persönlicher Budgets die Erwartung verbunden, dass sich die Angebotslandschaft in der Behindertenhilfe radikal verändern wird. Ausgangspunkt dieser Erwartung ist die Auflösung des leistungsrechtlichen Dreiecks. Dadurch, so die These, würden die Leistungsempfänger mehr Einfluss auf die Entwicklung von Angeboten nehmen können. Ein zentrales Element der Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets ist daher die Vermutung, Menschen mit Behinderung würden vermehrt als „Kunden“ auftreten und dadurch die zukünftige Entwicklung der Behindertenhilfe wesentlich mitbestimmen.
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Wie bereits im Verlauf der Argumentation mehrfach gezeigt und wie auch die empirisch gewonnen Erkenntnisse nahe legen, ist allerdings weder zu beobachten, dass die Budgetnehmer/innen in großem Umfang eine „Kundenrolle“ einnehmen, noch dass sich in nennenswerter Anzahl neue Anbieter auf dem Markt etabliert haben. In einigen ländlichen Regionen sind die Budgetnehmer/innen gerade aufgrund fehlender ambulanter Dienste dazu übergegangen, private Hilfen zu nutzen. Die Nutzung privater Hilfen kann und sollte im Übrigen auch nicht mit einer Entwicklung der Angebotsstruktur im hier gemeinten Sinne verwechselt werden, da weder neue Anbieter im engeren Sinne entstanden sind, noch das Spektrum an Dienstleistungen sich erweitert hat. Die genutzten privaten Hilfen stehen in der Regel nur den jeweiligen Budgetnehmer/innen zur Verfügung und eine Ausweitung der Dienstleistung auf andere potenzielle Interessent/innen ist nur bedingt zu erwarten. Zutreffend ist, dass Budgetnehmer/innen Einfluss auf Inhalt, Gestaltung und Qualität der Angebote nehmen. In der Budgetnehmerbefragung zeigt sich beispielsweise, dass die Unzufriedenheit mit (bisherigen) Leistungsanbietern in einigen Fällen ausschlaggebend für die Beantragung eines Persönlichen Budgets war. In anderen Fällen führten aber nicht nur die Unzufriedenheit mit den (bisherigen) Leistungserbringern, sondern auch ein als belastend empfundenes „Abhängigkeitsgefühl“ zu einer Beantragung Persönlicher Budgets. Beispielhaft wird darauf verwiesen, dass die veränderte Rolle als Auftraggeber auch dazu beiträgt, sich nicht mehr als „Bittsteller“ fühlen zu müssen. Die Nutzung eines Persönlichen Budgets geht damit mit einer Steigerung des Selbstwerts und einer Reduktion des Schamgefühls einher. Quantitativ gesehen lassen sich diese Motive in mindestens zwei der vier Typen finden. Eine besonders große Bedeutung kommt hierbei dem dritten Typus zu, weil sich in keinem anderen Typus die Synthese von Unzufriedenheit mit Leistungsanbietern, Selbstbestimmung und Einflussnahme so deutlich zeigt. Aber auch im zweiten Typus spielt diese Unzufriedenheit eine wichtige Rolle, zumal diese Budgetnehmer/innen versuchen, eigene Wege der Unterstützung zu entwickeln und hierbei auch Dienstleistungen nutzen, die nicht von Akteuren der Behindertenhilfe angeboten werden. Allerdings geht es diesen Budgetnehmer/ innen nicht primär um Einflussnahme. Auf der anderen Seite führt eine solchermaßen veränderte Rolle nicht zwangsläufig zu einem auf theoretischer Ebene proklamierten Kundenbewusstsein. Zwar ist die Umstellung der bisherigen Leistungen auf ein Persönliches Budget für alle budgetnehmenden Personen mit einem Umdenken verbunden, Budgetnehmer/innen werden damit aber noch nicht automatisch zu „Kunden“. Abgesehen davon, dass es sich per definitionem nicht um Kunden, sondern im-
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mer noch um Leistungsempfänger bzw. -nutzer handelt,158 widersprechen auch die empirischen Ergebnisse der Vermutung, Budgetnehmer/innen würden zunehmend als „Kunden“ auftreten. Beispielsweise zeigen die Ergebnisse der bundesweiten Modellerprobung zur Einführung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“, dass Budgetnehmer/innen schwerpunktmäßig bereits bekannte Personen oder Dienstleister mit der Unterstützung beauftragen, obwohl ihnen das Persönliche Budget potenziell Wahlfreiheit eröffnet. Dabei kommt dem Merkmal Vertrauen nicht selten eine große Bedeutung bei der Auswahl der Unterstützungspersonen zu (vgl. Metzler u.a. 2007, 195ff.). Insbesondere diese zentrale Bedeutung des Vertrauensverhältnisses verdeutlicht, wie wenig geeignet der Kundenbegriff letztendlich ist. Eben jener aus der Ökonomie entlehnte Kundenbegriff „blendet Abhängigkeit, Verletzbarkeit und Angewiesenheit ebenso aus wie das fundamentalethische Motiv einer nicht auf Reziprozität beruhenden Sorge für andere Menschen“ (Dederich 2008, 296). Aus diesem Grunde handelt es sich nicht um eine bilaterale Austauschbeziehung und die in der Behindertenhilfe Tätigen „erbringen nicht einfach nur Dienstleistungen, sondern sie stehen in einer Beziehung zu den Menschen, die ihrer körperlichen, psychischen oder sozialen Not, in ihrer Verletzbarkeit oder Abhängigkeit gegenübertreten“ (ebd.). Ebenso lassen sich nur wenige Beispiele finden, in denen sich Budgetnehmer/innen kritisch-vergleichend bzw. rational-abwägend auf die Suche nach dem „besten“ Anbieter machen. Dafür kann es wiederum verschiedene Gründe geben: Dies könnte zum einen an fehlenden Auswahlmöglichkeiten in der jeweiligen Region liegen, zum anderen spielt sicher auch das oben genannte Vertrauensverhältnis eine wichtige Rolle. Aber auch eine dritte Lesart ist denkbar: So könnte ein fehlendes Kundenbewusstsein auch mit mangelnden Erfahrungen mit dieser neuen Rolle zusammenhängen. Vermutlich ist neben fehlenden Wahlmöglichkeiten also vor allem der Mangel an Erfahrung mit den (neu) gewonnen Möglichkeiten, d.h. ein „Mangel an Wahltraining der Nutzer“ (Wacker 2006, 92), verantwortlich für ein bislang noch gering ausgeprägtes Kundenbewusstsein. Menschen mit Behinderung fehlt es an Übung, Angebote kritisch zu vergleichen und die Qualität sozialer Dienstleistungen zu beurteilen. Aus diesem Grunde ist Schäfers (2006, 78) beizupflichten, indem er betont: „Entscheidungen zu treffen, eigene Ziele und Vorstellungen zu formulieren und zu verfolgen, erfordert Kompetenzen, über die Menschen (mit Behinderung) nicht selbstverständlich verfügen. Das Persönliche Budget ist eine Bildungsaufgabe, seine Einführung muss mit der Förderung von Handlungskompetenz einhergehen.“ 158 In Kapitel 3.3.2 wurde bereits darauf verwiesen, dass die Verwendung des Kundenbegriffs in der Behindertenhilfe nicht unproblematisch ist.
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Erklärt werden kann dieses Phänomen durch jahrelange Gewöhnungsprozesse, denn das Leben von Menschen mit Behinderung ist geprägt durch Fremdbestimmung und Bevormundung. Entsprechend „hatten sie wenig Gelegenheit, Erfahrungen mit Selbstbestimmung zu sammeln. (…). Das oft jahrzehntelange Leben in stationären Einrichtungen hat bei vielen Menschen dazu geführt, dass sie nur wenig Kompetenzen im Bereich der Selbstbestimmung aufbauen konnten“ (Wansing u.a. 2004, 329). Die Verwendung eines Persönlichen Budgets im Sinne einer Kundenrolle erfordert für diese Menschen einen radikalen Bruch mit ihrer bisherigen Lebensgeschichte und den jeweiligen Erfahrungen. Insbesondere Menschen, die in stationären Kontexten gelebt haben, müssen sozusagen erst einmal ihre neuen „Freiheiten“ verstehen und nutzen lernen. Sie müssen lernen, mit der Verantwortung umzugehen und die ihnen gebotenen Möglichkeiten umzusetzen, so dass „Selbstbestimmung (…) selbst zum spezifischen Unterstützungsbedarf werden [kann]“ (ebd., 330). Bestätigt werden kann dieser Zusammenhang zwischen Erfahrungen mit Selbstbestimmung und dem Wahrnehmen einer Kundenrolle auch anhand der vorliegenden empirischen Ergebnisse. Beispielsweise gibt es einzelne Budgetnehmer/innen, die insbesondere Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Einflussnahme als Motiv und Verwendungszweck des Budgets angegeben haben. Auffallend ist dabei jedoch, dass diese Budgetnehmer/innen bereits im Vorfeld Erfahrungen im Umgang mit der Auswahl und „Begutachtung“ sozialer Dienste sammeln konnten, oder aber sie leben schon selbstständig und verfügen über ein entsprechendes Netz an Unterstützungsstrukturen (z.B. Freunde), auf die sie „auswählend“ zurückgreifen können. Auch im baden-württembergischen Modellprojekt lassen sich solche Hinweise finden. Beispielsweise besteht ein großer Unterschied zwischen der Anzahl der genutzten Anbieter und dem Grad an Autonomisierung und Emanzipation von institutioneller Unterstützung einerseits und dem Vorhandensein von sozialen Ressourcen andererseits: „Je höher der Autonomisierungsgrad der Budgetnehmer von professioneller Betreuung und je größer die lebensweltlichen sozialen Ressourcen sind, desto differenzierter ist die Budgetnutzung, d.h. (…) desto mehr verschiedene Leistungsanbieter werden in Anspruch genommen“ (Kastl, Metzler 2005, 110).
Abschließend sei hierzu folgende Hypothese formuliert: Budgetnehmer/innen nehmen durchaus Einfluss auf Inhalt, Gestaltung und Qualität der Angebote. Dies bringt die Logik des Persönlichen Budgets mit sich. Was sich jedoch nicht automatisch herstellen lässt, ist ein ausgeprägtes Kundenbewusstsein, das mit einer radikalen Umgestaltung der Angebotslandschaft in der Behindertenhilfe einhergeht. Die Bedeutung eines (gewachsenen) Vertrauensverhältnisses, mangelnde Erfahrungen von Menschen mit Behinderung mit einer solchen Kunden-
9.2 Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung
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rolle, fehlende Übung bei der Bewertung von Angeboten und ungenügende Auswahlmöglichkeiten stehen dem Grundsatz „Kunde statt abhängiger Hilfeempfänger“ immer noch entgegen.
9.2 Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung des Persönlichen Budgets – Überlegungen zu einem Perspektivenwechsel in Evaluation und Forschung 9.2 Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung Eine der wichtigsten Fragestellungen der wissenschaftlichen Begleitforschung war die Frage nach den Wirkungen Persönlicher Budgets im Leben der Budgetnehmer/innen. Dabei zeigen die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Analyse deutlich: Die Wirkungen des Persönlichen Budgets können letztendlich nur mit Blick auf die jeweiligen Motive und Lebenssituationen der Budgetnutzer/innen beurteilt werden. Insofern sind die Hintergründe der Budgetbeantragung stets zu berücksichtigen, weil nur auf Basis dieser Hintergründe der konkrete Nutzen eines Persönlichen Budgets verständlich wird. Dies erfordert einen Perspektivenwechsel im Bereich Evaluation und Forschung, weil die Wirkungen Persönlicher Budgets erst aus der Perspektive der Budgetnutzer/innen ersichtlich werden. Eine solche Neuorientierung umfasst dabei sowohl Fragen der inhaltlichen Ausrichtung von Evaluations- und Forschungsvorhaben, Fragen der methodischen Vorgehensweise, als auch letztendlich Fragen der Qualitätssicherung. Inhaltlich geht es beispielsweise darum, Wirkung und Nutzen Persönlicher Budgets nicht im Vorfeld festzulegen und dann in Form von „Hypothesen“ zu überprüfen. Gefordert ist hingegen eine stärkere Orientierung der Evaluationsziele an den individuellen Motiven und Beweggründen der Budgetnehmer/innen. Entsprechende Vorteile bietet ein offenes und formatives Evaluationsdesign. Methodisch geht es schließlich um die Frage, wie dieser Einbezug der Perspektive der Budgetnutzer/innen gelingen kann. Eignen könnten sich hierbei insbesondere qualitative Forschungsmethoden und fallrekonstruktive Verfahren. Schließlich haben diese Fragen nicht nur eine Bedeutung für die Planung und Durchführung von wissenschaftlichen Begleitforschungs- und Evaluationsvorhaben, sondern gleichsam auch für die Qualitätssicherung in der Behindertenhilfe. Da bestimmte Wirkungen erst aus der Perspektive der Budgetnutzer/innen ersichtlich werden, gilt es abschließend zu reflektieren, inwiefern in der Behindertenhilfe ein Perspektivenwechsel in Richtung Nutzerorientierung notwendig wird. Inhaltliche, methodische und qualitätsrelevante Überlegungen zu einer solchen Neuausrichtung von Evaluation und Forschung im Bereich Persönliche Budgets werden im Folgenden dargestellt.
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9.2.1 Überlegungen zu einer inhaltlichen Neuausrichtung – Ein Plädoyer für eine differenziertere Bewertung von Wirkungen Wie die Ergebnisse der empirisch begründeten Typologie verdeutlichen, nutzen Menschen mit Behinderung aus verschiedenen Gründen ein Persönliches Budget. Welche Wirkungen sich dabei einstellen, hängt letztendlich von diesen Gründen ab. Daher müssen verschiedene Wirkungsebenen unterschieden werden und nicht jede Wirkung gilt gleichermaßen für alle Budgetnutzer/innen. Möglicherweise wird eine bestimmte Wirkung von einem Typus als positiv und wesentlich empfunden, während die gleiche Wirkung von einem anderen Typus als negativ oder bedrohlich wahrgenommen wird. Beispielsweise könnte eine Zunahme an Eigenverantwortung und Regiekompetenz von Budgetnehmer/innen des dritten Typus (Emanzipation durch erweiterte Spielräume) als Bereicherung gewertet werden, von Budgetnehmer/innen des ersten Typus (Selbstständige Lebensführung in sicherem Rahmen) hingegen als Nachteil, weil erhebliche Risiken und Ängste der Unterversorgung damit in Verbindung stehen. Zusammengefasst lassen sich in Bezug auf die vier gefundenen Typen daher folgende Überlegungen festhalten: Der „Wert“ verlässlicher und stabiler Unterstützungsstrukturen zur Unterstützung einer selbstständigen Lebensführung Das Persönliche Budget eröffnet Wege und Möglichkeiten, eine selbstständige Lebensführung umzusetzen und zu erhalten. Dies zeigen die Beispiele deutlich. Aus diesem Grunde lässt sich im Hinblick auf Verselbstständigung auf alle Fälle eine Wirkung Persönlicher Budgets feststellen. Gleichzeitig versuchen die Budgetnutzer/innen aber diese Selbstständigkeit mit einer gewissen Planungssicherheit (was Art, Inhalt und Zeitpunkt der Unterstützung betrifft) zu verbinden. Im vorliegenden Fall nutzt die zahlenmäßig größte Personengruppe das Persönliche Budget genau für diese Zwecke und die budgetgesteuerte Unterstützung ermöglicht diesen Menschen eine Kombination von Selbstständigkeit und Sicherheit. Ohne Miteinbezug dieser Sicherheitskomponente wäre die Budgetverwendung daher nicht verstehbar und die Wirkung des Persönlichen Budgets sollte in diesen Fällen immer auch daran gemessen werden, wie gut es diesen Personen gelingt, stabile und verlässliche Unterstützungsarrangements zu entwickeln. Wie oben bereits erwähnt, geht es diesem Personenkreis daher weniger um eine Zunahme an Eigenverantwortung, Flexibilität und Regiekompetenz. Aus diesem Grunde würde ein einseitiger Blick auf Wirkungen im Sinne von Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Eigenverantwortung zu einem falschen Bild führen, weil der Eindruck entstehen könnte, das Persönliche Budget hätte in diesen Fällen seine Wirkung verfehlt.
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Letztendlich hängt die selbstständige Lebensführung also vor allem von dem Vorhandensein einer gesicherten Unterstützung ab und das Persönliche Budget wird diese Wirkung erst entfalten, wenn Leistungsträger als auch Leistungsanbieter diesem Bedürfnis nachkommen. Leistungsträger sollten beispielsweise Persönliche Budgets bewilligen, die den Budgetnehmer/innen eine längerfristige Planungssicherheit ermöglichen; entsprechend sind Budgetanpassungen und zu kurze Laufzeiten zu vermeiden. Leistungsanbieter hingegen sollten Verlässlichkeit signalisieren. Zuverlässige Absprachen und genau eingehaltene (Dienst-) Pläne bilden dabei die Grundlage für ein Gefühl der Sicherheit. Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Flexibilität sind daher möglicherweise kaum gewünscht und eine einseitige Ausrichtung der Evaluation auf diese Ziele würde den Blick auf die eigentlichen Wirkungen versperren. Verständnis für individuelle und oftmals ungewöhnliche Lösungen zur Verbesserung von Teilhabe und Aktivität Der zweite Typus strebt mit Hilfe des Persönlichen Budgets individuelle Lösungen an, die vor allem zu einer Verbesserung von Teilhabechancen und Aktivität beitragen sollen. Als Wirkung lässt sich in diesen Fällen eindeutig feststellen: Persönliche Budgets ermöglichen es auf hervorragende Art und Weise, subjektiv bedeutsame Unterstützungsarrangements zu kreieren, deren Nutzen ausschließlich in der individuellen Lebenssituation dieser Menschen gefunden werden kann. Entsprechend ist es unmöglich, die Budgetverwendung anhand eines übergeordneten „Patentrezepts“ zur Nutzung Persönlicher Budgets zu bewerten. Einziges Wirkungsziel ist und bleibt die Verbesserung von Teilhabe und Aktivität. Dabei ist es unerheblich, ob die Budgetnehmer/innen ein Fitnessstudio oder eine professionelle Freizeitbetreuung finanzieren. Letztendlich gilt es anzuerkennen, dass die Budgetnehmer/innen lediglich nach Wegen suchen, in den Bereichen des Lebens partizipieren zu können, die ihnen subjektiv als relevant und bedeutsam erscheinen. Die hierbei beobachtbaren Unterstützungsarrangements mögen oftmals verwunderlich erscheinen, sie sind aber eben deswegen entwickelt worden, weil sie optimal mit den Bedürfnissen und der jeweiligen Lebenssituation der betreffenden Person in Einklang stehen. Aus diesem Grunde können Wirkungen nur auf Basis der jeweiligen individuellen Ziele, Vorlieben und Interessen gemessen und verstanden werden. In der Praxis werden diese individuellen Vorlieben und Ziele jedoch allzu oft missverstanden. Eine Konsequenz davon ist, dass Leistungsträger die benötigten Spielräume durch zweckgebundene Budgets wieder einschränken. Ein Navigationsgerät für die Orientierung außer Haus oder die Finanzierung eines Autos zur Pflege sozialer Kontakte entfalten allerdings ebenso Wirkungspotenziale wie eine professionelle Betreuung. Ohne das Wissen über die Lebenssituation und Hintergründe der Budgetbeantragung würden diese Bestrebungen unverstanden
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bleiben und es bestünde die Gefahr, diese Formen der Budgetverwendung als zweckfremd oder gar als „Missbrauch“ zu interpretieren. Für einen budgetbewilligenden Leistungsträger bedeutet dies letztendlich, dass er „anders als bisher (…) nun auch die Stellungnahmen, Einschätzungen und Wünsche der behinderten Menschen, die diese aus ihrer subjektiven Perspektive schildern, aus- und bewerten muss“ (Giersch, Heggen 2009, 50). Entsprechend sollten die jeweiligen Verwaltungen zunehmend auch Abstand nehmen von dem Vorurteil: „Der behinderte Mensch kann nicht wissen, was er benötigt“ (ebd.). Mitarbeiter/innen von Leistungsträgern müssen hierbei anerkennen, dass gerade ungewöhnliche Unterstützungsarrangements eine Wirkung entfalten können, selbst wenn sie nicht mit den üblichen leistungsrechtlichen Regelungen konform gehen: „Dabei hat der Leistungsträger auch zu akzeptieren, dass über das PB [Persönliche Budget] Leistungen erbracht werden können, die zwar das Ziel der Eingliederungshilfe erreichen lassen, für die jedoch keine leistungsrechtliche Grundlage besteht. Ein Beispiel hierfür könnte die Anschaffung eines Hundes für einen psychisch kranken Menschen sein, der an Vereinsamung leidet. Im Geld- und Sachleistungsbereich könnte hierfür keine Leistung gewährt werden. Im Rahmen des PB kann sich der Betroffene, wenn er der Auffassung ist, dass dies eine Hilfe für ihn ist, jedoch für die Anschaffung eines Hundes entscheiden“ (ebd.).
Zum Problem der Operationalisierung von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Einflussnahme Die „klassischen“ Wirkungsaspekte Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Einflussnahme spielen besonders bei der Budgetnutzung des dritten Typus eine wichtige Rolle. Diesem Personenkreis geht es vor allem um mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im Umgang mit den bewilligten Leistungen sowie um eine größere Unabhängigkeit von Leistungsanbietern und stärkere Einflussnahme auf die Angebotslandschaft in der Behindertenhilfe. Betrachtet man hierzu jedoch die Budgetnutzung in den verschiedenen Modellprojekten, so konnten bisher nur begrenzt Wirkungen nachgewiesen werden. Zwar wird den beteiligten Budgetnehmer/innen in allen Modellprojekten ein Zugewinn an „Selbstbestimmung“ bescheinigt, was die Unabhängigkeit, die direkte Einflussnahme im Sinne einer Kundenrolle oder gar eine Veränderung der Angebotslandschaft betrifft, so sind die Wirkungen allerdings spärlich. Selbst die dokumentierten Zugewinne an „Selbstbestimmung“ wirken eher konstruiert, da es sich im Grunde um Flexibilitätsgewinne handelt. Rückblickend auf die Ergebnisse der empirischen Analyse lässt sich das Ausbleiben entsprechender Wirkungen möglicherweise dadurch erklären, dass auch nur eine vergleichsweise kleine Gruppe an Budgetnehmer/innen solche Motive und Ziele explizit bei der Budgetbeantragung im Blick hatte. In Bezug
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auf eine Erfassung von Selbstbestimmungspotenzialen sollten daher folgende Überlegungen berücksichtigt werden: Zunächst ist zu beachten, dass Selbstbestimmung nicht automatisch mit Unabhängigkeit von Unterstützung gleichzusetzen ist. Um individuelle Lebensentwürfe realisieren und ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben führen zu können, sind die Budgetnehmer/innen dennoch auf Unterstützung angewiesen. Selbstbestimmung bedeutet daher nicht, dass Menschen mit Behinderung ohne Unterstützung leben müssen. Es geht nicht um den „Wegfall von Hilfen (…), sondern [um] die Bestimmung über deren Inhalte und Formen“ (Niehoff 1994, 190). Bei der Identifizierungen von Wirkungen sollte daher vor allem ein selbstbestimmter und eigenverantwortlicher Umgang mit den bewilligten Unterstützungsleistungen in den Blick genommen werden und weniger die Frage, wie selbstständig und unabhängig ein Mensch mit Behinderung lebt. Zum zweiten muss überlegt werden, wie „Selbstbestimmung“ in geeigneter Art und Weise zu operationalisieren ist, denn in der Wahrnehmung der Budgetnehmer/innen geht es vor allem um „erweiterte Spielräume“. Entsprechend dem dritten Typus gibt es dabei eine Koppelung von „erweiterten Spielräumen“ und „Emanzipation“, so dass der inhaltlichen, zeitlichen und personellen Flexibilität in der Planung und Organisation der Unterstützung eine wichtige Rolle bei der Identifizierung von Wirkungen zukommt. Eine besondere Bedeutung für die Wirkungsforschung hat daher die Orientierung an dem Konstrukt „Flexibilität“, etwa hinsichtlich der Verwendung der Geldmittel oder der Gestaltung der Unterstützung. Wiederum wurden vor allem diese Flexibilitätsgewinne mannigfaltig dokumentiert, während die „großen“ Selbstbestimmungspotenziale nur selten gefunden werden konnten. Es empfiehlt sich also in jedem Fall, im Vorfeld genau zu definieren, welches Konstrukt überhaupt evaluiert werden soll und welche Dimensionen (z.B. zeitliche, inhaltliche und personelle Flexibilität) jeweils gemessen werden können. Aus dieser Perspektive können dann auch durchaus Wirkungen dokumentiert werden, denn das Persönliche Budget ermöglicht es insgesamt, die unterstützenden Personen und Dienste selbst auszuwählen, den Zeitpunkt der Unterstützung selbst zu bestimmen und auch über Art und Inhalt der Unterstützung entscheiden zu können. Alles in allem verdeutlichen die dokumentierten Beispiele dann, dass diese Budgetnehmer/innen trotz ihres Unterstützungsbedarfs ein Leben führen können, das den eigenen Vorstellungen entspricht. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Evaluationsindikatoren sollten sich insbesondere darauf konzentrieren, den Grad der Flexibilität in Bezug auf inhaltliche, sachliche und personelle Dispositionsspielräume zu bestimmen, anstatt sich einseitig an der abstrakten Frage nach einer Verbesserung der „Selbstbestimmung“ zu orientieren.
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Erweiterte Möglichkeiten und Vereinfachungen gegenüber der Sachleistung Über neue Wirkungskriterien müsste vor allem in Bezug auf den vierten Typus nachgedacht werden, denn hierzu liegen bislang kaum Erkenntnisse vor. Auch spielen „klassische“ Wirkungsaspekte für diese Art der Budgetnutzung so gut wie keine Rolle. Die Wirkungen manifestieren sich beispielsweise in der Möglichkeit, alternative Formen der Unterstützung finanzieren zu können, die im Rahmen des Sachleistungsprinzips nicht umgesetzt werden können. Gleichermaßen wird durch die Umstellung auf das Persönliche Budget eine Vereinfachung der Verwaltungsund Abrechnungsmodalitäten oder finanzielle Spielräume erzielt. Weiterhin geht es bei der Budgetbeantragung auch um eine Entlastung des sozialen Umfelds (meist der Eltern), weshalb dieser Typus eine Besonderheit darstellt. Auf den ersten Blick könnte man in diesen Fällen annehmen, dass es den Budgetnehmer/innen bzw. deren Stellvertreter/innen weder um das Persönliche Budget selbst, noch um die damit in Verbindung stehenden Wirkungsaspekte geht. Dies steht jedoch mit einer eingeschränkten Sichtweise in Verbindung, denn im Grunde sollen mit Hilfe des Persönlichen Budgets die Nachteile des Sachleistungsprinzips überwunden werden. Diese Überwindung der Restriktionen der Sachleistung stellt im Kern durchaus eine wesentliche Intention der Einführung Persönlicher Budgets dar, man denke nur an die Forderung, das Wunsch- und Wahlrecht besser umsetzen zu können. Auch hier würde man ohne Kenntnis der jeweiligen Hintergründe der Budgetbeantragung vorschnell urteilen und diese Form der Budgetverwendung als „Quasi-Sachleistung“ abtun. Tatsächlich hilft das Persönliche Budget in diesen Fällen aber auch, die Schwächen des Sachleistungsprinzips zu offenbaren und zu überwinden.
9.2.2 Überlegungen zu einer methodischen Neuausrichtung – Ein Plädoyer für qualitative Evaluation und den Einbezug einer fallrekonstruktiven Perspektive Die teilweise im Kontrast zu den theoretischen Erwartungen stehenden Befunde zu den Motiven und Hintergründen der Budgetbeantragung lassen eine rein deduktive Vorgehensweise bei der Evaluation der Wirkungen Persönlicher Budgets als unzureichend erscheinen. Zum einen können entscheidende Wirkungsaspekte übersehen werden, zum anderen besteht immer auch die Gefahr, die Praxis der Budgetnutzung als „Misserfolg“ zu deuten, wenn die (vorab) gesetzten Wirkungsziele nicht eingetreten sind. Ein Verständnis der fallspezifischen Budgetnutzung ist also unabdingbar. Evaluations- und Forschungsvorhaben zu den Wirkungen und dem Nutzen Persönlicher Budgets sollten daher durch induktive Elemente angereichert wer-
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den. Solche induktiv gewonnenen Erkenntnisse können wiederum – z.B. in einer formativen Evaluationsstrategie – die Ziele und Indikatoren einer Evaluation sinnvoll ergänzen. Aus diesem Grunde ist besonders ein qualitatives Evaluationsdesign zu empfehlen, weil dadurch sowohl eine Offenheit für die Vorgehensweise als auch eine Offenheit für die Erwartungen der Betroffenen gewährleistet wird (vgl. Kuckartz u.a. 2007). Neben diesen forschungsstrategischen Überlegungen gilt weiterhin zu prüfen, in welcher Art und Weise die Daten erhoben und gedeutet werden sollten, um dieser Offenheit und fallspezifischen Orientierung an den Wirkungen Persönlicher Budgets gerecht zu werden. Hierzu eignet sich insbesondere ein fallrekonstruktives Vorgehen, wie es beispielsweise in der von Kastl entwickelten „soziobiografischen Perspektive“ vorgeschlagen wird (vgl. Kastl 2009). Der geforderte Perspektivenwechsel wird insbesondere durch ein qualitatives Evaluationsdesign ermöglicht Anders als quantitativ orientierte Evaluationsverfahren ermöglicht ein qualitatives Design auch unerwartete Wirkungsaspekte, die in einem standardisierten Evaluationsdesign aufgrund vordefinierter Indikatoren nicht erkannt worden wären, zu berücksichtigen. Qualitative Evaluation erweitert damit den Blickwinkel und kann auch neue Aspekte in ein laufendes Evaluationsvorhaben integrieren: „Man muss also jeweils damit rechnen, dass unbekannte, nicht antizipierte Wirkungen und Nebenwirkungen auftreten. Die vollständige Erfassung komplexer Wirkungsgefüge mit ausschließlich standardisierten Instrumentarien, d.h. die Erfassung aller wirksamen unabhängigen Variablen ist nicht möglich. Es bedarf jeweils auch qualitativer Verfahren, um solche im Vorwissen und bei der Konzeption von Evaluationen nicht präsenten Sachverhalte überhaupt entdecken zu können“ (Kuckarzt u.a. 2007, 12).
Der qualitative Evaluationsprozess ist damit als zirkulär zu verstehen. Im Gegensatz zu einer summativen Evaluation, bei der am Anfang Evaluationsziele und entsprechende Indikatoren festgelegt werden und am Ende der Evaluation sozusagen „summa summarum“ überprüft wird, welche Ziele umgesetzt werden konnten, ermöglicht es ein qualitatives Evaluationsdesign, sowohl Ziele als auch Indikatoren zu verändern und damit formend auf den Evaluationsprozess einzuwirken. Weiterhin steht die Konzentration auf die Perspektive der Betroffenen, d.h. die Fokussierung auf deren individuelle Erlebnis- und Erfahrungsweisen, für eine fallspezifische Orientierung an den jeweils konkreten Bedürfnissen und Bedarfen. Die hierfür relevanten Wirkungen Persönlicher Budgets können sich – wie gezeigt wurde – durchaus von den durch die Evaluatoren formulierten „Ziele“ unterscheiden. „Wirkungen“ können daher immer unter dem Blickwinkel vorab definierter
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
Zieldimensionen sowie unter dem Blickwinkel der Nutzer/innen „gemessen“ werden. Versteht man die Nutzer/innen als „kompetente“ Subjekte sind die Evaluationsergebnisse letztendlich davon abhängig, welche Wirkungen in der Wahrnehmung und Bewertung der Nutzer/innen relevant sind. Diese Forschungsperspektive entspringt dabei dem Bedürfnis, möglichst nahe am Ort des Geschehens, d.h. an der Lebenswelt der Nutzer/innen zu sein. Eine solche Hinwendung zum Subjekt führt dann zwangsläufig zu qualitativen Forschungsverfahren in der Evaluation: „Qualitativen Methoden schreibt man üblicherweise eine größere Offenheit und eine Berücksichtigung der Perspektive der Beteiligten zu“ (ebd., 11).
Letztendlich sind diese Überlegungen auch bezüglich des gesellschaftlichen Nutzens von Evaluationen und der Deutung von entsprechenden Wirkungsnachweisen relevant, schließlich werden entsprechende Bewertungen meist nur auf Basis der von „Experten“ konstruierten Indikatoren durchgeführt, nicht aber auf Basis der von den betreffenden Personen selbst formulierten Erwartungen. Möglicherweise ist diese „Schwäche“ professionalisierter Evaluation auch für andere Bereiche anschlussfähig und sollte entsprechend reflektiert werden. Das Verständnis von Wirkungen erfordert immer auch ein Verständnis des „Falls“ Ebenso bedeutsam für die hier relevanten Überlegungen ist letztendlich auch die Frage, welche Forschungsmethodik jene geforderte Ausrichtung an den individuellen Zielen und Motiven der Budgetnehmer/innen ermöglicht, um dadurch die Wirkungen des Persönlichen Budgets adäquat abschätzen zu können. Wenn davon auszugehen ist, dass die Nutzung Persönlicher Budgets immer in einen spezifischen Lebenskontext eingebettet ist, muss dieser Lebenskontext erschlossen und verstanden werden. Daher könnte in Zukunft eine Neuausrichtung an fallrekonstruktiven Verfahren bedeutsam werden, etwa wie die von Kastl entwickelte „soziobiografische Perspektive“ (vgl. Kastl 2009). Anhand einer detaillierten Auseinandersetzung mit der Biografie und den Lebensressourcen eines einzelnen Budgetnehmers zeigt Kastl eindrücklich, welche Bedeutung das Persönliche Budget im Leben dieses Mannes einnimmt und welche Wirkungen es entfalten kann (vgl. ebd., 236ff.). Datengrundlage dieser Einzelfallanalyse sind mehrere qualitative Interviews, die im Rahmen des badenwürttembergischen Modellprojekts zur Einführung Persönlicher Budgets (vgl. Kapitel 4.2.2) mit dem Budgetnehmer, seinen Eltern und seinem Bruder (ebenfalls ein Budgetnehmer) durchgeführt wurden. Die Fallcharakteristik wird dabei anhand von biografischen und milieuspezifischen Daten aufgearbeitet. Kastl verdichtet hierzu Informationen zum Lebenslauf, Angaben über soziale Ressourcen sowie Einschätzungen zur Lebenseinstellung und Lebensführung des Budgetnehmers.
9.2 Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung
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Die von Kastl so bezeichnete „soziobiografische Perspektive“ stellt das Zusammenführen dieser vier Datenstränge mit dem Ziel einer ganzheitlichen Falldeutung dar: Zunächst erfolgt eine Rekonstruktion des Lebenslaufs von „Hannes Kühn“ (so nennt Kastl den Budgetnehmer) auf Basis von subjektiven Rekonstruktionen des Budgetnehmers und den Erzählungen der Eltern bzw. des Bruders. Zusätzlich werden aber auch die sogenannten „Lebensressourcen“ (soziale Beziehungen, Bildung, Kenntnisse, Fertigkeiten, ökonomisches Kapital) rekapituliert, mit dem Ziel, vorhandene bzw. fehlende Ressourcen identifizieren zu können. Als dritte Säule der Falldeutung dienen Informationen zur Lebenseinstellung, die sich in der Haltung zum eigenen Leben und in dem Selbstbild des Budgetnehmers ausdrückt. Zuletzt werden noch Einschätzungen zur Lebensführung und -planung des Budgetnehmers in die Fallrekonstruktion integriert (vgl. ebd., 70ff.; zu den methodologischen Überlegungen siehe S. 52ff. sowie 74ff.). Auf Basis der inhaltlichen Verschränkung dieser vier Datenstränge werden die Motive der Budgetbeantragung und die Art und Weise der Budgetverwendung im Hinblick auf die lebensgeschichtlich bedingten Erwartungen und sozialen Ressourcen überaus verständlich. Besonders interessant ist die Falldarstellung allerdings im Hinblick auf eine wirkungsorientierte Betrachtung des Persönlichen Budgets. Dabei wird ein verblüffendes Ergebnis herausgearbeitet: Während die Wirkung des Persönlichen Budgets im Falle von Hannes Kühn als positiv beschrieben wird, scheint das Persönliche Budget bei seinem Bruder eher kontraproduktiv zu „wirken“. Aufgrund der detaillierten Ausdeutung biografischer, milieuspezifischer und ressourcenrelevanter Informationen wird die Erklärung deutlich: Hannes Kühn „nutzt aufgrund einer anderen Lebenseinstellung (aber auch aufgrund anderer Ressourcen) das Persönliche Budget auf völlig andere Weise als sein Bruder“ (ebd., 79). Hannes Kühn verwendet einen Teil des Persönlichen Budgets für Unterstützung im Haushalt (die von seiner Mutter erbracht wird), mit dem anderen Teil finanziert er vielfältige Aktivitäten und Sachmittel (z.B. den Mitgliedsbeitrag für einen Karateverein, einen Ölmalkurs, Gitarrenunterricht sowie ein Fahrrad). Dabei sind die letztgenannten Ausgaben vor allem dazu da, seine Erkrankungsfolgen zu kompensieren. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets gelingt es ihm, seinen vielfältigen Interessen nachzugehen, soziale Kontakte zu knüpfen und in gesellschaftlich relevanten Bereichen teilnehmen zu können. Sein Bruder hingegen wird eher als phlegmatisch und antriebslos beschrieben und in der Deutung von Kastl stellt das Persönliche Budget keine Hilfe dar. Das Verständnis zweier völlig entgegengesetzter Wirkungen gelingt letztendlich nur aufgrund der detaillierten Analyse der soziobiografischen Daten:
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
„Dieses völlig andere Bild der Wirkung eines Persönlichen Budgets in ein und derselben Familie, bei einer zumindest in den formalen Aspekten ganz ähnlichen Budgetnutzung zeigt nicht nur, wie wichtig eine subtile und individuelle Betrachtung der möglichen Funktionen eines Persönlichen Budgets bereits bei der Entscheidung über seinen Einsatz ist. Es zeigt generell, wie sehr Rehabilitation und die Frage ihres möglichen Erfolgs oder Scheiterns mit dem verknüpft ist, was ich in diesem Buch die soziobiografische Perspektive eines Menschen genannt habe“ (ebd., 255).
9.2.3 Überlegungen zu einer Neuorientierung in der Qualitätssicherung – Ein Plädoyer für Nutzerorientierung und Ausrichtung an dem Konzept der Lebensqualität Wie sich gezeigt hat, lassen sich vielfältige Forderungen in Bezug auf die Formulierung und Überprüfung von Evaluationszielen ableiten. Diese Forderungen haben jedoch nicht nur Gültigkeit für die inhaltliche Ausrichtung von wissenschaftlichen Begleitforschungs- und Evaluationsvorhaben, sondern gleichsam auch für die Qualitätssicherung und Nutzerorientierung im Bereich der Behindertenhilfe. Wie die Budgetnehmer/innen und ihr soziales Umfeld durch die Möglichkeiten des Persönlichen Budgets ein verändertes Bewusstsein entwickeln müssen, ist es auch für die Leistungserbringer und -träger notwendig, klassische Wege der Evaluation und Qualitätssicherung zu überdenken. Qualitätssicherung hat sich bisher an den Vorgaben der Leistungsträger oder an den von den Leistungserbringern selbstgesteckten Zielen orientiert und die Indikatoren der Evaluation von Maßnahmen, Angeboten und Einrichtungen werden bislang auf Basis übergreifend vereinbarter „Qualitätsstandards“ konstruiert. An solchen Maßstäben für Qualität und an der Auswahl und Gestaltung der Indikatoren für eine Evaluation sind allerdings Menschen mit Behinderung in der Regel selbst nicht beteiligt. Die Einführung Persönlicher Budgets macht allerdings ein Umdenken erforderlich, denn Menschen mit Behinderung definieren nun selbst, was unter Qualität zu verstehen ist. Die Machtverschiebung zugunsten der Leistungsempfänger erfordert eine stärkere Orientierung an der Zufriedenheit der Nutzer/innen als bisher In dem Maße, wie Qualität zunehmend durch die Machtsstellung der Budgetnehmer/innen zumindest mit definiert wird, sind auch herkömmliche Evaluationsstandards zu überdenken. Nach Klie (2009, 13) lässt sich Qualitätssicherung seit der Einführung Persönlicher Budgets nicht mehr allein auf Basis von aus der Betriebswirtschaft entlehnten Strategien und Instrumenten entwickeln, „sondern eben auch durch eine Stärkung der Kundenrolle“.
9.2 Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung
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Weil mit der Einführung Persönlicher Budgets die Definitionsmacht für „Qualität“ mehr und mehr auf die Leistungsempfänger/innen übergeht, dürfte „für die sozialen Dienste auch das Erfordernis einer nutzerorientierten Angebotsund Qualitätsentwicklung steigen“ (Schäfers 2008, 77). Grundlage für die Qualitätsbestimmung sind dann nicht mehr allein rechtliche Leitlinien (wie etwa die Qualitätsstandards das Leistungserbringerrechts) oder von „Experten“ generierte Indikatoren, sondern zunehmend auch die Wünsche und Erwartungen der Budgetnutzer/innen, weil mit dem Persönlichen Budget sowohl die Definition von Qualität als auch die Bewertung der erbrachten Leistung direkt durch die Budgetnehmer/innen erfolgt. Qualität sollte sich dann nicht mehr ausschließlich an abstrakten Struktur- oder Prozessmerkmalen orientieren, sondern an der konkreten „Zufriedenheit“ der Budgetnehmer/innen. Qualität wird dann letztendlich auf Basis der „Kaufentscheidungen“ der Budgetnehmer/innen gemessen (vgl. dazu auch Schmidt 2007; Hansen 2008; Dobslaw 2007). Die Nutzung eines Persönlichen Budgets ermöglicht es insgesamt, dass erbrachte Leistungen direkt bewertet werden können, und zwar mit den Kriterien, die den Budgetnehmer/innen wichtig erscheinen. Diese Kriterien müssen nicht unbedingt identisch sein mit den theoretisch entwickelten Indikatoren professioneller Evaluatoren, denn wie die vorhergehende empirische Untersuchung gezeigt hat, entsprechen die individuellen Motive der Budgetbeantragung nicht unmittelbar den theoretisch formulierten Erwartungen. Schäfers (2008, 77) vermutet dabei, dass Leistungen insbesondere danach beurteilt werden, „inwiefern sie sich für die eigene Lebensführung als geeignet und förderlich erweisen und Ressourcen darstellen, um die Aufgaben des Alltags angemessen zu bewältigen“. Geeignet und notwendig für die Planung und Qualitätssicherung von Angeboten und Dienstleistungen könnten daher in Zukunft vor allem Nutzerbefragungen sein, wie sie auch seit längerem für den Bereich der Behindertenhilfe gefordert werden (vgl. beispielsweise Doherr u.a. 2003, Gromann 1996, Gromann, Niehoff-Dittmann 2003, Seifert 2001, 2006). Nutzerbefragungen im Bereich sozialer Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe zielen im Wesentlichen darauf ab, die Qualität der Angebote neben fachlichen und objektivierbaren Standards auch daran zu messen, „welche Ziele und Dienstleistungen Betroffene selbst gewünscht haben und wie sie die Art der Betreuung, Begleitung oder Pflege beurteilen“ (Gromann 1996, 213). Insgesamt sind bei der Einschätzung der Qualität von Unterstützungsleistungen daher „nicht allein die objektiven Bedingungen zu betrachten. Ein zentraler Indikator ist die subjektive Zufriedenheit der Nutzer/innen. Denn nur die betroffene Person selbst kann sagen, wie sie ihre Lebenssituation erlebt und was sie für ein ‚gutes Leben’ braucht. (…). In diesem Kontext sind Nutzerbefragungen ein notwendiger Bestandteil von Qualitätssicherung und -entwicklung (Seifert 2006, 14).
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Eine nutzerorientierte Qualitätssicherung erfordert den Einbezug von objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden Erfolg versprechend für eine nutzerorientierte Qualitätssicherung im Kontext der Einführung Persönlicher Budgets könnte insbesondere das Konzept der „Lebensqualität“ sein, „weil das Konzept eine adäquate Bestimmungs- und Orientierungsgröße zur personenbezogenen Planung und Gestaltung von Unterstützung bietet, in denen die subjektive Nutzerperspektive handlungsleitend ist und nicht institutionelle und organisatorische Interessen und Bezugsgrößen im Vordergrund stehen“ (Schäfers 2008, 78). Der Begriff der Lebensqualität ist mit der klassischen Wohlfahrtsforschung aus den 60er und 70er Jahren verknüpft, im Rahmen derer aber zunächst nur die „objektiven“ Lebensbedingungen im Vordergrund standen (vgl. ebd., 27ff.). Ein aktuelles Verständnis von Lebensqualität zielt jedoch auf die Wechselwirkung zwischen Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden ab. Lebensqualität kann daher definiert als „Konstellation der objektiven Lebensbedingungen (Einkommen, Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, Familienbeziehungen und soziale Kontakte, Gesundheit, soziale und politische Beteiligung) und der Komponenten des subjektiven Wohlbefindens. Subjektives Wohlbefinden ist das Ergebnis der Einschätzung der spezifischen Lebensbedingungen und des Lebens im Allgemeinen durch die Betroffenen“ (Seifert 2001, 84).
In Bezug auf eine stärkere Nutzerorientierung kann das Konzept der Lebensqualität hilfreich sein, die Qualität von Angeboten und Dienstleistungen an dem Zusammenspiel „objektiver“ Lebensbedingungen und „subjektiver“ Zufriedenheit auszurichten. Lebensqualität wird von Menschen mit Behinderung einerseits erfahren, „indem im Austausch mit der Umwelt Grundbedürfnisse befriedigt und weitergehende Ziele und Wünsche in wichtigen Lebensbereichen verwirklicht werden können“ (Beck 1992, 26), andererseits aber auch im Hinblick auf die „wahrgenommene“ und „eingeschätzte“ Zufriedenheit mit den Angeboten. So ist die Qualität einer Dienstleistung nicht nur „objektiv und wissenschaftlich zu ermitteln und festzulegen – die subjektive, vom Nutzer wahrgenommene und geschätzte Qualität stellt einen wichtigen Faktor dar“ (Hartmann 2001, 91). Zu den für Evaluationen und Qualitätssicherung benötigten Informationen gehören also sowohl objektive Lebensbedingungen als auch die subjektive Lebenszufriedenheit. Beides ist unterschiedlich zu erfassen: „Die objektive Einsachätzung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung orientiert sich an den Leitideen der Behindertenhilfe. Gradmesser der subjektiven Einschätzung ist die persönliche Zufriedenheit unter den gegeben Bedingungen“ (Seifert 2001, 89).
9.2 Schlussfolgerungen für eine wirkungsorientierte Betrachtung
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Entsprechend können objektive Qualitätsmerkmale eines Angebots oder einer Dienstleistung anhand der üblichen „Leitlinien“ gemessen werden, da sie „auf Standards der Behindertenhilfe [basieren], die sich an den Leitideen Normalisierung, soziale Integration, Partizipation, Selbstbestimmung und Empowerment orientieren. Sie beziehen sich auf objektiv feststellbare personale, strukturelle und institutionelle Aspekte“ (ebd., 111). Die „subjektive“ Komponente, die sich in der Zufriedenheit der Nutzer/innen sozialer Einrichtungen und Dienste manifestiert, wird u.a. „bestimmt durch deren Wünsche, Vorstellungen, Erwartungen an den Dienst“ (Doherr u.a. 2003, 12). Eine Orientierung an dem Konzept der Lebensqualität ermöglicht es letztendlich auch, dem bio-psycho-sozialen Behinderungsmodell der ICF gerecht zu werden, weil sowohl die in diesem Modell bedeutsamen objektiven Lebensbedingungen als auch die subjektive Zufriedenheit in den Blick genommen werden können. Objektive Lebensbedingungen können beispielsweise in Anlehnung an die von der ICF vorgeschlagene Vorstellungen einer funktionalen Gesundheit gemessen werden (siehe dazu Kapitel 2.3.2). Dabei spielen die Möglichkeiten der Aktivität genauso eine Rolle wie soziale Beziehungen und Teilhabechancen. Zur Messung von Lebenszufriedenheit als Teil der Lebensqualität lassen sich in der Literatur vielfältige Kriterien finden (vgl. beispielsweise Schäfers 2008, 37ff.). In Anlehnung an Schalock (1996, 2002) können die relevanten Indikatoren zur Messung von Lebensqualität insgesamt zu acht „Dimensionen“ zusammengefasst werden (vgl. dazu Seifert u.a. 2001, 85; Seifert 2006, 17; Schäfers 2008, 35, Wacker 2005, 16):
emotionales Wohlbefinden, körperliches Wohlbefinden, materielles Wohlbefinden, Bedürfnis nach persönlicher Entwicklung, Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen, soziale Inklusion, Selbstbestimmung, Rechte.
Die subjektive Einschätzung der persönlichen Zufriedenheit ist aber letztendlich auch abhängig von „persönlichen Werten und Zielen“ also personengebundenen Faktoren (vgl. dazu Seifert 2001, 112). Dieser Aspekt untermauert wiederum die Bedeutung einer „soziobiografischen Perspektive“, wie sie bereits oben beschrieben wurde. Folgende Faktoren können hiernach in die Analyse mit einbezogen werden:
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
Biografische Faktoren Kulturelle Faktoren (z.B. Migrationshintergrund) Krankheits- oder behinderungsbedingte Aspekte Alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede
Die unterschiedlichen Hintergründe der Budgetbeantragung sowie die Definitionsmacht der Budgetnehmenden erfordern insgesamt neue Wege in der Betrachtung von Wirkungen und Qualität. Entsprechend erscheint ein Perspektivenwechsel in Evaluation und Qualitätssicherung notwendig. Es gilt, die Perspektiven der Leistungsempfänger/innen stärker als bisher in die Wirkungsbetrachtung mit einzubeziehen. Dabei könnte sich das Konstrukt der „Lebensqualität“ besonders eignen, weil es „eine mehrdimensionale, lebensweltlich begründete Operationalisierungsmöglichkeit der Wirkungen normalisierter Unterstützungsleistungen darstellt, die Partizipation der behinderten Menschen fordert und eine Orientierung an den sozialen Folgen individueller Beeinträchtigungen und an der Lebensführung insgesamt impliziert“ (Beck 2001, 339f.).
9.3 Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung – Überlegungen zur Gestaltung und Bewilligung Persönlicher Budgets 9.3 Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung Die auf Basis der empirischen Analyse gewonnenen Erkenntnisse zu den charakteristischen Merkmalen verschiedener Typen von Budgetnutzer/innen können gleichermaßen auch im Hinblick auf die praktische Umsetzung zukünftiger Budgetanträge genutzt werden. Beispielsweise könnten die vorliegenden Erkenntnisse den budgetbewilligenden Leistungsträgern als Grundlage dienen, entsprechende Instrumente zu entwickeln, mit denen die jeweiligen Motivlagen und Erwartungen der Antragsteller/innen erfasst und berücksichtigt werden. Die in dieser Arbeit herausgearbeiteten Kategorien und entsprechenden Ausprägungen sowie die Wechselwirkung zwischen diesen Kategorien würden sich hierbei durchaus als Fragenkatalog eignen. Solche Instrumente könnten wiederum als Orientierungs- und Entscheidungshilfe bei der Bemessung und Ausgestaltung der beantragten Persönlichen Budgets fungieren. Letztendlich würde es insbesondere den Entscheidungsträgern in den entsprechenden Institutionen ermöglichen, die Gestaltung der Persönlichen Budgets näher an den Bedürfnissen der Antragsteller/innen auszurichten. Dies gilt einerseits im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele und die daraus resultierende Zweckbindung des Budgets, aber vor allem auch bezüglich der Regelungen zu Budgetanpassungen, zu den Verwendungsmöglichkeiten sowie zu den zu erbringenden Nachweisen. Ein solches Instrumentarium würde nicht nur den Anspruch
9.3 Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung
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an eine individuelle Ausgestaltung Persönlicher Budgets, sondern gleichzeitig auch den Aspekt der Nutzerorientierung ernst nehmen. Das Wissen um unterschiedliche Schwerpunkte bei den Motiven zur Budgetbeantragung kann also insgesamt dazu verhelfen, dem Anspruch auf Individualisierung der Hilfen zielgruppengerecht nachzukommen. Das bedeutet auch, Flexibilitätsspielräume dort zuzulassen, wo sie in der Wahrnehmung der Budgetnehmer/innen benötigt und gewünscht werden. Auch wenn letztendlich entsprechende Instrumente von den jeweiligen Rehabilitationsträgern erst noch zu entwickeln sind, lassen sich dennoch einige Empfehlungen auf Basis der vorliegenden Datenlage zusammenfassen.
9.3.1 Planungssicherheit und Stabilität gewährleisten – Vermeidung von rigiden Budgetanpassungen In den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ sind einige Budgets dokumentiert, bei denen die Budgethöhe während der Modellerprobung verändert wurde. Hintergrund dieser Budgetanpassungen war zumeist eine erneute Bedarfsermittlung im Zuge einer anstehenden Weiterbewilligung. Insgesamt 10% aller dokumentierten Persönlichen Budgets wurden demnach angepasst, allerdings in den meisten Fällen in Form einer einmaligen Veränderung. Dennoch gab es auch Budgets, bei denen die Budgethöhe mehrmals verändert wurde, in einzelnen Fällen sogar während der bewilligten Laufzeit (vgl. dazu Metzler u.a. 2007, 106ff.). Diese Praxis muss im Hinblick auf die Planungs- und Sicherheitsbedürfnisse mancher Budgetnehmer/innen überdacht werden. Zwar entspricht eine solche Anpassung der Budgethöhe an den jeweils aktuellen Unterstützungsbedarf eines Leistungsberechtigten der Grundidee einer „individuellen Bedarfsermittlung“, allerdings trägt jede Anpassung auch wiederum zu Verunsicherung bei, bis hin zu der Angst, das Budget könne nicht ausreichen. Betrachtet man die verschiedenen Motive und Erwartungen der im Rahmen der empirischen Analyse konstruierten Typen, könnten sich solche individuell angepassten Budgethöhen in einigen Fällen eher nachteilig auswirken. Entsprechend sind gleichbleibende oder auch pauschal bemessene Budgethöhen in diesen Fällen durchaus sinnvoller. Diese Überlegung spielt insbesondere im Hinblick auf den ersten Typus eine wichtige Rolle. „Sicherheit“ – verstanden als Planungs- und Versorgungssicherheit – ist insbesondere dort zu gewährleisten, wo der Wunsch nach einer selbstständigen Lebensführung mit dem Wunsch nach einer regelmäßigen Unterstützung kombiniert wird. Eine häufige Budgetanpassung oder gar -kürzung würde sich bei diesem Typus eher kontraproduktiv auswirken und ist unbedingt
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zu vermeiden. Stabilität sollte im Vordergrund stehen und auch so kommuniziert werden (z.B. in Form von verlässlichen Geldmitteln und längerfristigen Zielvereinbarungen bzw. Laufzeiten). Ein zu häufiges Überprüfen des Unterstützungsbedarfs oder der Budgetverwendung würde hingegen eher eine abschreckende oder verunsichernde Wirkung nach sich ziehen. Im Kontext einer solchen Überprüfungspraxis hätten selbst Budgetanpassungen nach „oben“ – sofern sie nicht einer Vermeidung von akuter Unterversorgung dienen – eine falsche Signalwirkung, denn die Budgetnutzer/innen könnten dann annehmen, dass das Budget auch jederzeit wieder gekürzt werden kann. Gleiches gilt auch für den zweiten Typus. Da insbesondere disponible Geldbeträge zu einem Gelingen individueller Lösungen beitragen, sind Budgetanpassungen nicht nur ein völlig falsches Signal, sondern vor allem auch eine Beschneidung der individuellen Lösungswege. Dem Charakter solcher disponibler (Teil-) Budgets entsprechen vor allem pauschale Geldbeträge, weil diese am ehesten die benötigten Spielräume zulassen. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf die anderen beiden Typen vermuten, wenn auch die Nachteile solcher Budgetanpassungen weniger abschreckend oder verunsichernd wirken könnten. Schließlich entsprechen die Intentionen der Budgetbeantragung sowie die Formen der Budgetverwendung in diesen Fällen oftmals einer individuellen Ausrichtung an einem sich wandelnden Unterstützungsbedarf, so dass Budgetanpassungen eine mehr oder weniger erwartbare Konsequenz darstellen. Zu denken ist vor allem an einen ausdrücklichen Wunsch nach Flexibilität, Eigenverantwortung und Regiekompetenz, der dem dritten Typus zueigen ist. In Bezug auf den vierten Typus kann hingegen angenommen werden, dass eine spezifische Einzelförderung immer auch mit einer Überprüfung und Anpassung der bewilligten Geldleistungen einhergeht.
9.3.2 Beratung und Unterstützung in die Budgetgestaltung einbeziehen – Budgetassistenz als elementarer Bestandteil des Persönlichen Budgets Bei der Gestaltung Persönlicher Budgets spielt letztendlich eine entscheidende Rolle, inwiefern bei der Budgetbemessung kontinuierliche Beratung und Unterstützung im Umgang mit dem Budget berücksichtigt werden, schließlich kann die Nutzung eines Persönlichen Budgets auch einen neuen Unterstützungsbedarf nach sich ziehen (vgl. beispielsweise Kapitel 9.3.4). Wenn das Persönliche Budget nach § 17 Abs. 3 Satz 3 SGB IX so zu bemessen ist, dass es den „individuell festgestellten Bedarf“ deckt und auch eine „erforderliche Beratung und Unterstützung“ erfolgen kann, muss dieser Beratungsbedarf ebenfalls mit in die Bemessung einbezogen werden (vgl. dazu Lachwitz 2009, 76).
9.3 Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung
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Dabei zeigt die Sichtung der vielfältigen Erfahrungen im In- und Ausland, dass die Budgetassistenz eine wesentliche Vorrausetzung für die (weitere) Umsetzung Persönlicher Budgets darstellt: Einerseits spielt sie eine wichtige Rolle, damit es überhaupt zu einer Nachfrage nach Persönlichen Budgets kommt,159 andererseits ermöglicht Budgetassistenz, dass auch Personen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten für ein Persönliches Budget gewonnen werden können.160 Analog der Unterscheidung zwischen „Beratung“ und „Unterstützung“ (vgl. BAR 2009, 50) ist Budgetassistenz auf zwei Ebenen notwendig: Unterstützungsbedarf besteht beispielsweise während der Budgetnutzung, Beratungsbedarf spielt hingegen im Vorfeld einer Budgetbeantragung eine wichtige Rolle. Die Bedeutung der Budgetassistenz sei daher auf beiden Ebenen kurz dargestellt:
Vor bzw. im Zuge der Budgetbeantragung ist es unerlässlich, dass eine Beratung und Hilfestellung erfolgt. Dabei geht es nicht nur um das Antragsverfahren und die Antragsvoraussetzungen, sondern auch um die Idee des Persönlichen Budgets sowie um die Vor- und Nachteile einer Budgetnutzung. Insbesondere Menschen mit erhöhtem Hilfebedarf muss verdeutlicht werden, worin sich das Persönliche Budget von der herkömmlichen Sachleistung unterscheidet. Dies ist auch von daher wichtig, weil Menschen mit Behinderung bisher keinen Einblick in die finanziellen Modalitäten ihrer Unterstützung gewinnen konnten und diese Form der Organisation von Unterstützung für die meisten Budgetinteressent/innen Neuland darstellen dürfte. Es sollten also antragsrelevante als auch budgetspezifische Fragen thematisiert werden. Später, d.h. nach der Bewilligung, besteht vor allem Bedarf an Unterstützung im Umgang mit dem Persönlichen Budget. Hierbei spielen die bereits genannten Themen Budgetverwendung und -verwaltung, Organisation der Unterstützung, Abrechung usw. eine zentrale Rolle. Insbesondere verwaltungsrelevante Aufgaben dürfen nicht unterschätzt werden und im speziellen Fall eines Arbeitgebermodells kommen arbeitgeberrelevante Pflichten
159 Wansing u.a. verweisen eindringlich auf internationale Erfahrungen, die gezeigt haben, „dass eine umfassende und unabhängige Information und Unterstützung von Budgetnehmerinnen und -nehmern unverzichtbar (…) für den Erfolg dieser Leistungsform [ist]“ (Wansing u.a. 2004, 332). 160 Zur Bedeutung einer Budgetassistenz für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen lohnt ebenfalls ein Blick ins europäische Ausland: „Gerade die Erfahrungen in den Niederlanden und Großbritannien zeigen, wie wichtig es ist, das Angebot einer unabhängigen Beratung zur Verfügung zu stellen, um Zugangshürden abzubauen. Gleichzeitig soll durch ein angemessenes Beratungsangebot verhindert werden, dass durch persönliche Budgets eine soziale Trennung innerhalb der sozialen Gruppe von Menschen mit Behinderung vorgenommen wird in Menschen, die selbstständig in der Lage sind, über persönliche Budgets zu verfügen, und Menschen, die hierzu (anfangs oder dauerhaft) Unterstützung brauchen und mangels Angebot von der Inanspruchnahme ausgeschlossen werden“ (Diemer 2002, 400).
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mit hinzu (z.B. Sozialversicherungspflicht und Lohnnebenkosten sowie Abrechnungswesen und Personalverwaltung). Weiterhin ist nicht selten eine Unterstützung beim Finden geeigneter Leistungserbringer sowie in der Vertragsgestaltung notwendig. Die Aufgaben einer Budgetassistenz reichen daher von „der grundlegenden Information über die Vor- und Nachteile eines Persönlichen Budgets über die Vermittlung von Dienstleistungen, sozialrechtliche und juristische Beratung, Unterstützung bei der Auswahl, Anstellung und Entlassung von Personal sowie bei der Gestaltung und dem Abschluss von Verträgen bis hin zur Unterstützung in Krisensituationen“ (Wansing u.a. 2004, 332). Diskutiert wird letztendlich, wo und durch wen diese Budgetassistenz erfolgen soll. Eine Beratung im Vorfeld der Budgetbeantragung ist zwar gesetzlich abgedeckt (etwa durch die gemeinsamen Servicestellen oder durch die Sozialhilfeträger). Unklar ist jedoch die Unterstützung im Nachgang zur Budgetbewilligung. Von Seiten der Leistungsträger wird hierzu betont, die Unterstützung bei der Budgetverwendung könne (unentgeltlich) durch familiäre und/oder freundschaftliche Netzwerke, durch Leistungsanbieter oder im Rahmen der gesetzlichen Betreuung erfolgen (vgl. etwa Lachwitz 2007, 18; Metzler u.a. 2007, 14). Abgesehen von einer fragwürdigen Verlagerung der Problematik auf lebensweltliche Ressourcen, die nicht weiter „belastet“ werden sollten, impliziert dieser Vorschlag ein weiteres Problem: Was ist mit denjenigen Budgetnehmer/innen, die nicht über ein solches Netzwerk verfügen oder bei denen das soziale Umfeld nicht im Interesse des Budgetnehmenden handelt? Möglicherweise würde eine solche Situation dazu beitragen, dass ein Persönliches Budget nicht weiter genutzt oder gar nicht erst beantragt wird (vgl. Metzler u.a. 2007, 174). Eine sich daraus ergebende Forderung ist also, dass formelle und ggf. professionelle Beratungs- und Unterstützungsorgane für bestimmte Personengruppen zur Verfügung zu stellen sind, insbesondere wenn es um Menschen mit fehlenden oder eingeschränkten sozialen Netzwerken geht. Zudem wird empfohlen, dass diese Budgetassistenz unabhängig und weder bei einem Leistungsträger noch bei dem Leistungsanbieter angesiedelt sein sollte (vgl. Wansing u.a. 2004, 332f.). Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem an Budgetnehmer/innen des ersten Typus, weil es sich hierbei oftmals um Menschen handelt, die mit Hilfe des Persönlichen Budgets aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe ausziehen möchten und (noch) nicht über ein funktionierendes soziales Netzwerk verfügen. Oftmals müssen diese sozialen Netzwerke erst einmal aufgebaut werden. Budgetassistenz könnte insbesondere bei dieser Personengruppe eine wichtige Voraussetzung für die Budgetbeantragung und -nutzung darstellen, weil es darum geht, Verselbstständigung mit Sicherheit zu kombinieren. Ent-
9.3 Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung
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sprechende Sicherheitsbedürfnisse könnten dann auch hinsichtlich der Beratung und Unterstützung bestehen. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll, eine solche Beratung und Unterstützung zu gewährleisten, indem sie bei der Budgetgestaltung und -bemessung berücksichtigt wird. Zu denken ist aber auch an Budgetnehmer/innen des dritten Typus, bei denen es eher um Fragen der Sozialversicherungspflicht, der Lohnbuchhaltung und Personalverwaltung geht. Wie die empirische Analyse gezeigt hat, finanzieren diese Budgetnehmer/innen nicht selten sogenannte budgetbezogene Dienstleistungen aus dem Persönlichen Budget. Aus diesem Grunde sind entsprechende Kosten im Budget zu berücksichtigen und mit einzukalkulieren. Alles in allem wird die Budgetassistenz auch weiterhin eine wichtige Komponente bei der Nachfrage und Umsetzung von Persönlichen Budgets sein. Um es mit einem Satz von Jähnert auszudrücken: “Ohne Budgetassistenz werden [auch in Zukunft; T.M.] nur wenige Menschen mit Behinderung den Zugang zum Persönlichen Budget finden“ (Jähnert 2005, 33). Dies bestätigen letztendlich auch die Schlussfolgerungen und Überlegungen der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (vgl. Metzler 2007 u.a., 173ff. sowie 240ff.). 9.3.3 Individuelle Wege unterstützen – eigene Ideen zulassen und Zweckbindungen umgehen In den diskutierten Beispielen wird deutlich, dass budgetierte Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung nicht nach einem bestimmten Muster „gestrickt“ werden können. Je nach Bedarf und Interessen der Budgetnehmer/innen kann in einem Fall eine bestimmte Form der Budgetnutzung äußerst produktiv sein, in einem anderen Fall würde sie aber möglicherweise überhaupt nicht „passen“. Kastl (2009, 72) verweist hierbei auf ein Beispiel von zwei Brüdern, die beide ein Persönliches Budget erhalten. Während der eine sich mit Hilfe des Persönlichen Budgets mit fernöstlicher Philosophie, Musik und Fahrradfahren beschäftigt, würden diese Aktivitäten bei dem anderen zu keiner Verbesserung seiner Lebenssituation beitragen, weil sie nicht seinem „Habitus“ entsprechen (siehe auch Kapitel 9.2.2). Aus diesem Grunde trägt das Persönliche Budgets auch nicht automatisch zu einer Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderung bei, sondern nur dann, wenn die Budgetnutzung den individuellen Bedürfnissen und Interessen des Budgetnehmenden entspricht. Die Wirkung eines Persönlichen Budgets entfaltet sich demnach erst „in Abhängigkeit von den Bedingungen [der] Ausgestaltung (…). Eine Budget-Standardlösung für alle wird dabei weder möglich noch sinnvoll sein“ (Schäfers 2006, 79).
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9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
Insbesondere Budgetnehmer/innen des zweiten Typus suchen dabei nach individuellen Lösungen und das Persönliche Budget ist der Weg dazu. Im Gegensatz zu den anderen Typen geht es diesen Budgetnehmer/innen vor allem um den Charakter der Wandelbarkeit. Aus diesem Grunde sollte die Budgetverwendung weitestgehend offen gelassen werden. Die Gestaltung der Unterstützung muss als dynamischer Prozess verstanden werden, der nur begrenzt planbar ist und bei dem es wichtig ist, sich nicht gegenüber neuen Ideen und veränderten Bedürfnisse der Leistungsberechtigten zu sperren. Bei der Budgetgestaltung müssen sich alle Beteiligten auf die Situation der Budgetnehmer/innen einlassen und auch nach kurz- bis mittelfristigen Lösungen suchen. Zwar sind Absprachen und Verbindlichkeiten herzustellen, diese müssen aber auch korrigiert werden können, wenn sich Interessen oder Bedürfnisse ändern. Mehr oder weniger spontane Veränderungen der eingekauften Leistungen sind in Maßen zu tolerieren. Dabei sollte es den Budgetnehmer/innen in einem gesetzten aber dehnbaren Rahmen stets ermöglicht werden, „eigene Ideen“ von Unterstützung zu entwickeln und umzusetzen, auch wenn diese (zunächst) seltsam oder ungewöhnlich erscheinen. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, dass das Budget auch für Formen von Unterstützung außerhalb der traditionellen Strukturen der Behindertenhilfe eingesetzt werden kann. Vor allem disponible Geldbeträge sind hierbei eine sinnvolle Ergänzung oder sogar Alternative zu einer (ambulanten) Betreuung – vorausgesetzt, diese dürfen relativ frei verwendet werden. Aus diesem Grunde sollte der Wunsch nach „individuellen Wegen“ der Teilhabe und Aktivität in der Form ernst genommen werden, dass rigide Zweckbindungen zu vermeiden oder zu lockern sind.
9.3.4 Selbstbestimmung und Unabhängigkeit fördern – Mehrbedarf und Lernfelder zulassen Die Verwirklichung von Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Regiekompetenz und Flexibilität hängt mit bestimmten Rahmenbedingungen zusammen, in die die Nutzung des Persönlichen Budgets eingebettet ist. Dabei kann Selbstbestimmung unter spezifischen Voraussetzungen selbst zu einem Unterstützungsbedarf werden. Dies trifft beispielsweise auf Budgetnehmer/innen zu, welche die Unterstützung in Form eines Arbeitgebermodells organisieren. Diesen Personen ist ein entsprechend kalkuliertes Budget zu bewilligen, da die Umsetzung des Arbeitgebermodells insbesondere von den zur Verfügung stehenden Overheadkosten abhängt. Aber auch Menschen mit kognitiv-kommunikativen Einschränkungen sind hier zu erwähnen. Diesem Personenkreis muss unbedingt eine ausreichende und bedarfsgerechte Beratung und Unterstützung zur Verfügung gestellt werden.
9.3 Schlussfolgerungen für die Praxis der Budgetnutzung
451
Ein entsprechender „Mehrbedarf“ an Budgetassistenz ist dabei bei der Bemessung des Persönlichen Budgets zu berücksichtigen (vgl. Kapitel 9.3.2). Ein wesentlicher Schlüssel zur Realisierung von Selbstbestimmung ist ferner ein verändertes Bewusstsein von Menschen mit Behinderung. Beispielsweise ist denkbar, Budgetnehmer/innen über die übliche Information und Beratung hinaus spezifische (Bildungs-) Angebote zu offerieren, in denen entsprechende Kompetenzen erworben werden können, „die für ihre neue Rolle als Konsumenten von Dienstleistungen erforderlich sind“ (Wansing u.a. 2004, 330). Dies gilt insbesondere für Menschen mit einem vergleichsweise hohen Unterstützungsbedarf. Zu dem beschriebenen Personenkreis der Budgetnutzer/innen gehören auch Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen und in diesen Fällen erfolgt die Budgetbeantragung und -verwendung meist durch oder mit Hilfe der gesetzlichen Vertreter/innen bzw. Betreuer/innen, was letztendlich auch die Frage aufwirft, wer eigentlich Budgetnehmender ist – die Leistungsberechtigten oder das soziale Umfeld. Aus diesem Grunde bleibt zu diskutieren, inwiefern bei diesen Budgetnehmer/innen überhaupt von Selbstbestimmungspotenzialen gesprochen werden kann.161 Auf Basis der empirischen Befunde muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Beantragung und Verwendung des Persönlichen Budgets in der Regel in Absprache mit den Leistungsberechtigten erfolgt. Dieser Einbezug der Leistungsberechtigten sollte auch weiterhin gesichert sein und idealtypisch stellt die Hilfe von Seiten des sozialen Umfelds eher eine stützende Säule im Umgang mit dem Persönlichen Budget dar. Fremdbestimmung lässt sich dann auch eher ausschließen. Die „Budgettauglichkeit“ eines Budgetinteressenten ist letztendlich davon abhängt, welche Unterstützungsarrangements getroffen und umgesetzt werden können und keine Frage der „Kompetenz“: „‚Budgetfähigkeit‘ ist keine Eigenschaft eines Individuums, sondern abhängig von Art und Ausmaß der erforderlichen Unterstützungsleistungen. Die Frage ist deshalb nicht, ob jemand seine Hilfe mit einem Persönlichen Budget organisieren kann oder nicht, sondern welche Bedingungen und Unterstützungsleistungen dafür notwendig sind“ (Wansing u.a. 2004, 326). 161 Die Diskussion spielt insbesondere im Projekt PerLe eine wesentliche Rolle, da es sich bei der relevanten Zielgruppe vor allem um Menschen mit geistigen Behinderungen handelt: „Die wohl am häufigsten aufgeworfene Frage ist die nach der Verantwortung. Sie trifft im Kern das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und den Grenzen, die aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung – und häufig einer Sozialisation in Fremdbestimmung – einer eigenständigen Lebensführung gesetzt sind. Wer übernimmt die Verantwortung für den Leistungserwerb mit einem Persönlichen Budget bei den Menschen, die diese aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht selbst übernehmen können?“ (Wansing u.a. 2004, 326). Letztendlich geht mit dieser Frage nach der Verantwortung über die finanziellen Mittel immer auch die Frage nach der „Budgeteignung“ bestimmter Personengruppen einher.
452
9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
Insbesondere Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen könnte beispielsweise die Möglichkeit angeboten werden, ein Persönliches Budget zunächst nur für einzelne Teilbereiche zu nutzen, in denen der Umgang mit der neu gewonnen Rolle „erprobt“ wird. Später können dann andere Teilbereiche hinzugezogen bzw. die Reichweite des Budgets ausgeweitet werden. Praktikabel wäre ein solcher „Probelauf“ insbesondere im stationären Bereich, wo Budgetinteressent/innen beispielsweise zunächst nur ein kleiner Betrag für Freizeit oder für eine Haushaltshilfe zur Verfügung gestellt wird. Mit Hilfe dieser Teilbudgets könnten die betreffenden Personen schließlich lernen, entsprechende Unterstützungspersonen selbst auszusuchen, Art und Zeitpunkt der Unterstützung selbst zu bestimmen usw. Des Weiteren kann ein anstehender Auszug vorbereitet werden, indem bereits geübt wird, wie die Unterstützung in Zukunft organisiert werden kann. Solche und ähnliche Modelle gilt es in Zukunft zu erproben.
9.3.5 Pragmatismus erkennen und akzeptieren – Sachleistungen flexibilisieren, Wunsch und Wahlrecht ernst nehmen Wie am Beispiel der Budgetnutzung des vierten Typus deutlich wurde, ist der gezeigte Pragmatismus Ausdruck mangelnder Flexibilität und Spielräume im Sachleistungsprinzip. Die Praxis der Budgetverwendung stellt in diesen Fällen eher ein Versuch dar, die benötigten Spielräume mit der Sachleistungslogik zu vereinbaren. Eine Erklärung hierfür könnte Unerfahrenheit im Umgang mit dem Persönlichen Budget oder Angst vor Versorgungsrisiken sein. Vermutlich hätten diese Personen gar kein Persönliches Budget beantragt, wenn sie die gewünschten Leistungen oder Spielräume im Kontext des Sachleistungsprinzips realisieren könnten. Der Versuch, ein Persönliches Budget umzusetzen und gleichzeitig die Sachleistungslogik aufrechtzuerhalten, stellt dabei aber einen nicht unproblematischen Spagat dar. Demnach muss überlegt werden, welche Korridore auch im Sachleistungsprinzip geöffnet werden können, damit das Persönliche Budget nicht als „Notlösung“ instrumentalisiert wird. Dies würde einerseits im Interesse der Leistungsberechtigten liegen, andererseits wäre aber auch gewährleistet, dass das Persönliche Budget seinen eigentlichen Zweck nicht verfehlt. Abschließend bleibt anzumerken: Es geht keinesfalls darum, solche Unterstützungsarrangements als „unpassend“ zu diffamieren. Wie die vielfältigen Beispiele zeigen, erfüllen auch solche Formen der Budgetverwendung in bestimmten Lebenssituationen ihren Zweck. Dennoch stellt sich die Frage, ob solche Arrangements nicht besser im Rahmen des Sachleistungsprinzips entwickelt werden sollten. Dann gilt es allerdings, flexiblere Modelle und größere Wahlmöglichkeiten auch im Sachleistungsprinzip vorzuhalten. Denn wenn solche
9.4 Zusammenfassung
453
Arrangements unter dem Titel „Persönliches Budget“ gestaltet werden, besteht die Gefahr, dass man die grundsätzliche Intention und den Kerngedanken des Persönlichen Budgets aus den Augen verliert.
9.4 Zusammenfassung Abschließend kann zusammengefasst werden, dass sich die theoretischen Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets in der praktischen Umsetzung weder global noch einheitlich zeigen; sie sind abhängig von den jeweiligen Hintergründen der Budgetbeantragung und der Art und Weise der Budgetnutzung. Dies wird in der vorliegenden Typologie durchaus deutlich. Aus diesem Grunde sollten die Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets „nüchterner“ und „pragmatischer“ gesehen werden, letztendlich „entscheidender sind die Veränderungen in der Lebensführung als solcher“ (Kastl, Metzler 2005, 41). Von der Einführung Persönlicher Budgets sind im Grunde sämtliche Bereiche der Rehabilitation und Behindertenhilfe betroffen (vgl. Kastl, Metzler 2005, 189). Für Menschen, die direkt oder indirekt mit dem Thema Behinderung konfrontiert sind, bedeutet dies, sich mit den Herausforderungen, Chancen aber auch Grenzen des Persönlichen Budgets auseinander zu setzen. Ob sich das System der Behindertenhilfe von Grund auf ändern und neu ausrichten wird, bleibt unklar, sicher ist aber, dass die Einführung Persönlicher Budgets ein Umdenken und Lernprozesse auf allen Ebenen voraussetzt. Budgetnehmer/innen und auch ihre Familien müssen lernen, dass sie mit dem Persönlichen Budget direkten Einfluss auf Art und Gestaltung der Unterstützung nehmen können. Anbieter von Unterstützungsleistungen hingegen müssen lernen, ihre bisherige Definitionsmacht und Dominanz bei der Gestaltung der Unterstützung zu hinterfragen und ihre Angebote bedarfsgerecht zu gestalten. Und zuletzt müssen auch professionelle Fachkräfte sich mehr und mehr als Berater verstehen und von einem defizitorientierten Bild behinderter Menschen Abstand nehmen (Vgl. Hansen 2008, 19). Zusammenfassend zeigt die intensive Beschäftigung mit den theoretischen Erwartungen an die Einführung Persönlicher Budgets aber auch, dass das Persönliche Budget mit Erwartungen überfrachtet wird. In dieser Hinsicht muss nochmals betont werden, dass das Persönliche Budget kein neuer Leistungstatbestand ist, sondern nur eine andere Form der Leistungserbringung. Es können damit keine neuen Leistungen erschlossen werden und letztendlich ist das Persönliche Budget nur eine Alternative zum bisherigen Sachleistungsprinzip. So geht es bei der Einführung Persönlicher Budgets lediglich darum, einen bedarfsbezogenen Geldbetrag anstatt einer Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Erweiterung von Gestaltungs-
454
9 Potenzial und Praxis des Persönlichen Budgets – Schlussfolgerungen, Thesen, Ausblick
spielräumen und/oder Teilhabechancen (vgl. Kastl, Metzler 2005, 10). Wie bereits vor zehn Jahren auch von Westecker bemerkt, sind Persönliche Budgets von Anfang an „als zusätzliches Angebot neben den bestehenden Hilfeformen und Finanzierungsmöglichkeiten“ gedacht: „Von daher stellt es die Behindertenhilfe nicht auf den Kopf oder führt zur kurzfristigen Schließung von Institutionen, sondern erhöht die Wahlmöglichkeit der Betroffenen (…)“ (Westecker 1999b, 26). Alles in allem wird das Persönliche Budget damit keine (unmittelbaren) systemrelevanten Veränderungen in der bundesdeutschen Behindertenhilfe herbeiführen, wohl aber ermöglicht die Einführung des Persönlichen Budgets die „notwendige Unterstützung bedarfsgerecht und wunschgemäß (…) zu organisieren“ und „eine Stärkung der Position der Leistungsberechtigten im Rehabilitationssystem und eine höhere Passgenauigkeit und Wirksamkeit rehabilitativer Leistungen“ (Metzler u.a. 2007, 37) zu erzielen. Diese Überlegungen betreffen insbesondere das Thema Selbstbestimmung: Bei der Mehrheit der Budgetnehmer/innen geht es im Grunde nicht um einen abstrakten Wert „Selbstbestimmung“, sondern um die konkrete Erweiterung von Wahlmöglichkeiten oder Umsetzung von spezifischen Lösungen. Entsprechend sollte auch davor gewarnt werden, die Einführung Persönlicher Budgets mit solchen abstrakten Erwartungen zu überfrachten (vgl. beispielsweise McGovern 2006; Kastl, Meyer 2007; Meyer 2006). Das Persönliche Budget ist kein „Allheilmittel“ und es ist eher unwahrscheinlich, dass diese leistungsrechtliche Innovation alleine zur Verwirklichung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung beitragen wird. Es ist davon auszugehen, dass die Einführung Persönlicher Budgets die bestehenden Strukturen in der Behindertenhilfe nicht vollständig auflösen wird, deren „Weiterentwicklung bleibt vielmehr eine parallel zu leistende Aufgabe“ (Kastl, Metzler 2005, 43). Dabei ist vor allem die Sozialpolitik gefordert, „eine für Menschen mit Behinderung zugeschnittene Ausgestaltung gesellschaftlicher Räume und Bereiche voranzutreiben“ (Baumgartner 2009, 89). Die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ist daher ein umfassender gesellschaftlicher Auftrag und die Einführung Persönlicher Budgets entbindet keinesfalls von der Verantwortung, auch auf anderen Ebenen Anstrengungen zu unternehmen, die Situation von Menschen mit Behinderung in Richtung Selbstbestimmung zu verbessern. Letztendlich wird das Persönliche Budget „nur eines neben anderen Instrumenten des Umbaus der Behindertenhilfe zu mehr Selbstbestimmung sein“ (McGovern 2006, 59).
10 Abschließende Bemerkungen
Ursprünglich sollte mit dieser Auseinandersetzung gezeigt werden, dass nicht alles, was bisher unter dem Namen „Persönliches Budget“ im Rahmen der Modellprojekte bewilligt wurde, auch tatsächlich die Bezeichnung „Persönliches Budget“ verdient. Dies war der Ausgangspunkt der Arbeit im Jahre 2007 und dieser Gedanke beeinflusste den Schreibprozess in den ersten Monaten erheblich. In diesem Zusammenhang wurde zunächst eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, d.h. zwischen Theorie und Praxis des Persönlichen Budgets unterstellt. Aufgrund dieser Überlegungen entstand schließlich auch die Idee des Titels der vorliegenden Arbeit: „Potenzial und Praxis Persönlicher Budgets“. Diese unterstellte Diskrepanz führte dann zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Begriff „Persönliches Budget“ sowie mit den in der Literatur formulieren Erwartungen an die Einführung. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung flossen schließlich in die Kapitel 2 und 3 ein und bilden sozusagen den Teilaspekt „Potenzial“ ab. Diese Grundlagen, d.h. die dargestellten theoretischen Annahmen, gleichermaßen verstanden als Potenziale des Persönlichen Budgets, sollten dann als Leitlinie und Kontrastfolie für die empirische Analyse der Budgetnutzung (Kapitel 7) dienen. Die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung dokumentierten Persönlichen Budgets, die wiederum die Datengrundlage der vorliegenden empirischen Untersuchung darstellen (Kapitel 6), bilden schließlich den zweiten Teilaspekt dieser Arbeit ab – die „Praxis“. Vor der Analyse der Budgetverwendung sollten aber zuvor noch die zusammengestellten theoretischen Annahmen, respektive Potenziale, den Erkenntnissen anderer Modellvorhaben gegenübergestellt werden – ebenfalls als Vergleich zwischen Potenzial und Praxis der Budgetnutzung (Kapitel 5). Den anfänglich unterstellten Diskrepanzen zum Trotz legen die Ergebnisse der empirischen Analyse nun jedoch ein anderes und vor allem differenzierteres Bild der Nutzung Persönlicher Budgets nahe. Nicht ein Widerspruch zwischen „Potenzial und Praxis“ hatte sich bestätigt, sondern ein Widerspruch in den unterstellten Diskrepanzen. So war es falsch zu glauben, dass es „die“ Potenziale und „die“ Praxis gibt. Wie die Ergebnisse zeigen, müssen die Potenziale immer auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebenssituationen und Beantragungsmotive gesehen werden. Insofern verdeutlicht die gefundene Typologie vor allem eines: Es gibt weder „die“ Wirkung Persönlicher Budgets noch eine bestimmte
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10 Abschließende Bemerkungen
„gute“ oder „schlechte“ Praxis. Stattdessen kann eine bestimmte Form der Budgetverwendung in einem Fall eine besonders positive Wirkung haben, während dieselbe Art und Weise der Budgetnutzung in einem anderen Fall keinerlei Verbesserung bewirkt.
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Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:
Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6:
Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10:
Tabelle 11:
Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14:
Mögliche Leistungsträger für ein Persönliches Budget (Quelle: Metzler u.a. 2007, 29) .................................................. 42 Verankerung des Persönlichen Budgets in den einzelnen Leistungsgesetzen (Quelle: Metzler u.a. 2007, 32) .................... 43 Modellregionen im bundesweiten Modellvorhaben zur Erprobung „Trägerübergreifender Persönlicher Budgets“ (Quelle: Metzler u.a. 2007, 42) ................................................ 153 Anzahl der bewilligten Budgets in den Modellregionen (Quelle: Metzler u.a. 2007, 78) ................................................ 159 Anzahl der bewilligten Budgets in Regionen außerhalb der Modellprojekte (Quelle: Metzler u.a. 2007, 78)....................... 160 Übersicht über Modellversuche zum Persönlichen Budget in Deutschland (Quelle: Metzler 2006, 45; modifiziert und erweitert um die Modellprojekte „TPB“)................................. 171 Anzahl der durchgeführten Erhebungen nach Befragungsart (Quelle: Metzler 2007, 69; verkürzt dargestellt) ...................... 220 Befragte Personen nach Befragungsart (modifiziert nach Metzler u.a. 2007, 69) .............................................................. 221 Anzahl der realisierten Befragungen im Verhältnis zur Grundgesamtheit (Quelle: Metzler u.a. 2007, 68).................... 223 Personen- und budgetbezogene Merkmale der befragten Budgetnehmer/innen im Vergleich zur Gesamtzahl aller Budgetnehmer/innen (modifiziert nach Metzler u.a. 2007, 69) 224 Personen- und budgetbezogene Merkmale der wiederholt befragten Budgetnehmer/innen im Vergleich zur Gesamtzahl aller befragten Budgetnehmer/innen (eigene Berechnungen) .. 227 Vordefinierte Kategorien und zugeordnete Unterkategorien zum Thema „Motive der Budgetbeantragung“ ........................ 232 Aus dem Prozess des offenen Kodierens gewonnene Kategorien zum Thema „Motive der Budgetbeantragung“...... 233 Chronologie der Vorgehensweise der Datenanalyse mit Blick auf die verschiedenen Auswertungsverfahren und Themen der Untersuchung ....................................................... 239
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472 Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17:
Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21:
Tabelle 22:
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Häufigkeit der genannten Motive zur Budgetbeantragung (n=193; fehlende Angaben: 3; Mehrfachantworten) ................ 317 Faktorenlösung mit 4 extrahierten Faktoren (n=193; fehlende Angaben: 3) ............................................................... 320 Quantitative Verteilung der Cluster und Bezug zu den Motiven (n=193; Mehrfachnennungen; Werte über oder unter 100% durch Rundungsfehler) ......................................... 326 Altersdurchschnitt in den gefundenen Clustern (n=193, Angaben in Jahren)..................................................... 332 Anzahl der in der Befragung genannten Unterstützungsbereiche nach Clustern (n=181) ....................... 335 Häufigkeit von Art und Inhalt der Budgetverwendung (n=193; Mehrfachantworten) ................................................... 355 Quantitative Verteilung der Verwendungsformen und Bezug zu den Clustern (n=192; Mehrfachantworten; Werte größer oder kleiner 100% durch Rundungsfehler) .............................. 357 Quantitative Verteilung der Rekrutierungswege von Leistungserbringern und Bezug zu den Clustern (n=188; Mehrfachnennungen; ohne Sonstige; Werte größer oder kleiner 100% durch Rundungsfehler) .............................. 373
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Beispiel für ein „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“ (Quelle: Metzler u.a. 2007, 29).................................... 41 Abbildung 2: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF (Quelle. WHO 2005, 23)............................................................ 57 Abbildung 3: Leistungsbeziehungen nach dem Sachleistungsprinzip (Quelle: Metzler u.a. 2007, 27) .................................................. 65 Abbildung 4: Leistungsbeziehungen im Rahmen eines Persönlichen Budgets (Quelle: Metzler u.a. 2007, 28) .................................... 65 Abbildung 5: Entwicklung der Budgetbewilligungen in den Modellregionen im Zeitvergleich (Quelle: Meyer, Rauscher 2007a, 4)................................................................... 158 Abbildung 6: Zusammensetzung der Cluster nach Art der Behinderung (n=193; Angaben in Prozent)................................................... 333 Abbildung 7: Zusammensetzung der Cluster nach Organisationsform der Budgetverwendung (n=190; Angaben in Prozent)................... 367
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 8: Zusammensetzung der Cluster nach Entscheidungsgewalt über die Budgetverwendung (n=193; Angaben in Prozent) ..... 369 Abbildung 9: Zusammensetzung der Cluster nach Budgetverwaltung (n=191; Angaben in Prozent)................................................... 371 Abbildung 10: Anteil der wiederholt befragten Budgetnehmer/innen im Vergleich zur Erstbefragung nach Clustern (Wiederholungsbefragung: n=83; Erstbefragung: n=193; Angaben in Prozent)................................................................. 376 Abbildung 11: Anzahl noch existenter und beendeter Budgets in der Wiederholungsbefragung nach Clustern (existente Budgets n=71, beendete Budgets n=12)................................... 377 Abbildung 12: Anteil der Personen, deren Erwartungen sich an das Persönliche Budget nur zum Teil erfüllt haben, nach Clustern (n=70, ohne Restkategorie, Angaben in Prozent) ...... 379 Abbildung 13: Anteil der Personen, die das Budget in Zukunft auch für andere Leistungen einsetzen möchten, nach Clustern (n=70, ohne Restkategorie, Angaben in Prozent) .................... 381