ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 11 von Murray Leinster Fritz Leiber John D. MacDonald E.C. Tubb Frank Herbert
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 11 von Murray Leinster Fritz Leiber John D. MacDonald E.C. Tubb Frank Herbert
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2873 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann, Ute Seeßlen, Udo H. Schwager und Leopold Voelker
Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02873 4
Die Aussichten waren katastrophal. Der Planet drohte zu erkalten. Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Und die Energie reichte nicht aus, auch nur einen Bruchteil der Bevölkerung zu retten. TEMPERATURSTURZ von Murray Leinster Das Chaos war vollkommen. Sie lebten in der ständigen Furcht vor der Bombe. Die psychologische Spannung führte zu seltsamen Exzessen. FREUNDE UND FEINDE von Fritz Leiber Lachen ist gesund. Nur wenn alle lachen, ist es auf einmal gar nicht mehr lustig. Ganz im Gegenteil. Die Stimmung wird hochexplosiv. ESKALATION DER FREUDE von John D. MacDonald Einsamkeit kann in den Wahnsinn treiben. Wer es übersteht, hat eine eiserne Konstitution. Und die kann sehr nützlich sein, besonders für einen Lebenslänglichen. UNSICHTBARE AUGEN von E. C. Tubb Neue, attraktive Anzüge für das weibliche Raumfahrtkorps. Eine Aufgabe für die beste Werbeagentur der Welt. Ein Alptraum für die Militärs. MODEPROBLEM DER ZUKUNFT von Frank Herbert
Murray Leinster TEMPERATURSTURZ
Massy erwachte, als sich die Belüftungsklappe seiner Schlafkabine automatisch schloß und die Raumheizung zu summen begann. Als er den Kopf hob und sich in der taghellen Kabine umsah, hing sein Atem wie eine Wolke im Raum. Es war bitter kalt. Es ist kälter als gestern! dachte er. Man hatte ihn vor kurzem zum Offizier befördert, und das war sein erster Auftrag in eigener Verantwortung. Er mußte die technischen Anlagen der Kolonie überprüfen. Auf Überraschungen ist man vorbereitet; doch nicht auf das Unvorhersehbare. Und was sich hier auf Lani III zusammenbraute, war etwas, das sich nicht voraussehen ließ. Als Offiziersanwärter hatte er auf Khali II, Taret und Arepo I Erfahrungen gesammelt. Doch diese Planeten waren Tropenkolonien gewesen. Seine weiteren Stationen als Ingenieur im Offiziersrang waren Menes III und Thotmes gewesen, der eine halbtrocken, der andere gemäßigtvulkanisch. Dann kam Saril, ein Planet, der zu neun Zehntel mit Wasser bedeckt war. Hier auf Lani III stand er vor einer völlig neuartigen Situation. Alles war fremd hier – ungewohnt. Ein mit Eis und Gletschern überzogener Planet – Bewohnbarkeitsindex minus eins –, abschreckend, bizarr, beunruhigend. Er wußte natürlich, was in den Büchern über die Lebensbedingungen auf Planeten mit extrem kaltem Klima stand. Aber das war auch alles. Der Dunst seines Atems löste sich auf, als es langsam wärmer wurde. Er kletterte aus seiner Koje, ging zu einem der
Bullaugen und blickte hinaus. Seine Kabine befand sich in einer der Landefähren, mit denen man die technische Ausrüstung der Kolonie auf Lani III gebracht hatte. Zusammen mit den anderen Landefähren bildete sie ein geometrisches Muster in dem verschneiten Hochgebirgstal. Die einzelnen Einheiten waren mit Röhrengängen verbunden. In der bizarren Gebirgswelt der Gletscher wirkte die Anlage wie ein eherner Wall der Ordnung und Geborgenheit. Er blickte über das ausgedehnte Hochgebirgstal, in dem die Kolonie lag. Schroffe Bergspitzen ragten rundherum auf, glitzerten kalt im Schein der Morgensonne. Die Hänge waren eisbedeckt. Das ganze Gebirge war Eis. Der Himmel wirkte fahl. Die Sonne hatte vier Nebensonnen. Sie spendeten jedoch nur kaltes Licht. Die durchschnittliche Temperatur nach Mitternacht in diesem Tal erreichte zehn Grad unter Null – und dabei war es jetzt Sommer. Aber heute morgen betrug die Außentemperatur noch weniger als zehn Grad minus. Im Sommer bildeten sich auf der Südseite der Gletscher normalerweise kleine Rinnsale, in denen Schmelzwasser ins Tal lief. Doch in der Nacht froren sie wieder zu, und der Frost überzog die Kuppeln der Landefähren mit glitzernden Eiskristallen. Dabei war dieses Tal noch geschützt – vergleichsweise wärmer als die übrige Oberfläche des Planeten. Der Bildschirm des Telefons begann aufzuleuchten, flackerte ein wenig. Massy stellte sich vor den Schirm, und das Bild entstand. Herndon blickte ihn unglücklich an. Herndon war jünger als Massy und neigte dazu, sich blindlings auf die größere Erfahrung rangälterer Offiziere des technischen Überwachungsdienstes zu verlassen. »Ja?« sagte Massy, und im gleichen Augenblick fiel ihm ein, wie albern er im Schlafanzug aussehen mußte.
»Wir empfangen einen Richtstrahl vom Mutterplaneten«, sagte Herndon besorgt, »aber wir können die Signale nicht entziffern.« Da der dritte Planet der Sonne Lani von dem zweiten und bereits bewohnten Planeten aus kolonisiert wurde, war eine Fernmeldeverbindung mit dem Mutterplaneten kein Problem. Ein Richtstrahl konnte die Entfernung zwischen den beiden Nachbarplaneten leicht überbrücken, wenn sie in Konjuktion standen. Dann betrug der Abstand nur wenige Lichtminuten. Standen sie allerdings in Opposition zueinander – wie jetzt – betrug die Entfernung etwas über eine Lichtstunde. Die Richtstrahlverbindung war zur Zeit unterbrochen, und das würde auch noch zwei Wochen so bleiben; denn die Sonne Lani stand genau zwischen den beiden Planeten. Eine normale Wort- und Bildübertragung konnte nicht zustandekommen, da die Energiefelder der Sonne Lani zu stark waren. Doch etwas mußte wohl bis Lani III durchgekommen sein. Wahrscheinlich verstümmelt und kaum zu entziffern. »Es sind keine Worte oder Bilder«, fuhr Herndon nervös fort. »Der Strahl kommt in Impulsen. Wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. Wir empfangen auf der üblichen Frequenz, und es handelt sich zweifellos um ein Signal, trotz der starken Nebengeräusche. Aber wir wissen nicht, was es bedeuten soll. Es hat die gleiche Tonfrequenz, aber es stottert – ein gleichbleibender, ständig unterbrochener Ton.« Massy rieb sich nachdenklich das Kinn. Er überlegte, was er auf der Akademie über Nachrichtentheorie gelernt hatte. Signale durch Impulse, Tonfrequenzmodulation, Frequenzmodulation. Informationen, ohne die man Informationen nicht entschlüsseln kann. Und jetzt fiel ihm auch wieder ein Seminar für Geschichte des Fernmeldewesens ein, das er kurz vor seiner Ernennung zum Offiziersanwärter besucht hatte. Damals hatte er den Lehrgang für überflüssig
gehalten. Jetzt war er dankbar dafür, daß er ihn besucht hatte. »H-m-m«, meinte er mit einem leichten Anflug von Autorität. »Gleichbleibender, aber stotternder Ton. Unterscheidet man dabei nur zwei Tonquantitäten – einen kurzen und einen langen? Zum Beispiel daaa – da – daaa – da?« Wieder hatte er das Gefühl, sich lächerlich zu machen. Doch Herndons Gesicht hellte sich auf. »Das ist es!« rief er erleichtert. »Die Töne liegen hoch, und das Ganze hört sich etwa so an: Tii – tiiii – tii – tiiii – tiiii!« Wenn uns einer zuhört, dachte Massy, hält er uns für verrückt. »Schreiben Sie alles nieder, was Sie empfangen. Am besten nehmen Sie es auf Band auf. Ich werde versuchen, es zu entziffern.« Dann fügte er hinzu: »Ehe die drahtlose Tonfrequenzübertragung entdeckt wurde, übermittelte man Licht- oder Lautsignale von kurzer und langer Dauer. Sie wurden in Gruppen gesendet, und jede Gruppe bedeutete ein Wort oder eine Zahl. Es war ein sehr primitives System; aber es funktionierte. Damals konnte man störende Frequenzen noch nicht ausschalten oder heraussieben. Es ist durchaus möglich, daß jemand auf Lani II auf dieses alte System zurückgreift, um eine wichtige Nachricht trotz der störenden Energiefelder der Sonne bis hierher durchzubringen.« »Das ist es!« rief Herndon. »Gar keine Frage – das muß es sein!« Er sah Massy respektvoll und erleichtert an, ehe er abschaltete. Das Bild verblaßte. Er hält mich für unfehlbar, dachte Massy. Nur weil ich zum TÜD gehöre. Doch ich weiß auch nicht mehr als das, was man mir beigebracht hat. Das wird sich früher oder später zeigen. Ich koche auch nur mit Wasser. Er kleidete sich an. Von Zeit zu Zeit blickte er durch das Bullauge. Die fast unerträgliche Kälte auf Lani III hatte in den letzten Tagen noch zugenommen. Angeblich waren die
Sonnenflecken daran schuld. Mit dem bloßen Auge konnte Massy keine Sonnenflecken entdecken; aber die Sonne sah blaß aus. Die Nebensonnen störten. Es waren Geisterbilder, erzeugt durch mikroskopisch kleine schwebende Eiskristalle. Auf diesem Planeten gab es keinen Staub, doch dafür um so mehr Eis. Das Eis schwebte in der Luft, lag auf der Erde und darunter. Als man für den Landeturm Fundamente in den harten Boden gegraben hatte, hatte man gefrorenen Humus und gefrorenen Ton an die Oberfläche befördert. Es mußte also eine Zeit gegeben haben, wo es auf diesem Planeten Wolken, Regen, Meere und Vegetation gab. Aber das lag schon Millionen Jahre, vielleicht sogar hundert Millionen Jahre zurück. Jetzt erwärmte sich der Planet nur so weit, daß er eine Atmosphäre bilden konnte. Und an geschützten Stellen brachte die Sonne am Mittag sogar das Eis zum Schmelzen. Leben konnte sich auf diesem Planeten nicht halten; denn ein Lebewesen ist immer von einem anderen Lebewesen abhängig. Und unter einer bestimmten Temperaturgrenze hört jedes ungeschützte Leben auf. In den vergangenen Wochen hatte sich das Klima so sehr verschlechtert, daß selbst eine von Menschen künstlich erhaltene Kolonie zum Scheitern verurteilt schien. Massy zog seine Uniform zurecht. Auf den Kragenspiegeln glitzerte eine stilisierte Fächerpalme – das Abzeichen des TÜD. Man konnte sich kein Symbol vorstellen, das auf diesem Planeten, dessen Oberfläche bis in eine Tiefe von zwanzig Metern nie auftaute, absurder gewirkt hätte als diese Fächerpalme. Die Bautrupps machen sich über unseren Kragenspiegel lustig, dachte Massy. Die Techniker sagen, das Symbol wäre keine Palme, sondern ein Atomblitz. Weil wir die Anlagen sprengen müssen, wenn sie den Vorschriften nicht entsprechen. Aber die Vorschriften müssen genau eingehalten
werden. Das Leben einer ganzen Kolonie hängt davon ab, daß die technischen Einrichtungen reibungslos funktionieren. Und ein Landeturm, der schlampig gebaut ist, gefährdet das Leben der Besatzung, eines jeden Raumschiffes, das landen möchte. Er verließ seine Schlafkabine und schritt den Korridor hinunter. Sein Gang war straff und aufrecht. Er hatte den TÜD als Inspektor in Offiziersrang würdevoll zu vertreten. Das war eine verdammt langweilige Angelegenheit, die Respektsperson zu spielen. Aber Herndon sah ihn immer so an, als sei er ein Fabeltier. Er würde sich viel wohler fühlen, wenn er sich ein bißchen entspannen könnte. Aber Herndon sah in ihm sein Vorbild. Selbst Herndons Schwester Riki… Massy verdrängte ihr Bild aus seinen Gedanken. Er war hier auf Lani III, um die technischen Anlagen der Kolonie zu inspizieren und im Auftrag der Weltraumbehörde die Abnahme durchzuführen. Drüben ragte der mächtige Turm des Landegerüsts auf, das seine Energie aus der Ionosphäre bezog und in der Lage war, schwerbeladene Raumschiffe sanft auf die Planetenoberfläche herunterzubringen. Wenn keine Raumschiffe landeten, versorgte es die Kolonie mit Energie. Wenn die Raumschiffe starteten, wurden sie auf eine Höhe von fünf Planetendurchmessern hinaufbefördert, ehe sie mit eigener Kraft weiterflogen. Das Landegerüst lud auch die Energiespeicher auf, deren Reserven herangezogen werden konnten, falls diese gigantische Anlage aus irgendeinem Grund zerstört werden sollte – was allerdings außerordentlich selten vorkam. Es gab auf Lani III natürlich auch Nahrungsmittelspeicher und Anlagen, um diese Reserven immer wieder zu ergänzen. In der Regel waren das hydroponische Anlagen. Es gab immer einen Grund, weshalb eine Kolonie im Notfall in der Lage sein mußte, sich selbst zu versorgen. Alle diese Einrichtungen und Anlagen mußten vorschriftsmäßig errichtet und einsatzbereit sein, ehe der
technische Überwachungsdienst der Weltraumbehörde benachrichtigt wurde. Ein Inspektor besuchte dann die Kolonie, um die Anlagen zu prüfen und abzunehmen. Erst dann wurde die Kolonie für menschliche Niederlassungen freigegeben. Das alles war sehr normal und reine behördliche Routine; doch Massy war der jüngste Inspektor des technischen Überwachungsdienstes, und das war sein erster eigenverantwortlicher Auftrag. Deshalb fühlte er sich manchmal noch ein wenig unsicher. Er ging durch den Raum zwischen seiner und der benachbarten Wohnkuppel und betrat das Büro von Herndon. Auch Herndon trug zum erstenmal die volle Verantwortung auf seinem Posten. Er war eigentlich Bergingenieur und auf seinem Fachgebiet so etwas wie ein Genie; doch der Direktor der Kolonie war plötzlich erkrankt. Zufällig hatte ein Versorgungsschiff in der Umlaufbahn gelegen. Das Schiff hatte den Kranken zum Mutterplaneten mitgenommen, und Herndon vertrat jetzt den Direktor. Herndon saß hinter dem Schreibtisch und hörte sich einen wahren Wellensalat an, der aus dem Lautsprecher drang. Die Signale wurden ihm direkt aus der Tonspeicheranlage übertragen. Man hörte es quietschen und pfeifen, knattern und jaulen. Doch hinter dieser infernalischen Geräuschkulisse war ein leiser stotternder Pfeifton zu vernehmen. Manchmal wurde er so schwach, daß man ihn kaum mehr wahrnehmen konnte – doch dann kam er wieder klar und scharf durch. Zweifellos handelte es sich dabei immer nur um kurze und lange Intervalle, die zu Gruppen zusammengefaßt waren. »Ich habe. Riki gebeten, die Signale aufzuschreiben«, sagte Herndon. Er schien erleichtert, daß Massy da war. »Sie macht kurze Striche für die kurzen Signale und lange Striche für die langen. Ich habe ihr gesagt, sie soll versuchen, Querstriche einzuzeichnen, wo eine Gruppe zu Ende ist. Bis jetzt haben wir
schon eine halbe Stunde lang diese Signale empfangen.« Massy hatte eine Eingebung. »Vermutlich handelt es sich um die gleiche Botschaft, die laufend wiederholt wird«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Ich glaube, am besten läßt sie sich entschlüsseln, wenn man sich auf die Buchstaben in zwei- und dreisilbigen Wörtern konzentriert. Das geht schneller als eine statistische Analyse des gesamten Textes.« Herndon drückte sofort auf die Knöpfe unter seinem Bildschirm. Dann gab er seiner Schwester Riki Massys Vorschlag durch, als wären dessen Worte das Evangelium. Herndon sah vom Bildschirm auf. »Riki meldet, daß sie Wortgruppen unterscheiden kann. Vielen Dank für Ihren Hinweis. Was machen wir jetzt?« Massy setzte sich. Er hatte Appetit auf eine starke Tasse Kaffee; doch man behandelte ihn mit solchem Respekt, daß man ihm die Rolle eines Halbgottes geradezu aufdrängte. »Mir scheint«, sagte er nachdenklich, »daß die zunehmende Kälte keine lokale Klimaschwankung ist. Sonnenflecken…« Herndon gab es einen Ruck. Er beugte sich vor und reichte Massy schweigend eine graphische Skizze. Oben waren die Symbole des meteorologischen Beobachtungsdienstes eingetragen. Darunter eine graphische Kurve auf Millimeterpapier, welche die Werte miteinander verband. Es handelte sich um die tägliche Messung der Sonnenkonstante von Lani III. Die Kurve fiel stark nach unten ab und schien sich dem Nullwert zu nähern. »Sehen Sie sich das an!« sagte Herndon. »Man könnte fast glauben, die Sonne erlöscht. Das ist natürlich unmöglich«, setzte er hastig hinzu. »So gut wie ausgeschlossen. Tatsächlich tritt jedoch eine ungewöhnliche Häufung von Sonnenflecken zutage. Vielleicht verschwinden sie wieder. Doch solange sie vorhalten, nimmt die Wärmeeinstrahlung ständig ab. Soweit ich mich erinnern kann, ist dieser Vorgang noch nie
dagewesen. In der Nacht liegen die Temperaturen dreißig Grad unter dem Normalwert. Das trifft nicht nur für unser Tal zu. Die automatischen Wetterstationen rund um den Planeten übermitteln uns die gleichen Werte. Dort sinken die Temperaturen sogar um vierzig Grad unter den Durchschnittswert ab. Hinzu kommt die massive Häufung der Sonnenflecken. Ich…« Er brach ab und blickte Massy erwartungsvoll an. Massy runzelte die Stirn. Sonnenflecken sind Erscheinungen, gegen die man nichts machen kann. Aber die Bewohnbarkeit eines Planeten am Rande eines Planetensystems konnte entscheidend von diesem Phänomen beeinflußt werden. Eine winzige Veränderung im Energiehaushalt einer Sonne konnte eine verheerende Wirkung auf das Klima eines Planeten haben. In den Lehrbüchern stand, daß der uralte Mutterplanet Erde Eiszeitperioden erlebte, als die Durchschnittstemperatur des Planeten nur drei Grad unter den Normalwert absank. Umgekehrt dehnte sich die tropische Zone fast bis zu den Polen aus, als die Temperatur sechs Grad über den Normalwert stieg. Die Eiszeit der Erde, die mit der Geburtszeit der menschlichen Rasse zusammenfiel, führte man auf eine übermäßige Anhäufung von Sonnenflecken zurück. Dieser Planet hier war bereits bis zum Äquator mit Gletschern bedeckt. Gleichzeitig war eine abnorme Anhäufung von Sonnenflecken auf der Sonne Lani festzustellen. Wahrscheinlich waren die Sonnenflecken daran schuld, daß sich die Klimabedingungen verschlechterten. Hinzu kam noch diese Nachricht von Lani II. Wenn die Sonnenkonstante weiter abnimmt, überlegte Massy, kann diese Nachricht nichts Gutes bedeuten. Doch er hütete sich, seine Befürchtungen laut werden zu lassen. »Ich glaube nicht an eine Dauererscheinung von einschneidender Bedeutung. Wenigstens nicht so rasch. Lani
ist ein Stern mit typischen solaren Merkmalen. Diese Solarsterne sind nicht variabel, obgleich ein so dynamisches System wie eine Sonne zyklischen Schwankungen unterworfen ist. Doch diese heben sich meist wieder gegenseitig auf.« Er sprach ermunternde Worte, um sich selbst zu beruhigen. Hinter ihm bewegte sich etwas. Riki Herndon war leise in das Büro ihres Bruders getreten. Sie sah sehr blaß aus, als sie ein paar Bogen Papier auf den Schreibtisch ihres Bruders legte. »Während sich die zyklischen Schwankungen manchmal gegenseitig aufheben«, sagte sie ernst, »können sie sich zeitweilig auch gegenseitig verstärken. Sie überlagern sich. Genau das geschieht im Augenblick.« Massy sprang mit rotem Gesicht auf. Herndon sagte scharf: »Wie bitte? Woher beziehst du deine Weisheit, Riki?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Papiere, die sie auf den Tisch gelegt hatte. »Hier steht es. Es ist die Nachricht von Zuhause.« Sie nickte zum zweitenmal und sah Massy an. »Sie hatten recht. Es war die gleiche Botschaft, die sich ständig wiederholte. Und ich entschlüsselte sie, wie wir das als Kinder auch gemacht haben. Als Ken zwölf Jahre alt war, führte er ein geheimes Tagebuch. Ich entschlüsselte den Text. Ich erinnere mich noch heute, wie wütend er war, weil ich herausfand, daß er gar keine Geheimnisse zu verbergen hatte.« Sie versuchte zu lächeln. Doch Herndon hörte gar nicht zu. Er überflog die Zeilen. Massy sah auf den anderen Blättern Striche und Punkte. Buchstaben waren darunter in alphabetischer Reihenfolge aufgeschrieben, und jedem Buchstaben eine Gruppe von Punkten und Strichen zugeordnet. So hatte sie die Botschaft entschlüsselt und dann in Klartext übersetzt. Herndon war schneeweiß, als er den Text durchgelesen hatte. Er reichte den Bogen wortlos über den Tisch. Massy überflog die Zeilen:
ZU IHRER INFORMATION! DIE SONNENKONSTANTE SINKT RASCH UND STÄNDIG AB AUFGRUND SICH AKKUMULIERENDER ZYKLISCHER SONNENFLECKENAKTIVITÄT VON BISHER NOCH NIE BEOBACHTETER DAUER. NACHTEILIGE WIRKUNG AUF KLIMA WIRD DADURCH OFFENSICHTLICH VERSTÄRKT. MAXIMUM IST NOCH NICHT ERREICHT. WIR ERWARTEN, DASS DIESER PLANET VORÜBERGEHEND UNBEWOHNBAR WIRD. STARKE FRÖSTE HABEN BEREITS DIE ERNTE AUF DER SOMMER-HEMISPHÄRE VERNICHTET. ES IST UNWAHRSCHEINLICH, DASS DIE BEVÖLKERUNG IN NENNENSWERTER ZAHL DIE SICH ENTWICKELNDE EISZEIT ÜBERSTEHEN KANN, DA WÄRMEENERGIE UND KÄLTESICHERE UNTERKÜNFTE NICHT AUSREICHEND VORHANDEN. DAUERFROST WIRD ÄQUATOR IN ZWEIHUNDERT TAGEN ERREICHEN UND EISZEITBEDINGUNGEN WERDEN LAUT BERECHNUNG UNGEFÄHR ZWEITAUSEND TAGE ANHALTEN BIS NORMALE SONNENKONSTANTE ZURÜCKKEHRT. DIESE INFORMATION WIRD ÜBERMITTELT, DAMIT SIE SOFORT HYDROPONISCHE NAHRUNGSMITTELRESERVEN ANLEGEN UND ANDERE GEEIGNETE MASSNAHMEN TREFFEN. ENDE DER BOTSCHAFT. ZU IHRER INFORMATION! DIE SONNENKONSTANTE SINKT RASCH UND STÄNDIG AB AUFGRUND SICH AKKUMULIERENDER ZYKLISCHER… Massy blickte auf. Herndons Gesicht sah schrecklich aus. Massy sagte mit einem grimmigen Unterton in der Stimme: »Kent IV ist der nächste bewohnte Planet, von dem Ihr Mutterplanet Hilfe erwarten kann. Ein Postschiff schafft die Strecke in zwei Monaten. Kent IV kann maximal drei Schiffe
aufbieten – die die doppelte Zeit brauchen. Und das hilft Ihnen überhaupt nicht!« Er fühlte sich miserabel. Von Menschen bewohnte Planeten liegen weit auseinander, im Durchschnitt so weit, wie auch die Sonnensysteme voneinander entfernt sind. Meistens liegen vier bis fünf Lichtjahre zwischen den Systemen. Die modernen Raumschiffe können diese Entfernung in zwei Monaten überbrücken. Doch nicht alle Sterne sind von solarer Beschaffenheit oder haben bewohnbare Planeten. Kolonisierte Welten gleichen winzigen isolierten Inseln in einem riesigen Ozean, und die Schiffe, die diesen unermeßlich großen Ozean durchfahren, scheinen trotz der dreißigfachen Lichtgeschwindigkeit förmlich dahinzukriechen. In den prähistorischen Tagen, als die Menschen auf dem Mutterplaneten Erde noch mit Segelschiffen über die Meere fuhren, brauchten sie oft monatelang von einem Hafen zum anderen. Damals konnte man nicht einmal Nachrichten vorausschicken, weil sie nicht schneller reisten als die Schiffe selbst. Heute lagen die Dinge auch nicht besser. Die Nachricht von der Katastrophe im System Lani konnte nicht bis zum Nachbarsystem übermittelt werden. Nur ein Raumschiff konnte die Botschaft überbringen. Die Reise war weit und langsam; und die Hilfe für die von der Katastrophe Betroffenen würde zu spät kommen. Der der Sonne nähere Planet – Lani II – hatte zwanzig Millionen Einwohner. Hier, in der Kolonie Lani III, waren es nur dreihundert. Lani III hatte bereits die Eiszeit, die in zweihundert Tagen auch den inneren Planeten erreichen würde. Vergletscherung und menschliches Leben schlossen sich gegenseitig aus. Menschen können sich nur so lange am Leben erhalten, wie ihre Nahrungsmittel- und Wärmevorräte reichen. Unterkünfte für extrem kalte Bedingungen kann man nicht improvisieren – nicht für zwanzig Millionen Menschen!
Und eine Hilfe von außen war so gut wie ausgeschlossen. Die Nachrichtenübermittlung dauerte zu lange. Eine äußere Welt erfuhr von der Katastrophe in zwei Monaten, und Hilfe traf frühestens in vier Monaten ein. Die übernächste Welt erfuhr von der Katastrophe erst in vier Monaten; dementsprechend konnte ihre Hilfe den Planeten erst in acht Monaten erreichen. Es dauerte mindestens fünf Erdjahre, bis tausend Hilfsschiffe Lani II erreicht hatten – und tausend Raumschiffe konnten nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung in Sicherheit bringen. Doch in fünf Jahren würden höchstens noch fünfzigtausend Menschen auf Lani II leben – höchstens… Herndon nagte an seiner Unterlippe. Dreihundert Menschen lebten in seiner Kolonie unter arktischen Bedingungen. Sie hatten Nahrungsmittel, Unterkünfte und Energie. Man hatte die Kolonisten für sehr wagemutig gehalten, weil sie hier unter solchen Bedingungen leben wollten. Doch inzwischen hatte sich die Lage grundlegend verändert. Der Mutterplanet würde bald so aussehen wie Lani III. Und auf Lani II gab es keine Möglichkeit, zwanzig Millionen Bewohner so gut auszurüsten, wie die wenigen Kolonisten hier auf Lani III. »Unser Volk«, murmelte Riki. »Alle… Mutter, Vater und die anderen. Unsere Vettern und Kusinen. Unsere Freunde. Unsere Heimat wird eine Eiswüste sein wie… wie hier.« Sie deutete mit dem Kopf auf ein Bullauge, hinter dem sich die kälteerstarrte Kolonie unter dem blassen Tageslicht ausbreitete. In ihrem Gesicht zuckte es. Massy fühlte plötzlich eine große Traurigkeit. Ihretwegen. Denn für ihn war diese Tragödie natürlich lange nicht so schlimm. Er hatte keine Familie. Er hatte auch sehr wenige Freunde. Doch wenn er sich in die Lage dieses Mädchens versetzte, spürte er das Leid, das auf sie alle zukam.
»Natürlich trifft sie das Unglück nicht allein«, fuhr das Mädchen fort. »Sinkt die Sonnenkonstante wirklich so rapide ab, wird es hier auch nicht gemütlicher. Damit verglichen sind die augenblicklichen Zustände noch paradiesisch. Wir werden tüchtig zupacken müssen, wenn wir unser Leben retten wollen.« Riki sah Massy dabei nicht an. Herndon kaute immer noch auf der Unterlippe. Man sah ihnen an, daß ihr persönliches Schicksal sie erst in zweiter Linie interessierte. Wenn die Heimat zum Untergang verdammt ist, scheint die, persönliche Sicherheit nicht so wichtig zu sein. Es herrschte einen Moment Stille. Nur das pfeifende, knatternde Geräusch aus dem Lautsprecher hielt an. Dahinter pulsierte der hohe Pfeifton, schwoll an, nahm an Stärke wieder ab. »Wir«, sagte Massy, um das Schweigen zu brechen, »leben jetzt unter Bedingungen, die Ihrem Mutterplaneten vorläufig noch erspart bleiben. Erst in Monaten…« »Ja«, unterbrach ihn Herndon mutlos, »aber wir könnten hier auch nicht existieren, wenn die Versorgungsschiffe vom Mutterplaneten ausbleiben. Wir könnten nicht existieren ohne die Ausrüstung, die wir mitgenommen haben. Unser Mutterplanet bekommt jedoch keine Versorgung von außen. Die Spezialausrüstung kann nicht für jeden Einwohner hergestellt werden! Sie werden alle sterben!« Er schluckte. »Und… und sie wissen das ganz genau. Deshalb… deshalb warnen Sie uns. Wir sollen versuchen, uns aus eigener Kraft zu retten, weil… weil sie uns nicht mehr helfen können.« Als Mensch kann man sich oft schämen, weil man zu einer Rasse gehört, die Unmenschliches vollbringt. Doch es gibt auch Anlässe, bei denen man stolz sein kann, zu dieser Rasse zu gehören. Jetzt war so ein Anlaß. Der Mutterplanet dieser Kolonie war zum Untergang verurteilt. Aber er schickte seiner winzigen Kolonie eine Botschaft: »Versucht euch zu retten, während wir untergehen.«
»Ich wünschte, wir wären jetzt zu Hause, um… um ihr Schicksal zu teilen«, sagte Riki. Ihre Stimme klang gepreßt. »Ich… möchte nicht weiterleben, wenn alle, die uns lieb hatten und sich um uns sorgten, sterben müssen!« Massy fühlte sich auf einmal sehr einsam. Er konnte verstehen, daß man nicht als einziger Überlebender auf einem Planeten zurückbleiben wollte. Selbst wenn eine Gruppe überlebte, wollte man nicht zu ihr gehören, wenn Millionen sterben mußten. Und jeder hält seinen Mutterplaneten für die einzig existierende Welt. Ich denke nicht so, dachte Massy. Aber vielleicht würde ich das gleiche wie Riki empfinden, wenn ich zu ihr gehörte. Wenn er zu ihr gehörte, würde er natürlich auch jedes Schicksal und jede Katastrophe mit ihr teilen wollen. Tat er das nicht schon? »Hören Sie!« sagte er rauh. Er stotterte sogar ein bißchen. »Es geht nicht darum, daß Sie weiterleben dürfen, während Ihr Mutterplanet stirbt! Wenn sich Ihr Mutterplanet in eine eisige Gletscherwelt verwandelt wie Lani III es jetzt schon ist, was wird dann erst aus dieser Kolonie? Wir sind viel weiter von der Sonne entfernt. Glauben Sie vielleicht, Sie können etwas überstehen, was kein Mensch mehr aushalten kann? Lebensfeindliche Kältebedingungen? Denken Sie doch mal nach! Ihre Lebensmittelvorräte und Ausrüstungen werden Ihnen nicht mehr helfen, wenn die Kälte noch zunimmt.« Herndon und Riki starrten ihn an. Der Ausdruck bitterer Selbstvorwürfe verschwand aus ihrem Gesicht. Herndon wischte sich über die Augen und nickte. »Tatsächlich… Sie haben recht! Man glaubte bisher, wir gingen schon bei den gegenwärtigen Klimabedingungen ein großes Risiko ein. Aber die Bedingungen werden noch viel, viel schlimmer werden – natürlich! Wir stecken in der gleichen Klemme wie unsere Leute auf dem Mutterplaneten!«
Er richtete sich auf. Sein Gesicht bekam wieder etwas Farbe. Riki lächelte sogar. Und dann sagte Herndon ganz schlicht: »Das klingt schon viel vernünftiger. Wir sitzen im gleichen Boot. Wir kämpfen unter gleichen Bedingungen! Und wir haben nur eine winzige Chance, unser Leben zu retten! Wie können wir diese Chance nützen, Massy?« Die Sonne hatte den halben Weg bis zu ihrem Mittagsstand zurückgelegt. Nebensonnen waren immer noch sichtbar, obgleich sie schon viel blasser waren als morgens bei Sonnenaufgang. Der Himmel war dunkler geworden. Die Berggipfel ragten schroff in den Himmel, erhaben über die Sorgen der Menschen. Schließlich war das eine Welt, in der Menschen eigentlich nichts verloren hatten. Eine zu Eis erstarrte Welt. Die Stadt war eine Ansammlung von Stahlkuppeln, nach einem geometrischen Muster über das ganze Hochgebirgstal verteilt. Alle Geräte und Maschinen waren aus diesen Metallkuppeln, die nur noch als Unterkünfte dienten, entfernt worden. Am oberen Ende des Tals stand der riesige Landeturm – ein gigantisches Stahlskelett, das sechshundert Meter in den dunklen Himmel hinaufragte. Menschen, bis zur Unkenntlichkeit vermummt, bewegten sich wie Ameisen auf den Galerien des Turms. Dort, wo sie sich bewegten, stäubten winzige glitzernde Kaskaden zu Boden. Sie verwendeten Hochfrequenz-Eisbrecher, um den Reifbelag von den Stahlstreben zu entfernen, der sich nachts dort abgesetzt hatte. Überall sprühten diese Eisfontänen wie Puderzucker herab. Das Landegerüst mußte alle zehn Tage enteist werden. Würde man das unterlassen, könnte sich mit der Zeit so viel Eis ansetzen, daß der Turm unter der gewaltigen Last zusammenbräche. Doch vorher würde das Gerüst den Dienst versagen. Ohne das Landegerüst war Raumfahrt unmöglich.
Raketen, um damit die Anziehungskraft eines Planeten zu überwinden, waren längst nicht mehr im Gebrauch. Sie waren einfach viel zu unrationell. Die Landegerüste hoben mit elektromagnetischer Energie die Raumschiffe hinauf in den Raum, wo keine starken Anziehungskräfte mehr wirkten und die Schiffe ihre Lawlor-Antriebsaggregate voll einsetzen konnten. Und sie holten die beladenen Raumschiffe auch wieder herunter. Keine noch so große Rakete hätte diese gewaltigen Lasten beim Landemanöver bremsen können. Massy ging zu Fuß hinüber zum Landeturm. Das gewaltige Gerüst war nicht weit von der Kuppelstadt entfernt. Er kam sich vor wie ein Zwerg neben den mächtigen Fundamenten. Durch die Kälteschleuse betrat er das Innere des kleinen Kontrollgebäudes, das zu ebener Erde errichtet war. Während er sich aus seinen Mänteln schälte, nickte er dem diensthabenden Ingenieur zu. »Alles in Ordnung?« fragte er. Der Ingenieur zuckte nur die Achseln. Für ihn war Massy ein Schnüffler vom TÜD, der nichts anderes zu tun hatte, als Fehler zu suchen, auf Konstruktionsmängel zu achten, Betriebspannen festzustellen. Es ist ganz natürlich, daß die Männer, deren Arbeit ich kontrolliere, mich nicht mögen, dachte Massy. Wenn ich etwas positiv beurteile, bedeutet es nichts für sie. Kritisiere ich aber, kann das verheerende Folgen für die Leute haben. »Ich glaube«, sagte Massy, »daß sich die maximale Voltzahl bei lastfreier Spannung geändert haben muß. Ich möchte das überprüfen.« Der Ingenieur zuckte wieder die Achseln. Er drückte auf einen Knopf neben seinem Bildschirm. »Schalte auf Reserve«, befahl er, als ein Gesicht auf dem Schirm erschien. »Wir müssen die lastfreie Spannung überprüfen!« »Weshalb denn?« fragte der andere.
»Da mußt du nicht mich fragen. Du weißt doch, wer solche Einfälle hat«, erwiderte der Ingenieur. »Vielleicht haben wir was übersehen. Vielleicht ist eine neue Verordnung herausgekommen, die wir noch nicht kennen. Also tu schon, was ich dir sage! Schalte auf Reserve!« Das Gesicht auf dem Schirm brummelte etwas Unverständliches. Massy schluckte. Es gehörte nicht zu den Aufgaben eines Inspektors, sich mit disziplinarischen Angelegenheiten zu befassen. Außerdem hatten die Leute jetzt andere Sorgen. Er beobachtete das Wattmeter. Der Zeiger stand etwas über dem normalen täglichen Verbrauchswert. Das war verständlich. Die Außentemperatur war noch stärker gesunken. Entsprechend wurde auch mehr Energie verbraucht, um die Unterkünfte warm zu halten. Und im Bergwerk wurde ständig Energie in größeren Mengen abgenommen. Das Bergwerk war die Daseinsberechtigung dieser Kolonie. Die Stollen mußten geheizt werden, damit die Männer überhaupt arbeiten konnten. Die Nadel des Stromverbrauchsmessers schlug aus. Sie sank auf einen niedrigeren Wert, pendelte sich ein, sank wieder ein Stück, pendelte und fiel dann auf Null, als alle Stromabnehmer auf Reserve geschaltet waren. Massy mußte um den Ingenieur herumgehen, um das Voltmeter zu erreichen. Es war ein altmodisches Gerät. Doch seit Generationen hatte man kein neues Gerät mehr als Standardmeßgerät zugelassen. Massy schloß es an den Prüfkreis an und überprüfte die Meßtoleranz. Dann schaltete er auf Energieabnahme und las die Spannung ab. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schrieb etwas auf seinen Kontrollzettel. Er kehrte die Pole um und las die Werte ab. »Und jetzt möchte ich nach und nach die Abnehmer zugeschaltet haben«, sagte er zum Ingenieur. »Zuerst das Bergwerk. Die Reihenfolge ist mir egal. Ich möchte nur die
Spannungswerte unter verschiedenstarken Lastbedingungen feststellen!« Der Ingenieur zog eine Grimasse. Er sprach mit übertriebener Betonung zu dem Techniker auf dem Bildschirm. Dann sah er zu, wie Massy den Spannungsabfall maß. Die Kälteschleuse öffnete sich. Riki Herndon kam herein. Sie war völlig außer Atem. »Wir haben eine neue Nachricht von zu Hause bekommen«, sagte sie. »Man hat unsere Antwort empfangen. Die Meßwerte, die Sie angefordert haben, sind eingetroffen.« »Ich komme sofort«, antwortete Massy. »Ich muß noch die letzten Werte eintragen.« Er zog die gefütterten Mäntel an und folgte ihr ins Freie. »Die Werte, die uns der Mutterplanet übermittelte, verheißen nichts Gutes«, sagte Riki ernst. Sie blickte hinüber zu den vereisten Gipfeln. »Ken meint, sie seien viel schlimmer, als er befürchtet habe. Der Abfall der Sonnenenergie ist noch stärker, als wir ahnten oder glauben wollten.« »Ich verstehe«, sagte Massy lahm. »Das ist nicht gerecht!« sagte Riki heftig. »Es ist widersinnig, gemein! Seit undenklichen Zeiten gibt es Sonnenflecken – zyklische Sonnenfleckenperioden. Das habe ich schon in der Schule gelernt. Es gibt Vierjahreszyklen und Siebenjahreszyklen und so weiter. Das hätten sie doch wissen müssen! Jetzt spricht man sogar von einem Sechzigjahreszyklus, der sich mit einem Hundertunddreißigjahreszyklus überlagert. Aber was für einen Sinn hat die Wissenschaft, wenn sie ihre Arbeit nicht korrekt ausführt und ihretwegen zwanzig Millionen Menschen sterben müssen?« Massy hielt sich nicht für einen Wissenschaftler, aber er zuckte doch unter dieser Anklage zusammen. Riki ließ ihrem
Unmut freien Lauf, während sie über das glatte Eis gingen. Ihr Atem legte sich wie eine Wolke auf ihre Schultern. Reifkristalle bildeten sich auf ihrem Mantel. Er stützte sie, als sie auf dem Eis ausrutschte. »Aber sie werden mit der Krise fertig werden!« sagte Riki mit zornigem Stolz. »Sie bauen zu Hause schon fieberhaft neue Landegerüste. Hunderte von Landetürmen! Nicht für die Raumschiffe sondern um Energie aus der Ionosphäre herunterzuholen. Man hat errechnet, daß ein Landeturm üblicher Größe mindestens fünf Quadratkilometer Boden so aufheizen wird, daß man darauf leben kann. Sie wollen die Straßen überdachen und auf den Straßen und in den Gärten Getreide anbauen. Hydroponische Gemüsekulturen werden angelegt. Man befürchtet nur, daß man in so kurzer Zeit diese Mammutaufgabe nicht bewältigen kann. Aber trotzdem wird alles getan, um möglichst viele Menschen zu retten.« Massy ballte in seinen dicken Fäustlingen die Hände. »Nun?« fragte Riki. »Ist das nicht großartig?« »Nein«, murmelte Massy. »Wie bitte?« fragte sie gereizt. »Warum nicht?« »Ich habe eben die Meßwerte des Landeturms überprüft. Spannung und Elektronenfluß hängen von der Ionisation der Gasschicht ab, von der wir unsere Energie beziehen. Wenn die Sonneneinstrahlung nachläßt, fallen auch die Spannung und der Elektronenfluß ab. Je geringer der Elektronenfluß, desto geringer auch das Spannungsgefälle. Das heißt, der Elektronenzufluß aus der Ionosphäre muß einen viel größeren Widerstand überwinden als zuvor. Entsprechend gering fällt dann unsere Energieausbeute aus.« »Genug!« rief Riki. »Ich will nichts mehr hören – kein Wort mehr!« Massy schwieg. Sie gingen die letzte abschüssige Wegstrecke zu den Kuppeln hinunter. Neben ihnen gähnte der Einstieg
zum Bergwerk. Eine helle Lichterkette verlor sich im Inneren des Berges. Riki fragte mit gepreßter Stimme: »Wie schlimm ist es?« »Sehr schlimm«, erwiderte Massy. »Bei uns herrschen jetzt die Verhältnisse vor, die auf dem Mutterplaneten in zweihundert Tagen eintreten werden. Von Anfang an konnten wir hier nur ein Fünftel der Energie aus der Ionosphäre beziehen, die mit einem Landeturm gleicher Größe auf Lani II abgezapft werden kann.« »Reden Sie weiter!« sagte sie. »Die Ionisation der Gasschicht ist um zehn Prozent gesunken«, fuhr Massy fort. »Das bedeutete, daß die Spannung noch etwas mehr abgenommen hat. Sagen wir lieber erheblich abgenommen hat. Und der Widerstand in der Ionosphäre hat dementsprechend zugenommen – erheblich zugenommen. Wenn die Leute auf Ihrem Mutterplaneten die Energie am nötigsten brauchen, können sie nicht mehr beziehen als wir jetzt mit unserem Landeturm. Und das genügt bei weitem nicht.« Sie erreichten das Dorf. Eine Treppe führte zur Kälteschleuse von Herndons Bürokuppel hinauf. Die Stufen waren eisfrei; denn die Treppen wurden genauso beheizt wie die Verbindungswege im Dorf. Massy machte sich im Geist eine Notiz. Die Warmluft in der Schleuse nahm ihnen fast den Atem. Es kam ihnen so vor, als stünden sie in einem tropischen Gewächshaus. Riki ließ nicht locker: »Sagen Sie mir schon die Wahrheit!« »Theoretisch müßten wir ein Fünftel der Energie beziehen, die Ihr Heimatplanet mit einem Landegerüst gleicher Größe aus der Ionosphäre fördert«, sagte er. »Das ist aber nicht der Fall. Wir fördern nur sechzig Prozent dieses Fünftels. Das ist etwa ein Zehntel der Energie, die Ihr Mutterland als Bedarf
errechnet hat. Das heißt, in zweihundert Tagen müssen Ihre Leute zu Hause einsehen, daß nur ein Zehntel der Energie durch die Stromnetze fließt – neun Zehntel weniger als erwartet. Und damit kann man keine fünf Quadratkilometer Boden aufheizen. Nicht einmal einen Quadratkilometer…« »Das ist noch nicht alles!« sagte Riki mit heiserer Stimme. »Nicht wahr? Die Landegerüste, die jetzt gebaut werden, sind praktisch wertlos!« Massy gab keine Antwort. Die innere Schleusentür öffnete sich. Herndon saß hinter dem Schreibtisch, schien den Pfeiftönen zuzuhören, die aus dem Lautsprecher drangen. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah Massy mit einem flehenden Blick an. »Hat Riki… Sie eingeweiht?« fragte er leise. »Zu Hause hofft man, wenigstens die Hälfte der Bevölkerung retten zu können. Die Kinder auf jeden Fall…« »Sie hoffen vergebens«, sagte Riki mit bitterer Stimme. »Dann entschlüssle uns bitte, was gerade durchgekommen ist«, sagte ihr Bruder mit dumpfer Stimme. »Vielleicht haben sie zu Hause bereits festgestellt, daß ihre Berechnungen nicht stimmen.« Riki ging aus dem Zimmer. Massy schälte sich aus den Mänteln und sagte: »Bisher ahnen Ihre Leute hier nicht, was uns bevorsteht. Der Ingenieur am Landegerüst hat jedenfalls keine Ahnung. Aber die Kolonie muß über die Tatsachen unterrichtet werden.« »Wir werden die Meldungen vom Mutterplaneten an die Anschlagtafel hängen«, erwiderte Herndon. »Ich wünschte, ich könnte ihnen die Neuigkeiten vorenthalten. Die Moral wird dadurch nicht besser. Ich… vielleicht können wir es hinausschieben.« »Im Gegenteil«, sagte Massy. »Die Leute müssen sofort informiert werden! Sie werden ihnen neue Befehle geben
müssen. Und die Leute befolgen sie um so rascher, wenn sie wissen, wie ernst die Lage ist.« Herndon sah ihn mutlos an. »Was haben Befehle jetzt noch für einen Sinn?« Als Massy das Gesicht verzog, fuhr er fort: »Ist nicht alles, was wir tun, nutzlose Beschäftigungstherapie? Ihnen kann ja nichts passieren. Jeden Tag kann ein Raumschiff vom Überwachungsdienst hier landen, um Sie abzuholen. Es wäre sinnlos, wenn dieses Schiff auf Lani II landete. Es könnte höchstens zwei Dutzend Menschen aufnehmen, und zwanzig Millionen müßten gerettet werden. Vielleicht bietet uns der Kapitän alle verfügbaren Plätze an, um wenigstens ein paar Leute von unserer Kolonie zu retten. Aber ich glaube nicht, daß viele von uns diesen Ausweg wählen werden. Ich werde es nicht tun. Riki wahrscheinlich auch nicht.« »Ich verstehe nicht…« »Unsere Lage ist verzweifelt«, unterbrach ihn Herndon. »Wir haben keine Überlebenschance. Sie selbst haben mich darauf hingewiesen. Ich habe mich davon überzeugt. Ich habe die letzten Meßwerte vom Mutterplaneten in eine Kurve eingetragen. Sie geht erst dann wieder in eine Gerade über, wenn es zu spät ist. Während der Kälteperiode schlägt sich nämlich der Sauerstoff unserer Atmosphäre nieder – in Form von Schneekristallen. Wir sind nicht ausgerüstet, einem solchen Katastrophenfall zu begegnen. Wir können uns keine geeigneten Apparaturen mehr beschaffen. Es wäre auch theoretisch unmöglich, längere Zeit in einer sauerstofflosen Atmosphäre zu überleben, selbst wenn wir riesige Sauerstoffaggregate wurden. Denken Sie doch einmal nach! Die extremen auf unserem Mutterplaneten sollen zweitausend Das haben sie dort berechnet. Das sind sechs Erdenjahre. In dieser Zeit frieren die Meere zu und türmen sich gewaltige Gletscher auf. Es dauert ungefähr zwanzig Jahre, bis das
wieder aufgetaut und die Temperatur zum Normalwert zurückgekehrt ist. Hat es einen Sinn, zwanzig Jahre unter grausamen Bedingungen zu leben – sich am Rande des Todes zu behaupten –, um dann zu einigermaßen erträglichen Verhältnissen zurückzukehren?« Massy erwiderte gereizt: »Das ist idiotisch! Ist Ihnen nicht bewußt, daß unser Planet hier eine ideale Experimentierstation ist – dem Mutterplaneten um zweihundert Tage voraus –, also wie geschaffen dazu, alles auszuprobieren, was dem Heimatplaneten helfen könnte? Wenn wir die Katastrophe auf diesem Planeten meistern können, schaffen es die zu Hause auch!« Herndon schien nicht beeindruckt. »Können Sie mir etwas nennen, was helfen würde?« »Ja«, antwortete Massy schroff. »Ich verlange, daß alle Heizungen in den Treppen und Gehsteigen sofort abgeschaltet werden. Ich will Energie sparen!« »Und wenn Sie Energie gespart haben – was wollen Sie damit anfangen?« »Die Wärme unter die Erde ableiten!« erwiderte Massy gereizt. »In der Erde speichern, bis man sie braucht. Heizen Sie das Bergwerk auf! Ich verlange, daß alle verfügbaren Heizaggregate in das Bergwerk geschafft werden. Wir müssen das Gestein aufheizen! Jedes Watt, das wir aus dem Landegerüst heraussaugen können, muß in den Berg geleitet werden, solange noch Energie verfügbar ist! Die tiefen Stollen müssen so heiß sein, daß man sie nicht mehr betreten kann! Wir werden natürlich dabei eine Menge Wärmeenergie verlieren. Man kann Wärme nicht einlagern wie Elektrizität in einer Batterie! Aber wir können sie speichern – und je mehr wir jetzt davon speichern, desto mehr können wir verbrauchen, wenn die Not am größten ist!«
Herndon dachte angestrengt nach. Dann nickte er heftig mit dem Kopf. »Wissen Sie – das ist eine Idee!« Er blickte auf. »Ich erinnere mich da an einen Fall während meiner Praktikantenzeit auf dem Mutterplaneten. Wir stießen auf ein Schieferölvorkommen in der Polarzone. Die Ausbeute hätte kaum die Kosten gedeckt, wenn man das Vorkommen in konventioneller Weise abgebaut hätte. Da kam einer auf die Idee, Heizgeräte in die Bohrlöcher zu versenken. Dann wurde das Ölschiefergestein aufgeheizt. Die heißen Öldämpfe kamen aus den Bohrlöchern und wurden oben kondensiert. So gewannen wir den letzten Tropfen Öl aus dem Vorkommen, ohne das Schiefergestein überhaupt anzutasten. Und das Beste kommt noch – der Schiefer blieb warm. Jahrelang! Die Bauern fuhren mit Planierraupen über das Gestein, verteilten Humus auf der Oberfläche und bauten Getreide an. Getreide mitten zwischen den Gletschern! Dasselbe könnten sie zu Hause wieder tun. Hitze unter der Erde speichern!« Doch dann verließ ihn sein Enthusiasmus wieder. »Aber woher wollen sie die Energie nehmen? Sie brauchen das letzte Watt dazu, um Dächer über die Straßen und Landetürme zu bauen. Dabei geht viel Zeit und Energie drauf.« Massy antwortete: »Ja, wenn sie die Türme nach Vorschrift bauen. Und wenn die Landetürme fertig sind, sind sie vollkommen wertlos. Die Ionisation nimmt hier rapide ab. Weshalb also Landetürme bauen, die später nutzlos sind? Sie sollen improvisieren – Kabel zu riesigen Netzen verbinden und mittels Hubschrauber am Himmel aufhängen. Mit so einem Netz bringen sie natürlich kein Raumschiff herunter; aber Energie zapfen sie genügend damit ab. Die Hubschrauber können sich aus dem Netz versorgen. Bei Sturm müssen die Dinger natürlich wieder herunter. Aber auf diese Weise kommt Hitze in den Boden. So
können sie unter den Dächern Getreide und Gemüse anbauen, um das Leben vieler Menschen zu retten. Weshalb so umständlich, wenn es einfach geht?« Herndon nickte wieder. Die Apathie fiel von ihm ab. »Ich gebe sofort den Befehl, die Heizung unter den Gehsteigen und Treppen abzuschalten. Und was Sie mir eben gesagt haben… ich lasse es sofort in Code übertragen und zum Mutterplaneten übermitteln. Sie… sie werden sich die Hände reiben, wenn sie die Botschaft entschlüsseln.« Er sah Massy respektvoll an. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was ich jetzt denke«, sagte er verlegen. Massy wurde rot. Es paßte sich nicht zu einem Inspektor des Weltraumüberwachungsdienstes, Eindruck zu schinden. Herndon war viel zu sentimental. Er überschätzte ihn maßlos. Begriff Herndon denn nicht, daß sein Vorschlag immer noch keinen Ausweg aus der Katastrophe bedeutete? Damit wurden die verheerenden Folgen des Kälteeinbruchs nur hinausgezögert – verhindern ließen sie sich nicht. »Ich erwarte, daß meine Vorschläge in die Tat umgesetzt werden«, sagte er kühl. »Es werden noch weitere Maßnahmen folgen.« »Geben Sie mir nur Bescheid«, sagte Herndon. »Ich sorge dafür, daß sie so rasch wie möglich befolgt werden. Riki übersetzt alles sofort in Code und übermittelt es zum Mutterplaneten!« Er stand auf und eilte hinaus. So, dachte Massy gereizt, wird man zu einer Legende. Sie basteln schon daran. Trotzdem war seine Reaktion ein wenig übertrieben. Wenn die Menschen auf Lani II tatsächlich mit Hilfe von Hubschraubern Stahlnetze am Himmel aufhängten, konnten sie ganze Gebirge und Ebenen aufheizen. Sie konnten sich riesige Wärmespeicher unter ihren Städten anlegen. Sie konnten diese Wärmespeicher so regulieren, daß die Hitze nur
an die Oberfläche drang, wenn sie dort gebraucht wurde. Sie konnten damit ihr Leben retten, wenn nicht… Zweihundert Tage hatten sie auf Lani II noch Zeit, bis dort die gleichen Bedingungen herrschten wie jetzt hier auf Lani III. Darauf folgten zweitausend Tage extrem niedriger Temperatur. Schließlich ein langsamer, ganz langsamer Temperaturanstieg bis zum Normalwert. Obwohl die Sonne längst ihre frühere Stärke erreicht haben würde, blieben die Temperaturen noch jahrelang unter dem Normalwert. Die Menschen auf Lani II konnten unmöglich so viel Wärme speichern, um diese lange Kälteperiode zu überstehen. Denn während sie Wärme speicherten, speicherte der Planet Kälte – in den gefrorenen Seen und Meeren, in den Gletschern, in dem Eis, das alles bedeckte. Das war noch nicht alles. Sobald sich Lani II abkühlte, brachen verheerende Stürme mit Schneefällen los. Sobald also die Kälte richtig einsetzte, konnte man auch die Stahlnetze nur noch im beschränkten Umfang verwenden. Und jedesmal wurde die Energieausbeute geringer. Ihre Wirksamkeit nahm viel schneller ab, als man glaubte. Und dabei stieg die Energienachfrage ständig an. Massy fühlte sich noch viel niedergeschlagener, als er die Sache durchrechnete. Sein Vorschlag war nicht viel mehr als ein Rückzugsgefecht. Natürlich, er würde Auftrieb geben, die Moral stärken und für kurze Zeit beruhigend auf die Menschen auf Lani II wirken. Doch auf lange Sicht gesehen, war sein Vorschlag ein Schlag ins Wasser. Um so verlegener war er, weil Herndon ihn wegen seiner Vorschläge wie ein Wundertier bestaunte. Wahrscheinlich würde er seiner Schwester Riki erzählen, Massy sei ein Genie. Vielleicht stimmte sie ihrem Bruder – wenn auch widerstrebend – zu. Aber Massy war alles andere als ein
Genie. Dieser Trick mit dem am Himmel aufgehängten Stahlnetz war nicht neu. Man hatte ihn auf Saril zum erstenmal angewendet, um riesige peristaltische Pumpen mit Energie zu versorgen. Damit hatten sie ein Binnenmeer ausgepumpt, das sich hinter einem Ringwall von Inseln staute. Alles, was ich weiß, dachte Massy bitter, hat schon jemand vor mir erfunden. Oder es steht in einem Fachbuch. Doch niemand vor mir hat entdeckt oder darüber geschrieben, wie ich mit dieser Katastrophe fertig werden kann! Er trat an Herndons Schreibtisch. Herndon hatte eine neue graphische Skizze mit den letzten Meßwerten angefertigt, die ihm von Lani II übermittelt worden waren. Es war die typische Kurve einer Sonnenkonstanten, wenn sich zyklische Sonnenfleckenperioden überlagern. Massy nahm einen Stift zur Hand und runzelte die Stirn. Mit klammen Fingern schrieb er Formeln nieder, stellte Gleichungen auf und löste sie. Das Ergebnis war niederschmetternd. Der Helligkeitswert der Sonne Lani würde sich nicht so stark verändern, daß die Veränderung auf Kent IV beobachtet werden konnte, wenn das Licht in vier Jahren dort eintraf. Man würde Lani nie zu den variablen Sternen rechnen, weil die Summe der Veränderungen der Hitze- und Lichtausstrahlung sehr gering war. Doch die Formel zur Errechnung planetarischer Temperaturwerte ist keine einfache Gleichung. Zu ihren Faktoren gehören Potenzzahlen und Kubikzahlen. Noch schlimmer – die Hitze, die von der Photosphäre einer Sonne abgegeben wird, verändert sich nicht im Quadrat einer Variablen, sondern in der vierten Potenz ihrer absoluten Temperatur. Ein verschwindend kleiner Unterschied in der wirksamen Oberflächentemperatur einer Sonne, der durch Sonnenflecke hervorgerufen wird, kann eine verheerende Temperaturschwankung auf einer Welt auslösen, die von der Wärmestrahlung dieser Sonne abhängig ist.
Massys Berechnungen waren keine reine Theorie. Die Daten stammten von der Sonne Sol. Bei ihr allein hatte man seit dreihundert Jahren täglich die Sonnenkonstante gemessen. Die übrigen Formeln stützten sich auf Beobachtungen, die auf der Erde angestellt wurden. Überhaupt die meisten wissenschaftlichen Formeln stützten sich auf Erfahrungen, die man auf der Erde gemacht hatte. Massy zweifelte nicht daran, daß die Berechnungen von der Erde auch für die Sonne Lani zutrafen. Denn Sol und Lani waren fast gleich groß und hatten die gleichen charakteristischen Merkmale. Das galt auch für die Sonnenflecken. Massy setzte die realen Meßwerte in die Formeln ein. Als er das Ergebnis vor sich sah, seufzte er tief. Die Temperatur auf dieser schon mit Eis überzogenen Welt würde so weit absinken, bis sich das CO2 aus der Atmosphäre in Form von Schneekristallen niederschlug. Wenn das geschah, würde die Temperatur rapide abfallen, bis sie einen Wert erreichte, der nur noch geringfügig über der Temperatur des leeren Weltraumes lag. Kohlendioxyd ist für den Treibhauseffekt verantwortlich. Der Treibhauseffekt bewirkt, daß sich ein Planet nur im thermalen Gleichgewicht befindet, wenn seine Temperatur höher ist als die seiner Umgebung. Auch in einem Gewächshaus, das von der Sonne bestrahlt wird, ist es immer wärmer als die umgebende Außenluft es ist. Dieser Treibhauseffekt würde also bald auf Lani III verschwinden. Sobald das gleiche auf dem Mutterplaneten eintrat… Plötzlich bewegte ihn ein anderer Gedanke. Wenn das Schiff vom technischen Überwachungsdienst eintrifft und Riki sich weigert, mitzufliegen, werde ich meinen Abschied nehmen. Das muß ich tun, wenn ich hierbleiben will. Und ich fliege nicht mit, wenn Riki nicht auch mitfliegt.
»Wenn Sie mitkommen wollen – schön«, sagte Massy nicht gerade liebenswürdig. Er wartete, bis Riki ihre Kälteschutzkleidung angezogen hatte. Sie bestand aus schweren Stiefeln mit zentimeterdicken Sohlen, die nahtlos in die Hosenbeine übergingen. Die Hose bestand aus mehreren Schichten kälteisolierenden Materials. Dann kam die Jacke darüber, mit Luftkammern gefüllt; die Kapuze und die an die Ärmel angenähten Fausthandschuhe. »Nachts geht keiner mehr ins Freie«, sagte sie, als sie neben ihm in der Kälteschleuse stand. »Ich schon«, erwiderte er. »Ich muß etwas nachprüfen.« Die äußere Schleusentür öffnete, sich, und sie traten auf die Treppe hinaus. Er stützte sie; denn die Stufen und Wege wurden nicht mehr geheizt. Ein dünner Niederschlag bildete sich auf ihrer Kleidung. Das war kein Frost mehr, sondern dünner, feinverteilter Staub. Eigentlich mehr ein Pulver, aus mikroskopisch kleinen Schneekristallen zusammengesetzt, die von der unvorstellbaren Kälte, die jetzt nachts herrschte, aus der Luft herausgepreßt wurden. Es stand natürlich kein Mond am Himmel. Trotzdem lag ein schwaches Leuchten über den Gletschern. Die Wohnkuppeln lagen wie umgestürzte Becher auf dem Talboden. Es herrschte Totenstille – das Schweigen der Ewigkeit. Nichts bewegte sich; nicht der leiseste Windhauch. Die Stille war so tief, daß man sein Trommelfell knacken hörte. Massy legte den Kopf in den Nacken und starrte lange hinauf in den Himmel. Nichts. Er blickte Riki an. »Schauen Sie mal den Himmel an.« Sie blickte hinauf. Sie hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Sie hätte fast aufgeschrien, so überwältigend war der Blick. Der Himmel war von unzähligen Sternen übersät – Sterne aller Schattierungen und Größe.
Doch die helleren Sterne hatte sie bisher noch nie so deutlich gesehen wie heute. So wie die Sonne am Tage von ihren Nebensonnen begleitet war – bleiche Geisterbilder des glühenden Balles –, so leuchteten jetzt die Sonnen entfernter Systeme im Zentrum mehrerer Ringe – ebenfalls Geisterbilder dieser Himmelskörper. Sie schienen nicht mehr willkürlich im Raum verteilt, sondern bildeten mit sich selbst geometrische Muster; und man hatte Mühe, die Sternbilder zu erkennen, die der Mensch am Himmel unterschied und mit Namen bezeichnete. »Oh, wie herrlich!« rief Riki. »Schauen Sie!« sagte er. »Schauen Sie!« Sie bewegte den Kopf hin und her, ließ den Blick über den Himmel schweifen. Da gab es Sterne, die wie glitzernde Dreiecke aussahen. Da sah sie Sterne, die aus leuchtendem Opal geformt schienen. Andere wieder ordneten sich zu einem rosenfarbenen Bogen, nur daß dem Bogen die vollkommene Symmetrie fehlte. Und da gab es Diamanten, die Linien, Quadrate, Sechsecke und Achtecke miteinander formten, wenn sie sich auch nicht ganz streng an die Ordnung hielten. »Es ist wunderschön«, flüsterte Riki. »Aber wonach soll ich eigentlich suchen?« »Suchen Sie das, was… nicht da ist«, befahl Massy. Sie schaute wieder hinauf. Die Sterne begegneten kalt ihrem Blick. Sie füllten den ganzen Himmel aus. Es gab keinen Fleck, wo nicht noch ein Funke Licht schimmerte. Das war nicht außergewöhnlich. Dann sah sie ein vages, flackerndes Grau im Unendlichen. Das Grau verschwand. Jetzt begriff sie, was er meinte. »Das Nordlicht ist verschwunden!« rief sie. »So ist es«, sagte Massy. »Wir haben immer solche Erscheinungen bei Nacht sehen können. Jetzt nicht mehr. Vielleicht sind wir dafür verantwortlich. Wahrscheinlich könnten wir das herausfinden, wenn wir auf Energiereserve
schalten. Aber das können wir uns leider nicht leisten. Jetzt ist nur noch ein ganz schwacher grauer Schimmer da. Sonst war der ganze Horizont in Lichtkaskaden gebadet. Das Nordlicht fehlte bisher in keiner Nacht. Jetzt ist es verschwunden.« »Ich… ich bestaunte es zum erstenmal, als wir hier landeten«, sagte Riki. »Es war ein unglaublicher Anblick. Aber es war bei Einbruch der Nacht schrecklich kalt im Freien. Und da das Nordlicht ja jeden Abend wiederkam, verschob ich es jedesmal auf das nächste Mal, mir dieses Phänomen zu betrachten. Bis heute. Und deshalb fiel es mir zuerst gar nicht auf…« Massy blickte immer noch zu der Stelle hin, wo vorhin das graue, zuckende Licht verschwunden war. »Das Nordlicht – die Aurora«, sagte er, »ist eine Lichterscheinung, die in den obersten Luftschichten entsteht, achtzig… hundert… hundertfünfzig Kilometer über dem Boden. Sie entsteht, wenn Partikel, die von der Sonne ausgestoßen werden, in die Luftschicht eindringen, angezogen vom Magnetfeld eines Planeten. Die Nordlichter sind ein Phänomen der Ionen. Ich frage mich, ob wir dieses Phänomen zum Stillstand gebracht haben. Wir holen uns die Energie aus weit weniger hohen Schichten, wenn wir sie mit unseren Landetürmen anzapfen, aber…« »Wir?« fragte Riki erschrocken. »Wir – Menschen?« »Wir nehmen den Ionen ihre Ladung ab«, sagte er, »die das Sonnenlicht am Tage erzeugt hat. Wir holen so viel Energie aus der ionisierten Schicht herunter, wie es nur irgend geht. Vielleicht haben wir der Aurora ihre Energie abgeschöpft.« Riki schwieg. »Das könnte sein«, fuhr er mit betonter Sachlichkeit fort. »Wir holten früher lange nicht so viel Energie aus dem Himmel, wie täglich neue hinzukam. Doch die Ionisation ist eine Wirkung der ultravioletten Strahlen. Atmosphärische
Gase lassen sich nicht so leicht ionisieren. Wenn die Sonnenkonstante auch nur ein bißchen absank, so könnte das vielleicht einen bedeutenden Abfall im ultravioletten Teil des Sonnenspektrums bedeuten. Es könnte sein; denn die ultravioletten Strahlen sind dafür verantwortlich, daß sich Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff in Ione verwandeln. Der Ionenabfall könnte ohne weiteres fünfzigmal so groß sein wie der Rückgang der Sonnenkonstante. Und wir pumpen unverdrossen weiter Energie aus dem letzten Rest, der noch übrig geblieben ist.« Riki bewegte sich nicht. Die Kälte war entsetzlich. Wind bei dieser Kälte hätte sie nicht eine Sekunde lang ausgehalten. Doch die Luft war so still, als sei sie eingefroren. Die Kälte war so groß, daß die Lungen beim Einatmen wehtaten. Die Brust schmerzte. »Allmählich«, fuhr Massy fort, »fange ich an, mich für einen Optimisten zu halten. Oder für einen Dummkopf. Vielleicht läuft das auf dasselbe hinaus. Ich hätte wissen müssen, daß die Energie rascher abfällt als unser Energiebedarf zunimmt. Wenn wir dem Nordlicht das Licht weggenommen haben, haben wir den Brunnen bis auf den Grund ausgeschöpft. Und der Brunnen ist leider nicht so tief wie wir glaubten.« Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen. Wenn sie endlich begreift, dachte Massy grimmig, wie hoffnungslos die Lage ist, wird sie mich nicht mehr bewundern. Ihr Bruder hat dieses Image von mir aufgebaut. Aber ich war ein Dummkopf, weil ich Hoffnungen weckte, die ich nicht erfüllen kann. Sie wird das bald einsehen. »Sie wollen damit andeuten«, sagte Riki ruhig, »daß wir nicht genügend Wärme im Bergwerk speichern können, um die Katastrophe zu überleben.« »Richtig«, bestätigte Massy grimmig. »Nicht mehr viel und nicht mehr lange. Auf keinen Fall in ausreichender Menge.«
»Wir werden also nicht so lange leben, wie Ken sich das ausgerechnet hat?« »Nicht annähernd so lange«, erwiderte Massy. »Ihr Bruder hofft, wir können wenigstens so lange durchhalten, bis wir ein geeignetes Mittel gefunden haben, um Lani II vor dem Untergang zu retten. Doch die Kraftreserven, die wir mit unserem Landeturm aus der Ionosphäre bezogen haben, werden verbraucht sein, ehe die Stahlnetze auf Lani II ihren Zweck erfüllt haben. Wir müssen viel früher auf Reserve schalten, als ich dachte. Und sind die Reserven aufgebraucht, ist es aus mit uns. Wir sterben, noch bevor der Mutterplanet in ernsthafte Schwierigkeiten gerät.« Rikis Zähne begannen zu klappern. »Ich habe keine Angst«, sagte sie zornig. »Es hört sich vielleicht so an! Aber es ist die Kälte. Ich spüre meine Füße und Hände nicht mehr. Und merken Sie sich eins: mir ist es so lieber. Wenn das von Ihnen prophezeite Schicksal eintritt, brauchen wir nicht andere zu beweinen. Und meine Verwandten sind viel zu beschäftigt, um uns hier auf Lani III zu betrauern. Gehen wir lieber wieder hinein, solange es drinnen noch warm ist.« Er half ihr wieder die Treppe hinauf. Sie fror am ganzen Leib, als die warme Luft sie einhüllte. Sie gingen in Herndons Büro. Ihr Bruder stieß zu ihnen, als Riki ihre Schutzkleidung auszog. Er warf Massy einen Blick zu. »Der Ingenieur vom Kontrollraum drüben beim Landegerüst rief mich an. Irgend etwas scheint nicht in Ordnung zu sein. Aber sie können den Fehler nicht finden. Das Landegerüst ist auf maximale Energieaufnahme geschaltet, doch es kommen nicht mehr als fünfzigtausend Kilowatt herein!« Massy schwieg. »Es kann auch nicht mehr hereinkommen«, antwortete Riki, immer noch vor Kälte zitternd. »Wir haben schon das
Nordlicht ausgelöscht. Es ist nicht mehr Energie vorhanden. Es geht zu Ende. Wir werden viel früher sterben müssen als unsere Verwandten zu Hause, Ken.« »Aber das können wir nicht! Das dürfen wir nicht!« Er wandte sich an Massy. »Wir helfen unseren Leuten zu Hause, richten sie auf, geben ihnen Mut! Es war schon eine Panik ausgebrochen. Doch unser Vorschlag, Stahlnetze am Himmel aufzuhängen, weckte erneut ihre Energie. Sie arbeiten wie die Berserker! Sie wissen, daß wir viel schlechter dran sind als sie selbst. Wir sind ihr Ansporn und Vorbild! Solange wir durchhalten, hält auch der Mutterplanet durch. Wir müssen weitermachen – irgendwie!« Riki atmete tief ein, bis das Zähneklappern aufhörte. Dann sagte sie mit ruhiger Stimme: »Hast du denn noch nicht bemerkt, Ken, daß Mr. Massy die Dinge so betrachtet, wie er es von seinem Beruf her gewohnt ist? Seine Aufgabe besteht darin, die fehlerhaften Seiten aufzuspüren. Er muß Fehler finden. Man hat ihn ja nur zu uns geschickt, damit er feststellt, was wir alles falsch gemacht haben. Er ist schon von Berufs wegen Pessimist, erwartet immer nur Schlimmes. Aber ich glaube, daß er seine Veranlagung auch positiv verwerten kann. Der Vorschlag mit den Stahlnetzen beweist es.« »Es beweist gar nichts«, erwiderte Massy. »Denn im Endeffekt bringt dieser Vorschlag nichts, ein. Die Stahlnetze hätten einen Sinn, wenn normale Bedingungen herrschen würden. Jetzt sind sie wertlos.« Riki schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist nicht wahr! Sie haben einen Sinn!« erwiderte sie entschieden. »Sie retten unseren Mutterplaneten vor der Verzweiflung. Doch jetzt müssen Sie sich eben wieder etwas Neues einfallen lassen. Wenn Sie lange genug darüber nachdenken, fällt Ihnen bestimmt das Richtige ein – etwas, das nicht nur die Moral unseres Mutterplaneten hochhält.«
»Spielt das noch eine Rolle, was die Menschen empfinden?« gab Massy verbittert zurück. »Kann das Gefühl etwas an der Wirklichkeit ändern? Tatsachen sind Tatsachen! Sie lassen sich nicht von Gefühlen beeinflussen.« Riki erwiderte mit der gleichen Festigkeit wie zuvor: »Wir Menschen sind die einzigen Lebewesen im Universum, die nichts anderes tun als Tatsachen zu verändern! Jedes andere Wesen nimmt Tatsachen so hin, wie sie sind. Es lebt dort, wo es geboren wurde; ißt die Nahrung, die ihm vorgesetzt wird; stirbt, wenn die Naturgesetze das von ihm verlangen. Doch wir Menschen tun das nicht! Besonders wir Frauen nicht. Wir lassen auch nicht zu, daß unsere Männer sich den Tatsachen fügen. Wenn wir Tatsachen nicht mögen – die uns betreffen –, ändern wir sie. Wichtige Tatsachen, die wir mißbilligen, aber nicht ändern können – überlassen wir den Männern. Sie sollen sie für uns ändern – und sie tun das auch!« Sie blickte Massy an. Und jetzt – es war kaum zu glauben – lächelte sie ihm sogar zu! »Möchten Sie so gut sein und diese dummen Tatsachen für uns zu ändern, bitte? Sie gefallen mir nicht – bitte, bitte!« Dann führte sie sich auf wie ein junges Mädchen, das für einen Helden oder einen Star schwärmt. »Sie sind so groß und stark! Ich weiß, Sie tun das ganz bestimmt – für mich!« Gleich gab sie das Theaterspielen wieder auf. Sie ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und sagte kühl: »Es war mir ernst damit. Sie könnten es.« Die Tür fiel hinter ihr zu. Ihr Bruder bewundert mich, dachte Massy. Und sie glaubt tatsächlich, ich kann Tatsachen ändern! Plötzlich fiel ihm ein, daß Riki wahrscheinlich wußte, wann das Raumschiff fällig war, um ihn abzuholen. Sie glaubte wohl, daß er sicher mit seiner Rettung rechnete, obgleich die Kolonie dem Untergang geweiht war und sich wahrscheinlich
auch keiner freiwillig retten ließ, weil der Mutterplanet ebenfalls sterben mußte. »Fünfzigtausend Kilowatt reichen nicht aus, um ein Raumschiff hier landen zu lassen«, sagte er unvermittelt. Herndon runzelte die Stirn. Dann sagte er: »Oh, Sie meinen, das Überwachungsschiff, das Sie abholen soll, kann nicht landen? Es wird in eine Umlaufbahn gehen und ein Düsenboot herunterlassen.« Massy lief dunkelrot an. »Daran dachte ich nicht. Ich hatte etwas anderes im Sinn. Ich… habe Ihre Schwester sehr gern. Sie ist… sehr tapfer und sehr, sehr nett. Außerdem gibt es noch andere Frauen in der Kolonie. Etwa ein Dutzend, wie man mir sagte. Ich glaube, wir schulden es uns und diesen Frauen, sie auf das Überwachungsschiff in Sicherheit zu bringen. Ich gebe zu, daß die Frauen damit nicht einverstanden sein werden. Aber wenn sie keine andere Wahl haben, wenn wir sie auf das Schiff schaffen und sie sich plötzlich – äh – entführt sehen, ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung, und wenn sie erst aufwachen, wenn sie bereits im Weltall sind, dann… dann werden sie sich wohl mit der Tatsache abfinden, daß sie weiterleben müssen.« Herndon erwiderte gelassen: »Ich trage mich schon seit längerem mit dem gleichen Gedanken. Ja. Ich stimme dem zu. Aber wenn das Überwachungsschiff gar nicht landen kann…« »Ich glaube, ich werde schon etwas finden, daß es trotzdem landen kann«, meinte Massy eigensinnig. »Ich kann es wenigstens probieren. Dazu brauche ich allerdings – Hilfsmittel. Sie müssen mir vorher eines versprechen: Wenn ich das Schiff tatsächlich auf die Oberfläche herunterhole, müssen Sie mit dem Kapitän ein Komplott schmieden, um die Frauen zu entführen und zu retten.« Herndon nickte nur und sah ihn unverwandt an. »Ich brauche neues Material – in gewisser Hinsicht etwas ganz Neues«, fuhr Massy verlegen
fort. »Ich muß hier auf dem Planeten zurückbleiben, um meinen neuen Plan durchführen zu können. Das ist, nebenbei gesagt, eine Bedingung, die ich ebenfalls stelle. Und selbstverständlich darf Ihre Schwester davon nichts erfahren, sonst weigert sie sich glatt, weiterzuleben.« Herndons Gesichtsausdruck veränderte sich etwas. »Was wollen Sie tun? Selbstverständlich halte ich mich an Ihre Bedingungen.« »Ich brauche ein paar Elemente, die Sie bisher in Ihrem Bergwerk nicht abbauen«, sagte Massy. »Kalium, wenn ich das bekommen kann. Natrium, wenn Sie kein Kalium haben; und im Notfall auch Zink. Zäsium würde sich am besten eignen. Doch davon haben Sie ja nichts in Ihren Schächten gefunden.« Herndon erwiderte nachdenklich: »Nein. Aber ich glaube, ich kann Ihnen Kalium und Natrium aus dem Gestein herausholen lassen. Zink leider nicht. Wieviel?« »Geringe Dosen«, antwortete Massy. »Und ich benötige noch ein kleines Landegerüst. Liliputgröße.« Herndon zuckte die Achseln. »Ich verstehe das zwar nicht, aber Sie sollen alles haben. Arbeit lenkt ab. Wir haben uns noch nie so ohnmächtig gefühlt wie in den letzten Tagen. Ich werde die Techniker und Bergleute zusammenrufen, die für diese Arbeit geeignet sind. Sie werden auf Ihre Anweisungen hören.« Herndon ging wieder hinaus. Massy zog langsam seine Schutzkleidung aus. Sie wird rasen, wenn sie erkennen muß, daß wir sie überlistet haben, dachte er. Bei den verheirateten Frauen müssen wir überlegen, ob nicht auch ihre Männer an Bord Platz finden. Ich muß ihnen die Sache schmackhaft machen. Hoffnungen vorgaukeln; sonst weigern sich die Frauen, sich evakuieren zu lassen. Als er die Mäntel beiseite legte, überschlug er in Gedanken, wieviel Männer und Frauen das Überwachungsschiff an Bord nehmen konnte. Die
Raumschiffe waren keine Luxuskreuzer. Raum war knapp bemessen. Die Schiffe waren kompakt, widerstandsfähig und klein konstruiert – nur für ihre Aufgaben als technische Raumstationen gedacht. Die Wohnquartiere würden nur sehr wenige Flüchtlinge aufnehmen können. Immer noch besser als gar nichts. Er setzte sich hinter Herndons Schreibtisch und arbeitete an seinem neuen Plan. Unmöglich war es nicht. Die Ionosphäre ließ sich in etwa mit einem Wasservorkommen in einer Sandwüste vergleichen. Wenn der Grundwasserspiegel hoch war, war auch der Druck, der das Wasser durch den Sand preßte, entsprechend hoch, und man konnte es durch eine Rohrleitung abpumpen. War der Grundwasserspiegel niedrig, konnte das Wasser nicht rasch genug fließen, und die Pumpen förderten nicht. Das gleiche galt für die Ionosphäre. Bei einem hohen Grad von Ionisation floß auch reichlich Strom, weil die Leitfähigkeit sehr hoch war und die »Sandkörner« groß. War der »Ionenspiegel« niedrig, wurden auch die »Sandkörner« klein, der Widerstand entsprechend groß und die Energieausbeute gering. Aber er hatte vorhin ein winziges Aufflackern über dem Horizont beobachtet. Es war also noch Energie in der Ionosphäre vorhanden. Wie konnte er den Energiezufluß steigern? Er mußte die Pumpe »präparieren«. Wenn er die Leitfähigkeit der Ionosphäre erhöhte, indem er die Anzahl der Ionen an der Stelle vermehrte, wo die Energie abgezogen wurde, mußte sich auch der Stromzufluß erhöhen. Er ersetzte also gewissermaßen einen Röhrenbrunnen durch einen Ziegelbrunnen. Ein Ziegelbrunnen ist in der Lage, das Wasser aus seiner Peripherie abzusaugen. Massy rechnete langsam und gewissenhaft. Schade, daß er jetzt keine Versuchsraketen zur Verfügung hatte, mit denen der technische Überwachungsdienst die Wetterlage eines Planeten
überprüft. Das hätte ihm die Rechnerei erspart. Diese Raketen stiegen senkrecht achtzig Kilometer in den Himmel hinauf und zogen eine Natriumwolke hinter sich her. Diese Natriumspur ließ sich eine Weile lang nachweisen, und Bodenstationen zeichneten jede Verschiebung der Natriumwolke durch Höhenwinde auf. An solch eine Rakete dachte Massy jetzt, als er seine Berechnungen anstellte. Die Ladung mußte er etwas abändern. Und da er über keine Rakete verfügte, würde er sich ein anderes Trägerinstrument einfallen lassen müssen. Sie wird mich wieder loben, weil ich auf diese Idee gekommen bin, dachte er müde. Aber ich wende nur an, was man mir beigebracht hat. Die Mathematik könnte ich mir sparen, wenn ich eine Rakete hätte. Die Arbeit gab ihm neuen Ansporn. Ein reguläres Landegerüst mußte mindestens tausend Meter Basisdurchmesser und sechshundert Meter Höhe haben, um Raumschiffe bis zu einer Höhe von fünf Planetendurchmessern in den Weltraum hinaufheben zu können. Da es feste Körper bewegte, mußte es sehr präzise gebaut werden. Um aber eine Natriumbombe in eine Höhe von vierzig bis achtzig Kilometer hinaufzuschießen, brauchte man nur ein Landegerüst von der Größe eines Planschbeckens: zwei Meter im Durchmesser und einsfünfzig hoch. Damit konnte man die Bombe natürlich noch viel höher hinaufschießen. Sie dort oben festzuhalten, war auch kein Problem. Wenn er die Größe verdoppelte, würde die Treffsicherheit sich erheblich verbessern. Er verdreifachte die Maße. Das Landekreuz sollte sechs Meter Basisdurchmesser haben und vier Meter fünfzig hoch sein. Wenn man es auf das Gehäuse einer Bombe justierte, konnte es das Ding auf eine Höhe von 225 000 Meter bringen und dort festhalten. Das war für seine Zwecke mehr als ausreichend. Er arbeitete sofort die Skizzen für das Landegerüst aus.
Herndon stellte Massy die sechs Leute vor, die er für ihn ausgesucht hatte. Sie waren beträchtlich jünger als Massy, doch fest entschlossen, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, das nicht nur ihr Leben, sondern auch die Spuren ihrer Zivilisation auf diesem Planeten auslöschen wollte. Sie sahen Massy geradezu herausfordernd an. Massy erläuterte seinen Plan. Er wollte eine Wolke Metalldampf in die Ionosphäre hinaufschießen. Natrium, wenn es nicht anders ging; Kalium, wenn er es bekam; Zink, doch nur im Notfall. Solche Metalle wurden von der Sonne rasch ionisiert – viel schneller als atmosphärische Gase. Mit anderen Worten: er frischte an bestimmten Stellen die Ionosphäre mit Partikeln auf, um die Wirksamkeit der Sonneneinstrahlung zu erhöhen und den Zufluß von Energie zu steigern. Auch die Leitfähigkeit der Ionosphäre würde besser werden. »Vor vielen Jahrhunderten hatte man auf dem Planeten Erde etwas ähnliches gemacht«, erklärte Massy. »Man verwendete dort Raketen und erzeugte Natriumwolken von fünfzig Kilometer Ausdehnung. Auch heute noch greift die technische Raumfahrtüberwachung auf dieses Verfahren zurück, um Windströmungen zu messen. Es funktioniert also. Fragt sich nur, wie gut.« Er spürte Herndons Blicke auf sich ruhen. Der Mann betrachtete ihn wie einen Halbgott. Einer der Leute fragte kühl: »Wie lange werden sich diese Wolken halten können?« »In dieser Höhe? Mindestens drei bis vier Tage«, erwiderte Massy. »Nachts werden sie nicht viel helfen; aber solange die Sonne scheint, vergrößern sie die Energiezufuhr beträchtlich.« Ohne lange zu fragen, liefen alle auseinander, um Werkzeug und Geräte zu holen. Herndon war ebenfalls verschwunden. Wahrscheinlich war er zu Riki gegangen, damit sie Massys Idee in das Punkt-Strich-Code übersetzte und zum Mutterplaneten funkte. Doch Massy hatte jetzt keine Zeit,
Herndon davon abzuhalten. Die Leute wollten genaue Anweisungen haben. Skizzen mußten erläutert, Maße korrigiert werden. Dann kamen noch weitere Männer zu ihm, die ebenfalls an seinem Projekt mitarbeiten wollten. Als Massy wieder allein war, dachte er niedergeschlagen: Vielleicht lohnt es sich doch, weil Riki sich dann überreden läßt, mit dem Raumschiff mitzufliegen. Doch die Männer hier glauben, meine Idee könnte ihre Angehörigen auf dem Mutterplaneten retten! Aber das war leider nicht der Fall. Die Gesamtsumme der Energie ist unveränderlich. Zapft man dem Sonnenlicht Energie ab, muß sich das bemerkbar machen. Beutet man die Sonneneinstrahlung in Form von elektrischer Energie aus, geht die Hitzestrahlung zurück. Wärmt an einer Stelle den Boden auf, wird die ganze Umgebung entsprechend kälter. Auf diesem Planeten mit seiner kleinen Kolonie spielte das keine Rolle. Aber den Mutterplaneten konnte dieser Trick mit den Kaliumwolken nicht retten. Er würde zwar das Leben der zwanzig Millionen verlängern. Doch das Ende blieb unvermeidlich. Die Tür ging auf, und Riki stürzte herein. Sie stotterte ein bißchen. »Ich… ich habe eben durchgegeben, was Ken mir diktiert hat. Es…es ist unglaublich! Das… das ist die Rettung! Es ist wunderbar! Ich… ich wollte Ihnen das nur sagen!« Massy schrak innerlich zusammen. Seine Idee war ganz und gar nicht wunderbar. »Betrachten Sie meine Worte als eine Art Verbeugung«, erwiderte er, krampfhaft bemüht, einen scherzhaften Ton anzuschlagen. Er versuchte zu lächeln. Es gelang ihm nicht. Riki atmete tief und blickte ihn mit schräggelegtem Kopf an. »Ken hat recht«, sagte sie leise. »Er meint, Sie seien nie von sich selbst überzeugt. Auch jetzt nicht. Sie finden sicher wieder ein Haar in der Suppe.« Sie lächelte und fuhr fort: »Was mir aber so an Ihnen gefällt, ist Ihre Naivität. Sie sind
nicht gerissen. Eine Frau kann Sie beeinflussen. Ich habe es wenigstens geschafft!« Er sah sie unsicher an. Sie lächelte. »Ich, sogar ich, kann mir wenigstens einbilden, daß ich mitgeholfen habe, diesen Planeten zu retten. Ich habe Sie gebeten, die Tatsachen zu verändern. Hätte ich nicht gesagt, wie groß und stark und schlau Sie sind – nun, es ist die Genugtuung meines Lebens. Ich habe mitgeholfen, unsere Zivilisation zu retten!« Massy schluckte. »Ich fürchte«, sagte er kläglich, »daß es trotzdem nicht funktioniert.« Sie legte wieder den Kopf schief. »Nein?« Er sah sie erschrocken an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Sie sind… schrecklich!« weinte sie. »Ich komme zu Ihnen und… und wenn Sie glauben, Sie können mich in die Freiheit entführen lassen… mich in Sicherheit bringen… ohne mir sagen, daß Sie mich ›recht gern haben‹ und daß ich ein ›wunderbares Mädchen‹ bin. Wenn Sie glauben, daß mir das genügt, wenn mein Bruder mir das sagt…« Er war wie betäubt. Sie wußte es also. Wieder stampfte sie mit dem Fuß auf. »Um Himmels willen«, schluchzte sie. »Muß ich Ihnen erst befehlen, mich zu küssen?« In dieser Nacht trafen sie die letzten Vorbereitungen. Massy saß vor dem Außenthermometer. Er beugte sich darüber wie über ein fieberkrankes Kind. Er beobachtete und schwitzte, obwohl es kühl im Kuppelraum war, weil man die Heizung zurückgedreht hatte. Es gab nichts, was er noch tun konnte. Um Mitternacht sank die Temperatur auf 55 Grad unter Null. Um drei Uhr morgens waren es bereits 60 Grad unter Null. Um fünf Uhr sank das Thermometer auf minus fünfundsechzig Grad. Er schwitzte aus allen Poren. Das Kohlendioxyd schied
als Eiskristall aus den oberen Schichten der Atmosphäre aus. Es rieselte hinunter auf wärmere Lufthüllen und verwandelte sich wieder zu Gas. Doch bei diesem Vorgang brach die Temperatur zusammen. Damit schrumpfte auch die Gashülle. Das Kohlendioxyd kam stetig tiefer herab. Oberhalb der Kohlendioxydgrenze fiel die Temperatur rapide ab, da der Treibhauseffekt fehlte. Wenn die Bodentemperatur auch nur ein bißchen unter minus 86 Grad Celsius sank – dann war alles aus. Ohne den Treibhauseffekt würde die von der Sonne abgewandte Seite des Planeten nachts ihre gespeicherte Wärme verlieren. So rasch, wie man die Atemluft aus der Lunge läßt. Selbst die Tagseite würde ihre Wärme an das Weltall abgeben. Die Sonneneinstrahlung wäre dann so nutzlos wie Wasser in einem Sieb. Minus 86 Grad war die kritische Temperatur. Erreichte sie diesen Wert, würde sie sofort um weitere einhundert Grad fallen. Die Temperatur würde dann nie mehr ansteigen – nie mehr! Nachts würde es regnen – Sauerstoff, der sich bei der Kälte verflüssigt hatte. Menschliches Leben war unter solchen Bedingungen nicht mehr zu retten. Selbst Unterkünfte waren dagegen machtlos, wenn die Atmosphäre die Wärme mit Gewalt aus dem Boden holte. Ein Raumanzug wird geheizt, um den Wärmeverlust im Vakuum auszugleichen. Dort geht die Wärme durch Strahlung verloren. Aber man kann keinen Raumanzug gegen Stickstoffniederschlag aufheizen. Gegen diese verheerende Kälte kommt keine Heizung mehr an. Massy schwitzte. Noch stand das Thermometer bei minus 65 Grad. Als die Dämmerung den jungen Tag ankündigte, stieg die Säule auf minus 56 Grad an. Am späten Vormittag kletterte die Temperatur sogar auf 54 Grad unter Null. Massy fühlte sich wie zerschlagen, als Herndon ins Zimmer trat. »Ihr Telefonschirm flackert ununterbrochen«, sagte Herndon. »Aber Sie gehen nicht ran! Riki ist im Bergwerk und
sieht den letzten Vorbereitungen zu. Sie machte sich Sorgen, weil Sie sich nicht melden.« »Hoffentlich hat sie die Atemluft im Bergwerk aufgeheizt«, sagte Massy. »Natürlich hat sie das«, antwortete Herndon. »Was haben Sie denn? Sind Sie krank?« »Nein. Es ist das Thermometer. Es nähert sich der kritischen Temperatur. Heute nacht wird es noch schlimmer werden. Und übermorgen nacht… Das Kohlendioxyd verwandelt sich in Eis.« »Wir werden es schon schaffen!« sagte Herndon. »Wir haben neue Energie! Damit bauen wir Eistunnel und Eiskuppeln – eine ganze Stadt, falls das nötig sein sollte. Wenn wir wieder Energiezufuhr aus der Ionosphäre erhalten, schaffen wir es!« »Das bezweifle ich sehr«, sagte Massy düster. »Ich wünschte, Sie hätten Riki nichts von unserer Abmachung erzählt, daß wir sie mit dem Raumschiff in Sicherheit bringen wollen.« Herndon grinste nur. »Ist das kleine Landegerüst schon fertig?« fragte Massy nach einer Weile. »Alles steht bereit«, sagte Herndon. »Bis jetzt haben wir noch nicht gewagt, das Landegerüst ins Freie zu bringen. Wir halten es mit Heizstrahlern eisfrei. Auch die Bomben liegen bereit. Der Vorrat reicht für Monate. Man kann nie wissen…« Massy blickte Herndon schräg von der Seite an und seufzte. »Gehen wir hinaus und sehen wir nach, ob die Sache hinhaut.« Massy schleppte sich müde dahin. Herndons Begeisterung steckte ihn nicht an. Riki läßt sich nicht evakuieren, dachte er. Und ich fliege nicht mit, weil ich nicht kann. Ich darf sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Sie jubeln und sind begeistert. Doch noch ist gar nichts entschieden. Und Riki glaubt, sie hätte mich inspiriert – zu einem Genie gemacht. Statt dessen tue ich nichts anderes, als was ich in meinen Büchern gelesen habe.
Wieder legte er die schwere Kältekleidung an. Jeder mußte jetzt eine Schutzmaske tragen. Die Luft wurde durch einen langen Rüssel geleitet und vorgeheizt, ehe sie die Atmungsorgane erreichte. Trotzdem konnte man sich nur kurze Zeit im Freien aufhalten. Massy ging die Treppe hinunter. Die Sonne war noch blasser geworden und hatte ihre Geisterbilder verloren. Der Himmel war dunkel, ein dunkles Violett, in dem Massy feine Lichtpunkte zu unterscheiden wähnte. Sterne, die jetzt auch am Tage zu sehen waren. Nichts Lebendiges schien sich mehr im Freien aufzuhalten. Nur das kalte Weiß der Berge triumphierte. Doch dann rührte sich etwas am Stolleneingang. Vier Männer traten heraus in die Kälte, vermummt wie Massy, grotesk anzusehende wandelnde Fässer. Sie brachten das Liliputlandegerüst ins Freie und beförderten es mit Hilfe eines Motorschlittens zu einem kreisrunden Monolithen, der sich in der Mitte des Tales erhob. »Wir haben diesen Stein als Basis ausgewählt«, drang Herndons Stimme dumpf durch die Kältemaske, »weil man das Gerüst auf festem Untergrund besser in eine beliebige Richtung schwenken kann.« »Vielen Dank«, murmelte Massy. »Jetzt wollen wir mal ausprobieren, ob es funktioniert.« Schwerfällig bewegte er sich vorwärts. Nichts regte sich mehr im Blickfeld – nur die vier vermummten Gestalten am Landegerüst. Weiße Atemwolken dampften um ihre Köpfe. Sie winkten ihm zur Begrüßung zu. Ich bin populär, dachte er müde. Ich bin ihre Hoffnung. Aber ich kann es ihnen ja nicht ausreden. Wenn das Raumschiff hier landen kann, hilft mir das auch nicht weiter. Riki ist gewarnt, Sie läßt sich nicht entführen. Und dieser Trick mit den Metallwolken ist nur eine Notlösung. Sie zögert den Tod hinaus. Bannen kann sie ihn nicht.
Riki winkte ihm zu. Vermummt wie ein Bär, stand sie am Stollenausgang und winkte. Doch auch das munterte ihn nicht auf. Er hatte gehofft, viele Jahre an Rikis Seite leben zu dürfen. Bis der Tod uns scheidet, dachte er. Und der Tod zählte bereits die Stunden. Vielleicht lebten sie übermorgen nicht mehr. »Ich habe das Instrumentenbrett herausbringen lassen«, rief sie hinter ihrer Maske. »Man kann die Schalter kaum anfassen vor Kälte. Aber Sie können gleich die Meßwerte ablesen!« Wenn schon. Viel abzulesen gab es sowieso nicht. Wenn alles glatt ging, schlugen ein paar Zeiger aus. Doch die Temperatur änderte sich trotzdem nicht. Der Ingenieur vom großen Landeturm würde sich melden und mitteilen, daß der Stromzufluß aus der Ionosphäre ständig zunahm. Doch mit Einbruch der Dunkelheit fiele das Thermometer noch stärker als in der vergangenen Nacht zurück. Wenn die Säule die kritische Markierung erreicht hatte, gab es einen unaufhaltsamen Temperatursturz. Dann spielte es keine Rolle mehr, wieviel Energie die Ionosphäre hergab. Das Los der Kolonie war besiegelt. Die Atmosphäre brach zusammen, die Kolonie starb. Jetzt näherte sich wieder eine dick vermummte Gestalt dem Liliputgerüst. Sie trug ein Paket unter dem Arm – einen in kälteisolierendes Material eingewickelten Gegenstand. Die Gestalt bückte sich, kletterte unter den Gitterstreben des einen Landeturms hindurch und stellte den Gegenstand auf den kreisrunden Monolithen. Massy beobachtete alles mit wachsamen Augen – den Geräteaufbau, die Schaltung, das Kabel, das vom Landegerüst zum Schaltpult lief. Von dort aus spannte sich ein zweites Kabel bis zum Stolleneingang und verschwand im Inneren des Berges, wo das Notstromaggregat stand. »Das Landegerüst ist auf die richtige Frequenz eingestellt«, sagte Riki atemlos neben ihm. »Ich habe es selbst überprüft.« Die vermummte Gestalt im Landegerüst riß die Hülle von der
Bombe. Im gleichen Moment stieg eine dünne, graue Rauchsäule auf. Rasch kletterte der Mann aus dem Kraftfeldbereich des Gerüstes. Sobald der Mann die Gefahrenzone verlassen hatte, legte Massy einen Schalter um. Man hörte ein hohes Wimmern. Der winzige rauchende Gegenstand auf dem Stein schoß senkrecht in die Luft. Die Schwerkraft schien auf den Kopf gestellt. Das Ding schien in den Himmel hinaufzufallen. Dieser Vorgang hatte nichts Dramatisches an sich. Ein Gegenstand von der Größe eines Tennisballs fiel in den Himmel und verschwand. Massy stand vor dem Kontrollpult. Er drehte an den Schaltknöpfen und beobachtete die Skalen. Die Bombe durfte nicht zu viel Beschleunigung bekommen. Auf einer Höhe von dreißig Kilometern gab es nur noch geringen Luftwiderstand. Die Dampfwolke durfte sich nicht im All verlieren. Der Feldmesser erreichte die 30 000 Meter-Markierung. Massy kehrte das Schwerefeld um, zählte und schaltete dann die Stromzufuhr ab. Das wimmernde Geräusch verstummte. Er legte jetzt den Hebel der Energieaufnahme um. Die Nadel bewegte sich zitternd. Das Liliputgerüst zapfte jetzt die Ionosphäre an wie der große Bruder am Ende des Tals. Nur war sein Kraftfeld ungleich geringer. Als würde man Wasser durch einen Strohhalm pumpen. Plötzlich schlug der Energiemesser aus, hielt einen Moment zitternd still und kroch dann stetig über die Skalenwerte weiter. Riki berührte Massy am Ärmel. »Schauen Sie sich das an!« rief sie. »Schauen Sie nur!« Die vier Männer, die das Stahlgerüst auf dem Monolithen aufgestellt hatten, starrten in den Himmel hinauf. Plötzlich warfen sie die Arme in die Luft und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Sie führten einen wahren Freudentanz auf. Massy starrte ebenfalls nach oben. Dort, wo der Himmel so merkwürdig dunkel aussah und man die Sterne zu erblicken
glaubte, breitete sich eine Wolke aus. Zuerst schien sie nicht größer zu sein als eine Männerfaust; doch sie wuchs mit rasender Geschwindigkeit. Die Ränder der Wolke waren gelb – safrangelb. Und je mehr sich die Wolke ausbreitete, desto dünner wurde sie. Und dann begann sie zu leuchten. Jemand kam aus dem Stollen. Er deutete aufgeregt zum Eingang des Bergwerkes. »Das Gerüst…!« rief er. »Das große Landegerüst! Es pumpt Energie! Massenhaft Energie!« Er machte wieder kehrt, rannte zu seinen Meßinstrumenten zurück. Doch Massy hatte gar nicht hingehört. Er starrte in den Himmel hinauf, als könne er seinen Augen nicht trauen. Die Wolke dehnte sich nur noch langsam aus; aber sie wuchs weiter. Und sie hatte keine symmetrische Form. Die Bombe hatte keinen Rauchpilz hinterlassen, sondern eine Art Fahne; einen langgezogenen, schimmernden Bogen. »Das sieht aus«, rief Riki atemlos, »als wäre ein Komet an unserem Planeten vorbeigeflogen!« Diese Worte trafen Massy wie ein Blitz. Er starrte auf die dünne Rauchfahne, die er an den Himmel gemalt hatte, und ballte die Hände in den Handschuhen zu Fäusten. Der Mund wurde ihm trocken. »Das ist es«, flüsterte er. »Es sieht wirklich wie… wie ein Komet aus. Ich bin froh, daß Sie das gesagt haben! Wir können noch mehr Kometen an den Himmel hängen. Wir… wir schießen alle Bomben hinauf, die wir auf Vorrat haben! Sofort! Wir müssen uns beeilen, damit es heute nacht nicht kälter wird!« Das hörte sich natürlich sehr konfus an, und Riki beobachtete ihn besorgt von der Seite. Massy hatte zum erstenmal einen Gedankenblitz, eine Idee. Das war nichts, was er aus Büchern gelernt hatte. Der Komet am Himmel war eine Offenbarung.
Er starrte immer noch hinauf. Die Idee war so vielversprechend, daß er kaum daran zu glauben wagte. Hoffentlich zerrann sie nicht vor seinen Augen wie eine Fata Morgana. Doch der Schleier blieb. Sein Herz klopfte schneller. Mit dieser Idee konnte er vielleicht doch noch die Tatsachen ändern, die eine veränderte Sonnenkonstante mit sich brachte. Vielleicht war das die Rettung! Die Kolonie machte sich mit Feuereifer an die Arbeit, nachdem man die Wirkung der zweiten Bombe abgewartet hatte. Bomben wurden wie am Fließband fabriziert, mit Natrium und Kalium gefüllt, mit Zündern versehen und in Isoliermaterial verpackt, damit die Kälte im Weltraum dem Zündmechanismus nicht schadete. Zuerst klappte es noch nicht so recht mit der Herstellung. Die Freude war zu groß. Die Männer mußten sich erst wieder beruhigen. Die Isolierung der Bomben war besonders wichtig. Sie sollten im Vakuum detonieren. Das kleine Landegerüst konnte die Bomben bis auf eine Höhe von 250 Kilometer hinauf schleudern. Doch wenn man dann das Kraftfeld ausschaltete, hielt die Bomben nichts mehr zurück. Sie flogen mit gleichbleibender Geschwindigkeit ins All hinaus. Und sie explodierten, wenn die Verzögerungszünder das wollten. Die Natrium- und Kaliumwolken wurden weit in den Raum hinausgeschleudert, weil kein Widerstand sie bremste. Das absolute Vakuum riß die komprimierten Metallgase buchstäblich auseinander. Die Metallatome – weißglühend von der Explosion – taumelten durch den mit Sonnenstrahlen erfüllten Raum. Dadurch wurde das Sonnenlicht etwas getrübt. Doch die Atome der leichteren alkalischen Erdmetalle besitzen bemerkenswerte photoelektrische Eigenschaften. Die Energiestrahlung der Sonne ionisiert diese Gasmoleküle. Aufgeladen stoßen sich die Moleküle gegenseitig ab und
verbreiten sich noch weiter im Raum. Sie kondensieren nicht zu winzigen Tröpfchen, die wieder zu Boden fallen. Sie bildeten eine Wolke im Vakuum. Eine ionisierte Wolke, deren Bestandteile so winzig waren, daß sie nicht einmal auf den Druck, den das Licht auf sie ausübte, reagierten. Die Wolke wirkte wie die Gase in einem Kometenschweif. Die Wolke war tatsächlich so etwas wie ein Kometenschweif, obgleich es keinen Kometen gab. Und es war unglaublich, wie weit sich diese winzige Masse ausbreitete; denn unter normalen atmosphärischen Bedingungen konnte man die Masse eines Kometenschweifes bequem in einem Hut unterbringen. Ehe sich diese Masse in eine Wolke verwandelt hatte, besaß sie die Größe eines Tennisballs. Doch im All bedeckte sie eine riesige Fläche – und sie glühte. Sie strahlte geradezu mit der Helligkeit einer Sonne. Denn die winzigen Partikel reflektierten das Sonnenlicht, dessen Strahlen auf sie trafen. Vorher waren die Strahlen der Sonne ungehindert vorbeigezogen und hatten sich in der Tiefe des interstellaren Raumes verloren. Doch jetzt versperrten schwebende Metallatome den Weg. Innerhalb einer Stunde erreichte der Kometenschweif bereits eine Länge von fünfzehntausend Kilometern. Der Himmel war erheblich heller geworden. Und das war erst der Anfang – die Wirkung einer einzigen Bombe. Die zweite Bombe explodierte an einer anderen Stelle im Weltraum. Massy hatte das Gerüst herumschwenken lassen und den Abflugwinkel sorgfältig berechnet. Die dritte Bombe explodierte wieder in einem anderen Sektor. Die schimmernden Fahnen im All nahmen an Leuchtkraft zu. Massy jagte eine Bombe nach der anderen hinauf. Er mußte noch vor Einbruch der Dunkelheit einen möglichst dichten Schleier um den Planeten hängen. Er wollte unbedingt verhindern, daß die Temperatur noch weiter abfiel.
Und das gelang ihm auch. An diesem Abend gab es überhaupt keine Dämmerung. Auf Lani III wurde es in dieser Nacht nicht dunkel. Selbstverständlich drehte sich der Planet wie immer um seine Achse. Doch um ihn herum hingen gigantische Nebelstreifen aus leuchtendem Gas. Zuerst glichen sie nur Kondensstreifen. Doch dann vereinigten sie sich zu einem dünnen Nebelvorhang aus Metall, in dem sich die Sonnenstrahlen verfingen und der sie ablenkte, hinunter auf die Oberfläche von Lani III. Um Mitternacht gab es nur eine einzige dunkle Stelle am Nachthimmel – über dem Pol des Planeten, der sich der Sonne zuneigte. Und die gigantischen leuchtenden Metallschleier hatten sich zu einer Röhre vereinigt, zu einer schützenden Mauer, die den Planeten vor der Dunkelheit und der Kälte abschirmte. Diese Mauer war viel dichter, als ein Kometenschweif es je sein konnte. Entsprechend war auch die Wirkung. Vom Himmel strahlte eine künstliche Sonne herab. Riki behauptete steif und fest, sie könne die Wärme, die vom Himmel auf den Planeten reflektiert wurde, auf der Haut spüren. Aber das war natürlich maßlos übertrieben. Die Wärme ließ sich allerdings nachweisen. Das Thermometer fiel in dieser Nacht überhaupt nicht. Im Gegenteil – es stieg. Kurz vor Tagesbeginn zeigte es 45 Grad unter Null an. Während des Tages – Massy schoß an diesem Tag noch zwanzig Bomben in den Himmel – kletterte das Thermometer auf 30 Grad unter Null. Am Tag darauf trafen genaue Berechnungen vom Mutterplaneten ein und exakte Meßdaten, wie sich das Klima infolge der Gaswolken veränderte. Massy konnte daher am dritten Tag seine Bomben genau placieren, so daß sich eine optimale Wärmereflektierung erzielen ließ. Als der vierte Tag hereinbrach, zeigte das Thermometer nur noch 20 Grad unter Null an. Am fünften Tag schmolzen die
Eishänge der Berge, und gegen Mittag lief ein kleiner reißender Fluß mitten durch das Tal. An dem Morgen, als das Raumschiff vom Überwachungsdienst landete, debattierte man bereits lebhaft in der Kolonie, was für Fischarten man im Fluß aussetzen sollte. Das große Landegerüst gab ein tiefes vibrierendes Geräusch von sich – wie der tiefste Ton einer gewaltigen Orgel. Zuerst erschien nur ein leuchtender Punkt hoch oben im blaßblauen Himmel, der mit goldschimmernden Gaswolken durchzogen war. Der Punkt wurde immer größer, wurde zu einer silbernen Scheibe und setzte dann sanft auf der Spitze des Landegerüsts auf. Nachdem der Kapitän des Raumschiffes den rotangestrichenen Landeturm verlassen und mit Herndon ein längeres Gespräch geführt hatte, suchte er Massy auf. Er hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. »Was… was ist das, zum Teufel?« beschwerte er sich bei Massy. »In der ganzen Milchstraße habe ich so etwas noch nicht gesehen! Man hat mich bereits an Bord davon unterrichtet, daß Sie dafür verantwortlich zeichnen! Verflixt noch mal – ich habe ja schon viel erlebt – Kometen, Gasringe, Supernovas. Doch leuchtende Gasröhren, die eine halbe Million Kilometer Durchmesser haben und genau auf die Sonne gerichtet sind – nein! Das gibt es nicht! Und doch sind sie da – zwei Röhren sogar! Zwei Planeten, in leuchtende Gasschleier gehüllt!« Herndon erklärte sachlich, weshalb diese Vorhänge im Raum hingen. Der Kapitän wollte Tatsachen wissen, Einzelheiten, Meßwerte! Er mußte einen Bericht erstatten. Verdammt noch mal – er brauchte fundierte Angaben! Massy ging sofort in die Verteidigung. Ein Inspektor des Überwachungsdienstes ist kein Halbgott in den Augen eines
Raumkapitäns. Im Gegenteil – Leute wie Massy konnten den Kapitänen der Raumflotte das Leben sauer machen. Man mußte sie zu den unmöglichsten Stellen im Weltraum bringen, wo sie die technischen Einrichtungen einer Kolonie zu überprüfen hatten. Meistens waren das Planeten mit unberechenbaren Gefahren, die man ihretwegen anfliegen mußte – Neuland sozusagen, das der Navigation so manche Probleme aufgab. Ein Mann wie Massy war in den Augen eines Raumschiffkommandanten eher ein lästiger Fahrgast als ein Held. »Ich hatte gerade die technische Überprüfung beendet«, sagte Massy, »als sich eine zyklische Überlagerung von Sonnenfleckenperioden einstellte. Alle Sonnenfleckenperioden gingen in Phase miteinander, und die Sonnenkonstante fiel auf einen kritischen Wert ab. Selbstverständlich bot ich sofort meine Hilfe an, um diese kritische Situation zu beheben.« Der Kapitän des Raumkreuzers starrte ihn ungläubig an. »Aber… das ist ja ganz unglaublich!« sagte er fassungslos. »Man hat mir zwar erklärt, wie Sie das geschafft haben; aber… ich kann das einfach nicht begreifen! Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet? Mit solchen Gasvorhängen kann die Weltraumbehörde mindestens fünfzig Welten am äußeren Rand der Sonnensysteme für Menschen bewohnbar machen! Mindestens fünfzig!« Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Unglaublich! Und das alles mit einem halben Pfund Natriumdampf pro Woche!« Er starrte Massy an. »Wissen Sie, daß der Wärmeeinfall auf diesem Planeten um fünfzehn Prozent zugenommen hat? Wissen Sie, was das heißt?« »Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht«, verteidigte sich Massy. »Es gab eine kritische Situation. Man mußte etwas tun. Ich… äh… ich erinnerte mich an das, was ich gelernt habe. Und Riki schlug mir dann etwas vor, woran ich noch gar nicht gedacht hatte. Es war ein brauchbarer
Vorschlag. Was sich daraus entwickelt hat, haben Sie ja selbst gesehen.« Er schwieg und fuhr dann barsch fort: »Ich fliege nicht mit. Ich werde Sie bitten, der Behörde meine Kündigung zu übermitteln. Ich… ich denke daran, mich hier niederzulassen. Es wird natürlich lang dauern, bis auf diesem Planeten ein wirklich gemäßigtes Klima herrscht. Doch wir können in ein paar Monaten ein Tal wie dieses hier aufheizen, um das Notwendigste anzubauen. Und… nun… ich glaube, das ist eine lohnende Aufgabe. Ein ganz neuer Planet mit einem völlig neuen biologischen Haushalt…« Der Raumschiffkapitän ließ sich in einen Sessel fallen. Die Tür ging auf, und Riki kam herein. Der Kapitän erhob sich wieder. Massy stellte die beiden einander vor. »Ich sagte ihm gerade«, meinte Massy verlegen, »daß ich aus dem Überwachungsdienst ausscheide, um mich hier niederzulassen.« Riki nickte und legte ihre Hand auf Massys Arm. Der Raumschiffkapitän räusperte sich und sagte: »Ich nehme die Kündigung nicht an. Wir brauchen sehr genaue Unterlagen und Berichte, wie dieses Experiment mit den Gasbomben funktioniert. Wenn man mit Dampfwolken im Vakuum einen Planeten warmhalten kann, sollte man bei zu heißen Planeten den umgekehrten Effekt auch erreichen können! Wenn Sie Ihren Abschied nehmen, muß ein anderer hierherkommen, Beobachtungen anstellen, Berichte schreiben und die Einzelheiten dieses Phänomens ausarbeiten! Und Ihr Nachfolger könnte frühestens in einem Jahr hier eintreffen! Sie müssen also hierbleiben, um einen Bericht über Ihr Experiment zu schreiben. Und Sie müssen als Berater zur Verfügung stehen, wenn Ihr Verfahren in einem anderen Planetensystem angewendet wird! Ich werde melden, daß ich auf die Ausnahmebestimmungen des Überwachungsdienstes zurückgreifen mußte, um Sie…«
Riki unterbrach ihn mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Aber das tut er natürlich gern. Selbstverständlich bleibt er beim Dienst. Nicht wahr, Liebling?« Massy nickte benommen. Mein ganzes Leben lang bin ich einsam gewesen, dachte er. Ich hatte keine Heimat. Doch kein Planet kann mir so ans Herz wachsen wie dieser hier, wenn es warm ist, die Knospen sich öffnen und das Gras unter den Füßen wächst, weil ich mithalf, dieses Leben zu spenden. Doch Riki will, daß ich trotzdem beim Dienst bleibe. Frauen sind einfach unberechenbar. Laut sagte er: »Natürlich bleibe ich beim TÜD. Ich… ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, wie Sie schon sagten. Sie werden aber verstehen, daß eigentlich nichts Besonderes daran ist. Was ich getan habe, habe ich entweder in der Schule gelernt oder in Büchern gelesen.« »Oh, sei still«, flüsterte Riki, »du bist wundervoll!«
Originaltitel: CRITICAL DIFFERENCE. Copyright © 1956 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Juli 1956. Übersetzt von Bodo Baumann.
Fritz Leiber FREUNDE UND FEINDE
Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, aber als die fünf Männer aufs freie Feld hinaustraten, spürten sie die Hitze des kommenden Tages. Zur Linken zeichneten sich in der Ferne die Türme von New Angeles bläulich gegen den dämmrigen Morgenhimmel ab. Die beiden unbewaffneten Männer drehten sich wehmütig nach der kleinen Stadt um, die noch friedlich im Schatten tauglänzender Bäume schlief. Der erste war ein typischer Intellektueller, groß, hager, mit grau meliertem Haar. Sein junger, lockenköpfiger Begleiter machte einen mehr gefühlsbetonten Eindruck. Der Dicke, der ihnen den Weg zurück in die Stadt verstellte, trocknete sich Gesicht und Nacken ab. Die beiden mit Schrotflinte und Spritzpistole bewaffneten jungen Männer, die ihn begleiteten, schwitzten wohl noch nicht so sehr. Der Dicke steckte sein Taschentuch wieder ein. Dann wischte er sich die Hände am Hemd ab und stemmte sie leicht auf die Pistolengriffe, die zu beiden Seiten an seinen Hüften hingen. Er sah die beiden unbewaffneten Männer an, bewegte den Kopf in Richtung zur Straße und sagte: »Da entlang, meine Herren Professoren. Marschieren Sie los!« Der Hagere blickte auf die feuchten Stellen, die die Hände des dicken Mannes auf dem Hemd hinterlassen hatten. »Aber Sie haben mir noch gar nicht erklärt, warum ich nicht mehr am Ozona College unterrichten darf«, protestierte er schwach. »Hören Sie, Mr. Ellenby. Ich versuche es Ihnen so leicht wie möglich zu machen«, sagte der Dicke. »Ich bringe Sie hinaus,
bevor die Stadt erwacht. Oder möchten Sie lieber von einem Mob verjagt werden?« »Aber warum denn?« »Weil wir herausgefunden haben, daß Sie kein gewöhnlicher Mathematiklehrer sind, Mr. Ellenby.« Die Stimme des dicken Mannes wurde schneidend. »Sie waren früher Physiker. Atomphysiker!« Der junge Mann mit der Schrotflinte spuckte aus. Ellenby sah dem Speichel nach, der wie ein kleiner brauner Wurm auf dem staubigen Boden liegenblieb. Dann richtete er den Blick auf ein abgefallenes Eukalyptusblatt. »Ich möchte mit dem Aufsichtskomitee des College sprechen.« »Ich bin das Aufsichtskomitee«, erklärte der Dicke. »Wußten Sie das nicht?« An diesem Punkt schaltete sich der andere unbewaffnete Mann ein. »Aber das ist keine Erklärung für meinen Fall. Ich habe die Menschen immer vor Physikern und anderen Wissenschaftlern gewarnt. Ich habe ihnen vor Augen geführt, daß sie uns mit ihren Atombomben vernichten werden und unsere Sinne mit 3D und Telefax und Handys verwirren. Daß sie sich gegen die Natur vergehen, unsere Phantasie abtöten und dem Leben alle Schönheit rauben.« »Wenn ich Sie wäre, würde ich den Mund nicht so voll nehmen, Madson«, wies ihn der dicke Mann zurecht. »Glauben Sie, das mit dem Mob war ein Scherz? Ich war dabei, wie sie das Technologische Institut in Brand gesetzt haben. Das war richtiggehend ansteckend – ich habe sogar selbst ein bißchen mitgemacht.« Der junge Mann mit der Schrotflinte grinste. »Das Technologische Institut – Cal Tech«, murmelte Ellenby mit abwesendem Gesichtsausdruck. »Cal Tech ist niedergebrannt, und Ozona steht noch.« »Ozona ist das Symbol für ein Leben voll Würde und Anstand«, schnarrte der Dicke, »aber nicht für Atombomben
und Giftgas. Wir wollen eine Stadt am Leben erhalten, aber nicht dazu beitragen, die Welt zu vernichten.« »Aber warum werde ich dann verjagt?« fragte Madson wieder. »Ich bin doch ein Dichter. Ich preise die Schönheit des einfachen Lebens, das vom Fortschritt der Wissenschaft bedroht ist.« »Aber nicht so, wie es für Ozona angemessen ist«, schnaubte der Dicke. »Wir wissen zufällig, daß Sie in einigen Stücken die freie Liebe verherrlicht haben, Herr Dichter. Wir wünschen nicht, daß Sie den Mädchen von Ozona solche Flausen in den Kopf setzen.« »Aber das waren doch nur erfundene Geschichten«, wandte Madson ein. »Ich hatte nicht die Absicht –« »Das ist ganz gleich«, fiel ihm der Dicke ins Wort. »Sie brauchen einer Frau nur eine romantische Geschichte zu erzählen, und gleich macht sie alles nach.« Seine Stimme klang fast freundlich. »Wenn Sie ein Mädchen haben wollten, ohne sich gleich zu binden, warum sind Sie dann nicht einfach ins Shantytown-Viertel gegangen?« Madson warf empört den Kopf in den Nacken. »Da liegen Sie völlig schief. So etwas habe ich nie getan und würde ich auch nie tun.« »Dann hätten Sie sich nicht damit brüsten sollen«, sagte der Dicke. »Und Sie hätten auch nicht mit der Tochter von Stadtrat Classen anbändeln sollen.« Bei der Erwähnung dieses Namens erwachte Ellenby aus seinen Gedanken und blickte Madson scharf an. »Ich habe mit Vera-Ellen nicht angebändelt«, empörte sich Madson, »wenn ihr spleeniger Vater das auch zehnmal behauptet. Sie kam zu mir, weil sie eine dichterische Begabung hat, und die wollte ich fördern.« »Ja, ja, das kennen wir«, sagte der dicke Mann. »Das Mädchen ist schon ganz außer Rand und Band. Das ist wahrscheinlich das, was Sie unter dichterischer Begabung
verstehen. Ihr Vater hat in dieser Stadt eine gewichtige Stimme.« Er zog seinen Gurt hoch. »So, meine Herren Professoren, jetzt wird es langsam Zeit, daß Sie sich auf den Weg machen.« Madson und Ellenby sahen einander zweifelnd an. Der junge Mann mit der Spritzpistole hob den Lauf seiner mit Gift geladenen Waffe. Der Dicke blickte Madson und Ellenby drohend an. »Ich glaube, ich habe eben die ersten Wecker läuten gehört«, sagte er ruhig. Sie schauten den beiden Männern nach, die langsam davontrotteten. Ellenby schob das zusammengerollte Handtuch, das er unter den Arm geklemmt hatte, von der rechten auf die linke Seite. Madson blieb nach etwa hundert Metern stehen, um seine Pfeife zu stopfen, sah sich unbekümmert um, steckte aber dann die Pfeife rasch wieder in die Tasche und ging eilig weiter. »Die scheinen harmlos zu sein«, bemerkte der junge Mann mit der Schrotflinte. »Sicher«, meinte der Dicke, »aber wir müssen in Ozona Ordnung halten und die Wünsche der Einwohner respektieren. Wir können weder Haß noch Hysterie brauchen, und leichte Mädchen schon gar nicht.« Der junge Mann mit der Schrotflinte grinste. »Diese VeraEllen!« murmelte er kopfschüttelnd. »Lassen Sie ja die Finger von ihr«, sagte der Dicke mürrisch. »Die ist ohnehin schon wild genug, auch wenn niemand ihre dichterische Begabung oder sonst etwas fördert. Das war ganz richtig, daß wir die beiden abgeschoben haben.« »Sie werden der Harvey-Bande wahrscheinlich genau in die Arme laufen«, bemerkte der Mann mit der Spritzpistole, »vor allem, wenn sie die Abkürzung nehmen.« »Das sind doch nur kleine Fische für Harvey«, erwiderte der mit der Schrotflinte. »Um so schlimmer für die beiden.«
Der Dicke zuckte mit den Schultern. »Das ist ihre eigene Schuld. Hätten sie nur den Mund gehalten, dann wäre ihnen das nicht passiert.« »Ich glaube, die haben noch immer nicht gemerkt, daß wir im Jahr 1993 leben«, sagte der junge Mann mit der Schrotflinte. Der Dicke nickte. »Gehen wir«, meinte er und drehte sich der Kühlung verheißenden Stadt zu. »Wir haben unsere Pflicht getan.« Der junge Mann mit der Spritzpistole warf noch einen letzten Blick zurück. »Da gehen sie – die Vertreter von Kunst und Wissenschaft!« bemerkte er mit zufriedener Stimme. »Diese beiden Fächer haben mir immer am meisten Kopfzerbrechen bereitet.« Madson schritt auf der heißen Landstraße frisch voran. »Atmen Sie die Morgenluft ein«, befahl er. »Wie das riecht!« Ellenby, der auf längeren, wenn auch schon etwas betagteren Beinen mit ihm Schritt zu halten versuchte, sah ihn erstaunt von der Seite an. »Bemerken Sie den frischen, säuerlichen Geruch des Grases?« fuhr Madson fort. »Das sind die Dinge, für die der Mensch geschaffen wurde – nicht Maschinen und Formeln. Sehen Sie sich den Tau an! Wann haben Sie zum letztenmal Tau gesehen? Sehen Sie sich den Tau auf dem Spinnennetz dort an!« Der Physiker blieb gehorsam stehen, um die glitzernden Fäden zu betrachten. »Vollkommene Kettenlinien«, murmelte er. »Was?« »Das ist eine Art Kurve«, erklärte Ellenby. »Der geometrische Ort der Fokusse einer Parabel, die geradlinig verschoben und gleichzeitig gedreht werden.« »Ach, Hokus-Pokus-Fokus«, sagte Madson verächtlich. »Sie wollen die Wunder der Natur zu bloßen Kreidezeichen herabwürdigen. Abscheulich!«
Auf einmal färbten sich alle Tautropfen blutrot. Ellenby kehrte dem Spinnennetz den Rücken, zog eine gebogene Messingröhre aus der Tasche und blinzelte hindurch. »Was ist denn das?« fragte Madson. »Das ist ein Spektroskop«, erklärte Ellenby. »Die Spektren der Morgensonne sind einfach faszinierend.« »Sie müssen aber auch alles analysieren«, ereiferte sich Madson. »Die Schönheit zerstückeln. Das ist eine Schande!« Er zögerte einen Moment. »Sagen Sie, tun Ihre Augen nicht weh?« Ellenby wandte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich halte eine geschwärzte Glasscherbe davor. Ich habe noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, daß ich eines Tages eine Atombombenexplosion beobachten werde.« »Heißt das, daß Sie von dem ganzen Dutzend, das schon auf dieses Land herabgeworfen worden ist, nichts mitbekommen haben? Das ist aber sehr traurig.« »Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen.« »Aber Sie sind doch Physiker. Sie haben bestimmt die schönsten Fotos in Ihren Laboratorien gesehen, an denen Sie sich ergötzen konnten.« »Atombombenspektren sind nicht so leicht zu bekommen«, erklärte Ellenby wehmütig. »Jedenfalls nicht in meinem Forschungsbereich. Ich habe bis heute noch keine gesehen.« »Sie werden sicher noch Gelegenheit dazu haben«, sagte Madson schroff. »Sie haben doch bestimmt auf Ihrem schmutzigen Telefax gelesen, daß es im Heißen Frieden wieder mal brenzlig geworden ist. Und die Umgebung von Angeles ist natürlich als erstes betroffen.« Ellenby nickte stumm. Sie stapften weiter. Die Sonne brannte auf ihre Nacken herunter. Ellenby klappte seinen Hemdkragen hoch. Er sah seinen Begleiter nachdenklich von der Seite an. Schließlich meinte er: »Dann sind Sie also der Madson, der diese
Geschichten geschrieben hat über eine Welt, die von Dichtern regiert wird – Feinde der Wissenschaft? Das ist mir in Ozona nie in den Sinn gekommen. Und dieses andere Buch über uns – wie war noch der Titel?« »Mörder der Phantasie«, brummte Madson. »Sie hätten gut daran getan, wenn Sie sich meine Warnungen zu Herzen genommen hätten, anstatt weiter Maschinen zu bauen, die Natur zu zerstückeln und alle Geheimnisse zu zerstören, die das Leben erst lobenswert machen.« »Sind Sie sicher, daß die Natur so schön und gütig ist?« wandte Ellenby ein. Madson ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Eine Straße kreuzte ihren Weg, die in der einen Richtung nach Palmdale, in der anderen nach San Bernardino führte, wie auf dem zerbeulten Schild zu lesen war. Als sie etwa hundert Meter weitergegangen waren, begann Ellenby zu kichern. »Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Als ich noch sehr jung war, habe ich einen Essay geschrieben, in dem ich dafür eintrat, daß man Kindern keine Märchen erzählen sollte – weder vom Weihnachtsmann noch sonst –« Madson lachte grimmig. »Sie sind ein typischer Vertreter Ihrer trockenen Wissenschaft! Sie haben sich Sorgen wegen des Weihnachtsmannes gemacht, während gleichzeitig etwas ganz anderes über den Nordpol auf unsere Hausdächer zugeflogen kam.« »Wir haben versucht, die Menschen vor den interkontinentalen Raketen zu warnen«, verteidigte sich Ellenby. »Ja, aber ohne Erfolg.« Ellenby nickte traurig, doch nach kurzer Zeit mußte er wieder lächeln. »Ich habe noch einen anderen Essay geschrieben – er ist aber nie veröffentlicht worden. Ich habe darin zu beweisen versucht, wie sinnlos die Dichtkunst ist, daß die Reime die Bedeutung verwischen und so weiter.«
Belustigt wandte sich Madson zu ihm um. »Sie haben also geglaubt, Sie könnten die Dichtkunst zerstören.« Er zog ein schmales Bändchen aus der Tasche. »Sie haben geglaubt, Sie könnten das hier zerstören!« Ellenby wurde ernst. Er griff nach dem Buch, doch Madson zog es zurück. »Das ist Keats, nicht wahr?« sagte Ellenby. »Woher wissen Sie das?« Ellenby zögerte. »Ich habe einige seiner Gedichte schätzen gelernt, aber erst viel später.« Er hielt inne und sah Madson mit einem eigenartigen Ausdruck an. »Vera-Ellen hat mir ab und zu daraus vorgelesen. Ich nehme an, Sie hatten ihr das Buch geliehen.« »Vera-Ellen?« Madson sperrte vor Erstaunen den Mund auf. Ellenby nickte. »Sie kam in Geometrie nicht zurecht. Ich mußte ihr Nachhilfestunden geben.« Er lächelte. »Wissen Sie, wir Physiker sind gar nicht so trocken.« Madson wurde wütend. »Sie in Ihrem Alter! Sie könnten ihr Vater sein.« »Oder ihr Mann«, erwiderte Ellenby gelassen. »Junge Frauen fühlen sich häufig zu älteren Männern hingezogen. Aber das kann uns jetzt eigentlich gleich sein.« »Stimmt«, meinte Madson. Er steckte den Gedichtband wieder in die Tasche, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte voller Ungeduld um sich. »Sagen Sie mal, Sie wollen doch auch nach New Angeles, nicht?« fragte er. Und als Ellenby unsicher nickte, fuhr er fort: »Dann lassen Sie uns doch lieber über die Felder gehen. Diese Straße scheint woanders hinzuführen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er links über den Straßengraben in das gelbe Kornfeld. Ellenby sah ihm einen Augenblick unschlüssig nach, klemmte dann sein Handtuch fester unter den Arm und folgte ihm. Im Kornfeld war die Hitze noch drückender. Das hochstehende Getreide schien jedes Lüftchen abzufangen. Die
trockenen Halme raschelten bei jedem Schritt. In der Ferne hörten sie ein leises Brummen. Nach einer Weile stießen sie auf einen breiten Bewässerungsgraben. Sie sahen, daß ein paar hundert Meter weiter eine kleine Brücke hinüberführte, und gingen am Graben entlang darauf zu. Ellenby hatte ein eigenartiges Schwindelgefühl. Es kam ihm so vor, als sähe er alles um sich herum wie durch ein Mikroskop. Das lag vielleicht an dem Riesenwuchs des Getreides, dessen Ähren fast so groß wie Maiskolben waren und dicke orangefarbene Körner trugen. Aber dann kamen sie an Stellen vorbei, wo die Pflanzen in weitem Umkreis ausgedörrt und von einer rötlichen Staubschicht bedeckt waren. Das Brummen wurde lauter. Ellenby bemerkte als erster den niedrig fliegenden Hubschrauber, der eine dichte Wolke grünlichen Nebels hinter sich versprühte. Er stieß Madson an, und sie begannen beide zu laufen. Rötlicher Staub wirbelte auf. Einmal stolperte Ellenby, und Madson kam zurück, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Sie hätten es trotzdem geschafft, wenn der Hubschrauber nicht direkt auf sie zugehalten hätte. Gleich darauf waren sie von einer Wolke süßlichen Staubs eingehüllt. Madson hörte schallendes Gelächter und sah ein Gesicht mit einer überlangen Nase aus dem Hubschrauber auf sie herunterblicken. Dann hörte er Ellenby durch den Nebel rufen: »Nicht atmen!« und im gleichen Moment wurde er von ihm in den Graben gestoßen. Über ihm schlug klatschend das Wasser zusammen. Als er prustend wieder hochkam – das Wasser reichte ihm nur bis zur Hüfte –, hatte Ellenby ihn schon untergefaßt und zog ihn auf die Brücke zu. Alles, was er tun konnte, war, auf dem schlammigen Boden das Gleichgewicht zu halten. Als er wieder zu Atem kam und seine Entrüstung äußern wollte, sagte Ellenby: »So, das ist weit genug. Das
Zeug schlägt sich da hinten nieder. Jetzt ziehen Sie sich aus und schrubben Sie sich gründlich ab.« Ellenby rollte das Handtuch auf, das er die ganze Zeit fest unter den Arm geklemmt hatte, und holte ein Stück Seife daraus hervor. Auf Madsons Frage erklärte er: »Das Mittel gegen den Pilzbefall war wahrscheinlich TTTR oder ein anderes Nervengas. Es wird durch die Haut absorbiert.« Einen Augenblick später wusch sich Madson Kopf und Brust. Er blickte zögernd auf seine Hose hinunter und murmelte: »Das werden sie mir wahrscheinlich als unflätige Entblößung ankreiden. Sie werden sagen, ich hätte nicht nur die freie Liebe proklamiert, sondern auch noch eine Nudistenkolonie gründen wollen.« Doch Ellenbys Warnung hatte ihm Angst gemacht. Ellenby seifte Madson den Rücken ab, und dann bearbeitete Madson den knochigen Rücken des Älteren. »Deswegen hatte er wohl eine so lange Nase«, meinte Madson. »Wer?« »Der Mann im Hubschrauber«, erklärte Madson. »Er muß eine Gasmaske getragen haben.« Ellenby nickte und zog ihn näher zur Brücke, wo das Wasser frischer war. Dort begannen sie ihre Kleidung zu waschen, die sie anschließend zum Trocknen aufs Ufer legten. Sie sahen den Hubschrauber in der Ferne kreisen, aber anscheinend hatte der Mann nicht die Absicht, sie noch einmal anzugreifen. Madson sagte anklagend: »Da sehen Sie mal, was Ihre Chemikerfreunde anrichten. Indem sie dem einfachen Mann Gifte in die Hand geben, mit denen er die Natur zerstören kann, machen sie ihn zu einem bösartigen Wesen. Sonst hätte er nie versucht, uns mit diesem Zeug zu vergiften.« »In meinen Augen hat er sich wie ein ganz gewöhnlicher Bauer verhalten«, antwortete Ellenby und rubbelte kräftig an seiner Hose.
»Glauben Sie, daß wir jetzt sicher sind?« fragte Madson. Ellenby zuckte mit den Schultern. »Das wird sich herausstellen.« Madson zitterte vor Angst, aber das Rubbeln und Waschen beruhigte ihn langsam. Nach einer Weile machte es ihm sogar Spaß. Als er sein Hemd wusch, bildeten sich einige große Seifenblasen. Er hielt sie gegen die Sonne und betrachtete entzückt das Farbenspiel. »Lauter vollkommene kleine Welten, die alle Farben enthalten«, murmelte er. »Lila, Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot.« »Und Schwarz«, fügte Ellenby hinzu. »Natürlich, das mußte ja kommen!« brummte Madson. »Wissen Sie überhaupt, wovon ich gesprochen habe?« »Von Seifenblasen.« »Vielleicht können Ihre Freunde mit ihren Giften schwarze Blasen erzeugen«, meinte Madson sarkastisch. »Aber ich habe diese Seifenblasen hier gemeint.« »Ich auch. Geben Sie mir Ihre Pfeife!« Madson drehte sich erschrocken um; der ungewohnte Befehlston aus Ellenbys Mund ließ ihn Schlimmes vermuten. »Geben Sie mir Ihre Pfeife«, wiederholte Ellenby und streckte die Hand aus. Madson bückte sich nach seiner Hose, die er als nächstes waschen wollte, und holte die Pfeife aus der Tasche. Ellenby klopfte den durchweichten Tabak heraus, zog die Pfeife ein paarmal durchs Wasser und begann den Pfeifenkopf innen mit Seife einzureiben. Madson setzte zum Protest an, aber Ellenby beruhigte ihn. »Das hätten Sie sowieso machen müssen. – Jetzt schauen Sie mal genau her, Madson«, sagte er dann. »Ich werde mit Ihrer Pfeife eine Seifenblase machen, und Sie sollen sie genau beobachten. Das einzige, was Dichter und Physiker vielleicht gemeinsam haben, ist, daß man ihnen beiden nachsagt, sie könnten gut beobachten.« Er holte tief Luft. »Sehen Sie, ich
werde die Seifenblase hier herunterhängen lassen, aber ich werde den Pfeifenkopf dabei ein bißchen schief halten, so daß die Spannung der Blasenhaut auf dieser Seite am stärksten ist.« Er pustete und brachte eine schöne, große Seifenblase zustande, hielt dann mit der einen Hand die Pfeife und deutete mit der anderen auf die Blase. »Sehen Sie, diese Stelle hier – jetzt!« Die Blase zerplatzte. »Was war das?« fragte Madson mit veränderter Stimme. »Sie war tatsächlich einen Augenblick lang ganz schwarz.« »Eine Blase zerspringt, wenn ihre Haut zu dünn geworden ist«, erklärte Ellenby. »Sie hat zuerst eine gewisse Dicke und wird dann immer dünner, und ab einem gewissen Moment beginnt sie in allen Farben zu schillern, weil durch die Interferenz bestimmte Wellenlängen ausgeschaltet werden. Wenn Gelb ausgeschaltet ist, schillert sie violett und so weiter. Ganz zum Schluß ist die Haut der Blase an der Stelle, an der sie platzen wird, nur noch so dick wie ein Molekül. Und diese Molekularschicht absorbiert das Licht und erscheint deshalb schwarz.« »Alles hat eine schwarze Seite, was?« »Schwarz kann sehr schön sein. Passen Sie auf, ich mach’s Ihnen noch mal vor.« Madson stützte sich auf Ellenbys Schulter. Sie standen bis zu den Hüften im Wasser und steckten die Köpfe zusammen, um die neue Blase genau beobachten zu können. Als sie zerplatzte, erklang über ihnen eine Stimme. »Ist hier der Kindergarten vom Ozona College?« Sie fuhren herum und duckten sich tiefer ins Wasser. »Vera-Ellen, was machen Sie denn hier?« rief Madson. »Ich schaue zu, wie die Kinder sich vergnügen«, antwortete das Mädchen auf der Brücke und strich sich mit der Hand durch das zerzauste violette Haar. Sie sah an ihrer Jacke und Hose hinunter. »Hätte
ich doch bloß meinen Badeanzug mitgebracht. Aber anscheinend braucht man hier so etwas gar nicht.« »Vera-Ellen!« sagte Madson besorgt. »Ach nein, das Wasser sieht doch nicht einladend genug aus«, meinte sie. »Ich warte lieber, bis ich Aqua Heaven in New Angeles erreicht habe.« »Sie wollen nach New Angeles?« schaltete sich Ellenby ein. Es war gar nicht einfach, eine geistreiche Unterhaltung zu führen, wenn man bis zur Brust in schlammigem Wasser hockte und sich seiner mangelnden Bekleidung bewußt war. Vera-Ellen nickte lässig und lehnte sich an das Geländer. »Ich will mir in der Stadt einen Job suchen. Ozona kann mir intellektuell nichts mehr bieten, nachdem der Collegelehrkörper so zusammengeschrumpft ist. Wissen Sie schon, daß Mathematik jetzt nur noch als Nebenfach von Hauswirtschaft gelehrt werden soll, Mr. Ellenby?« »Aber woher wußten Sie denn, daß wir –« »Als Tochter des Mannes, der dafür gesorgt hat, daß Sie aus der Stadt ausgewiesen wurden, muß ich doch schließlich Bescheid wissen. Und wenn Sie Angst haben, daß man mich verfolgt und uns zusammen findet, kann ich ja schon allein vorausgehen.« Madson und Ellenby protestierten, aber es war fast noch schwieriger, nackt im Schlammwasser sitzend zu protestieren, als eine geistreiche Unterhaltung zu führen. »Also gut«, sagte Vera-Ellen, »dann hören Sie auf zu spielen und lassen Sie uns gehen. Sie müssen mir noch viel über New Angeles erzählen und die Jobs, die uns dort erwarten.« »Aber –« »Ach, Sie genieren sich? Ich fürchte, mein Alter wäre deswegen auch nicht besser auf Sie zu sprechen. Aber meinetwegen.« Sie drehte sich um und ging auf die andere Seite der Brücke hinüber. Madson und Ellenby stiegen vorsichtig aus dem Graben, schüttelten sich das Wasser ab und
zwängten sich in ihre durchnäßte Kleidung. »Wir müssen sie überreden, umzukehren«, flüsterte Madson. »Vera-Ellen?« fragte Ellenby und zog die Brauen hoch. Madson stieß einen leisen Seufzer aus. »Nur Mut«, sagte Ellenby. Er selbst machte einen recht wohlgemuten Eindruck, als sie schließlich zur Brücke hinaufgingen. »Vera-Ellen«, sagte er, »wir haben uns gerade darüber gestritten, ob der Mensch die Natur oder die Natur den Menschen verdorben hat.« »Ist das eine Unterrichtsstunde, Mr. Ellenby?« »Wie man’s nimmt«, meinte er. Hinter ihm wedelte Madson mit wütendem Schnauben seinen Keats durch die Luft, um die Seiten zu trocknen. Sie machten sich gemeinsam auf den Weg. »Also – ich mag die Natur – und die Menschen mag ich auch«, meinte Vera-Ellen. »Und ich fühle mich nicht besonders verdorben. Was soll das Ganze überhaupt?« »Und was ist mit den Atombomben?« wandte Madson ein. »Unser guter Physiker meint mit dem Menschen nämlich die Technik, während ich –« »Ach, die Bomben«, sagte sie gleichgültig. »Was für einen Job kann ich in New Angeles wohl bekommen?« »Ja, vielleicht –« setzte Madson an. »Ich werde langsam hungrig«, fuhr sie fort und wandte sich dabei an Ellenby. »Ich auch«, sagte er. Sie blickten auf die vor ihnen liegende Straße. Zwischen ihnen und New Angeles erhob sich ein Hügel, der die Türme der Stadt bis auf die obersten Spitzen verdeckte. Auf dem Hügel stand ein großes, halb verfallenes Haus mit rissigen, moosbewachsenen Wänden und bläulich schimmernden, zum Teil zersprungenen Fensterscheiben. Sie blitzten in der Sonne, und Ellenby war nahe daran, sein Spektroskop aus der Tasche zu ziehen.
Um das Haus herum und bis zur Straße hinunter erstreckte sich ein mit Unkraut überwuchertes Stück Land, das früher einmal eine gepflegte Rasenfläche gewesen sein mußte. Ein paar Flecken dichten grünen Grases hatten sich hartnäckig gehalten. Eukalyptusbäume mit hellen Stämmen ragten hinter dem Haus auf und säumten die Straße, die über den Hügel führte. In einer Senke am unteren Ende der einstigen Rasenfläche, da wo sie an die Straße grenzte, blinkte etwas. Als Madson, Ellenby und Vera-Ellen näherkamen, sahen sie, daß es ein altes Auto war, eins von den vorsintflutlichen Modellen mit Düsenantrieb, die in den späten siebziger Jahren gebaut worden waren. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Ellenby, daß es die Spezialanfertigung eines Lunar mit Kollisionsfederung und Düsenbremsung war. Ein Mann mit einer seltsamen Mütze stocherte mit einer Sonde in der Luftzufuhr herum, und auf dem Rücksitz saß eine Frau mit einem Hut, so groß wie ein Wagenrad. Als der Mann Schritte hörte, drehte er sich rasch um und richtete sich ein wenig schwankend auf. Er starrte sie an und schwenkte dabei die Sonde hin und her. In dem Augenblick sprang etwas, das wie ein zum Leben erwachtes orangerotes Stück Pelz aussah, aus dem Wagen. »George!« schrie die Frau. »Widgie ist ausgerissen.« Das kleine, langgestreckte Wesen flitzte an dem Mann mit der Mütze vorbei, bevor er die Lage erfaßt hatte, und steuerte auf Ellenby zu. Dann änderte es die Richtung. Madson bückte sich schnell, aber es entwischte ihm und landete mit einem verzweifelten Satz direkt in Vera-Ellens Armen. Sie gingen zum Auto. Widgie zappelte, und Vera-Ellen kraulte seine Ohren. Es schien eine Art fliegender Fuchs zu sein. Der Mann sah sie feindselig an und hob seine Sonde. Madson starrte fasziniert auf die Mütze. Ellenby mit seiner
längeren Lebenserfahrung flüsterte ihm eine Erklärung zu: »Chauffeur.« Die Frau im Rücksitz hatte sich leicht schwankend erhoben. Sie trug einen weißen Badeanzug und unter ihrem Hut eine dunkle Brille. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine etwas verlebte Dreißigerin. Aber bei näherem Hinsehen bemerkten sie die unzähligen Runzeln und Falten in ihrem Gesicht. Sie nahm Vera-Ellen Widgie ab, schüttelte ihn sanft und klemmte ihn dann unter den Arm, wo er wie leblos hing und nur die kleinen roten Äuglein bewegte. »Steigen Sie ein zu mir, meine Liebe«, sagte sie zu VeraEllen. »George, leg den Stock weg! – Kümmern Sie sich nicht um ihn. Er kann manchmal nicht richtig unterscheiden, wen er vor sich hat, vor allem nicht, wenn er betrunken ist. – Meine Herren«, fuhr sie fort und winkte Madson und Ellenby mit einer großartigen Geste zu, »Rickie Vickson dankt Ihnen.« Während sie ihren Namen nannte, sah sie die beiden prüfend an. Ihr Blick blieb an Ellenby haften. »Sie kennen mich, nicht wahr?« »Aber sicher«, antwortete er. »Sie waren der erste 3-D-Star, den ich gesehen habe – mein Lieblingsstar. Ich habe für Sie geschwärmt.« »Sind Sie bei 3-D?« fragte Vera-Ellen mit einem plötzlichen Glänzen in den Augen. »Ich war es, meine Liebe«, sagte Rickie. Sie warf Ellenby durch ihre Sonnenbrille einen bedeutsamen Blick zu. »Ach ja – 3D«, seufzte sie schwärmerisch. »Einfach Bild und Ton mit dreidimensionaler Wirkung – das war noch Kunst.« Sie begann wieder zu schwanken, und ihre Alkoholfahne verriet, daß sie getrunken hatte. »Meine Karriere ist durch das Aufkommen der Handies zerstört worden, meine Herren. Ich hatte das richtige Gesicht und die richtige Stimme, aber nicht die richtigen Hände. Etwas in mir wehrte sich gegen diese
Vorstellung – ruhig, Widgie! –, und die Mädchen mit den beweglichen Fingern nahmen meine Stelle ein. Aber ich rede zuviel über mich. Es ist heiß, und Sie haben sicher Durst, meine Herren. Hier, nehmen Sie –« Der Chauffeur warf ihr einen kurzen Blick zu, als sie sich bückte und auf dem Rücksitz herumwühlte. Sie fing seinen Blick auf und zuckte kaum merklich zusammen. »– ein Sandwich«, beendete sie ihren Satz und holte eine glänzende Büchse hervor. Sie reichte sie Madson, der den Verschluß löste. Aus dem Deckel schossen vier Füße hoch, und dann schob sich das oberste Sandwich langsam nach. Madson bediente sich und reichte die Büchse dann Ellenby, der sie an Vera-Ellen weitergab. Bald kauten sie alle drei. »Glauben Sie, daß ich beim Film eine Rolle bekommen kann, Miss Vickson?« fragte Vera-Ellen nach ein paar Happen. Rickie sah sie von der Seite an. »Nicht mit der scheußlichen Haarfarbe«, meinte sie. »Lila ist dieses Jahr nicht mehr gefragt – Modefarben sind Schwarz oder Blond oder am besten ganz kahl. Aber zeigen Sie mir doch mal Ihre Hand, meine Liebe.« »Wollen Sie daraus meine Zukunft lesen?« »In gewisser Weise.« Sie nahm Vera-Ellens Hand und untersuchte sie sorgfältig, indem sie daran kniff und drückte, so als hätte sie das Fleisch eines Hähnchens zu testen. Dann nickte sie befriedigt. »Ihre Hand ist in Ordnung. Sie haben einen festen, starken Griff. Das ist alles, was Sie brauchen. Damit können Sie den Leuten so richtig die Knöchel quetschen. Sie haben es gern, wenn man sie hart anfaßt. Die Techniker können den Händedruck bei der Übertragung natürlich auch künstlich verstärken, aber die Kenner merken sofort, daß es nicht das gleiche ist.« Sie sah betrübt auf ihre eigenen schmalen und zerbrechlichen Hände. »Ja, meine Liebe, Sie haben Chancen beim Handy, wenn es Ihnen nichts
ausmacht, sich Abend für Abend mit zwei Millionen lüsternen Kerlen abzugeben, und wenn man Rickie Vickson in den Studios noch empfängt.« Sie zog eine Grimasse und bückte sich wieder hinab, vermutlich, um sich einen Schluck aus der Flasche zu genehmigen, denn der Chauffeur sah wütend zu ihr hinüber. »Kommen Sie aus New Angeles?« erkundigte sich Madson höflich, als Rickie mit strahlendem Gesicht wieder auftauchte. »Nein, aus Old Angeles«, sagte sie. »Mein Haus liegt in einer verseuchten Gegend. Da ich mich an die Beleuchtung gewöhnt habe, die bei 3D nötig ist, habe ich eigentlich keine Angst mehr vor radioaktiven Strahlen. Aber jetzt hat mein Parapsychologe mir gesagt, daß die Bomben New Angeles verfehlen und auf Old Angeles niederfallen werden. – Widgie, ich sperr dich gleich ein! – Ja, und deshalb fährt George mich in die Berge. Die anderen betrinken sich, um ihre Angst zu vergessen. Aber ich tue außerdem noch etwas dagegen.« »Heißt das, daß Sie den Studios den Rücken kehren?« fragte Vera-Ellen ungläubig, während Ellenby mit vollem Mund murmelte: »Bomben?« Rickie nickte. »Ja, sicher – wußten Sie das nicht? Rußland hat den Heißen Frieden gebrochen. Sie sollten sich über diese Entwicklungen auf dem laufenden halten, meine Herren.« »Sehen Sie, ich hab’s Ihnen ja gesagt!« sagte Madson zu Ellenby. »Wieder ein Sieg Ihrer Wissenschaft!« »Wir sollten lieber weiterfahren, Miss Vickson«, schaltete sich der Chauffeur zum erstenmal ein. Der Stimme nach zu urteilen, war er ziemlich angetrunken. »Wir sind noch lange nicht aus dem Fusionsbereich heraus, und diese Gegend hier gefällt mir irgendwie nicht.« Rickie beachtete ihn nicht. Ellenby fragte: »Ist diese Nachricht über Rußland durch Telefax bekanntgegeben worden?«
»Wo denken Sie hin.« Rickie lächelte verächtlich. »Heutzutage sagen sie einem ja nie die Wahrheit. Aber es wurde angeordnet, daß wir unsere Häuser verlassen sollten, und was kann das denn sonst bedeuten?« »Miss Vickson, wir sollten jetzt aber –« begann George wieder. »Ruhig, George!« befahl Rickie. George seufzte, zuckte resigniert mit den Schultern und streckte den Arm in ihre Richtung aus, ohne sie dabei anzusehen. Rickie reichte ihm eine rote Plastikflasche. Er wollte sie an die Lippen setzen, fuhr zusammen, sprang mit einem Satz ins Auto und drückte wie wild auf den Anlasser. Mit gewaltigem Dröhnen setzte sich die Düse in Betrieb. Ellenby sprang aus dem Bereich des heißen Luftstroms. Der Lunar brauste davon. Geschosse zischten durch die Luft. Von allen Seiten tauchten Männer auf. Das Auto raste die Straße entlang auf die Brücke zu. Vera-Ellen war aufgesprungen und wollte anscheinend noch hinaus, wurde dann aber auf den Rücksitz geschleudert. Rickie beugte sich nach vorn hinüber, um die rote Flasche in Sicherheit zu bringen. Ihr breitkrempiger Hut wurde hochgewirbelt und segelte wie eine fliegende Untertasse davon. Neben der Brücke tauchte aus dem Kornfeld ein Mann auf. Er hob eine Maschinenpistole und zielte auf das Auto, das über die Brücke donnerte. In diesem Moment landete Rickies Hut auf seinem Kopf. Er stolperte rückwärts und feuerte in die Luft. Madson und Ellenby sahen sich entsetzt um. Etwa ein Dutzend Männer waren aufgetaucht. Und von dem verfallenen Haus auf dem Hügel kam noch ein weiterer Trupp herunter. Der Mann an der Brücke richtete sich auf, ging zu Rickies Hut und trampelte wütend darauf herum.
Madson und Ellenby sprangen umher, um den Kugeln zu entgehen, die er in die Luft geschossen hatte und die jetzt neben ihnen herunterprasselten. Als sie sich wieder umblicken konnten, waren sie von den Männern, die vom Hügel heruntergekommen waren, umzingelt. Ihr Anführer war ein kleiner dicker Mann mit einem eckigen Kopf. Sein Gesicht hatte einen brutalen Ausdruck. »Ich bin Harvey«, sagte er. »Was habt ihr bei euch?« Harveys Leute waren bunt gekleidet. Sie trugen alles mögliche, angefangen von Shorts bis zum Abendanzug. Es waren sogar zwei Frauen darunter, die eine in einem goldglänzenden Kimono, die andere in einem schmuddeligen weißen Spitzenkleid. Alle waren bewaffnet. »Was habt ihr bei euch?« wiederholte Harvey scharf. »Ich weiß, daß ihr was dabeihabt. Ich hab’ euch mit der reichen Ziege im Auto reden sehen.« Er musterte sie und griff dann in Madsons Seitentasche. »Was haben wir denn hier – ein Buch, was?« Er zog den Gedichtband heraus, faßte eine Seite zwischen zwei Finger und ließ das Buch daran herabhängen. Dann nahm er sich Ellenby vor. »Na, mach schon, du Vogelscheuche. Zeig her, was du bei dir hast.« Als Ellenby zögerte, ergriffen ihn zwei von Harveys Männern, durchwühlten seine Taschen und reichten den Inhalt an ihren Chef weiter. Harvey grinste, als das Spektroskop zum Vorschein kam. Die Augen seiner Leute begannen vor Freude zu funkeln. »Ein wissenschaftliches Instrument, was?« sagte er. »Auf dieser Welt hat es viel zuviel Wissenschaft und viel zu viele Bücher gegeben. Jeden Augenblick können die nächsten Bomben fallen. Ich werde zu der Zerstörung meinen kleinen Beitrag leisten. Ich liebe Schrott.« Er ließ die Messingröhre zu Boden fallen und hob den Fuß. »Schau’s dir noch mal gut an, du Vogelscheuche.«
»Halt!« rief Madson plötzlich und machte einen Schritt auf Harvey zu. »Tun Sie das nicht!« Dann weiteten sich seine Augen vor Schrecken, so als würde ihm erst nachträglich klar, was er da getan hatte. Alle hielten den Atem an. Harvey wandte langsam seinen eckigen Kopf und sah Madson scheinbar ungerührt an. »Weshalb nicht?« flüsterte er. »Geben Sie nichts auf das, was er gesagt hat«, schaltete sich Ellenby rasch ein. »Er wollte mir nur helfen. In Wirklichkeit haßt er die Wissenschaft eben so sehr wie Sie. Lassen Sie –« »Halt’s Maul!« brüllte Harvey. Dann wurde seine Stimme sofort wieder leise. »Niemand haßt die Wissenschaft mehr als ich, aber niemand braucht mir das zu erzählen. Du hättest deinen Mund halten sollen, Vogelscheuche. Jetzt werden wir uns nicht mehr damit zufriedengeben, eure Instrumente zu zertreten und eure Bücher zu zerreißen.« Es wurde ganz still bis auf das leise Knirschen der Schritte, mit denen Harveys Männer sich langsam näherten. Ellenby fühlte sich vollkommen hilflos, aber zugleich merkte er, wie seine Sinne sich schärften und er alles um sich herum überdeutlich wahrnahm. Er sah den feingezackten Schatten der Bäume, den die im Westen stehende Sonne über den Hügel warf. Auf der anderen Seite seines Blickfeldes hatte der Hubschrauber aufgehört, seine Wolke grünen Giftes zu versprühen, und flog jetzt dröhnend über der Straße dahin. Zugleich sah Ellenby mit fieberhafter Deutlichkeit die Seite vor sich, an der Harvey den Gedichteband hielt, und ohne die Schrift erkennen zu können, wußte er, daß es die Stelle war, an der der Dichter von Schönheit und Wahrheit sprach. Mit einmal schienen die sich langsam nähernden Gesichter zu erstarren, und die ganze Szene nahm für Ellenby etwas Drohend-Gespenstisches an. Das war nicht nur die Furcht vor
der Gewalt, die ihm und Madson drohte – es war etwas, das aus dem Boden unter seinen Füßen aufzusteigen schien. Er hörte ein leises, fernes Grollen, und während er sich noch sagte: Das ist kein Gewitter, sah er den chromblitzenden Kühler des Lunar über die Brücke heranschießen, und VeraEllens lila Haarschopf leuchtete über dem Steuerrad. Doch selbst als die rötlichen Bremsgase unter der Kühlerhaube hervorquollen und das Auto mit einem Ruck dicht vor ihnen stehenblieb und als Harveys Männer nach beiden Seiten auseinanderspritzten und ihre Pistolen knallen ließen, wurde das Grollen immer noch lauter, und es war klar, daß es nicht vom Lunar verursacht wurde. Es wurde so laut, bis es sich anhörte, als ob tausend unsichtbare Düsenflugzeuge durch die Luft brausten. Der Himmel schwankte. Die Straße hob und senkte sich. Dann kam ein Stoß, der Ellenby und alle um ihn herum ins Taumeln brachte, und dazu ein knirschendes, ächzendes Rollen, als ob die Höllenpforten sich öffneten. Der Lunar, der ein paar Meter vor Ellenby stehengeblieben war, wurde wie ein Schiff im Sturm hin und her geworfen. Vera-Ellen hatte mit der einen Hand das Steuerrad umklammert und machte ihm mit der anderen wilde Zeichen. Neben ihr hatte sich Rickie Vickson wie auf einem zu schnell fahrenden Karussell gegen die Rückenlehne gepreßt. Während Ellenby sich aufrecht zu halten versuchte, taumelte Madson heran, stützte sich auf seine Schulter und schrie ihm durch den Lärm hindurch zu: »Da haben Sie Ihre verfluchten Bomben!« Zwischen ihnen und dem Auto tauchte einen Augenblick Harveys Quadratschädel auf und verschwand dann plötzlich. Ellenby blickte zu Boden und bemerkte, daß zwischen ihm und dem Auto die Straße einen Meter weit auseinanderklaffte. Er sah die steil abfallenden Wände der Spalte, aus der Dampf aufstieg, und darin versank Harvey,
zusammen mit dem Buch von Keats und dem kleinen Messingspektroskop. Im nächsten Moment hatte Ellenby Madson an den Schultern gepackt, riß ihn mit sich und brüllte: »Springen!« Einen Augenblick gähnte unter ihnen der Abgrund, und ein kleines weißes Gesicht starrte zu ihnen herauf. Dann schloß sich der Spalt mit furchtbarem Getöse, und Ellenby faßte die Seitentür des schaukelnden Wagens und warf sich auf den Rücksitz. In das leiser werdende Grollen und Donnern mischte sich das Dröhnen des Düsenmotors, und das Hin- und Hergeschaukel ging in eine ruckende Vorwärtsbewegung über. Ellenby wurde nach hinten geworfen, und vor sich sah er den Hügel, der immer größer wurde. Er wollte die Füße auf den Boden stellen und merkte, daß sie auf eine weiche Masse stießen. Einen Augenblick glaubte er, daß es Madson sei, doch Madson saß neben ihm auf dem Rücksitz, und dann erkannte er George. Er sah auf. Rickie Vickson, die vorn auf dem Beifahrersitz saß, hatte den Kopf nach ihm gewandt und beobachtete ihn. Ohne die dunkle Brille hatte sie ebensolche Fuchsaugen wie Widgie, den sie fest an ihre runzlige Wange gepreßt hielt. »Vera-Ellen mußte ihn außer Gefecht setzen«, erklärte sie und sah dabei auf George hinunter. »Der Kerl wollte uns verraten.« Das Auto hatte jetzt zu schaukeln aufgehört und fuhr zügig voran. Ellenby nickte Rickie benommen zu und drehte sich um. Hinter ihnen liefen Harveys Männer wie aufgescheuchte Ameisen in einer Staubwolke umher, die über der Straße lag. Das Haus auf dem Hügel stand noch, aber die Risse in seinen Mauern waren größer und breiter geworden, und eine weiße Staubschicht hatte sich über Dach und Wände gelegt. Der Hubschrauber war bei der Brücke abgestürzt und stand in Flammen. Eine kleine Gestalt lief davon.
Ellenby begann langsam zu begreifen, und sein Gesicht hellte sich auf. »Wir waren im San-Andreas-Graben«, sagte er leise. »Das waren gar nicht die Bomben, Madson. Das war nicht die menschliche Technik.« Er lächelte. »Das war die Natur selbst. Ein Erdbeben.« Madson reagierte als erster. »Na gut, dann war es eben die Natur«, sagte er. »Sie hat ihren Abscheu vor den Menschen kundgetan!« »Das ist doch der reinste Aberglaube«, erwiderte Ellenby automatisch. »Versuchen Sie mal, das Ganze logisch zu –« »Ach, Sie mit Ihrer Logik!« fiel Madson ihm mit der alten Heftigkeit ins Wort. »Ihr Wissenschaftler müßt immer alles –« »Immer mit der Ruhe«, unterbrach Rickie die beiden Kampfhähne. »Wenn das kleine Erdbeben nicht alles durcheinandergebracht hätte, dann hätte Vera-Ellen Sie da nicht herausholen können. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mir einen Streit anzuhören. Ihre Diskussionen über Natur und Wissenschaft interessieren mich nicht. Mir genügt, was mein Parapsychologe sagt. – Widgie, beruhige dich. Es ist ja alles vorbei.« Ellenby faßte sie am Arm. »Sagen Sie, ist Vera-Ellen tatsächlich mit Ihnen umgekehrt, um uns zu retten?« »Aber nein, wo denken Sie hin!« sagte Rickie. »Ihr Vater und seine Männer haben ein paar Meilen weiter versucht, uns aufzuhalten. Ein Farmer im Hubschrauber hatte sie benachrichtigt, und sie hatten die Straße blockiert. George wollte Sie alle an Vera-Ellens Vater ausliefern, aber wir haben ihm eins über den Schädel gehauen – er ist ein solcher Schwächling! – und sind noch rechtzeitig umgekehrt. Dann ist uns erst eingefallen, daß wir Sie eben so gut auch mitnehmen könnten.« Vera-Ellen drehte sich um und lächelte boshaft. Ellenby merkte, daß er sich eigentlich ganz wohl fühlte. Er wollte die Füße von George herunternehmen, setzte sie dann
aber nur ein wenig bequemer auf. Er blickte vor sich auf den lila Schopf der neuen Chauffeuse, die den Lunar lenkte, als hätte sie nie etwas anderes getan; sie warf ihm noch ein halb freundliches, halb freches Lächeln zu. Er stieß Madson in die Seite und sagte: »Wir werden unseren Streit später austragen – in allen Punkten.« Madson sah ihn an, als wüßte er nicht, ob er wütend werden oder lachen sollte. Ellenby überlegte sich, welche Jobs es in den 3D- und Handy-Studios wohl für Dichter und Physiker geben mochte. »Ja wie ist das denn?« sagte Rickie Vickson. Ihre Augen weiteten sich. »Wenn sie uns nur vor dem kleinen Erdbeben gewarnt haben, dann ist Old Angeles jetzt ja gar nicht radioaktiv verseucht – ich meine, nicht mehr als sonst, oder?« »Geschafft!« rief Vera-Ellen vergnügt, als der Wagen die Kuppe des Hügels erreicht hatte und die bläulichschimmernden Türme wieder in Sicht kamen. »New Angeles, wir kommen!«
Originaltitel: FRIENDS AND ENEMIES. Copyright © 1957 by Royal Publications, Inc. Aus INFINITY SCIENCE FICTION April 1957. Übersetzt von Ute Seeßlen.
John D. MacDonald ESKALATION DER FREUDE
DEINE PSYCHE BRAUCHT ZERSTREUUNG DEINE SEELE DIE BEFREIUNG FRAGE DOCH DIE ANDERN, MANN WIE MAN FRÖHLICH LEBEN KANN! »Wie lauwarmer Honig«, sagte Joe Morgan leicht angeekelt. »Wo in aller Welt nehmen die nur Leute mit solchen Stimmen her?« Sadie Barnum, die neben ihm in Joes riesigem, asthmatischem Monstrum von Automobil saß, lächelte in der Dunkelheit und imitierte fast perfekt die Werbesendung aus dem Radio. »…wie man fröhlich leben kann!« »Bitte, nein!« sagte Joe. »Nein!« Der Wagen stand im Parkhaus über der City, mit dem Kühler zur Wand, eingekeilt zwischen den neuen, glänzenden und blitzenden Modellen zu beiden Seiten. Die Werbesendung war aus dem Radio in dem Auto zu ihrer Linken herübergedrungen. Die Lichter der City von Daylon boten an diesem Abend wirklich einen phantastischen Anblick. »Du könntest meine überwältigende Liebe in Haß verwandeln, Barnum«, sagte Joe. »Komm, wir wollen nicht vergessen, wozu wir hergefahren sind.« Er langte nach ihr. Sadie preßte die Lippen zusammen und schob ihn heftig von sich. Sie hatte sich ihm zugewandt, so daß er in dem schwachen Licht ihr Gesicht sehen konnte. Es war ein kleines, wachsames, lebhaftes Gesicht, dessen energischer Ausdruck
durch die Augen gemildert wurde, die so groß und meeresgrau waren, daß man sich wünschte, darin still zu ertrinken. »Da wir nun schon einmal auf das Thema gestoßen worden sind, Joseph«, sagte sie entschlossen, »sollten wir es auch gleich besprechen.« Joe ließ sich grimmig hinter seinem Lenkrad zusammensinken. Er war ein ziemlich gutaussehender Bürger, mit länglichem Gesicht, dichtem, reichlich früh ergrauendem Haar und einem schlaksigen, träge wirkenden Körper, den er auf Stühle zu werfen pflegte wie andere Leute einen nassen Lappen – einen Körper, den er auf diese Weise auch schon aus so manchem sonnendurchglühten Flugzeug geworfen hatte. »Dann besprich mal«, sagte er. Sie hob ihre schlanke Hand und zählte laut an den Fingern ab. »Erstens: Daylon ist Teststadt für Happiness Incorporated. Der Preis ist also vernünftig. Zweitens: es tut kein bißchen weh. Morg hat es mir gesagt. Drittens: du bist ein launischer Bursche, und ich habe die Absicht, dich zu heiraten, wenn du mich das nächste Mal fragst. Wenn wir uns nicht anpassen lassen, wird das ein reichlich aufregendes Leben werden.« Ihre Stimme wurde unsicher. »Und außerdem finde ich, daß du… nun… einfach in diesem Punkt total verbohrt und engstirnig bist.« Joe seufzte. All das hatte er vorher schon ein paarmal gehört. Und es war ihm immer gelungen, das Thema zu wechseln, ehe er festgenagelt werden konnte. Aber irgend etwas in Sadies Stimme machte ihm klar, daß es diesmal nicht so einfach sein würde. Er nahm seine Kräfte zusammen, wandte sich ihr zu, ergriff ihre kleinen Hände und sagte: »Liebling, du magst vielleicht den Eindruck haben, Joseph Morgan, Reporter der News, sei ein unnahbarer Individualist. Vielleicht glaubst du auch, es sei eine Marotte von mir. Sieh mal, Barnum, ich bin Joe Morgan und zufällig der Mann, den du liebst. Zumindest
bilde ich mir das ein. Es ist wirklich keine Marotte von mir, und ich will auch nicht aus Prinzip anders sein. Ich mag nicht in den gleichen verrückten kleinen Kreisen herumrennen wie andere Leute, weil man mir noch nicht hat verkaufen können, daß das, wohinter sie herrennen, eine prima Sache sei.« Kleinlaut antwortete sie: »Aber sie sind doch hinter dem Glück her – hinter Sicherheit, einem Haus, Kindern. Ist das schlecht?« »Für sich selbst betrachtet, nein. Aber was ist mit ihren Köpfen passiert? Niemand redet mehr. Niemand denkt. Alles, was du eben aufgezählt hast, ist erstrebenswert, solange man seine intellektuelle Selbstachtung nicht aufgeben muß. Warum, glaubst du wohl, fahre ich diese alte Schaukel und nicht einen neuen Wagen? Ganz einfach weil ich keine Lust habe, mit Leuten im Sandkasten zu spielen, mit denen ich einfach nicht spielen will. Wenn ich mich amüsieren will, brauche ich nicht unbedingt ins Kino zu gehen oder den Fernseher anzudrehen oder ein Kabarett zu besuchen. Ich bin ein Musterexemplar des unprogrammierten Mannes, Baby. Vielleicht habe ich nicht recht, aber ich versichere dir, daß ich mich nicht verstelle.« »Aber, Joe, Liebling, was hat das damit zu tun, daß ich mit dir hingehen will, um die Spritzen zu bekommen?« »Alles. Ich will nicht, daß man Nadeln in mich hineinsteckt, um mich fröhlich zu machen. Ich hab keine Lust, meinen emotionalen Zyklus analysieren und dann dem irgend eines anderen Menschen anpassen zu lassen. Ich möchte mein eigener Mensch bleiben, und zwar voll und ganz.« »Diese Überzeugung bringst du aber in deinen Artikeln über die Happiness Incorporated nicht zum Ausdruck.« »Weil ich ein gewissenhafter Schreiberling bin, Schatz. Ich laß die kleinen Worte die Wirkung tun, die sie tun sollen.« »Aber Joe…«
Seine Stimme wurde weicher. Er sagte: »Sadie, wenn wir beide jetzt hingingen, um uns anpassen zu lassen, würden wir später nie erfahren, wieviel von unserem Glück wir irgendeinem Kerl mit einer Spritze zu verdanken haben und wieviel uns selbst. Laß uns doch unsere eigene Musik machen.« Sie kam in seine Arme, und ihre Lippen waren nahe an seinem Ohr. »Das ist das erste Argument, das vernünftig klingt, Joseph«, sagte sie. Für wenige Augenblicke waren alle Gedanken an Happiness Incorporated vergessen. Aber vorher dachte Joe doch noch kurz mit ein wenig Bitterkeit an Dr. August Lewtso und dessen Leute, mit denen er nach Daylon gekommen war. Es war etwas Eigenartiges um diesen Dr. Lewtso; eine irgendwie beunruhigende, bedrohliche Atmosphäre umgab ihn. Hinter Happiness Incorporated steckte eine Menge Geld. Die Leute waren vor drei Monaten hier eingetroffen, und es war natürlich für einen Journalisten eine wichtige Nachricht, daß Daylon als Teststadt ausgewählt worden war. Joe Morgan war beauftragt worden, Material für einen Artikel zu sammeln. Lewtso hatte ihn in seiner Hotelsuite mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen. Lewtso war ein hagerer Mann, etwa Anfang der fünfzig, mit tiefliegenden Augen, schlanken, nervösen Händen und der Angewohnheit, pausenlos ohne Grund ein breites Lächeln zur Schau zu stellen. »Aber gern. Sehr gern, Setzen Sie sich doch, Mister…« »Morgan. Von der News. Vielleicht können Sie mir Näheres über das Glück sagen, das Sie hier verkaufen wollen. Mir erscheint die ganze Angelegenheit doch ziemlich gefährlich.« Lewtso lächelte breit. »Überhaupt nicht, Mr. Morgan. Unser Verfahren ist von den bekanntesten medizinischen Institutionen geprüft und anerkannt worden. Es ist ein wenig schwierig, es einem Laien zu erklären…«
»Sie können’s ja mal versuchen, Doktor.« »Jeder Mensch, Mr. Morgan, hat einen emotionellen Zyklus. Die Periode zwischen den Höhepunkten ist individuell verschieden lang, wie auch der Winkel, in dem die Kurve ansteigt oder abflacht. Nennen wir diesen Zyklus einmal den emotionellen Rhythmus des Individuums. Auf dieser Graphik sehen Sie die Emotionszyklen jedes einzelnen Angehörigen einer vierköpfigen Familie. Achten Sie einmal auf den außerordentlich kurzen, etwa zehntägigen Rhythmus der Mutter, und beachten Sie auch die Spitzen, die jedesmal einen beinahe psychotischen Zustand signalisieren. In den Tiefen der Depression ist sie dem Selbstmord oft gefährlich nahe. Ein außerordentlich schweres Problem für das Zusammenleben in der Familie.« »Kann ich mir vorstellen.« »Dieser grundlegende Lebensrhythmus, Mr. Morgan, ist das Produkt der Drüsenfunktion und der Schwankungen in der Gehirnstromaktivität. Und jetzt sehen Sie sich diese Schautafel an. Sie zeigt die Emotionsgraphiken der gleichen Familie nach der Anpassung. Wir haben den Zyklus nicht eliminiert, sondern den der Frau etwas abgeflacht, den des Mannes etwas intensiviert und die der beiden Kinder angeglichen. Jetzt kann diese Familie vorausplanen. Diese vier Leute wissen jetzt genau, daß sie sich zwanzig Tage lang von einem zum andern Tag immer besser fühlen werden. Dann folgen fünf Tage höchster Zufriedenheit und Ausgeglichenheit und darauf ein fünf Tage dauerndes, nicht zu abruptes Abklingen. Sie werden sich gemeinsam wohlfühlen und auch alle zur gleichen Zeit etwas deprimiert sein. Sie können ihre Ferien einplanen und sind immer in der Lage, an ihrer eigenen Stimmung die der anderen Familienmitglieder zu erkennen.« »Ich nehme an, es geht also darum, die Drüsenfunktion und die Gehirntätigkeit aufeinander abzustimmen, wie?«
»Ganz richtig. Der Zyklus jeder einzelnen Person wird mittels einer Methode, die ich, wie Sie verstehen werden, allerdings geheimzuhalten beabsichtige, ermittelt. Wenn die Graphiken fertig sind, bereiten wir eine individuelle Injektion vor, mit deren Hilfe bestimmte entocrinologische Erscheinungen verstärkt, andere hingegen unterdrückt oder gemildert werden. Nach dreißig Tagen ist eine weitere Injektion erforderlich.« »Wieviel Personal steht Ihnen zur Verfügung?« »Ich habe vierzig Mitarbeiter mitgebracht, und wir werden zusätzliches Personal einstellen. Ich erwarte noch eine Sendung mit wichtigen Geräten und plane dann ein Gebäude in der Caroline Street zu mieten.« »Werden Sie Werbung betreiben?« »Aber gewiß! Rundfunk, Fernsehen, Himmelsschreiber, Plakate, Zeitungsinserate, Postwurfsendungen, und außerdem wird ein Team von Industrievertretern eingesetzt.« »Was verstehen Sie unter Industrievertretern?« »Nehmen Sie als Beispiel die Firma X. Sie beschäftigt dreihundert Menschen. Etwa ein Dutzend von ihnen sind notorische Beschwerdeführer und Unruhestifter. Andere wiederum haben auch ihre schlechten Tage, und dann fällt die Leistung entsprechend schlecht aus. Die Arbeitsmoral ist ungleichmäßig. Wenn einhundert Prozent der Beschäftigten angepaßt sind, wird der Personalchef der Firma jederzeit wissen, wie es um die Moral seiner Arbeiter und Angestellten steht. Auf diese Weise wird es möglich sein, vorauszudenken und eine genaue Produktionsplanung vorzunehmen. Die Schwierigkeiten werden auf ein Minimum reduziert, und die Leistung steigt.« »Klingt nach Nirwana«, bemerkte Joe Morgan trocken. »Und was kostet dieses Paradies?«
»Zehn Dollar pro individuelle Behandlung. Acht Dollar pro Person bei Firmenabschlüssen. Offen gestanden, Mr. Morgan, das deckt nicht einmal unsere Kosten, aber ich möchte Sie bitten, diese Information nicht zu veröffentlichen.« In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Dr. Lewtso ging hin, um zu öffnen und kam mit einer sehr großen, sehr ernsten jungen Dame zurück, die trotz ihrer strengen Kleidung und ihrer kühlen Reserve den Eindruck erweckte, als bewege sie sich zu den Klängen einer unhörbaren Melodie. »Mr. Morgan, darf ich Ihnen Miss Pardette vorstellen, unsere Statistikerin?« Ihr Händedruck war erstaunlich fest. Dr. Lewtso fuhr fort: »Miss Pardette ist schon seit einigen Monaten mit ihren Mitarbeitern in Daylon und hat sich damit beschäftigt, Statistiken über die industrielle Produktion, den Umsatz des Einzelhandels und andere Dinge dieser Art zu erstellen. Mit dem Fortgang unserer Arbeit wird sie neues Material erarbeiten können.« Lewtsos Stimme wurde etwas tiefer und bekam einen belehrenden Tonfall. »Es ist unser Bestreben, zu beweisen, daß, wie unsere Teststadt Daylon zeigen wird, jede amerikanische Stadt reicher, lebensfroher und glücklicher werden kann für die Menschen, die in ihr leben.« Joe Morgan klatschte mit ernster Miene Applaus. Miss Pardette und Dr. Lewtso blickten ihn abwesend an. Dr. Lewtso sagte: »Ich fürchte, Mr. Morgan, ich habe in Ihrem Benehmen eine reichlich kindische Art von Skeptizismus entdeckt. Sie sollten sich dem Fortschritt gegenüber nicht blind stellen.« »Wie können Sie so etwas behaupten, Dr. Lewtso«, sagte Joe schmeichelnd. »Ich bin beeindruckt. Wirklich beeindruckt, jeder warmblütige Amerikaner sehnt sich danach, glücklich zu sein. Und Sie sind der Mann, der uns dazu verhelfen wird.«
Sichtlich auftauend sagte Lewtso: »Äh… ja. Ja, gewiß. Entschuldigen Sie, bitte, Mr. Morgan.« Aber Joe spürte immer noch Miss Pardettes kalten Blick. Schnell sagte er: »Darf ich annehmen, Dr. Lewtso, daß Sie jeden Ihrer Patienten in den gleichen Emotionszyklus versetzen werden?« »Ja. Das ist Voraussetzung für das Gesamtbild. Statt des bisherigen völlig wirren Bildes wird jeder Mensch, den wir behandeln, künftig genau den gleichen Zyklus haben und allen anderen angepaßt sein.« Main Street. Ort des Geschehens ist zufällig Daylon. Es könnte sich um die Hauptstraße jeder beliebigen anderen Stadt handeln. Warme Maisonne; schwitzende Polizisten betätigen die Ampeln an den verkehrsreichsten Kreuzungen. Vorbeibrausende Lastwagen, Hausfrauen auf der Suche nach einem Parkplatz, um einkaufen gehen zu können, plärrende Musik aus einem nahegelegenen Radiogeschäft. Drei Kreuzungen von der eigentlichen Stadtmitte entfernt, bemüht sich ein anderer Polizist, die Menschenschlange vor dem Haus mit der Nummer vierunddreißig in der Caroline Street zu bändigen. Es ist ein kleines Gebäude. An der Fassade hängt ein riesiges Schild: HAPPINESS INCORPORATED. Die Schlange bewegt sich in kleinen Rucken auf den Eingang zu. Drinnen werden die Leute rasch und reibungslos in Gruppen aufgeteilt. Diejenigen, die zum erstenmal kommen, bezahlen an einem Schalter zu ihrer Rechten und erhalten eine Nummer. Es leben etwa hunderttausend Menschen in Daylon. Die neuen Nummern, die ausgegeben werden, beginnen mit elftausend. Diejenigen, für die die Graphik schon erstellt ist, werden eine Treppe hinaufgeschickt in einen Raum, wo eine Ampulle bereitsteht, die ihre Nummer trägt. Eine kleinere Gruppe wartet
im hinteren Teil des Gebäudes auf die weit wirksamere Nachimpfung. Ein plumper kleiner Mann, begleitet von seiner Frau, einer häßlichen alten Fregatte, steht schmollend in der Reihe. »Und jetzt hörst du mir zu, Henry«, sagt sie. »Nach neunzehn Jahren, während der ich deine kindischen Launen ertragen mußte, ist es jetzt höchste Zeit, daß du…« Sie redet und redet. Henry schmollt und rückt langsam in der Schlange vorwärts. Er sagt sich, daß keine Spritze in den Arm, und mochte sie noch so groß sein, mehr Fröhlichkeit in sein Leben bringen könnte, solange er mit diesem wildgewordenen Weibsteufel leben mußte. Der Polizist schwitzt schrecklich, aber er lächelt freundlich beim Anblick der Menschentraube. An seiner Uniform steckt ein kleines Abzeichen aus Bronze, auf dem ineinander verschlungen die Buchstaben H und I zu erkennen sind. Happiness Incorporated. Das Abzeichen wird mit der Zweitimpfung vergeben. Zurück zur Hauptverkehrsstraße. Ein Lastwagen stößt mit dem Lieferwagen einer Bäckerei zusammen. Beide Fahrer waren schuld an dem Unfall. Sie klettern aus ihren Fahrzeugen und staksen, wie sie es gewohnt sind, steifbeinig aufeinander zu. Beide tragen das kleine Bronzeabzeichen. Sie lächeln einander an. »Nichts passiert, schätze ich. Zumindest nichts Schlimmes.« »An meinem Wagen auch nicht. He, du gehörst ja zu uns Happiness-Boys.« »Ja. Meine Frau hat mich hingeschickt.« »Bei mir war’s genau so. Aber ich bereue’s nicht. Macht alles irgendwie schöner.« Sie stehen da und mustern einander. Die Kurve des emotionellen Zyklus bewegt sich nach oben. Jeder Tag ist besser als der vergangene. Der Höhepunkt rückt näher. Aber bis dahin sind es noch drei Tage.
»Paß auf, wir fahren unsere Karren um die Ecke und trinken zusammen ein kühles Blondes. Einverstanden?« Main Street im Mai. Ein kleines, bösartiges Kind in einem Supermarkt fühlt sich eingeengt und tritt einer älteren Frau mit voller Wucht gegen das Schienbein. Die Frau zuckt zusammen, lächelt die Mutter des Kindes nachsichtig an und humpelt davon. Die Mutter packt das Kind beim Ohr. »Du hast Glück gehabt, daß sie eine von den Angepaßten war, Homer. Und jetzt gehen wir heim, und ich verhau dir den Hintern mit dem Gürtel. Anschließend nehme ich dich und deinen Vater mit und sorge dafür, daß ihr beide angepaßt werdet.« Main Street hat sich verändert. Die Menschen lächeln ihren Fremden freundlich zu. Eine Atmosphäre von Heiterkeit, von Vorfreude liegt in der Luft. Die kleinen Bronzeabzeichen fangen die Strahlen der Sonne ein. Die nicht angepaßten blicken düster auf die kleinen Abzeichen und die lächelnden Menschen und fragen sich, was wohl passiert sein mag. Sie beginnen sich zu fühlen, als habe man sie von etwas ausgeschlossen. Joe Morgan geht verbissen die Straße hinunter und muß sich ernsthaft bemühen, nicht jedem dieser lächelnden Gesichter eine Grimasse zu schneiden. Ein Mann kommt aus einem Hausgang gestürzt und prallt mit Joe zusammen. Joe verliert das Gleichgewicht und fällt hin. Er wird aufgehoben und abgeputzt. »Passen Sie doch auf, wohin Sie rennen!« herrscht Joe ihn an. »Es tut mir leid. Ich war ungeschickt. Sagen Sie, darf ich Sie zu einem Drink einladen? Oder kann ich Sie irgendwo hinbringen? Mein Wagen steht gleich um die Ecke.« Joe ist nicht besonders gut aufgelegt. Sein Verleger und Herausgeber, der seit einiger Zeit stolz ein kleines Bronzeabzeichen am Revers trägt, hat eine tägliche Kolumne
mit dem Titel Happiness eingerichtet und Joe beauftragt, sie zu schreiben. Und nun ist Joe dem Glück auf der Spur. Er steht auf der anderen Seite der Straße und starrt auf die lange Reihe der Wartenden. Er kämpft mit Zweifeln, fragt sich, ob er sich nicht auch der Schlange anschließen und sich anpassen lassen solle. Aber einen solchen Eingriff in seine Privatsphäre kann er niemals zulassen. Er begibt sich in das Büro von Miss Pardette. Miss Pardette war beschäftigt. Joe saß in der Nähe ihres Schreibtisches, hielt den Kopf etwas schief und horchte angestrengt, ob er vielleicht die Musik hören könnte, die sie ständig zu umgeben schien. Er konnte sich nicht helfen, aber er sah in Alice Pardette ein vergeudetes Talent. Sie hätte in den teuersten Nachtbars nichts weiter zu tun brauchen, als übers Parkett zu schreiten. Wenn sie dabei die richtige Kleidung trug, würde jeder Mann sich am Tischtuch festkrallen und gleich einen weiteren Drink bestellen. Ihre Vitalität schien sich gegen das dunkle Kleid, das sie trug, förmlich zu stemmen wie ein wilder Gebirgsbach, der durch einen neuerrichteten Damm behindert wird. Endlich blickte sie auf. Joe sagte: »Was gibt’s Neues im Delirium, Kätzchen?« »Ich finde Ihre Haltung reichlich aggressiv«, entgegnete sie. Die Worte kamen kühl und sachlich. Aber der Ton war wie warmes Gold, eine ansprechende, weiche Verpackung für versteckte Zärtlichkeit. Joe strahlte. »Ich finde Happiness aggressiv, also sind wir wieder quitt. Was darf ich in der Zeitung schreiben, Mona Lisa?« Sie kramte in den Papieren auf ihrem Schreibtisch. »Ich habe eben die Statistik für den ersten Arbeitsmonat der Quinby Candy Corporation nach der Anpassung der Beschäftigten fertiggestellt. Sie werden diesen Bericht noch mit Mr. Quinby
abstimmen müssen, ehe Sie ihn veröffentlichen. Er sagt aus, daß die Krankheitsausfälle um sechs Komma drei Prozent, die Fälle von Unpünktlichkeit um elf und die Diebstähle um zwei Prozent zurückgegangen sind. Die gesamte Produktion ist gegenüber dem Vormonat um acht Komma acht Prozent gestiegen, wobei die Gewinnschmälerung durch Fehler, Ausschußproduktion und dergleichen gegenüber dem Vorjahresdurchschnitt von vier Komma sechs Prozent auf zwei Komma drei Prozent gesunken ist. Die Gebühren für die Anpassung der Arbeiter betrugen zweitausenddreihundertundvier Dollar. Mr. Quinby schätzt, daß diese Ausgabe sich nach zwei Wochen amortisiert hat.« »Wie gut für ihn«, sagte Joe und warf einen Blick auf die Zahlen, die sie in ihr Notizbuch geschrieben hatte. »Wie gerät ein Wesen wie Sie es sind unter diese Bande?« »Dr. Lewtso hat mich eingestellt.« »Ich meine jetzt die Statistiker ganz allgemein.« Sie sah ihn ruhig an. »Mr. Morgan, ich habe herausgefunden, daß Zahlen eines der wenigen Dinge auf der Welt sind, worauf man sich verlassen kann.« »Ich dachte, man könne sich auch auf die Art Glückseligkeit verlassen, die Ihre Firma verkauft.« Er warf einen Blick auf das Bronzeabzeichen, das sie trug. Sie bemerkte seinen Blick und sah ebenfalls auf ihre Anstecknadel hinunter. »Ich fürchte, ich bin eigentlich nicht berechtigt, das hier zu tragen. Dr. Lewtso bestand jedoch darauf. Er fand, es wäre besser, wenn ich es im Interesse der Firma trüge. Aber eine Statistikerin muß absolut neutral sein. Diese Neutralität könnte nach einer eventuellen Anpassung in Frage gestellt sein.« »Und wie ist es mit Lewtso selbst? Er trägt die Nadel doch auch.«
»Bei ihm verhält es sich genau so. Die Direktion ist der Ansicht, daß er als Leiter des hiesigen Unternehmens nicht angepaßt sein sollte.« »Genau wie ein Restaurantbesitzer, der zum Essen in ein anderes Lokal geht, nicht wahr?« Er sah ihr erstes Lächeln. Es war, als hätten verborgene Silberglöckchen zu klingen begonnen. »So ähnlich, Mr. Morgan.« Er seufzte. »Nun, wie weit sind wir heute gekommen?« »Es sind jetzt über elftausend neue Patienten. Die Zahl der vollständig Angepaßten beläuft sich auf fünftausendneunhundert.« »Darf ich einmal die Emotionskurve für diese fünftausendneunhundert sehen?« Sie stand auf, nahm einen Zeigestab und deutete damit auf eine riesige Graphik hinter ihr an der Wand. »Sie befinden sich genau hier. In drei Tagen werden sie den Höhepunkt erreicht haben. Sie werden fünf Tage lang oben bleiben. Dann folgen fünf rückläufige Tage, ehe der Anstieg von neuem beginnt.« Leise sagte Joe: »Ich habe immer ein ungutes Gefühl in der Magengrube, wenn ich mir vorstelle, wie all diese Menschen an einer statistischen Kurve entlanggeschoben werden wie das Schlachtvieh in den Gängen der Schlachthäuser von Chicago.« »Wenn Sie sich der Anpassung unterziehen würden, hätten Sie bestimmt eine andere Meinung.« Joe stand auf und streckte sich. »Genau das ist es, was ich befürchte, liebste Freundin. Morgan, der Unangepaßte. Das bin ich.« An der Tür wandte er sich noch einmal um und winkte ihr zu. Aber sie hatte sich schon wieder in ihre Berichte vertieft und sah nicht auf. AUSZUG AUS GIMMY RICKERS KOLUMNE IN DER NEW YORKER STANDARD TRIBUNE: »Die Leute von der Gesundheitsbehörde hatten nichts gegen einen gewissen Dr.
Lewtso und seine Mitarbeiter einzuwenden, und so kam es, daß der Doktor die Stadt Daylon nachgerade in einen Karneval der Freude verwandelte. Es wird berichtet, daß es dort in letzter Zeit so fröhlich zugeht, daß Beamte des Rauschgiftdezernats argwöhnisch geworden sind und Ermittlungen aufgenommen haben. Wenn Sie also mit sich und Ihrer Umwelt unzufrieden sind, sollten Sie sich vielleicht dazu aufraffen, den guten Doktor aufzusuchen und sich eine Injektion verpassen lassen.« AUSZUG AUS EINER FACHZEITSCHRIFT FÜR DAS HOTEL- UND GASTSTÄTTENGEWERBE: »Wenn die Bemühungen der Happiness Incorporated tatsächlich auf bundesweiter Ebene fortgesetzt werden sollten, so ergibt sich aufgrund von Berichten unserer Mitglieder aus Daylon eindeutig, daß die Besitzer und Geschäftsführer von Bars, Nachtklubs und Hotels ihre Geschäftspolitik gründlich umstellen müssen. Die Umsätze entsprechen genau dem von Dr. Lewtso festgelegten Emotionszyklus. Das bedeutet, daß zur Zeit des Höhepunkts der Emotionskurve unsere Mitglieder kaum in der Lage waren, der gesteigerten Nachfrage gerecht zu werden, während das Geschäft auf dem Tiefpunkt der Kurve praktisch zum Erliegen kam. Das Gesamtbild eines Monats, darauf sei ausdrücklich hingewiesen, ergibt allerdings eine durchschnittliche, Umsatzsteigerung von fünfzehn bis achtzehn Prozent.« AUSZUG AUS DEM PROTOKOLL EINER GEHEIMEN KONFERENZ IM PENTAGON – ZITAT AUS DER ZUSAMMENFASSENDEN REDE VON GENERALLEUTNANT GRADERSBY: »Daher, meine Herren, können wir eindeutig den Schluß ziehen, daß jenes soziologische Experiment in Daylon keine Bedrohung der für unsere Rüstung bedeutsamen Produktion in der vier Meilen von Daylon entfernt gelegenen Fabrik X darstellt. Tatsache ist
sogar, daß die Fertigung, was die Qualität des Endproduktes angeht, sogar verbessert wurde. Wir sind uns einig, daß es nur Zufall sein kann, daß dieses Experiment der Happiness Incorporated in der der Fabrik X – dem gegenwärtig einzigen Hersteller jenes für unsere militärische Stärke so eminent wichtigen Geräts – am nächsten liegenden Stadt durchgeführt wird. Es wird jedoch die Einsetzung eines Ausschusses empfohlen, der die Frage der Errichtung einer weiteren Produktionsstätte prüfen wird. Es sollen alle erforderlichen Schritte unternommen werden, um diesen Ausschuß rasch zu bilden, damit sein Bericht so bald als möglich diesem Gremium…« ENTSCHLÜSSELUNG EINES SCHEINBAR HARMLOSEN PRIVATBRIEFES AN DR. AUGUST LEWTSO: »Einheiten B, C, D und E in den ursprünglich festgelegten Schlüsselstädten eingetroffen. Ihre Berichte ausgezeichnet. Schaffen Basis für industriellen Betreuungsvertrag, darunter einen bereits unterzeichneten für Fünftausend-Mann-Fabrik, die bedeutender Zulieferant für Fabrikation von Strahltriebwerken ist. Schicken Sie weitere Berichte über Fortschritte direkt an die Beauftragten der entsprechenden Einheiten und delegieren Sie jeweils fünf ausgebildete Techniker aus Ihrer Mannschaft. Bericht auf üblichem Wege, wenn Zweitimpfung bei fünfzig Prozent der Bevölkerung von Daylon durchgeführt.« Ehe sich Joe Morgan hinauf in den Nachrichtenraum begab, ging er in einen Raum, der von der Eingangshalle des NewsGebäudes direkt zugänglich war und wo Sadie Barnum mit zwei weiteren Mädchen in der Anzeigenannahme arbeitete. Er konnte Sadie nicht entdecken. Julie, die Rothaarige, winkte ihm über die Schulter eines Mannes hinweg zu, der gerade damit beschäftigt war, eine Anzeige aufzusetzen. Joe lehnte sich gegen die Wand und wartete, bis der Mann bezahlt
hatte und gegangen war. »Wo ist mein Goldstück?« fragte er. »Welches denn? Ich bin doch da, Joe!« »Du kommst an Donnerstagen dran. Ich möchte das Mädchen von heute sprechen, die unbezahlbare Miss Barnum.« »Sie hat sich von Clance eine Stunde nach der Mittagspause frei geben lassen. Die Liebe muß warten.« Joe wandte sich zur Tür. »Sag ihr, sie soll mich anrufen, wenn sie wiederkommt.« Er fuhr im Lift hinauf, winkte dem Lokalredakteur zu, ging zu seinem Schreibtisch, spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und starrte finster darauf. Ganz hinten in seinem Bewußtsein schrillten Alarmglocken. Er war fest entschlossen zu schreiben, was während der zweiten großen Depressionsphase passiert war, wie sich Daylon verwandelt hatte, als zweiundzwanzigtausend Angepaßte gleichzeitig ein moralisches Tief durchwanderten, aber er konnte seine Gedanken nicht von Sadie losreißen. Seit er in der vergangenen Nacht ihre Bitte abgeschlagen hatte, war sie ziemlich schwierig gewesen. Plötzlich sprang er auf, eilte hinaus, stieg in sein asthmatisches Auto und röhrte in Richtung Caroline Street davon. Er parkte an der Bushaltestelle, ging die Schlange der anstehenden Menschen ab und hielt nach Sadie Ausschau. Als er sie nirgends entdecken konnte, war ihm, als könne er schon wieder leichter atmen. Er hatte so ein Gefühl, daß es eine schlimme Sache wäre, wenn Sadie sich impfen ließe. Es erleichterte ihn, daß er sich getäuscht hatte. Er warf einen Blick auf sein Auto. Ein Polizist war bereits damit beschäftigt, einen Strafzettel auszuschreiben. Als er sich gerade umwandte, um zurückzuspurten, sah er Sadie aus der Tür von Happiness Incorporated kommen.
Unterdrückt fluchend rannte er auf sie zu, packte ihren Arm und riß sie herum. »He, meine Impfung!« sagte sie und sah ihn mit einem frohen Lächeln an. »Du Gans!« rief er. »Du hirnloses Geschöpf! Was in aller Welt ist über dich gekommen, daß du dich diesen Rattenfängern an den Hals wirfst?« Sie nahm ihm die Beschimpfung nicht übel. »Einer mußte den ersten Schritt tun, Joseph, und es sah nicht so aus, als würdest du es sein. Also mußte ich es tun. Und jetzt gehst du auch hin. Nicht wahr, Liebling?« Er sah, daß sie tapfer lächelte, aber er bemerkte auch, daß sich hinter dem Lächeln Tränen verbargen. »Nein«, sagte er einfach. »Ich nehme an, du hast dich schon letzte Woche hierher geschlichen, um deine Emotionskurve ermitteln zu lassen?« Sie nickte. »Aber, Joe, es ist doch nichts Schlimmes dabei! Es ist so wunderbar für alle Menschen. Bitte, Joe!« Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Ja, wundervoll! Ganz phantastisch! Aber eines will ich dir sagen – « Er brach plötzlich ab, als ihm aufgrund der Informationen, die in seinem Unterbewußtsein gespeichert waren, plötzlich eine Erkenntnis kam, eine neue Erkenntnis mit düsteren Vorzeichen. Er drehte sich unvermittelt um und ging davon. Sie rief ihm etwas nach, aber er blieb nicht stehen. Er stieg in seinen Wagen und fuhr weg. Zweitimpfungen in Daylon. Mai – 5900 Personen. Juni – 14100 Personen. Juli – 22000 Personen. August – 31000 Personen. September – 50200 Personen. Über die Hälfte der Bevölkerung dieser Stadt. Die Periode intensiver Freude im September war eine Zeit der Straßentänze, des Gesanges, einer ausgelassenen, fast unerträglichen Fröhlichkeit.
Das folgende Tief tauchte die betroffenen Menschen in die Abgründe größter Verzweiflung. Langsam erholte sich die Stadt vom allgemeinen Trübsinn. Die herabhängenden Schultern beginnen sich wieder zu straffen. Die Gesichter, die zum Teil völlige Apathie ausgedrückt hatten, wurden wieder freundlich. Es ging bergauf, der Sonne entgegen. Und dann sieht das Haus auf einmal wieder genau so aus wie vorher. Das große Schild mit der Aufschrift HAPPINESS INCORPORATED ist abgenommen worden. Leute versammeln sich vor dem Gebäude und starren es nachdenklich an. Es sind diejenigen, die sich vorgenommen hatten, sich »morgen« anpassen zu lassen. Sie haben den Artikel Dr. Lewtsos in der Zeitung gelesen, in dem stand: »Ich möchte den Bürgern von Daylon danken, die uns unterstützt und die auf so großartige Weise mitgeholfen haben, die Grenzen menschlichen Wissens im Bereich der Emotionen zu erweitern. Es ist mehr als bedauerlich, daß ich mit meinen Mitarbeitern nun in eine andere Stadt ziehen muß, um dort eine ähnliche Einrichtung zu schaffen. Aber wir verlassen diese Stadt, ausgerüstet mit den Statistiken, die wir hier erarbeiten konnten, und im Vertrauen darauf, daß durch unsere Anstrengungen über die Hälfte der Einwohner jenes leuchtende Ziel erreicht hat, dem das Streben aller Menschen seit jeher gilt – dem Glücklichsein.« Ja, das Gebäude ist leer, und die Menschenschlange bewegt sich nicht mehr wie früher langsam auf die Tür zu. Zwei Techniker bleiben im Hotel zurück, um die Zweitimpfungen vorzunehmen, die noch fällig sind. Joe Morgan verbringt fünf Tage bei Sadie, beobachtet wie sie in immer tiefere Betrübnis verfällt, versucht sie aufzuheitern, steckt sich beinahe selbst an ihrer Apathie an, gewöhnt sich daran, an sie wie an eine Fremde zu denken. Er geht ins Büro, wo sie arbeitet. Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln. Sie
wirkt zerbrechlich, krank. »Liebling«, sagt er, »es ist so schön zu sehen, daß du wieder lächeln kannst.« »Aber es lohnt sich doch, Joe. Glaube mir. Schau, was ich vor mir habe. Fünfundzwanzig Tage ohne einen betrüblichen Augenblick, ohne einen traurigen Gedanken, ohne die geringste Sorge.« »Sicher, sicher«, sagte er, und seine Stimme klang hart. »Es ist schon sehr schön.« »Joe«, sagte sie, »ich habe nachgedacht. Es gibt keinen Grund, warum wir zusammenbleiben sollten. Ich brauche jemanden, mit dem ich fröhlich sein, mit dem ich die Tage, die vor mir liegen, lachend verbringen kann.« Er war erstaunt über das Gefühl der Erleichterung, das er tief im Inneren verspürte. Äußerlich täuschte er Schmerz vor. Er sagte: »Nun, wenn das deine Überzeugung ist…« »Es tut mir schrecklich leid, Joe. Aber jetzt, da ich glücklich bin, möchte ich nicht, daß auch die kleinste Wolke dieses Gefühl trübt. Das verstehst du doch, nicht wahr?« »Es hat sich so manches verändert, seit dieser perfektionierte Frohsinn die Stadt überfallen hat.« »Nein, so ist es nicht, Joe. Vorher war ich… nun, ich lief ganz einfach im Schatten herum. Und jetzt bin ich im Licht, in der Sonne, Joe. Jetzt weiß ich, wie es ist, glücklich zu sein.« Ihre kleine Hand lag warm und zart in der seinen. »Sei ein guter Junge«, sagte sie weich. Er fuhr in sein Büro hinauf. Der Lokalredakteur hatte ein großes X über das Manuskript gemalt, das Joe abgeliefert hatte. Joe nahm das Blatt und ging zu ihm. »Hören Sie mal, Johnson, das sind unverfälschte Nachrichten! Begreifen Sie das denn nicht? Was ist überhaupt los?« Johnson berührte mit der Fingerspitze leicht die bronzene Anstecknadel an seinem Revers und lächelte vage. »Ich glaube
nicht, daß wir es drucken sollten. Gute Arbeit, Morgan, zugegeben. Aber es ist gegen die Politik.« »Wessen Politik?« »Die des Herausgebers. Ich hab’s ihm zu lesen gegeben.« Ruhig und fest, jede Silbe betonend, sagte Joe: »Entweder es erscheint in der Zeitung, oder ich erscheine hier nicht mehr.« »Sie wissen, wo die Tür ist, Morgan.« Joe ging zurück in sein Büro und unterdrückte nur mühsam die Wut. Er nahm die Haube von seiner Schreibmaschine, schrieb den durchgestrichenen Artikel noch einmal um, so daß er ihn verschicken konnte, machte fünf Durchschläge, adressierte die Umschläge und frankierte sie als EilbotenSendungen. Und als das geschehen war, am späten Nachmittag, fand er eine kleine Bar, setzte sich auf den Hocker am Ende der Theke in der Ecke, lehnte sich mit der Schulter an die Wand und begann sich ganz respektable Mengen von Alkohol einzuflößen. Kein Mädchen, keinen Job – und eine Angst ganz hinten im Unterbewußtsein, die so riesig und doch so vage und düster war, daß ihm jedesmal das Kinn zuckte, wenn er auch nur flüchtig daran dachte. Das Geschäft in der Bar ging schlecht. Er erinnerte sich an glücklichere, normalere Zeiten, als hier abends gegen fünf immer eine laut lärmende Schnell-noch-einen-heben-unddann-heim-zum-Essen-Clique versammelt war. Ein schläfriger Barkeeper mit fadem Lächeln im Gesicht polierte träge die Gläser und seufzte ab und an. Er bewegte sich nur, wenn Joe den Finger hob und somit den nächsten Drink bestellte. Die Bar sah schon ziemlich surrealistisch aus, und Joes Lippen waren taub, als sie sich neben ihn auf den Hocker setzte. Er sah sie ernst an und bemühte sich, sie scharf
ins Bild zu bekommen. »Ich dachte, Sie hätten die Stadt mit den Rattenfängern verlassen«, sagte er. Alice Pardette entgegnete: »Ich bin zufällig vorbeigekommen.« Sie blickte auf sein Glas. »Würde mir so etwas helfen?« »Was haben Sie denn?« »Einen Horror, Mr. Morgan.« »Mein Name ist Joe. Und wenn Ihnen ein paar Drinks nicht helfen, dann hilft überhaupt nichts mehr. Warum sind Sie immer noch in der Stadt?« Während der Barkeeper den beiden einschenkte, sagte sie: »Als ich meine statistischen Arbeiten beendet hatte, sagte Dr. Lewtso, ich könne jetzt in der Verwaltung weiterarbeiten.« »Und warum haben Sie’s nicht getan?« Alice Pardette hatte ihre geschäftsmäßige Miene abgelegt. Joe bemerkte, daß ihre Augenbrauen zwei ausgesprochen hübsche Bögen beschrieben. Er bemerkte, wie sich an ihren Schläfen ein Grübchen bildete, und fragte sich, wie es hatte geschehen können, daß ihm solche reizenden Kleinigkeiten bislang entgangen waren. Er war versucht, auf diese Schläfen einen zärtlichen Kuß zu drücken. »Joe, sie wollten mich anpassen.« »Ich hab gehört, es soll recht angenehm sein. Man wird glücklich davon. Wissen Sie das nicht?« »Joe, vielleicht habe ich Angst vor dieser Art von Glücklichsein.« Sie leerte ihr Glas, keuchte, hustete und sah ihn dann wieder mit ihren dunklen Augen an. »Hey!« sagte sie. »Sie sind doch nicht etwa doch hingegangen…?« »Wo denken Sie hin! Nein, Ma’m. Es ist nur so, daß meine Freundin sich hat anpassen lassen und mir den Laufpaß gegeben hat. Und daß ich heute ‘rausgeflogen bin, weil ich
einen Artikel geschrieben habe, den sie nicht drucken wollten. Oh ja, ich bin auch angepaßt worden, aber ohne Injektion.« Sie lachte leise. »Hoppla, dieser Drink macht ganz schön warm, wenn man ihn mal in sich hat. Geben Sie mir noch einen. Was war das für ein Artikel, Joe?« »Über Selbstmorde«, sagte er. »Menschen, die sich Löcher in den Kopf schießen oder aus Fenstern springen oder sich an irgendeinem Haken in der Toilette aufhängen und dabei ein Halstuch tragen, obgleich wir Sommer haben.« »Tun das die Menschen nicht schon immer?« »In den fünf Tagen der Depression, mein Goldstück, sind vierzehn Menschen ihren Altvorderen nachgefolgt. Das sind in fünf Tagen mehr Selbstmorde, als diese alte Stadt in den letzten siebzehn Monaten erlebt hat.« Er wartete, bis die Statistikerin diese Zahlen verarbeitet hatte. »Hm«, machte sie. »Und nochmal ›hm‹«, sagte Joe. »Und was die ethische Verantwortung anbelangt – wer hat sie wohl aus der Bahn geworfen?« »Der olle Doktor Lewtso, Mann!« »Und wer, verdammt nochmal, hat diesem Doktor dabei geholfen, all die hübschen statistischen Zahlen zu kriegen, die er dazu brauchte? Wer außer unserer hübschen Alice?« Sie blickte ihn lange an. »Joe Morgan, Sie sollten mir lieber noch einen Drink spendieren.« Er sagte: »Ich habe meinen Artikel an mehrere Zeitungskonzerne geschickt. Vielleicht druckt doch noch einer, was ich da ausgegraben habe.« AUSZUG AUS EINEM ARTIKEL VON D. BOOKER IM WASHINGTON MORNING SENTINEL: »Die Happiness Incorporated dehnt ihre Aktivitäten mit erstaunlicher Schnelligkeit aus. Erst eine Woche ist es her, seit ihre Washingtoner Agentur eröffnet wurde, und schon wird
berichtet, daß über siebentausend Mitbürger ihren Emotionszyklus haben ermitteln lassen. Wie das bei jedem Schritt der Fall ist, der dem einfachen Mann auf der Straße Vorteile bringen soll, haben sich auch jetzt einige Kongreßabgeordnete, die die übelsten Elemente des Isolationismus und Konservativismus vertreten, zusammengetan und wollen versuchen, ein Gesetz durchzupauken, das Happiness Incorporated bremsen soll. Diese Herren, die das ganze Leben nur hinter ihren konservativen Scheuklappen hervor zu betrachten scheinen, wollen damit argumentieren, daß die von Happiness Incorporated angewandten Verfahren nicht gründlich genug getestet worden seien. Sie werden jedoch feststellen müssen, daß es schwierig sein wird, damit durchzukommen, weil – was sie noch nicht wissen können – einige ihrer Widersacher im Kongreß bereits die erste Impfung erhalten haben. Der Verfasser dieses Artikels hat sie selbst gesehen, als er seinen eigenen Psychozyklus ermitteln ließ.« AUSZUG AUS DEM INFORMATIONSGESPRÄCH, AN DEM ALLE LEITENDEN ANGESTELLTEN DER HEATON STEEL COMPANY UNTER VORSITZ DES GENERALDIREKTORS TEILNAHMEN: »Wenn wir unsere Fabrik in Daylon als Beispiel nehmen, so ist eindeutig erwiesen, daß Happiness Incorporated die einzig richtige Antwort auf industrielle Probleme, hohe Steuern und zurückgehende Gewinne ist. Demzufolge werden Sie erfreut zur Kenntnis nehmen, daß wir mit Happiness Incorporated eine Vereinbarung geschlossen haben, nach der morgen früh in unseren vierzehn Werken Impfzentren ihre Arbeit aufnehmen. Innerhalb von vierzig Tagen werden alle einhundertsechzigtausend Belegschaftsmitglieder der Heaton Steel angepaßt und glücklich sein. Den leitenden Angestellten
wird die Anpassung freigestellt. Jeder, der sich weigert, sich der Behandlung zu unterziehen, möge sich erheben.« AUSZUG AUS EINEM TAGESBEFEHL IN PARKINSON FIELD, DEM HAUPTQUARTIER DES KAMPFBOMBERGESCHWADERS 28: »Es wird bekanntgegeben, daß am Morgen des 18. September der Bau 83 für die zivilen Angestellten der Happiness Incorporated freigemacht wird. Alle Militärpersonen, die den Wunsch haben, sich der Anpassung zu unterziehen, können zu einem Sonderpreis von fünf Dollar eine Karte erwerben, die sie berechtigt, eine komplette Emotionsanpassung an die optimale Glückskurve zu empfangen. Es sei noch erwähnt, daß wieder einmal die Luftwaffe schneller gehandelt hat als die zuständigen Stellen des Heeres oder der Marine.« AKTENVERMERK AN ALLE STATIONEN DER INTERCOAST BROADCASTING COMPANY: Bezüglich des Werbespots, über den kürzlich langfristige Verträge abgeschlossen wurden, bitten wir am Text des Liedes folgende Änderungen vorzunehmen und, bis neue Bänder geliefert werden, Eigenaufnahmen für die Übergangszeit zu produzieren: Deine Psyche braucht Zerstreuung, Die Injektion bringt dir Befreiung. Frage doch die andern, Mann, Wie herrlich Anpassung sein kann. Der Schluß bleibt unverändert, also: »Gehen Sie zur nächstgelegenen Anpassungsstation der Happiness Incorporated in Ihrer Stadt. Sehen Sie das glückliche Lächeln überall? Warten Sie nicht mehr… und so weiter…«
Daylon wandelt sich wieder. Seit zwanzig Tagen hat sich die Kurve aufwärts bewegt. Morgen wird der Gipfel erreicht sein. Auf den Straßen wird gelacht, Menschen singen. Die Stadt hat einen neuen Beinamen. Die Heimat von Happiness. Die Stadt ist stolz darauf, als erste an der Reihe gewesen zu sein. Jedermann läuft mit einem Ausdruck heimlicher Fröhlichkeit herum, als sei er kaum imstande, seine Vorfreude auf die kommende epische Freude zu beherrschen. Und diejenigen, die nicht angepaßt sind, merken, daß auch sie von jener Ferienstimmung ergriffen werden. Fremde grinsen sich an, und ganze Busse, voll mit Menschen auf dem Heimweg von der Arbeit, erzittern unter den Liedern, die angestimmt werden. Alte Lieder und Schlager sind es, die da angestimmt werden. Let a Smile be Your Umbrella, Singing in the Rain, Smiles, Smile the While. Joe Morgan und Alice Pardette sind sich in den vergangenen zwanzig Tagen ziemlich nahe gekommen. Für ihn ist das eine völlig neuartige Verbindung – eine Frau, die ehrlich und offen denken kann, die keine der typisch weiblichen Umwege macht und doch so sehr weiblich ist, daß ihm der Puls schneller geht. Und auch Alice findet in Joe etwas, das sie nie zuvor erfahren hat. Einen Mann, der bereit ist, sie so zu nehmen, wie sie ist, der nicht versucht, ihre Verbindung in irgendwelche Gassen unerwünschter Intimität zu lenken, ein Mann, der zuhört, was sie zu sagen hat und der sich von Mensch zu Mensch und nicht von Mann zu Frau mit ihr unterhält. Dämmerung liegt über der Stadt, und die Leuchtreklamen verbreiten einen bunten Schein. Das alte Auto steht da, wo es so oft geparkt war, wenn Sadie Barnum darin saß. Er fragt sich, was Sadie wohl jetzt tun mag. Sie schauen über die Stadt und fühlen sich durchaus nicht wohl in ihrer Haut. »Joe«, sagte sie plötzlich, »spürst du es nicht, wenn du dort unten bei ihnen bist?«
»Du meinst, ob ich auch das Bedürfnis habe, wie ein Idiot dauernd zu grinsen? Sicher, und irgendwie habe ich Angst davor. Ich kenne ein paar Leute, die ebenfalls mit einer Anpassung einfach nichts zu tun haben wollten. Jetzt sind sie genau so schlimm wie die anderen, die ihre Spritzen bekommen haben. Dieses fröhliche Grinsen ist wie eine riesige Wolke, die über der Stadt hängt.« »Und es ist noch schlimmer als das letzte Mal, nicht wahr, Joe?« fragte sie leise. Er nickte. »Schlimmer auf ganz eigenartige Weise. Es scheint, als sei die Stadt eine riesige Maschine, und der Regler ist durchgebrannt, und nun dreht sie sich zu schnell. Als ob sie immer schneller und schneller auf Touren kommt, bis sie auseinanderfliegt.« »Oder wie ein Boot«, sagte sie, »das bisher durch ganz normale Wellen gefahren ist, und nun werden die Wellen immer höher.« Er wandte sich ihr zu und lächelte sie an. »Weißt du, wir können uns gegenseitig solche Angst einjagen, daß wir noch verrückt werden.« Alice erwiderte sein Lächeln nicht. Mit einer Stimme wie von weit her sagte sie: »Morgen wird es… seltsam. Ich fühle es. Joe, laß uns morgen beisammen bleiben. Bitte!« Ihre Hand ruhte auf seinem Handgelenk. Plötzlich lag sie in seinen Armen. Zum erstenmal. Ein paar Sekunden später sagte Joe erstaunt: »Für eine Statistikerin küßt du…« »Ich finde, du solltest lieber keine Scherze darüber machen, Joe. Ich glaube, es ist so ziemlich das Einzige, was ich tun kann, Joe. Ich glaube… so war es noch nie.« Wie eine langsam fliegende Rakete wuchs das Hochgefühl zwanzig Tage lang. Am einundzwanzigsten explodierte die Rakete in einem gigantischen Funkenregen der Emotionen. Joe verließ seine Wohnung und ging hinaus auf die Straße, wo er fassungslos einen älteren Mann anstarrte, der so irrsinnig
lachte, daß ihm die Tränen die Wangen herunterliefen, und er konnte sich nur mit Mühe an einem Laternenpfosten aufrecht halten. Dieses Lachen war ebenso ansteckend wie unheimlich und erschreckend. Joe fühlte, wie es ihn selbst packte, wie seine Lippen zu zucken begannen. Gerade noch rechtzeitig sprang er beiseite. Ein schwerer Kombiwagen, an dessen Steuer eine vor Lachen tränenüberströmte Frau saß, kam um die Kurve geschleudert. Der Mann wurde, immer noch lachend, von der Stoßstange voll erfaßt, davongeschleudert und mit voller Wucht gegen die Mauer des Wohnhauses geworfen. Eine Blutlache breitete sich langsam aus und rann auf den Rinnstein zu. Rasch versammelte sich eine Menschenmenge um den Toten. Nur eine flüchtige Sekunde lang waren sie ernst. Dann kicherte jemand. Sie heulten vor Lachen, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und tanzten lachend hin und her, so daß das Blut nach allen Seiten spritzte. Joe befreite sich aus der Menge und floh die Straße hinunter. Obgleich ihn panischer Schrecken erfaßt hatte, konnte er nicht verhindern, daß sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzog. Hinter sich hörte er, wie die Frau, immer wieder unterbrochen von heftigen Heiterkeitsausbrüchen, erklärte: »Ich… konnte den Wagen… mußte so lachen… und als ich… da stand er da und…« Sie kam nicht weiter. Ihre Stimme wurde von dem Singen und dem rasenden Gelächter ringsumher erstickt. Der Mann in der Snackbar, wo Joe normalerweise frühstückte, rief ihm schon von weitem zu: »Heute gibt’s alles gratis. Was möchtest du?« Das Mädchen neben Joe quietschte, ergriff seinen Arm, lachte ihm ins Gesicht und rief: »Sag’ ihm, daß ich Gin möchte!« Ein Mann, der dem Mädchen gegenüber saß und sich den Bauch vor Lachen hielt, schwankte zur Tür. Er trat die
Schaufensterscheibe eines nahegelegenen Spirituosenladens ein und kam mit einer Flasche Gin unter dem Arm zurück. Das Mädchen öffnete den Verschluß und trank in großen Zügen. Weitere Flaschen wurden herumgereicht. Der Inhaber des Spirituosenladens kam selbst mit einem Arm voll Flaschen herüber. Als Joe zaghaft versuchte, Spiegeleier zu bestellen, begann das Mädchen, dessen Atem jetzt stark nach Gin roch, ihm den Nacken zu kraulen und sagte heftig atmend: »Liebling, ich weiß nicht, wer du bist, aber du bist so ein netter Kerl. Wie kannst du nur an einem so glücklichen Tag arbeiten? Komm doch mit mir!« Joe, der immer noch jenes schreckliche Grinsen auf seinen Lippen spürte, starrte sie an. Sie machte einen anständigen Eindruck und war gut gekleidet. Joe wollte sagen: »Nein, danke.« Aber er hörte sich hastig antworten: »Na klar. Das klingt prima.« Arm in Arm gingen sie hinaus auf die Straße. Ab und zu blieb sie stehen, um aus der Ginflasche zu trinken. Zwei Kreuzungen weiter begann sie plötzlich zu seufzen, sackte zusammen, lag auf dem Gehsteig und war eingeschlafen. Auf ihren Lippen war ein warmes Lächeln. Joe stand über ihr und lachte blödsinnig, bis eine Arm in Arm daherkommende Menschenmenge ihn lachend mit sich riß. Er sah, wie dem Mädchen, das noch auf dem Fußweg lag, der Mund von einem Absatz aufgerissen wurde, aber er konnte nicht aufhören zu lachen. Er ging die Hauptstraße hinunter, und überall traf er auf Delirium: Lachen und Singen, das Klirren und Bersten von Fensterglas, das Krachen und Scheppern von Autounfällen. Er hörte ein schrecklich kreischendes Lachen, das immer näher kam, und eine Frau fiel aus großer Höhe herunter auf den Gehsteig, wo sie aufprallte und zerschmettert wurde wie eine reife Frucht. Joe wurde ganz benommen vor Lachen. Die Menge, in die er geraten war, zog weiter, und er lehnte sich
gegen eine Hauswand. Tränen rannen über sein Gesicht, und der Bauch schmerzte ihm von diesem irren Gelächter, aber immer noch hatte panischer Schrecken seinen Geist mit eisigen Fingern umkrampft. Mit tränenverschleierten Augen erkannte er, wie die Szene auf der Straße sich jetzt in eine wilde Orgie verwandelte, wie Menschen ohne Scheu, ohne Zurückhaltung, bedenkenlos und nur begleitet von ihrem eigenen infernalischen Gelächter im Schmutz der Gosse kopulierten. Langsam schob er sich weiter zum Gebäude der News. In der Eingangshalle sah er Sadie Barnum mit einem Fremden. Er bemerkte, wie gierig ihre Lippen waren. Nur einmal wandte sie ihre glasigen Augen Joe für den Bruchteil einer Sekunde zu, dann lachte sie und widmete sich wieder dem Mann. Und dann taumelte Joe wieder hinaus, stieß mit einem alten Mann zusammen. Der Alte ging langsam, mit einem nicht enden wollenden trockenen Gekicher an ihm vorüber. Über die Schulter hatte er sich eine Briefträgertasche gehängt, die bis oben hin mit Banknoten vollgestopft war. Er lachte Joe heiser ins Gesicht, steckte ihm eine Handvoll Geldscheine in die Jackentasche und ging weiter. Von Zeit zu Zeit griff er in die Tasche und warf eine Handvoll Scheine in die Luft. Der Wind erfaßte sie und verteilte sie auf dem Gehsteig, wo die Menschen, die keinerlei Anstalten machten, sie aufzuheben, über sie trampelten. Ein feister, grinsender Mann hockte in der Auslage eines Juweliergeschäfts und warf durch das zertrümmerte Schaufenster Ringe hinaus auf die Straße. »Prost Neujahr!« brüllte er, als Joe vorüberging. Und dann kam eine Frau von irgendwo her, klammerte sich mit feuchten Händen an seinen Hals und lachte ihn mit großen, glasigen Augen an. Ihr Gewicht riß Joe zu Boden. Er erhob sich schnell wieder. Sie blieb liegen und lachte zu ihm empor. Joe sah zur anderen
Straßenseite hinüber, wo ein bulliger Mann ein Mädchen am Handgelenk hinter sich her zerrte. Ein kleiner, nüchtern gebliebener Teil in Joes Gehirn sagte ihm: »Da ist Alice. Das ist Alice! Du mußt etwas unternehmen!« Er rannte los, bahnte sich rücksichtslos einen Weg zwischen den vor Lachen spasmisch zuckenden Menschenleibern hindurch, erreichte den Mann und riß ihn herum. Er wollte ihn verprügeln, aber statt dessen fiel er gegen ihn, und beide brüllten vor Lachen. Alice saß auf dem Gehsteig. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen. Er hob sie auf, hielt sie fest an sich gepreßt, taumelte mit ihr davon. Sie versuchte unaufhörlich, ihn zu küssen. Er wußte, daß er sie so rasch wie möglich wegbringen mußte. Zweimal wurde sie ihm von vor Lachen brüllenden Männern abgenommen. Zweimal taumelte er zurück und bekam sie wieder zu fassen. Eine Gruppe von Männern bewegte sich die Straße hinunter. Sie machten sich den Spaß ihres Lebens daraus, jedes Auto, an dem sie vorüberkamen, umzuwerfen. Ein grinsender Polizist beobachtete sie. Einer der Männer zog eine Pistole hervor, zielte auf den Polizisten und schoß das Magazin leer. Der Polizist saß auf der Straße, lachte und hielt sich den durchlöcherten Bauch, bis er starb. Zwei Männer standen da und spielten Russisches Roulette. Sie nahmen abwechselnd die Waffe, jeder drehte an der Trommel des Revolvers und drückte dann ab. Als Joe mit Alice vorüberkam, ging die Waffe los, und sie wurden mit Hirngewebe, Blut und Hautfetzen bespritzt. Der andere Mann sprang auf, rannte auf sie zu und schrie: »Wollt ihr spielen? Kommt, spielt mit mir!« »Spiel doch mit ihm«, sagte Alice quengelnd.
Aber Joe, angespornt durch seine geheime Furcht, zerrte sie weiter, schob sie schließlich ins Auto. Er schloß die Tür hinter ihr ab, kletterte hinter das Steuer und ließ den Motor an. An der ersten Kreuzung versuchte eine Frau, ihn zu rammen. Er trat mit voller Wucht auf die Bremse. Sie raste haarscharf an ihm vorbei, überfuhr zwei Menschen auf dem Bürgersteig und landete dann krachend im Schaufenster eines Supermarkts. Joe fuhr mit der hilflos neben ihm keuchenden Alice drei Kreuzungen weiter, bog dann in die Wilson Avenue ein und fuhr aus der Stadt hinaus. Seine Augen schwammen in Tränen, so daß er kaum etwas sehen konnte. Zehn Kilometer außerhalb Daylons bog er in einen Feldweg ein und brachte den Wagen schließlich in einer kleinen Senke zum Stehen. Er legte Alice auf die grasbewachsene Böschung in den Schein der Morgensonne. So lagen sie lange nebeneinander. Die Abstände zwischen den einzelnen Lachkrämpfen wurden immer länger. Alice richtete sich auf, wankte mit brennenden Augen hinter ein paar schützende Büsche und Joe konnte hören, daß ihr sehr übel sein mußte. Wenig später stellte er bei sich selbst die gleiche Reaktion fest. Auch ihm war übel. Am Ende des Feldes fanden sie einen kleinen Bach, wo sie sich säubern konnten. Ihre Kleidung war immer noch mit Blutflecken verschmiert. Als sie wieder auf der Böschung lagen, rollte sie sich auf den Bauch. Sie weinte hemmungslos. Er hielt sie fest im Arm und streichelte zärtlich das dunkle Haar. Endlich hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie setzte sich, und er gab ihr eine Zigarette. »Ich werde mich ewig an diese Stunden erinnern, Joe«, sagte sie. Er dachte an die Szenen, die er miterlebt hatte und die in all ihrer Schrecklichkeit noch nachwirkten. »Glaubst du, daß du anders bist?«
»Ich danke Gott dafür, Joe, daß du mich gefunden hast. Gott sei Dank, daß du dir noch ein Fünkchen Vernunft bewahrt hattest. Irgendwo tief in meinem Inneren war noch ein Rest klaren Verstandes, und ich konnte alles um mich herum erkennen. Ich wußte genau, wie schrecklich es war, aber ich konnte nichts dagegen tun.« »Mir ging es genau so. Mein Mund schmerzt noch vom Lachen.« Und weil es heraus mußte, weil sie sonst nicht damit fertig geworden wären, erzählten sie einander, was sie erlebt hatten. Er erzählte ihr auch von Sadie Barnum. Nach einer langen Weile des Schweigens sagte er: »Was können wir tun?« »Das ist die große Frage, nicht wahr? Ich laß dich nicht zurückgehen, Joe.« »Was könnte ich tun, wenn ich zurückginge? Das Geld von der Straße auflesen?« Er erinnerte sich an den alten Mann mit der Posttasche. Er nahm die Geldscheine aus der Jackentasche: sieben Hunderter, drei Fünfziger und vier Ein-Dollar-Scheine. Ihre Finger krampften sich hart in seinen Arm. »Joe, wir müssen die anderen Städte wissen lassen, was geschehen ist.« Er zuckte die Achseln. »Sie wollten ja nicht mal meinen Artikel drucken. Aus welchem Grund also sollten sie mir jetzt plötzlich zuhören?« »Aber wir können doch nicht einfach untätig herumsitzen! Denk doch an die Kinder in der Stadt, Joe! Können wir nicht versuchen, einige von ihnen… zu retten?« »Laß mich überlegen«, sagte er. »Laß mich über einen Weg nachdenken, der uns davor bewahrt, von diesem Irrsinn noch einmal angesteckt zu werden.« Leise sagte sie: »Angenommen, man könnte das alles nicht hören… dieses schreckliche Lachen um einen herum?«
Er sprang auf und schnippte mit den Fingern. »Ich wette, das ist schon ein Teil der Lösung! Nicht die ganze, denn es ist ja erwiesen, daß sich einem Lynchmob auch Taube anschließen. Aber ein Teil davon. Wenn man nichts sehen und nichts hören könnte, würde man doch noch einen Teil der Aufregung, der Erregung um einen herum spüren, und es würde einen mitreißen. Man braucht etwas, das den Geist ablenkt.« »Wie zum Beispiel Zahnweh«, sagte sie. »Ich werd’s versuchen, Kätzchen«, sagte Morgan. »Mit verstopften Ohren, herausgenommener Zahnplombe und einem Kieselstein im Schuh, glaube ich, kann ich es riskieren. Ich muß unbedingt sehen, was in der Stadt vor sich geht.« »Und ich werde mitgehen, Joe. Ich werde nicht allein hierbleiben, und ich kann dir helfen, wenn es dich doch überkommen sollte, Liebling. Ich werde da sein, um… dir zu helfen.« Ein krampfhaft grinsender Joe Morgan und eine Alice Pardette, die vor Schrecken bleich war und am ganzen Leibe bebte, standen in dein nahezu verlassenen Zentralgebäude der Telefongesellschaft. »Bist du sicher, daß du mit der Ferngesprächsvermittlung zurecht kommst?« »Das habe ich über ein Jahr lang gemacht. Komm!« »Sieh zu, daß du die Regierung bekommst. Möglichst den Gouverneur persönlich.« Ruhig und bestimmt sprach sie in die Muschel, als die Verbindung zustande gekommen war. Dann gab sie ihm ein Zeichen. Er nahm den anderen Hörer. Eine warme, herzliche Stimme sagte: »Hier Gudlou. Wie, sagten Sie, sei Ihr Name?« »Gouverneur, hier spricht Joseph Morgan aus Daylon. Ich bitte Sie dringend um Hilfe. Berufen Sie die Nationalgarde ein.
Schicken Sie Männer her. Männer, Ambulanzen und Tränengas. Diese Stadt ist verrückt geworden.« »Soll das ein Scherz sein?« »Versuchen Sie, meine Angaben bei der Telefongesellschaft oder telegrafisch nachzuprüfen, Sir. Versuchen Sie, unsere örtliche Rundfunk- und TV-Station hereinzubekommen! Glauben Sie mir, hier herrscht das totale Chaos!« »Aber – ich verstehe nicht! Was ist denn geschehen?« »Diese Happiness Incorporated, Sir!« Der Gouverneur lachte herzlich. »Eine recht clevere PR-Aktion, Mr. Morgan oder wie Sie heißen mögen. Tut mir leid, mein Junge, ich kann die Nationalgarde nicht losschicken, um Werbung für eure Firma zu betreiben, auch wenn ich selbst schon einen Termin für meine Erstimpfung vereinbart habe.« »Hören Sie, Sir, schicken Sie einen Hubschrauber her! Lassen Sie Aufnahmen…« Aber die Leitung war tot. Joe seufzte schwer. »Hat nicht geklappt, mein Engel. Versuch mal, ob du den Präsidenten an die Leitung kriegst.« Aber nach zwei Stunden gaben sie es auf. Ihre Anrufe endeten in Vorzimmern, oder sie mußten sich Vorlesungen über Kompetenzen anhören und immer wieder warten. Die Welt würde es ohnehin früh genug erfahren. Nachdem Züge angehalten worden waren, Busse und Lastwagen in der Stadt festlagen und alle Verbindungen zur Außenwelt unterbrochen waren, würde die Welt wohl endlich aufwachen und sich fragen, was wohl in Daylon geschehen war. Ein Tag des totalen Irrsinns, noch einer, noch einer, und dann nochmal einer. Die Straßen hallten wider von höllischem Gelächter. Man stellt fest, daß militärische Abteilungen, die hergeschickt wurden, um die Ordnung wieder herzustellen, dem allgemeinen Wahnsinn verfallen. Immer wieder kreisen
Flugzeuge und Hubschrauber über der Stadt. Alle Ausfallstraßen sind von den Autos der Neugierigen blockiert, die gekommen sind, sich das Schauspiel anzusehen. Viele von ihnen wagen sich zu nahe heran, bleiben, werden angesteckt und sterben. Das Elektrizitätswerk ist ausgefallen, und in der Nacht ist die Stadt von brennenden Straßenzügen erhellt. Das Lachen und die Verrücktheit halten an. Im ganzen Land arbeiten die Filialen der Happiness Incorporated weiter, kassieren Gebühren und impfen vierundzwanzig Stunden am Tag. Die Sprecher von Happiness Incorporated erklären, die Ausschreitungen in Daylon seien auf eine organisierte Bande zurückzuführen, die bestrebt sei, das gesamte Programm in Mißkredit zu bringen. Joe Morgan, unrasiert, bleich und übermüdet, fuhr die letzte Busladung schreiender Kinder aus Daylon hinaus. Mit dem Geld, das Alice und er sich am ersten Tag besorgt hatten, nahezu zwei Millionen Dollar in bar, hatten sie in Lawper, einer mittelgroßen Ortschaft etwa zwanzig Kilometer von Daylon entfernt, eine Hilfszentrale errichtet. Sie hatten genügend Gebäude gemietet, eine große Gruppe von Helfern angeworben, und es war ihnen tatsächlich gelungen, nahezu dreitausendsechshundert Kinder zu retten, ihre Wunden zu behandeln, sie zu füttern und ihnen Unterkunft zu geben. Gut organisierte Dienststellen begannen, ihnen einen Teil der Last der Verwaltungsarbeiten abzunehmen. Alice, die einige Pfunde abgenommen hatte, stand neben ihm, als die Pfleger die Kinder zur Untersuchung in Empfang nahmen. »Wie war’s, Joe?« fragte sie. »Die ganze Stadt atmet den Hauch des Todes. Und das Lachen hat aufgehört. Es ist jetzt still geworden. Ich habe ein paar von ihnen gesehen, wie sie auf der Straße saßen, das
Gesicht mit den Händen verdeckten. Und ich glaube, es kommt noch schlimmer.« AUS DEN ACHTZEHN-UHR-NACHRICHTEN VOM 3. OKTOBER: »Unsere erste Meldung beschäftigt sich heute wie üblich mit den Vorfällen in Daylon. Die Welle von Selbstmorden ist vorüber, und die Stadt leckt sich ihre Wunden. Diese Wunden, um es rundheraus zu sagen, sind beeindruckend. Gemäß offiziellen Meldungen sind zweitausendeinhundert Tote zu beklagen. Die Zahl der Verletzten beläuft sich auf rund viertausend. Eintausendfünfhundert Menschen werden vermißt und sind wahrscheinlich ebenfalls tot. Der Sachschaden beziffert sich nach vorläufigen Schätzungen auf sechzig Millionen Dollar. Heute ist ein Untersuchungsausschuß des Kongresses in Daylon eingetroffen, der von einigen ausgewählten Reportern begleitet wird. Der Mut und der Eifer, mit dem die Überlebenden in Daylon an den Wiederaufbau gehen, ist herzerwärmend. Psychologen bezeichnen die Geschehnisse als ein Paradebeispiel von Massenhysterie, deren Ursache noch nicht bekannt ist.« AUS DEM DETROIT CITIZEN BANNER: »Richter Falcon lehnte heute einen Antrag auf Schließung der drei örtlichen Filialen von Happiness Incorporated ab, der von der Detroit Medical Association mit der Begründung eingebracht worden war, die schrecklichen Vorfälle in Daylon hätten möglicherweise ihre Ursache in den Impfungen, die in dieser Stadt vorgenommen wurden, als die Stadt erster Testort der Happiness Incorporated war. Richter Falcon stellte fest, daß nach seiner Beurteilung kein logischer Zusammenhang ersichtlich sei. Das Gericht trat sehr früh zusammen, so daß der Richter seinen Termin in der nahegelegenen Klinik der Happiness Incorporated noch einhalten konnte.«
LEITARTIKEL IN DER DAYLON NEWS: »Die Einstellung der Gerichte, keine Verfahren gegen Bürger von Daylon anzustrengen, die ohne ihr eigenes Wissen während der vergangenen Woche Verbrechen begangen haben, ist zu begrüßen, trägt sie doch in intelligenter Weise den Tatsachen Rechnung. Aber die Schriftleitung dieser Zeitung ist der Auffassung, daß diese Sonderbehandlung dem schwer beschuldigten Joseph Morgan, ehemals Reporter dieser Zeitung, und seiner Komplicin Alice Pardette, ehemals Mitarbeiterin der Happiness Incorporated, nicht zukommt. Es ist nachgewiesen und auch von beiden Angeschuldigten zugegeben worden, daß es ihnen gelungen ist, der Hysterie zu widerstehen, bei vollem Bewußtsein in die Stadt einzudringen und mit zwei Millionen Dollar in bar zu entkommen. Die Tatsache, daß ein Teil des Geldes dazu verwendet wurde, Kinder zu evakuieren, mag ein Milderungsgrund für das Gericht sein, aber, da die Beschuldigten von der Polizei festgenommen wurden, noch ehe sie ihre angebliche Absicht, den Rest des Geldes zurückzubringen, ausgeführt hatten, werden sie einen schweren Stand haben. Es waren auch andere Organisationen bereit, den Kindern dieser Stadt zu helfen. Es ist nur zu hoffen, daß Joseph Morgan und Alice Pardette, falls es zur Verhandlung kommt, die volle Härte des Gesetzes treffen möge, da ihr Verbrechen wohl als beispiellos und besonders verdammungswürdig zu bezeichnen ist.« AUSZUG AUS EINER GEHEIMKONFERENZ IM PENTAGON UNTER VORSITZ VON GENERAL LOEFSTEDTER: »Zusammenfassend ist zu sagen, daß das Industriewerk X bei den Unruhen in Daylon fast völlig zerstört wurde. Wir sind zu der Auffassung gelangt, daß diese Gewaltakte von Feinden unserer Nation in voller Absicht, unsere Fabrik in Daylon zu zerstören, inszeniert worden sind. Der Bericht des Komitees für die Errichtung von
Ausweichproduktionsstätten wird bis zu unserer nächsten Konferenz fertiggestellt sein. Dann sollen auch Entscheidungen fallen und Verbindungsoffiziere ernannt werden. Da die Fertigprodukte in den Lagern der Fabrik X ebenfalls vernichtet worden sind, ist die Situation als wirklich ernst zu bezeichnen. Alle Tests im Prüffeld sind sofort einzustellen. Das bereits in den Händen der Truppe befindliche funktionstüchtige Gerät ist streng zu rationalisieren.« Der feiste Wärter sagte: »Sie wissen doch, daß ich das nicht tun dürfte.« Joe sagte: »Sicher, ich weiß. Aber zufällig waren es eben wir, die dein Kind vor dem Verbrennen gerettet haben, und du willst das sicher gutmachen.« »Ja«, sagte der Wärter. »Bleiben Sie hier. Ich hole sie.« Joe wartete fünf Minuten. Dann wurde Alice in den kleinen Raum gebracht. Sie war bleich und mager und trug ein graues Gefangenenkleid. Sie sah Joe ungläubig an. Dann rannte sie auf ihn zu. Er spürte, wie ihre Schultern bebten, als er sie fest an sich drückte. »Je, die können dich doch nicht hier einsperren«, sagte er leise. Er winkte dem Wärter über ihre Schulter hinweg zu. »Warte auf dem Gang, Junior.« Der Wärter zuckte die Achseln und ließ sie allein. »Warum tun sie uns das an?« fragte Alice. »Sie brauchen jemanden, auf den sie wütend sein können, weißt du. Sie müssen jetzt auf irgend etwas einschlagen können. Sie haben sich nur nicht die richtigen Leute ausgesucht. Das ist alles. Außerdem brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.« Nun gewann sie ihren alten Mut wieder. »Was meinst du denn damit, Joe Morgan?« Er grinste. »Wann kommt unser Fall zur Verhandlung?« »Am 10. November, haben sie gesagt«, meinte Alice und legte den Kopf schief.
»Und vorher werden wir hier verschwinden, wenn sie nämlich ihren nächsten hysterischen Anfall bekommen.« »Oh, Joe!« seufzte sie. »Das wird doch nicht wieder passieren! Nicht noch einmal!« »So wie ich es sehe, Liebling, wird das immer so weitergehen. Halte also deine Ohrstöpsel bereit!« »Die Schlüssel, Joe!« sagte sie flüsternd. »Überlaß das mir!« Wieder einmal ist die Feder der Gefühle in Daylon bis zum Zerreißen angespannt. Wieder brodelt und perlt die Freude, spürt man die Vorfreude auf den Höhepunkt. Das Klagen um die Toten hat aufgehört. Die Straßen sind irgendwie festlich. Die Oktobertage sind klar und kühl. Viele Menschen haben plötzlich ein wenig Furcht, aber die Furcht wird hinweggeschwemmt von einer Flut von Fröhlichkeit und Vorfreude auf die kommenden Vergnügen. Zwei Dutzend Städte in den Vereinigten Staaten haben nun schon die Fünfzig-Prozent-Grenze überschritten. Darunter befinden sich Detroit, Chicago, New Orleans, San Francisco, Philadelphia, Pittsburgh, Boston, Buffalo, Los Angeles, Houston, Portland, Cleveland, Atlanta – und zehn weitere große Städte. Rund drei Dutzend weiterer Städte haben bereits die Vierzig-ProzentMarke überschritten. Und dann werden alle Kliniken der Happiness Incorporated plötzlich geschlossen. Millionen sind bitter enttäuscht, weil sie sich die Chance haben entgehen lassen. Aber das gesamte Klinikpersonal taucht in New York City auf. Mobile Einheiten werden errichtet, und der Preis für eine Impfung wird auf fünfzig Cents ermäßigt. Durch neue Methoden wird die Arbeit erheblich beschleunigt. Die Kliniken arbeiten Tag und Nacht.
Im ganzen Land wächst das Glücksgefühl mehr und mehr. Überall kann man es spüren. Man ist gut zu seinem Nachbarn und zu seiner Frau. Die riesige Feder spannt sich im ganzen Land. Fester und fester. Um die elfte Stunde geht das Stammpersonal der Kliniken, und das ist eine erstaunlich kleine Zahl von Menschen, an den Docks von Brooklyn an Bord eines Schiffes. Am Morgen der emotionellen Explosion ist das Schiff schon mehrere hundert Meilen vom Land entfernt. Und einundfünfzig Prozent der New Yorker Bevölkerung sind geimpft worden. Eine bekannte Zeitschrift spricht von der »Jagd nach dem Glück«. Man hat es gejagt und schließlich auch eingeholt. Der silbern schimmernde Gral des Glücks, durch Jahrhunderte immer hinter den grauen Schleiern der Sage, des Mysteriums verborgen, ist endlich gefunden. Ja, silbern sieht er aus, dieser Gral, aber sein Inhalt ist eine bittere Überraschung. Am Morgen der Explosion fallen alle Nachrichtenverbindungen, alle Versorgungsund Verkehrseinrichtungen so gründlich aus, als hätte es sie nie gegeben. Der Pilot einer Verkehrsmaschine voll keuchender, nach Luft schnappender, wiehernder, sich in Lachkrämpfen windender Passagiere, fliegt pausenlos das Empire State Building an, bis der Radiomast schließlich eine Tragfläche abtrennt und die Maschine mit ihren fröhlichen Passagieren in die Straßenschluchten stürzt. In New Mexico schieben schreiende Techniker und Hilfskräfte einen weltberühmten Weltraumforscher in die Instrumentenkapsel einer Rakete und jagen sie in den Weltraum hinauf. In Houston öffnet ein Techniker, die Schnapsflasche in der Hand, einen Benzinhahn nach dem anderen.
Er lächelt noch, als die blauweiße Flamme der Explosion die Schnapsflasche in Bruchteilen einer Sekunde schmelzen läßt. Als er die Tür zu ihrer Zelle öffnete, hatte Alice ein gespanntes, mechanisches Lächeln auf den Lippen. Er ohrfeigte sie hart, bis das Lächeln erstarb. Er hatte zwei Pistolen bei sich. Die hatte er den Wärtern abgenommen, die sich beim Anblick der zwei fliehenden Gefangenen vor Lachen brüllend am Boden wälzten. Wenige Meter vom Gefängnis entfernt, fand er einen frisch aufgetankten Wagen. Sie beluden das Auto mit Proviant, Gewehren, Patronen und einer Campingausrüstung. Zehn Kilometer außerhalb der Stadt mußte er den Wagen jedoch anhalten. Es dauerte zwanzig Minuten, bis das Zittern nachließ und er sich zutraute, weiterzufahren. Er berichtete ihr, was er vor hatte und wie er sich die weiteren Ereignisse vorstellte. Bei Anbruch der Dämmerung hatten sie das Ufer eines Sees erreicht. Das hohe Gras berührte den Boden des Wagens. In der kleinen Hütte, die sie fanden, gab es Petroleumlampen, und in einem Lagerraum hinter der Küche fanden sie auch ein Faß voll Petroleum. Der letzte Abglanz der sinkenden Abendsonne auf dem See war erloschen. Hie und da fiepte ein Vogel schläfrig in den Bäumen. Die Luft war frisch. Während Alice in der Küche arbeitete, ging er hinaus und versuchte, im Autoradio einen Sender hereinzubekommen. Er hörte nichts außer einem Rauschen. Sein Herz klopfte, als er endlich doch eine Station fand. Er lauschte. Er hörte nichts als irrsinniges Lachen, bei dem einem die Tränen in die Augen steigen, sich der Magen zusammenkrampft und die Kehle rauh wird. Angewidert stellte er das Radio wieder ab. Sie beendeten ihre Mahlzeit in bedrückendem Schweigen. Er schob seinen Teller von sich, zündete zwei Zigaretten an und reichte ihr eine. »Nicht gerade fröhlich sind wir, wie?« sagte
sie. »Nicht, wenn sich unsere Welt zu Tode lacht.« Sie hob die Schultern. »Zu Tode?« . Er nickte. »Lewtso war ein übler Bursche. Er wußte genau, was geschehen würde. Er hatte einen Plan. Er hatte seine Befehle.« »Wessen Befehle?« »Wie sollte ich das wissen? Das Land lacht sich buchstäblich tot. Sie werden abwarten, wer immer sie sein mögen. Sie warten auf die nächsten fünf Tage totaler Hysterie und die darauffolgende Selbstmordwelle – und dann werden sie handeln. Vielleicht sind dann noch genug von uns übrig, um ihnen die Suppe zu versalzen.« »Aber warum, Joe? Warum funktioniert das so?« »Sagt dir der Begriff Resonanz etwas?« »Wie ein Ton?« »Hinter diesem Wort steckt mehr, Alice. Dahinter steckt auch der überschwappende Kaffee in der Tasse, die du durchs Zimmer trägst, oder die Schwingungen einer Brücke, wenn eine Abteilung Soldaten im Gleichschritt darüber marschiert. Daylon und die anderen Städte waren normal, als jeder Mensch noch seine eigene Emotionskurve hatte. Jetzt aber sind sie alle gleichgeschaltet, marschieren sie im Gleichschritt. Jeder fügt der Fröhlichkeit des anderen noch etwas hinzu, und das wächst und wächst, bis die Menschen innerlich zerbrechen. Ganz einfach Resonanz. Genau so ist es mit der Depression. Du kennst doch sicher diese Schallplatten, auf denen praktisch nur Gelächter zu hören ist. Warum hast du gelacht? Du konntest einfach nicht anders. Das Gelächter hat dich einfach angesteckt. Oder hast du schon einmal Menschen gesehen, die weinten, und du kanntest den Grund dafür nicht, aber du fühltest, wie dir die Augen brannten?« »Und die Antwort, Joe?«
»Gibt es eine? Gibt es überhaupt eine Antwort? Wir haben die besten Schiffe, die besten Raketen, die besten Flugzeuge, die besten Waffen – und wir lachen uns tot!« Er stand abrupt auf, nahm seine Jacke vom Haken und ging hinaus auf die Veranda der Hütte, von der aus man den See überblicken konnte. Diese Veranda und der See waren ein Teil seiner Kindheit. Jetzt waren sie ein Teil seines Untergangs geworden. Er spürte nur noch eine kleine Spur Ironie in sich. Er spürte sein Bedauern für diese Nation, und er fühlte auch die hilflose Wut über diesen Angriff, der so kunstvoll, so sorgfältig, so gründlich ausgeführt worden war. Sie kam heraus, stand neben ihm, und er legte seinen Arm um ihre Schulter. »Verlaß mich nicht, Joe«, flüsterte sie. »Nicht eine Minute!« Seine Stimme war rauh, als er den massiven Siegelring von seinem Finger nahm und ihn ihr überstreifte. »Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau.« Sie zitterte in der Nachtkühle und sagte: »Ziemlich überraschender Vorschlag. Ich trage den Ring, noch ehe ich ja sagen konnte.« »Dann gib ihn zurück!« »Einen so wertvollen Ring? Ich bin doch nicht verrückt!« Er lachte. Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Gesicht schimmerte bleich in der Dunkelheit. »Bitte, lache nicht, Joe. Nie mehr. Ich will nie mehr ein Lachen hören!« Ihre Hände waren wie Eis, aber ihre Lippen waren eine zärtliche Flamme. VIERTES BULLETIN DER PROVISORISCHEN REGIERUNG DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA, 12. NOVEMBER: »Die Überreste des 11. und des 14. Armeekorps haben heute ohne Luftunterstützung die westliche Hälfte der Zange zurückgedrängt, die die beiden feindlichen Einheiten um die provisorische Hauptstadt gebildet
hatten. Trotz des erbitterten Widerstands erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die Hauptstadt eingenommen wird. Alle Truppenangehörigen und Freikorpskämpfer, die durch die feindlichen Linien abgeschnitten sind, werden versuchen, sich durch die Linien des Feindes zu schlagen, um unsere Lage zu verbessern. Lebt vom Lande. Spart Munition. Alle Truppenangehörigen und Freikorpskämpfer, die keine Anpassung durch Happiness Incorporated erfahren haben, werden ersucht, sich von den Städten fernzuhalten. Alle Truppenkommandeure werden diejenigen unter ihrem Kommando stehenden Männer feststellen, die angepaßt worden sind.« FLUGBLATT, ABGEWORFEN VON BOMBENFLUGZEUGEN DER INVASOREN: »Amerikaner! Legt eure Waffen nieder. Weiterer Widerstand ist sinnlos. Eure reguläre Armee ist unseren Streitkräften unterlegen und praktisch ohne Ausrüstung. Ihr habt den Krieg verloren. Helft mit, den Frieden für euch so leicht wie möglich zu machen. Für jeden weiteren Tag, an dem noch Widerstand geleistet werden sollte, werden spätere eventuelle Nahrungsmittelrationen um einen gewissen Prozentsatz gekürzt. Legt eure Waffen nieder!« »Laßt die Waffen fallen!« sagte Morgan. Er hielt ein Gewehr im Anschlag. Die beiden Männer in den zerrissenen Felduniformen schwankten vor Müdigkeit. Sie ließen ihre Waffen, einen Karabiner und eine Maschinenpistole, fallen. Sie waren schmutzig und unrasiert, und einer von ihnen trug eine blutgetränkte Binde um die linke Hand. »Mehr zur Seite!« befahl Joe. Die Männer gehorchten. Alice kam die Treppe herunter und hob die Waffen auf, wobei sie darauf achtete, außerhalb der Schußlinie zu bleiben. »Wer seid ihr?« fragte Joe.
Der ältere der beiden Männer sagte mit einer Stimme, die tiefe Müdigkeit verriet: »Baker Company, Bataillon fünf-nullacht, achtunddreißigste.« Und dann fügte er mit einer Spur von Galgenhumor hinzu: »Wahrscheinlich sind Harry und ich der Rest der Kompanie.« »Ihr habt aufgegeben, wie? Seid wohl auf der Suche nach einem Schlupfwinkel, um euch zu verkriechen?« Der jüngere trat zwei Schritte näher heran. Er sagte: »Leg doch mal deine Spritze weg, Kleiner, damit wir das nochmal bereden können. Mir paßt nämlich überhaupt nicht, was du da sagst.« »Halt’s Maul, Harry«, sagte der ältere. »Mister, gestern haben wir uns erst ein hübsches Fleckchen ausgesucht und die Köpfe so lange unten gehalten, bis sie mit einem Motorkonvoi vorbeikamen. Sie sind zu dicht hintereinander gefahren. Wir haben den Fahrer des ersten Lastwagens erschossen und damit die ganze Kolonne aufgehalten. Wir haben sie mit Kugeln eingedeckt und sind dann über die Hügel geflohen. Solange wir noch ein paar Runden Munition haben, geben wir nicht auf.« Joe grinste. »Dann herzlich willkommen beim Freikorps Morgan. Wir haben zu Essen und heißes Wasser und auch ein paar Binden für die Hand. Wie nahe, glaubt ihr, sind sie schon?« »Ungefähr zwanzig Kilometer, schätze ich. Aber sie kommen nicht in diese Richtung. Ich schätze, sie benutzen die Hauptstraße.« Die Männer kamen auf die Veranda. Joe stellte sein Gewehr neben die Tür. Der ältere Mann sagte: »Woher wollen Sie wissen, daß wir Ihnen nicht eins überziehen, uns das ganze Futter schnappen und Ihr warmes Nest übernehmen, Mister?« »Weil«, sagte Joe, »ihr annehmen müßt, daß ich euch wahrscheinlich dabei behilflich sein kann, ein bißchen
schlagkräftiger zu werden. Ihr wißt nicht, was ich noch im Ärmel habe. Und außerdem müßt ihr wissen, daß ihr nicht die ersten seid, die hierher kommen. Wenn ihr nur eine einzige Bewegung auf mein Gewehr zu gemacht hättet, hättet ihr aus den Büschen dort hinten eine höllische Überraschung erlebt.« Er wandte sich um und sagte: »Okay, Jungs, kommt raus! Die beiden hier sind in Ordnung.« Zu zweit und zu dritt tauchten etwa fünfzehn gut bewaffnete Männer in den Büschen auf und kamen herüber. Amerika im Aufruhr. Da war nicht ein Mann, der sich nicht schon irgendwann einmal in seinem Leben gefragt hatte, wie dieses Land sich unter den eisernen Stiefeln einer Invasion verhalten würde. Hatte die Verweichlichung dieses wohlhabenden Landes durch den hohen Lebensstandard die Widerstandskräfte lahmgelegt? Wo schlug das Herz des Landes? Verwahrloste, bärtige Männer, denen nichts geblieben war als eine namenlose Wut, überfielen die schwer bewaffneten Kolonnen mit selbstgebastelten Bomben. Die Kugeln mähten sie nieder, aber irgendwie gelang es immer ein paar wenigen, nahe genug heranzukommen, um die Bomben zu werfen. Und schwarzer Rauch stieg zum Herbsthimmel empor, trieb als unheimlicher Schatten über das Land. In den Sangre de Christo Mountains halten sich drei Divisionen verborgen, deren Patrouillen jede Nacht mit unerbittlicher Härte gegen die Versorgungs- und Nachrichtenverbindungen der Feinde losschlagen und Munitionsdepots in die Luft jagen. Wenn die Bomber kommen, entdecken sie nichts als den blanken Fels der Berge. Der Aggressor, von allen Seiten immer wieder angegriffen, reagiert entgegen seinen früheren Plänen mit Zerstörungswut, vernichtet blindlings, hält die verlassenen Plätze und Straßen der Städte mit Maschinengewehren und Flammenwerfern unter
Kontrolle. Der gemeinsame Nenner ist die Gewalt und der Schmerz des Verlustes. Aber fünfunddreißig Millionen, die Bewohner der großen Städte, sind immer noch Opfer jener neuen Waffe der emotionellen Resonanz, und während die Tage vergehen, jene langen, leeren, hoffnungslosen Tage, ergreift sie wieder jene Fröhlichkeit, die mechanische Heiterkeit, der makabre Totentanz, der wieder in Verrücktheit und tödlichem Irrsinn zu explodieren droht. Fünfunddreißig Millionen Bürger, einer an den anderen gefesselt durch einen Lebensrhythmus, der sich haarscharf den Grenzen des menschlichen Geistes anpaßt. Sie haben ihre Städte nicht verlassen, und keiner von ihnen greift die Invasoren an. Die Angreifer, die ihre eigene Waffe sehr genau kennen, evakuieren während der kritischen Tage ihre Soldaten aus den betroffenen Städten. Siebzig Kilometer entfernt gab es eine Stadt, wo sich vor der Invasion ein ausgezeichnetes medizinisches Zentrum befunden hatte. Ein Kundschafter kam zurück und berichtete Joseph Morgan, daß die Ärzte der Klinik, die immer noch stand und funktionsfähig war, von den Invasoren dazu gezwungen wurden, Sanitätsdienst für ihre Soldaten zu leisten. Joe Morgan erinnerte sich an einen Artikel, den er einmal geschrieben hatte – über einen gewissen Dr. Horace Montclair. Fünf Tage, bevor die Angepaßten ihren emotionellen Höhepunkt erreichten, ehe ihre fünftägige Orgie begann, hockte Morgan geduckt mit zehn ausgesuchten Männern unter einer Plane auf einem Lastwagen, den ein anderer seiner Männer in einer erbeuteten feindlichen Uniform vor das Tor der Klinik lenkte. Der Posten am Tor kam an das Fenster des Wagens, um sich die Transportpapiere zeigen zu lassen. Ein Spaten traf seine Kehle, und er brach lautlos zusammen. Der Lastwagen rollte hinüber zum Hauptgebäude, und Joe Morgan
führte seine Männer hinein. In dem gefliesten Korridor krachten die Waffen, als schlügen riesige Dampfhämmer auf blankes Metall. Aber vier Männer kamen mit Joe wieder heraus und liefen auf den wartenden Lastwagen zu. Einer von ihnen war Dr. Montclair. Der tote Wachtposten war gefunden worden. Vom Tor her hörte man Trillerpfeifen gellen. Joe, der hinter dem Steuer saß, jagte den Motor auf volle Touren, durchbrach das geschlossene Tor und walzte die Männer, die ihm im Weg standen, nieder. Er nahm die Straße, die in westlicher Richtung aus der Stadt führte, genau wie er es geplant hatte, um die Verfolger, die man schon deutlich hören konnte, irrezuführen. An der vereinbarten Stelle hielt er an. Zu fünft rannten sie, so schnell sie konnten, über das Feld zu einer kleinen Senke. Der Konvoi der Verfolger kam kreischend zum Stehen. Eine Patrouille schwärmte aus und kam langsam in breiter Linie über das Feld. Im richtigen Augenblick gab Joe das Signal. Der Rest seines Kommandos, etwa zweihundert Männer, eröffneten das Feuer. Zwei Männer der Patrouille versuchten zu fliehen, aber auch sie fielen im Kugelhagel. Im Schutze der Nacht schlugen sie einen Bogen um die Stadt und schlugen sich quer über die Felder zurück zu ihrem See. Der Rückweg dauerte drei volle Tage. Die Fenster der Hütte waren sorgfältig abgedichtet. Joe Morgan saß am Tisch Dr. Montclair gegenüber. Sie waren allein, abgesehen von Alice, die etwas weiter hinten im Schatten saß. Auch sie hatte, genau wie Joe Morgan, neue Stärke gewonnen, Entschlossenheit, geboren aus Wut und Verzweiflung, und sie teilte sich mit ihm das Kommando. »Das war gewagt, mein Freund«, sagte der Arzt. Er war ziemlich klein, hatte einen etwas zu großen Kopf, gegen den sich sein Körper geradezu zerbrechlich ausnahm, und wirkte alles in allem wie ein zu früh gealtertes Kind.
»Es war etwas, das getan werden mußte«, sagte Joe. »Und außerdem brauchten wir hier Gesellschaft.« »Sie sind mir eigentlich gar nicht aufgefallen, Morgan«, sagte der Arzt, »als Sie mich interviewten. Irgendwie nichtssagend erschienen Sie mir damals. Mangel an Persönlichkeit.« Joe grinste. »Und jetzt hab ich sie?« »Vielleicht ist es diese umsichtige Schläue, die Sie an den Tag legen. Aber wir werden zu philosophisch. Was kann ich für Sie tun?« »Doktor, Sie haben doch dieses Trojanische Pferd untersucht, das die Menschen in ihren eigenen Untergang treibt? Wie lautet die Antwort?« »Einfach so? Die Antwort?« Dr. Montclair schnippte mit den Fingern. »Einfach so aus der Luft gegriffen? Antworten kann man nur geben, wenn alles sorgfältig geprüft ist. Im Augenblick habe ich nur Vermutungen.« »Wir haben nicht viel Zeit, um Ihnen ein Laboratorium einzurichten. Wir brauchen Ihren besten Vorschlag, und dann werden wir damit arbeiten.« Dr. Montclair rieb sich sein spitzes Kinn und starrte auf die Tischplatte. »Offensichtlich ist eine der wichtigsten Eigenschaften der Seuche, wenn wir sie einmal als solche bezeichnen wollen, ihre steigerungsfähige Intensität. Die Höhepunkte können durch bloße Anwesenheit anderer Opfer gesteigert werden. Eine mögliche Antwort wäre also die Isolation. Aber die Infizierten müßten so dünn verteilt werden, daß sie ihre Nachbarn nun nicht wiederum infizieren können. Nicht wahr?« »Oh, sicher. Über dreißig Millionen Menschen, und wir isolieren sie einfach.« »Seien Sie doch nicht sarkastisch, Mr. Morgan. Ein anderer Gedanke wäre, daß ein Mensch, der so schwer unter Drogeneinfluß gesetzt wird, daß sich sein Höhepunkt
verschiebt, möglicherweise eine insgesamt verschobene Emotionskurve aufweist. Dadurch könnte man die Synchronisation, die ja die Hauptursache der Resonanz ist, vielleicht aufheben.« »Sehen Sie, Doktor, diese Vorschläge sind alle sehr interessant, aber wir haben nun zufällig nebenbei einen kleinen Krieg zu bewältigen. Ich habe mich gefragt, wie es möglich wäre, die Aggressoren mit ihrem eigenen Trojanischen Pferd zu konfrontieren.« »Sie haben sich von den Kernpunkten der Infektion zurückgezogen. Und sie werden keine Lust verspüren, eine Infektion ihrer Truppen zu riskieren.« »Wieviel Leute, glauben Sie, haben unsere Feinde jetzt hier im Lande stehen?« »Ich kann nur Vermutungen aufgrund der medizinischen Berichte anstellen, die ich gesehen habe. Vierzig Divisionen, nehme ich an. Zusammen mit den Versorgungseinheiten könnte man ihre Stärke also auf rund eineinhalb Millionen Mann beziffern.« Joe Morgan pfiff leise durch die Zähne. Er sagte: »In zwei Tagen ist der Gipfel der Hysterie wieder erreicht. Die Städte werden… sie werden sich in etwas verwandeln, das die Welt noch nicht erlebt hat. Wie glauben die Invasoren, damit fertig zu werden, nachdem sie jeden Widerstand erstickt haben?« Montclair breitete die Hände aus und zuckte die Achseln. »Ob sie sich überhaupt darum scheren? Abgesehen davon, daß jene etwas über dreißig Millionen Menschen sich selbst gegenseitig in Stücke reißen werden. Der menschliche Verstand hält diese andauernden Belastungen nicht aus. Selbstmord, lachend begangene Morde. Sie werden von selbst aufhören, ein Problem zu sein, und dann können die Städte gefahrlos besetzt werden.«
»Dann haben wir grob geschätzt zweiunddreißig Tage, um einen Plan auszuarbeiten und in die Tat umzusetzen. Was haben wir? Ein paar hundert Leute, ausreichende Vorräte, ein gut getarntes Versteck und einige technische Kenntnisse. Wir sind gar nicht so schlecht dran, Doktor. Gar nicht so schlecht!« LAGEBERICHT, ZUSAMMENFASSUNG, FUNKBERICHT DES KOMMANDIERENDEN GENERALS DER ANGREIFER: »Widerstand hat sich bis vor zehn Tagen weiter verstärkt. Als der Gipfel der Hysterie erreicht war, konnten die Städte den Guerillas nicht mehr als Versorgungsbasen dienen. Die Zahl der Toten in den Städten war hoch. Unsere Streitkräfte haben sich zur Vermeidung einer Ansteckung in sichere Entfernung zurückgezogen. Die Atempause wurde zu Strafaktionen und zur Ausmerzung kleiner Widerstandsgruppen ausgenützt. Unsere Linien wurden wieder gefestigt. Der Widerstand organisierter, nicht infizierter Einheiten der regulären Armee des Feindes dauert unvermindert stark an, aber ihre Lage ist natürlich hoffnungslos. Mit erstaunlichem Einfallsreichtum haben sie Flugplätze geschaffen, die unsere Bomber bis jetzt nicht entdecken konnten, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Mit Bedauern wird festgestellt, daß so viele feindliche Schiffe unseren Überraschungsangriffen entkommen konnten, da dadurch die Versorgung eindeutig erschwert wird.« BERICHT DES KOMMANDIERENDEN GENERALS DER VERTEIDIGUNGSSTREITKRÄFTE AN DEN PRÄSIDENTEN DER PROVISORISCHEN REGIERUNG: »Versorgung und Truppenstärke reichen nicht mehr aus, um normale militärische Taktik in Erwägung zu ziehen. Alle unsere Einheiten sind nunmehr in Bergregionen stationiert, die, es sei denn von Infanterieeinheiten des Feindes, nicht überrannt werden können. Alle Pionierbataillone sind mit dem Ausbau der Verteidigungsstellungen beschäftigt. Jegliche
künftige Aktivität wird auf Patrouillen beschränkt sein. Es wird folglich empfohlen, die in den Höhlen eingerichteten provisorischen Produktionsstätten ausschließlich für die Herstellung von Munition für Kleinfeuerwaffen, Haubitzengranaten, Handgranaten und dergleichen einzusetzen. Die neue Strategie soll zum Ziele haben, einen Durchbruch durch unsere Linien so verlustreich zu machen, daß der Versuch gar nicht erst unternommen wird. Der kritischste Faktor dabei ist allerdings, wie schon mehrfach erwähnt, die Versorgungslage bei Nahrungsmitteln.« AUSZUG AUS DEM STENOGRAMM EINER AUSSERORDENTLICHEN SITZUNG DES PROVISORISCHEN KABINETTS, EINBERUFEN DURCH DEN PRÄSIDENTEN ZUM ZWECKE DER ANHÖRUNG EINIGER VORSCHLÄGE EINES GUERILLA-FÜHRERS: »Präsident: ich möchte erklären, meine Herren, daß Mr. Joseph Morgan mit vier seiner Männer hinter unseren Linien aus einem erbeuteten Flugzeug mit dem Fallschirm abgesprungen ist. Zwei seiner Männer wurden bei der Landung von unseren Soldaten erschossen. Morgan: Wir hatten keine Möglichkeit, uns zu identifizieren. General: Können Sie das denn jetzt? Es ist schon ein paarmal vorgekommen, daß einige unserer eigenen Leute ihrer eigenen Sicherheit zuliebe zu Verrätern geworden sind. Morgan: Glauben Sie nicht, daß ich das bequemer hätte haben können? Präsident: Ich bitte Sie, meine Herren! Mr. Joseph Morgan ist von unseren Experten aufs sorgfältigste überprüft worden, und der Bericht ist zufriedenstellend. Mr. Morgan hat sich in seiner Basis mit einem Dr. Montclair, einem Wissenschaftler von internationalem Format, beraten. Er überbringt uns einen Vorschlag, den ich zunächst wegen der hohen Kosten zurückweisen wollte. Aber er könnte geeignet sein, dieses
Chaos zu beenden. Ich bitte Sie, ihn sich anzuhören. Ich konnte das unmöglich allein entscheiden. Ich habe nicht den Mut dazu. Finanzminister: Das ist kein Chaos mehr, sondern langsam fortschreitender Untergang. Ich werde jeden Plan befürworten, ganz gleich wie teuer seine Durchführung sein wird, der uns auch nur ein Fünkchen Hoffnung bringt. Morgan: Ich werde Ihnen den Plan zunächst erläutern und dann Dr. Montclairs Überlegungen dazu darlegen.« Winterkrieg. Der Dezember hat den Osten mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Der Winter ist hart für die irregulären Verteidigungstruppen, aber er kann dem Feind nichts anhaben. Die riesigen Nahrungsmittelreserven der Nation sind in seiner Hand, ebenso die warmen Kasernen, die heizbaren Fahrzeuge, die ausgezeichnete medizinische Betreuung. Die Bevölkerung der Städte ist dünn gesät. Das merkt man jetzt zum erstenmal deutlich. Der letzte Ausbruch der Gefühle hat fünf Millionen Menschenleben gekostet. Jetzt sind noch dreißig Millionen übrig. Sie haben eine Atempause. Die feindlichen Truppen bekommen Ausgang in den Städten. Sie gehen bewaffnet aus. Sie probieren den Wein, flirten mit den Frauen, grölen ihre Lieder und starren auf die riesigen Gruben, die ausgehoben worden sind, um die ungezählten Toten aufzunehmen. Es gibt wieder einmal Licht und Wärme in den Städten. Der Winter ist grausam, aber es gibt Wärme, und die Schaufenster der Lebensmittelgeschäfte sind gefüllt, wenn auch nicht überreichlich. Wenn es Sommer wäre, würden die Angepaßten vielleicht die Städte verlassen, um irgendwo auf dem Lande, fernab von dieser Stätte des Grauens zu leben. Im Süden und in Kalifornien versuchen sie zu fliehen, werden aber von den feindlichen Soldaten mit der Bemerkung: »Bleibt in den Fallen, die wir euch errichtet haben, damit ihr darin
verreckt!« wieder brutal zurückgetrieben. Das entspricht den Verhaltensmaßregeln, die ein Mann namens Dr. Lewtso ausgegeben hat, ein Mann, der in der Hierarchie der Feinde ganz oben zu stehen scheint und der, mit den neuesten und höchsten Orden und Ehrenmedaillen seines Landes an der Brust einherstolziert. Der Alptraum des Zyklus. Das langsame Ansteigen der Stimmung zum chaotischen Crescendo hat wieder begonnen, und niemand wagt es, dem Nachbarn in die Augen zu sehen, denn er weiß, daß er auch darin die Furcht und den Schrecken erkennen muß, die sein eigenes Herz ergriffen haben. Und doch hat jeder Mann, hat jede Frau einen geheimen Ort, an dem sie in Gedanken an den zu erwartenden Höhepunkt zu schwelgen pflegt. Es ist wie die Sucht nach einem unbekannten Rauschgift. Der Alptraum muß sein, der Tod muß sein, aber mit gutturalen Schreien animalischen Vergnügens, mit wildem, irrem Lachen, wenn man nicht mehr über die Konsequenzen nachdenkt und alle Moralbegriffe beiseite gefegt sind. Jeder angepaßte Mensch in der Stadt verspürt eine gewisse Scham tief im Herzen, denn obgleich sie wissen, daß der übelste Alptraum vor ihnen liegt, ein Alptraum, den sie vielleicht nicht überleben werden, freuen sie sich darauf, erfüllt sie der Gedanke daran mit einer sehnsüchtigen Vorfreude. In einer stillen Hütte sitzt Alice an einem rohen Tisch, und der Schein der Lampe liegt auf ihrem Haar. Dr. Montclair sitzt ihr gegenüber. Er berührt flüchtig ihre Hand. »Er wird es schaffen, Alice. Ich weiß, daß er es schon geschafft hat.« »Er ist weg. Das ist alles, was ich weiß. Irgendein anderer hätte gehen können, aber er mußte es sein.« Draußen im Gebüsch bellt ein Gewehrschuß auf, wird von einer automatischen Waffe beantwortet. Es ist, als sei ein riesiges Tuch zerrissen worden; das schützende Tuch der
Nacht. Während Montclair die Waffe ergreift, die gegen seinen Stuhl gelehnt ist, bläst sie schnell die Laterne aus, und dann lauschen sie gemeinsam in die Finsternis hinaus. Rauhe Rufe aus dem Gebüsch. Gellende Kommandos. Grelle Mündungsflammen. »Sie kommen von beiden Seiten«, wispert sie. Das Gewehrfeuer wird schwächer. Kugeln schlagen in die Hüttenwand, reißen Splitter heraus, heulen davon. Montclair liegt auf dem Bauch auf der Veranda, Alice hinter ihm unter der Tür. Als sie mit schweren Schritten in voller Ausrüstung den Abhang herunterkommen und auf den Vorbau der Hütte zurennen, eröffnet Montclair das Feuer. Viele fallen, aber andere erreichen die Veranda. Alice feuert wieder und wieder, sieht plötzlich, wie Montclair stirbt, schießt weiter, bis ihr eine Hand die Waffe wegschlägt. Sie wird in eine Ecke geschleudert, und dann sind sechs Männer in dem Raum, scheinen die Hütte auszufüllen. Die Laterne wird angezündet, und sie sehen sie an, und sie weiß plötzlich, daß sie sich eine Kugel für sich selbst hätte aufheben sollen. Zwei der Männer nähern sich ihr langsam. Dann wirbeln sie herum und salutieren zur Hüttentür hin, als der Offizier eintritt. Er schaut sie an, bellt den Männern etwas zu. Dann, mit erstaunlicher Zartheit, hilft er ihr auf die Beine. Er führt sie durch die Büsche zu dem wartenden Fahrzeug. Sie wendet sich ab und weint unterdrückt, als sie sieht, wie hinter ihr die Hütte in Flammen aufgeht. Jedes verfügbare Flugzeug wird für die Verwirklichung des Planes eingesetzt. Auch das letzte. Tapferen Männern ist es gelungen, hinter den feindlichen Linien Sender zu installieren.
Die Mannschaften werden sorgfältig instruiert. Und für jeden Teil des Unternehmens gibt es mehrere Mannschaften, denn die Verluste werden hoch sein. Endlich kommt der Befehl. Die große emotionelle Feder ist wieder einmal bis zum Äußersten gespannt. Die Invasoren ziehen ihre Truppen aus den Städten ab. Joe Morgan, beladen mit einem halben Zentner Ausrüstung, klettert umständlich in den Bauch des riesigen Transporters. Im Innern des Flugzeuges ist es dunkel. Zigaretten glühen auf. Man hört das Lachen von Männern, die es gewohnt sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Der Offizier steht im Eingang und fragt: »Team achtzwei?« »Team zweiundachtzig«, antwortete Joe, »Führung Joe Morgan, alle anwesend und instruiert.« Der Offizier springt wieder hinunter, und die riesige Tür schlägt zu. Die große Höhle im Berg erzittert unter dem Aufheulen der Triebwerke. Draußen schieben Planierraupen die Felsbrocken von der Startbahn. Endlich werden die Tore der Höhle geöffnet. Die ersten Transporter rollen langsam hinaus, röhren die Startbahn hinunter und steigen hinauf in den Nachthimmel. Auf anderen geheimen Flugplätzen ist die Situation ähnlich. Joe prallte hart auf den gefrorenen Boden, mitten im Park der großen Stadt, griff nach den Schirmleinen, mühte sich mit dem Verschluß ab. Der Schirm fiel in sich zusammen. »Hier!« brüllte Joe. »Hierher!« Anwesenheit feststellen. »Peterson, Barnik, Stuvessant, Simlon, Garrit, Reed, Walke, Purch, Norris, Humboldt, Crues, Riley, Renelli, Post, Charnevak.« Alle außer einem. Sie standen schweigend um Joe herum.
Er sagte: »Ihr kennt diese Stadt wie eure Hosentasche. Ihr habt eure Sektoren und eure Instruktionen. Ihr kennt den Plan, und ihr wißt, daß es klappen muß.« Dann schwieg er einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »Wenn es losgeht, ist jeder Mann auf sich allein gestellt. Wir treffen uns anschließend hier wieder. Viel Glück.« Im Hauptquartier der Invasoren lauschte der kommandierende General ernst dem Bericht der Luftaufklärung. Dann fällte er seine Entscheidung. »Offensichtlich versuchen sie, in den Städten Zentren des Widerstandes zu errichten. Es erscheint mir ganz offensichtlich, daß der Gegner das Ausmaß der Hysterie unterschätzt, die in vier Tagen über die Städte hereinbrechen wird. Wir werden bis nach dem Abklingen der Hysterie und der Selbstmordperiode warten. Dann werden wir die dort abgesetzten Männer eliminieren.« Der Offizier salutierte, machte eine Kehrtwendung und verließ das Büro. Joe Morgan stand in dem kalten grauen Morgen und betrachtete Daylon. Er hatte sich in einen der vielen leeren Räume in der Stadt einquartiert. Die Stadt hatte schrecklich gelitten. Er trug einen schweren Beutel mit sich. Während er die Straße hinunterwanderte, beobachtete er sorgfältig die Häuser. Immer, wenn er ein leeres sah, brach er ein, öffnete seine Tasche und deponierte ein kleines Päckchen, etwa in der Größe einer Zigarettenschachtel. In jedem Haus hinterließ er das kleine Päckchen an einer anderen Stelle. Sein bevorzugter Platz war jedoch der Keller, wo er es mit Draht zwischen den Leitungen an der Decke verbarg. Er sah ein paar Leute, die er kannte. Sie sahen ihn an, lächelten vage und kümmerten sich dann wieder um ihre eigenen Angelegenheiten.
Die Menschen von Daylon waren ausgezehrt und zerlumpt, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Aber sie lächelten immer. Am späteren Vormittag fragte ihn ein lächelnder Polizist in schmutziger, zerrissener Uniform, was er hier treibe. Joe sagte: »Kommen Sie mit, ich werde es Ihnen zeigen.« Der Polizist folgte Joe durch die Tür, die dieser aufgebrochen hatte. Joe wirbelte herum, versetzte dem Mann einen Schlag gegen das Kinn und verließ das Haus wieder. Sorgfältig arbeitete er sich durch den ganzen Sektor, den er sich selbst zugeteilt hatte, öffentliche Gebäude, Wohnhäuser, Garagen, Geschäfte. An vielen Orten mußte er besonders vorsichtig sein. In den Geschäften verbarg er die kleinen Päckchen unter besonders schwer verkäuflicher Ware. Vier Tage vor der Explosion der Emotionen, vor der Orgie des Lachens und des Todes. Drei Tage. Zwei Tage. Das letzte Päckchen war deponiert. Nun waren noch vier Pakete unterzubringen. Und die deponierte er noch in der gleichen Nacht. Er fand eine Eisenstange, mit der er die Deckel zu den Versorgungsleitungen unter den Straßen aufheben konnte. Die großen Pakete wurden säuberlich zwischen dem Gewirr von Kabeln und Röhren untergebracht. Noch ein Tag bis zur Explosion. Man hört schon das Gelächter auf den Straßen der Stadt. Die Armee der Invasoren hält sich weiterhin in sicherer Entfernung von den Städten und achtet darauf, daß kein Bürger entkommen kann. Gegen elf Uhr am Morgen des Tages, ehe der Irrsinn wieder losbrechen soll, werden die Straßen der Städte von unterirdischen Explosionen erschüttert. Stählerne Kanaldeckel fliegen durch die Luft. Die unterirdischen Gänge hallen röhrend wider vom brennenden Gas, und als das Gas ausgebrannt ist, ergießen die zerrissenen Wasserleitungen
ihren Inhalt in die wichtigen unterirdischen Anlagen. Das elektrische Netz bricht zusammen. Einhundertzweiundsiebzig Teams haben es geschafft. Das Team zu sechzehn Mann. Vier Bomben und eintausend tödliche Päckchen pro Mann. Zehntausendneunhundertvierundvierzig Explosionen in den unterirdischen Versorgungsanlagen der größten Städte. Zwei Millionen siebenhundertundsiebenunddreißigtausend der kleinen tödlichen Päckchen sind verteilt. Denn dies ist eine Art Selbstmord auf breitester Basis. Die Päckchen sind genau aufeinander abgestimmt. Ein paar explodieren vorzeitig, aber nur wenige Minuten nach den ersten großen Explosionen hat sich die Säure bei mehr als der Hälfte von ihnen durch die Trennwände gefressen. Sie erwachen flammend zu Leben, brennen mit einer blendend weißen Flamme zwanzig Minuten lang mit einer Intensität von über zweitausend Grad Celsius. Alle erreichbaren Reste der schwindenden Reserven dieser ausgebluteten Nation sind zur Herstellung dieser tödlichen Päckchen aufgewendet worden. Ohne Wasser ist es unmöglich, die ausbrechenden Brände zu löschen. Ganze Straßenzüge gehen in Flammen auf. Das geschmolzene Glas der Fenster rinnt über die Gehsteige. Es ist beinahe zu erfolgreich. Die dicht bevölkerte Ostküste ist ein einziges Flammenmeer. Eine riesige schwarze Rauchwolke steigt in die klirrende Dezemberluft. Viele sterben in den Flammen. Viel zu viele. Aber aus dem brüllenden Chaos der brennenden Städte windet sich ein Zug von nahezu dreißig Millionen Menschen hinaus auf das offene Land. Sie haben Angst vor den Flammen, Angst vor dem Tod, Angst vor Schmerzen – aber morgen werden sie nicht mehr in der Lage sein, so zu fühlen.
Und so bewegen sie sich mit grinsenden Gesichtern, mit starr blickenden Augen auf die Lager der Invasoren zu. Die Invasoren sind den Opfern dieses fast satanisch genialen Plans fünfundzwanzig zu eins unterlegen. Zu spät wird die Gefahr erkannt. Die Lager des Feindes befinden sich in der Nähe der Städte. Sie nähern sich auf allen Hauptstraßen. Maschinengewehre werden bemannt und spucken ihre todbringenden Garben in die sich langsam weiterbewegende Menschenmenge. Und dann können sie diese Menschen nicht mehr töten, die selbst im Tode noch lächeln und die jeden Befehl lächelnd ignorieren. Es wird dunkler, und die Städte sind ein brandroter Lichtschein am Himmel. Die Städte Amerikas brennen, und das Dröhnen und Röhren des Feuers ist meilenweit zu hören. Das Feuer ist hinter ihnen, und vor ihnen sind die Maschinengewehre, hinter denen nun keine Soldaten mehr stehen. Bei Anbruch der Dunkelheit ziehen sich die Invasoren auf Befehl zurück in die Sicherheit der Berge. Aber die Infektion hat schon eingesetzt. Der Geist spontaner Hysterie hat unter den Soldaten der Invasoren um sich gegriffen. Panzer stehen leer herum, während die Männer rauhe Schreie ausstoßen und auf der Straße tanzen. Die Flugzeuge sind unbemannt, die Kanonen ohne Bedienungsmannschaften, die Offiziere stimmen in das Gelächter ihrer Mannschaften mit ein, werden ebenfalls zu Opfern der Katastrophe. Plötzlich schwingt die Stimmung um. Sie glauben, einen großen Sieg zu feiern. Sie feierten und schwelgten, bis sie erschöpft zu Boden fallen, schlafen, erheben sich wieder mit röhrendem Gelächter, starren mit glasigen Augen in den klaren Winterhimmel und jaulen wie Wölfe.
Es ist ein Fest des Todes, und es dauert Tage. Jeglicher Gedanke an Nahrung ist vergessen. Die Städte brennen immer noch lichterloh, und die Wintersonne wird verdunkelt durch die schwarzen Rauchschwaden, die als Fanale der Vernichtung zum Himmel aufsteigen. LAGEBERICHT, HAUPTQUARTIER DER VERTEIDIGUNGSARMEE: »Alle Kolonnen waren heute bei Anbruch der Dämmerung in Reichweite der Hauptquartiere der Invasoren. Späher berichteten von völliger Erschöpfung der Mannschaften des Feindes, schweren Depressionen und andauerndem Feuer aus Handfeuerwaffen als Anzeichen einer anhaltenden Selbstmordwelle. Eindeutige Instruktionen bezüglich der Vernichtung von Gerät sind ausgegeben. Der Angriff beginnt bei Einbruch der Dämmerung.« RADIOBOTSCHAFT DES KOMMANDEURS DES KONVOIS: »Der Konvoi, der mit Verstärkungen für unsere Armeen unterwegs war, wurde heute bei Einbruch der Dämmerung von starken feindlichen Marineeinheiten angegriffen. Einige der angreifenden Schiffe waren unsere eigenen, bemannt mit Feinden. Zahlreiche Truppentransporter wurden durch unsere eigenen Flugzeuge, die offensichtlich mit feindlichen Piloten bemannt waren, angegriffen und bombardiert. Die Verluste sind derart hoch, daß wir umkehren mußten. Erbitten umgehende Luftüberwachung und Schutz, falls doch angelaufen werden soll.« Joe Morgan hielt sich an dem Stamm eines kleinen Baumes an einem Abhang, etwa zehn Kilometer von Daylon entfernt, krampfhaft fest. Selbst auf diese Entfernung konnte er die Hitzewellen spüren, die von der brennenden Stadt herüberwaberten. Seine Gruppe hat nur fünf Mann verloren. Die Überlebenden waren müde und ausgepumpt. »Hört doch mal«, sagte er.
Die sechs Männer standen um ihn herum und lauschten aufmerksam auf den anschwellenden Gefechtslärm, den hämmernden Schlägen der Artillerie, dem entfernten dünnen Krachen der Kleinfeuerwaffen. »Ich wette fünf Dollar, daß wir sie geschafft haben«, sagte Joe. ERSTE NATIONALE PROKLAMATION: »Der erbitterte Angriff des Feindes an der Küste mit dem Ziel, weitere Truppen zu landen, wurde erfolgreich zurückgeschlagen; den Angreifern wurden schwere Verluste zugefügt. In diesem Augenblick sind die Grenzen unseres Landes wieder gesichert. Von Stunde zu Stunde werden wir stärker. Die Invasoren sind durch den Verlust ihrer Eliteeinheiten entscheidend geschwächt worden. Drei unserer Schiffskonvois und mehrere Bomberstaffeln verfolgen die verstreuten Überreste der Invasionsflotte. Heute morgen wurde die Hauptstadt unserer Feinde bombardiert und der wichtigste Hafen des Landes durch Zündung einer Unterwasser-Atombombe vernichtet.« Joe Morgan stand im Gang des Gebäudes, in dem vorläufig das Krankenhaus untergebracht war, und fragte den jungen Arzt unruhig: »Sollte ich ihr irgend etwas bringen? Ich meine, sie hat eine schwere Zeit hinter sich, und…« Der junge Arzt lächelte. »Vor einer Woche hätte ich noch jegliche Unterhaltung verboten. Aber heute hat sie Gewißheit erhalten, daß Sie in Sicherheit sind. Eine starke Medizin, Mr. Morgan…« »Kann ich…« »Gehen Sie ruhig hinein, Mr. Morgan. Sie wartet schon.« Alice lag bleich in ihren Kissen, und als er ihr die Hand entgegenstreckte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Minutenlang hielt Joe sie fest in seinen Armen. Dann sagte er: »Erzähl es mir, wenn es dir hilft. Wenn du glaubst, daß es dir nicht hilft, brauchst du es nicht zu tun.«
»Weißt du, was im Camp vorgefallen ist?« »Ja. Montclairs Leiche lag immer noch vor der Veranda.« »Ein junger Offizier hat mich in seinem Wagen zum Hauptquartier mitgenommen. Sie hatten einen deiner Männer gefangen, einen der Männer, die verwundet wurden, als ihr das Flugzeug erbeutet habt, mit dem du dann zum Präsidenten geflogen bist. Sie… sie brachten ihn zum Reden, aber er wußte nicht genug. Aber sie ahnten, daß ich mehr wissen müßte.« Joe ballte die Fäuste. »Lewtso war da. Als sie mich den Gang hinunterschleiften, habe ich ihn selbst gesehen. Er sprach mit einem Offizier und erhielt sofort die Erlaubnis, mich zu verhören. Ich wollte nicht – verletzt werden. Also habe ich ihm ein paar Dinge gesagt. Fast die Wahrheit, aber eben nur fast. Er glaubte mir. An dem Tag, als die Feuer ausbrachen, kam er zu mir in den Raum, in dem ich gefangen gehalten wurde. Er wußte, daß ich ihn hereingelegt hatte. Er schickte die Frau, die mich bewachte, aus dem Zimmer. Ich hatte mir eine Schere besorgt. Ich… ich habe sie ihm in die Kehle gestoßen. Er starb nicht schnell genug. Als ich das Zimmer verlassen wollte, schoß er auf mich.« Er strich ihr das dunkle Haar aus der Stirn. Sie lächelte. »Schau doch nicht so grimmig, Liebling. Jetzt ist alles in Ordnung. Wir… wir gewinnen jetzt, nicht wahr?« Joe lächelte. »Wir haben schon gewonnen. Das heißt, wenn es überhaupt möglich ist, einen Krieg zu gewinnen.« »Und was werden wir jetzt tun, Joe? In ein paar Tagen werden sie mich entlassen.« Das Krankenzimmer hatte ein Fenster, durch das man die rußgeschwärzten Ruinen und Überreste dessen sehen konnte, was einmal eine Stadt war. Er sagte nachdenklich: »Sie haben alle Angepaßten isoliert. Du weißt, es ist nur noch eine kleine Zahl von diesen
bemitleidenswerten Menschen übrig. Die Mediziner machen erstaunliche Fortschritte bei ihren Bemühungen, die Behandlung rückgängig zu machen. Die Arbeit geht gut voran, und alles, worauf wir nun achten müssen, sind die Narren.« »Narren?« fragte sie. Er lächelte müde. »Eine Menge Leute wollen die Städte wieder aufbauen. Sie kleben noch an der Vergangenheit. Eine Stadt ist ein gefährliches Ungeheuer. Wir haben unersetzliche Dinge verbrannt, aber wir haben auch viele Kilometer schmutziger Straßen und schäbiger Slums niedergebrannt. Kein Mensch sollte eingesperrt in einem finsteren Raum dicht neben dem seines Nachbarn leben müssen. Dies soll ein Land der kleinen Städte und der Dörfer werden. Einen anderen Weg, die häßlichen, lärmenden, nervenaufreibenden Städte nicht wieder erstehen zu lassen, gibt es nicht.« Er drehte sich wieder zu ihr um und stutzte, als er ihr warmes, herzliches Lachen vernahm. »Was ist los, Engel?« »Oh, Joe«, sagte sie. »Und ich wollte dich fragen, was wir tun würden. Es gibt eine ganze Menge zu tun, nicht wahr?« »Eine verdammt große Menge.« »Wärst du damit einverstanden, wenn wir nur eines wieder so aufbauen ließen wie es war?« Er trat ans Bett und nahm ihre Hand. »Engel, wenn du diese miese kleine Hütte meinst, dann dürfte es dich vielleicht interessieren zu erfahren, daß die Aufbauarbeiten bereits nächste Woche beginnen. Bis du aus diesem Laden hier herauskommst, ist schon alles fertig.«
Originaltitel: TROJAN HORSE LAUGH. Copyright © 1949 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION August 1949. Übersetzt von Udo H. Schwager.
E. C. Tubb UNSICHTBARE AUGEN
Die Zelle war drei Meter lang, zweieinhalb Meter hoch und zwei Meter breit. Sie war nur mit dem Nötigsten ausgestattet – was man zum Schlafen und Waschen brauchte. Die Wände waren nahtlos mit einem schwammigen grünen Kunststoff überzogen, nahezu unzerstörbar und schalldicht. Grelles Licht fiel durch eine Glasplatte in der Decke. Die Tür bestand aus Einwegsichtglas. Sie war mit unzähligen winzigen Luftlöchern versehen. Ein Fenster gab es nicht. Es war die moderne Version eines mittelalterlichen Verlieses. Hier hatte Ward Hammond zwei Jahre seines Lebens verbracht. Er legte sich auf der Pritsche zurück und starrte an die Decke. Der große, einst starke Mann war durch die lange Haft schmal und blaß geworden. Die jetzt nutzlosen Muskeln waren schlaff, die Haut runzlig. Er trug ein weites Hemd, graubraune Hosen und weiche Pantoffeln von der gleichen Farbe. Kein Gürtel, keine Krawatte und keine Unterwäsche. Die Kleidung war aus Papier gefertigt und wurde alle zehn Tage erneuert. Dieser Papierstoff riß bei der kleinsten Gelegenheit – sich einen Strick daraus drehen zu wollen, war zwecklos. Jeder Gedanke an Selbstmord war unterbunden. Was blieb, war der Wahnsinn. Es war leicht, dem Wahnsinn zu verfallen, wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag in einer engen Zelle verbringen mußte. Es war leicht, weil es sonst nichts zu tun gab. Die Gesellschaft hatte viel mit dem Gefängniswesen
experimentiert, doch nachdem diese Experimente gescheitert waren, hatte man sich dahingehend geeinigt, daß Menschen, die gegen die Gesellschaftsordnung verstoßen hatten, bestraft werden mußten und daß Gefängnisstrafe das beste Mittel dazu sei, wenn man auch physische Härte vermeiden wollte. Die Strafe für die Gefangenen bestand darin, daß die Welt um sie herum aufhörte zu existieren. Es gab nichts mehr außer der Enge ihrer Zellen, der immer gleichen Helligkeit und der Einsamkeit. Verrückt zu werden, war für sie der einzige Ausweg. Vom Korridor drang ein leises Geräusch herein. Ward richtete sich auf seiner Pritsche auf und preßte sein Ohr gegen die perforierte Tür. Aus der rechten Nachbarzelle kam leises Murmeln, während links von ihm alles still war. Das war nicht verwunderlich: Aus den Zellen drang kaum ein Geräusch; man konnte sich die Kehle heiser brüllen, der Nachbar hörte nur ein schwaches Flüstern. Nur die Wachmannschaften konnten über ihre Abhörgeräte jeden Laut mithören. Das Geräusch kam näher. Es klang anders als die leisen Schritte des Wärters, der das Mittagessen austeilte, oder die Schritte der Wachtposten, die in unregelmäßigen Abständen vorbeipatrouillierten. Dieses Geräusch wurde von festen Schuhen verursacht. Ward setzte sich auf, als die Schritte vor seiner Tür innehielten. Die Tür wurde geöffnet, und zwei Männer betraten die Zelle. Er lächelte. »Schon wieder ein Test?« Ward rückte auf seiner Pritsche zur Seite, um ihnen Platz zu machen, falls sie sich setzen wollten. Der eine von ihnen war ein Wärter, ein ruhiger Mann mit einem nachdenklichen Gesicht. Er trug eine Uniform, die die gleiche Farbe hatte wie der Plastikbezug an den Wänden, und er hielt eine Gaspistole in der Hand, die er auf Ward richtete. Der andere Mann war ein Zivilist. Er trug einen dunklen Anzug und hatte einen Aktendeckel unter den Arm geklemmt. Er
machte nicht den Eindruck eines Psychologen, aber der Anschein konnte manchmal trügen. »Nein, kein Test – jedenfalls nicht der übliche.« Der Zivilist setzte sich lächelnd auf die Kante der Pritsche. »Mein Name ist Fromach.« »Meiner ist Ihnen ja bekannt«, sagte Ward. Er sah zu dem Wärter hinüber, der an der geschlossenen Tür stand, die Pistole schußbereit erhoben. Der andere Wärter war nicht zu sehen, aber Ward wußte, daß er draußen hinter der Tür stand. Es war immer das gleiche: Ein Wärter ging in die Zelle, bereit, einen bei der geringsten unvorhergesehenen Bewegung mit Gas zu betäuben, der andere blieb draußen stehen und beobachtete alles aus sicherem Abstand. Es gab keine Ausbruchsmöglichkeit. »Ward Hammond, Ingenieur, wegen eines nicht gewalttätigen Verbrechens zu sieben Jahren Haft verurteilt. Stimmt das?« fragte Fromach leutselig. »Das wissen Sie doch.« Ward sah Fromach fragend an. »Worum handelt es sich eigentlich?« »Sie haben zwei der sieben Jahre abgesessen«, sagte Fromach und sah dabei in die Akten. »Sie haben sich während dieser Zeit musterhaft geführt, Ihr Gesundheitszustand war gleichbleibend gut, und Sie haben sich intelligent an Ihre Umwelt angepaßt.« Er blickte auf und lächelte. »Das heißt mit anderen Worten, Sie hatten keine Anfälle von Gewalttätigkeit, haben keinen Selbstmordversuch unternommen und auch nicht versucht, die Wände herunterzureißen oder ähnliche Dummheiten zu machen.« »Hätte das denn einen Sinn gehabt?« »Nein, absolut nicht.« »Das habe ich mir auch gedacht«, sagte Ward. Er lehnte sich gegen die Wand und genoß das ungewohnte Erlebnis, Gesellschaft zu haben und sich mit jemandem unterhalten zu
können. »Wenn man hier was anstellt, kommen sie einem doch gleich mit der Gehirnoperation.« »Aber danach wird man auch automatisch freigelassen«, gab Fromach ihm zu bedenken. »Das dürfen Sie nicht vergessen.« »Ich bin als intaktes menschliches Wesen hier hereingekommen«, sagte Ward gepreßt. »Ich will auch als solches wieder hinausgehen, nicht als willenloser Roboter.« »Ein Gefangener, an dem diese Operation durchgeführt worden ist, wird nicht mehr als das Individuum betrachtet, das die Straftat begangen hat«, sagte Fromach. »Sie könnten sich freiwillig zur Verfügung stellen.« »Niemals«, erklärte Ward barsch. »Und man kann mich auch nicht dazu zwingen, es sei denn, zwei Sachverständige erklären mich für geistesgestört. Selbst Gefangene haben noch ein paar Rechte.« »Die wird ihnen auch niemand nehmen«, sagte Fromach. »Sie können noch fünf Jahre in dieser Zelle bleiben, und wenn Sie inzwischen nicht verrückt geworden sind, wird man Sie nicht anrühren.« Er befeuchtete seine Lippen. »Wie gesagt, wenn Sie nicht verrückt geworden sind.« »Das werde ich nicht«, sagte Ward. »Sind Sie sicher?« Fromach betrachtete die grünen Wände der Zelle und die lichtundurchlässige Tür. Er befühlte die kompakte Matratze, die mit dem unverrückbaren Bett fest verbunden war. Das Waschbecken besaß keinen Stöpsel, und zum Rasieren wurde eine ungiftige Creme verwendet, welche die Haare entfernte und den Bartwuchs verhinderte. Ward erriet Fromachs Gedanken. »Selbstmord ist ein Symptom von Geistesgestörtheit. Das kommt auch nicht in Frage.« »Über fünfzig Prozent aller Häftlinge, die längere Zeit eingesperrt sind, versuchen irgendwann doch, Selbstmord zu begehen«, bemerkte Fromach beiläufig. »Sie lassen sich die abwegigsten Methoden einfallen. Aber keine führt zum Ziel.«
»Ja – und?« »Weshalb glauben Sie, daß Sie anders sind als diese Männer?« Fromach sah den Gefangenen aufmerksam an. »Fünf Jahre sind eine lange Zeit, Ward, eine sehr lange Zeit.« »Ich fühle mich in meiner Gesellschaft ganz wohl«, sagte Ward. Er blickte zum Wärter hinüber und dann wieder auf Fromach. »Was haben Sie eigentlich vor – wollen Sie mich durcheinanderbringen?« »Nein.« Fromach sah in seine Akten. »Ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, Ward. Sie können den Rest Ihrer Haftstrafe in dieser Zelle absitzen.« Er lächelte. »Sie können die Zelle aber auch in zehn Tagen verlassen.« »Die Zelle verlassen!« Ward starrte ihn ungläubig an. »Das soll wohl ein Spaß sein, was?« »Nein, ich meine es ernst«, sagte Ward und lächelte nicht mehr. »Wenn Sie wollen, können Sie diese Zelle und dieses Gefängnis in zehn Tagen verlassen. Sie haben die Wahl.« »Wenn ich will!« Ward schüttelte den Kopf, verwundert darüber, daß es da noch Zweifel geben konnte. Dann begriff er. »Also gut«, sagte er tonlos. »Welches sind die Bedingungen?« Fromach erklärte es ihm. In der Kabine des Raumschiffs war es fast noch enger als in der Zelle, aber das machte Ward nichts aus. Er lag auf der Pritsche und starrte auf die gekrümmte Innenwand des Raumschiffs zu seinen Füßen. Zu ihm drangen gedämpfte Geräusche aus den anderen Teilen des Raumschiffs: Schritte, leise Unterhaltungen, Husten. Mit diesen von Menschen verursachten Geräuschen vermischte sich das leise Surren der Ventilatoren und das fast unhörbare Vibrieren des Antriebs. Die Tür öffnete sich, und Fromach trat ein. Er schloß hinter sich ab und lächelte Ward entschuldigend zu.
»Tut mir leid, aber Sie sind immer noch Gefangener, und ich muß die Vorschriften befolgen.« »Über kurz oder lang werden Sie mir doch vertrauen müssen«, meinte Ward. »Warum nicht jetzt schon?« »Ich weiß, das ist unlogisch«, sagte Fromach. »Aber bürokratische Vorschriften sind nun mal nicht logisch.« Er setzte sich auf die Kante der Pritsche. »Keine Klagen?« »Nein.« Ward starrte auf die gekrümmte Metallfläche der Innenseite des Schiffsrumpfes. »Aber ich möchte Sie etwas fragen.« »Ja?« »Sie haben mir erklärt, warum Sie gerade mich ausgewählt haben«, sagte Ward. »Ich habe zwei Jahre in einer Einzelzelle verbracht, ohne durchzudrehen. Einem Freiwilligen können Sie nicht zumuten, sich diesem Test zu unterziehen. Aber warum besetzen Sie überhaupt die Stationen immer nur mit einem Mann?« »Zwei können wir nicht hinschicken, das ist ausgeschlossen«, erklärte Fromach. »Die psychische Spannung wäre einfach zu groß. Sie würden sich gegenseitig umgebracht haben, bevor das erste Jahr um ist. Drei sind schon besser, aber die Spannung wäre immer noch zu groß. Zwei von ihnen könnten sich gegen den dritten verbünden, oder einer könnte sich einbilden, daß die beiden anderen gegen ihn sind – es liefe aufs gleiche hinaus. Oder vier Männer? Oder fünf oder sieben? Sieben wäre optimal, aber bei sieben Männern würde sich das Problem ergeben, daß sie siebenmal so viel Verpflegung, Wasser und Sauerstoff brauchen wie ein Mann. Die Weltraumstationen sind nicht so groß. Wir können diese Vorratsmengen nicht hinschaffen.« »Ist das der einzige Grund?« »Nein.« Fromach sah Ward offen an. »Es gibt noch zwei Gründe. Der eine ist der, daß es viel Geld kostet, eine
Beobachtungsstation zu bemannen. Freiwillige melden sich nur, wenn sie die Gewißheit haben, daß sie nach Ablauf der fünf Jahre als reiche Männer zurückkehren werden. Außerdem stellen sie in ihren Verträgen noch alle möglichen Forderungen. Und wenn sie vorher durchdrehen, was bisher noch immer der Fall war, müssen wir sie für die gesamte Zeit bezahlen und außerdem die Behandlungskosten und so weiter.« »Ja, ich versteh schon.« Ward lächelte, während er darüber nachdachte. »Und Sie sagten, die Bürokratie sei unlogisch. Was könnte denn logischer sein, als einem Gefangenen anzubieten, seine Haft auf einer Beobachtungsstation abzusitzen? Die Schwierigkeiten, Freiwillige zu finden, und die hohen Unkosten fallen weg. Man bietet dem Häftling ganz einfach an, seine Zelle auf der Erde mit einer etwas größeren irgendwo im Weltall oder auf einem Satelliten zu vertauschen.« »Ganz so einfach ist es auch wieder nicht«, sagte Fromach. »Wir müssen den richtigen Mann auswählen. Er muß einige Grundkenntnisse in Maschinenbau und Elektronik besitzen; er darf nicht wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt worden sein; er muß bewiesen haben, daß er es längere Zeit mit sich allein aushält. Und er muß noch einige Jahre Haft abzubüßen haben. So viele Männer gibt es gar nicht, die alle diese Bedingungen erfüllen.« »Ich hätte mehr Geld verlangen sollen«, sagte Ward. »Ein Kreditschein pro Tag ist nicht gerade viel.« »Ein Hundertstel von dem, was ein Freiwilliger bekommen würde«, gab Fromach zu. »Aber immer noch besser als nichts.« »Besser als im Gefängnis«, meinte Ward. Er sah stirnrunzelnd zur Decke. »Was geschieht mit den Freiwilligen, wenn sie durchdrehen. Das tun sie doch, oder?«
»Ja.« »Immer?« »Ja.« Fromach schien darüber nicht sprechen zu wollen. »Normalerweise halten sie es zwei Jahre lang aus oder noch weniger. Wir holen sie zurück, lassen eine Ablösung da und schicken sie in ärztliche Behandlung.« »Welche Art von Behandlung – Leukotomie?« »Nein. Leukotomie darf nur mit Zustimmung des Patienten oder seiner nächsten Angehörigen durchgeführt werden. Nur die wenigsten geben ihre Zustimmung.« »Das kann ihnen niemand verdenken«, sagte Ward mit Überzeugung. »Ich habe ein paar von diesen geistig verstümmelten Wesen gesehen, und ich würde meinem ärgsten Feind nicht wünschen, so zu werden wie sie.« Er zögerte, weil er fühlte, wie die Angst in ihm aufstieg. »Und wie ist es damit bei mir?« »Sie sind ein Gefangener«, sagte Fromach vorsichtig. »Die Tatsache, daß Sie sich dafür entschieden haben, Ihre Haftzeit auf einer Beobachtungsstation statt in einer Zelle zu verbringen, ändert daran nichts. Wenn Sie durchdrehen, wird diese Gehirnoperation automatisch an Ihnen durchgeführt.« »Ich verstehe.« Die moderne Gesellschaft verschwendete kein Mitleid an Individuen, die gegen ihre Gesetze verstoßen hatten. Da gab es nur eins: aushalten und nicht durchdrehen. Er lächelte Fromach zu. »War das der andere Grund?« »Was meinen Sie?« »Sie sagten doch, es gäbe noch zwei Gründe, weshalb man mich ausgewählt hat. Den einen haben Sie mir schon genannt – den anderen auch?« »In gewisser Weise.« Fromach erhob sich und öffnete die Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. »Der wirkliche Grund schließt natürlich alle anderen mit ein. Vielleicht kommen Sie selbst darauf.« Er schloß die Tür und ging. Alleingelassen
lehnte Ward sich zurück und entspannte sich, wie er es in den vergangenen zwei Jahren geübt hatte. Er brauchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was Fromach gemeint haben mochte. Das lag schließlich auf der Hand. Verbrecher waren entbehrlich. Die Beobachtungsstation war eine Verbundmetallkuppel auf der Eisoberfläche Callistos. Sie enthielt Instrumente, um Lichtsignale und kosmische Strahlen aufzufangen, Instrumente, um Abweichungen in den Umlaufbahnen der anderen acht Satelliten festzustellen, die um die riesige Masse des Planeten Jupiter kreisten, Instrumente, die alles und jedes aufzeichneten, was um die Station herum im All vorging. Außerdem war in der Kuppel Platz für einen Mann. Die Beobachtungsstation war voll automatisiert. Die menschliche Besatzung war nur zu dem Zweck da, kleinere Schäden zu beheben und aufzupassen, daß nichts Ernsthaftes passierte – was so gut wie ausgeschlossen war. Fromach erklärte Ward alles, bevor er ging. »Wir haben überall im Sonnensystem solche Beobachtungsstationen eingerichtet – auf jedem Satelliten, auf den meisten Asteroiden und sogar im freien Raum. Sie haben den einzigen Zweck, Beobachtungen auf Band aufzuzeichnen. Wir kommen regelmäßig vorbei und sammeln die Bänder ein.« »Wie oft ist das?« »Etwa einmal im Jahr, manchmal auch nur alle zwei Jahre – das ist unwichtig.« »Ja, für die Maschinen schon«, pflichtete Ward bei. »Aber wie ist das mit mir?« »Ihre Aufgabe ist es, darauf zu achten, daß die Meßinstrumente funktionieren.« »Ich bin also nur Aufpasser«, sagte Ward enttäuscht. »Ist das alles?«
»Das ist schwierig genug.« Fromach streckte ihm die Hand hin. »Also dann – auf Wiedersehen, Ward.« »Wiedersehen.« Ward nahm die ausgestreckte Hand. »Ich hab noch ein paar Fragen. Gibt es Funkverbindung?« »Nur im nächsten Umkreis. Es gibt zu viele atmosphärische Störungen, um größere Entfernungen zu überbrücken.« Fromach schien es eilig zu haben. »Sonst noch was?« »Noch eine Frage. Was machen Sie mit all den gesammelten Beobachtungen?« »Wir füttern damit einen großen Computer auf der Erde. Eines Tages, wenn wir genug Beobachtungen gesammelt haben, werden wir alles über die Bedingungen wissen, unter denen wir leben.« Fromach winkte ihm zu, ging zum Ausstieg und verschwand. Wenige Minuten später flog das Raumschiff mit ihm davon. Ward war allein. Er ließ sich dadurch nicht beunruhigen. Es gab viel zuviel für ihn zu tun. Er überprüfte die Instrumente, holte sich aus dem Vorratsraum etwas zu essen und machte sich Kaffee. Er entdeckte einige zerlesene Bücher, dreidimensionale Magnetpuzzles und ähnliche Geduldspiele, mit denen sich wohl seine Vorgänger die Zeit vertrieben hatten. Er lächelte darüber. Keiner von ihnen hatte seine Erfahrung besessen. Nach zweijährigem Aufenthalt in einer engen Zelle ohne Gesellschaft, Bücher oder sonstige Ablenkung brauchte er solches Spielzeug nicht mehr. Fünf Jahre hier zu verbringen, schien Ward ein Leichtes zu sein. Zuerst verging die Zeit auch wie im Flug. Er überprüfte alles, was es zu prüfen gab, las alle Bücher, spielte mit den Geduldspielen und stellte verschiedene Essenkombinationen zusammen. Er versuchte sogar, mit selbsterfundenen Trainingsmethoden seine alte Kondition wiederherzustellen, doch ohne Erfolg. Mangels Raum und mangels Geräten mußte er seine Übungen auf Kniebeugen, Liegestütze und
Muskeltraining beschränken, was auf der Erde vielleicht sinnvoll gewesen wäre – aber hier, wo es kaum Schwerkraft gab, war es so gut wie nutzlos. Den ersten Schock erhielt er, als er die Einrichtungsgegenstände genauer inspizierte. In der ganzen Station gab es nicht ein Werkzeug. Es gab nichts, womit er das Schaltbrett hätte abheben, die Maschinen öffnen und an die Innereien hätte gelangen können. Nichts, um irgendwelche Reparaturen auszuführen, falls sie notwendig werden sollten. Er suchte dreimal alles genau ab, rückte jeden beweglichen Gegenstand beiseite und öffnete jede Schublade und Klappe, immer mit dem gleichen Ergebnis: es gab kein Werkzeug. Er setzte sich hin, um darüber nachzudenken. Fromach hatte ihn belogen, zumindest in einigen Punkten. Wenn der Wärter einer Beobachtungsstation die Aufgabe hatte, anfallende Maschinenschäden zu beheben, dann brauchte er dazu auch Werkzeug. Werkzeug war nicht vorhanden, also… Ward lächelte, als er eine Erklärung dafür fand. Sein Vorgänger hatte anscheinend durchgedreht. Ihn selbst hatten sie in großer Eile hier abgesetzt, und dabei mußten sie wohl vergessen haben, die Einrichtung der Station zu überprüfen. Vielleicht hatte sein Vorgänger alles Werkzeug hinausgeworfen, als er merkte, daß er den Verstand zu verlieren begann. Vielleicht war das seine letzte vernünftige Handlung gewesen, mit der er es sich unmöglich gemacht hatte, die gesamte Anlage zu zerstören. Das war eine ganz plausible Erklärung. Sie hatte nur einen Haken. Es gab keine Möglichkeit, etwas aus der Station hinauszubefördern. Das war der zweite Schock für Ward, und er dachte in den nächsten Monaten ab und zu darüber nach. Die Station war luftdicht abgeschlossen: Es gab nicht eine Klappe, nicht ein Fenster, und auch der Ausstieg ließ sich von innen nicht
öffnen. Es war ein Problem unter anderen, über das Ward ab und zu nachgrübelte, um es dann wieder beiseitezuschieben. Was ihn am meisten beunruhigte, war, daß die Zeit immer langsamer verstrich. Fromach hatte gesagt, daß das Verbindungsschiff jährlich oder auch nur alle zwei Jahre vorbeikommen würde. Auf dem Hauptarmaturenbrett war eine Kalenderuhr angebracht, und Ward ertappte sich dabei, daß er ständig darauf starrte und sich wünschte, daß die Zeiger sich schneller vorwärtsbewegen sollten. Schließlich erkannte er die Gefahr, die ihm daraus drohte, und er deckte das Ziffernblatt mit einem leeren Essenkarton zu und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Die Erfahrungen, die er während seiner Haft gesammelt hatte, halfen ihm dabei. Zeit ist keine feste Größe; sie dehnt sich aus oder rückt zusammen je nach den Umständen, unter denen sie erlebt wird. Wartet man auf etwas, dann wird jede Minute zur Ewigkeit; vergißt man die Zeit, vergeht sie wie im Flug. Während der in einem modernen Verlies ohne Uhr, Kalender und Tageslicht verbrachten Jahre hatte er gelernt, die Zeit zu vergessen. Doch alles konnte er vergessen, nur das eine nicht: seine Einsamkeit. Es war eine absolute Einsamkeit, wie sie auf der Erde gar nicht erfahren werden kann. Denn gleich, wo ein Mensch sich auf seinem Heimatplaneten aufhält, er ist nie wirklich allein. Um ihn herum herrscht immer warmes, vertrautes Leben. Ein Leuchtturmwärter ist nie wirklich allein; er kann Lichtsignale aussenden, über Funk Stimmen hören und sich Tiere halten. Selbst ein Gefangener in seiner Zelle ist es nicht; denn jedes Wort, das er spricht, wird abgehört, er kann den Schritten der Wärter auf dem Gang lauschen und sich Gesellschaft verschaffen, indem er laut brüllt. Ein Mensch, der allein in seinem Zimmer sitzt, ist nicht wirklich allein, wenn sich um ihn herum im gleichen Haus noch andere Menschen aufhalten.
Aber ein Mensch, allein in einer fremden Welt, Millionen Meilen von allem Leben entfernt und ohne Verbindung zu seinen Mitmenschen – der ist wirklich einsam. Ward war noch nie wirklich einsam gewesen. Er begann unter seiner Einsamkeit zu leiden. Er stellte sich vor, was alles passieren könnte: Er könnte sich etwas brechen oder krank werden und ärztliche Hilfe brauchen; das Essen könnte schlecht werden, das Wasser verderben; die Energie könnte ausfallen; die Kuppel, in der er saß, könnte einen Riß bekommen, das Eis, auf der sie errichtet war, schmelzen oder der ganze Satellit gar aus seiner Bahn geschleudert werden und auf den Jupiter stürzen. Und niemand konnte ihm helfen. Es war eine peinigende Vorstellung, und er kämpfte dagegen an, indem er sich in der Station beschäftigte. Er putzte und polierte alles, betrachtete die Signalleuchten auf dem Hauptarmaturenbrett und versuchte sogar noch einmal, über Funk Verbindung aufzunehmen. Doch wieder hörte er nur atmosphärisches Rauschen. Er lauschte eine Weile, aber die unheimliche Leere dieses Geräusches machte ihm Angst, und er stellte das Funkgerät wieder ab. Kein vertrauter menschlicher Laut, nur das sinnlose, monotone Rauschen, erzeugt von Strahlung aus weit entfernten Planetenfeldern in der eisigen Leere des Universums. Die Zeit verging. Er aß, wenn er hungrig war, wusch sich, wenn er sich schmutzig fühlte, und schlief, wenn er schlafen konnte. Aber das schreckliche Gefühl der Einsamkeit wurde mit der Zeit immer stärker, so daß er glaubte, laufen, schreien, flüchten zu müssen. Seine Vorgänger mußten das gleiche erlebt haben. Sie hatten ebenfalls fliehen wollen, und sie hatten es auf die ihnen einzig mögliche Art getan. Er konnte ihrem Beispiel folgen. Aber für ihn würde es weit schlimmere Folgen haben als für sie: Leukotomie. Verlust seiner Persönlichkeit. Lebender Tod.
Ward biß die Zähne zusammen und kämpfte mit aller Kraft gegen die Versuchung an. Er beschäftigte sich mit endlosen Wiederholungen von Routinearbeiten, trug die Essenkartons ab und stapelte sie wieder neu auf, wischte und putzte, wo es nichts zu putzen gab, bis ihm die Arme schmerzten. Und dann bekam er langsam das Gefühl, daß er beobachtet wurde. Die Vorratskammer war drei Meter lang, zweieinhalb Meter hoch und zwei Meter breit. Normalerweise lagerte darin so viel konzentrierte Nahrung, daß ein Mensch lange Zeit davon leben konnte. Jetzt waren die Essenkartons in einem unordentlichen Haufen vor der geschlossenen Tür aufgestapelt. Fromach starrte darauf und nickte dann dem Arzt zu, der neben ihm stand. »Fertig?« »Ja«, sagte der Arzt. Er hob die Betäubungspistole und drückte ab. Ein dünner Strahl schoß mit solcher Vehemenz durch die Luft, daß er Kleider und Haut durchdringen würde, ohne Schmerzen zu bereiten. »Bringen wir es hinter uns.« Fromach öffnete die Tür und trat, gefolgt von dem Arzt, in die Kammer. Ward richtete sich auf und lächelte ihnen zu. »Sie haben sich Zeit gelassen«, sagte er. »Ich erwarte Sie schon seit Tagen.« »Wir hatten eine weite Reise«, sagte Fromach abwesend. Er starrte Ward an, als traue er seinen Augen nicht. »Wir haben nicht erwartet, Sie in diesem Zustand anzutreffen.« »Sie dachten, ich sei verrückt geworden.« Ward rückte auf seiner Pritsche ein Stück zur Seite, um den beiden Platz zu machen. Er hatte sie von der Schlafecke in die ausgeräumte Vorratskammer hinübergeschafft. »Das wäre ich auch fast.« Er schauderte bei der Erinnerung an die letzte Zeit. »Das verstehe ich nicht«, sagte der Arzt. Er kam sich mit der Pistole in der Hand, die nun gar nicht benötigt wurde,
lächerlich vor und steckte sie in die Tasche. »Ich hatte erwartet, Sie in einem Zustand von Katatonie zu finden.« »Wie die anderen?« Ward zuckte die Achseln. »Viel hätte nicht gefehlt, aber meine Erfahrung« – er blickte sich lächelnd in der ausgeräumten Kammer um, die seiner alten Zelle glich – »und die Angst vor der Gehirnoperation haben mich gerettet.« Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Aber dennoch war die Versuchung, auf die einzig mögliche Art, nämlich in die Kindheit zurück zu fliehen, fast unüberwindlich.« »Sie haben es geschafft«, sagte der Arzt. »Unglaublich!« »Sie haben es gewußt«, sagte Fromach unvermittelt. »Nein.« »Aber?« »Aber jetzt weiß ich es«, sagte Ward. Er reckte sich und genoß die körperliche Gegenwart der beiden anderen. »Wenn man in einer Zelle eingeschlossen lebt, entwickelt man manchmal erstaunliche Fähigkeiten«, meinte er. »Ich wußte zum Beispiel immer genau, wann jemand am Abhörgerät war. Ich kann nicht erklären, warum oder woher – ich wußte es einfach. Vielleicht schärfen sich die Sinne, wenn man nichts anderes zu tun hat.« »Erzählen Sie mir: Was treibt die Männer hier draußen zum Wahnsinn«, sagte der Arzt. »Die Einsamkeit.« »Nur die Einsamkeit?« »Ja.« Ward starrte nachdenklich vor sich hin. »Nach einiger Zeit packt es einen. Ich kann es nicht beschreiben. Wenn man es nicht erlebt hat, kann man es sich einfach nicht vorstellen – es ist so, als ob man der einzige überlebende Mensch im ganzen Universum ist. Das letzte Lebewesen überhaupt. Nur wenige Menschen können sich selbst ertragen, noch weniger kommen in die Lage, es ausprobieren zu müssen; und wenn dieses Gefühl der Einsamkeit sie packt, dann werden sie damit
nicht fertig. Sie versuchen wegzulaufen, zu fliehen, sich vor sich selbst zu verstecken. Was dann passiert, wissen Sie.« »Wie haben Sie es herausgefunden?« fragte Fromach. Er schien mehr an seinem eigenen Fehlschlag interessiert zu sein. »Ich wurde zuerst stutzig, als ich merkte, daß es keine Werkzeuge gab«, sagte Ward. »Ich dachte mir, daß man mich aus einem anderen Grund hergeschickt haben mußte, als um die Station zu überwachen. Dann fielen mir noch einige andere Dinge auf, die nicht stimmten. Und dann fühlte ich, daß ich beobachtet wurde.« »Die Spähaugen«, sagte Fromach. »Aber sie sind doch vollkommen geräuschlos.« »Ich habe sie gespürt«, sagte Ward. »Ich sagte Ihnen ja schon, nach einiger Zeit der Isolation schärfen sich bei einem Menschen die Sinne. Ich hatte zum Glück schon gelernt, mit mir selbst auszukommen – aber die anderen? Sie waren allein, sie wußten es, aber trotzdem spürten sie, daß sie beobachtet wurden. Ich glaube, das ist die Art von Konflikt, die einen Menschen in den Wahnsinn treibt.« »Und dann?« »Dann kam ich drauf. Dies ist eine Beobachtungsstation, ganz sicher, aber nicht so, wie Sie gesagt haben. Sie ist dazu da, daß man den Mann darin beobachten kann, nicht das, was sich außen herum abspielt. Es ist eine Trainingszelle – aber wofür?« »Für das, was sie sein sollte, aber nicht ist«, sagte Fromach bitter. »Für die Raumschiffe, die wir eines Tages, hoffentlich, noch weiter ins All hinausschicken werden. Und mehr als das. Die Menschen müssen lernen, mit sich selbst auszukommen, wenn sie überhaupt leben wollen. Wir sind jetzt aus dem Nest heraus. Es wird Zeit, daß wir lernen, erwachsen zu werden.« »Sie können die Menschen nicht verändern«, sagte Ward langsam. »Ich habe es überstanden, weil ich mich in eine
Umgebung zurückflüchten konnte, an die ich mich gewöhnt hatte. Andere flüchten zurück in den Mutterschoß.« Er betrachtete seine Hände. »Und was geschieht jetzt?« »Sie sind frei«, sagte Fromach. »Die restliche Haftstrafe wird Ihnen wegen außergewöhnlicher Leistungen erlassen.« »Danke.« »Sie haben es verdient«, sagte Fromach. »Und das Problem?« »Das werden wir schon noch lösen«, sagte Fromach. »Das werden wir –« Er brach ab und starrte Ward an. Ihm war eingefallen, daß ein Mensch das, was er erfahren hat, auch anderen mitteilen kann. Ward hatte sich bewährt, wo andere versagt hatten. Wenn nun – »Wir werden es lösen«, sagte Ward. Fromach hatte seine Antwort.
Originaltitel: THE EYES OF SILENCE. Copyright © 1957 by Royal Publications, Inc. Aus INFINITY SCIENCE FICTION April 1957 Übersetzt von Ute Seeßlen.
Frank Herbert MODEPROBLEM DER ZUKUNFT
An jenem Morgen, als die Agentur mit dem Raumanzugsproblem konfrontiert wurde, frühstückte Gwen Everest in ihrem Stammrestaurant, einem automatisierten Einzelnischenbetrieb für Junggesellinnen. Ihre Bestellung glitt aus der Klappe auf ihren Tisch, und sofort schaltete der Tischplattenprojektor von der Speisenkarte um auf eine Werbung für Interdormas neuesten Traumferndeuter. »Ihr eigener privater Traumdolmetscher! Der stille Helfer für jede Neurose!« Gwen starrte auf die drei Zentimeter hohen Buchstaben, die über ihren Spiegeleiern in der Luft tanzten. Sie selbst hatte diesen Text geschrieben. Das Essen unter der Anzeige sah plötzlich unappetitlich aus. Sie schob den Teller beiseite. Auf dem Schnellrollsteig nach Manhattan flog ein mit seinen Sensoren auf ihre Individualität programmierter Du-Sucher neben ihrem Ohr her. Er pries eine Jahreslieferung von Geramyl – »das Frühstücksgetränk, das Ihr Leben verlängert!« Der Werbeknüller dieses Morgens war eine Idee von Gwen Everest: eine Lebensversicherungspolice mit bezahlter erster Jahresprämie – »vollkommen gratis, wenn Sie sofort zugreifen!« In einem plötzlichen Wutanfall wandte sie sich dem Du-Sucher zu, flüsterte einen Codesatz, den ihr ein Wartungsingenieur der Flugroboter verraten hatte. Der Roboter schoß in wildem Zickzack in die Höhe, zerschellte an einer Hauswand. Ein kleiner Bruch in ihrer Selbstbeherrschung. Ein Anfang. In dem Korridor, der zu den Chefbüros von
Singlemaster, Hucksting & Battlemont führte, erwarteten Gwen Plakate der letzten Kampagne für den Religion-desMonats-Klub. Sie war verantwortlich für eine ganze Reihe von Werbeideen, Plakaten, Slogans. Luftbildern, Flugblättern, Hautreizern und so weiter. »Abonnieren Sie jetzt, dann erhalten Sie diese Religionen vollkommen gratis! Vollständiger Text der Schwarzen Messe und abgekürzte Mystiklehre als Zugabe!« Sie war gezwungen, durch ein Rauminserat hindurchzugehen, das verkündete: »Seien Sie nicht halben Herzens! Glauben Sie an alles! Sind Sie sicher, daß der afrikanische Bantuzauber nicht der wahre Weg ist?« An einer Abzweigung des Korridors stand eine zweigeschlechtliche Luftfigur mit stimulierenden Hautreizern und suggestiven Stimmen: »Finden Sie Frieden durch Tantrismus!« Die Hautreizer jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Gwen floh in ihr Büro, ließ sich in ihren Schreibtischsessel fallen. Mit wachsendem Entsetzen wurde sie sich bewußt, daß sie alle Texte draußen im Korridor entweder selbst geschrieben oder ihre Formulierung beeinflußt hatte, daß alle in diesem Hause geborenen Werbeideen von ihr stammten. Das Haustelefon auf ihrem Schreibtisch flötete: »Guten Morgen.« Sie schlug den Verdunkelungshebel herunter, um das Gerät daran zu hindern, ein Bild zu produzieren. Das Letzte, was sie jetzt zu sehen wünschte, war einer ihrer Mitarbeiter. »Wer ist es?« bellte sie. »Gwen?« Unverkennbar, diese Stimme: André Battlemont, der dritte im Trio der Firmeninhaber. »Was willst du?« fragte sie. »Unsere Gwenny ist wohl schlecht gelaunt heute morgen?« »O Freud!« Wütend drückte sie auf die Unterbrechertaste, lehnte sich, die Ellbogen auf den Schreibtisch stützend, nach vorn, legte die Hände vors Gesicht. Ich muß den Dingen ins
Auge sehen, dachte sie. Ich bin 48, unverheiratet und ein Hauptmotor in einer Industrie, die das Universum in ihrem Würgegriff hält. Ich bin eint professionelle Würgerin. »Guten Morgen«, flötete das Haustelefon. Sie ignorierte den Gruß. »Eine Würgerin«, sagte sie laut vor sich hin. Gwen war wieder einmal auf das Kernproblem ihres Lebens gestoßen. Sie kannte es seit ihrer Kindheit. Ihr Universum war eine kontinuierliche Wiederholung von Des Kaisers neue Kleider. Sie sah die Nacktheit. »Guten Morgen«, flötete das Haustelefon. Sie nahm die rechte Hand vom Gesicht, schnipste mit dem Finger gegen den Empfangshebel. »Was ist los?« »Hast du mich abgeschaltet, Gwen?« »Und wenn?« »Gwen, bitte! Wir haben ein Problem.« »Wir haben immer Probleme.« Battlemonts Stimme sank um eine Oktave. »Gwen, dies ist wirklich ein Problem.« Unheimlich, wie er mit der Stimme ein Wort unterstreichen konnte, dachte sie. Sie sagte: »Laß mich in Ruhe.« »Du bist weggegangen und hast dein Interdorma abgeschaltet gelassen«, sagte er vorwurfsvoll. »Das kann dir eine Neurose einbringen.« »Rufst du mich deswegen an?« fragte sie. »Natürlich nicht.« »Dann laß mich in Ruhe.« Battlemont tat nun etwas, von dem jedermann im Hause, von Singlemaster abwärts, wußte, daß man es bei Gwen nicht gefahrlos wagen konnte. Er schaltete den Raumprojektor ein, der sein Bild über ihrem Schreibtischtelefon erscheinen ließ. Nach einer kurzen Wutanwandlung erkannte Gwen, daß es sich hier um einen Akt der Verzweiflung handelte. Ihre Neugier regte sich. Sie betrachtete das runde Gesicht, die
hellen Augen (sie waren entschieden zu klein, diese Augen), die Stupsnase und den breiten Mundschlitz über dem so gut wie nicht vorhandenen Kinn. Und den zurückweichenden Haaransatz. »André, du bist ein Ekel«, sagte sie. Er überhörte die Beleidigung. In der Dringlichkeitsoktave weitersprechend sagte er: »Ich habe eine Chefbesprechung einberufen. Du mußt unbedingt daran teilnehmen.« »Warum?« »Es sind zwei Militärs hier, Gwen.« Er schluckte. »Die Lage ist verzweifelt. Entweder wir lösen ihr Problem, oder sie werden uns zu Grunde richten. Sie wollen jeden Mann in der Agentur einziehen!« »Auch dich?« »Ja!« Sie näherte ihre Hand dem Unterbrecherhebel des Telefons. »Leb wohl, André.« »Gwen! Mein Gott! Du kannst mich in einer Situation wie dieser nicht im Stich lassen!« »Warum nicht?« Er sprach in atemloser Hast. »Wir erhöhen dein Gehalt. Du bekommst einen Bonus. Ein größeres Büro. Mehr Hilfskräfte.« »Du kannst mich nicht kaufen«, sagte sie. »Ich flehe dich an, Gwen. Verhöhne mich nicht in meiner Not!« Sie schloß die Augen, dachte: Die Insekten! Die verdammten Insekten mit ihren erbärmlichen Gefühlchen! Warum kann ich sie nicht alle zum Teufel schicken? Sie öffnete die Augen, sagte: »Was wollen die Militärs?« Battlemont wischte sich die Stirn mit einem pastellblauen Taschentuch. »Sie sind von der Raumfahrtbehörde«, sagte er. »Vom FRAK, vom Frauenraumfahrtkorps. Ihre Freiwilligmeldungen sind fast auf null zurückgegangen.« Gegen ihren Willen horchte sie auf. »Was ist geschehen?«
»Es hat etwas mit dem Raumanzug zu tun. Ich weiß nicht genau. Ich bin völlig außer Fassung.« »Warum haben sie es euch so brutal auf den Tisch geknallt? Das Ultimatum, meine ich.« Battlemont blickte nach rechts und nach links, beugte sich nach vorn. »Das Gerücht geht um, sie testen eine neue Theorie, nach der kreative Menschen unter extremem Streß besser arbeiten.« »Wieder die psychologische Masche«, sagte sie. »Diese Esel!« »Aber was können wir tun?« »Schmeiß sie hinaus«, sagte sie. »Geh aber auf alle Fälle zu dieser Besprechung.« »Du wirst doch auch da sein, Gwen?« »Ich habe noch ein paar Minuten zu tun.« »Komm nicht allzu spät, Gwen.« Wiederum tupfte er sich die Stirn mit dem blauen Taschentuch ab. »Gwen, ich habe Angst.« »Aus gutem Grund.« Sie schielte zu seinem Bild hinüber. »Ich sehe dich schon, wie du, mit nichts anderem bekleidet als mit einem Lendenschurz aus Blei, Brennstoff in einen radioaktiven Ofen schaufelst. Freud, was für ein Bild!« »Das Ganze ist kein Scherz, Gwen!« »Ich weiß.« »Du wirst mir doch helfen?« »Auf meine eigene spezielle Weise, André.« Sie legte den Unterbrecherhebel um. Battlemont kehrte seinem Haustelefon den Rücken und ging zu einem auf der andern Seite seines Büros liegenden echten muslimischen Gebetsteppich. Er kauerte sich, das Gesicht dem vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster zugewandt, das den Blick nach Osten über Zentral-Manhattan freigab, auf dem
Teppich nieder. Sein Büro befand sich im 1479. Stockwerk des Raumstern-Gebäudes, und man hatte von hier oben eine wunderbare Aussicht, wenn der Himmel klar war. Doch an diesem Morgen lag die City verborgen unter einer niedrigen Wolkendecke. Hier oben war es sonnig, ausgenommen in Battlemonts Gemüt. Seine Nerven summten in ängstlicher Spannung. Er hatte sich auf dem Gebetsteppich niedergehockt, um YogaAtemübungen zu machen, die diese Nerven beruhigen sollten. Die Militärs konnten warten. Sie mußten eben warten. Daß er sich bei diesen Übungen in die Richtung Mekkas wandte, ging darauf zurück, daß der Islam vor zwei Monaten die Religion des Monats gewesen war. Yoga war jetzt einen Monat alt. Es gab immer etwas, das man beibehielt. Battlemont war vor fast einem Jahr dem Religion-desMonats-Klub beigetreten, verführt durch die Tiefenmotivationskampagne seiner eigenen Agentur und durch den Segen des Bruderschaftsrates. Die Religion des laufenden Monats war der Wiedererwachte Neokult des heiligen Freud. Ein Raumtestbild legte sich auf die Wolkendecke unter ihm. Regenbogenfarben tanzten über dem dunstigen Untergrund. »Machen Sie Ihren Rat unsterblich! Lassen Sie uns Ihre Stimme und Ihre Denkmuster in ewigen elektronischen Stromkreisen speichern! Wenn Sie gegangen sind, lauschen Ihre Lieben vielleicht Ihrer Stimme, wenn Sie ihre Fragen genau so beantworten, wie Sie es im Leben getan haben würden!« Battlemont schüttelte den Kopf. Die Agentur hatte einmal im ängstlichen Bewußtsein ihrer Abhängigkeit von der lebenden Gwen Everest deren Äußerungen bei einer Chefbesprechung aufnehmen lassen, was höchst illegal gewesen war, denn es verstieß gegen die strengen Bestimmungen der
Gewerkschaften. Doch der Computer hatte schon bei der ersten an Gwens Geisterstimme gestellten Frage versagt. »Manche Leute haben Denkmuster, die zu kompliziert sind, um psycho-registriert zu werden«, hatte der zuständige Ingenieur erklärt. Battlemont gab sich keinen Illusionen hin. Die einzige geniale Leistung der drei Besitzer der Agentur bestand darin, daß sie das Genie von Gwen Everest anerkannten. Sie war die Agentur. Eine solche Angestellte zu haben, war, als reite man auf einem Tiger. Singlemaster, Hucksting und Battlemont ritten diesen Tiger seit zweiundzwanzig Jahren. Battlemont schloß die Augen, stellte sie sich im Geiste vor: eine große, hagere Frau, doch nicht ohne einen gewissen Charme. Ihr Gesicht war lang, beherrscht von zwei kalten blauen Augen, umrahmt von Wellen kastanienbraunen Haares. Sie besaß einen Witz, der wie eine Peitsche zuschlug, und die unbezahlbare Fähigkeit, aus der unmöglichsten Ware einen Verkaufsschlager zu machen. Battlemont seufzte. Er war in Gwen Everest verliebt. Er war es seit zweiundzwanzig Jahren. Dies war der Grund, daß er nie geheiratet hatte. Sein Interdorma legte es dahin aus, daß er von einer starken Frau beherrscht zu werden wünschte. Doch das war nur eine Erklärung, keine Hilfe. Einen Augenblick lang dachte er wehmütig an Singlemaster und Hucksting, die beide ihren dreimonatigen Jahresurlaub auf Oahu verbrachten. Battlemont fragte sich, ob er Gwen bitten sollte, ihre Ferien mit ihm zu verbringen. Nur ein Mal. Nein. Es kam ihm zum Bewußtsein, welch erbärmliche Figur er auf dem Gebetsteppich machte. Ein kindischer alter Mann in einem unattraktiven blauen Anzug. Die Schneider taten etwas für ihn, das sie eine »Verbesserung Ihrer guten Punkte« nannten. Außer wenn er sich in einem Vesta-Spiegel betrachtete, um die auf sein eigenes idealisiertes
Bild zurückprojizierten Musteranzüge zu sehen, konnte er nie entdecken, welche diese »guten Punkte« waren. Gwen würde ihm sicher einen Korb geben. Und das fürchtete er mehr als alles andere. Solange die Möglichkeit verblieb… Die Erinnerung an die wartende Deputation der Raumfahrtbehörde überfiel ihn. Battlemont zitterte, unterbrach seine Yoga-Übungen. Diese hatten den üblichen Effekt: ein Gefühl des Schwindels. Er erhob sich mühsam. Nach Gwens Vorschlag war der Konferenzraum der Agentur dem Kaiserzimmer eines florentischen Bordells nachgebildet worden. Es war ein riesiger Saal. Die schwer vergoldeten, aus den Ecken hervorspringenden Viertelsäulen waren mit üppigen Schnörkeln verziert, und dieser überladene Effekt wurde fortgesetzt in den tiefen Schnitzereien der Wandpaneele. Die Decke war eine Zwangsehe zwischen cellinischen Liebesgöttern und Landschaften von Dali, ein gewaltsam antikisierendes Stilgemisch. In diesen barocken Rahmen war ein riesiger, zwei Meter breiter und zwölf Meter langer Tisch brutal hineingestellt worden, eine Reminiszenz an den Wallstreet-Stil des 20. Jahrhunderts, umsäumt von zeitlosen, schweren Holzsesseln. Goldene Papierbeschwerer und goldene Aschenbecher zierten jeden Platz. Die Luft im Raum war blau vom Rauch der kürzlich mit dem Slogan »Mit ihrem Rauch steigt Ihre Stimmung« in Mode gekommenen Zigaretten. Der an den Längsseiten des Tisches sitzende Chefstab kämpfte gegen die deprimierende Wirkung der beiden Raumfahrtgeneräle, ein männlicher und ein weiblicher, an, die an einer Schmalseite des Tisches links und rechts von Battlemonts leerem Stuhl saßen. Deprimierend war auch das Fehlen des vor jeder Konferenz üblichen Geplauders und Papierraschelns. Alle Mitglieder des Stabes hatten durch den Büroklatsch von dem Ultimatum erfahren.
Battlemont schlüpfte durch eine Seitentür herein, huschte zu seinem Sessel am Ende des Tisches hinüber, ließ sich hineinfallen, bevor seine Knie nachgaben. Sein Blick wanderte gebannt von einem der finster dreinblickenden Gesichter der beiden Militärs zum andern. Keine Reaktion. Er räusperte sich. »Tut mir leid… äh… dringende Angelegenheit… unaufschiebbar.« Er warf einen verzweifelten Blick in die Runde. Keine Spur von Gwen. Er lächelte den einen Offizier an, dann den andern. Keine Reaktion. Zu seiner Rechten saß Brigadegeneralin Sonnet Finnister vom FRAK. Battlemont erinnerte sich an den Schauder, der ihn befallen hatte, als er sie einmal gehen sah. Der Gang eines Rekrutenunteroffiziers, stur und gnadenlos. Sie trug eine selbstentworfene Uniform: gerader, plissierter Rock, um knochige Hüften zu verbergen, eine lose Bluse, um den Mangel an Oberweitenentwicklung zu tarnen, und ein langes Cape, um den Gesamteindruck zu neutralisieren. Auf ihrem Kopf saß eine flache Mütze mit überbreitem Schirm, der eigens dazu bestimmt war, die zu hohe und zu breite Stirn von Sonnet Finnister zu verdecken. Nur selten nahm sie diese Mütze ab. Links von Battlemont saß General Nathan Owling von den Raumfahrtingenieuren. Er entsprach dem für die Offizierskaste idealen Bild eines schlanken, blonden Athleten. Die blauen Augen erinnerten Battlemont an Gwens Augen, ausgenommen, daß sie kälter erschienen. Wenn das überhaupt möglich war. Neben Owling saß Leo Prim, der Chefzeichner der Agentur. Er war ein dünner junger Mann, dünn bis an die Grenze der Auszehrung. Sein schwarzes, lang getragenes Haar war natürlich gelockt. Er hatte eine schmale Römernase, seelenvolle braune Augen, eine scharfe Falte im Kinn, einen großmütigen Mund mit vollen Lippen, zwischen denen lässig
eine »Stimmungszigarette« hing. Wenn Battlemont seine eigene Erscheinung hätte wählen können, würde er sich gewünscht haben, wie Leo Prim auszusehen. Battlemont warf Prim einen Aufmerksamkeit heischenden Blick zu, wagte ein kollegiales Lächeln. Keine Reaktion. General Sonnet Finnister tippte mit einem Finger auf die Tischplatte. Für Battlemont klang es wie die gedämpfte Trommel eines Trauermarsches. »Fangen wir nicht besser an?« fragte die Finnister. »Sind wir… äh, endlich… alle anwesend?« fragte General Owling. Battlemont schluckte den Klumpen hinunter, der ihm hochkam. »Nun… äh… ähem… nein… äh…« Owling öffnete eine Aktentasche, die vor ihm auf dem Tisch lag, überflog einen Geheimbericht, warf einen Blick in die Runde. »Miss Everest fehlt noch«, stellte er fest. Die Finnister fragte: »Können wir nicht ohne sie anfangen?« »Wir wollen warten«, sagte Owling. Er genoß die Situation. Diese verdammten Parasiten brauchen von Zeit zu Zeit die Peitsche. Das erinnert sie daran, wo sie ihren Platz haben. Die Finnister warf Owling einen Blick zu, einen Falkenblick, der (männliche) Obersten zum Zittern brachte, von Owling jedoch wirkungslos abprallte. Das sieht dem Oberkommando ähnlich, mich mit einem Typ männlicher Arroganz wie Owling hierher zu schicken, dachte sie. »Sind wir hier sicher vor Lauschern?« fragte Owling. Battlemont zuckte unmerklich zusammen, unterdrückte den Impuls, zu den in der Decke des Konferenzraums verborgenen Mikrofonen und Kameralinsen aufzuschauen, und erwiderte hastig: »Absolut sicher!« Grinsend fügte er hinzu: »Wir können es uns nicht leisten, uns von andern Agenturen die Ideen klauen zu lassen.« Diesen Augenblick wählte Gwen Everest für ihren Auftritt. Alle Blicke folgten ihr, als sie durch
die Tür am Kopfende des Raumes hereinkam und ohne die schuldbewußte Eile des Zuspätkommenden die ganze Länge des Saales hinunterschritt. Battlemont bewunderte ihre Anmut. Wie weiblich sie war, trotz ihrer Kraft. So verschieden von dem weiblichen General. Gwen nahm einen an der Wand stehenden Stuhl, schob ihn zwischen Battlemont und die Finnister und setzte sich. Die Kommandeuse des FRAK musterte den Eindringling. »Wer sind Sie?« Battlemont beugte sich vor. »Das ist Miss Everest, unsere… äh…« Er zögerte verwirrt. Gwen hatte nie einen offiziellen Titel in der Agentur gehabt. War auch nicht nötig gewesen. Jedermann im Hause wußte, daß sie der eigentliche Boss war. »Äh… Miss Everest ist unser… äh… Koordinationsdirektor«, sagte er schließlich. »Ei! Das ist ein prächtiger Titel!« rief Gwen aus. »Ich muß ihn mir auf meine Briefbogen drucken lassen.« Sie tätschelte Battlemonts Hand, schaute ihm ins Gesicht und sagte mit liebenswürdiger Stimme, in der ein Hauch von Spott mitklang: »Nun, Chef, setzen Sie mich ins Bild. Wer sind diese Leute? Was geht hier vor?« General Owling nickte Gwen zu. »Ich bin General Owling von den Raumfahrtingenieuren.« Er deutete mit einem Kopfrucken auf das Raketenabzeichen auf seiner Schulter. »Meine Begleiterin ist General Finnister, FRAK.« Gwen hatte das berühmte Finnister-Gesicht erkannt. Sie lächelte breit, sagte: »General Frak.« »Finnister!« bemerkte der weibliche General scharf. »Ja natürlich«, sagte Gwen. »General Finnister Frak.« Die Finnister skandierte langsam: »Ich bin… General… Sonnet… Finnister…vom Frauenraumfahrtkorps, kurz FRAK!« »Ach, wie dumm von mir«, sagte Gwen. »Natürlich, General Sonnet Finnister!« Sie tätschelte, Battlemont zulächelnd, die Hand der Generalin.
Battlemont, der sehr wohl die Hintergründigkeit in Gwens Benehmen spürte, versuchte sich in seinem Sessel zu verkriechen. In diesem Augenblick erkannte Gwen schmerzhaft, daß sie einen psychischen Punkt erreicht hatte, von dem es keine Rückkehr gab. In ihrem Gedankengetriebe hatte sich ein anderer Gang eingeschaltet. Sie ließ ihren Blick über die Konferenzteilnehmer schweifen. Vertraute Gesichter sprangen sie an mit unrealistischer Klarheit. Augen starrten. Ich kann das nicht länger ertragen, dachte sie. Ich muß mich entscheiden. Sie konzentrierte sich auf die Militärs. Die andern Personen im Raum waren keine würdigen Gegner, vielleicht aber diese beiden, Owling und Finnister. Raumfahrtgeneräle. Sie zu treffen, lohnte sich. Laß die Splitter fliegen, wohin sie wollen! Drücke ab, wenn du sie im Visier hast! Warte, bis du das Weiße in ihren Augen siehst! Durchlöchere, wenn du mußt, diesen alten grauen Schädel! Gwen hob und senkte den Kopf in Bestätigung ihres Entschlusses. Ein falscher Schritt, und die Agentur war ruiniert. Wen kümmert’s schon? Es geschah alles im Bruchteil einer Sekunde, doch die Entscheidung war gefallen. Rebellion! Gwen wandte sich an Owling. »Würden Sie so liebenswürdig sein, diesem Geplänkel ein Ende zu machen und zum Angriff überzugehen?« »Geplänkel…« Owling unterbrach sich. Der Geheimbericht über diese Frau besagte, daß sie Schocktaktiken liebte. Er nickte ihr kurz zu und dann der Finnister. Der weibliche General wandte sich an Battlemont. »Ihre Agentur ist, wie wir Ihnen bereits erklärt haben, für eine höchst wichtige Aufgabe auserwählt worden, Mr. Battlefield.« »Battlemont«, bemerkte Gwen. Die Finnister schnarrte: »Wie?« »Sein Name ist Battlemont, nicht Battlefield«, sagte Gwen.
»Wenn schon!« »Namen sind wichtig«, erwiderte Gwen. »Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür.« Die Finnister errötete. »Allerdings.« Owling sprang in die Bresche. »Wir sind autorisiert, der Agentur das Doppelte des üblichen Honorars für ihre Leistungen zu zahlen«, sagte er. »Wenn Sie jedoch versagen, werden wir alle männlichen Angestellten der Firma zum Raumfahrtdienst einziehen.« »Was für ein Unsinn!« rief Gwen aus. »Unsere Leute würden die Raumfahrt ruinieren. Von innen heraus.« Wieder lächelte sie Battlemont an. »Unser Mr. Battlemont könnte das ganz allein bewerkstelligen. Nicht wahr, André?« Sie tätschelte Battlemont die Wange. Battlemont versuchte noch tiefer in seinen Sessel zu kriechen. Er wich den Blicken der Generäle aus, murmelte: »Gwen… bitte…« »Was meinen Sie damit… die Raumfahrt ruinieren?« fragte die Finnister. Gwen ignorierte sie, wandte sich an Owling. »Das ist wieder so eine Schnapsidee der Psychologischen Abteilung«, sagte sie. »Das Ganze stinkt förmlich danach.« Owling runzelte die Stirn. Er war tatsächlich als Mann der Praxis mißtrauisch gegenüber aller Theorie. Diese Gwen Everest hatte in diesem Falle recht. Aber Offiziere mußten zusammenstehen gegen Außenseiter. Er sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie qualifiziert sind, militärische Strategie zu beurteilen. Kommen wir zu dem Problem, das wir…« »Was heißt hier militärische Strategie?« Gwen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ausschwärmen, Leute! Vergleicht eure Uhren! Macht euch bereit zum Sturmangriff!… Meinen Sie das?« »Gwen!« bettelte Battlemont.
»Schon gut«, sagte Gwen. Sie wandte sich an die Finnister. »Würden Sie sich herablassen, Ihr Problem mit einfachen Worten zu erklären, die auch ein nicht-militärischer Verstand begreifen kann?« Ein Schlucken, ein funkelnder Blick, und die Finnister spie ihre Worte mit schmalen Lippen aus wie Gift. »Die freiwilligen Meldungen zum FRAK sind alarmierend zurückgegangen. Sie werden das ändern!« Battlemont nickte eifrig hinter Gwens Rücken. »Frauen können Männer bei manchen Aufgaben ersetzen«, sagte Owling. »Und Frauen können viele Dinge, die Männer nicht können«, ergänzte die Finnister. »Wir brauchen die Frauen«, sagte Owling. »Wir brauchen sie dringend«, betonte die Finnister. »Frauen können Sie nicht einziehen, nehme ich an«, sagte Gwen. »Wir haben versucht, ein entsprechendes Gesetz durchzubringen«, sagte Owling. »Das verdammte Komitee wird geleitet von einer antimilitaristischen Frau.« »Welch ein Glück!« bemerkte Gwen. »Sie scheinen mir nicht die geeignete Person zu sein für diese Aufgabe«, sagte Owling. »Vielleicht…« »Oh, beruhigen Sie sich«, sagte Gwen. »Miss Everest ist die beste in der Branche«, schaltete Battlemont sich ein. Gwen fragte: »Warum sind die freiwilligen Meldungen zurückgegangen? Sie haben die üblichen Untersuchungen angestellt?« »Es ist der Raumanzug«, erklärte die Finnister. »Die Frauen mögen ihn nicht.« »Zu maschinenhaft«, erläuterte Owling. »Zu praktisch.« »Wir brauchen… äh… etwas Elegantes«, sagte die Finnister. Sie rückte den Schirm ihrer Mütze zurecht.
Gwen betrachtete kritisch die Pelerine, musterte die Uniform von oben bis unten. »Ich habe die üblichen Pressebilder des Raumanzuges gesehen«, sagte sie. »Was tragen sie darunter? So etwas wie Ihre Uniform?« Die Finnister unterdrückte einen Wutanfall. »Nein! Sie tragen spezielle Drillichanzüge darunter.« »Sie können den Raumanzug nicht ausziehen, wenn sie im Raum sind«, sagte Owling. »Oh!« rief Gwen aus. »Was ist mit den physischen Funktionen? Sie wissen, was ich meine.« »Der Raumanzug sorgt für alles«, erwiderte Owling. »Offensichtlich doch nicht für alles«, murmelte Gwen. Sie senkte den Kopf, sann auf neue Bosheiten. Battlemont richtete sich in seinem Sessel auf, blickte um sich. Auf den Gesichtern der Stabsmitglieder lag die Spannung erwartungsvoller Aufmerksamkeit. Die Stimmung hatte sich gebessert. Gwen schien, zur Erleichterung aller, die Initiative ergriffen zu haben. Gute alte Gwen. Wunderbare Gwen. Es war nicht zu erraten, was sie vorhatte. Wie gewöhnlich. Aber sie würde das Problem lösen. Es sei denn… Er blinzelte. War es möglich, daß sie mit ihnen spielte? Er versuchte Gwens Gedankengängen zu folgen. Unmöglich. Sie war unberechenbar. Battlemont wußte nur, daß Gwen in schallendes Gelächter ausbrechen würde beim Anblick ihrer zum Dienst auf Raumfrachtern eingezogenen Kollegen. Battlemont überlief ein Schauder. General Finnister sagte eben: »Das Problem besteht nicht darin, Frauen zu bekommen für den Dienst auf Erdbasen. Wir brauchen sie in den Schiffen, auf den Weltraumstationen, auf…« »Da fällt mir ein«, unterbrach Gwen sie. »Meine Urgroßmutter diente in ihrer Jugend in einer Art Frauenkorps. Ich habe einmal in ihrem Tagebuch gelesen. Sie nannte es die Wahckies oder so ähnlich…«
»Die WACS«, bemerkte die Finnister. »Möglich«, sagte Gwen. »Es war während des Krieges gegen Spanien.« »Gegen Japan«, verbesserte sie Owling. »Worauf ich hinauswill… woher dieses plötzliche Interesse für Frauen? Meine Urgroßmutter hatte ihre liebe Not, sich vor einem alten Oberst zu retten, der… nun. Sie wissen, was ich meine. Ist dies ein Trick, Frauen für Ihre Raumfahrtobersten zu besorgen?« Die Finnister schoß ihren finstersten Blick ab. Rasch unterdrücktes Kichern lief um den Tisch. Owling entschloß sich zu einem neuen Kurs. »Meine liebe Frau, unsere Motive sind die erhabensten. Wir brauchen die Fähigkeiten von Frauen, damit die Menschheit zu den Sternen vordringen kann.« Gwen starrte ihn an in gespielter Bewunderung. »Sie sind ein Dichter, General«, sagte sie. »Verzeihen Sie, ich habe Sie schmählich verkannt. Ich dachte, Sie wollten Frauen für niedere Zwecke. Und Sie sprachen die ganze Zeit von Kameraden, die mit Ihnen dieses glorreiche neue Abenteuer teilen sollen.« Wieder erkannte Battlemont die Gefahrensignale; Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Die meisten Mitglieder des Stabes am Tisch schienen die gleichen Signale wahrzunehmen, aber sie waren eher fasziniert als entsetzt. »So ist es!« erklärte die Finnister. »Nun denn, zur Sache«, sagte Gwen fast feierlich. »Zeigen Sie uns die Blechpanzer für dieses glorreiche Abenteuer, die wir attraktiver machen sollen.« Da sah die Finnister eine Gelegenheit, dieser arroganten Zivilistin eins auszuwischen. »Der Raumanzug besteht größtenteils aus Plastik, nicht aus Blech«, bemerkte sie mit erhobener Nase. »Ob Blech oder Plastik«, schnarrte Gwen. »Ich möchte Ihre Eiserne Jungfrau sehen.«
General Owling atmete zweimal tief ein, um seine Nerven zu beruhigen, öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr eine Mappe mit Schaubildern. Er schob sie Gwen zu… zögernd, als fürchtete er, sie könne auch nach seiner Hand greifen, um sie zu tätscheln. Er sah jetzt, daß der Bericht über diese Person exakt stimmte: diese erstaunliche Frau war tatsächlich der Kopf der Agentur. »Hier ist… die Eiserne Jungfrau«, sagte er mit erzwungenem Lächeln. Gwen blätterte in der Mappe, während die andern sich flüsternd unterhielten. Battlemont aber starrte sie an. Er spürte etwas, das dem übrigen Stab entging: Gwen Everest war nicht die übliche Gwen Everest. Da war ein feiner Unterschied. Sie schien verändert. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr. Ohne von den Bildern aufzuschauen, sagte Gwen in die Richtung der Finnister. »Die Uniform, die Sie da tragen, General Finnister, haben Sie die selbst entworfen?« »Wie?… Ja, natürlich, das habe ich.« Battlemont begann zu zittern. Gwen streckte die Hand aus, betastete eine Hüfte der Finnister. »Knochig«, bemerkte sie. Sie wandte ein Blatt in der Mappe um, schüttelte den Kopf. »Nun?« explodierte die Finnister. Noch immer ohne aufzublicken, sagte Gwen: »Beruhigen Sie sich. Und diese Mütze? Haben Sie die auch entworfen?« »Jawohl!« Es war mehr Protest als Bestätigung. Gwen hob den Blick, ließ ihn auf der Mütze ruhen, sagte in beiläufigem Ton: »Wahrscheinlich das Häßlichste an Kopfbedeckung, das ich je gesehen habe.« »Das ist doch…« zischte die Finnister. »Sind Sie Modegestalterin?« fragte Gwen höflich. Die Finnister schüttelte den Kopf, als weigere sie sich zu antworten. »Sie sind also keine Modegestalterin?« drängte Gwen. Die Finnister
erwiderte, fast ohne die Lippen zu öffnen: »Ich habe einige Erfahrung im Auswählen…« »Die Antwort ist also nein«, stellte Gwen fest. »Habe ich mir gedacht.« Sie schaute wieder in die Mappe, wendete ein weiteres Blatt um. Die Finnister betrachtete sie in sprachloser Wut. Gwen wandte sich an Owling. »Warum haben Sie ausgerechnet unsere Agentur gewählt?« Owling schien Schwierigkeiten zu haben, sich auf Gwens Frage zu konzentrieren. Er stotterte: »Sie waren… man hat uns gesagt, diese Agentur sei eine der erfolgreichsten… wenn nicht die erfolgreichste…« »Wir gelten somit als Experten?« »Ja… wenn Sie es so ausdrücken wollen.« »Ich will es so ausdrücken.« Mit einem Seitenblick auf die Finnister fuhr sie fort: »Wir überlassen also das Entwerfen den Experten, und Sie mischen sich nicht ein… verstanden?« Ihr Blick wanderte von der Finnister zu Owling und zurück. »Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken«, sagte die Finnister unsicher zu Owling. »Ich bin der Ansicht…« »Wenn Sie Ihre militärische Karriere nicht gefährden wollen, schweigen Sie besser und hören zu«, sagte Gwen scharf. Sie wandte sich wieder an Owling. »Haben Sie mich verstanden?« Owling drehte fassungslos den Kopf von einer Seite zur andern. Plötzlich wurde er sich bewußt, daß sein langsames Kopfschütteln als negative Antwort interpretiert werden könne. Er senkte den Kopf, hob ihn jedoch wieder, als ihm einfiel, daß dies nicht seiner Würde entsprach. Er hielt in der Bewegung inne, räusperte sich. Was für eine erstaunliche Frau, dachte er. Gwen schob die Mappe über den Tisch Leo Prim, dem Leiter der graphischen Abteilung, zu. »Sagen Sie mir«, wandte sie sich dann an Owling, »warum ist der Raumanzug so sperrig?« Leo Prim, der die Mappe aufgeschlagen hatte, begann zu
kichern. »Erstaunlich, nicht wahr?« rief Gwen ihm zu. Jemand am oberen Ende des Tisches fragte: »Was ist erstaunlich?« Gwen fragte Owling: »Diesen Raumanzug hat wohl irgendein Raumingenieur entworfen, der glaubte, alles Weibliche, Brüste und so, betonen zu müssen.« Sie wandte sich an die Finnister. »Und Sie haben eine Untersuchung angestellt, warum die Frauen das Ding nicht mögen?« Die Finnister nickte. Ihr versagte die Sprache. »Die Mühe hätte ich Ihnen ersparen können«, sagte Gwen. »Ein Grund mehr, in Zukunft besser auf Experten wie mich zu hören. Keine vernünftige Frau würde in so etwas hineinsteigen. Sie würde sich dick vorkommen… sie würde sich nackt fühlen.« Gwen schüttelte den Kopf. »Freud! Was für ein Monstrum!« Owling befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. »Äh, der Anzug muß genügend Schutz gegen Strahlungen bieten, und er muß beweglich bleiben unter extremem Druck und bei extremen Temperaturen«, erklärte er. »Er kann nicht kleiner gemacht werden, wenn ein Mensch hineinpassen soll.« »Okay«, sagte Gwen. »Mir kommt eine Idee.« Sie schloß die Augen, dachte: Diese Militärfaxen kommen mir vor wie brütende Enten. Fast eine Schande, sie abzuschießen. Sie öffnete die Augen, warf einen Seitenblick auf Battlemont. Seine Augen waren geschlossen. Er schien zu beten. Es könnte auch der Ruin des armen André und seiner sauberen Gesellen sein. Was für eine exemplarische Sammlung von Würgern! Nun, daran kann man nichts ändern. Wenn Gwen Everest ausbricht, dann bricht sie aus mit Glanz und Gloria! Mit fliegenden Fahnen! Ohne Rücksicht auf Verluste! »Nun?« sagte Owling. Erster Schuß!, dachte Gwen. Sie sagte: »Vermutlich haben Sie Spezialisten, Experten, die uns in technischen Details beraten können?«
»Sie stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung«, erwiderte Owling. Battlemont öffnete die Augen, starrte Gwen in den Nacken. Ein Hoffnungsstrahl schimmerte am Rande seiner Panik. War es möglich, daß Gwen die Sache ernsthaft anging? »Ich brauche auch alle Ergebnisse der psychologischen Tests über die Merkmale der idealen FRAK«, sagte Gwen. »Gibt es so etwas wie eine beste FRAK?« »Ich glaube nicht, daß ich in meiner ganzen Karriere je so anmaßend behandelt worden bin«, zischte die Finnister. »Ich bin nicht ganz sicher…« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach sie Owling. Er sah Gwen, die ihn anlächelte, prüfend in die Augen. Der Bericht besagte, diese Frau sei »wahrscheinlich ein Genie«, und müsse mit Einfühlungsvermögen behandelt werden. »Ich bedaure nur, daß das Gesetz uns nicht das Recht gibt, Frauen einzuziehen«, erklärte Owling. »Dann hätten Sie dieses Problem nicht?« fragte Gwen. »Vielleicht«, erwiderte Owling. »Doch wir haben es nun einmal, und Ihre Agentur ist auserwählt worden, weil sie nach unseren Ermittlungen am ehesten in der Lage ist, es zu lösen.« »Irren Sie sich da nicht?« fragte Gwen. »Kaum«, antwortete Owling. »Sie sind also entschlossen, die Sache dieser Agentur zu übertragen und…« Die Finnister unterbrach sich und legte, mit steifen Armen, beide Hände flach auf den Tisch. »Es erscheint mir ratsam«, sagte Owling. Er dachte: Diese Gwen Everest wird unser Problem lösen. Es gibt kein Problem, das sie nicht lösen könnte! General Owling war Gwenophile geworden. »Nun gut«, schnarrte die Finnister. »Ich behalte mir meine Entscheidung vor.« General Finnister war Gwenophobin geworden. Was zu Gwen Everests Programm gehörte.
»Ich nehme an, Sie werden uns für technische Konsultationen von Zeit zu Zeit zur Verfügung stehen«, sagte Gwen. »Unsere Untergebenen befassen sich mit den Einzelheiten«, sagte Owling. »General Finnister und ich sind nur an dem Gesamtbild interessiert, an dem Schlüssel zu dem Puzzlespiel.« »Gesamtbild… Schlüssel zu dem Puzzlespiel…« murmelte Gwen vor sich hin. »Ein interessanter Vergleich.« »Wie?« Owling sah sie verwirrt an. »Ach, nichts«, erwiderte Gwen. »Ich habe nur laut gedacht.« Owling erhob sich, schaute die Finnister an. »Sollen wir gehen?« Die Finnister erhob sich ebenfalls, wandte sich der Tür am Ende des Saales zu. »Ja!« Im Gleichschritt marschierten sie, jeder auf einer Seite des Tisches, die Längsseite des Raumes hinunter: Tam-ta, Tam-ta, Tam-ta, Tam-ta. Als sie die Tür erreichten und Owling sie öffnete, sprang Gwen auf. »Zurück Marschmarsch!« rief sie. Die beiden Offiziere erstarrten, schickten sich an, kehrt zu machen, besannen sich aber eines Besseren. Sie gingen hinaus, die Tür hinter sich zuknallend. In die darauffolgende Stille sagte Battlemont mit klagender Stimme: »Gwen, warum richtest du uns zu Grunde?« »Ich euch zu Grunde richten? Sei nicht albern!« »Aber, Gwen…« »Bitte, sei jetzt still, André. Du unterbrichst meinen Gedankenfluß.« Sie wandte sich an Leo Prim. »Leo, nehmen Sie die Skizzen und sämtliche Unterlagen der fettbrüstigen Berta, die sie entworfen haben. Ich wünsche, daß sie ausgeführt werden… Plakate, Raumbilder, das ganze Programm für die Kampagne.« »Dicke Berta, Plakate, Raumbilder, das ganze Programm!« erwiderte Prim. »Okay!«
»Gwen, was tust du?« fragte Battlemont. »Du hast doch gesagt, daß…« »Du redest Unsinn, André«, sagte Gwen. Sie schaute zur Decke. Ein Auge eines der Cellinischen Cupidos blinzelte ihr gläsern zu. »Wir haben doch die üblichen Aufnahmen von dieser Besprechung gemacht, nehme ich an?« »Natürlich«, erwiderte Battlemont. »Nehmen Sie diese Aufnahmen, Leo«, sagte Gwen. »Stellen Sie aus ihnen eine Sequenz zusammen, die nur General Sonnet Finnister zeigt.« »Okay«, sagte Prim. »Eine Sequenz ausschließlich von General Finnister. Was soll besonders betont werden?« »Die Uniform. Alle Einzelheiten der Uniform«, antwortete Gwen. »Und die Mütze, Freud! Vergessen Sie die Mütze nicht!« Battlemont jammerte: »Ich verstehe nicht.« »Gut«, sagte Gwen. »Leo, schicken Sie mir Restivo und Jim Spark… und noch einige von Ihren besten Zeichnern. Wir werden…« »Ich protestiere«, rief Battlemont aus. »Das ist Selbstmord!« Gwen wandte den Kopf zur Seite, schaute auf ihn hinunter. Es war so selten, daß Battlemont etwas sagte, das sie überraschte. Kann unser guter André wirklich menschlich empfinden? fragte sie sich. Nein!… Ich glaube, ich werde sentimental. Sie sagte: »André, du legst besser eine Meditationspause ein, bevor wir die nächste Besprechung ansetzen. Geh, sei ein guter Junge.« Wenn sie mich früher verspottete, war es immer wie ein Scherz zwischen uns, dachte Battlemont traurig. Aber jetzt will sie mir weh tun. Seine Sorge galt jetzt Gwen, nicht der Agentur. Meine Gwen braucht Hilfe. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Gwen fuhr fort: »Versuche einmal die neue Interdorma-Meditationsnische. Sie garantiert erquickenden Schlaf.«
»Ich ziehe es vor wach zu bleiben während unserer letzten gemeinsamen Stunden«, sagte Battlemont. In seiner Kehle stieg ein Schluchzer hoch. Er stand auf, um seine Bewegung zu verbergen, sah Gwen mit verzweifeltem Blick an. »Ich spüre die Zukunft wie ein großes wildes Tier über uns kommen.« Er wandte ihr den Rücken zu, verließ den Saal durch seine Privattür. »Ich frage mich, was der arme Junge wohl damit gemeint haben kann«, bemerkte Gwen. Prim sagte: »Dies ist der Monat des hl. Freud. Sie haben’s mit dem zweiten Gesicht, mit der außersinnlichen Wahrnehmung und ähnlichen Dingen.« »Ach ja, natürlich«, sagte sie. »Ich habe die Broschüre ja selbst geschrieben.« Doch sie war bestürzt über Battlemonts Abgang. Er sah so mitleiderregend aus, dachte sie. Was wäre, wenn der Schuß nach hinten losging und er tatsächlich eingezogen würde? Es war möglich. Leo und die übrigen dieser Würger würden es verkraften. Aber André… Sie gab sich innerlich einen Ruck. Es war zu spät, kehrt zu machen. Die Abteilungsleiter am Tisch begannen Gwen zu bedrängen. »Sagen Sie, Gwen, wie ist es mit der Produktion von…« »Wenn ich meine Termine einhalten soll, brauche ich…« »Sollen wir unsere anderen Projekte zurückstellen?« »Ruhe!« brüllte Gwen. Sie lächelte sanft in die plötzlich eingetretene Stille. »Ich werde mit jedem von Ihnen einzeln sprechen, so bald Sie sich beruhigt haben. Eins nach dem andern. Das Wichtigste ist, wir lösen das Problem. Und das werden wir schaffen mit vereinten Kräften… wie immer!« Und sie dachte: Ihr armen Trottel! Ihr merkt nicht einmal, wie nahe Ihr eurem Untergang seid. Ihr glaubt, Gwen schmeißt den Laden wieder einmal. Aber Gwen denkt nicht daran. Gwen hat keine Lust mehr. Gwen dankt ab mit fliegenden Fahnen. In das Tal des Todes ritten die
sechshundert! Oder waren es vierhundert?… Gleichgültig! Der Krieg ist die Hölle. Ich bedaure nur, daß ich nur ein Leben hinzugeben habe für meine Agentur. Gebt mir die Freiheit oder schickt mich zu den FRAKs! Leo Prim sagte: »Sie wollen also die beiden Militärs mit ihren eigenen Waffen schlagen?« »Nach allen Regeln der Kriegskunst«, erwiderte Gwen. »Keine Überlebenden! Keine Gefangenen! Kampf bis aufs Messer!« »Es lebe General Gwen Everest!« rief Prim. »Hoch! Hoch! Hoch!« Gwen erschrak, als alle einstimmten. »An die Arbeit!« rief sie in die euphorische Stimmung. Sie mußte hier heraus. Ihr war übel. Der Funke ihrer Rebellion hatte gezündet. Alle diese Würger betrachteten sie als ihresgleichen, zogen sie zu sich herab in ihre schmutzige kleine Welt. Wut packte sie. Sie verspürte den Wunsch, um sich zu schlagen, zu treten, zu kratzen, zu beißen. Stattdessen lächelte sie starr. »Entschuldigung! Darf ich durch? Danke! Verzeihung!« Und ein Bild André Battlemonts drängte sich in ihr Bewußtsein. So ein bedauernswerter armer Bursche. So… nun… süß. Verdammt! Süß?… Ja, auf eine verächtliche Weise. Fünfundzwanzig Tage vergingen. Fünfundzwanzig Tage des Plätscherns in einem Teich der Verwirrung. Gwen war in ihrem Element. Mit fieberhafter Begeisterung widmete sie sich der Lösung des Problems. Es sollte der triumphale Grabstein ihrer Karriere sein, ihre Unterschrift unter die Bankerotterklärung einer Branche, einer Epoche. In der Agentur wimmelte es von technischen Experten der Militärbehörden. Experten für optimale Beweglichkeit des Raumanzugs, für Strahlenschutz, für Druckausgleich, für Abfallbeseitigung, für Miniaturantriebselemente. Ferner ein Schlosser, dessen Aufgabe vorläufig noch ein Geheimnis war,
ein Fachmann für einen neuen veränderbaren Plastikstoff, der von der Westküste eingeflogen werden mußte. Und zahlreiche Modeexperten, mit denen nur Gwen verhandelte. Es wurde auf Gwens Anweisung streng darauf geachtet, daß jeder der militärischen Experten nur das sah, was in sein spezielles Fach schlug, daß keiner ein Gesamtbild gewinnen konnte. Es kam der Tag der großen Enthüllung. Angrenzend an ihr Büro verfügte Gwen über einen etwa zehn Quadratmeter großen Vorführraum, den sie ihr »Einschüchterungskabinett« nannte. Der Raum war im Stil Louis XV. gehalten: zierliche Stühle, zerbrechliche kleine Tische, mit Kristallzapfen behangene Lämpchen, zartfarbige Cherubsfiguren auf den Wandpaneelen. Die Stühle sahen aus, als müßten sie unter dem Gewicht eines mittelgroßen Mannes zusammenbrechen. Sie hatten alle (mit Ausnahme des gepolsterten Thronsessels für Gwen, der hinter einem drehbaren Paneel bereit gehalten wurde) Sitzflächen, die sich nach vorn neigten, so daß die auf den Stühlen Sitzenden langsam, aber stetig abrutschten. Keines der Tischchen hatte eine Platte, die groß genug war, um Platz zu bieten für einen Notizblock und einen Aschenbecher. Einer der beiden Gegenstände mußte auf den Knien balanciert oder auf den Fußboden gestellt oder gelegt werden, was zu gelegentlichen Blicken auf den Teppich zwang. Das Muster des Teppichs übte auf den uneingeweihten Beschauer eine wohlberechnete beunruhigende Wirkung aus: er hatte das Gefühl, in einem Goldfischglas auf dem Kopf zu stehen. General Owling saß auf einem der Trickstühle. Er bemühte sich, nicht auf den Cherub zu starren, der ihm gegenüber die Mitte eines Wandpaneels einnahm, rechts von André Battlemont, der einen kranken Eindruck machte. Owling schob sich auf seinem Stuhl nach hinten. Er warf einen Seitenblick auf General Finnister. Sie saß zu seiner Rechten
hinter einem dünnbeinigen Tischchen. Sie zog ihren Rock herunter, als sie seinen Blick spürte. Er fragte sich, warum sie so weit vorne saß auf ihrem Stuhl. Diese verdammten unbequemen kleinen Stühle! Er stellte fest, daß Battlemont in einem der großen Sessel aus dem Konferenzsaal saß. Owling fragte sich, warum sie nicht alle diese großen, soliden Sessel hatten. Und außerdem, warum fand diese Besprechung nicht in dem feierlichen Konferenzsaal statt? Es war doch der Tag der großen Enthüllung. Er schaute hinüber zu dem Cherub in dem Wandpaneel. Verdammter alberner Cherub! Er blickte hinunter auf den Teppich, blinzelte verwirrt, riß sich los von dem schwindelerregenden Bild. Die Finnister hatte auf den Teppich geschaut, als sie hereinkam, und beinahe das Gleichgewicht verloren. Jetzt hütete sie sich, wieder nach unten zu blicken. In ihrem Gehirn brodelten beunruhigende Gedanken. Die Berichte der einzelnen Experten hatten kein Gesamtbild ergeben. Es war wie ein Puzzlespiel mit Teilen aus verschiedenen Spielen. Sie schob sich auf ihrem Stuhl nach hinten. Was für ein ungemütlicher Raum. Ihre Intuition sagte ihr, daß er mit Absicht ausgewählt worden war. Ihre latente Wut auf Gwen Everest flammte auf. Wo ist diese Person? Battlemont räusperte sich, schaute zu der Tür hinüber, durch die Gwen jeden Augenblick hereinkommen sollte. Mußte sie immer zu spät kommen? Gwen hatte ihn seit Wochen gemieden. Und an diesem Morgen hatte sie ihn plötzlich aufgefordert, die Hauptrolle bei ihrer kleinen Show zu übernehmen, die Galionsfigur der Agentur zu spielen. Er wußte auch ziemlich genau, was sie tun würde, äußerlich, im physischen Sinne. Sie mochte fähig sein, ihr Geheimnis vor den andern Mitarbeitern zu wahren, aber André Battlemont hatte seinen eigenen Nachrichtendienst. Doch was in ihrem
Hirn vorging, dessen war er nicht sicher. Er wußte nur, daß es ungewöhnlich war, ungewöhnlich sogar für Gwen. Die Finnister sagte: »Unsere Techniker haben uns informiert, daß Sie großes Interesse gezeigt haben…« sie rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten… »für die Eigenschaften eines neuen veränderbaren Plastikstoffes.« »Das stimmt«, sagte Battlemont. »Warum?« fragte Owling. »Äh… vielleicht warten wir besser auf Miss Everest«, sagte Battlemont. »Sie bringt einen Raumbildprojektor mit.« »Sie haben bereits Prototypen?« fragte Owling. »Ja.« »Gut. Wieviel Mannequins?« »Eins. Unsere Empfangsdame. Hübsches Mädchen.« »Wie?« Die Finnister und Owling stießen das gleichzeitig aus. »Oh! Sie meinen… das heißt, wir haben das eine, um Ihnen zu zeigen… es sind in Wirklichkeit zwei… doch nur eins davon…« Er zuckte die Achseln, unterdrückte einen Seufzer. Die Finnister und Owling sahen sich an. Battlemont schloß die Augen. Gwen, bitte, beeile dich! Er dachte an die Lösung des Problems der Militärs, begann zu zittern. Die Grundidee war natürlich vernünftig, psychologisch richtig begründet. Aber die Militärs würden nie darauf eingehen, speziell dieser weibliche General nicht, der einen Gang hatte wie ein Kasernenhofspieß. Battlemont riß die Augen auf, als er hörte, wie eine Tür aufging. Gwen kam herein, einen fahrbaren Projektionsapparat vor sich herschiebend. Blicke gegenseitiger Abneigung schossen hin und her zwischen Gwen und der Finnister, verwandelten sich aber sofort in breites Lächeln. »Guten Morgen, alle zusammen«, rief Gwen fröhlich in die Runde. Gefahrensignal!, dachte Battlemont. Sie ist wahnsinnig! Sie ist… Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Vielleicht ist sie wirklich… Wir verlangen zuviel von ihr.
»Wir sind sehr begierig zu sehen, was Sie für uns haben«, sagte Owling. »Wir waren gerade im Begriff, Sie um einen Zwischenbericht zu bitten, als Sie diese Besprechung einberiefen.« »Wir wollten erst etwas in den Händen haben, das Sie als Techniker beurteilen können«, erwiderte Gwen. Owling nickte. Die Finnister sagte: »Unsere Leute haben uns berichtet, Sie seien sehr schweigsam gewesen in Bezug auf Ihre Arbeit. Warum?« »Die Wände haben Ohren. Reden ist Silber… und so weiter… Sie wissen ja.« Gwen brachte den Projektor in der Mitte des Raumes in Stellung, nahm das Fernbedienungsgerät an sich und ging zu einem Paneel, das sich auf einen Knopfdruck um seine Vertikalachse drehte und ihren Sessel herausschwang. Sie setzte sich, das Gesicht der Finnister und Owling zugewandt. Sekunden vergingen, während sie fasziniert auf die Knie der Finnister starrte. »Gwen!« flüsterte Battlemont ihr zu. Die Finnister zupfte an ihrem Rocksaum. »Was haben Sie uns zu zeigen«, fragte Owling. Er schob sich auf seinem Stuhl nach hinten. »Zunächst«, sagte Gwen, »wollen wir die Motivationsaspekte unseres Problems untersuchen. Wir müssen uns fragen: Was erwarten junge Frauen, wenn sie sich zum Raumfahrtdienst melden?« »Klingt vernünftig«, bemerkte Owling. Die Finnister nickte, ihre Abneigung gegen Gwen aus Neugierde vergessend. »Sie erwarten mehrere Dinge«, fuhr Gwen fort. »Reisen… Abenteuer… das Märchen vom fahrenden Ritter und so weiter. Halali!«
Battlemont, die Finnister und Owling erstarrten in gespannter Erwartung. »Man stößt auf erstaunliche Ergebnisse, wenn man länger über diese Dinge nachdenkt«, murmelte Gwen. »Alle diese Frauen suchen etwas. Sie suchen die Befreiung vom Alltag, die Reise ins Ungewöhnliche, das Wunder am Ende des Regenbogens.« Ihre Worte fielen auf fruchtbaren Boden, stellte Gwen fest, als die beiden Generäle fast gegen ihren Willen zustimmend nickten. Sie hob die Stimme: »Sie wissen… das alte Karussell! Die Jagd nach dem Glück!« Battlemont sah sie traurig an. Sie ist wahnsinnig geworden. O meine arme, arme Gwenny. Owling stammelte: »Ich… äh…« »Aber im Grunde wollen sie alle nur eins!« rief Gwen aus. »Und was ist das? Es ist das romantische Erlebnis! Das ist es. Und was ist diese Romantik im Unterbewußtsein? Diese Romantik ist Sex!« »Ich glaube, ich habe genug gehört«, zischte die Finnister, »Nein«, sagte Owling. »Lassen Sie uns… äh… ich bin sicher, das ist nur die Einleitung. Ich möchte schließlich das Modell… die Modelle sehen, die sie entworfen haben…« »Und was ist Sex, wenn man ihn all seines romantischen Flitters entkleidet?« bohrte Gwen weiter. »Was sind seine psychologischen Wurzeln? Was steckt dahinter?« Owling kratzte sich am Hals, starrte sie an. Er war grundsätzlich mißtrauisch gegenüber subjektiven Ideen, mußte jedoch immer gegen die Furcht ankämpfen, daß sie richtig sein könnten. Einige von ihnen schienen zu funktionieren. »Ich will Ihnen sagen, was dahintersteckt«, murmelte Gwen. »Mutterschaft. Ein Heim. Sicherheit bei einem Mann. Die Fahne.« Owling dachte: Das klingt alles so vernünftig… außer daß… »Und was tut Ihr Raumanzug?« fragte Gwen. »Er schließt die Frauen ein in einen sexlosen Panzer aus Metall und
Plastik, in dem kein Mann an sie rankann. Großer Freud! Die Männer können sie nicht einmal sehen in diesen Dingern!« »Frauen wollen nicht, daß Männer an sie rankönnen«, bellte die Finnister. »Das ist das Widerlichste, das ich je…« »Einen Augenblick«, sagte Gwen. »Eine normale Frau wünscht immer diese Möglichkeit. Und sie wünscht, daß diese Möglichkeit ihrer Kontrolle unterliegt. Sie haben diese Möglichkeit ausgeschaltet. Sie haben ihr die Kontrolle aus der Hand genommen, haben Ihre Frauen den Elementen preisgegeben, vom kalten, männlichen, plötzlichen und endgültigen Tod nur getrennt durch eine dünne Schicht von Metall und Plastik.« Battlemont starrte sie hilflos an. Arme Gwen. Das ist das Ende. Nie wird sie diese Idee verkaufen. Und wir alle werden mit ihr zu Grunde gehen. Die Finnister starrte Gwen wütend an, noch immer verletzt durch das anzüglich ausgesprochene Wort normal. »Wie gedenken Sie, diese… äh… Hindernisse zu umgehen?« fragte Owling. »Sie werden es sehen«, erwiderte Gwen. »Kommen wir nun zum Kern des Problems. Sie erinnern sich, der geheime Wunsch der Frau ist es, davonlaufen zu können mit der Gewißheit, daß sie eingeholt wird. Sie wünscht sich ein gewisses Maß an Enthüllung als Frau, ohne sich dessen schämen zu müssen.« Die Finnister räusperte sich zweifelnd. Gwen lächelte ihr unbefangen ins Gesicht. Gwen vernichtet sich selbst mit Absicht und uns mit ihr, dachte Battlemont. »Sehen Sie, was fehlt?« fragte Gwen. »Äh… hm… hm… äh…« stammelte Owling. »Ein universales Symbol!« erklärte Gwen. »Ein kühnes Symbol. Ein Symbol!« »Was schlagen Sie vor?« fragte Owling.
Gwen richtete sich in ihrem Sessel auf, ließ ihren Blick triumphierend in der Runde kreisen und sagte mit dem unbefangensten Lächeln der Welt: »Mein Symbol ist ein Schlüssel!« Die Finnister und Owling riefen gleichzeitig aus: »Ein Schlüssel?« »Ja. Zwei Schlüssel in Wirklichkeit. Der Symbolgehalt ist nicht zu übersehen.« Sie zog zwei Schlüssel aus ihrer Jackentasche, hielt sie hoch. »Wie Sie sehen, ist der eine Schlüssel grob, kantig… ein männlicher Schlüssel. Der andere hat geschwungene Konturen, ist zierlicher, mehr…« »Wollen Sie damit sagen«, brauste Owling auf, »Sie haben all diese Wochen damit verbracht, die vielen Konsultationen mit uns veranstaltet, und kommen uns jetzt mit… mit…« Unfähig weiterzusprechen, deutete er heftig auf die Schlüssel. Gwen bewegte den Kopf langsam von einer Seite zur andern. »Oh nein. Denken Sie daran, dies sind nur Symbole. Sie sind natürlich wichtig. In jeden Schlüssel wird der Name der Person eingraviert, die ihn bekommt.« »Wozu sind die Schlüssel?« fragte die Finnister, gegen ihren Willen fasziniert. »Für die Raumanzüge natürlich«, erwiderte Gwen. »Diese Schlüssel schließen Ihre Leute in den Raumanzug ein… Männer und Frauen.« »Schließen Sie ein?« protestierte die Finnister. »Sie haben doch gesagt…« »Ich weiß«, erwiderte Gwen. »Aber, sehen Sie, ein Schlüssel, der jemand in etwas einschließt, wird ihn auch herauslassen. In Wirklichkeit wird jeder Schlüssel jeden Raumanzug öffnen. Das muß sein aus Gründen der Sicherheit.« »Aber sie können aus ihren Raumanzügen nicht heraus, wenn sie im Raum sind!« rief Owling empört aus. »Das ist…«
»Das stimmt!« sagte Gwen. »Sie können in Wirklichkeit nicht heraus. Also geben wir ihnen das Symbol dafür, daß sie es können, ein Symbol, das sie austauschen können.« »Austauschen?« fragte die Finnister. »Ja. Ein Astronaut sieht eine Astronautin, die ihm gefällt. Er fordert sie auf, die Schlüssel mit ihm zu tauschen. Das ist sehr romantisch, symbolisiert Dinge, die geschehen können, wenn sie auf die Erde zurückkehren oder auf einer Basis landen, wo sie aus den Anzügen herauskönnen.« »Miss Everest«, sagte die Finnister, »wie Sie so zutreffend erläutert haben, kann kein Astronaut unsere Frauen in diesem Anzug sehen. Und selbst wenn er es könnte, glaube ich nicht, daß er…« Sie erstarrte sprachlos. Gwen hatte eine Taste der Projektorfernbedienung gedrückt. Ein Raumanzug schien in der Mitte des Zimmers in der Luft zu hängen. In dem Anzug stand, bekleidet mit einer die Formen betonenden engen Jacke, die busenstarke Empfangsdame der Agentur. Der Raumanzug, in dem sie steckte, war von der Hüfte aufwärts durchsichtig. »Die untere Hälfte bleibt immer undurchsichtig«, erklärte Gwen. »Aus Gründen der Sittsamkeit. Die obere Hälfte jedoch…« Gwen drückte eine andere Taste. Die durchsichtige obere Hälfte des Raumanzugs verschwamm, wurde dunkel, bis sie das Modell vollkommen verbarg. »Um nicht gesehen zu werden, wenn sie es nicht wünscht«, sagte Gwen. »Hierfür haben wir das neue veränderbare Plastikmaterial verwendet. Es verleiht der Frau eine gewisse Kontrolle über ihre Umgebung.« Gwen drückte wiederum die erste Taste. Die obere Hälfte des Modells wurde sichtbar. Die Finnister starrte mit offenem Mund auf die knappsitzende Uniformjacke. Gwen stand auf, nahm einen Zeigestock, trat zu dem Raumbild. »Diese Uniform wurde von einem führenden
Couturier entworfen. Sie soll enthüllen, wo sie verbirgt. Eine Frau mit nur mäßiger Figur wird vorteilhaft in ihr erscheinen. Eine Frau mit guter Figur gewinnt zusätzlich, wie Sie sehen können. Schlechte Figuren…« Gwen hob die Schultern… »nun, es gibt gymnastische Übungen, sie zu entwickeln. So hat man mir wenigstens gesagt.« Die Finnister unterbrach sie mit schneidender Stimme. »Und was sollen wir Ihrer Meinung nach mit dieser Uni… mit diesem Kleidungsstück tun?« »Es wird die reguläre Uniform für die FRAKs sein«, erwiderte Gwen. »Und dazu eine freche kleine Kappe, sehr sexy.« Battlemont sagte: »Vielleicht kann der Wechsel langsam vorgenommen werden, so daß…« »Welcher Wechsel?« fragte die Finnister. Sie sprang auf. »General Owling!« Owling riß seinen Blick von dem Mannequin. »Ja?« Battlemont dachte: Ich wußte es. Oh, meine arme Gwenny! Sie werden sie vernichten. Ich wußte es. »Wir können unsere Zeit nicht länger an diese Agentur verschwenden. Kommen Sie, General.« »Warten Sie!« bettelte Battlemont. Er sprang auf. »Gwen, ich habe dir gesagt…« Die Finnister bemerkte: »Es ist bedauerlich, aber…« »Vielleicht sind wir etwas voreilig«, sagte Owling. »Es läßt sich vielleicht doch etwas machen aus dieser…« »Ja!« rief Battlemont aus. »Ein wenig Zeit ist alles, was wir brauchen, um einen neuen…« »Ich glaube nicht«, sagte die Finnister. Gwen sah sie alle der Reihe nach lächelnd an, dachte: Was für eine Galerie trauriger Gestalten! Sie fühlte sich ein wenig betrunken, so euphorisch, als käme sie aus einer »Stimmungsbar«. Rebellion ist wunderbar! Es lebe Irland! Oder sonst was.
Owling hob und senkte die Schultern, dachte: Wir müssen zusammenstehen gegen die Zivilisten. General Finnister hat recht. Aber schade ist es doch. Auch er stand auf. »Nur ein kleines bißchen Zeit«, bettelte Battlemont. Schade um André, dachte Gwen. Sie hatte einen Einfall, sagte: »Einen Augenblick, bitte.« Zwei Augenpaare richteten sich auf sie. Die Finnister sagte: »Wenn Sie glauben, Sie könnten uns davon abhalten, unsere Drohung wahrzumachen, dann irren Sie sich. Ich bin mir vollkommen klar darüber, daß Sie diese… dieses Kleidungsstück entworfen haben, um mich häßlich aussehen zu lassen.« »Warum nicht?« fragte Gwen. »Ich habe Ihnen nur angetan, was Sie praktisch allen andern Frauen im FRAK angetan haben.« »Gwen!« jammerte Battlemont entsetzt. »Sei still, André«, sagte Gwen. »Es ist ohnehin nur eine Sache der Zeit. Heute… morgen… nächste Woche. Es ist nicht wichtig.« »Oh, meine arme Gwenny«, schluchzte Battlemont. »Ich hatte die Absicht zu warten«, sagte Gwen. »Vielleicht eine Woche. Zumindest so lange, bis ich meine Kündigung einreiche.« »Von was reden Sie?« fragte Owling. »Kündigung!« hauchte Battlemont. »Ich kann doch den armen André nicht diesen Wölfen vorwerfen«, sagte Gwen. »Die übrigen von unsern Männern, ja. Wenn sie einmal unter Ihnen sind, werden sie ohnehin mit Ihnen heulen.« »Von was reden Sie?« fragte die Finnister. »Die übrigen Männer dieser Agentur können selbst auf sich aufpassen… und Sie auch«, erwiderte Gwen. »Wölfe unter Wölfen! André jedoch ist hilflos. Alles, was er besitzt, ist seine
Stellung… Geld. Setzen Sie ihn auf einen Posten, wo Geld und Stellung weniger wichtig sind, und es bringt ihn um.« »Bedauerlich«, bemerkte die Finnister. »Sollen wir gehen, General Owling?« »Ich hatte die Absicht, Sie beide zu ruinieren«, sagte Gwen. »Aber ich werde Ihnen etwas sagen. Sie lassen André in Frieden, und ich werde nur einen von Ihnen ans Messer liefern.« »Gwen, was redest du da?« stammelte Battlemont. »Ja, was reden Sie da?« zischte die Finnister. »Erklären Sie sich näher.« »Ich möchte nur die Hackordnung bei Ihnen kennen«, sagte Gwen. »Wer von Ihnen beiden steht höher im Rang?« »Was hat das mit dieser Sache zu tun?« fragte die Finnister. »Einen Augenblick«, sagte Owling. »Da ist dieser vertrauliche Bericht.« Er sah Gwen lauernd an. »Ich bin informiert worden. Sie hätten ein Schaubild nach dem Testmodell gemacht, das wir hergestellt haben, bevor wir uns an Sie wandten.« »Die Dicke Berta«, sagte Gwen. »Und es handelt sich nicht nur um ein Schaubild. Ich habe alles, was nötig ist für eine überregionale Kampagne. Sehen Sie!« Ein Raumbild des starkbusigen Testmodells trat an die Stelle des durchsichtigen Raumanzugs, der in der Mitte des Zimmers in der Luft schwebte. »Die Idee für diese Dicke Berta stammt von General Owling«, sagte Gwen. »Meine Kampagne stellt diese Tatsache fest und zeigt dann ein Zeichentrickmodell der Dicken Berta in Bewegung. Ein schauerlicher Anblick. Das komischste, was die Welt je sah. General Owling, die ganze Nation wird wochenlang über Sie lachen, wenn ich mit meiner Kampagne beginne.« Owling trat einen Schritt vor. Battlemont sagte: »Sie werden dich vernichten!« Owling deutete auf das Schaubild. »Sie werden es nicht wagen!«
»Ich werde es wagen«, sagte Gwen, ihn anlächelnd. Battlemont packte Gwen am Arm. Sie schüttelte ihn ab. »Vermutlich sind Sie fähig, diese Drohung wahr zu machen«, sagte die Finnister. »Bedauerlicherweise.« Owling wandte sich mit einer plötzlichen Drehung an die Finnister. »Wir müssen zusammenstehen!« sagte er verzweifelt. »In der Tat«, sagte Gwen. Sie drückte eine andere Taste an dem Fernbedienungsgerät. Ein Raumbild von General Finnister in ihrer berühmten Uniform trat an die Stelle der Dicken Berta. »Sie können eben so gut die ganze Geschichte erfahren«, sagte Gwen. »Ich habe alles vorbereitet für eine zweite Kampagne über die Entstehung dieser Uniform, von der Mütze über die Pelerine bis hinunter zu den Schuhen. Ich beginne mit einer Modellpuppe der Generalin, bekleidet mit dem Unterzeug. Dann zeige ich, wie jeder Teil der jetzigen FRAK-Uniform entworfen wurde für die Figur von… äh… General Sonnet Finnister.« »Ich werde Sie verklagen!« zischte die Finnister. »Tun Sie es. Tun Sie es.« Gwen sagte es mit einer einladenden Handbewegung. Sie handelt wie eine Betrunkene! dachte Battlemont. Aber sie trinkt doch nie! »Ich bin bereit, auf den Schwarzen Markt zu gehen mit dieser Kampagne«, sagte Gwen. »Sie können mich nicht aufhalten. Ich werde jede Behauptung, die ich aufstelle über diese Uniform, beweisen. Ich werde Sie bloßstellen. Ich werde zeigen, warum Ihre Freiwilligenwerbung versagt hat.« Das Gesicht der Finnister wurde rot. »Gut!« schnarrte sie. »Wenn Sie uns ruinieren wollen, können wir nichts dagegen tun. Aber merken Sie sich das eine, Miss Everest, wir werden alle Männer dieser Agentur zum Militärdienst einziehen. Und das werden Sie auf dem Gewissen haben. Und die Männer, die
wir einziehen, werden unter Freunden von uns dienen. Ich hoffe, Sie wissen, was das bedeutet!« »Sie haben keine Freunde«, erwiderte Gwen, aber ihre Stimme klang nicht überzeugt. Sie schlagen zurück, dachte sie. Zum Teufel, ich hätte nicht gedacht, daß sie die Herausforderung annehmen würden. »Vielleicht gibt es sogar etwas, das wir für Sie tun können«, sagte die Finnister. »Ein Erlaß des Präsidenten, der Sie aus Gründen nationaler Not zum Militärdienst verpflichtet. Oder eine Dringlichkeitsnovelle zu irgendeinem Gesetz. Und wenn wir Sie in die Hände bekommen, Miss Everest…« »André!« rief Gwen klagend aus. Alles glitt ihr aus den Händen. Ich wollte niemanden wehtun, dachte sie. Ich wollte nur… Battlemont war wie elektrisiert. In zweiundzwanzig Jahren hatte Gwen nie jemand um Hilfe gebeten. Und jetzt, beim erstenmal, wandte sie sich an ihn! Er trat zwischen Gwen und die Finnister, nahm Gwens Hand. »André ist bei dir«, sagte er zu ihr mit tröstender Stimme. Er fühlte sich stark wie nie. Seine Gwen hatte ihn zu Hilfe gerufen! Er fuhr herum, schrie die Finnister, ihr einen zitternden Finger unter die Nase haltend, mit bebender Stimme an: »Sie Mörderin!« »Hören Sie!« brauste Owling auf. »Das geht zu weit. Ich…« »Auch Sie sind ein Mörder!« bellte Battlemont. »Wir haben Film- und Tonaufnahmen von allen Besprechungen mit Ihnen, von der ersten bis zu dieser! Sie zeigen, was geschehen ist! Wissen Sie nicht, was mit dieser armen Frau los ist? Sie haben sie in den Wahnsinn getrieben!« Alle, einschließlich Gwen, riefen: »Wie?« »Sei still, Gwen«, sagte Battlemont. »Ich werde das erledigen.« Gwen konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. Battlemont war großartig. »Ja, André.« »Ich werde es beweisen«, sagte Battlemont. »Mit InterdormaPsychiatern. Mit allen Experten, die man kaufen kann. Sie
glauben, die Kampagnen, die unsere Gwen geplant hat, seien unsere letzten Waffen? Haha!« Er wandte sich an Owling. »Ich will Ihnen erklären, wie wir Sie erledigen werden. Wir werden beweisen, daß das Militär einen Bürger in den Wahnsinn treiben kann. Wir werden zeigen, wie Sie unsere arme Gwen Schritt für Schritt um den Verstand gebracht haben, weil sie Angst hatte um ihre Freunde, um mich!« Er schlug sich mit der Faust auf die Brust, wandte sich an die Finnister. »Und wissen Sie, was wir dann tun werden? Wir werden den Leuten sagen: Das kann auch Ihnen geschehen! Wer ist der nächste? Sie? Oder Sie?… Was geschieht dann mit Ihrem Geld vom Kongreß? Was geschieht dann mit Ihren Freiwilligmeldungen?« »Hören Sie«, sagte Owling. »Wir haben nicht…« »Wirklich nicht?« schnarrte Battlemont. »Glauben Sie immer noch, daß diese arme Frau noch bei Sinnen ist?« »Nun, aber wir haben nicht…« »Warten Sie unsere Kampagne ab, bevor Sie antworten«, sagte Battlemont. Er nahm Gwens Hand, tätschelte sie. »Schon gut, schon gut, Gwenny. André bringt das in Ordnung.« »Ja, André«, sagte sie. Es waren die einzigen Worte, die sie fand. Sie war wie betäubt. Er ist in mich verliebt, dachte sie. Nie zuvor hatte sie jemand gekannt, der sie liebte. Nicht einmal ihre Eltern hatten sie geliebt; ihnen war die Intelligenz ihres Kindes unheimlich gewesen. Gwen fühlte sich von ungewohnter Wärme durchströmt. In ihrem Hirn glitt ein neuer Gang ins Getriebe, knirschend, weil er so lange unbenutzt geblieben war. Sie dachte: Er liebt mich! Sie hatte den Wunsch, ihn zu umarmen. »Wir scheinen in eine Sackgasse geraten zu sein«, murmelte Owling. Die Finnister sagte: »Aber wir können doch nicht einfach…«
»Schweigen Sie!« unterbrach Owling sie im Kommandoton. »Er wird es tun. Sehen Sie das denn nicht?« »Aber wenn wir ihn einziehen…« »Er wird es dennoch tun! Er wird irgendeine andere Agentur kaufen, um sie die Kampagne führen zu lassen.« »Aber wir könnten auch sie…« »Sie können nicht alle einziehen, die nicht Ihrer Meinung sind, Weib! Nicht in diesem Land! Sie würden eine Revolution auslösen!« »Ich…« begann die Finnister und verstummte. »Und er würde nicht nur uns ruinieren«, fuhr Owling fort. »Den ganzen Raumfahrtdienst! Er würde uns an unserer empfindlichsten Stelle treffen, am Geld. Ich kenne diesen Typ. Er blufft nicht. Es wäre eine Katastrophe!« Owling schüttelte den Kopf, sah vor seinem geistigen Auge eine ganze Parade militärischer Projekte zusammenbrechen. »Sie sind ein intelligenter Mensch, General Owling«, sagte Battlemont. »Diese Psychologische Abteilung!« knurrte Owling. »Die mit ihren fabelhaften Ideen!« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß das alles Wirrköpfe sind«, bemerkte Gwen. »Du schweigst jetzt, Gwen«, sagte Battlemont. »Ja, André.« »Nun, was sollen wir tun?« fragte Owling. »Ich werde es Ihnen sagen«, erwiderte Battlemont. »Sie lassen uns in Frieden, und wir lassen Sie in Frieden.« »Aber was ist mit unseren Freiwilligen?« fragte die Finnister kleinlaut. »Sind Sie der Ansicht, daß unsere Gwen, ob krank oder gesund, Ihr Problem nicht lösen kann?« fragte Battlemont. »Ich sage Ihnen, für Ihre Freiwilligenwerbung werden Sie das vorgesehene Programm verwenden!«
»Werde ich nicht!« »Sie werden«, sagte Owling. »General Owling, ich weigere mich…« »Was geschieht, wenn ich dieses Problem dem Generalstab unterbreiten muß?« fragte Owling. »Wo wird das Köpferollen beginnen? Bei der Psychologischen Abteilung? Gewiß! Aber wer wird der nächste sein? Die Leute, die das Problem in der Praxis nicht lösen konnten!… Und wer ist das?« Die Finnister murmelte: »Aber…« »Im übrigen«, sagte Owling. »Miss Everests Ideen klangen ganz vernünftig, mit einigen Änderungen natürlich!« »Keine Änderungen«, sagte Battlemont. Er ist ein richtiger Napoleon, dachte Gwen. »Nur in kleinen, unwichtigen Details«, bettelte Owling. »Aus technischen Gründen.« »Vielleicht«, gab Battlemont nach. »Vorausgesetzt, daß wir die Änderungen bekanntmachen, bevor sie erfolgen.« »Ich bin sicher, daß dies möglich ist«, sagte Owling. Die Finnister gab auf, wandte ihnen den Rücken zu. »Eine Kleinigkeit noch«, sagte Battlemont. »Wenn Sie den Honorarscheck für die Agentur ausschreiben, denken Sie an einen Extra-Bonus für Miss Everest.« »Natürlich«, sagte Owling. »Natürlich«, wiederholte Battlemont. Als die Raumfahrtgeneräle gegangen waren, wandte sich Battlemont an Gwen, stampfte mit dem Fuß auf. »Du bist sehr böse gewesen, Gwen!« »Aber, André…« »Kündigen wolltest du!« sagte er mit vorwurfsvoller Stimme. »Aber…« »Oh, ich verstehe, Gwen. Es war meine Schuld. Ich habe zuviel von dir verlangt. Aber das ist Vergangenheit.« »André, du verstehst nicht…«
»Doch, ich verstehe sehr wohl. Du wolltest das Schiff versenken und mit ihm untergehen. Meine arme, liebe Gwen. Ein Todeswunsch! Wenn du nur besser auf unseren Interdormaferndeuter geachtet hättest.« »Ich wollte niemand hier im Hause weh tun, André. Nur diesen beiden…« »Ja, ja. Ich weiß. Du hast alles durcheinandergebracht.« »Das ist wahr.« Sie war dem Weinen nahe. Sie hatte nicht mehr geweint… seit… sie konnte sich nicht erinnern. »Weißt du«, sagte sie, »ich kann mich nicht erinnern, je geweint zu haben.« »Das ist es!« sagte Battlemont. »Ich weine die ganze Zeit. Du brauchst einen stabilisierenden Einfluß. Du brauchst jemand, der dich weinen lehrt.« »Würdest du es mich lehren, André?« »Ob ich…« Er wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du gehst in Urlaub. Sofort. Ich gehe mit dir.« »Ja, André.« »Und wenn wir zurückkommen…« »Ich will nicht zurück in die Agentur, André. Ich… ich kann nicht.« »Das ist es also!« sagte Battlemont. »Das Werbegeschäft. Du bist es leid.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin… ich kann keine Kampagne mehr machen. Ich kann einfach nicht.« »Du wirst ein Buch schreiben«, sagte Battlemont. »Wie?« »Es ist die beste Therapie«, erklärte Battlemont. »Habe es selbst einmal getan. Du wirst über das Werbewesen schreiben. Du wirst alle schmutzigen Tricks aufdecken… die Hypnoseeffekte, die unterschwelligen Bildeinschübe, die Praxis der Finanzierung von Lehrbüchern, um die eigene Werbung einzuschmuggeln, die Methoden der Programmierung von Du-Suchern. Alles.«
»Ich könnte es tun«, sagte sie. »Du wirst es ihnen allen zeigen«, frohlockte Battlemont. »Und ob ich es ihnen zeigen werde!« »Und du wirst es unter einem Pseudonym tun«, sagte Battlemont. »Das ist sicherer.« »Wann fahren wir in Urlaub, André?« »Morgen.« Seine alte Furcht überkam ihn. »Du machst dir nichts daraus, daß ich… häßlich bin wie ein…« »Du bist schön wie ein Erzengel«, unterbrach sie ihn. Sie glättete die wenigen Haare, die sich auf seiner Glatze kräuselten. »Und du machst dir nichts daraus, daß ich klüger bin als du?« »Oho!« Battlemont warf sich in die Brust. »Du magst klüger sein im Kopf, Liebling, aber du bist nicht klüger im Herzen!«
Originaltitel: A-W-F UNLIMITED. Übersetzt von Leopold Voelker.