Ich lebe. Irgendwie brach sich der Gedanke in Pavel Williamson Bahn. Er war entsetzt. Er war zur Hälfte begraben in etw...
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Ich lebe. Irgendwie brach sich der Gedanke in Pavel Williamson Bahn. Er war entsetzt. Er war zur Hälfte begraben in etwas Dichtem, Nachgiebigem, zur anderen Hälfte erstickt von würgendem Rauch. Außerdem war er in totaler Dunkelheit umhergetaumelt, bis ihm schwindlig wurde. Sein Kopf schmerzte fürchterlich; im Mund hatte er den Geschmack von Blut. Vom Gürtel abwärts tat ihm alles weh, und in seinem rechten Knöchel verspürte er einen stechenden Schmerz. Für sich gesehen waren diese kleineren Unannehmlichkeiten kein ausreichender Grund, daß er lieber hätte tot sein wollen. Aber es gab einen anderen, wichtigeren. Als Schiffsarzt, der nicht mit den Problemen der Navigation befaßt war, hatte er keine genaue Vorstellung, wo die Pennyroyal gewesen war, als eine gewaltige Explosion sie wie ein Hammerschlag erschüttert hatte.
DER EINFACHE AUSWEG von John Brunner und weitere moderne Science-Fiction-Stories von bekannten Autoren.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 3222 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dolf Strasser und Bernt Kling Umschlagillustration: ACE/Rochling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus BEST SCIENCE FICTION FOR 1972 Copyright © 1972 by Frederic Pohl Übersetzung © 1976 by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1976 Gesamtherstellung: Augsburger Druck‐ und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03222 2
Science‐Fiction‐Stories 58 von John Brunner Harlan Harrison H.H. Hollis Doris Piserchia Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
INHALT
John Brunner
DER EINFACHE AUSWEG Kein menschliches Wesen hatte das Recht, den Absturz der Pennyroyal zu überleben: Sie raste mit wahnwitziger Geschwindigkeit aus dem Weltall hinein in die Lufthülle, die flammende Fetzen aus ihrem Rumpf riß, hinein in einen fünfzig Kilometer langen, mit Felsen übersäten sandigen Hang, und schließlich mit dem hinteren Ende zuerst in eine riesige Düne, die sie abfing wie der Erdwall hinter der Zielscheibe eines Schießstandes. Wie durch ein Wunder löschte der Sand die Brände an Bord. Es hatte eine ganze Anzahl davon gegeben. Danach geschah eine ganze Weile nichts. Ich lebe. Irgendwie brach sich der Gedanke in Pavel Williamson Bahn. Er war entsetzt. Er war zur Hälfte begraben in etwas Dichtem, Nachgiebigem, zur anderen Hälfte erstickt von würgendem Rauch. Außerdem war er in totaler Dunkelheit umhergetaumelt, bis ihm schwindlig wurde. Sein Kopf schmerzte fürchterlich; im Munde hatte er den Geschmack von Blut. Vom Gürtel abwärts tat ihm alles weh, und in seinem rechten Knöchel verspürte er einen stechenden Schmerz. Für sich gesehen waren diese kleineren Unannehmlichkeiten kein ausreichender Grund, daß er lieber hätte tot sein wollen. Aber es gab einen anderen, wichtigeren. Als Schiffsarzt, der nicht mit den Problemen der Navigation befaßt war, hatte er keine genaue Vorstellung, wo die Pennyroyal gewesen war, als eine gewaltige Explosion sie wie ein Hammerschlag erschüttert hatte. Immerhin war er absolut sicher, daß der Planet, auf dem sie abgestürzt waren, ein anderer als der sichere Planet vom terranischen Typ war, auf dem sie hatten landen wollen. Deswegen konnten die Dämpfe, die ihn umwirbelten, sehr leicht etwas ganz anderes sein, nämlich die nicht atembare Atmosphäre eines fremden Planeten. In diesem Falle konnte er fast nichts – überhaupt
nichts – anderes tun, als sich zu fassen und auf einen gnadenvollen Tod zu warten. Er war kein berufsmäßiger Raumfahrer. Nur ein junger Arzt, der sich bei einem Raumfahrtunternehmen verdingt hatte, um ein wenig vom bewohnten Teil der Galaxis zu sehen, bevor er sich in einer ihm passenden Welt niederließ. Tatsache war, daß die autohypnotischen Methoden, deren sich manche Raumfahrer in Notfällen wie diesem bedienten, ihn beeindruckten. Er schloß die Augen – nicht daß er etwas wahrgenommen hätte, als sie noch offen waren, denn hier war es absolut dunkel – und begann, eine dieser Methoden zu rekonstruieren. Und hörte sofort auf. Ein schmetternder Krach! Kam da noch ein Teil des Wracks herunter? Fiel etwas auf eine dröhnende Stahlplatte? Wahrscheinlich… Nein! Mit einem Ruck fuhr er herum und verfluchte seinen verletzten Knöchel, indem er von neuem stechenden Schmerz verspürte. Nein, die Lärmwellen waren so regelmäßig gewesen – da waren sie wieder – eins, zwei, drei – Pause – eins, zwei, drei – Pause. Als schlüge ein Mann mit der Faust auf irgend etwas Hartes. Irgend jemand mußte unweit von ihm am Leben sein, das dämmerte ihm jetzt. Wenn irgend jemand anderer den Absturz überlebt hatte, war er vielleicht doch nicht so schlimm gewesen. Zusammen mit Helfern konnte er vielleicht eine Art Leuchtturm oder Funkfeuer errichten, der Suchtrupps die Auffindung des Wracks erleichtern mußte. Und wenn diese Rauchschwaden Rauchschwaden, nicht unatembare Gase waren, dann waren sie vielleicht doch auf… Er wühlte heftig in dem weichen Zeug, in dem er fast bis zu den Ohren steckte, fragte sich, was es wohl sei, und wußte es gleich darauf. Pelze! Die Fracht der Pennyroyal hatte zum Teil aus Pelzen bestanden – sie auf Parasiten und Krankheitskeime zu untersuchen, hatte zu seinen Obliegenheiten gehört – und er hatte gesehen, wie sie in dem an sein Behandlungszimmer anschließenden Frachtraum verstaut wurden. Oft zahlten Pelzhändler beträchtlich höhere Raten dafür, ihre Waren mit einem Linienflug statt auf einem Frachtschiff befördern lassen zu können; hin und wieder brachte ein Geschäft mit einem der wohlhabenderen Passagiere nicht
nur den Unterschied wieder herein, sondern sogar noch nennenswerten Profit. Vermutlich waren sie deshalb nicht mehr in ihrer Verpackung, weil man sie zum Zeitpunkt der Explosion potentiellen Käufern vorgelegt hatte. Und er selbst – die Art seiner Verletzungen gab ihm Anlaß zu diesem Schluß – war durch eine nicht allzu starke Stelle des Schotts geflogen, die seinen Sturz dennoch wesentlich abgebremst hatte, und dann in einem Haufen von Fellen gelandet, der dick genug war, um sein Leben zu retten. Rudernd, als wolle er sich aus einem Sumpf befreien, begann er sich an die Oberseite des Haufens zu arbeiten und bemerkte dabei, daß er nur ein klein wenig leichter als auf der Erde war. Seine Stimmung stieg. Vielleicht war die Luft um ihn herum doch atembar. Das System, zu dem sie unterwegs gewesen waren, gehörte zu den wenigen, die zwei sauerstoffreiche Planeten aufwiesen: Ihr Ziel, Arteret, und einen anderen Himmelskörper, der noch nicht kolonisiert worden war. All das befand sich bereits im Grenzbereich menschlicher Aktivität, und der ursprüngliche Elan, der die Menschen so weit getrieben hatte, war im Begriff zu erlahmen. Wenn eine andere, viel wärmere und gastfreundlichere Welt wesentlich näher lag, war die Eroberung einer ganz neuen Welt nicht mehr sehr attraktiv. Jedenfalls war »sauerstoffreich« nur ein relativer Begriff. Wenn er richtig vermutete und sie auf dem Carteret benachbarten Planeten waren, würde die Luft von schlechter Qualität sein, weil die Vegetation aus dem Wasser noch kaum auf das Land vorgedrungen war; letzteres mußte hauptsächlich aus – entweder sandiger oder felsiger, jedenfalls kalter – Wüste bestehen. Der Pflanzenbewuchs der Küste sorgte für etwa zwei Drittel des Sauerstoffgehalts der Atmosphäre, und seine Mutationen erfolgten so rasch und breiteten sich so rapide aus, daß er in etwa einer Million Jahren eine bemerkenswerte Verbesserung würde verzeichnen können. Hah! Zum gegenwärtigen Zeitpunkt indessen zählten nur die Bedingungen, die er auf Quasimodo IV wenn schon nicht genießen, so doch aushalten konnte. Er nahm sich vor, in jedem Fall die Ruhe zu bewahren, während er sich durch die Pelze nach oben kämpfte – er konnte nicht aus dem
Stegreif sagen, welcher der CO2-Gehalt in dieser Luft war, doch wußte er um seine gefährliche Höhe. Vermutlich war der pulsierende Schmerz in seinem Kopf viel eher auf ihn zurückzuführen als auf den Schlag, der seine Stirn getroffen und Blut seinen Mund hinunter hatte rinnen lassen. Seine suchenden Finger trafen auf etwas Hartes und Kühles: Er erkannte die Form: Eines seiner medizinischen Geräte. Und daneben… Mit einem Fluch zog er seine Hand zurück. Es war etwas Feuchtes und Weiches. All das, was es vor dem Absturz gewesen war, daran dachte er lieber nicht, er war für die Dunkelheit dankbar. Von neuem wurde das dreifache Pochen hörbar, jetzt aber schwächer. Später würde er noch Zeit genug haben, nach seiner Ausrüstung zu suchen, dachte er, und konzentrierte sich weiter darauf, sich aus den Fellen herauszuwühlen. Als er endlich auf festen Grund stieß, arbeitete er sich weiter bis zu einer geneigten Fläche, die zu dem gehörte, was er vermutet hatte – einem Riß im Zwischenschott. Er kroch hindurch, nicht ohne sein Hemd an einem vorspringenden Zacken des Plastikmaterials zu zerreißen. Auf der anderen Seite war Licht. Nicht viel; nur ein schwacher Schimmer von Tageslicht, das durch ein Loch in der Schiffshaut drang und auf seinen an die Dunkelheit gewöhnten Sehnerv stark gelblich wirkte. Dennoch, es war Tageslicht, und was er atmete, war wirkliche Luft, vermengt mit dem Rauch des Absturzes. Und unter seinen Füßen war knirschender Sand, der seine Vermutung, auf Quasimodo IV abgestürzt zu sein, nur bestätigte. Fast wäre er sehr froh darüber gewesen, hätte er nicht im schwachen Sonnenlicht die Überreste seines Behandlungsraums gesehen. Der Inhalt sämtlicher Schränke, Schubladen, Regale war verstreut, und er mußte Haufen zerschmetterten Glases und medizinischer Instrumente zur Seite räumen, um sich einen Weg durch den Raum zu bahnen. An zwei Stellen waren die Wände aufgerissen und ließen die elektronischen Venen und Arterien des Schiffes sichtbar werden. Von irgendwoher hörte man lautes Tropfen. Bevor er aber zu einer Bestandsaufnahme kommen würde, würde er sich erst nach weiteren Überlebenden umsehen müssen.
Es war ein Alptraum, als er sich durch den völlig zerknickten Korridor in die Richtung des Geräusches arbeitete, das er gehört hatte. Alles war verbogen, verschoben, und obwohl das einzige Licht, das ihn leitete, durch Risse in der Schiffshülle kam – es gab zu viele solcher Risse, und er sah mehr Einzelheiten, als ihm lieb war. Am Ende des Korridors vor allem lag etwas, was furchtbar menschenähnlich aussah, als hätte jemand aus überreifen Bananen eine Puppe gemacht und sie an die Wand geschmettert: Platsch! Selbst als erfahrener Mediziner fühlte er sich noch nicht stark genug, hinzusehen. Jetzt hatte er das Geräusch geortet. Es kam von einer der nächstgelegenen Erstklasskabinen, deren Tür sich immer noch in ihren Schienen bewegen ließ. Er schob sie zur Seite. Ein junger Mann lag auf einem Bett, das völlig aus seinen Halterungen gerissen war. Er hielt etwas in seiner schlaffen Hand – den Gegenstand, mit dem er an die Wand geklopft hatte, nahm Pavel an. Doch schien es, daß den Mann seine Kräfte verlassen hatten, als er die Tür öffnete, denn jetzt lag er regungslos da. Sein Atem stockte. Von allen Menschen an Bord war dieser Mann der letzte, den er sich nach dem Absturz als Gefährten gewünscht hätte: Andrew Solichuk, der keine Gelegenheit versäumt hatte, jedermann darüber aufzuklären, wie begütert und einflußreich seine Familie auf der Erde war, und sich unaufhörlich über das Essen, den mangelnden Komfort, den Beigeschmack der Luft und seine Mitreisenden beklagte. Er hatte das Wirtschaftsimperium, dessen Erbe er eines Tages werden sollte, zu besuchen, und keine Luxuslinie bediente das QuasimodoSystem, nur die Pennyroyal und ihr Schwesterschiff, die Elecampane. Aber er war ein menschliches Wesen und lebte. Pavel ordnete sich seinen professionellen Reflexen unter. Er rief Andrew bei seinem Namen, erhielt aber keine Antwort. Der Mann schien bewußtlos zu sein. Pavel prüfte seinen Puls und fand ihn schwach, aber ausreichend; auch sein Atem ging regelmäßig. Als er jedoch seine Decke zurückschlug, sah er, warum Andrew besinnungslos war. Zumindest mußte er eine Fraktur des unteren Teiles der Wirbelsäule erlitten haben; wahrscheinlich hatte er auch einen Beckenbruch, daneben natürlich innere Verletzungen.
An seinem Mund fand sich kein Blut, was darauf hindeutete – ohne ein Beweis dafür zu sein – daß seine Lunge intakt war. Doch war seine linke Schulter ausgerenkt, und am Kopf hatte er eine Schnittwunde, die sein Kissen blutrot gefärbt hatte. Mit Kleinigkeiten wie diesen konnte er mit Wasser, irgendwelchem sterilen Material aus einer unbeschädigten Packung und seiner eigenen Körperkraft fertig werden. Ansonsten konnte er buchstäblich nichts tun, außer Andrew bequem zu lagern, bis Hilfe kam. Eine Wirbelsäule wieder zusammenzubauen war Sache eines modernen Hospitals, und er bezweifelte, ob man auf Carteret einer solchen Aufgabe überhaupt gewachsen sein würde. Da Andrew im Augenblick besinnungslos war, war es das beste, ihn einstweilen liegen zu lassen und festzustellen, ob es irgendwelche andere Überlebende des Absturzes gab. Außerdem mußte er sich durch das Chaos in seinem Behandlungszimmer wühlen, um festzustellen, was noch zu gebrauchen war. Langsam und vorsichtig kroch er zurück in den Korridor. Es dauerte nur Minuten, bis er gewiß sein mußte, daß es keine weiteren Überlebenden gab. Andrew hatte neben anderen irritierenden Gewohnheiten den Tick, »von der Tyrannei der Uhr frei zu sein.« Er schlief stets weit in den künstlichen Tag des Schiffes hinein, vierzehn bis fünfzehn Stunden, und haute dann auf die Pauke ohne Rücksicht auf andere Passagiere, denen er auf die Nerven ging, sei es durch sein lautes, trunkenes Lachen, sei es, weil er darauf bestand, Musik stets mit ohrenbetäubender Lautstärke zu spielen, sei es wegen der stampfenden Tänze, die er in einem früheren Teil der Reise auf irgendeinem Planeten gelernt hatte. Vor allem Hans, der Schiffssteward, haßte ihn, weil Edward trotz der ausgezeichnet arbeitenden Roboter, mit denen alle anderen völlig zufrieden waren, auf sein Recht auf menschliche Bedienung pochte und während des größten Teils der Reise Hans bis spät in die »Nacht« um sich herumtanzen ließ, so daß der arme Mann mit drei bis vier Stunden Schlaf auskommen mußte. Und eben das hatte Andrews elendes Leben gerettet. Alle anderen hatten sich im hinteren Teil des Schiffes aufgehalten, und dieser war jetzt
voll Sand, der beim Auseinanderbrechen des Rumpfes tonnenweise hereingebrochen war. Die Aussichten, jemanden lebend daraus hervorzuholen, standen eins zu einer Million. Nahrungsmittel, Wasser und andere für sie unumgänglich notwendige Dinge daraus zu bergen würde schwierig genug sein. Es würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, vermutete Pavel, als ein Stück der Außenbeplankung des Schiffes als Schaufel zu benutzen. Daß seine Vermutung über den Ort ihres gegenwärtigen Aufenthaltes sich mehr und mehr bestätigte, war nur ein schwacher Trost. Trotz seiner Kopfschmerzen, die nunmehr fast unerträglich wurden, und der bleiernen Schwere seiner Glieder schob er die Rückkehr zu seinem Behandlungszimmer auf, als er sich in den zugänglichen Teilen des Schiffes umgeschaut hatte, kletterte auf einen der weißlichen Sandhaufen unter den Rissen im Schiffsrumpf und sah hinaus, wobei er sich wegen des nachgiebigen Untergrundes fest an den Rand des Loches klammern mußte. Der Himmel über ihm war einheitlich dunkelblau, nahezu indigo. Die tiefstehende Sonne war klein und sehr gelb. Die Luft war kühl, aber nicht kalt; vielleicht verstärkte der hohe Anteil an unreduziertem CO2 den Treibhauseffekt, indem er eine unverhältnismäßig hohe Tagtemperatur erzeugte. Andererseits war sein Hals trocken und rauh. Bis zur nächsten Wasserstelle war es sicher ein weiter Weg. Mit letzter Anstrengung zog er sich so weit nach oben, daß er an der verschrammten, zerbeulten Außenhaut des Schiffes entlang in die Gegenrichtung der Sonne sehen konnte. Und sofort wurde ihm klar, wie es hatte geschehen können, daß das Schiff nicht einfach in Fetzen zerborsten war. Eine tiefe Furche zog sich auf dieser Seite durch die sandige, mit Felsblöcken durchsetzte, und wie es schien, leicht ansteigende Ebene. Die Anstrengungen, die es ihn kostete, sich hochzustemmen, ließ alles vor seinen Augen verschwimmen, und es war schwierig für ihn, Einzelheiten auszumachen. Dennoch schien so viel festzustehen: Der Absturzwinkel des Schiffes mußte genau parallel zur Steigung des Hanges gewesen sein, und statt wie ein Stein aufzuschlagen, war es meilenweit weitergerutscht. Bis seine ursprüngliche Geschwindigkeit abgebremst war und es in dieser Düne liegen blieb.
Nun, daß er immer noch denken, überlegen, Rätsel lösen konnte, war schon ein Trost. Er ließ sich zurück auf den Sandhaufen plumpsen und machte sich dann erschöpft auf den Weg zum Behandlungszimmer. Quasimodo IV dachte er. Vielleicht bin ich seit hundert Jahren der erste, der ihn von Bodennähe aus sieht. Aber an dem Gedanken war gar nichts Erhebendes. Fast das erste noch Brauchbare, was ihm in seinem Arztzimmer in die Hände fiel, war eine Schachtel mit Anregungsspritzen, eine von vielleicht vierzig oder fünfzig, die in Scherben herumlagen. Er überlegte sich, ob es klug sei, wenn er sich eine Injektion gab, konnte sich nicht entscheiden – und tat es. Sofort wurden Kopf und Gedanken klar; neue Energie kehrte in ihn zurück, und mit ihr starker Appetit. Bis jetzt freilich hatte er noch keine Lebensmittel gefunden, und er war sicher, lange in der Sanddüne danach graben zu müssen. Mit eiserner Willensanstrengung unterdrückte er jeden Gedanken an Nahrung und wühlte sich weiter durch das Durcheinander von Instrumenten und pharmazeutischen Mitteln aller Art. Schon eine halbe Stunde später hatte er mehr davon gefunden, als er zu hoffen gewagt hatte: Anregungs-, Beruhigungs- und Entgiftungsmittel, Mittel zur Geweberegeneration, Ersatznerven, verträgliche Kunsthaut, synthetisches Plasma, Antiallergica, Substanzen zur Unterdrückung der Immunreaktion und simple Schmerztöter. Daneben hatte er noch mehrere Pharmaca ohne momentane Bedeutung wie etwa Mittel gegen das Watkins-Fieber und diverse Entziehungssymptome. Die meisten der Instrumente schienen intakt zu sein. Allerdings war das nur äußerlich. Ihr Inneres bestand aus einem unheimlich feinen Gewebe von Schaltkreisen. Solide gebaut wie sie waren, mußte er trotzdem annehmen, daß sie bei dem Aufprall beschädigt worden seien, solange das zentrale Prüfungsgerät nicht ihre einwandfreie Funktion nachwies. Moderne Diagnostikgeräte wollten vorsichtig behandelt sein. Fiel eines auch nur auf den Tisch, mußte es überprüft werden, bevor man es wieder verwenden konnte.
Doch in das Prüfgerät war Sand eingedrungen. Selbst wenn es ihm gelang, eine Energiequelle funktionsfähig zu machen, er konnte sich auf das Gerät nicht verlassen. Weg also mit den Instrumenten bis auf die ältesten davon, wie die Skalpelle. Tausende von Jahren hatten Ärzte mit dem zurechtkommen müssen, was sie an Wissen im Kopf hatten, und an modernen Maßstäben gemessen war er da gut ausgestattet, da er stets ein geradezu unverschämt gutes Gedächtnis besessen hatte. So wie die Erfindung der Schrift das Ende der blinden Barden bedeutete, die ohne Souffleur zehntausend Zeilen Homer aufsagen konnten, und wie es nach der Erfindung des Computers keine Mathematiker mehr gab, die zehnstellige Zahlen im Kopf multiplizieren konnten, so hatte die Erfindung der Diagnostikgeräte die Zahl der Ärzte dezimiert, die durch einfache Untersuchung fünfhundert Arten von Fieber unterscheiden konnten. Pavel hatte sich indessen als Student sehr für Medizingeschichte interessiert, und er war zuversichtlich, daß das meiste von dem, was er gelernt hatte, in seinem Kopf auf Abruf bereitstand… Oder vielleicht doch nicht? War es nur eine euphorische Täuschung, für die das in seinen Arm gespritzte Anregungsmittel verantwortlich war? Er konnte es nicht entscheiden. Er konnte sich nur selbst dazu zwingen, sehr umsichtig vorzugehen. Richtig: Ein Patient wartete ja auf ihn – vorausgesetzt, daß er nicht inzwischen gestorben war. Er nahm das, was ihm nützlich sein konnte, aus dem Haufen von Instrumenten und Präparaten, darunter in Ermangelung einer besseren Lichtquelle eine Augenuntersuchungslampe, deren Strahl auch bei größtmöglicher Streuung nicht dicker war als sein Finger. Dann ging er zurück zu Andrews Kabine. Als er die Hand ausstreckte, um die Tür zur Seite zu schieben, befiel ihn eine schreckliche Vorahnung. Bei der Durchsuchung des Schiffes hatte er nur wenige Leichen gesehen – außer dem widerwärtig zerquetschten Körper am Ende des Korridors. Aber er wußte, daß die anderen sich dort drinnen befinden mußten, unter dem Berg von Sand, der einen Teil des Schiffsrumpfs bedeckte.
Und wenn Andrew in seiner Abwesenheit wirklich gestorben war? Er war nicht gerade das, was man einen sportlichen jungen Mann nennen konnte: Er trank zuviel, nahm wahrscheinlich auch zu viele Drogen, und ganz ohne Zweifel aß er zuviel. Für sein Alter von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig war er entschieden zu fett. Wenn er gestorben war, würde Pavel allein auf eine Rettungsexpedition warten müssen, ohne Gesprächspartner, selbst wenn die Gespräche nicht viel mehr waren als ein Austausch von Beleidigungen… ohne Gewißheit, daß er wirklich gerettet werden würde. Bis zu diesem Augenblick hatte er seine Rettung als selbstverständlich angesehen. Er wußte, daß sie etwa eine Stunde vor der Explosion den Sub-Raum verlassen hatten, wie üblich genügend Sicherheitsabstand haltend, da das Austreten aus dem Sub-Raum in der Nähe einer Sonne gefährlich war. Diese Reise von Halys zu Carteret war ein ganz normaler Routineflug gewesen. Nichtsdestotrotz: Selbst wenn Captain Magnusson nicht gerade der Penibelsten einer war, er würde vermutlich der Hafenkontrolle auf Carteret gemeldet haben, daß sie wieder im wirklichen Raum waren… Vermutlich. Plötzlich wurde ihm schlecht. Nein, da schätzte er den Kapitän zu vorteilhaft ein – mortuis nil nisi bene. Unumwunden gesagt war Magnusson ein nachlässiger Schiffsführer gewesen, der schlechteste von dem guten Dutzend, bei denen Pavel angeheuert hatte. Daß die Explosion, welche die Pennyroyal zerstört hatte, auf die Nichtbeachtung einer vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahme zurückzuführen war, erschien durchaus wahrscheinlich. Und die Gefahr, daß Magnusson die Vorausmeldung an seinen Bestimmungsort für überflüssig gehalten haben konnte, war gar nicht so gering einzuschätzen. In diesem Fall konnte er lange warten. Sehr lange! Und wenn er es allein tun mochte – konnte er der Belastung standhalten? Mit einem Krach schlug er die Kabinentür zu, um das Bild auszulöschen, das sich in seinem Kopf festgesetzt hatte: Er selbst, den Kopf im Schlund des Hippokrates, umgeben von den leeren Ampullen, die er aus seiner Apotheke gerettet hatte.
Dann drang eine jammernde Stimme an sein Ohr, und er war so erleichtert, daß er den Worten fast keine Beachtung schenkte. »Sie gehen einfach weg und lassen mich hier liegen!« »Was?« Er knipste die Lampe an und ging auf das Bett zu. Wieder ließ sich Andrew vernehmen. »Sie waren schon vorher da – ich hörte Sie! Dann ließen Sie mich einfach mit meinen schrecklichen Schmerzen liegen! Verdammter Hund… verdammter Hund!« Pavel war schon daran, ihm zornig zu antworten, bremste sich aber dann. »Ich habe nur Medizin und Instrumente geholt«, sagte er besänftigend. »Sie sind ziemlich zugerichtet, Andrew.« »Sie gingen einfach weg und ließen mich im Dunkeln liegen!« Fast wurde die Stimme hysterisch laut, schlug aber dann in ein Jammern um, und dann hörte er Seufzer, laut und ächzend, wie die eines verwöhnten Kindes, dem man ein Stück Schokolade verweigert. Jeder andere hätte es sein können, aber nicht Andrew – jeder andere! Vielleicht allerdings war sein Benehmen nur seinen Schmerzen zuzuschreiben, die furchtbar sein mußten. Dagegen konnte er etwas tun. Pavel nahm eine von den mitgebrachten Spritzen und führte sie zu Andrews offen daliegendem rechten Arm. Ein paar Sekunden, und… »Ach, Sie sind es.« Als hätte das Rad der Zeit sich zurückgedreht, war die Stimme jetzt wieder normal, einschließlich des spöttischen Untertons, den er im Lauf der Reise so hassen gelernt hatte. »Der sogenannte Doktor, der nicht einmal mit Kopfschmerzen fertig wird!« Das war eine Anspielung auf ihre letzte Begegnung. Andrew hatte ihn holen lassen – er war nicht in seine Praxis gekommen wie die anderen – und bestand darauf, Migräne zu haben. Pavel hatte ihn gründlich untersucht, und seine Instrumente hatten bestätigt, was er bereits argwöhnte: Die Beschwerden des jungen Mannes stammten nicht von einer Migräne, sondern von einem Kater, dem er bereits seit drei Tagen Nahrung zuführte, so daß die eigenen Abwehrkräfte des Körpers nicht mit ihm fertig werden konnten. Und das hatte er auch gesagt und hinzugefügt, daß Andrew am Rande der Alkoholvergiftung sei, und
Andrew hatte gebrüllt, er sei ein Lügner und nicht in der Lage, seinen Beruf auszuüben. Er war sogar so weit gegangen, sich beim Kapitän über ihn zu beschweren… Nicht daß der sehr beeindruckt davon gewesen wäre; Captain Magnusson war im Prinzip gegen die Regelung, den Zwang, überhaupt einen Arzt an Bord zu haben, und wäre mit Maschinen allein viel glücklicher gewesen, denn die waren billiger. »Was Sie haben, ist viel schlimmer als Kopfschmerzen«, sagte Pavel grob. Andrew runzelte die Stirn. »Warum leuchten Sie mich mit der Lampe da an? Und wieso ist es hier dunkel?« »Na, was glauben Sie wohl? Wir sind abgestürzt, deswegen!« »Abgestürzt?« Beinahe setzte Andrew sich auf – doch Pavel packte ihn fest an der Schulter, um ihn daran zu hindern. »Bleiben Sie liegen! Sie haben eine Wirbelsäulenfraktur, und wahrscheinlich einen Beckenbruch und alle möglichen inneren Verletzungen. Ich habe Ihnen ein Schmerzmittel gegeben, aber wenn Sie am Leben bleiben wollen, dürfen Sie sich überhaupt nicht bewegen.« »Was?« rief Andrew verärgert; er schien die Worte gar nicht aufgenommen zu haben. Er wollte die Decke zurückschlagen und zuckte zusammen. »Verdammt, das tat weh! Und Sie behaupten, Sie hätten mir etwas gegen Schmerzen gegeben! Wissen Sie denn nicht mal das richtige Mittel, um…« »Jetzt hören Sie mal gut zu!« fuhr Pavel ihn an. Er suchte unter den mitgebrachten Instrumenten nach dem zusammenlegbaren Gliederzieher. »Sie sind so jämmerlich zugerichtet, daß Sie heilfroh sein können, wenn Sie überhaupt am Leben bleiben. Haben Sie das kapiert?« »Ich…« Andrews Gesicht verzog sich wie eine nasse Papiermaske, als er begriff: Ich bin es, dem dies passierte! Er sagte: »Wir sind abgestürzt?« »Warum zum Teufel glauben Sie denn, daß Ihr Bett auf der anderen Seite der Kabine ist? Und warum Ihr ganzes Zeug hier überall auf dem Boden herumliegt? Wären Sie nicht auf Ihrer Pritsche gewesen, sondern auf den Beinen, wie alle anderen, dann lägen Sie jetzt unter tausend Tonnen Sand!«
»Fangen Sie bloß nicht wieder an mit Ihrem Gemecker! Ich lebe so, wie es mir paßt, und wenn das anderen Leuten nicht gefällt, dann haben sie eben Pech!« »Ach, halten Sie doch den Mund!« Pavel setzte jetzt den Gliederzieher zusammen. »Nützen Sie jetzt das Schmerzmittel aus, das ich Ihnen gab. Viel ist nicht davon übrig, und wenn es alles ist, könnte ich Ihre Schmerzen nur noch dadurch lindern, daß ich Ihr unteres Rückenmark völlig isoliere – und ob das wieder rückgängig zu machen wäre, weiß ich nicht. Für Sie könnte es völlige Lähmung bedeuten. Wenn Sie also wieder gehen wollen, ein normaler Mann sein wollen, dann hören Sie mir jetzt genau zu und tun, was ich sage. Klar?« Andrews halb offene Lippen zitterten. Er begann zu verstehen. »So! Jetzt werde ich Ihren linken Arm einrichten müssen. Er ist ausgerenkt, aber das hier wird die Schulter wieder in Ihr Gelenk bringen.« Er hob den Gliederzieher. »Also nehmen Sie sich zusammen. Viel haben Sie in Ihrem Leben vermutlich nicht auszuhalten gehabt, aber manche haben schon ganz andere Schmerzen ertragen müssen als die, die Sie jetzt spüren werden. Und wenn ich jetzt um Ihr Bett herum auf die andere Seite kann…« Er versuchte es und fand, daß er gerade genug Platz zum Stehen hatte. »Ja, viele mußten zum Beispiel Läuse und Flöhe und offene Wunden ertragen!« fauchte Andrew. »Seitdem haben wir aber gewisse Fortschritte gemacht!« Überrascht, daß dieser verwöhnte junge Mann überhaupt von solchen Dingen gehört hatte, hob Pavel den narkotisierten Arm und machte den Zieher daran fest, wobei er versuchte, nicht an den ekelhaft falschen Winkel zu denken, den der Arm mit der Schulter bildete. Er sagte: »Hier hat es nicht viel Fortschritt gegeben. Wir scheinen auf dem nächsten Planeten nach Carteret zu sein. Die sind hier noch nicht mal beim Pleistozän. So, und jetzt!« Er löste den Federmechanismus des Gerätes aus, und der Armknochen sprang hörbar in sein Gelenk. Perfekt. »Wie war das denn eigentlich mit Ihnen?« hörte er Andrew sagen. Die alte Schärfe war wieder in seinem Ton; offenbar war er einfach nicht in
der Lage, mit Menschen anders als von oben herab zu reden. »Lagen Sie auch in Ihrem Bett, so wie ich?« »Nein! Ich flog durch das offene Schott meines Praxiszimmers hinein in diesen Raum voller Pelze. Wie durch ein Wunder waren sie nicht mehr in ihrer Verpackung und…« »Na so was!« krähte Andrew. »Ich habe Ihr Leben gerettet!« »Was?« Als nächstes mußte er den Unterkörper des Mannes reinigen und untersuchen; Pavel war schon dabei, sich die nötigen Hilfsmittel zusammenzusuchen. Er hielt inne und sah auf. »Habe Ihr Leben gerettet«, wiederholte Andrew mit gekünsteltem Lachen. »Langweilte mich letzte Nacht. Ich weckte diesen – wie heißt er? Den einen dieser Pelzhändler.« »Sie meinen – wie hieß er?« sagte Pavel eisig. »Er ist tot.« »Ich mochte ihn sowieso nicht«, sagte Andrew. »Jedenfalls weckte ich ihn und sagte ihm, er solle mir mal sein Zeug zeigen. Ich ließ ihn alles aus der Verpackung holen. Also, mich soll der Teufel holen! Wenn ich das nicht getan hätte, wären Sie jetzt…« »Tot«, unterbrach ihn Pavel. »Aber Sie würden jetzt unter gräßlichen Schmerzen hier sterben.« »Gar nichts würde ich«, sagte Andrew. »Das ist nicht mein Stil. Das sollten Sie inzwischen wissen.« Pavel musterte ihn besorgt. Eine der Nebenwirkungen des Medikaments, das er ihm verabreicht hatte, war bei bestimmten dafür anfälligen Typen eine Art euphorischen Größenwahnsinns. Es schien, daß Andrew dafür anfällig war. »Nein. Schauen Sie mal nach rechts«, fuhr Andrew fort. »Sehen Sie diesen schwarzen Koffer?« Pavel mußte beinahe darauf getreten sein, als er um das Bett herum ging, um den Gliederzieher anzusetzen. Er hob ihn auf. Für seine Größe war er ziemlich schwer. »Er hat ein Kombinationsschloß. Drücken Sie fünf, zwei, fünf, eins, vier.«
Mit Hilfe der Lampe tat Pavel, wie ihm geheißen, und der Deckel sprang auf. Er fühlte sein Blut erstarren. »Sie wissen, was das ist, nicht wahr?« fragte Andrew triumphierend. »Ja.« Pavels Stimme war so heiser wie der Wind, der draußen über die Sanddünen blies. »Ich hätte mir denken können, daß Sie das meinten. Es ist der Einfache Ausweg.« Klein. Nicht länger, nicht dicker als sein Unterarm. Aber unglaublich kostspielig. Dieser schlanke, blaue Pasteel-Zylinder mit dem weißen Deckel auf einer Seite, der in einem Stöße abfangenden, mit rotem Samt ausgeschlagenen Gehäuse ruhte, konnte mehr als die Hälfte des Preises der Pennyroyal gekostet haben. Es war die legale Weiterentwicklung eines früheren Geräts, das man hatte verbieten müssen, weil es auf einem Planeten nach dem anderen die Überlebenshoffnungen von Pionieren zunichte gemacht hatte, die sich im endlosen Kampf mit den Problemen fremder Welten verschlissen hatten. Zynische und kaltblütige Geschäftemacher hatten frühe Versionen des Gerätes gekauft – die ein halbes Raumschiff ausfüllten – und Riesenvermögen damit verdient, indem sie Kolonisten in imaginäre Welten von solcher Herrlichkeit lockten, daß diese lieber verhungern als auf das nächste Glückserlebnis dieser Art verzichten wollten. Mehrere Welten, die jetzt offizieller Besitz einer einzigen Familie waren, waren auf diese Weise entvölkert worden. Als der Skandal das Ausmaß einer Seuche anzunehmen drohte, hatte die nachlässige Regierung der Erde schließlich doch ein Gesetz erlassen. Zu diesem Zeitpunkt indessen war der Profit, den der Gebrauch dieser Geräte abwarf, geschrumpft, und es gab nur noch einige Welten, die man auf diese Weise an sich reißen konnte. Außerdem war die Miniaturisierung sehr weit vorangetrieben worden, so daß die Geräte keinen fünfzig Meter langen Frachtraum mehr ausfüllten, sondern in der Hand gehalten werden konnten. Darüber hinaus war das Gesetz wie immer ein Kompromiß. Es war nicht verboten, die Geräte herzustellen, sondern nur, sie zu kaufen oder zu gebrauchen, wenn man nicht Raumfahrer war oder irgendeiner so gefährlichen Beschäftigung nachging, daß die Gefahr eines tödlichen Unfalls gegeben war. In der
Praxis bedeutete das, daß die Geräte an Raumtouristen, Regierungsbeamte und Leiter von Raumfluglinien verkauft wurden. Sie waren reich. Aktiviert – und dazu war es lediglich notwendig, die weiße Kappe nach einer Drehung fest zu drücken – sendete das Gerät ein direktes Signal in das Gehirn jedes in seiner Reichweite, das heißt, in einem Umkreis von etwa hundert Metern befindlichen Menschen. Das Signal schuf eine Art Verbindung zwischen den Lustzentren des Gehirns und dem Gedächtnis und nahm die verbleibenden Kräfte des Körpers so mit der Konstruktion eines lustvollen Traumes in Anspruch, daß nebensächliche Dinge wie Blutverlust, Hunger oder unerträglicher Schmerz gar nicht mehr wahrgenommen wurden. Ob man in einem eingestürzten Bergwerk gefangen war oder, mit Atemluft für noch eine Stunde, am Grund eines Ozeans, man konnte den Rest des Daseins in einer vollkommen glücklichen Illusion verleben. Je nach Temperament konnte sie erotisch sein, oder eine Freßorgie, oder ein Trip mit einem Halluziogen, oder in der Erreichung eines lebenslang angestrebten Zieles bestehen, oder… Einfach in allem möglichen. Buchstäblich: In allem Möglichen. Im Prinzip also war es eine wunderbare, humane Idee. Was konnte für ein waches, empfindsames Wesen schrecklicher sein als die Gewißheit des unausweichlichen, nahe bevorstehenden Todes? Wenn es keine Hoffnung auf Rettung gab, dann war es besser, daß ein Mensch seine Tage in einem Gefühl ungetrübten Glückes beschloß! Gut. In dem Augenblick jedoch, da die weiße Kappe gedrückt wurde, war es sicher, daß er seine Tage beschließen würde. Es war ein Akt, der den Selbstmord einschloß. Sobald diese neuen Nervenbahnen in das Gehirn gebrannt waren, gab es kein Zurück mehr vor dem Tode. Laut dem, was Pavel gelesen hatte, war dies bei den frühesten Versionen nicht der Fall gewesen. Bei ihnen konnte man sich wieder erholen, ähnlich wie bei den alten süchtig machenden Rauschgiften, wenn auch nur unter Aufbringung unglaublicher Selbstdisziplin und mit langer, geduldiger, mühevoller psychiatrischer Hilfe. Bei einem so weit entwickelten Modell jedoch wie dem, das er jetzt in der Hand hielt… Nein.
Er klappte den Deckel zu, verstellte die Kombination und legte das Köfferchen dann auf ein Regal, wo Andrew es nicht erreichen konnte. »Was machen Sie denn da?« rief Andrew. »Sie wissen, was es ist, haben Sie gesagt! Können Sie es nicht andrehen?« »Doch.« Pavel wandte sich ab und machte sich an den Geräten zu schaffen, die er brauchte, um seine kaum begonnene Arbeit fortzuführen. »Dann…!« »Ach, halten Sie doch den Mund!« Sein wütender Ton erschreckte ihn selbst – es war nicht die Art, wie ein Arzt gewöhnlich mit einem Patienten umging. »Oder ich sorge dafür, daß Sie ihn halten!« Er nahm eine Narkosespritze, keine lokale, wie er sie vorher verwendet hatte, sondern eine, die das ganze Nervensystem lahmlegte. »Eigentlich…« sagte er, mehr und mehr entschlossen, »werde ich das sowieso tun!« Er führte die Spritze an Andrews Arm. »Sie Hund!« fauchte Andrew. »Sie Teufel! Sie…!« Beim letzten Wort versagte seine Stimme. Seine Augen, die in das schwache Licht der Lampe geblinzelt hatten, schlossen sich gegen seinen Willen, und Sekunden später lag er regungslos da. Jedenfalls ist es so schmerzloser… Aber noch während er Andrews Decke zurückschlug und mechanisch an die widerwärtige Aufgabe ging, Andrews Unterkörper von Exkrementen und verkrustetem Blut zu befreien, wußte Pavel, daß das nicht die Wahrheit war. In seiner Handlung war ebenso viel Gewaltanwendung gewesen, als hätte er Andrew einen Schlag auf das Kinn versetzt. Und der Grund, warum er seiner Aggression freien Lauf lassen mußte… Doch: Obwohl er sich auf seine Arbeit konzentrierte, obwohl die Wirkung der Anregungsspritze, die er sich gegeben hatte, schon stark nachgelassen hatte wegen des niedrigen Sauerstoffgehaltes der Luft und des Hungers, der seinen Magen jetzt hörbar knurren ließ – er konnte es sich denken. Es war die Angst. Er war erst fünfunddreißig, sehr jung nach modernen Maßstäben, wenn auch nicht ganz so jung wie Andrew, und durfte sich auf eine wahrscheinliche Lebenszeit von mindestens
einhundertzwanzig Jahren freuen. Andrew gegenüber war er in der gleichen Situation wie ein Mann, der eben erst einundzwanzig und damit volljährig geworden ist, beim Umgang mit einem zwölf- oder dreizehnjährigen Jungen, bevor die Menschheit andere Sonnensysteme zu kolonisieren begann: Noch sehr im Bewußtsein der Probleme eines Heranwachsenden, weil sie noch frisch in seinem Gedächtnis hafteten, dennoch ohne jede Geduld mit Begleitumständen dieses Lebensalters, weil ihre schrittweise Überwindung ihn selbst ganz erschöpft hatte. Als erlege er sich selbst eine Buße auf für seine Nachgiebigkeit gegenüber Zorn und Furcht, erledigte er die Säuberung mit besonderer Gründlichkeit, wobei er manches vom Widerwärtigsten, wofür er auch Instrumente hätte verwenden können, manuell verrichtete. Schließlich aber mußte er feststellen, daß die Wirkung des Anregungsmittels völlig verflogen war; bevor er gegessen hatte, durfte er keine zweite Dosis mehr nehmen. Doch hatte er jetzt alles getan, wozu er überhaupt in der Lage war: Andrew war umgeben von einem wahren Spinnennetz von medizinischen Geräten, von denen er zwei oder drei noch eigens aus seinem Praxisraum hatte holen müssen, Geräten, die Schmerzen milderten, Ermüdungsgifte direkt durch die Haut extrahierten, ihn säuberten, wann immer seine Eingeweide und seine Blase sich leerten, und ihn gegen das verschwindend geringe Risiko irgendeiner degenerativen Infektion wie etwa des Wundbrandes absicherten. Wenn innerhalb von zwei Wochen Hilfe kam, würde er nicht nur überleben, sondern auch noch bei so guter Gesundheit sein, daß er die nötige Wirbelsäulenoperation gut überstehen würde. Es war eine Leistung, auf die Pavel stolz sein konnte, vor allem, da er wegen des Risikos einer möglichen Beschädigung viele seiner normalen Geräte nicht hatte verwenden können. Jetzt aber war es höchste Zeit, daß er an sich selbst dachte… So klar, wie die Luft es erlauben würde. Er war durstig, bemerkte er, nicht nur ausgedörrt von der trockenen Luft dieses Planeten, sondern buchstäblich entwässert auf Grund der harten Arbeit. In der Praxis hatte er eine Anzahl von Behältern mit destilliertem Wasser, darunter einige größere mit einem Liter Inhalt, die
so gut verpackt gewesen waren, daß sie auch jetzt noch intakt waren, daneben einen gewissen Vorrat von Glukoselösung und anderen energiespendenden Konzentraten, außerdem verschiedene Anregungsmittel, die rasch die »zweite Luft« im Muskelgewebe auslösten; dazu noch verschiedene Tabletten und Pillen, die, obwohl ausschließlich für Stoffwechseltests bestimmt, notfalls als Nahrungsmittel Verwendung finden konnten, und sogar bestimmte Chemikalien, die freien Sauerstoff erzeugten und die er gebrauchen konnte, wenn die sauerstoffarme Atmosphäre und der Druck von überschüssigem CO2 ihn bei einer wirklich wichtigen Arbeit behinderten. Doch je länger er ohne Rückgriff auf diese Vorräte auskommen konnte, desto besser waren seine Chancen durchzustehen, bis Hilfe kam. Er wollte lieber hungern, bis ein Raumschiff ihn holte, und einen Stapel unbenützter Vorräte zurücklassen, als… Oder… Vielleicht doch nicht? Halb unabsichtlich setzte er sich auf einen Hocker, der erstaunlicherweise im Durcheinander des Praxisraums aufrecht stehen geblieben war; dann fiel ihm ein, seine Lampe auszuschalten. Schwaches Licht, sehr rot jetzt wegen der untergehenden Sonne, beleuchtete seine Umgebung. Und endlich erkannte er den tiefsten Grund seines… seines Angriffs auf Andrew. Er glaubte gar nicht so recht, daß man ihn retten würde. Er glaubte nicht, daß Suchtrupps losgeschickt werden würden, bevor die Pennyroyal derart lange überfällig sein würde, daß irgend jemand auf Carteret ungeduldig wurde. Er hatte nicht viele Fahrten auf Magnussons Schiff mitgemacht; dennoch wußte er sehr wohl, daß eine Verschiebung von einer oder zwei Wochen beim Aufenthalt auf den verschiedenen Planeten, die sie anflogen, den Kapitän nicht weiter zu stören schien. Wenn er also kein Signal senden konnte, kein starkes Radio-Signal… Aber er hatte Medizin studiert, nicht Ingenieurwesen oder Elektronik. Wenn er es schon vermied, seine eigenen Instrumente zu benutzen, weil sie durch den Absturz vielleicht nicht mehr ganz funktionstüchtig waren, wie konnte er einem Sender oder einem Hyperraum-Signal vertrauen, selbst wenn es ihm gelang, eines aus den Sandmassen auszugraben, die den hinteren Teil des Schiffes bedeckten, und es an eine Energiequelle
anzuschließen? Wie sollte er wissen, ob es wirklich um Hilfe rief, oder ob nur die Kontrolllampen angingen? Er dachte entsetzt daran, Berge von Sand wegschaufeln zu müssen, Leichen zu finden, frustriert zu werden, weil Lebensmittelbehälter zerborsten waren und ihr Inhalt ungenießbar. All dies aber stand ihm bevor, wenn er wirklich entschlossen war, zu überleben. Und dann dachte er an den Einfachen Ausweg. Ja, das war es, was ihm Angst einjagte, mehr noch als die Gefahr, hier zu sterben, vergessen auf einem unbewohnten Planeten. Hätte er nicht gewußt, daß der EA existierte, wäre er in der Lage gewesen, sich ausschließlich mit den Problemen des Überlebens zu beschäftigen – er hätte es vielleicht geschafft. So wie die Dinge lagen, wußte er, daß er nur die Wahl hatte zwischen einem schrecklichen Tod und einem beglückenden, und… »Nein!« Verwundert, daß er es laut gerufen hatte, sprang er auf. Irgend etwas tief in seinem Inneren hatte gesagt: Ich will überhaupt nicht sterben. Das hatte Hand und Fuß. Er wollte nicht auf Quasimodo IV sein. Er wollte nicht diese schmerzenden Beine und diesen verstauchten Knöchel, nicht die Trockenheit im Hals und vor allem nicht einen Patienten, der ihn beleidigte, wenn er ihm helfen wollte. Er wollte nur eines: Leben. Fast drei Viertel seiner Lebensspanne hatte er ja noch vor sich, und der Gedanke, daß die idiotische Nachlässigkeit irgend eines anderen ihn zum Tode verurteilen konnte, war ihm entsetzlich. Unsicher, mit klopfenden Schläfen und dem bleistiftdünnen Strahl seiner Lampe als einziger Beleuchtung machte er sich auf einen zweiten Erkundungsgang durch das Schiff. Stunden vergingen. Seine Uhr tickte, doch hatte er vergessen, sie nach dem Absturz zu stellen, und als er dann schließlich auf sie sah, brachte das nicht viel. Sie war auf die künstliche Schiffszeit eingestellt und zeigte jetzt wenige Minuten vor Mittag. Der sternbedeckte Himmel, den er zuweilen sah, blieb dunkel, und vage erinnerte er sich, irgendwo gelesen zu haben, daß der Tag dieses Planeten viel länger war als ein Erdentag – gute dreißig Stunden. Wann es morgen werden würde, konnte er also
nicht vorhersagen, bevor er den Morgen erlebt hatte und einen weiteren Sonnenuntergang. Doch war das auch zweitrangig. Er hatte biologische Uhren in seinem Körper, die besser funktionierten, und am lautesten machte sich die in seinem Magen bemerkbar. Er hegte keinen Zweifel, daß seine zunehmende Schwäche weniger seinen Verletzungen oder dem Mangel an Sauerstoff zuzuschreiben war, sondern einfach dem Hunger. Und vor allem dem Durst. Dementsprechend ging er zunächst daran, in die Richtung zu graben, wo das Schiffsrestaurant gewesen war: Auf der seinem Behandlungszimmer gegenüberliegenden Seite des Schiffsrumpfes. Diese war jedoch sehr viel stärker beschädigt als die andere Seite, und der Sand war hoch und rutschte immer wieder nach, wo er ihn weggeschafft hatte. Er war am Rande der Verzweiflung, als er im Licht seiner Lampe etwas Glänzendes bemerkte. Auf dem vom Sand verkratzten Etikett stand: VOLLMILCH. Er nahm die verbeulte Dose und setzte sie an seine Lippen, des Sandes nicht achtend, der die Öffnung verstopfte. Vermutlich war der Sand steril, und wenn nicht, hatte er selbst doch schon sämtliche Kleinlebewesen in sich aufgenommen, die er enthielt. Mit tiefen Zügen sog er die Milch in sich ein, wobei ihm nicht entging, daß etwas Symbolisches in dieser Handlung lag, oder zumindest hätte liegen sollen. Doch von diesem Planeten konnte er nicht erwarten, daß er die Stelle von Mutter Erde einnahm. Dann fand er eine ganze Anzahl ähnlicher Behälter – offenbar der Inhalt eines Vorratsschrankes, der bei dem Aufprall durch ein Schott geschleudert worden war. Viele davon waren geplatzt und ausgelaufen. Dennoch stellte er weitere Milch, verschiedene Arten von Consommé und Brühe und fünf oder sechs Sorten von Pürree sicher. Außerdem fand er ein Durcheinander von frischen Früchten, darunter Äpfel, Papayas und Yabanos, eine mutierte Zitrusfrucht, die er gern mochte. Hastig schälte er eine und hatte schon ein Stück davon zum Mund geführt, als er etwas bemerkte, wovor sein Tastsinn ihn bereits hatte warnen wollen. Beim Absturz war diese Frucht gegen etwas Gläsernes geschleudert worden, und das Glas war zerbrochen. Alles stak voller winziger, scharfer Splitter.
Er spuckte das Stück aus und warf die Frucht wütend fort. Wenn das so weitergehen sollte, dann konnte er genauso gut… Nein! Nein! Diesmal zumindest rief er es nicht laut, aber dennoch mit Nachdruck. Ich werde nicht den Einfachen Ausweg wählen! Nein! Das werde ich nicht! Und dann zwang ihn ein Anflug von Aufrichtigkeit, der ihm zuwider war, hinzuzufügen: zumindest… glaube ich es nicht. Er warf einen letzten Blick auf Andrew, der noch nicht bei Bewußtsein war, und injizierte ihm ein Glukose-Vitamin-Präparat. Er hatte ein paar intakte Phiolen davon gefunden, und dazu auch Proteinkonzentrate und andere Kräftigungsmittel. Aber Andrew hatte genug Speck um die Hüften, um einige Tage durchzuhalten, und würde auch nicht über Nacht austrocknen… wenngleich es ungewiß war, wie lange dieses »über Nacht« dauern würde. Denn es hing davon ab, wann Pavel wieder aufwachen würde, nachdem er sich auf einen Stoß Pelze hingelegt hatte. Seine eigene Kabine, weit hinten bei den Mannschaftsquartieren, war unzugänglich, doch lieferte ein Dutzend Felle ein weiches Bett im Korridor – in Hörweite Andrews, wenn er wieder zu Bewußtsein kam. Der Rest… konnte warten… bis später… »Machen Sie’s an! Verdammt – verdammt nochmal! Machen Sie’s an!« Innerhalb einer Sekunde war Pavel wach. Der unheimlich durch den Korridor hallende Ruf war wie die Fortsetzung seines Traumes gewesen, der Vision einer endlosen Wanderschaft durch eine endlose Wüste. Er zwang sich auf die Beine, bemerkte, wie seine Kleidung unangenehm an seinem Körper klebte. Normalerweise wechselte er sie zweimal am Tag und warf die getragene in den Recycler; aber der war hin. Während der Nacht mußte ein Wind den Brandgestank aus dem Schiff geweht haben; die Luft, auch jetzt noch sehr trocken und sauerstoffarm, roch nun nach gar nichts mehr. Bevor er schlafen gegangen war, hatte er die Lampe und eine Anzahl von Medizinflaschen und -phiolen neben sich auf den Boden gelegt. Jetzt aber brauchte er kein künstliches Licht – die Sonne mußte schon
hoch am Himmel stehen und drang durch alle Risse der Schiffshaut – und er war zu benommen, um an die anderen Dinge zu denken. Sich die Augen reibend, stolperte er in Andrews Kabine. Ruhe überkam ihn, als er die medizinischen Apparaturen sah, die er tags zuvor in Gang gesetzt hatte. Für die Eventualität eines Stromausfalls auf dem Schiff hatten sie eigene Energieversorgung, und ihre Signallichter glommen weiter wie kleine Reptilienaugen. Nichts wies auf eine besorgniserregende Entwicklung von Andrews Zustand hin: Stoffwechsel, Skelettstruktur, Nervensystem… »Das da! Das Ding!« Andrew schrie es, so laut er konnte, und zeigte dorthin, wo Pavel den EA deponiert hatte. »Machen Sie’s an!« Pavel holte tief Atem. Sein Kopf kam ihm vor, als sei er mit Sand ausgestopft; sein Mund war so hart und trocken, als sei der Sand durch ihn eingeführt worden, sein Bauch eine einzige Gasblase. Auch sein Knöchel schien in der Zwischenzeit schlimmer geworden zu sein, nicht besser, und als er ihn mit seinem Körpergewicht belastete, zuckte er zusammen. Er holte den EA von seinem Platz und trug ihn wortlos aus der Kabine. Andrew, hinter ihm, schrie und heulte. Pavel kam der Gedanke, den EA überhaupt aus dem Schiff hinauszubefördern, in den Sand, wo der Nachtwind ihn zuschütten würde, so daß man ihn nicht mehr finden konnte. Doch als er dann ausholte, um das Ding fortzuwerfen, hielt er inne. Vielleicht kam doch keine Rettung. Die vielen Schränke in seinem Praxisraum waren beim Aufprall alle aufgesprungen; bei einem aber waren die Türen nicht aus den Angeln gerissen worden. Er legte den EA hinein, machte die Türen zu und sperrte sie sorgfältig ab, wobei er dachte: aus den Augen, aus dem… Aus meinem Sinn? Nein, er wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte nur davon geträumt.
Als er zu Andrews Kabine zurückkehrte, hörte er schon aus einiger Entfernung hilfloses Stöhnen. Er beschleunigte seine Schritte, und tatsächlich saß Andrew da, die Hände über dem Gesicht, und weinte. »Schon gut, schon gut!« sagte Pavel und legte seine Hand beruhigend, auf des Jüngeren Arm. »Ich bin da, und ich habe meine…« »Machen Sie’s an!« schluchzte Andrew in seine Hände, so daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »Ich habe den EA weggeschafft«, sagte Pavel und wartete. »Was?« Die Hände fielen von Andrews tränenverschmiertem Gesicht. »Aber er gehört mir! Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen ihn anmachen, dann müssen Sie ihn anmachen! Ich kann nicht mehr länger so hier liegen und diesen Schmerz ertragen!« »Wollen Sie lieber den Rest Ihres Lebens wegwerfen«, sagte Pavel, nachdem er sich einen Augenblick lang seine Worte überlegt hatte, »als zu überleben, um all diese Dinge zu genießen, über die Sie während der Reise so groß getan haben – das ganze Geld, den Luxus, die Macht, die der Besitz Ihrer Familie Ihnen bringen wird?« »Ich…« Andrew zögerte und ließ seine Arme schlaff herunterfallen. Mit angsterfüllten Augen betrachtete er die medizinischen Apparaturen, die seinen Körper von der Gürtellinie abwärts umgaben. Pavel wartete. Abrupt und unerwartet sagte Andrew: »Wenn Sie nicht zu viel Betäubungsmittel übrig haben, ist es vielleicht besser, wenn Sie es aufheben, bis ich zu schreien anfange. Aber haben Sie vielleicht eine Beruhigungsspritze?« Pavel überkam ein Gefühl der Erleichterung. Niemals zuvor hatte er Andrew in so vernünftigem Tone sprechen gehört. Er sagte: »Sicher. Allerdings ist auch davon nicht mehr viel da. Mein ganzer Vorrat flog mit mir durch das Schott, und selbst wenn manche davon in den Fellen gelandet sind, wird es eine Zeit dauern, bis ich sie wieder herausgefischt habe. Aber hier… zumindest für den Augenblick wird das genügen.« Und er suchte aus dem mitgebrachten Material die richtige Spritze heraus.
»Danke«, sagte Andrew, bevor sie noch anfing zu wirken. »Ich… ich muß mich wohl bei Ihnen entschuldigen, weil ich Sie angeschrien habe, hm?« Pavel zuckte die Achseln. »Wie geht es Ihnen?« »Mir?« Pavels Ton verriet seine Überraschung. »Ach… na ja, nicht allzu schlecht.« »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt! Verdiene ich keine Antwort?« »Nun…« Pavel befeuchtete sich die Lippen. »Mein Kopf tut mir irrsinnig weh, aber der Ihre Ihnen wahrscheinlich auch. Es ist die Luft. Ich habe Schmerzen im Hals. Aber auch das ist die Luft – sie ist sehr trocken. Beim Absturz habe ich jede Menge Prellungen und einen verstauchten Knöchel abgekriegt. Jetzt wissen Sie es. Und als Arzt kann ich Ihnen versichern, daß mein Zustand wesentlich besser ist als der Ihre.« »Offensichtlich.« Die Andeutung eines Lächelns ging über Andrews bleiches rundes Gesicht. »Bei meinem Zustand wäre ein größeres Hospital nötig, um damit fertig zu werden, nicht wahr?« Pavel nickte. Es hatte keinen Sinn, die Wahrheit zu leugnen. »Warum zum Teufel machen Sie dann nicht den EA an?« brüllte Andrew. Pavel erstarrte. Schließlich sagte er: »Sie verzogener Fratz. Sie – Sie… ach, ich weiß gar keinen Namen, der schlimm genug für Sie wäre!« »Jetzt hören Sie mal!« begann Andrew, aber Pavel fuhr fort: »Bevor Sie noch einen von Ihren Tricks versuchen, merken Sie sich eines: Ich möchte am Leben bleiben, auch wenn Sie das nicht möchten! Sie sind Ihr ganzes Leben so sehr verhätschelt worden, daß Sie selbst bei der leisesten Andeutung eines Schmerzes für immer aufgeben wollen. Weder mit List, noch mit Drohung, noch mit Gejammer können Sie mich dazu bringen, zu tun, was Sie wollen. Einmal in Ihrem Leben werden Sie einfach tun müssen, was jemand anderer will!« Lähmendes Schweigen folgte. Seit Pavel erwacht war, hatte, vom Flüstern eines leichten Windes in der Schiffswand abgesehen, völlige Stille geherrscht. Das tropfende Geräusch, das er gestern im
Praxiszimmer gehört hatte, das leise Rieseln des Sandes, der die wenigen noch im hinteren Teil des Schiffes verbliebenen Hohlräume füllte, das Knacken der abkühlenden Spanten – all das hatte aufgehört. Die einzigen Geräte, die jetzt arbeiteten, die medizinischen Apparaturen, waren so sorgfältig konstruiert und gebaut, daß sie selbst nach der Erschütterung durch den Absturz keinen Ton von sich gaben. Dann legte sich die künstliche Ruhe der letzten Spritze auf Andrews Gesicht. Er sagte: »Nun, wenn Sie so fest entschlossen sind, mich am Leben zu erhalten, dann könnten Sie’s mir auch etwas bequemer machen. Ich habe Schmerzen, verstehen Sie.« »Gut«, willigte Pavel ein. »Aber es muß eine knappe Dosis sein. Ich muß Sie schrittweise daran gewöhnen, einen Teil Ihres Schmerzes auszuhalten, fürchte ich. Wir können nicht wissen, wie lange es dauern wird, bis wir gerettet werden.« Er holte eine Injektionsspritze hervor. »Außerdem kann ich Ihnen nicht mit Gewißheit sagen, wie schwer Ihre inneren Organe in Mitleidenschaft gezogen sind«, fuhr er fort. »Um sicher zu gehen, darf ich Sie nichts trinken lassen, sondern muß Sie mit einer intravenösen Transfusion versorgen.« »Aber ich bin sehr durstig«, sagte Andrew fast tonlos, und seine Augen gingen langsam zu. »Das muß wohl so ein. Ich habe ein paar Tabletten, die Sie lutschen können, um Mund und Kehle feucht zu halten. Aber auch die muß ich rationieren.« »Weil wir noch lange hier sitzen können«, murmelte Andrew. »Woher wissen Sie denn so genau, daß wir gerettet werden, hm?« »Aber wir sind doch im selben System wie Carteret«, sagte Pavel. »Man wird feststellen, daß wir überfällig sind. Wenn es hier in der Nähe irgendeinen Detektor gibt, muß er uns geortet haben. Vielleicht sogar bis zur Absturzwelle.« »Aber wenn er uns bis zur Absturzwelle verfolgt hat, wird niemand uns holen«, sagte Andrew. »Außer uns sind alle tot, nicht? Wenn sie die Geschwindigkeit kalkulieren, die wir hatten, als wir die Lufthülle erreichten, müssen sie annehmen, daß wir einfach verglüht sind!«
Pavel selbst fürchtete das mehr oder weniger, doch sagte er in so beruhigendem Ton, wie er konnte: »Nicht, wenn ich irgend etwas finde, woraus ich ein Funkfeuer machen kann«, sagte er. »Ich bin kein Ingenieur, doch hoffe ich früher oder später einen Sender zu finden und einen Capacitor oder irgend etwas, um ihn zu speisen. Ich – äh – ich gehe jetzt und versuche mein Glück.« »Durst!« sagte Andrew. »Ja, natürlich; ich hole Ihnen eine von diesen Tabletten.« Er fühlte die höhnische Gegenwart des EA hinter den geschlossenen Schranktüren, als er in den Behandlungsraum trat. Nachdem er ein frugales Frühstück, bestehend aus einer halben Dose Fruchtsalat, zu sich genommen hatte, ging Pavel daran, einen Plan auszuarbeiten. In dieser dünnen Luft durfte er sich nicht überanstrengen; andererseits mußte er sich beeilen, ihre Überlebenschancen sicherzustellen, indem er entweder ein Funkfeuer aufstellte oder noch mehr Vorräte fand. Trotz seiner Kopfschmerzen hatte er nach einer gewissen Weile einen, wie es schien, logischen Plan. Er suchte nach etwas, das er als Schaufel benützen konnte, fand einen Plastikstuhl mit noch einem Bein daran, steckte das Bein in einen Riß in der Wand und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, so daß die Sitzfläche eine Art flache Schaufel mit dem Stuhlbein als Stiel wurde. Sehr mit sich zufrieden, fing er an, weiterzugraben, wo er tags zuvor die Suppendose gefunden hatte. Gleich darauf stieß er auf eine entstellte Leiche. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Wenn es absolut nicht anders ging, konnte er seine Konservenvorräte bis zuletzt aufsparen und Fleisch essen. In dieser trockenen, von Bakterien freien Luft würde es lange Zeit nicht verderben. Abscheulich! rief sein Unterbewußtes. Besser noch der EA als Kannibalismus! Vielleicht. Er packte die Leiche, schleppte sie mit viel Mühe zu einem Riß in der Außenwand und stieß sie hinaus. Dann kletterte er nach, schleifte sie die Düne hinunter, bedeckte sie mit ein paar Schaufeln Sand. Dann beschloß
er, obwohl ihm jeder einzelne Muskel schmerzte, um das Schiff herumzugehen, statt direkt wieder hineinzuklettern. Er kam nur mit Mühe vorwärts; der Sand war so trocken, daß er bei jedem Schritt bis über die Knöchel einsank. Dennoch gelang es ihm, den ganzen sichtbaren Teil des Schiffes zu erkunden, und je mehr er sah, desto mehr wunderte er sich, noch am Leben zu sein. Gerade ein Fünftel des Rumpfes ragte aus dem Sand, von Rissen durchzogen wie ein gekochtes Ei, das jemand in der Faust zerdrückt hatte. Sein Mut sank. Bestand überhaupt eine Hoffnung, hier noch brauchbare Bestandteile für sein Funkfeuer zu finden? Nun, es gab nur einen Weg, das festzustellen. Er fing wieder an zu graben. Die Zeit verging in bleierner Eintönigkeit. Was jetzt folgte, sollte sich während der ganzen Dauer seines Hierseins immer von neuem wiederholen. Er grub eine Weile, fand entweder eine Leiche oder irgendein brauchbares Gerät – was ihm einen Vorwand lieferte, aufzuhören. Dann suchte er Andrew auf, um ihn zu versorgen. Freilich mußte er bei ihm immer öfter sagen, daß er außerstande sei, seine Bitten zu erfüllen, weil nur noch eine Hand voll Spritzen übrig war, oder weil die Kontrollgeräte anzeigten, daß es gefährlich war, ihm noch mehr Flüssigkeit durch den Mund zuzuführen, oder weil es irgendeinen anderen Grund gab, ihm seine Ansuchen zu verweigern. Als er Andrew das erste Mal sagte, er werde seine Schmerzen ein wenig länger aushalten müssen, verzog Andrew seinen Mund und sagte: »Ich durchschaue Sie. Es gefällt Ihnen.« »Was?« »Es gefällt Ihnen. Es gefällt Ihnen, wenn jemand so völlig hilflos ist wie ich. Gibt Ihnen ein Gefühl der Macht!« Schweißperlen liefen über sein Gesicht, verdunsteten aber fast sofort in die trockene Luft. »Quatsch!« sagte Pavel grob und kontrollierte die Anzeige der Instrumente. Eines der vorderen grünen Lichter leuchtete jetzt rot. Doch dagegen konnte er nichts tun.
»Ja, ich kenne Ihren Typ!« krächzte Andrew. »Ihnen ist nichts lieber, als…« »Hören Sie auf«, sagte Pavel. »Ich versuche, uns beide am Leben zu erhalten. Und bei Verstand, wenn möglich. Fangen Sie also nicht mit solch blödsinnigen Phantastereien an, sonst werde ich wirklich noch böse. Meine Nerven sind ohnehin nicht mehr die besten.« »Und was macht so ein Arzt, wenn sein Patient ihm auf die Nerven geht? Läßt einfach sein Lebenslicht ausgehen?« »Nein.« Pavel holte tief Atem. »Begibt sich außer Hörweite und bleibt dort.« Er ging zur Kabine hinaus und schmetterte die Tür hinter sich zu. Draußen im Korridor lehnte er sich gegen die Wand, den Kopf in die Hände gelegt. Wenn das endlos so weitergehen sollte… Aber es gab Arbeit zu tun. Er riß sich zusammen und machte sich wieder ans Werk. Nicht zum erstenmal kam ihm dabei der beklemmende Gedanke, ob er nicht seine Zeit nutzlos verschwendete. Er war jetzt mitten in dem Abschnitt, wo er brauchbare elektronische oder subelektronische Geräte hätte finden müssen, wenn noch welche vorhanden waren. Doch alles, was er fand, waren verkohlte oder halbgeschmolzene Klumpen aus Plastikmaterial und Metall. Hier mußte es ein Feuer gegeben haben, und kein kleines. Ab und zu fand er auch Teile von Raumfahrer-Uniformen wie Gürtelschließen und Rangabzeichen. Und Knochen. Er brauchte fast drei Tage, um den Abschnitt des Schiffes durchzuarbeiten, in den er die größten Hoffnungen setzte. Das einzige Brauchbare, was er fand, war eine Notlampe, deren Akkumulatorspannung nur knapp unter dem Höchstwert lag. Die Nacht brach bereits herein, und er knipste sie an, erfreut darüber, richtiges Licht zu haben. Dann aber schlug ihm das Gewissen. Wie schrecklich mußte es für Andrew sein, allein im Dunkeln zu liegen und stundenlang auf die nächste Schmerz-Spritze zu warten. Er nahm die Lampe und ging damit in Andrews Kabine.
Andrew dämmerte vor sich hin und reagierte zunächst nicht auf das Geräusch der sich öffnenden Tür – es war jetzt recht laut, weil feiner Sand in jede Ritze drang und auch in der Laufschiene der Tür lag. Als er dann seine Augen öffnete, nahm er keine Notiz von der Lampe. Er sagte: »Pavel, Sie… Sie sehen entsetzlich aus!« »Was?« Pavel fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Natürlich hatte er einen drei Tage alten Stoppelbart, und zweifellos überzog eine Schicht aus Staub und Dreck seine Haut… Doch daran hatte er bis jetzt keinen Gedanken verschwendet. »Kann schon sein«, sagte er barsch. »Kümmern Sie sich nicht darum. Hier, ich habe diese Lampe gefunden. Ich dachte, Sie können sie brauchen. Ich könnte Ihnen etwas holen, womit Sie sich die Zeit vertreiben können, nachdem Sie jetzt Licht haben. Ah – vielleicht ein Buch, falls Sie gern lesen. Oder ein Spiel aus dem Gesellschaftsraum. Ich habe da ’reingegraben und ein paar Dinge gefunden.« Doch Andrew schien nicht zuzuhören. Er sagte: »Warum in aller Welt ochsen Sie denn so herum? Haben Sie etwas gefunden, womit Sie einem Rettungstrupp ein Signal senden können?« »Hm…« Pavel leckte sich die Lippen; sie schmeckten nach Staub. »Einiges habe ich schon gefunden, aber…« »Aber es funktioniert nicht?« »Nein, ich fürchte, es ist alles kaputt.« »Das dachte ich mir«, sagte Andrew. Pavel sah, daß seine Wangen jetzt eingefallen waren, und eine weitere der gestern noch grünen Lampen bei seinem Bein leuchteten jetzt rot. Das bedeutete Gefahr. »Pavel, zumindest sollten Sie den EA irgendwo hinstellen, wo ich ihn erreichen kann! Nehmen Sie an… Also, nehmen Sie mal an, Sie buddeln da irgendwo rein, und ein Spant fällt auf Sie? Wenn Sie dann verletzt sind und nicht mehr dorthin können, wo Sie das Ding hingestellt haben?« »Ich möchte es nicht benützen«, sagte Pavel starrköpfig. »Und Sie können mich nicht die ganze Zeit schmerzfrei halten!« »Nein, weil…« »Ach, lassen wir’s!« seufzte Andrew, schloß die Augen und wandte den Kopf ab.
Der undankbare Bastard, dachte Pavel und stürmte hinaus. Wie an den vergangenen Abenden fiel er auch heute sofort in tiefen Schlaf, sobald er sich auf sein Lager vor Andrews Tür niedergelassen hatte. Er träumte von weit entfernten Welten, wo er glücklich und froh gewesen war, wo er im warmen Sonnenlicht gelegen und in der Gesellschaft hübscher Frauen herrlich gegessen hatte, wo… Ist Andrew irgendwie an den EA gekommen und hat ihn angemacht? Der Gedanke platzte in die Euphorie seines Traumes und ließ ihn von seinem Lager hochfahren. Es war dunkel; er hatte die Lampe abgeschaltet, um ihre Stromquelle zu schonen, nachdem auch Andrew geschlafen hatte. Aber er hatte sie direkt hinter der Tür auf einem Wandbrett gelassen, und die Tür stand ein wenig offen. Seine Hand fand sie, schaltete sie an. Andrew war sehr bleich und schwitzte wieder, und seine Fäuste und seine Kiefer waren zusammengekrampft. Ein weiteres rotes Licht leuchtete am Fußende seines Bettes. »Verdammt, Sie liegen ja in Agonie!« entfuhr es Pavel. »Ich wollte… Sie nicht… wecken…« stöhnte Andrew mit zusammengebissenen Zähnen. »Dachte, Sie… Sie… brauchen Ihre Ruhe.« Was in aller Welt war mit diesem verwöhnten jungen Mann geschehen? Aber Pavel versäumte keine Zeit damit, darüber nachzudenken. Er nahm eine schmerzstillende Spritze und injizierte sie Andrew. »Danke«, flüsterte dieser, und die Erschöpfung schwand ein wenig aus seinem Gesicht. »Tut mir leid, Sie gestört zu haben. Wenn ich geschrien habe, dann… ohne es zu wollen.« »Schon gut«, sagte Pavel verlegen. »Wissen Sie was?« fuhr Andrew fort, wobei er an die Decke starrte. »Ich habe nachgedacht. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so lange über dieselbe Sache nachdenken müssen, immer und immer wieder. Als es zum Absturz kam, hatte ich so Angst. Ich konnte es nicht fassen. Ich sagte mir immer wieder, daß das doch mir nicht passieren konnte – nicht Andrew Alighieri Solichuk-Fehr! Und… also, wie ich es jetzt sehe, versuchte ich weiter, der Wahrheit auszuweichen. War es nicht
so? Sie brauchen nicht zu antworten. Ich weiß, daß ich recht habe. Und Sie arbeiteten wie ein… wie ein Roboter, und wußten, was getan werden konnte und was nicht, und… Also, stellen Sie sich vor, es wäre umgekehrt gewesen! Stellen Sie sich vor, ich wäre wohlauf gewesen, und Sie halbzerfetzt wie ich auf einem Bett wie diesem. Ich wüßte nicht, was ich tun würde! Ich würde wahnsinnig werden! Ich hätte einfach aufgegeben und den EA angedreht.« Pavel traute kaum seinen Ohren. »Deswegen möchte ich… also, ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin. Es ist einfach unglaubliches Glück, daß Sie der andere sind, der überlebte. Ich weiß jetzt, daß ich ohne Sie tot wäre.« Seine Fäuste ballten sich wieder zusammen, aber dieses Mal nicht vor Schmerz. »Sie haben recht! Es ist dumm, zu sterben, wenn man nicht muß! Es ist dumm, einfach aufzugeben, weil man ein wenig Schmerz nicht ertragen kann, weil man mit der Möglichkeit der Rettung spielt und sich die Chancen nicht ausrechnen kann! Verdammt, ich habe auf einem Dutzend Planeten gespielt, um Dinge, die viel weniger wichtig sind als das Leben – bloß um Geld! Und auf meine Chance, nach diesem Absturz noch am Leben zu sein, hätte ich nicht gesetzt, das schwöre ich Ihnen!« »Ich auch nicht«, sagte Pavel mit heiserer Kehle. Aus dem Augenwinkel hatte er bemerkt, daß auch das letzte rote Licht jetzt wieder grün geworden war, ein Zeichen, daß es der Schmerz gewesen war, der Andrews Stoffwechsel eine so gefährliche Belastung auferlegt hatte. Er stand vor einem Dilemma: Sollte er weiter den Schmerz unterdrücken, um seine Lebensvorgänge zu schützen, oder sollte er, mit den Schmerzmitteln so weit wie möglich haushaltend, sein Leben für die längstmögliche Zeit verträglich, wenn auch nicht angenehm machen… Doch das konnte er jetzt nicht entscheiden; er war noch benommen vom Schlaf. Außerdem, Andrew war noch nicht fertig. »Sie sind sicher, daß wir auf Quasimodo IV sind?«
»Hm…« Bis zu diesem Augenblick hatte Pavel daran gezweifelt, daß Andrew die ihm gegebene Information in sich aufgenommen hatte. »Ja. So sicher zumindest, wie ich sein kann ohne die Überprüfung gewisser Daten. Bis zur Bibliothek bin ich noch nicht vorgedrungen, aber ich glaube, ich bin nicht mehr weit davon weg.« »Nun, statt, daß ich meine Zeit mit Spielen und ähnlichem Unsinn vertrödle, warum bringen Sie mir nicht, was Sie an Büchern und Bändern finden können? Wenn wir ein Vergrößerungsglas oder ein Mikroskop hätten, könnte ich sicher Mikrofilm entziffern. Mit Magnetbändern können wir aber ohne Strom nicht viel anfangen, wie?« »Allerdings. Aber… doch, ich werde mein Bestes tun. Irgendwie werde ich einen Weg finden, Mikrofilm zu vergrößern, so daß Sie ihn vor diesem Licht lesen können.« »Großartig«, sagte Andrew. »Und jetzt legen Sie sich wieder schlafen, oder machen Sie Frühstück, oder was immer Sie wollen. Bis die Wirkung dieser Spritze nachläßt, brauche ich nichts mehr. Und ich werde versuchen, ein gutes Stück länger durchzustehen. So lange, wie ich den Schmerz nur irgendwie aushalten kann.« Phantastisch! dachte Pavel, während er sich tiefer und tiefer in die zugänglichen Teile des Schiffes wühlte. Sich derart zusammennehmen zu können, nachdem er in Agonie liegen mußte! Es half – half sehr viel – zu wissen, daß er trotz allem einen Gefährten im Unglück besaß, jemand, mit dem er reden könnte und der nicht nur Belastung und Quelle ständiger Sorge war. Tatsächlich fand er ein zwar arg mitgenommenes Stück Transpex mit hohem Vergrößerungsfaktor, sowie einige Datenstreifen und mehrere halb zerrissene Bücher. Und Andrew, dessen Oberkörper er ein wenig höher gelagert hatte, brachte es fertig, beim Lichte der Notlampe ein paar davon zu entziffern. Quasimodo IV – für Raumfahrer noch nie ein Planet von nennenswertem Interesse – war nur in Anmerkungen erwähnt, doch das, was er las, bestätigte, daß sie sich auf ihm befanden, und darüber hinaus, daß sie zur Zeit auf der gleichen Seite der Zentralsonne waren wie Carteret. In diesem Fall aber… Warum sind wir noch nicht gerettet worden?
Der vierte, fünfte, achte Tag glitt hinunter in die Vergangenheit, fast ereignislos. Jetzt hatte die Belastung der Arbeit bei geringem Luftsauerstoff Pavel geschwächt; er haßte es, aufzustehen, und sein Graben kam oft der unverständigen Arbeit einer Maschine gleich, so daß er schon möglicherweise nützliche Gegenstände beiseite geschaufelt hatte, bevor sein dämmernder Sinn sie erkannte. Dann mußte er sie mit bloßen Händen aus dem Sandhaufen hinter ihm freiwühlen. Und natürlich fand er ständig Tote. Nach Andrews bemerkenswerter Entdeckung des Mutes war der Schrank mit dem EA für eine kurze Weile keine Bedrohung für Pavel. Dann aber wirkten die Blasen auf seinen Händen und das Knirschen in seinem Mund und die Röte seiner Augen und der ewige Durst zusammen, um das Gespenst wieder zu erwecken. Statt hier das Opfer einer schwer erträglichen Realität zu sein, konnte er sich in eine herrliche Traumwelt flüchten, die alles für ihn bereithielt: Die hübschesten Mädchen, die saftigsten Wiesen, die schönsten Strände, die… Schluß! Doch sein Medizinvorrat ging zur Neige, wiewohl er sorgfältig haushielt. Mit den Eiweißkonzentraten und Vitamin-Glukose-Lösungen, welche die einzige Nahrung waren, die er Andrew verabreichen konnte, war es nicht anders. Zum Glück hatte er gerade noch genug von einer Substanz, die die Verbrennung von Körperfett förderte – eigentlich ein Hilfsmittel für Passagiere, die am Ende eines langen Raumfluges feststellen mußten, daß sie während ihres Eingeschlossenseins im metallenen Bauch des Schiffes mehrere Kilo zugenommen hatten und sie vor der Landung rasch wieder loswerden wollten. Er hatte nicht gedacht, daß ihm eine solche kosmetische Droge einmal von praktischem Nutzen sein würde. Die zwei Injektionen davon, die er Andrew gegeben hatte, hatten jedoch gut gewirkt, und wenn seine Bauchhaut jetzt auch faltig war wie die Hülle eines geschrumpften Ballons, konnte er jetzt doch verwerten, was lange Überernährung bei ihm zwischen Haut und Muskeln abgelagert hatte. Immer öfter ging Pavel jetzt ins Freie und starrte hinauf in den Himmel, obwohl er wußte, wie lächerlich es war. Bei Tag konnte man ein den Planeten umkreisendes Rettungsschiff nicht erkennen, und bei
Nacht würde es zweifellos Leucht- und vielleicht sogar Geräuschsignale geben, um Überlebende zu wecken, so daß Sie Feuer anzünden oder ihre Gegenwart anderweitig erkennbar machen könnten. Feuer! Daß er darauf nicht schon eher gekommen war! Tatsächlich dachte er erst daran, als er sich eingestehen mußte, daß weiteres Graben sinnlos war. Der Schiffsteil, den er noch nicht vom Sande befreit hatte, war zusammengedrückt, und er hatte weder die Kraft noch die Werkzeuge, die nötig waren, um der starken Metallspanten Herr zu werden, die ihm im Wege standen. Er hatte das Eingeständnis, daß nichts Konstruktives mehr zu tun sei, ziellos hinausgeschoben, als ihm die Idee kam, ein Feuer zu machen. Bei einem so klaren Himmel konnte ein Feuer vor allem nachts bis in sehr weite Entfernung wahrgenommen werden. Erst einmal seit dem Absturz hatte er Wolken gesehen, und sie hatten sich am Horizont um die untergehende Sonne gesammelt. Wahrscheinlich war ein Meer in dieser Richtung, aber an einer Bodenerhebung – einer Hügel- oder Bergkette – blieb alle Feuchtigkeit hängen, bevor der Wind einen so weit landeinwärts gelegenen Punkt erreichen konnte. In den Büchern, die Pavel ihm gebracht hatte, hatte Andrew einzelne Hinweise auf die meteorologischen Verhältnisse von Quasimodo IV gefunden. Aber so viele Ränder waren weggebrannt, so viele Details, die vielleicht nützlich gewesen wären, in Rauch aufgegangen! Aber gab es hier überhaupt noch etwas, was in dieser dünnen Luft mit heller Flamme leuchten würde? Vorsichtig machte Pavel Versuche mit brennbaren Flüssigkeiten aus seiner Apotheke: Alkohol, Äther, mit mehreren ansonsten nutzlosen Tinkturen und Suspensionen, die auf dem Etikett die Warnung »Feuergefährlich!« trugen. Nachdem er sich Gewißheit verschafft hatte, daß er tatsächlich ein Feuer in Gang bringen konnte, wenn er seinen Brennstoff vorher mit den entsprechenden Flüssigkeiten tränkte, ging er daran, die großen Haufen beiseitegeworfenen Zeugs noch einmal auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen, und teilte sie in zwei neue Kategorien ein: In Brennbares und Nichtbrennbares. Das dauerte einen Tag oder zwei.
Mehr und mehr, das bemerkte er, begann die Vorstellung der verstreichenden Zeit ihn zu bedrücken. Immer wieder sagte er vor sich hin: »Vier Tage, wenn wir noch durchhalten – oder drei…« Bis er plötzlich mit einem Schock gewahr wurde: Noch gab es keinen Hinweis auf Rettung. Die vierzehn Tage höchstens, die er Andrew durchbringen zu können glaubte, waren für ihn zu einer Art Glaubensartikel geworden. Wenn wir zwei Wochen durchhalten, wird alles gut. Welchen Grund aber hatte er für diese Annahme? Im Gegenteil, stellte er fest: Nun, da elf, zwölf, dreizehn Tage vergangen waren, waren ihre Aussichten auf Rettung geringer, nicht größer geworden. Und ungeachtet dessen, daß Magnusson notorisch nachlässig gewesen war, wenn es um Routineangelegenheiten wie etwa die Anmeldung beim Zielhafen nach dem Eintritt in den Normalraum ging, hätten sie schon längst die Suche einleiten müssen… Wenn irgendein Detektor die Pennyroyal geortet hatte. Daraus folgte also, daß Magnusson sich nicht angemeldet hatte. Ihr Austritt aus dem Sub-Raum konnte hinter diesem verdammten Wüstenplaneten erfolgt sein; in diesem Falle konnten die Carteret umkreisenden Detektoren nichts registriert haben. Dann waren alle ihre Mühen und Leiden umsonst! Das Bild des EA erschien vor seinem geistigen Auge, spottend und lockend. Durch seine Arbeit sowie Sauerstoffmangel und Hunger geschwächt, war er jetzt dazu übergegangen, zwischen Erschöpfung und Schlaf jeden Tag zwei Stunden im Gespräch mit Andrew zu verbringen. Die ersten paar Male war es irgendwie anregend gewesen; er hatte sich keine klare Vorstellung vom Leben eines Menschen gemacht, der eines der größten Vermögen der Galaxis erben würde. Er selbst stammte von ganz normalen, einfachen Vorfahren ab, fünf Generationen von Pionieren. Das schwierige Vorhaben, die Erde zu verlassen, schien allen ihren Ehrgeiz und ihre ganze Initiative aufgebraucht zu haben, und weder das eine noch das andere war jemals wieder bei ihnen aufgetreten. Er selbst hatte alle seine Verwandten schockiert, indem er als Schiffsarzt anheuerte, statt sich einer normalen Karriere zuzuwenden, und als er sagte, daß er seine spätere Praxis vielleicht nicht in seinem
heimatlichen Caliban-System ausüben würde. Raumfahrt – das war nichts mehr für sie. Für Andrew hingegen war sie seit seiner Geburt eine Selbstverständlichkeit gewesen: »Onkel Herbert ist auf Halys und sendet Grüße«, oder vielleicht: »Ich glaube, dieses Jahr werden wir die Kinder nach Peristar mitnehmen.« Nicht daß Andrew selbst bis jetzt seine günstigen Lebensumstände besonders geschätzt hätte. Er hatte es eher als unangenehme Pflicht denn als Grund zur Freude angesehen, als man ihm auftrug, die verzweigten Unternehmen der Familie zu bereisen. Jetzt, während Pavel ihm seine Sicht der Dinge erklärte, schien er verstanden zu haben, daß er töricht gewesen war und Chancen, für die Tausende, ja Millionen von jungen Männern ihren rechten Arm gegeben hätten, nicht genutzt hatte. Mit schmerzendem Kopf sich mühsam auf den Beinen haltend, hatte Pavel sein Bestes getan, Andrew aufzumuntern… Bis zu jenem Abend, als er sich selbst eingestand, daß sie, selbst wenn sie die zwei Wochen durchhielten, die er als Frist gesetzt hatte, wahrscheinlich doch verloren waren. Da verlor er die Fassung, hörte, wie seine Stimme alte Vorwürfe von der letzten Fahrt der Pennyroyal vorbrachte – Dinge über Hans, Trunkenheit, Faulheit und Geiz und mangelnde Rücksicht auf andere Passagiere. Zunächst überrascht, dann wütend und verletzt gab Andrew mit gleicher Münze zurück, und das zunächst so freundliche Gespräch endete mit dem Krachen der ins Schloß geworfenen Kabinentür. Doch das letzte, was Pavel sah, als sie zuging, war nicht nur ein weiteres rotes Licht – er hatte sich daran gewöhnt, daß im Tagesdurchschnitt etwa ein neues hinzukam – sondern eine ganze Anzahl davon, die am Vortag noch grün gewesen waren. Zitternd am ganzen Körper wartete er auf dem Korridor, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Dann öffnete er von neuem die Tür. »Tut mir leid«, sagte er, »ich schäme mich. Sie haben so furchtbare Schmerzen. Die Lichter…« Er deutete darauf. Natürlich waren sie vom Patienten abgewandt, damit er sie nicht sehen konnte. »Ich weiß«, murmelte Andrew. »Was?«
»Natürlich weiß ich es!« rief er mit wieder verstärktem Grimm. »Ihr Apparat da ist nicht für einen völlig dunklen Raum gebaut, sondern für ein Krankenzimmer, wo leichtes Licht durch die Wände dringt. Stimmt’s? Jede Nacht, wenn Sie hier weggehen und die Lampe ausschalten, sehe ich dort drüben«, – er machte eine Handbewegung – »den Widerschein, erkenne, daß er stärker rot ist als zuvor. Ich weiß, daß ich ganz übel dran bin, zum Teufel noch mal! Ich weiß es!« Der letzte Satz steigerte sich zu einem Schrei. Pavel biß sich auf die Lippen. Er sagte: »Ich habe Ihnen wohl nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich… Also, ich glaube nicht mehr an eine Rettung. Wenn, dann hätte man uns längst geholt. Wollen Sie, daß ich…?« »Daß Sie den EA anschalten?« unterbrach ihn Andrew. »Nein! Nein! Und noch einmal nein! Sie hatten recht, ihn mir wegzunehmen. Schmerz oder nicht, seit ich hier liege, habe ich begriffen, wie kostbar das Leben sein kann. Nein, ich will nichts davon wissen. Vergraben sie ihn irgendwo – zerschlagen Sie ihn mit einem Hammer – mir ist es gleich!« Aber seine Stimme brach fast vor Schmerz, und Schweißperlen standen auf seiner Haut. »Ja… äh… sehr gut«, sagte Pavel. »Äh… gute Nacht.« »Gute Nacht.« Wieder träumte Pavel vom EA. Und dann hörten die Alpträume auch am Morgen nicht mehr auf. Er hatte schlecht geschlafen und sich zweimal mit Gewalt zehn oder fünfzehn Minuten wachgehalten, so daß er nicht wieder in die Schreckensbilder zurückfiel, von denen er sich eben freigekämpft hatte; als er die Kabinentür öffnete, fand er Andrew nicht mehr schlafend, sondern bewußtlos. Bis auf vier waren alle Lichter des Apparates jetzt rot. Ein Blick auf die Verteilung bestätigte ihm, daß der Kampf gegen den Schmerz ihn so erschöpft hatte – das und die Tatsache, daß die letzte Phiole von Pavels beschränktem Vorrat an Nährlösung, jetzt verbraucht war. Es gab genug Wasser, um ihn zu versorgen, und seine Muskeln enthielten genügend Stoffe, die seine Lebensvorgänge noch ein
paar Stunden aufrechterhalten konnten – vielleicht noch mehrere Tage, wenn er sich nicht bewegte. Danach… Der sichere Tod. Pavel versuchte sich einzureden, daß es schon eine Leistung gewesen sei, Andrew in seinem Zustand so lange am Leben und bei Bewußtsein gehalten zu haben – nicht fünfzehn normale Tage, wie er eigentlich immer dachte, sondern fünfzehn dieser besonders langen hiesigen Tage. In gewisser Weise war es ein kleines medizinisches Wunder. Kaum ein moderner Arzt hätte das fertiggebracht, ohne das komplette Arsenal medizinischer Geräte zur Verfügung zu haben. Und doch – was hatte das Ganze für einen Sinn, wenn niemand es jemals wissen würde? Alle Hoffnung verließ ihn. Sein übermenschlicher Lebenswille brach zusammen wie eine Brücke, die einknickt unter einer zu schweren Last und langsam in ein unentwirrbares Durcheinander von Stützen und Streben zusammenfällt. Fast war er nicht mehr Pavel Williamson, als er sich mit fast roboterhafter Bewegung umwandte und seinem Praxisraum zustrebte. In dem Schrank, an dem er so oft vorbeigegangen war, war der Einfache Ausweg. Die Kombination des Schlosses hatte er nicht vergessen. Er nahm das schlanke, kühle Gebilde heraus, drehte es um, besah es von allen Seiten. Ich habe es ihm verweigert, dachte Pavel. Wäre ich nicht gewesen, sein Leben hätte in Verzückung enden können statt in einem sinnlosen, törichten, vergeblichen Kampf gegen den Schmerz. Nun wird er sterben, und – und er hat sich doch jetzt, auf seine Weise, als umgänglicher Kerl erwiesen. Ich spüre fast Zuneigung für ihn und schreckliche Scham über mich selbst. Weil ich selbst das tun werde, was ich ihm nicht tun ließ. Ruckartig drehte er die weiße Kappe des EA und drückte sie nieder. Es gab ein Summen. Pavel schloß die Augen. Ungläubig öffnete er sie wieder. Alles war genauso, wie es gewesen war. Außer dem EA. Das Ding lag jetzt schwer in seiner Hand, wurde heiß. Und…
Mit einem Fluch ließ er es fallen. Ein zischendes Geräusch folgte, und eine Rauchwolke drang aus dem mit dem Deckel versehenen Ende. Die Kappe – irgendeine Art Plastik, vermutete er – verformte sich, wurde dunkler. Dann lag der EA einfach nur da. Eine ganze Weile starrte er ihn nur ungläubig an; wie lange, wußte er nicht. Er kam sich vor wie ein Selbstmörder, der sorgfältig den Strick gewählt und geknüpft hat, und unter dessen Gewicht er dann aber zerreißt. »Der Teufel soll mich holen!« sagte er schließlich wütend. »Der hübsche Koffer mit dem Kombinationsschloß – die ganze Polsterung – und dennoch ging das Ding kaputt, als wir abstürzten! Funktioniert nicht!« Jetzt kam kein Rauch mehr. Er berührte das Ding, es war nur noch warm. Da packte er es und stürmte rasend vor Wut aus dem Zimmer. »Ich werde ihm heimzahlen, daß er mich so weit gebracht hat!« hörte er sich rufen. »Das soll er mir büßen! Ich werde…« Was war das? Von irgendwo her kam ein dumpfes Dröhnen. Der stählerne Korridor vibrierte. Die eine Hand schon ausgestreckt, um die Tür von Andrews Kabine zur Seite zu schieben, blieb er wie erstarrt stehen. Das Dröhnen verebbte, wurde dann wieder lauter. Entsetzt starrte er auf den EA in seiner Hand und dachte: Hat er doch funktioniert? Ist dies eine induzierte Illusion, die Wahnvorstellung von Rettung? Aber nein, das konnte er ausschließen; er wußte ja, mit welch peinigendem Gefühl der Scham er den Apparat schließlich hatte verwenden wollen. In einer von ihm geschaffenen Illusion konnte der EA nicht vorkommen, da die Erinnerung an seine Existenz ihm ins Gedächtnis zurückrufen mußte, daß er zum Tode verurteilt war… Unsicher wandte er sich um – und rannte dann plötzlich, so schnell ihn die Beine trugen, zum nächsten Riß in der Schiffshaut, um der Rettungsexpedition ein Signal zu geben.
»Ich… hm… ich meine, irgend jemand muß sich bei Ihnen dafür entschuldigen, daß wir Sie nicht früher geholt haben«, sagte der Arzt im Zentralhospital auf Carteret. »Aber daß man die Hoffnung aufgab, als die Computer den Kurs der Pennyroyal weitergerechnet hatten, war nur logisch. Ich meine, man kann schließlich nicht erwarten, daß jemand einen so schweren Absturz überlebt.« »Natürlich«, sagte Pavel. Er fühlte sich jetzt viel besser, obwohl diese sauerstoffreiche Luft ihn immer noch ein wenig schwindelig machte. »Und als Sie dann kamen, war es nur für Bergungszwecke, wie? Und nicht, um uns zu retten?« »Ich fürchte, so war es«, gab der Arzt zu. »Es war die Gesellschaft, bei der diese Ladung Pelze versichert war, die Sie fand.« Er zögerte. »Übrigens«, fuhr er schließlich fort, »ich möchte Sie beglückwünschen zu der Art und Weise, wie Sie Andrew Solichuk durchgebracht haben. Sie wissen, daß seine Familie hier auf Carteret sehr einflußreich ist, und wenn man ihn tot gefunden hätte…« Er beendete den Satz mit einer Geste. »Ja«, sagte Pavel. »Ja, es war ganz gute Arbeit, das muß ich selbst sagen.« Abwesend sah er zum Fenster hinaus. Es war ein beeindruckendes, modernes, sehr teures Gebäude, umgeben von prächtigen Wiesen und Blumenbeeten, und er konnte einen Swimmingpool sehen und eine Terrasse, auf der Patienten in der Sonne lagen. Seine Hand berührte etwas Glattes, Schweres auf seinem Schoß. Was…? Ach ja. Der EA, der nicht funktioniert hatte. Plötzlich sagte er: »Wie geht es Andrew jetzt? Ich möchte ihn sehen, wenn es geht.« »Das läßt sich wohl machen«, sagte der Arzt herzlich. »Natürlich war sein Zustand sehr schlecht, als er hierher kam, aber seine Familie auf der Erde ließ uns wissen, daß wir keine Kosten zu scheuen brauchten, und er hat die beste ärztliche Versorgung erhalten, die es auf diesem Planeten gibt. Jetzt ist er schon wieder wohlauf – und ich glaube, er hat sogar den Wunsch geäußert, Sie sehen zu dürfen. Kommen Sie mit mir!«
Er stand auf und fügte lächelnd hinzu: »Sind Sie nicht doch froh, daß dieses Ding nicht funktionierte?« »Was?« Verwirrt starrte Pavel ihn an. »Oh! Das da?« Er hob den EA hoch. »Er gehört nicht mir.« »Das nahmen wir aber an«, sagte der Arzt. »Sie klammerten sich daran wie ein Ertrinkender. Bei Ihrer psychiatrischen Reorientierung wollte man es Ihnen wegnehmen, aber als ich sah, wie heftig Sie reagierten, sagte ich den Psychiatern, sie sollten es Ihnen lassen. Eine Art geistiger Anker. Aber es gehört nicht Ihnen, sagen Sie?« »Nein, es gehört Andrew.« Nachdenklich starrte Pavel auf das Ding. »Es muß sich wie mit Widerhaken in meinem Unterbewußten festgesetzt haben, wenn ich mich so daran klammerte, wie Sie sagten! Wird wohl Zeit, daß ich es loswerde. Hmm! Ich werde es Andrew zurückgeben und ihm sagen, daß es sowieso nicht geholfen hätte. Wissen Sie, nach unserer Landung hat er mich viele Tage lang bedrängt, es ihn anstellen zu lassen. Ich meine, nach unserem Absturz.« »Das wundert mich nicht«, nickte der Arzt. »Bei den Schmerzen, die er aushalten mußte… Jedenfalls, nach dem, was er mir sagte, haben Sie ihn sozusagen mit dem Willen zum Leben infiziert. Er kann es kaum erwarten, Sie wiederzusehen.« Als sie an der Tür waren, ließ er Pavel höflich den Vortritt. Und da stand Andrew: So schlank, daß er beinahe nicht wiederzuerkennen war, und fast nackt im hellen, warmen Sonnenschein, einige Narben in der Hüftgegend – aber mit einem breiten Grinsen. Er war im Becken geschwommen, und Wassertropfen perlten über seinen Körper. Und er warf das Handtuch, mit dem er sich eben hatte abtrocknen wollen, zur Seite und ging mit einem Ausruf der Freude auf Pavel zu. »Pavel! Sie haben mir das Leben gerettet! Wie kann ich Ihnen je dafür danken! Sie hatten recht, die ganze Zeit! Wären Sie nicht gewesen, ich wäre jetzt nicht hier, heil und ganz, und könnte mich nicht wieder des Lebens freuen! Ich muß Ihnen die Hand drücken…« Doch seine Stimme veränderte sich, noch während er seine Hand ausstreckte.
»Was ist das?« fragte er schwach, und alle Farbe schwand aus seinem Gesicht. »Das ist…! Sie Schuft!« »Was?« Verunsichert hielt Pavel den EA hoch. »Meinen Sie das hier? Nun, ich wollte es Ihnen eben sagen. Wenn Sie…« »Sie Satan!« Andrew riß es ihm aus der Hand und starrte auf die weiße Kappe. Es war deutlich zu sehen, daß sie eingedrückt worden war. »Sie haben ihn aktiviert! Nach Ihrer ganzen frommen Predigerei haben Sie ihn aktiviert! Und…« Er sah aus, als würde ihm übel. »Und all dies ist also doch Illusion! Was bedeutet, daß ich sterben werde – gerade jetzt, da ich endlich zu leben verstehe! Sie Hund, Sie Satan!« Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse der Wut. »Augenblick mal!« rief da der Arzt und trat hinzu. Pavel selbst war wie erstarrt vor Staunen – unfähig zu sprechen oder auch nur zu denken. Aber der Arzt kam zu spät. Mit der ganzen Kraft seiner neu gewonnenen Gesundheit hob Andrew den schweren Plasteel-Zylinder des EA hoch über seinen Kopf und ließ ihn herniedersausen. Und Pavels Schädel zerbarst wie die Außenhaut der abstürzenden Pennyroyal. Originaltitel: THE EASY WAY OUT Copyright © 1971 by Universal Publishing and Distributing Corp. Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser
Harlan Ellison
DAS SCHWEIGEN DER HÖLLE Joe Bob Hickey hatte kein Sternzeichen. Besser gesagt: er hatte deren zwölf. Jedes Jahr feierte er seinen Geburtstag unter einem anderen. Joe Bob Hickey war Waise. Er war auch ein Bastard. In eine schmutzige Armeedecke gewickelt, hatte man ihn auf der Veranda des Findlingsheims von Sedgwick County in Kansas gefunden. Das war 1992. Jahre später bemerkte die Dame, die ihn gefunden hatte, wenn man in seine Augen schaue, sei es wie ein Blick in einen Gang mit leeren Spiegeln. Joe Bob war ein widerspenstiges Kind. Im Heim schien er Ärger zu suchen, ganz gleich wo, und sich darin zu verbeißen. Und er ließ nicht wieder los, bis ein Gewitter sich über ihm entlud. Von Pflegeheim zu Pflegeheim geschubst, nahm er im Alter von dreizehn schließlich Reißaus. Das war im Jahre 2005. Nicht einmal ein Butterbrot hatte man ihm mitgegeben. Aber nach einer Weile war er vierzehn, dann sechzehn, dann achtzehn, und als er entdeckt hatte, was in der Welt wirklich los war, hatte er Muskeln bekommen, Bücher gelesen und den Regen gespürt. Und auf irgendeiner Straße hatte er sein Lebensziel gefunden, und das war gut, denn jetzt brauchte er nicht mehr daran zu denken, zurückzukehren. Und scheiß auf ihr Butterbrot. Joe Bob steckte das Verbindungskabel zum Lautsprecher ein und vergewisserte sich, daß es nicht abgerissen werden konnte. Dann holte er die Übersetzungszange aus seinem Rucksack, schnitt ein Loch von der Form eines Kirchenfensters in den Drahtzaun, verstaute die Zange wieder im Rucksack, fuhr in die Tragriemen. Er nahm sich vor, die Träger so umzukonstruieren, daß der Rucksack und das Megaphon nicht aneinanderschlugen. Jetzt platt auf den Bauch; auf den Ellenbogen robbte er durch den elektrischen Zaun auf das Gelände der Universität von Südkalifornien. Die Scheinwerfer auf den Wachtürmen erreichten diese entfernte Ecke
nicht ganz. Ein übersehener blinder Punkt. Aber auf dem Turm zu seiner Linken konnte er den Gardisten erkennen, der mit einem MiniRadargerät das Gelände absuchte. Joe Bob grinste. Sein Bollixer strahlte den Umriß einer Katze zurück. Seine Hände gruben sich in die Erde; wie ein Frosch die Beine anziehend, kroch er durch das Niemandsland. Einmal zielte das MiniRadar des Gardisten in seine Richtung, nahm aber nur eine Katze wahr; nachdem die Neugier des Mannes erloschen war, suchte er anderswo weiter. Joe Bob kam behende voran. (Lignum vitae kann man wegen der abwechselnd diagonalen und schrägen Anordnung seiner Faserschichten nicht spalten. Es ist nicht nur ein unglaublich zähes Holz – mit einem spezifischen Gewicht von 1,333 geht es in Wasser unter; da es in seinen Poren 26 Volumenprozent Harz enthält, ist es auch glänzend und selbstfettend. Aus diesem Grunde wurde es bei den Maschinen der ersten ozeantüchtigen Dampfschiffe als Material für Lagerschalen verwendet.) Joe Bob als lignum vitae. Ölig durch das Dunkel gleitend. Das Haus der Erdwissenschaften – »Esso-Haus« stand über dem Haupteingang – erhob sich dunkel aus dem leichten Nebel, der über dem Boden lag. Joe Bob arbeitete sich darauf zu, mechanisch an einem Loch in einem seiner Backenzähne saugend, in dem sich eine Faser gestohlenen Brathuhnfleisches festgesetzt hatte. Um das Gebäude herum waren Tretfallen gelegt. In einem ausgeklügelten Slalom kroch er auf dem Bauch zwischen ihnen hindurch, wobei sein Weg ein geradezu kalligraphisches Muster beschrieb. Dann hatte er das Gebäude erreicht. Er setzte sich auf, den Rücken zur Wand, und öffnete eine Umhängetasche. Plastik. Überholt im Zeitalter sonarer Sprengstoffe, aber doch wirkungsvoll. Er brachte die Ladungen an. Dann arbeitete er sich weiter zum Taktikinstitut, den BakteriophagenLaboratorien, dem Datenverarbeitungsblock und dem Waffenlager. Überall brachte er Sprengladungen an. Dann robbte er zurück zum Drahtzaun, drückte sich so auf den Boden, daß er sich nicht vor der eben im Osten grauenden Dämmerung abhob, und zündete.
Zuerst gingen die Laboratorien hoch, schleuderten Wände und Decken himmelwärts in einer Serie von Explosionen, die von blau bis hellrot durch alle Farben des Spektrums gingen. Dann kam der ComputerBlock, funkensprühend wie ein gigantischer Kurzschluß. Die Gebäude von Erdwissenschaft und Taktik brüllten wie Saurier und fielen in sich zusammen. Staub, Holzlatten, Mörtel, ganze Zwischenwände und Spritzer geschmolzenen Metalls ausspeiend. Zuletzt das Waffenlager, mit einer Serie dumpfer Explosionen in einem gravitätischen, doch unregelmäßigen Rhythmus. Dann dröhnte der gewaltige Knall, begleitet von den grotesken Mustern davonflitzender Leuchtspurgeschosse, der das Waffenlager in tausend Fetzen zerriß. Alles brannte, und kleine Explosionen knatterten weiter in den aufkommenden Lärm, der verursacht war von Studenten, Lehrern und Gardisten, die durch das Chaos rannten. Alles brannte, als Joe Bob das Megaphon auf volle Lautstärke drehte und seine Botschaft hinauszuschreien begann. »Nennt ihr das akademische Freiheit, ihr traurigen Erdwürmer? Glaubt ihr, elektrische Zäune und bewaffnete Gardisten in euren Hörsälen weisen euch den Weg zur Erkenntnis? Erhebt euch, ihr miesen Kröten! Kämpft für die Freiheit!« Der Bollixer summte, meldete Strahlung von Radarsonden. Er sandte große Umrisse zurück, unbestimmte Klumpen, Bodenverwerfungen, irgend etwas. Joe Bob schrie weiter. »Nehmt ihnen die Waffen weg!« Seine Worte dröhnten wie die Stimme des Jüngsten Gerichts. Sie übertönten die Bemühungen der Männer, andere Gebäude zu retten, und donnerten gegen die aufkommende Dämmerung. »Schmeißt die Gardisten aus der Universität hinaus! Jefferson hat gesagt: ›Stets haben die Menschen die Regierung, die sie verdienen!‹ Ist es das, was ihr verdient?!« Das Summen wurde lauter; die Impulse folgten rascher aufeinander. Man kreiste die Stelle ein, wo er sich befinden mußte. Bald würden sie ihn haben; zumindest war es sehr wahrscheinlich. Dann würde man ihn unter chemischen Beschuß nehmen. »Hinaus mit den Truppen!
Noch ist es Zeit! Solange auch nur ein einziger von euch nicht ganz und gar durch die Mühlen der Gehirnwäsche gedreht ist, gibt es noch eine Chance. Ihr seid nicht allein! Wir sind eine große organisierte Widerstandsbewegung… Schließt euch uns an… Reißt ihre Unterkünfte ein… Sprengt ihre Waffenlager… Hinaus mit den faschistischen Varks! Freiheit jetzt! Erkämpft sie euch, während sie wie Hunde ihren Schwänzen nachjagen! Hinaus mit den Varks…« Die Flüssigkeitskanonen waren in Stellung gebracht. Als die MiniRadars seine vermutliche Position ermittelt hatten, waren sie schußbereit. Sein Bollixer gab einen einzigen pulsierenden Summton von sich, und er wußte, daß sie ihn im Visier hatten. Er hängte das Megaphon wieder an die Gürtelschnalle, griff zum Halfter und holte den Squirter heraus. Nichts wie weg, sagte er zu sich selbst. Halt den Mund, antwortete er. Raus mit den Varks! He, laß das. Ich will mich nicht umbringen lassen. Fürchtest dich wohl, du Angsthase? Genau das. Wenn du dir den Hintern wegschießen lassen willst, dann ist das deine Sache, du dämlicher Trottel. Aber ohne mich! Abrupt brach der innere Monolog ab. Von rechts näherten sich drei Flüssigkeitskanonen. Überall trafen sie knatternd und spuckend, nur dort nicht, wo Joe Bob das fensterförmige Loch in den Zaun geschnitten hatte. Über ihre Köpfe feuernd, robbte er rückwärts. Ich dachte, du bist der größte Killer? Halt’s Maul, verdammt! Nicht jeder Schuß trifft, das ist alles. Daneben, du meine Güte! Du willst bloß kein Blut sehen. Rückwärts kroch und robbte er, als bestünde er nur noch aus Armen und Beinen, und die Kanonen kamen näher. Wir sind eine große, organisierte Widerstandsbewegung, hatte er verkündet. Er hatte gelogen. Er war allein. Er war der letzte. Nach ihm würde es vielleicht hundert Jahre lang keinen anderen mehr geben. Um ihn herum spritzte von den Schüssen der Kanonen die Erde hoch. Angst! Ich will mich nicht umbringen lassen.
Am Horizont stieg ein Jäger auf. Er hörte ein schneidend heulendes Geräusch, und Angst! schoß es ihm wieder durch den Kopf. Ein Graben. Hinein. Die grasbewachsene Böschung deckte ihn vor dem Jäger, aber nicht vor den drei Kanonen. Er holte tief Atem, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen – vergebens, zu trocken. Und wartete. Der Jäger kurvte zu ihm herüber. Joe Bob legte den Lauf seiner Waffe auf die Böschung des Grabens, drückte ab. Er hielt vor dem Jäger, und die Maschine flog direkt in sein Feuer. Elektrische Stürme, kleine Energiewirbel flackerten über den Jäger, verbargen vor den Blicken des Piloten und seines Schützen, was unter ihnen lag. Dann schlugen die ersten Treffer ein, bohrten sich in den Rumpf des Jägers, drangen in das Energiezentrum. Plötzlich explodierte die Maschine. Fetzen verbogenen Metalls regneten auf das Gelände. Während das Echo des Todes noch widerhallte, rannte Joe Bob Hickey den Graben entlang, hinaus in den Wald, und war verschwunden. Es ist schon gesagt worden und wird wieder gesagt werden, aber nicht so einfach oder menschlich, wie Thoreau es gesagt hat: »Der dient dem Staate am besten, der sich dem Staat am meisten widersetzt.« (Aluminiumazetat, eine chemische Verbindung, die, in Form ihres natürlichen Salzes, Al (C2H3O2)3, eines weißen, wasserlöslichen Pulvers, hauptsächlich in der Medizin als Adstringens und Antisepticum verwendet wird. In Form eines basischen Salzes, eines weißen, kristallinischen, wasserunlöslichen Pulvers, wird es hauptsächlich von der Textilindustrie zu Imprägnierungszwecken und als Mordens verwendet. Ein Mordens kann zu allem Möglichen dienen, unter anderem dazu, Blattgold oder -silber an eine Oberfläche zu binden; es kann auch als Säure oder andere korrodierende Substanz zum Ätzen verwendet werden.) Joe Bob Hickey als Aluminiumazetat. Mordens. Ätzende Säure auf einer von Korrosion befallenen Fläche. Die tiefe Nacht fand ihn weitab von den brennenden Ruinen der Universität, befallen von furchtbaren Schmerzen. Dahinstolpernd unter den riesigen Pylonen der Kontinentalen Tramway. Stürzend, sich
stoßend, mühsam dahintaumelnd. Eine kiesige Böschung hinunter in tiefes Gras. Saurer Geruch von Wasser. Hände griffen nach ihm im Dunkel, drehten ihn auf den Rücken. Licht flackerte, und eine Stimme sagte: »Er blutet«, und eine andere Stimme, heiser und tonlos, sagte: »Er hat einen Squirter«, und eine dritte Stimme sagte: »Komm, rühr ihn nicht an«, und die erste Stimme sagte wieder: »Er blutet«, und das Licht zündete einen Zigarrenstummel an, bevor es erlosch. Dann herrschte wieder pechschwarze Dunkelheit. Joe Bob hatte Schmerzen. Wie lange schon, wußte er nicht, doch war ihm klar, daß es schon eine geraume Weile so sein mußte. Dann öffnete er die Augen und sah ein schwaches Feuer glimmen. Er saß mit dem Rücken gegen einen Sumac-Baum gelehnt. Eine Hand kam aus dem Nebel, der ihn umgab, schien direkt aus dem Feuer zu kommen, und eine Stimme, die er früher schon einmal gehört hatte, sagte: »Da, trink mal einen Schluck.« Jemand hielt eine Plastikflasche mit etwas Heißem an seine Lippen, und eine andere Hand, die er nicht sehen konnte, hob seinen Kopf ein wenig. Und er trank. Es war eine suppige Brühe, die nach Gras schmeckte. Aber er fühlte sich danach ein wenig besser. »Ich hab dir was aus der Dose in deinem Rucksack gegeben. Irgend etwas hat dich ziemlich bös erwischt, Junge. Quer über den Rücken. Hast ganz schön geblutet. Aber es heilt recht gut.« Joe Bob schlief wieder ein. Leichter dieses Mal. Später, als es linder und kühler war, erwachte er wieder. Das Lagerfeuer war aus. Er konnte klar sehen, was zu sehen war. Es dämmerte. Aber wie konnte das sein… Schon wieder Dämmerung? War er den ganzen Tag gelaufen, um den Varks zu entwischen, die ihn einfangen sollten? So mußte es gewesen sein. In der Dämmerung war er durch den Drahtzaun gekrochen, hatte die Zündung betätigt. Daran erinnerte er sich. Und an die Explosionen. Und an die Squirt-Kanonen, und an den Jäger, und… Er wollte nicht an Dinge denken, die brennend und funkensprühend vom Himmel fielen. Einen vollen Tag und eine Nacht lang war er gelaufen. Dann war der Schmerz gekommen. Furchtbarer Schmerz. Sich ein wenig bewegend,
spürte er heißes Pulsieren in seinem Rücken. Ein Stück des brennenden Jägers mußte ihn erwischt haben; aber er war weitergelaufen. Und jetzt war er hier, irgendwo anders. Wo? Gedämpftes Licht kam durch die Blätter der Bäume. Er sah sich in der Lichtung um. Gestalten unter Decken. Ein halbes Dutzend, nein, sieben. Das Feuer jetzt nur noch glimmende Asche. Und er lag da, unfähig, sich zu bewegen, und wartete auf den Tag. Der erste, der aufstand, war ein alter Mann mit einem drei Tage alten Stoppelbart; eines seiner Augen war weiß wie ein gekochtes Ei. Er humpelte zu Joe Bob herüber, dessen Augen sich zu Schlitzen verengt hatten, und starrte ihn an. Dann nahm er seine Decke, zog sie zurecht und wandte sich dem erlöschenden Feuer zu. Er war dabei, es fürs Frühstück wieder anzufachen, als zwei der anderen sich aus ihrer Umhüllung rollten. Einer war ziemlich groß und hatte einen Haken statt einer Hand. Der andere war ebenso alt wie der erste. Unter der Decke war er nackt und haarlos von Kopf bis Fuß. Er war hellrot, ganz hellrot; seine Haut war weich. Sein Körper sah merkwürdig aus: Der Kopf eines alten Mannes saß auf dem faltigen, rosigen Leib eines Babys. Von den anderen vier war nur einer normal und unverstümmelt. Joe Bob glaubte das jedenfalls, bis er bemerkte, daß der Normale nicht sprechen konnte. Die anderen drei waren ein Buckliger, mit einer Plastikbeule auf seinem Rücken, die flackerte und mit seiner Stimmung wechselnde farbige Streifen durchschimmern ließ; ein Schwarzer mit einer verbrannten Gesichtshälfte, so daß er aussah, als stünde er ständig halb im Schatten; und eine Frau, die vierzig oder siebzig sein konnte, mit zentimetergroßen Löchern in Handgelenken und Knöcheln, deren Gelenke sich in die falsche Richtung zu biegen schienen. Joe Bob sah verstohlen zu, als sie sich mit Wasser aus einem Plastiksack wuschen, so gut es ging. Das Wasser des schaumbedeckten übelriechenden Bachs, das wie ein graubrauner Wurm durch die Lichtung kroch, konnten sie nicht benützen. Dann kam der alte Mann mit dem seltsamen Auge, kam zu ihm, kniete nieder und legte seine Hand auf Joe Bobs Wange. Joe Bob öffnete die Augen. »Kein Fieber. Guten Morgen.«
»Danke«, sagte Joe Bob. Sein Mund war trocken. »Wie wär’s mit einer guten Tasse Kaffee mit Zichorie?« Der alte Mann lächelte. Es fehlten ihm Zähne. Joe Bob nickte mit einiger Mühe. »Könnten Sie mich ein wenig aufsetzen?« Der alte Mann rief: »Walter… Marty…« und der Stumme kam zu ihm, gefolgt von dem Schwarzen mit den zwei halben Gesichtern. Vorsichtig richteten sie Joe Bob in sitzende Position auf. Sein Rücken schmerzte entsetzlich, und jeder Muskel seines Körpers war steif von der Kälte des Bodens. Der alte Mann reichte Joe Bob eine halb mit Kaffee gefüllte Plastikflasche. »Weder Milch noch Zucker, tut mir leid«, sagte er. Joe Bob lächelte dankend und trank. Der Kaffee war sehr heiß, aber er war gut. Er spürte, wie er in ihm hinunterrann und sich in seine Adern verteilte. »Wo bin ich? Was ist das hier?« »Nevada«, sagte die Frau, kam herüber und hockte sich neben ihm nieder. Sie trug an den Waden abgeschnittene Overalls, deren Träger auf dem Rücken durch Clips zusammengehalten wurden. »Wo in Nevada?« fragte Joe Bob. »Oh, etwa zehn Meilen von Tonopah.« »Vielen Dank, daß Sie mir geholfen haben.« »Ich hatte gar nichts damit zu tun. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir schon weiter. So nahe bei der Tramway, das macht mich nervös.« »Warum?« Er schaute nach oben. Die atemberaubende Luft-Tramway, obwohl die noch am wenigsten eindrucksvolle von Paolo Soleris Arcologien, jagte auf geschwungenen, zweihundert Meter hohen Pylonen dem Horizont entgegen. »Die Bullen von der Firma, deswegen. Die spielen Großreinemachen überall in der Gegend. Sie suchen nach Saboteuren. Möchte nicht gern, daß sie glauben, wir sind welche.«
Joe Bob spürte, wie seine Nerven zu flattern begannen. Die größten Patrioten wurden zum Tode verurteilt. Wenn man ein Kind vergewaltigte, sieben Frauen ermordete, einem alten Gemüsehändler den Schädel einschlug – das ging noch hin. War man aber »gegen sein Land«, dann durften die schlimmsten Verbrecher über einen herfallen. Er dachte an Greg, der in der Todeszelle von Saint Quentin auf seinen Berufungsbescheid wartete. Ein Varkkiller, der eine Menschenmenge mit einem Squirter besprüht hatte, als er aus einem schiefgelaufenen Drugstore-Überfall zu entkommen versuchte, hatte sich über ihn hergemacht. Der Varkkiller hatte mit einem dreibeinigen Hocker aus seiner Zelle Greg den Schädel eingeschlagen. Wer immer diese Leute waren, sie waren nicht was er war. »Bullen?« fragte Joe Bob. »Wie lange bist du denn schon auf der Flucht, Junge?« fragte der unglaublich lange Kerl mit dem Haken statt der Hand. »Bullen. Truppen. Der Mann.« Der Alte lachte ein wenig und schlug den Langen auf den Schenkel. »Paul, er ist zu jung, um diese Wörter zu kennen. Das waren unsere Begriffe. Jetzt nennen sie sie…« »Varks?« fragte Joe Bob, als der andere zögerte. »Ja, Varks. Weißt du, woher das kommt?« Joe Bob schüttelte den Kopf. Der Alte setzte sich hin und begann zu reden, und die anderen machten es sich bequem und hörten zu, als spräche er zu um einen Herd gelagerten Kindern. »Es kommt von dem Afrikaans-Wort für Erdschwein oder aardvark. Man hat es zu Vark verkürzt, versteht ihr.« Und er sprach weiter, erzählte Geschichten aus der Zeit, als er jung gewesen war, von Ereignissen dieser Zeit und von ihrem Land, als es noch schöner gewesen war. Und Joe Bob hörte zu. Hörte, wie der alte Mann in einer staatlichen Klinik zu seinem weißen Auge gekommen war, dort, wo Paul seinen Metallhaken bekommen hatte, wo Walter seine Zunge verloren hatte und Marty mit der Säure in Berührung gekommen war, die sein halbes Gesicht gebleicht hatte. Es war die gleiche Art von Klinik, wo sie alle gelitten hatten. Aber sie sprachen von den Unruhen
im Land, die aufgehört hatten, und sagten, wieviel besser es für alle war, selbst für Heimatlose wie sie. Aber das wußte Joe Bob: Es war nicht besser. »Spielst du Monopoly?« fragte der Alte. Der Bucklige, dessen Plastikbeule in verschiedenen Pastellfarben schimmerte, ging zu einem der herumliegenden Bündel, schnürte es auf und holte einen vielfach geflickten Karton heraus. Dann zeigten sie Joe Bob, wie man Monopoly spielt. Schnell hatte er verloren; Vermögen anzuhäufen, schien ihm absurde Zeitverschwendung zu sein. Er versuchte, sie darüber aufzuklären, was in Amerika vor sich ging: Über die Abschaffung des Obersten Gerichtshofes, darüber, daß Schul- und Universitätsausbildung nicht das geringste enthalten durfte, was der Regierung mißfiel, über die Datenbank in Denver, wo jedermanns Identität und Vergangenheit festgehalten war und seine sofortige Verhaftung ermöglichte, wenn nötig. Über alles. Aber sie wußten das. Sie hielten es nicht für schlecht. Sie dachten, es halte die Saboteure im Zaum, so daß im Lande weiterhin alles zum Besten bestellt sein konnte, wie eh und je. »Ich muß jetzt gehen«, sagte Joe Bob schließlich. »Vielen Dank für alle Hilfe.« Sie luden ihn nicht ein, bei ihnen zu bleiben. Er hatte es auch nicht erwartet. Er kletterte die kiesige Böschung hinauf. Dann stand er im langen Schatten der Luft-Tramway, die die West- mit der Ostküste verband, und schaute hinauf. Sie schien frei zu schweben. Aber er wußte, daß sie tief in der Erde verankert war, zehnmal pro Meile. Sie schien nur zu schweben, weil Soleri es so erträumt hatte. Kunst war nicht Realität, nur der Anschein davon. Er wandte sich nach Osten. Wo immer er hinging, es würde dasselbe sein. So ging er irgendwo hin. Die Vollversammlung der Staatsuniversität von New York in Buffalo war reich garniert. Reich garniert mit Varks, Soldaten, Squirtern und (fügte Joe Bob, von einem Hausdach hinunterschauend, hinzu) Bullen. In Gruppen von nicht mehr als vier, waren die Obersemester in Kabinen mit durchsichtigen Plastikwänden verteilt. Die Sicht auf die Bildschirme,
auf denen der Präsident-Kontrolleur seine Ansprache hielt, war ungehindert. – Andererseits gab es so keine Probleme für die Ordnungskräfte, falls es zu Unruhen kam. (Gerüchteweise war etwas von Unruhen verlautet; sogar ein hektographierter Protest war an mehreren Schwarzen Brettern angeschlagen worden.) Joe Bob schaute durch das Fernglas. Er besah sich die Wachhunde. Bedeutung und Position der Angehörigen des Lehrkörpers waren an der Größe, dem Modell und der Bewaffnung des Wachhund-Roboters zu erkennen, der, leise summend, schräg über der rechten Schulter jedes Administrators und Professors schwebte. Joe Bob suchte nach einem Diktograph 2013 mit Nebelsprühern und Squirterdüsen. Letztes Modell… Präsident-Kontrolleur. Das neueste Modell dort unten war ein 2007. Das hieß, daß alle nur Assistenten und Tutoren waren. Er kletterte auf dem Dach zurück, hinüber zum Wachturm. Der Wächter schlief immer noch, in Spinex eingehüllt. Er starrte auf die in Silberfäden eingesponnene Mumie. Sie würden ihn finden und mit einem Lösungsmittel besprühen. Joe Bob hatte die Nase freigelassen: Der Wächter konnte atmen. Größerer Killer! Halt’s Maul. Unwirksamer Befehl. Halt’s Maul, sag ich dir! Er schlüpfte in den einteiligen Stretchanzug des Wächters, schob die Ärmel zurecht, dehnte ihn um seine breiteren Schultern. Dann stieg er, den Rucksack umgehängt, die Wendeltreppe hinunter. Im Mediengebäude waren keine Varks. Alle waren auf Alarmstation: Semesterbeginn. Durch eine Flucht von Korridoren kam er zum Heizungskeller. Es war Juni. Heiß draußen. Die Öfen waren ausgeschaltet; die Klimaanlage hielt das ganze Gelände auf angenehmen dreiundzwanzig Grad. Er fand den Plan für die Rohrleitungen und folgte mit dem Finger dem Weg zum Studio. Dann warf er wieder den Rucksack über, stemmte ein Gitter auf und kletterte in das System. Kletterte lange nach oben…
20 weißt du noch, wie die Vorschrift in Kraft gesetzt wurde, daß in offenen Klassen nicht diskutiert werden durfte, was nicht direkt mit dem Vorlesungsthema des betreffenden Tages zu tun hatte. 19 und erinnerst du dich an die Vorlesung über moderne Kunst, in der du Fragen über die Verwendung moderner Kunst als Vehikel für Opposition und Revolution stelltest 18 und wie du anfingst, dem Professor Fragen über Picassos Guernica zu stellen, und welches Fieber für dieses Antikriegsgemälde nötig gewesen sein mußte 17 und wie der Professor die Vorschrift vergaß und die Geschichte von Diego Riveras Fresko im Rockefeller Center erzählte, das Nelson Rockefeller in Auftrag gegeben hatte 16 und wie, als das Fresko fertig war, Rivera an auffallender Stelle Lenin hineingemalt hatte und Rockefeller verlangte, daß er ein anderes Gesicht darüber male, und Rivera sich weigerte 15 und wie Rockefeller das Fresko’ zerstören ließ 14 und wie keine zehn Minuten nach der Diskussion der Kontrolleur den Professor verhaften ließ 13 und erinnerst du dich noch an den Tag, als das Institut für Spieltheorie in ein Taktikinstitut umgewandelt und sein Haus in Neumann-Haus umbenannt wurde, und wie das Pentagon als Gegenleistung Mittel für das neue Stadion bereitstellte 12 und weißt du noch, wie sie dich bei der Einschreibung in der Datenbank überprüften und alle deine Verbindungen kannten und dich den Loyalitätseid für Studenten unterschreiben ließen 11 an dem Nachmittag, als sie ins Kellergeschoß eindrangen 10 und dich und Greg und Terry und Katherine erwischten 9 und euch keine Chance ließen, hinauszukommen und das Kellergeschoß voll Nebel sprühten 8 und Terry in den Mund schossen und Katherine 7 und Katherine 6 und Katherine 5 und sie auf dem Sofa starb, zusammengekauert wie ein Kind 4 und sie hereinkamen und von innen Löcher in die Tür schossen, so daß es aussah, als hättest du auf sie gefeuert 3 und sie dich und Greg verhafteten; und erinnerst du dich an die Stiefeltritte und die Handschellen und die Geständnisse und daran, wie du flüchtetest, ranntest 1 Er kletterte. Sah durch ein Gitter hinaus. Das Studio. Wie schön es war, Kameras, Monitore, und sie alle – fett und gepudert und glücklich. Die Wachhunde, schräg über ihren Schultern in der Luft sich drehend und drehend und drehend.
Jetzt werden wir sehen, was für ein harter Bursche du wirklich bist. Fangen Sie mit jemand anderem an! Du mußt jetzt jemanden umbringen. Ich weiß, was ich tun muß. Jetzt wollen wir einmal sehen, wie dein Friedensgeschwätz dazu paßt, daß du jemand abschlachtest – Hol euch der Teufel! – kaltblütig, so nennt man es doch? Ich kann es tun. Sicher. Du machst mich ganz krank. Ich kann: Ich kann es tun, ich muß es tun. Also tu es. Im Studio wimmelte es von Verwaltungsbeamten, Technikern, Wächtern und Soldaten. Militär in Zivil behielt die oberen Semester im Auge. Und im Arrestkomplex, fünfundzwanzig Meter unter dem Waffendepot, lagen elf Studenten gekrümmt in Sicherheits-käfigen, die so gebaut waren, daß man darin weder stehen noch sitzen konnte. Wegen der lauernden, feuerbereiten Wachhunde war es unmöglich, an den Präsident-Kontrolleur heranzukommen. Aber es gab eine Möglichkeit, die Wach-Roboter zu verwirren. Wendell hatte das in Dartmouth herausgefunden, aber er hatte dafür mit dem Leben bezahlt. Aber es gab eine Möglichkeit. Wenn ein Mann für dich stirbt. Ein Vark. Wenn ein Vark stirbt. Die sterben den selben Tod. Er ignorierte dieses Gespräch. Es führte nirgendwo hin; es führte nirgendwo hin und immer zum gleichen Punkt. In seiner Hand war das Squirt-Gewehr. Er legte sich flach, die Beine gespreizt, die Füße nach außen, und stützte den Squirter gegen seine Achsel ab. Er sah vor sich, was in den nächsten Sekunden passieren würde. Er würde auf den Wachmann schießen, der neben dem Kameramann mit der Arriflex stand. Der Wächter würde fallen, was die Wachhunde alarmieren würde. Sie würden nach der Ursache Ausschau halten, und in diesem
Augenblick würde ich auf einen von ihnen abdrücken. Er würde einen Kurzschluß bekommen und zu sprühen beginnen. Die anderen Wachhunde würden verwirrt aufeinander zu feuern beginnen, und in dem entstehenden Durcheinander würde er das Gitter aus seiner Verankerung schlagen, hinausspringen und sich des PräsidentKontrolleurs bemächtigen. Wenn er Glück hatte. Und wenn er weiter Glück hatte, würde er mit ihm entkommen. Und ihn als Geisel für die elf benutzen. Du hast Glück! Du wirst sterben. Dann werde ich eben sterben. Sie sterben, ich sterbe. Ganz gleich, ich bin müde. Dieses Gerede, dieses schöne, edle Gerede. Er dachte daran, was er durch das Megaphon gesagt hatte. Es schien so lange her. Jetzt war der Moment des Handelns gekommen. Sein Finger spannte sich um den Abzug. Das Licht wurde stärker. Er konnte das Studio nicht mehr sehen. Das grelle, goldene Licht verschlang alles. Er blinzelte, nahm den Squirter von der Schulter und sah, daß das goldene Licht bei ihm im Klimasystem war, ihn umgab, ihn erhitzte, glühte und heißer und heller wurde. Er versuchte zu atmen und konnte nicht. Sein Kopf begann zu pulsieren, seine Schläfen zu pochen. Er hatte einen vagen Gedanken – vielleicht war es einer der Wachhunde, der ihn bemerkt und diese neue Art von Nebel oder Hitzestrahlen ausgelöst hatte oder irgend etwas, was ihm noch unbekannt war. Und dann verschwand alles in einem Ausbruch goldenen Lichts, das heller war als irgend etwas, was er jemals gesehen hatte. Heller selbst, als damals, als er, auf dem Rücken in einem Weizenfeld liegend, mit weit aufgerissenen Augen in die Sonne gestarrt hatte, um zu sehen, wie lange er es aushalten würde. Wem hatte er zeigen wollen, wie sehr er dem Schmerz widerstand? Noch gleißender war es als das. Wer bin ich, und wohin gehe ich? Wer er war: Ungezählte Milliarden von Atomen, auseinandergerissen und fortgewirbelt von dort durch einen goldenen Tunnel durch hellgelben Raum und ockerfarbene Zeit. Wohin sein Weg ihn führte:
Joe Bob Hickey erwachte, und die erste Empfindung von vielen, die auf ihn einstürmten, war die des Schwankens. Auf einer Welle aus Luft oder Wasser wogte er hin und her in einer Pendelbewegung, die Übelkeit in ihm erregte. Goldenes Licht drang durch seine geschlossenen Lider. Und da waren Geräusche. Sehr musikalische Töne, die abzubrechen schienen, bevor er sie bis zum letzten vibrierenden Tremolo hörte. Er öffnete die Augen und lag auf dem Rücken, auf einer weichen, sich der Form seines Körpers anpassenden Fläche. Er wandte den Blick, sah seinen Rucksack und das Megaphon. Das Squirter-Gewehr war fort. Er drehte seinen Kopf wieder zurück, schaute gerade nach oben. Er hatte Gitter gesehen. Vergoldete Gitterstäbe, die sich im Bogen nach oben schwangen. Er dachte an eine Kathedrale. Langsam kam er auf die Knie, durchwogt von Gefühlen der Übelkeit. Es waren Gitterstäbe. Er stand auf. Das Gefühl des Schwankens war nun deutlicher. Er machte drei Schritte und war am Ende der weichen Fläche. Sie war grau, kreisförmig und in den Boden eingelassen. Er trat herunter, auf den festen Boden des… Käfigs. Es war ein Käfig. Er trat ans Gitter und sah hinaus. Zwanzig Meter unter ihm war eine Straße. Eine goldene Straße, auf der sich große, birnenförmige Geschöpfe bewegten, vor sich kleinere, blaue Menschengestalten hertreibend, die die Wägelchen zogen, in denen die goldenen, birnenförmigen Kreaturen fuhren. Lange Zeit sah er zu. Dann ging Joe Bob Hickey zu der runden Matratze zurück und legte sich nieder. Er schloß die Augen und versuchte zu schlafen. In den Tagen, die folgten, wurde er gut verpflegt und erfuhr, daß das Wetter gesteuert sei. Wenn es regnete, würde eine Energieblase – das verstand er nicht, jedenfalls war sie unsichtbar – seinen Käfig bedecken. Die Hitze war nie zu groß; auch war es nicht kalt in der Nacht. Man nahm seine Kleider fort und brachte andere. Und die blieben stets frisch und sauber.
Er war irgendwo anders. So viel ließ man ihn wissen. Die goldenen birnenförmigen Kreaturen waren die herrschende Klasse, die kleineren, blauen, menschenähnlichen ihre Arbeiter. Er war ganz woanders. Von seinem großen pendelnden Käfig aus, zwanzig Meter über der Straße, schaute Joe Bob Hickey hinunter. Von diesem Käfig aus konnte er alles sehen. Er konnte die goldenen Herrscher ihre jammervollen blauen Diener antreiben sehen, und niemals erblickte er das Gesicht von einem der kleineren Leute, denn ihre Augen waren ständig auf ihre Füße gerichtet. Er hatte keine Ahnung, warum er hier war. Und er war sicher, daß er für immer hierbleiben würde. Zu welchem Zweck auch immer sie ihn aus seinem Raum und seiner Zeit gerissen hatten – sie hatten nicht das Bedürfnis, es ihm mitzuteilen. Er war ein Ding in einem Käfig hoch über einer goldenen Straße. Nicht lange nachdem ihm klargeworden war, daß er hier den Rest seines Lebens verbringen würde, war er plötzlich in intensives gelbes Licht getaucht. Es überflutete und wärmte ihn, und für eine Weile fiel er in Schlaf. Als er erwachte, fühlte er sich besser denn seit Jahren. Der scharfe Schmerz, den die Schrapnellwunde ihm regelmäßig bereitet hatte, war gewichen. Die Wunde war völlig verheilt. Obgleich er die seltsame einfache Nahrung aß, die er in seinem Käfig fand, fühlte er nie das Bedürfnis, zu urinieren oder seine Gedärme zu entleeren. Sein Leben war ruhig, und er entbehrte nichts, weil er nichts wollte. Steh auf. Zieh dich an. Zieh dich an. Mir geht es gut. Ich bin müde, laß mich in Ruh. Er stand auf und ging ans Gitter. Unten in der Straße hatte der Wagen eines goldenen Birnengeschöpfs fast direkt unter dem Käfig gehalten. Blaue Gestalten waren in den Sielen gestürzt, und er sah, wie das goldene Birnengeschöpf sie schlug. Und irgendwie sah er die Dinge zum erstenmal so wie früher, bevor man ihn hierher gebracht hatte. Die Ungerechtigkeit empörte ihn. Er spürte das Blut in seinem Halse hämmern, begann zu schreien. Die goldene Kreatur hörte nicht auf. Joe Bob suchte nach etwas, was er hinunterwerfen konnte. Er packte das Megaphon, stellte es an und begann schreiend das Ungeheuer mit der
Peitsche dort unten zu bedrohen und zu verfluchen. Die Kreatur sah zu ihm auf, und ihre vielen silbernen Augen blieben auf Joe Bob Hickey geheftet. Verbrecher, Tyrann, Mörder! schrie er. Er konnte nicht anders. All das, was er seit Jahren gerufen hatte, schrie er hinaus. Und die Kreatur hörte auf, die kleinen blauen Gestalten zu schlagen, und sie standen langsam auf und zogen den Wagen fort, und die Kreatur folgte. Und als sie sich etwas entfernt hatten, rollte sich die Kreatur von neuem auf den Wagen und peitschte sie vor sich her. »Erhebt euch, ihr Kröten! Kämpft für die Freiheit!« So schrie er den ganzen Tag, und das Megaphon ließ seine Stimme an die Mauern der fensterlosen goldenen Gebäude schlagen. »Reißt ihnen die Peitschen aus der Hand! Ist es das, was ihr verdient?! Noch ist es Zeit! So lange noch einer von euch nicht aufgibt, besteht noch eine Chance. Ihr seid nicht allein! Wir sind eine große organisierte Widerstandsbewegung…« Sie hören nicht. Sie werden hören. Niemals. Es ist ihnen gleich. Nein! Nein, das ist es nicht. Sieh hin! Und es war so. Drunten auf der Straße kamen Wagen gefahren, und sobald sie in Reichweite seiner Stimme gerieten, begannen die goldenen Kreaturen mit kreischenden Stimmen zu heulen und schlugen sich selbst mit ihren Peitschen… Und die Wagen setzten sich wieder in Bewegung… Und die birnenförmigen Kreaturen peitschten ihre blauen Sklaven davon. Vor seinen Augen heulten sie und schlugen sich, versuchten für ihre Grausamkeit zu büßen. Aus seinem Blickfeld verschwunden, machten sie weiter wie ehedem. Er brauchte nicht lange, bis er verstand. Ich bin ihr Gewissen. Du warst der letzte, den sie finden konnten, und sie nahmen dich, und jetzt hängst du hier und prangerst sie an, und sie schlagen sich an die Brust und heulen mea culpa, mea maxima culpa, und züchtigen sich; dann machen sie weiter wie zuvor.
Wirkungslos. Totem. Clown. Ich bin ein Clown. Aber sie hatten gut gewählt. Er konnte nicht anders. Wie er immer eine stumme Stimme gewesen war, die Worte schrie, die doch niemand hörte, so war er auch jetzt eine stumme Stimme. Tag für Tag erschienen sie unter ihm und bejammerten ihre Schuld. Sobald das geschehen war, konnten sie weitermachen. Das tief gelbe Licht. Weißt du, was es mit dir gemacht hat? Ja. Weißt du, wie lange du leben und ihnen sagen wirst, wie gemein sie sind, wie lange du hier im Käfig hängen wirst? Ja. Und dennoch wirst du es weiter tun. Ja. Warum? Macht dir das Sinnlose Spaß? Es ist nicht sinnlos. Du sagtest es selbst. Warum? Wenn ich es ewig tue, vielleicht darf ich dann, am Ende der Ewigkeit, sterben. (Der schwarzköpfige Gonolek ist der räuberischste der afrikanischen Buschvögel. Ornithologisch gesehen nehmen die Vanga-Shrikes unter den Sperlingsvögeln etwa dieselbe Stellung ein wie Habichte und Eulen unter den Nicht-Sperlingsvögeln. Da sie ihre Beute auf Dornen spießen, hat man ihnen den Namen »Metzgervogel« gegeben. Wie viele Raubvögel töten sie oft mehr Tiere, als sie fressen können, und wenn die Gelegenheit sich ergibt, scheinen sie aus Lust am Töten zu töten.) Alles war goldenes Licht und Bewußtsein. (Nicht selten findet man auf Dornbüschen oder Stacheldrahtzäunen ein Dutzend oder mehr Heuschrecken, Grashüpfer, Mäuse oder kleine Vögel. Daß der Metzgervogel solche Vorräte für Zeiten zukünftiger Not anlege, ist bezweifelt worden. Oft kommt er gar nicht zurück, und die Kadaver schrumpfen langsam oder verfaulen.)
Joe Bob Hickey, Opfer und Beute seiner Welt, vom Metzgervogel auf einen Dorn aus Licht aufgespießt und doch sein Bruder. (Die meisten dieser Vögel haben laute, melodische Stimmen und geben ihre Anwesenheit durch gut erkennbare Schreie kund.) Er wandte sich wieder zur Straße hinunter, setzte das Megafon an den Mund und schrie, allein wie immer: »Jefferson sagte…« Und von der goldenen Straße kam das Schmerzensgewinsel von Insekten. Originaltitel: SILENT IN GEHENNA Copyright © 1971 by Ben Bova Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser
H. H. Hollis
ZU VIELE MENSCHEN 1 »Töte… töte sie…« »Schau nach einem weißen Fleck, Jake, und feure hinein.« Yacov HarShawkor fand sich in einem Alptraum wieder, als er von der Konferenz in New Delhi zurückkehrte. Charles Perry drückte ihm im Laufen eine geladene M-16 in die Hand. Schwere Handfeuerwaffen knatterten um sie herum. Im Laboratoriumstrakt leuchtete Flutlicht in nutzloser Helligkeit. Hier, in der Dunkelheit der südindischen Binnenebene, hörte man nur das Stakkato gehetzter Schritte, heisere Rufe in Tamil und Englisch: »Dort! Schieß, schieß doch!« und keuchenden Atem, als sie den aus dem Laboratorium entsprungenen Flüchtling verfolgten. »Was ist weiß, Charlie? Worauf soll ich zielen?« »Marys Krankenhauskittel! Sie ist entkommen.« Yacov blieb plötzlich stehen, den Karabiner in der Hand. Mein Gott, dachte er, Mary. Vor einer Woche noch… und Charlie will, daß wir sie töten. Er hat sie geliebt all die Jahre und möchte sie töten. Wofür? Yacov wußte es, und bei dem Gedanken durchlief es ihn eisig. »Charlie…« rief er der Gestalt nach, die vorausgeeilt war. »Hast du einen stabilen Vektor für den Virus?« »Ja, ja«, stöhnte Charles, als er seine Schritte verlangsamte, die. 358 Magnum in der Rechten. »Ja, Mary hat ihn – aber der Prozeß ist nicht stabil. Wir müssen sie töten. Glaubst du, mir macht das Spaß?« Jetzt hatte ihn Yacov wieder erreicht, und sie keuchten wie Männer, die körperliche Anstrengung nicht gewohnt sind. »Ja«, sagte er bitter. »Ja, das glaube ich, du eifersüchtiger…«
»Nein. Du verstehst nicht. In einer Frau können wir den Virus nicht mehr kontrollieren. Das ist nicht mehr Mary. Es ist das Ende der menschlichen Rasse.« Er hob seine Waffe. »Ich töte auch dich, wenn es sein muß; heute abend aber werde ich Marys Leichnam verbrennen und dann noch einmal die Asche, und auch den Boden, auf den sie gefallen ist.« Sie hatten beide den Tod des anderen in der Hand, und Yacov wußte, was hätte passieren können; in einer halben Meile Entfernung, am Ufer des breiten Flusses, hallten Schüsse durch die schwarze Nacht. Dann übertönten triumphierende Rufe einen entsetzlichen Schmerzensschrei. Gleich darauf kam der hagere indische Laboratoriumsverwalter zu ihnen zurück. »Sie ist tot, Gentlemen. Dr. Subchundrum sucht noch nach einem Boot, um sicherzustellen, daß die Krokodile nichts von ihr übrig gelassen haben. Ich glaube, ich habe sie getroffen – und ich weiß, daß Dr. Subchundrum sie nicht verfehlt hat. Ich sah sie taumeln, bevor sie über die Uferböschung stürzte. Tut mir leid.« Die Suche im Fluß erbrachte nichts. Für den Rest der Nacht saßen drei Wissenschaftler in der einfach ausgestatteten Laboratoriumsmesse, ließen die einzige Flasche Gin kreisen und betrauerten den Verlust von Mary Braden, die sie alle irgendwann und in irgendeiner Weise geliebt hatten. Erinnerungen wurden wie Schnappschüsse ausgetauscht, und jede davon bewahrte die drei einen Augenblick lang vor dem Gedanken an den Tod und an die Nichtexistenz der Frau, deren Leben sich mit dem ihren vermengt hatte. Was sie als Studenten zusammengebracht hatte, war brennendes Interesse an den Methoden der Bevölkerungskontrolle. An einer großen Bostoner Universität hatten Patasayjit Subchundrum, Charles Perry und Yacov HarShawkor – bei seinen Freunden besser als Yankele bekannt – einen durch Intellekt und jugendlichen Überschwang geprägten Kreis um Mary Braden gebildet, die leidenschaftlich für eine Politik kämpfte, die es der Menschheit ermöglichen sollte, weiter auf dem Planeten Erde zu leben, ohne sich selbst aufzufressen. Sie hatten nichts als öde Langeweile erwartet, als sie sich im Hause eines Professors Hoogert trafen, »um einander näher kennenzulernen«.
»Das ökologische Gleichgewicht«, sagte Hoogert, »läßt sich nicht lange mißachten.« Er sagte das zu alten Studenten wie zu neuen. Er sagte es in seinen Vorlesungen, davor und danach. Bei diesem gesellschaftlichen Anlaß sagte er es zu seinen vier jungen Gästen. Und sie akzeptierten die Worte und machten sie zur Richtschnur ihres Lebens. »In der Generation vor meiner«, hatte Hoogert auch gesagt, »glaubten alle, weltweiter Hunger stehe vor der Tür. In Ihrer Generation ist sogar Mr. Subchundrum, der aus einem Land kommt, wo es noch wirklichen Hunger gibt, irgendwie frei von Furcht. Obwohl in den letzten zehn Jahren Millionen von Menschen in Indien Hungers gestorben sind, glauben wir alle irgendwie, daß dieses Problem gelöst werden wird.« Subchundrum, ein schlanker, bemerkenswert gut aussehender junger Mann, mit einer Hautfarbe wie Sandelholz und rehbraunen Augen, meldete sich zu Wort. »Nun, Doktor, eine Hungersnot stört einen um so mehr, je näher man daran ist, selbst von ihr befallen zu werden. Leute, die weder Korn pflanzen noch anderweitig bekommen können und buchstäblich vergessen haben, wie es überhaupt aussieht, erleben sie unmittelbarer als ein Gelehrter, der im Lande der Fettsüchtigkeit lebt.« Dr. Hoogert hatte das Gesicht verzogen. »Ich fühle mich nicht schuldig. Es ist nicht mein Wille, daß irgend jemand verhungert – und kein Gramm Nahrung, das ich mir versage, würde einem Bewohner der Slums von Kalkutta auch nur eine einzige Kalorie mehr bringen.« Seine Frau murmelte: »Nein, aber es könnte diesen unschönen Bauch ein wenig begradigen.« Sie nahm die vor ihrem Mann stehende Kuchenplatte und stellte sie vor den indischen Studenten hin. Mary Braden, das Gesicht zur Hälfte von langem Haar verdeckt, sprach dann in der besonderen Art, wie ein Mädchen ihrer Generation gerne Widersacher entwaffnete. »Oh, ich verstehe, was Sie meinen, Mrs. Hoogert – es ist nicht unser persönlicher Lebensmittelverbrauch, der den Verhungernden nützt oder schadet. Aber Nahrung ist so wichtig in unserer Gesellschaft – eigentlich wichtiger als Sex – daß wir, wenn wir es fertig brächten, uns allgemein einzuschränken, zu einer politischen
Lösung des Nahrungsmittelproblems finden könnten. Vielleicht bliebe Indien oder Brasilien die nächste Hungersnot erspart.« Mrs. Hoogert warf Mary einen scharfen Blick zu. »Wichtiger als Sex? Bah, so etwas kann nur eine Jungfrau sagen.« »Also, meine Liebe«, sagte Professor Hoogert, »wenn ich zwischen einem dicken Bauch und einem hohlen Kopf zu wählen hätte, dann würde ich doch lieber bei meinem gegenwärtigen Zustand bleiben. Ich glaube, du hast Mary zum Erröten gebracht. Mary Bradens Jungfräulichkeit ist ein Thema, dem anderweitig nachzugehen ist. Mary, meine Liebe, glauben Sie, daß irgendeine Neuverteilung der Nahrungsmittel die vielen Milliarden ernähren könnte?« Er lächelte sie an. Mary Braden schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, daß die Leute hier, wenn sie freiwillig den Hunger kennenlernten, sich eher um die Lösung des Problems kümmern würden.« Subchundrum sagte ernst: »Ja, aber es gibt Anzeichen dafür, daß eine unserer blinden Reaktionen auf den Hunger gerade darin besteht, daß wir uns zu vermehrter Fortpflanzung getrieben fühlen. Hungernde Menschen haben mehr Kinder als gutgenährte.« »So? Dann muß eine gesetzliche Regelung der Geburtenzahl die Ehe begleiten«, sagte Charles. »Wenn Mary und Yankele heiraten, sollten sie eine Quote bekommen. Eines mehr und peng! überhaupt keine Lebensmittel für die Familie mehr.« Mary lehnte sich impulsiv nach vorn und legte ihre Hand auf die Yacovs. »Auf uns kann man sich vielleicht verlassen – aber auf Leute, die jeden Tag hungern? Von denen kann man wohl nicht erwarten, daß sie rational handeln oder Quoten beachten. Man müßte das untersuchen.« Yacov drehte seine Hand unrund umfaßte die ihre. »Ehe bedeutet nicht zwangsläufig Kinder.« Charles legte seine Hand auf ihre. »Wollen wir uns alle drei zum Verzicht auf Kinder verpflichten? Oh, tut mir leid.« Sein Blick fiel auf Subchundrum. »Alle vier, wenn es dir recht ist?«
Subchundrum lächelte. »Ich enthalte mich der Stimme, wie es unser Botschafter so oft in der UNO tut. Auf diese Weise behalten wir später unsere Handlungsfreiheit.« Professor Hoogert benützte seine Handlungsfreiheit dazu, seine Pfeife zu stopfen. Er sprach, während er den Tabak mit schnellen Zügen zum Glühen brachte. »Es schadet gar nichts, wenn man sich klarmacht… daß… Geburtenkontrolle… kaum das Resultat… einfacher Pläne… wie ehelicher Enthaltsamkeit… sein kann. Ein gewisser Zwang ist unerläßlich.« Er sah sich im Kreise um. »Ja. Nun, also… ich halse Sie vier hierher gebeten, weil Sie alle ein gewisses Interesse am Bevölkerungsproblem bekundeten. Ich hoffte, jeder von Ihnen würde in den drei anderen eine Art Kettenreaktion auslösen. Meine Funktion als Katalysator scheine ich erfüllt zu haben.« »Er meint«, sagte seine Frau, ihn am Nacken streichelnd, »daß er jetzt ein verbrauchter Katalysator ist.« »Professor«, sagte Charles, »Sie haben uns nie gesagt, was Sie für das kennzeichnende Merkmal Ihrer Generation halten. Immerhin geben Sie das Problem ja weiter.« »Nun, wir sind eine Anklage gegen den Krieg«, sagte Hoogert. »Schlagen Sie einen von uns, und Sie werden gleich den Atompilz sehen. Wir suchten Frieden im Mord und stießen auf eines der Paradoxa der Geschichte. Wir töteten mehr Menschen in unserer Zeit, als vor fünfhundert Jahren die ganze Erdbevölkerung betrug. Dennoch ist die Erde, wenn wir sie verlassen, vollgepfropfter mit menschlichen Wesen als zu dem Zeitpunkt, da wir zu töten begannen. Und damit kommen wir direkt zu Ihnen. In unserem Bereich kann diese Welt das numerische Übergewicht eines einzigen Lebewesens nicht ertragen. Das ökologische Gleichgewicht läßt sich nicht lange mißachten.« »Was sind wir?« fragte Yacov mit einem Blick auf seine drei Altersgenossen. »Kannibalen. Im wortwörtlichen Sinne. Sie werden sich gegenseitig auffressen, wenn nicht ein Ventil für den Bevölkerungsdruck gefunden oder geschaffen wird. Das ist die Grundtatsache des menschlichen Lebens, mit der jeder einzelne von Ihnen sich konfrontiert sehen wird.«
Yacov und Mary sahen einander an. »Kannibalen?« murmelte sie verträumt. »Ventil?« fragte Charles Perry. »Sie sagen nicht Lösung oder Verminderung. Ventil?« »Er meint«, sagte Subchundrum, »daß es mehr als einen Weg gibt, Druck zu vermindern.« »Mehr als das«, sagte Professor Hoogert. »Ich möchte Ihnen klarmachen, daß der Mensch sich meiner Ansicht nach immer noch weiterentwickelt. Wir können entweder annehmen, daß der Mensch mit der Entwicklung seines Gehirns am Endpunkt seiner individuellen physischen Evolution angelangt ist und nur noch hoffen kann, sich durch soziale Evolution fortzuentwickeln, indem er Gesellschaftsformen schafft, die den Bedürfnissen der Menschheit besser angepaßt sind. Oder wir nehmen an, daß dem Menschen noch wesentliche genetische Änderungen bevorstehen. In beiden Fällen ist der Bevölkerungsdruck von größter Bedeutung. Er ist einer der Faktoren, der durch die ständige Vermischung des Genpotentials und seine Beeinflussung durch die Kräfte der Mutation zu physischer Evolution führt. Oder er ist einer der Faktoren, der uns dazu veranlaßt, unser Gehirn zu benützen, um eine menschlichere Gesellschaft zu schaffen für eine bessere Zukunft. Ihre Generation muß versuchen, die Zukunft des Menschen sicherzustellen, indem sie den Bevölkerungsdruck unter Kontrolle bringt.« »Alle wissen natürlich«, sagte Yacov, »daß wir nur sämtliche Länder auf das Wohlstandsniveau der großen Industriestaaten bringen müssen, und schon fällt die Geburtenrate.« »Aber wie steht es mit Mexiko? Gleichzeitig mit einem ständigen Anstieg des Bruttosozialprodukts erhöht sich die Bevölkerungsziffer Jahr für Jahr um vier Prozent.« »Nun, da hat der Prozeß eben noch nicht lange genug gedauert. Geben Sie ihnen eine Generation.« »Dreißig Jahre?« fragte Subchundrum. »In dreißig Jahren wird mein Land, selbst wenn wir seinen jährlichen Bevölkerungszuwachs auf eineinhalb Prozent reduzieren, achthundertfünfzig Millionen Einwohner haben. Mein Land. Bei dem gegenwärtigen Zuwachs von mehr als drei
Prozent, bei dem es wahrscheinlich bleiben wird, wird unsere Bevölkerung im Jahr 2000 eine Milliarde Menschen betragen.« Professor Hoogert nickte. »Wo ist also das Ventil?« Charles Perry lachte. »Nun, man muß es nur finden. Irgendein einfaches mechanisches Verfahren, das auch die Unwissendsten zur Empfängnisverhütung benützen können.« Yacov schüttelte den Kopf. Mary sagte sehr ernst* »Aber wenn wir ein mechanisches Verfahren fänden – die Pille ist umstritten, aber wirksam, und die Plastikspirale ist einfach und billig –, wie könnten wir die Menschen dazu bringen, diese auch zu gebrauchen? Für viele sind die bekannten Methoden schmerzhaft oder antireligiös, oder sie haben Angst davor. Wie können wir all diese Hürden auf einmal überwinden?« »Wir müssen die Nahrungsversorgung mit der Empfängnisverhütung verknüpfen«, antwortete Charles. »Eine Frau sollte nachweisen müssen, daß sie sich der einen oder anderen Methode der Empfängnisverhütung bedient, wenn sie in den Besitz der monatlichen Familienration kommen will.« »Entschuldige, Charles«, schnaubte Subchundrum. »Du bist ein Kind der Industriegesellschaft, die zusammengedrängt lebt und schon auf so viele Arten manipuliert wird, daß es auf eine mehr auch nicht mehr ankommt. In den Vereinigten Staaten ist jeder an Massenverkehrsmittel, an riesige Fabriken, an Computer-Gebrauch gewöhnt. Das hochentwickelte Telefonsystem allein prädestiniert die Amerikaner zum Massengebrauch von Computern; und die Existenz von computerisierten Datenbänken im Kreditwesen, in der Schule, in allen Arten von Ämtern hält gewöhnlich Bürger davon ab, zu schwindeln und zu vergessen, die Dinge zu tun, die den Computer ticken lassen: Heften Sie diesen Teil der Rechnung an Ihren Scheck, reichen Sie diesen Beleg mit dem vollständig ausgefüllten Fragebogen ein, streichen Sie bei jeder Antwort entweder ja oder nein an – nicht falten, rollen oder zerknittern. Ich weiß, daß du dir das vielleicht kaum vorstellen kannst; aber du mußt versuchen, dich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sechzig Prozent der Mexikaner in Dörfern von weniger als tausend Einwohner leben; in meinem Land sind es mehr als achtzig Prozent. Du mußt es als Tatsache hinnehmen, daß solche Leute sowohl unwissend als auch gerissen sind,
und daß sie eine kulturelle Tradition haben, die besagt, daß die Folgen einer Nichtbeachtung von Normen fast immer durch einen einflußreichen Onkel oder Freund abgewendet werden können. Solche Leute können wirklich nicht mit Zahlen umgehen. Sie vergessen ihre Bedeutung; wenn sie nach Knaus-Ogino verfahren, können sie sich nicht merken, welche Tage sicher sind und welche nicht. Nehmen sie Pillen, dann halten sie den Rhythmus nicht ein. Sie verlieren die Perlenketten, die wir ihnen zum Abzählen geben. Sie verlieren die Pillen selbst, oder eines der Babies verschluckt sie und die Mutter schämt sich, es zuzugeben und neue zu verlangen – oder der Pillenverteiler kommt nur einmal im Monat ins Dorf, oder nur einmal im Vierteljahr. All das kommt nur von der Nachlässigkeit der Menschen in einer Bauernkultur. Aber die Leute rechnen nicht damit, mit Hunger bestraft zu werden, wenn sie sich schlicht und einfach verzählen. Man kann die Lebensmittelversorgung nicht an den Pillengebrauch binden. Zum einen würde weder mein Volk noch deines das akzeptieren. Sie würden einfach revoltieren, wenn so etwas wirklich erzwungen werden sollte. Aber es könnte nicht erzwungen werden. Eine Ehefrau würde ihre Lebensmittel mit einer anderen teilen, denn sie wüßte, daß es im nächsten Monat vielleicht umgekehrt kommen könnte.« »Mein Gott«, sagte Charles, »welch leidenschaftliche Rede. Du könntest einen fast glauben machen, daß das Problem überhaupt nicht zu lösen ist.« »Nein, das meint er gar nicht«, sagte Yacov. »Und von religiösen Einwänden gegen den unmenschlichen Zwang, den du vorschlägst, hat er gar nicht einmal gesprochen. Er meint, daß mehr als guter Wille und technisches Geschick erforderlich sind, um die Sache zu schaffen.« »Meinst du denn, es bräuchte sogar noch mehr als Zwang?« fragte Mary. In Subchundrums Augen lag ein tiefer und dunkler Ausdruck, als ringe ein Gedanke damit, sich den anderen mitzuteilen. Dann zuckte er die Achseln, als wolle oder könne er nicht in Worte kleiden, was er fühlte.
2 Im Rahmen des regen gesellschaftlichen Lebens einer großen Universität in einer großen Stadt begleiteten Charles und Yacov nicht wenige junge Mädchen ins Theater, zum Tanz, zu Protestmeetings und Streikkundgebungen – es war das abwechslungsreiche amerikanische Studentenleben der sechziger Jahre. Mary Braden hatte sich durch zwei Dutzend Verehrer außerhalb ihres Kreises gearbeitet. Doch als die ersten Semester vorüber waren, verbrachte sie auch außerhalb von Vorlesungen und Laboratorium einen immer größeren Teil ihrer Zeit mit Yacov oder mit Charles – oder mit Subchundrum, obgleich er sich schon in einem frühen Stadium ostentativ aus der sexuellen Konkurrenz heraushielt. Daheim in Kerala wartete auf ihn die Braut, der seine Eltern ihn versprochen hatten, als er sechs Jahre alt war. In den späteren Semestern konnte auch ihr unvermindert fortbestehendes, ja vertieftes Interesse am Bevölkerungsproblem nicht verhindern, daß sie in verschiedene Strudel der wissenschaftlichen Spezialisierung gezogen wurden. Aber die Separation ihrer Fachrichtungen erregte in ihnen das Bedürfnis nach Ideenaustausch und gegenseitiger Bereicherung und brachte sie so nur noch näher zusammen. Das kinderlose Haus der Hoogerts wurde ihre Heimstatt. Zeitweise wohnten sogar einer oder mehrere von ihnen dort. Einmal, als Mary gerade bei den Hoogerts lebte und die drei anderen zum Sonntag-Abendessen gekommen waren, untersuchten sie Plastikspiralen, verschiedene kleine Gebilde aus Nylon und Polyäthylen, die, im Uterus angebracht, eine Empfängnis verhindern. Intrauterine Mittel waren schmerzlos und konnten jahrelang an Ort und Stelle verbleiben, sagte die Theorie. Wenn die Zeit für geplanten Familienzuwachs gekommen war, konnten sie sofort ohne Nebeneffekte und ohne nachfolgende Beeinträchtigung des Fortpflanzungsprozesses entfernt werden. Mary holte eine Statistik hervor, die besagte, daß die Spirale in unterentwickelten Ländern weniger wirksam sei als in Industriestaaten. »Sieh dir das an, Subchundrum!« sagte sie. »In Südindien sagen die Frauen, die verdammten Dinger verursachten Schmerzen. Der Körper
stoße sie ab. Selbst wenn sie richtig angebracht sind, wirken sie nicht so gut wie in den Vereinigten Staaten. Wie ist das möglich?« Charles beugte sich vor, den Arm um Mary gelegt – er war der Favorit in diesem Semester – und nahm eine der Spiralen in die Hand. »Vielleicht können sich die Frauen in Indien einfach nicht an den Gedanken gewöhnen.« »Aberglaube, meinst du?« fragte Yacov, der auf dem Boden lag, die Füße auf einem Stuhl. Subchundrum lachte. »Es ist Aberglaube dabei – aber europäischer Aberglaube. Ihr Leute aus den großen Industrieländern glaubt, daß ein kleines Stückchen Plastik alles bewirken kann; warum also sollte es nicht Geburten verhindern? Meine Landsleute wissen, daß die Dinger weh tun und unnatürlich sind – also entfernen sie sie wieder, oder der Körper stößt sie ab.« »Ja«, sagte Mary, »das verstehe ich. Der springende Punkt ist aber, daß die Spiralen schmerzfrei und wirksam sind. Wie also sollen wir die Frauen in Entwicklungsländern dazu bringen, das zur Kenntnis zu nehmen?« Subchundrum runzelte die Stirn. »Objektive menschliche Erfahrung ist weiße, in den gemäßigten Zonen gewonnene, durch höhere Schulbildung bestätigte Erfahrung. Das glaubst du immer noch, oder? Ihr Weißen, ihr könnt einfach nicht aus eurer verkrüppelnden, antihumanen Kultur heraus und versteht nicht, daß jede andere menschliche Kultur genauso viel wert ist wie eure.« »Ach, komm doch, Sayji, darum geht es doch nicht, weder ausgesprochen noch unterschwellig.« Yacov setzte sich auf und stützte sich auf einen Ellenbogen, die Füße immer noch auf dem Stuhl. »Es ist eine Frage der Erziehung. Für Dorfbewohner, die in ihrem ganzen Leben keine tausend anderen Leute sehen, ist es schwer zu verstehen, daß sie, wenn sie ihre Anzahl verdoppeln, dreieinhalb oder vier Milliarden verdoppeln. Es ist eine Frage der Erziehung.« Subchundrum stand auf. »Ich könnte sagen, daß zu viele Mädchen geboren werden und zu schnell ins fortpflanzungsfähige Alter kommen, und das in solcher Unbildung, daß wir sie niemals mit irgendeinem
Prozeß der Erziehung erreichen können. Aber ich sage nur gute Nacht.« Bevor noch irgend jemand eine Bewegung machen konnte, hatte er die Tür hinter sich ins Schloß geschlagen. In der folgenden Woche war er allerdings wieder da. Monate später war das Bild das gleiche, nur daß Yacov neben Mary saß und Charles, in einem Sessel, geräuschvoll einen Apfel zu Tode kaute. Patasayjit Subchundrum prangerte die zerstörerische Wirkung der freien Willensausübung auf die gemeinsamen Interessen der Menschheit an. »Solange wir von Menschen erwarten, durch einen Willensakt den elementarsten Lebensinstinkt zu unterdrücken, sind wir einfach auf dem Holzwege. Die Menschen werden nicht ihre eigene Fortpflanzungsrate verringern, wenn es immer nur so aussieht, als bedrohe jemand anderer die Welt. Wir haben es hier mit dem elementarsten menschlichen Trieb zu tun.« Charles sagte: »Aber Sayji, Menschen sind doch mehr als nur ein Bündel von Trieben. Was uns zu Menschen gemacht hat, ist erst unsere Fähigkeit, animalische Triebe im Interesse weitgespannter Ziele hintanzustellen.« »Ja«, sagte Mary, »aber diese weitgespannten Ziele waren immer nur auf das Wohl der unmittelbaren Familie gerichtet – oder auf das des Stammes oder der Nation.« »Nationalismus ist Stammesdenken«, erklärte Yacov. »Auch in Israel?« fragte Subchundrum. Worauf Mary, Yacov schützend zugewandt, antwortete: »Ja, sogar im Zionismus, aber das ist eine andere Situation. Israel ist Träger moderner Tradition. Die Scheichtümer um es herum stecken immer noch im tiefsten Mittelalter.« »So!« rief Subchundrum. »Gibt das den Israelis das Recht, ihre Nachbarn einfach durch ihre Zahl zu unterdrücken? Was sagst du dazu, Yankele?« »Nein, zum Teufel. Aber es ist eine besondere Situation.« »Es gibt nur besondere Situationen«, sagte Charles nachdenklich, während er die letzten Fasern vom Kerngehäuse des Apfels nagte.
»Richtig.« Mary löste sich aus Yacovs Armen und setzte sich auf. »Deswegen muß auch in diesem Kampf das Hauptaugenmerk der Erziehung gelten. Wir müssen die Leute dazu bringen, daß sie weniger Kinder haben wollen. Aber wie?« »Wird das überhaupt möglich sein?« fragte Subchundrum. »Und wenn – wird es rechtzeitig möglich sein? Ihr alle spottet mehr oder weniger über die Bemühungen meiner Regierung. Aber wir haben zehnmal so viele Dozenten wie irgendein anderes Land, die Kurse abhalten und die Pille, die Spirale, die Rhythmusmethode demonstrieren. Wir stellen die Wahl der Methode frei, und unsere Demonstrationen sind überzeugend, weil sie in Stadt und Land, in Elendsquartieren durchgeführt werden, wo immer Horden von Kindern mit aufgeblähten Bäuchen und traurigen Augen um die Beine der zuhörenden Frauen wimmeln. Auch die Männer erziehen wir; aber was bringt uns das? Wir können vielleicht die Zuwachsrate verringern; den absoluten Zuwachs kratzen wir fast nicht an. Jedesmal, wenn du einen Apfel ißt, Charles, beginnen weitere tausend Inder zu klagen und zu verhungern.« Charles leckte sich die Finger ab. »Ich sage nur, was Hoogy schon lange sagt. Es hat überhaupt keinen Sinn, daß ich weniger esse. Das lindert den Hunger in Madras kein bißchen.« »Ja«, sagte Mary in gewohnter Fairness. »Du hast recht. Jedenfalls für unsere Begriffe. Wenn man das Gesamtproblem der menschlichen Bevölkerung auf dem Planeten Erde sieht, hast du allerdings unrecht. Tiere reagieren auf Nahrungsmangel, indem sie mehr Junge bekommen. Bei Menschen ist es nicht anders.« Yacov sagte, was der eine oder andere von ihnen schon tausendmal gesagt hatte. »Menschliche Wesen sind Tiere. Insoweit kann die Bedeutung von Trieb und Instinkt gar nicht überschätzt werden. Und wenn wir sie nicht alle dazu erziehen können, diese Triebe zu kontrollieren, dann können wir niemals hoffen, die Aufwärtsbewegung der Bevölkerungskurve zu korrigieren. Niemals. Nie.« Das Abschlußexamen kam, akademische Grade und Ehren, Aufgaben in verschiedenen Teilen der Welt. Subchundrum lud sie alle ein, bei einer Konferenz über Methoden der Bevölkerungskontrolle in Mexiko seine
Gäste zu sein. Sein Brief enthielt Andeutungen, er habe eine neue Methode gefunden, vielleicht die Methode. Als sie alle in Subchundrums Landhaus in Cauthla versammelt waren, spannte er sie zunächst mit geheimnisvollem Gebaren auf die Folter, bestand auf zwei Runden Tequila Sours und begann dann unvermittelt, von seiner Kindheit in Kerala an der Spitze des indischen Subkontinents zu sprechen. »Cauthla ähnelt in vieler Hinsicht meiner Heimat. Die Höhenlage ist wie zu Hause, und das feucht-heiße, subtropische Klima, das hier viel ausgeprägter ist als in dem dreihundert Meter höher gelegenen Auernavaca, erinnert mich ebenfalls an die Heimat.« »Sayji«, sagte Yacov, »ich habe fünftausend Flugkilometer zurückgelegt und die beiden letzten Vorlesungen des Semesters meiner Assistentin anvertraut, einer jungen Dame von so monumentaler Stupidität, wie nur das amerikanische Universitätssystem sie hervorbringen konnte. Ich kann nicht für die Dauer der ganzen Konferenz bleiben. Berichte uns also von deinem neuen chemischen Wirkstoff und laß uns dann mit den Versuchen beginnen.« »Du erwartest also, daß es ein chemischer Wirkstoff ist?« »Nun, du arbeitest für den größten Hersteller von synthetischen Hormonen in der Welt; da ist doch anzunehmen, daß deine Forschungen in irgendeiner Weise deinem Arbeitgeber nutzen.« Sayji lachte. »Du solltest wissen, daß jemand, der wie ich in Kerala aufgewachsen ist, kein sklavischer Anhänger des Arbeitgeberprofits ist. Und dies ist ein mexikanischer Arbeitgeber. Er kann mich nur aus triftigen Gründen entlassen – und ein Forschungsprojekt, dessen Zielsetzung nicht identisch mit der der Firma ist, ist noch kein triftiger Grund.« Mary trat zu ihm und legte ihm ihre sonnengebräunte Hand auf den Arm. »Laß doch jetzt gut sein, Sayji. Spann uns nicht länger auf die Folter. Was hast du gefunden?« Er stellte sein Glas weg. »Ich habe entdeckt, daß chemische Kontrolle, und damit meine ich ein Mittel, das die ganze Arbeit für uns tut, zur Zeit
nicht verwirklichbar ist. Ich habe da so eine Idee, versteht ihr, doch ist sie noch nicht so weit gediehen, daß ich sie niederschreiben könnte. Es hat mit Chemie zu tun, ja; aber – und ich schäme mich fast, es zu sagen – es ist eine sehr amerikanische oder sehr europäische Chemie. Keineswegs die lebensnahe Chemie, die ihr mit Recht von mir erwartet, meine Lieben. Es ist das hier.« Und er streute eine Hand voll kleiner Plastikgegenstände und einen größeren, der aussah wie die Spritztüte eines Konditors, auf den Cocktail-Tisch. Die weißen Plastikstücke bildeten ein häßliches Muster auf dem dunklen Holz des Tisches. Charles begriff als erster. Unter der Einwirkung des Tequila dachten alle drei zunächst, die Plastikspiralen seien das Wichtigste; und während sie an ihnen herumfingerten und erkannten, daß es dieselbe Art von Schleifen war, mit denen man schon bisher versucht hatte, Empfängnis zu verhindern, nahm Charles plötzlich das spritztütenähnliche Ding und begann mit etwas törichtem Lächeln damit herumzumanipulieren. »Bei Gott, auch daran habe ich einmal gedacht, dann aber zu früh aufgegeben. Es ist ein Applikator, nicht wahr? Man braucht keinen Arzt, um die Dinger einzusetzen.« »Ja«, sagte Subchundrum, »und weiter?« »Oh«, sagte Yacov. »Er ist narrensicher, nicht?« »Ist irgend etwas narrensicher?« »Also, Sayji«, sagte Mary, »stimmt es nun oder nicht?« »Narrensicher? Doch doch, es ist narrensicher. Allerdings haben wir es gar nicht mit Narren zu tun.« Charles schaltete sich ein. »Es funktioniert aber? Die Frau kann die Spirale einsetzen und sie wieder entfernen, ohne daß ihr ein Arzt oder eine Hebamme dabei helfen muß? Sayji, das ist der Durchbruch des Jahrhunderts. Jedes Mädchen auf der Welt wird so ein Ding haben wollen, sobald sie nur davon hört.« Subchundrum lachte in der gewissen Art, die bei ihm, wie sie wußten, Verlegenheit ausdrückte. »Ja, natürlich – wenn sie davon hört und sie die paar Pennies aufbringen kann, oder wenn ihre Regierung die paar Pennies aufbringen kann, oder…«
»Oder was?« Charles war begierig, sofort mit der Herstellung des Applikators zu beginnen. »Ach, ich meine nur, daß wir immer noch vor dem Problem stehen, diese Mädchen – richtige Teenager in Dörfern und Städten, wo die Teenager ganz anders sind als bei euch in Amerika, Charlie – soweit zu bringen, daß sie nicht Mutter werden wollen. Frauen wollen ein Kind, oder zwei oder drei Kinder. Sie wollen nur nicht zu viele, das ist alles. Wann aber sind es denn zu viele? Wenn man schon drei hat, kann man auch vier versorgen. Und wenn es wirklich die höchste Aufgabe einer Frau ist, Kinder zu gebären und zu erziehen, warum sollte sie diesen Trick praktizieren? Was bringt es für sie als Person, und nicht nur als Punkt in einer statistischen Kurve?« »Nun, die Erziehung…« »Mary, Mary!« Subchundrum wandte sich abrupt zu ihr um. »Wie steht es denn mit dir selbst? Du hast deine Zeit des Nicht-Erwachsen-Seins so lange ausgedehnt, wie es ein amerikanisches Mädchen eben kann. Nun, Dr. Braden, gibt es nicht noch etwas anderes, was Sie vom Leben erwarten? Wie lange werden Sie Ihre tiefsten Bedürfnisse unterdrücken?« Langsam setzte sich Mary hin. Charles und Yacov sahen sie ruhig und erwartungsvoll an. Sie stellte ihr Glas auf den gekachelten Boden, fixierte dann Subchundrum mit einem ernsten Blick. »Sayji, ist das ein Antrag? Und das Mädchen in Kerala?« »Nenne es einen Antrag, wenn du willst. Ich bin genauso unbewegt wie du.« »Oder willst du nur irgend etwas beweisen?« »Vielleicht. Aber was es ist, müßt ihr selbst herausfinden.« Der Abend war ruiniert, die Diskussion beendet. Dr. Subchundrums Enthusiasmus, der sie alle wieder zusammengeführt hatte, war seinen eigenen Zweifeln zum Opfer gefallen. Und irgendeinem Gefühl, das Marys Gegenwart in ihm erweckt hatte, einem Gefühl, das so im Widerspruch stand zu dem, was in seiner Studentenzeit gekennzeichnet hatte, daß Yacov und Charles, als sie zurück nach Mexico City fuhren, nur den Kopf schütteln konnten.
Mary blieb. Weder sie noch Subchundrum sagten den anderen beiden je, ob sie nur Tage dort gewesen war oder Monate. Ein Kind gab es nicht. Doch was seine Neuerfindung betraf, erwiesen sich Sayjis Zweifel als wohlbegründet. Es war eine weitere Waffe. Doch war sie weit davon entfernt, die Waffe zu sein. Ein oder zwei Jahre vergingen. Marys Postkarten trugen den Stempel von Boston. Subchundrum hatte in einem holländischen Laboratorium gearbeitet. Eine Konferenz in New York führte sie wieder zusammen, und der Abend fand sie in Yankeles Suite, die Schuhe ausgezogen und Drinks in der Hand. Yacov arbeitete in diesem Jahr mit Regierungsgeld und erklärte, sein Motto sei: Lebe ein bißchen. Mit weit ausholender Handbewegung wies er auf die üppig ausgestattete Suite, die seine Einstellung repräsentierte. Es gab noch ein fünftes Rad am Wagen, einen Physiker, der ihr Kurskamerad gewesen war und den an diesem Abend der Zufall zu ihnen geführt hatte. Er hatte eine hintergründige Art von Humor, und so hatten sie ihn nach dem Dinner bei sich behalten und ihn in ihr Gespräch einbezogen. Jetzt redeten sie über alles und jedes auf der Welt mit Ausnahme des Hauptgegenstandes ihres Interesses, dessen sie freilich im Augenblick herzlich müde waren. »Was ist denn mit all den schmutzigen Geschichten«, fragte der Physiker, »die ihr vier euch immer erzählt habt?« »Schmutzige Geschichten?« fragte Mary in ihrer direkten Art. »Na, das ganze Gerede über Genitalien und die Funktionsweise des Uterus hätten alle anderen Leute, mit denen ich jemals verkehrte, als schmutzig bezeichnet.« Mary ließ sich gegen Charles’ Schulter fallen, und dieser schnaubte: »Das ist der Dank, den wir dafür bekommen, daß wir diesen Wicht davor bewahren, bis zum Bauch in menschlichen Embryos stehen zu müssen. Neuerer werden nie verstanden.« »Ach«, sagte der Physiker, »ihr seid keine Neuerer. Ihr redet schmutzig, aber ihr habt Angst davor, die einzige jetzt mögliche Lösung ins Auge zu fassen. Einige der volkreichsten Nationen dieser Welt brauchen dringend einen Urlaub vom Kinderkriegen, und zwar für fünfundzwanzig oder dreißig Jahre.«
»Das soll eine Lösung sein?« fragte Yacov träge. »Das ist ja nicht einmal eine Darstellung des Problems.« »Sicher ist es eine Lösung. Alle Kinder, die in den nächsten zehn Jahren in Indien, China, Indonesien, Mexiko, Süditalien, auf dem Balkan und der ganzen Mittelmeerküste geboren werden, müssen schon bei der Geburt sterilisiert werden.« Das allgemeine Protestgeschrei war genau die Antwort, die er erwartet hatte. Mit einem Lächeln wischte sich der Physiker Yankeles Drink von seinem Hemd, während Yankele weiterbrüllte. Er sagte: »Aber ist es nicht tatsächlich das, worauf ihr hinarbeiten solltet? Ist es nicht das, was ihr wollt? Ich jedenfalls will genau das. Und ich bin dafür, in meiner Generation damit anzufangen.« »Du hast zwei Kinder, du gottverdammter weißer Völkermörder!« schrie Charles. »Ja, ja, schon gut, nur die Ruhe. Sterilisiert meine beiden Kinder. Von meinen genetischen Qualitäten halte ich ohnehin nicht so viel. Verdammt, ich habe nicht mal einen Nobel-Preis und gehe schon auf die Vierzig. Sterilisiert auch die Kinder meiner Nachbarn. Da bin ich großzügig. Ich bin wirklich bei weitem altruistischer als ihr Heuchler. Würde das das Problem lösen? Alles, was ihr fertigbringt, ist lediglich, daß es von Jahr zu Jahr nur ein wenig schlimmer wird.« Subchundrum grinste wie ein Haifisch. »Schon gut, ich nehm’s dir nicht übel. Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin im Kabinett von New Delhi. Also, Herr Premierminister, nachdem Sie mir arte blanche für diese Lösung gegeben haben, geben Sie mir auch die politische Kampagne, die Sie für das Volk zwischen Kaschmir und Kerala annehmbar macht. Ich brauche nur eine Formel, die verhindert, daß wir aus dem Amt gejagt werden, bevor wir zehn Jahre lang Sterilisierungen bei neugeborenen Babies durchgeführt haben. Ich höre – ich höre.« Interessiert sagte der Physiker: »Subchundrum, bist du wirklich im Kabinett?« »Nein, du Idiot. Ich arbeite in Holland. Ich bin schon so lange nicht mehr zu Hause gewesen, daß ich keine Ahnung habe, wie die Politik dort jetzt aussieht. Es ist nur eine hypothetische Situation. Und jetzt gib mir
die Antwort – denn es muß eine Antwort geben. Wenn du es aber nicht kannst, dann verschone uns bitte mit Patentrezepten. Versuche das Achtfache auf das Einfache zurückzuführen und laß uns unsere simplen menschlichen Probleme.« »Verdammt noch mal, Patasayjit, ich bin wie die Eule, die dem arthritischen Tausendfüßler riet, sich in eine Maus zu verwandeln, so daß er nur ein Zweihundertfünfzigstel des Schmerzes empfinden würde. Ich weiß nicht, wie ihr es anstellen könnt. Ich funktioniere nur auf der politischen Ebene. Die Taktik und ihre Ausführung, das ist eure Aufgabe.« Als er gegangen war, waren sich alle einig, daß er unerträglich sei. Konnten sie jetzt, Jahre später, ehrlich sagen, daß diese Gedanken sie nicht beeinflußt hatten? Noch ein paar andere Mißerfolge hatten sie hinter sich – Mißerfolge, die sie auf den Weg zu diesem verzweifelten Erfolg gebracht hatten. Die »Pille danach«, die ein Ausflug Marys in die Erforschung hormoneller Vorgänge absolut sicher gemacht hatte, war an der grundlegenden Hürde aller Verfahren gescheitert, die freiwilligen Gebrauch des Verhütungsmittels erforderten. Menschen gelang es, darauf zu vergessen, und sie fanden Gründe, darauf zu vergessen. Sogar mancher amerikanische Ehemann, der darauf vertraute, seine Frau habe den sicheren Weg zur Empfängnisverhütung beschritten, wurde plötzlich zum Vater. In den armen Ländern scheiterten die Forscher immer wieder an der Tatsache, daß Kinder in einer Zivilisation der Armut Reichtum für ihre Eltern bedeuten. Nicht nur Kinder gehen in einer Hungersnot zugrunde – alte Leute, die keine Kinder haben, genauso. Angst und Liebe und genetische Instinkte aus einer Zeit, als der Mensch unter den Säugetieren eine nackte Minderheit darstellte, halfen zusammen, die Gesamtbevölkerungszahl der Welt auf über vier Milliarden, auf 5,6 Milliarden, auf den Kannibalismus zuzutreiben. Yacov führte sie durch die letzte Illusion-Impfung. Es war einfach unmöglich, den Leuten den Willen zur Verhütungsimpfung einzuimpfen, genauso wie es unmöglich gewesen war, in den Menschen den Wunsch nach der Zwanzig-Jahr-Pille zu
erwecken, die eine andere Gruppe hervorragender Forscher für die Antwort gehalten hatte. Die Zwanzig-Jahr-Pille wies zumindest eine überschaubare zeitliche Dimension auf. Wer sie mit achtzehn nahm, für den war mit achtunddreißig der Zugang zur Elternschaft frei. Dennoch wurde sie niemals zu einer volkstümlichen Waffe im Kampf gegen menschliche Überfruchtbarkeit. Die Impfung, das Verfahren, durch das eine Frau immun gegen männliches Sperma gemacht wurde, oder durch die beim Manne verhindert wurde, daß er lebensfähige Samenzellen produzierte, hatte sowohl den irrationalen menschlichen Widerwillen gegen Impfung zu überwinden wie auch eine spezielle Eigenschaft, die es besonders schwer machte, sie zu propagieren. Die Wirkung des Impfstoffs war ungleichmäßig. Für manche brachte er lebenslange Immunisation. Bei anderen war die Wirkung nur kurz – vor allem aber war ihre Dauer nicht vorhersagbar. Aber der Austausch von Ideen und Forschungsergebnissen zwischen den vier alten Freunden führte Subchundrum schließlich zur größten Entdeckung ihres Lebens. Die Wendung kam, als er Mary, Charles und Yacov von neuem eine Einladung schickte. »Kommt nach Kerala!« schrieb Subchundrum. »Die Regierung stellt das nötige Geld. Ich habe freie Hand beim Bau von Laboratorien. Und vor allem: Ich habe einen Weg gefunden!« Zwei Seiten Zellulärmathematik folgten. Sie waren es vor allem, die ihr Interesse erweckten. »Alles falsch, Liebling«, sagte Mary, als sie dem Flugzeug entstieg, »aber so anregend!«
3 Die Vorrichtungen, welche die vier Forscher von der passiven Verhinderung zur aktiven Beeinflussung des Fortpflanzungsprozesses voranbringen sollten, waren bereits im Hauptlaboratorium aufgestellt.
Zwei Mikro-Manipulatoren waren für Chromosom-Chirurgie modifiziert worden. Charles schwieg zuerst verblüfft und lächelte dann. »Damit kommen wir geradewegs in die Innereien der Zellen, wie? Wahrscheinlich kannst du damit sogar Chromosomenschädigungen durch LSD reparieren?« Subchundrum schien jünger geworden zu sein und das ruhige Selbstvertrauen seiner Studententage wiedergewonnen zu haben. Zweifellos war er auch wieder schlanker geworden. »Damit können wir sogar in die Virusmechanik eingreifen. Und eben das werden wir tun.« Mary lächelte und schüttelte den Kopf. »Dr. Subchundrum, jetzt haben Sie Ihren Reaktionskolben vor unseren Augen geschüttelt, und der ganze Dampf ist entwichen. Die Unterschiede zwischen menschlichen Zellen und Viren sind so groß, daß wir, selbst wenn wir uns sämtliche Kenntnisse über Viren aneigneten, die der Mensch jemals haben wird – eine Arbeit von mindestens hundert Jahren, würde ich sagen – der Lösung des Problems, die Zahl der Menschen in menschlichen Grenzen zu halten, nicht sehr viel näher gekommen wären.« Charles gab einem der Labortischchen einen Tritt und sagte: »Das stimmt, Sayji; zumindest glaube ich das. Hast du irgendeine Affinität zwischen Virusstrukturen und den Strukturen menschlicher Zellen entdeckt, die wir vielleicht noch nicht kennen?« Yacov schlug Charles mächtig auf die Schulter. »So blind ist keiner, daß er nicht doch ein bißchen sähe, wie, Subchundrum? Ich sehe etwas, weil ich der Leiter des Impfungsprojektes war. Die Affinität zwischen Virus und menschlicher Zelle besteht darin, daß Viren gern in menschlichen Zellen leben.« Charles rieb sich den Oberarm. »Sicher, aber das sind krankhafte Zustände. Wir wollen doch nicht die ganze menschliche Rasse mit irgendeiner Seuche infizieren.« »Nicht?« fragte Mary. »Warum eigentlich nicht? Ich verstehe, Sayji; du hast auf die Arbeit der Forscher aufgebaut, die mit Hilfe von Viren Infektionen mit positiver Wirkung erzeugten.« »Mit positiver Wirkung!« rief Charles. »Was für eine Krankheit hat denn positive Wirkungen?«
»Meine Liebe, schon manche Frau ist recht froh gewesen für eine Woche Grippe. Für ein wenig Fieber und Übelkeit kann sie zehn Pfund für einen Bruchteil des Preises und der Anstrengung abnehmen, die sie in einem Schönheitssalon kosten würde.« »Aber was wichtiger ist«, warf Yacov ein, »Stanfield Rogers und seine Leute haben bereits demonstriert, daß ein für ein bestimmtes Tier tödlicher Virus – Peyton Rous’ Hühnersarkom-Virus zum Beispiel – im Menschen völlig harmlos sein kann. Rogers zeigte, daß der Shope-Virus, der in Kaninchen Krebsgeschwülste erzeugt, im menschlichen Blut gutartig wird und eine spezielle Form des gewöhnlichen Enzyms, nämlich Arginase erzeugt. Hast du denn keine seiner Arbeiten gelesen?« »Doch, doch«, sagte Charlie nachdenklich. »Die Bakteriophagen, die bakterienfressenden Viren, sind bei Diphtherie selbst der toxische Wirkstoff. Nur diejenigen Diphtherie-Bazillen, die eine besondere Art von Bakteriophagen ererbt haben, bilden das tödliche Gift. Andere Arten sind nahezu harmlos. Ich wußte das.« »Und irgend jemand, ich weiß nicht mehr wer«, sagte Mary, »hat einen Virus gesucht, der keine Krankheiten verursacht, aber das fehlende Enzym erzeugt, welches zurückgebliebene Kinder wieder normal werden läßt.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wer arbeitet daran, Subchundrum?« »Ist ganz gleich«, meldete sich Yacov zu Wort, »es spielt keine Rolle. Entscheidend ist, daß wir von einer Virus-Krankheit ausgehen, die oft zur Sterilität führt, und sie so verändern, daß die Sterilität ohne die Krankheit eintritt. Nur, Sayji, wie willst du denn die Leute so weit kriegen, daß sie sich impfen lassen?« »Da übersiehst du den entscheidenden Punkt. Das weniger Wichtige zuerst: Wir brauchen keine Impfung, um einen Virus in Umlauf zu setzen, sobald er einmal allgemein verbreitet ist. Der praktische Effekt des Salk-Serums hat das bewiesen. Sobald ein Kind neu in ein Gebiet zieht, wo es bereits längere Zeit angewendet worden ist, holt es sich von den anderen Kindern den immunisierenden Virus und nicht den verkrüppelnden, manchmal tödlichen Virus der Poliomyelitis. Und natürlich muß niemand geimpft werden, um sich Grippe oder Polio zu holen. Die virulente Art der 1918er Grippe verbreitete sich selbst – und
starb schließlich von selbst aus, verdrängt von den unangenehmen, aber selten tödlichen Arten, mit denen wir es jeden Winter zu tun haben.« »Gut. Der weniger wichtige Aspekt läßt sich gar nicht schlecht an. Und jetzt zu Gesichtspunkt Nummer zwei.« »Er ist eigentlich eine logische Folge von Nummer eins; dennoch bedeutet er den. Durchbruch, der unsere Arbeit endlich sinnvoll macht. Wir brauchen niemandes freiwillige Zustimmung, um dies wirksam zu machen.« »Was?« rief Charles. »Wie zum Teufel willst du denn, daß die Leute das in sich aufnehmen, wenn du gar nicht ihre Zustimmung hast?« »Teurer Idiot«, sagte Mary, »du hast dem guten alten Subchundrum ja gar nicht zugehört. Er möchte schlicht und einfach die ganze menschliche Rasse infizieren. Sayji, gegen dich war Hitler ein Stümper. Wie bitte möchtest du denn diese Massenkastration rückgängig machen? Ich habe mein Kind ja noch nicht bekommen, wie du weißt. Die Frage betrifft mich also.« Patasayjit Subchundrum lächelte und wies auf die funktionell gestalteten Mikro-Manipulatoren. »An die Maschinen, Kinder. Was wir brauchen, ist ein Virus, der bestimmten Befehlen gehorcht. Die Antwort weiß ich noch nicht. Doch jetzt – und, ehrlich gesagt, zum ersten Male – weiß ich, daß es eine Antwort gibt. Dies kann einfach keine Sackgasse sein wie so viel von unserer bisherigen Arbeit. Wir können nicht stehenbleiben bei einem Virus, der Sterilität erzeugt – und auch nicht bei einem, der letztlich das menschliche Gen-Potential zerstören könnte.« »Richtig«, sagte Mary. »Jemand in Rogers Gruppe arbeitet an diesem Schwachsinnsenzym. Einige dieser geistig unterdurchschnittlich entwickelten Kinder sind deshalb zurückgeblieben, weil sie eine genetische Krankheit haben, Phenylketonuria. Ihr Körper produziert keine Phanylalanin-Hydroxylase, die das Gehirn für seine Funktion benötigt. Die Virusgärtner möchten nun eine Abart züchten, die das fehlende Enzym produziert, sonst aber keinerlei Nebenwirkungen hat.« »Genau«, sagte Subchundrum. »Meiner Ansicht nach sollten wir nicht auf durch kosmische Strahlen oder sogar Plasmen hervorgerufene Mutationen warten. Vielmehr sollten wir den genetischen Code irgendeines Virus so überarbeiten, daß er eine Antistellung gegen
menschliche Fortpflanzung bezieht. Gleichzeitig müssen wir ein Gegenmittel entwickeln, das ihn ausschaltet, sobald einem bestimmten Menschenpaar eine Geburt erlaubt wird.« »Erst die ganze menschliche Rasse infizieren und dann die Frage stellen, wer sich fortpflanzen darf?« fragte Charles. »Fast wie Gott der Allmächtige, nicht wahr?« Sayji antwortete mit einem Blinzeln. »Hindu-Götter können alles. Sie sind nicht tot und sind auch nicht in Argentinien. Also los, an die Arbeit!« Mit gemischten Gefühlen machten sie sich an die Arbeit. Die ethische Problematik derartiger Forschung machte Dr. Subchundrum mehr Sorgen, als er zugeben mochte. Solange sie freilich noch nicht ganz am Ziel waren, konnte er die endgültige Bestandsaufnahme immer noch hinausschieben. Denn sie mußte ihn zu der Entscheidung zwingen, ob und wann er die ganze Menschheit mit einem Antikonzeptionsvirus infizieren sollte und durfte. Mary Braden und Subchundrum waren die Gen-Chirurgen des Teams. Ihre Augen und Hände befähigten sie zu feinsten Operationen, denen Charles Perry und Yacov HarShawkor nicht gewachsen waren. Yankele und Charlie fiel die mathematische und die Computer-Arbeit zu; außerdem führten sie Zuchtexperimente durch, in denen die wenigen von den Computern für aussichtsreich gehaltenen Viren erprobt wurden. Die vermeintlich größte Hürde war schon nach wenigen Monaten überwunden. Es war kein Problem, einen Virus zu züchten, der sich in den männlichen Keimzellen einnistete und jede einzelne Samenzelle abtötete. Doch was unmöglich schien, war, den Virus selbst lebensfähig zu machen. Einen Virus konnte man als Zelle definieren, der alles Unwesentliche fehlte: Eine Hippie-Zelle, hatte Mary gesagt. Sie hatte immer noch einen Nukleus, aber der Organismus hatte sich all dessen entledigt, was eine gewisse Eigenständigkeit entwickelt. Viren konnten sich reproduzieren und in Wirtszellen leben. Für den größten Teil ihres Lebenszyklus brauchten sie die Zellwand des Wirts zu ihrem Schutz – und nur wenn diese Zellwand zerbrach, weil die Zelle gestorben war oder der Virus sie getötet hatte – mußte ein Virus seine wesentliche Komponente, nämlich
seine genetische Fähigkeit zur Reproduktion, für die Wanderung zu einer anderen Zelle mit einer Art von Film schützen. Die mutierten, manipulierten Viren, die Mary Braden und Subchundrum ohne besondere Mühen erzeugen konnten, entbehrten einer wesentlichen Fähigkeit des Selbstschutzes. Statt parasitisch zu sein, von einem Wirt zu leben, statt ihn zu töten und in einem winzigen Raumschiff zu einer anderen Zelle zu treiben und in sie einzudringen, lebten sie in Symbiose. Solange sie mit dem Sperma lebten, gediehen sie. Wenn dieses Leben das Sperma tötete, starb auch der Virus. Das Problem schien unlösbar. »Es geht nicht mehr weiter«, knurrte Charlie eines Abends beim Essen. »Wir werden noch hier sein und mit submikroskopischen Teilen herumexperimentieren, wenn eine Menschenwoge über diese Berge schlägt und uns in den Indischen Ozean wirft. Es gibt keine Lösung – nur das Problem. Krishna oder Wishnu wollten, daß die menschliche Rasse sich selbst zu Tode bringe. Die Dinosaurier sind ausgestorben. Dronten sind auch gestorben. In einer Million Jahren wird es höchstens noch ein paar winzige Zweibeiner geben, die sich unter Blättern verstecken – Überreste unseres Zeitalters, so wie Iguanas Überreste des Reptilienzeitalters sind. Verdammt!« Niemand hatte ihm etwas entgegenzusetzen, außer seinem Glauben. »Glaube«, schnaubte er. »Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt? Wie diese armen Teufel, die schon ganz schwerhörig sind, weil sie tagaus, tagein nichts anderes hören als elektrostatische Geräusche von den Sternen? Pfui!« Trotzdem, sie arbeiteten weiter – ohne allzu offenkundigen Enthusiasmus, aber dennoch mit verbissener Sorgfalt. Sogar Charles nahm seine Computer-Programme peinlich genau und machte Assistenten die Hölle heiß, die aus Nachlässigkeit Spermakulturen absterben ließen, oder, wenn sie abgestorbene fanden, diese wegwarfen, ohne der Frage, warum sie gestorben waren, nachzugehen. Subchundrum war es, der schließlich begriff, welches wichtige Element der Ökologie noch fehlte, die sie für ihren mutierten Virus konstruieren wollten. »Die meisten Krankheiten, die wir als Virus-Krankheiten bezeichnen…« sagte er eines grauen Morgens zu den anderen. Er war
mit Kopfschmerzen erwacht, doch dann war ihm eine Idee gekommen, die seine Kopfschmerzen vertrieb. »Die meisten Krankheiten, die wir als Viruskrankheiten bezeichnen, werden nicht direkt von einer Person zur anderen übertragen. Sie werden mittelbar übertragen!« »Ja«, sagte Mary. »Ein Insekt oder ein anderes Tier dient als Zwischenträger. Das Rocky-Mountain-Fieber wird durch eine Motte übertragen. Typhus durch Läuse.« Charles bemerkte: »Für manche Viren ist der Aufenthalt im Zwischenträger ein wichtiger Teil des Lebenszyklus. Vielleicht gilt das auch für unsere kleinen Spermen-Killer. Versuchen wir es zuerst bei Flöhen. Die sind nicht sehr schwer zu finden.« Und wieder begann ihre Arbeit. Sie war umfangreich, hart – und erfolglos. Alle Arten von Flöhen wurden den Tests unterzogen – umsonst. Motten stießen den Virus ab, als sei er ein fremder Eiweißkörper. Das Blut von Nagetieren zerstörte ihn. Bei Vögeln erwies er sich als schnell seine Wirkung verlierendes Gift. Kein Tier war zu finden, das die kleinen Mörder wirksam in den menschlichen Blutkreislauf zurückbringen konnte. Dann galten intensive Bemühungen dem Versuch, den Virus pneumonisch zu machen, so daß er an die Grippe gebunden und durch Niesen, Husten und Küssen rasch übertragen werden konnte. Doch die Viruspartikel fielen bei diesem Übergang einfach aus. Nichts offenbarte die Künstlichkeit von Subchundrums Viren mehr als dies: Nur durch direkte Einbringung in den Blutkreislauf blieben sie wirksam. Wieder schien man in eine Sackgasse geraten zu sein. Das Vorhaben verlor an Schwung. Alle Mitarbeiter wanderten zu attraktiveren Projekten mit angenehmeren Lebensund Arbeitsbedingungen und besseren Aussichten ab. Viele beteiligten sich an anderen Forschungsvorhaben, deren Ziel es war, mit Viren Mongolismus, Frühgeburten und Kinderleukämie zu bekämpfen. »Nicht genug damit«, sagte Yacov, »daß sie desertieren. In gewisser Weise laufen sie obendrein noch zum Feind über.« Von Mary kam schließlich der Vorschlag, der zum Kernpunkt ihres letzten gemeinsamen Forschungsprojekts werden sollte. Sie hatte jetzt
mehr Selbstvertrauen als am Anfang ihrer Bekanntschaft. Diesen Vorschlag aber machte sie beinahe ängstlich, als sie eines Samstagnachmittags versuchten, die Frage von immer neuen Seiten anzugehen. »Liebe Kollegen, vielleicht haben wir bei der Inangriffnahme dieses Problems unsere Prämissen zu eng gefaßt, als daß eine Lösung sichtbar werden könnte. Wir haben an Übertragung von Mensch zu Mensch durch eine andere Spezies gedacht.« »Aber diese Viren funktionieren nun mal so«, sagte Subchundrum. »Mensch – Motte – Mensch; Mensch – Floh – Ratte – Floh – Mensch; Mensch – Moskito – Mensch. Worauf willst du hinaus?« Mary strich sich über das Haar. »Darauf, daß der Mensch als Spezies nicht nur aus Männern besteht. Frauen sind auch Menschen. Wir haben uns auf den Fall Mann – Spezies X – Mann konzentriert und vergessen, daß viele Krankheiten, vor allem genetische, nach dem System Mann – Frau – Mann übertragen werden. Vielleicht ist das der natürliche Weg von Subchundrums Virus.« Das war an einem Samstagnachmittag; aber in Subchundrums biologischem Laboratorium achtete man weder auf Wochenenden noch Feiertage. Innerhalb einer Stunde waren alle vier Wissenschaftler am Werk. Innerhalb einer Woche riß der Strudel ihrer Tätigkeit auch den Rest des Personals mit sich fort. Erst mußten Subchundrum und Mary Braden den Vererbungsmechanismus des Virus strukturieren, damit er auf die Mäuse wirkte, die der Ausgangspunkt ihres Experimentes waren. ComputerArbeit und Zuchtexperimente folgten. Dann mußten die lebenden Teilchen modifiziert werden, damit sie ihre sterilisierende Wanderung auch bei Affen durchführen konnten. Schließlich mußte der große Schritt getan werden: Die Infizierung menschlicher Wesen. Zu diesem Zeitpunkt war Yacov gezwungen gewesen, sich zu einer einwöchigen Konferenz nach Neu Delhi zu begeben – nicht um über die Fortschritte von Subchundrums Forschungsprojekt zu referieren, sondern um zu sehen, ob irgendein anderes Forschungsvorhaben dem Virusprojekt von Nutzen sein konnte. Er gewann allerdings keine nennenswerte Erkenntnis, außer daß das Hauptziel der einschlägigen
Forschung immer noch war, die Methode zu finden, die so einfach, so billig und so narrensicher sein sollte, daß die sich ständig vermehrenden Milliarden der Erde sie über Nacht annehmen würden. Den moralischen, religiösen, gefühlsmäßigen und wirtschaftlichen Gegenströmungen, die die Einführung selbst eines derartigen Mittels verhindern konnten, begegnete man immer noch auf der wenig wirksamen Basis von Erziehung und Propaganda. Yacov HarShawkor hatte den Rückflug in einer aus Niedergeschlagenheit und aufgeregter Erwartung gemischten Stimmung angetreten. Er war bedrückt, weil es keinen Hinweis darauf gegeben hatte, daß andere Gruppen denselben Weg eingeschlagen hatten wie Subchundrum. Erwartungsvoll war er, weil er hoffte, seine Kollegen hätten inzwischen den Durchbruch erzielt. Yacov wußte, daß die großen Entdeckungen dieser Epoche wegen des ständigen Ideenaustauschs der Wissenschaftler und der beträchtlichen zur Verfügung stehenden Geldmittel fast gleichzeitig stattfanden. Wie der Krieg, so war auch die Forschung ein stabiler und kalkulierbarer Beitrag zum Sozialprodukt vieler Länder geworden. Aber, dachte er, wir haben nichts publiziert. Vielleicht auch andere nicht. Das Scheitern eines ehrgeizigen Vorhabens mochte man nicht gern eingestehen. Tatsache blieb, daß niemand ganz glücklich über ein Mittel sein konnte, bei dessen Anwendung die Grenzen der Überzeugung und Freiwilligkeit zugunsten von Zwang und unfreiwilliger Infektion überschritten wurden. Als er dem Flugzeug entstieg, war er entschlossen, sich mit Mary Braden darüber auseinanderzusetzen. Jetzt beschrieben ihm Subchundrum und Perry die unvorhergesehene Wendung, die das letzte Experiment inzwischen genommen hatte. »Es genügt«, sagte Perry, »dem Menschen den Glauben an ein von außen bestimmtes Universum zu geben. Seit wir auf den Gedanken kamen, Frauen könnten die Zwischenträger des Virus sein, hat uns fast jeder Schritt unserer Arbeit vorangebracht. Die ganze Sache läuft seitdem wie geschmiert.«
»Warum nicht?« fragte Subchundrum. »Wir haben uns zu Experten gemausert.« »Stimmt«, erklärte Charles. »Ihr wißt ja noch, was Hoogy immer sagte: ›In unserem Bereich kann die Welt die numerische Überlegenheit eines einzigen Lebewesens nicht ertragen. ‹ Es scheint, als habe irgendein großes Prinzip uns vorwärts getrieben; und hätten wir Mary – oder den Infektionsherd, zu dem sie wurde – auf die Welt losgelassen, dann hätte das schon in dieser Generation das Ende der menschlichen Rasse bedeutet. Ich trauere um Mary; aber ich danke Gott, daß wir die Trägerin dieses Virus getötet haben. Jetzt müssen wir die Sache eben noch einmal durcharbeiten.« »Es war diese verirrte Feuerkugel«, sagte Subchundrum. »Was?« sagte Yacov. »Was soll denn das heißen? Rede doch vernünftig. Vergiß nicht, daß du mir etwas beibringen willst. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn du das auf verständliche Weise tätest.« »Also, du weißt, daß sich in den Vorbergen, etwa zwanzig Meilen entfernt, ein Laboratorium befindet, wo Plasmaforschung betrieben wird. Von diesen Burschen erfährt man ja nichts, aber ich glaube, sie wollen so eine Art Kobold für Kriegszwecke herstellen – irgendeine Methode, ein Plasma mit seiner harten Strahlung in einer Strahlenflasche zu halten, die man dann unter der Nase des Feindes oder in seinen Fabriken öffnen könnte. Dort oben können sie von den Wasserkraftwerken jede beliebige Menge Energie erhalten; und sie verbrauchen sie megawattweise.« »Und?« »Letzte Woche, nicht lange nach deinem Abflug, entkam ihnen ein Feuerball. Die ganze Nacht wanderte eine Art Kugelblitz hier herum, schaute zum Fenster herein, rollte über Hausdächer, spielte Fangen mit uns. Wir hatten eine Viruskultur vorbereitet. Mary und ich, wir hatten uns dazu entschlossen – und auch Charles dazu überredet –, daß wir drei an uns selbst den Übertragungsmechanismus ausprobieren sollten. Doch dann hatten wir Anlaß zu der Befürchtung, daß die Strahlung dieser Feuerkugel unsere lieben Kleinen geschädigt haben könnte. In Glasbehältern sind sie ja so verwundbar wie Fische in einem Aquarium.«
»Und was tatest du?« »Alle drei, Yacov – alle drei – machten wir uns mit dem Elektronenmikroskop über die Viren her. Ich schwöre dir, daß keiner von uns irgendeinen genetischen Knacks entdeckte. Trotzdem war es ein Fehler, die Kultur noch zu verwenden. Den Rest habe ich jedenfalls in einem Elektroofen verbrannt.« »Das hättest du natürlich sofort tun sollen, Sayji. Bei einer Kultur von vielen Milliarden ist die statistische Wahrscheinlichkeit, bei der Überprüfung von einigen Tausend eine größere Mutation zu übersehen, einfach riesengroß.« »Yankele, wir waren alle im Fieber. Das ist die Wahrheit. Auch Mary hatte mit Ja gestimmt.« »Fieber ist gut – in diesem Fieber hast du mein Mädchen getötet.« »Yacov, dein Mädchen war sie nur diesen Monat, vielleicht auch das letzte Jahr«, sagte Charles nüchtern. »Du weißt genau, daß es nicht ewig gedauert hätte. Wir alle sind viele Male Marys ›einziger Mann‹ gewesen. Sie liebte uns alle, und wir alle liebten sie, und die Zeit ist lange vorbei, wo einer von uns deswegen Eifersucht empfinden konnte. Sayji und ich haben sie getötet, das stimmt. Aber getötet hat sie auch diese Feuerkugel, und du und sie selbst.« »Also bitte, lassen wir das! Was passierte?« »Es funktionierte, das ist alles«, sagte Charles mit einer etwas ratlosen Geste. »Wir haben die Lösung, sobald wir die Wirkung des Virus auf den weiblichen Zwischenträger abmildern können. Diese Wirkung war etwas Wildes, nicht Ausrechenbares, was wir unter Kontrolle bringen müssen. Sayji und ich sind so steril wie zwei Eunuchen; aber Mary hat sie umgebracht.« »Wie?« »Die erste Stufe der Übertragung zwischen Mary und mir wurde unter Laboratoriumsbedingungen durchgeführt«, sagte Subchundrum. »Dann gaben wir dem Virus zwei Tage Zeit, sich in ihrem Blutkreislauf zu vermehren, bevor sie den Transfer zu Charlie durchführte.« »Und dann? War sie bis zu diesem Zeitpunkt gesund?«
»Absolut. Temperatur, Puls, Atem, Blutwerte, Urin, alles genau so, wie wir es bei Mary kannten. Sag du ihm, was dann passierte, Charlie.« »Wir verließen das Laboratorium mit all den Instrumenten, mit denen wir den Transfer überwacht hatten. Ich brachte sie zu ihrem Quartier. Dann ging ich zu meinem, nahm eine Dusche und zog mich an. Etwa zwanzig Minuten, nachdem wir das Laboratorium verlassen hatten, rief sie mich an. ›Komm herüber zu mir‹, sagte sie. Als ich dann in das Zimmer trat, trug sie immer noch den Kittel, in dem sie das Laboratorium verlassen hatte. Yacov, sie schlüpfte einfach heraus und kam auf mich zu. Ich überlegte – vielleicht eine halbe Minute lang – ob dies vielleicht den Verlauf des Experiments beeinflussen könne, und dachte dann nicht mehr daran. Als es vorüber war, schlüpfte ich wieder in Hemd und Hose. ›Okay, Mary‹, sagte ich, ›jetzt muß ich noch eine Dusche nehmen, bevor ich weiterarbeiten kann. Wir sehen uns dann beim Lunch. ‹ Jedenfalls war mir ein Anstieg ihrer Temperatur aufgefallen. Sie war tatsächlich wie ein Ofen, aber ich dachte – na ja, du weißt schon. Fünfzehn Minuten später rannte sie draußen herum.« »Nymphomanie?« »Mehr noch als das«, sagte Subchundrum. »Etwas Elementares, Yacov. Sie war wie ein Tornado. Es gibt wohl keinen Mann auf der ganzen Station, den sie nicht sterilisiert hat. Wir mußten ihr Beruhigungsmittel geben und sie intravenös ernähren. Und heute abend ist sie uns doch entwischt.« Yacov stand auf. »Wir müssen die Sache zu Ende führen. Wir müssen ein Heilmittel finden – oder eine Methode, die Wirkung des Virus abzumildern. In allen Dörfern der Umgebung müssen wir die Frauen vor den Männern schützen, die hier arbeiten. Ich mache mit bis zum Ende. Aber ich möchte nicht, daß einer von euch noch ein Wort zu mir sagt, das nichts mit der Arbeit zu tun hat. Und wenn es vorbei ist, möchte ich von euch beiden niemals wieder etwas hören oder sehen.« Er wandte sich um und ging hinaus. Vier Tage später, als sie gerade eine neue Kultur vorbereitet hatten, kam die Nachricht vom Auftreten der Epidemie in fünf und zehn Meilen entfernten Dörfern. Zwei Tage später brach sie zum erstenmal in Neu Delhi aus. Zehn Tage danach erreichte ihn die Postkarte aus New York.
Als Yacov sie las, traten Tränen in seine Augen. Doch ob es Tränen der Erleichterung, der Liebe oder der Angst waren – er hätte es nicht sagen können. In der ihm so vertrauten Schrift stand auf der Karte: »Die Fleischwunde in der Schulter heilt gut. Das ökologische Gleichgewicht läßt sich nicht mißachten. Ich wünschte, du wärst hier. Mary.« Originaltitel: TOO MANY PEOPLE Copyright © 1971 by Universal Publishing and Distributing Corp. Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser
Doris Piserchia
BESCHÜTZENDER TRAUM Sie hatten ihn in eine stählerne Kammer gesteckt – fensterlos, keine Gitter, und man konnte nicht einmal ausmachen, wo das diffuse Licht herkam. Da war nur er selbst, mitgenommen und verwirrt. Wäre die Zelle ausgepolstert gewesen, so hätte er daraus schließen können, daß sie ihn für verrückt hielten. Die Wände bestanden aus glattem Metall. Nein, das hier war ein Gefängnis, und irgend jemand würde dafür bezahlen müssen, bevor der Tag vorüber war. Besorgt lauschte er. Aber er hörte nichts außer seinem eigenen Atem. Er hockte sich wieder auf den kalten Boden. Es war gewiß am vernünftigsten, zu warten und sich still zu halten und sich nicht anmerken zu lassen, daß er sich fürchtete. Der Quadratschädel mit dem versteinerten Gesichtsausdruck, der ihn in diese Zelle gestoßen hatte, war zweifellos ein Sadist, der ihn für nicht mehr als ein Stück Dreck hielt. Eine Weile saß er da und überlegte, dann sprang er plötzlich auf seine Füße und hämmerte mit den Fäusten gegen die Stahltür. Nachdem einige Minuten vergangen waren, wich die Tür zurück und Steingesicht stand da – stämmig, blaue Uniform, ausdruckslose Augen. »Was ist los?« »Nach dem Gesetz habe ich das Recht, einen Telefonanruf zu machen.« Duncan mußte sich anstrengen, damit seine Worte nicht als ein bloßes Krächzen herauskamen. Er ging ein paar Schritte zurück, um deutlich zu machen, daß es nicht in seiner Absicht lag, durch die offene Tür zu fliehen. Es hatte keinen Zweck, sich diesen Schwachkopf zum Feind zu machen. Eine neue Zuversicht erfüllte ihn. Sekunden später fühlte er, wie sie ihn augenblicklich wieder verließ, als Steingesicht ihn mißbilligend ansah und fragte: »Was ist das, Gesetz?« Er wußte, daß sein eigener Ausdruck in fassungslosem Unglauben gipfelte. »Fangen Sie nicht schon wieder damit an«, sagte er grimmig. »Das zieht nicht. Ich bin ein gesetzestreuer Bürger, der ohne Anklage
eingesperrt worden ist. Damit kommen Sie nicht durch. Ich verlange, daß ich meinen Anwalt anrufen kann.« »Was ist – ein Anwalt?« fragte Steingesicht, und seine Stimme klang wirklich neugierig. Als ihn Duncan nur stumm anstarrte, zuckte er die Schultern und machte einen Schritt zurück. Die Tür begann sich wieder zu schließen. »Wie lange wollt ihr mich hier festhalten?« verlangte Duncan zu wissen. »Bis sie kommen«, sagte Steingesicht, bevor die Tür hörbar einschnappte. Duncan knirschte mit den Zähnen und sah zu Boden. Er würde nicht schreien, würde ihnen nicht die Befriedigung gewähren, seiner Angst lauschen zu können. Er wollte sie nicht wissen lassen, in welcher Verfassung sich seine Nerven befanden. Er rieb eine schmerzende Stelle seines Arms. Bis sie kommen… »Sie«, sagte er leise. Das Wort hatte einen merkwürdigen Beiklang gehabt, wie Steingesicht es benützte; als hätte er etwas Endgültiges, Unwiderrufliches ausgesprochen. »Sie«, sagte er noch einmal und versuchte dabei, den richtigen Klang zu treffen, seine Bedeutung zu entziffern. Wer konnten sie sein? Ein Erschießungskommando? Sollte er erschossen werden, weil er Widerstand gegen seine Festnahme geleistet hatte? Hör auf, sagte er sich selbst; seit die Todesstrafe abgeschafft wurde, gibt es auch keine Erschießungskommandos mehr. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte zu überlegen, aber er war so erschöpft, daß er kaum weiterkam. Er mußte annehmen, daß er geschlafen hatte, denn als er die Augen wieder öffnete, glitt soeben die Tür auf, und zwei große Schatten bewegten sich auf ihn zu. »Sie« waren hier. Er kämpfte gegen sein Verlangen, sich gegen die Wand zu ducken, und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken: Wenn sie ihn aus der Zelle herauszuzerren versuchten, dann würde er den Kampf seines Lebens beginnen. Keiner der beiden machte Anstalten, ihn zu berühren. Beide Männer standen im Türrahmen und sahen ihn lange an, bevor einer von ihnen die Hand hob und mit den Fingern schnippte. Das war offenbar ein
Signal für Steingesicht, weil dieser sich entfernte und mit zwei klappbaren Stühlen zurückkehrte. Langsam setzten sie sich darauf und sahen ihn noch immer prüfend an, während er selbst seine Besucher etwas genauer betrachtete. Sie trugen schwere, hohe Stiefel und grobe Kleidung, Hosen und Hemden aus festem Stoff. Sie waren mittleren Alters, auf jeden Fall über fünfzig, aber sie sahen beide aus, als ob sie noch ganz gut in Form wären. Er hielt sich an seinen Knien fest, um sie am Zittern zu hindern, und sagte: »Wollen Sie mir vormachen, daß Sie so hirnlos sind wie Ihre Wache? Wenn ja, dann verschwenden Sie Ihre Zeit. Ich kann warten, solange es sein muß.« »Wir wollen gar nichts vormachen«, sagte einer von ihnen, und Duncans Augen hielten sich an seinem Gesicht fest. Der Mann hatte rotglänzende Wangen und schwitzte, als käme er soeben aus einer Sauna, was natürlich nicht der Fall war. Die abendliche Temperatur mußte noch immer sehr hoch sein, wenn es auch nicht mehr so heiß sein konnte wie gegen Nachmittag, als Steingesicht in sein Haus gekommen war und ihn festgenommen hatte. »Wer sind Sie?« fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Mein Name ist Rand. Das ist Mr. Deevers.« Er sah sie voll Verzweiflung an. Sie waren nur zwei Polizisten, die sich um Gesetze wenig scherten, aber ihr Anblick ließ eine Menge in ihm hochkommen; nicht nur, weil sie ihn anstarrten, als ob er acht Beine hätte, sondern weil sie die Freiheit hatten, zu kommen oder zu gehen, während er wußte, daß ihm nur eine schnelle Bewegung in Richtung auf die offene Tür blieb, bevor sie ihn erschossen. Deevers war so blaß, wie Rands Gesicht gerötet war; als ob alle Farbe aus seiner Haut gebleicht worden wäre. Seine Kleider wirkten ziemlich verschlissen, die des anderen auch. Warum waren sie so angezogen? Wo waren ihre Uniformen? Er verschränkte seine Arme vor der Brust und sah sie an. Er würde zur Hölle fahren, bevor er sie fragte, warum er festgenommen worden war. Steingesicht hatte keine einzige seiner Fragen beantwortet, und es war fraglich, ob er von diesen beiden eine Antwort erhalten würde.
Der eine, der Deevers genannt wurde, machte eine ruckartige Kopfbewegung, und Rand begann wieder zu sprechen. »Wir wollen Ihnen eine oder zwei Fragen stellen, und dann können wir vielleicht einige der Ihren beantworten!« Rand lächelte, aber es wirkte unbeholfen und war nicht echt. Er wirkte steif und schien sich nicht wohlzufühlen in seiner Haut. Das Lächeln sagte Duncan etwas. Wenn sie vorhatten, ihn umzubringen, dann sollte das jedenfalls nicht sofort geschehen. »Dann fragen Sie«, sagte er. »Wann haben Sie zuerst bemerkt, daß Ihre Identitätsplakette weg war?« Duncan spürte, wie sein Rücken nachgab und an der Wand Halt fand. Nicht schon wieder die Sache mit dem Ausweis. Er wollte nichts mehr davon hören. Es war zu unwichtig, um seine Zeit damit zu vergeuden. Es machte ihn krank, wenn er nur daran dachte, und er spürte das plötzliche Bedürfnis zu schlafen, ein überwältigendes Verlangen, sich niederzulegen und die Augen zu schließen. »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Bitte, versuchen Sie sich zu erinnern.« »Es war keine Plakette. Es war eine Ausweiskarte. Ich ging meine Brieftasche durch, suchte nach etwas, und dabei fiel die Karte heraus. Sie fiel in den Rinnstein und wurde in die Kanalisation gespült.« Rand lehnte sich auf seinem Stuhl etwas nach vorn und fragte: »Wo waren Sie, als das geschah?« »Ich kam gerade von der Arbeit und war auf dem Weg nach Hause.« »Wie hieß die Stadt?« fragte Deevers schnell. »Ach, zum Teufel!« Deevers setzte sich zurück und sah Rand an. »Wir verschwenden nur unsere Zeit.« Duncan fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. »Wenn es nur um die Identifizierung geht, dann dürfte es mir nicht schwerfallen, zu beweisen, wer ich bin. Ich habe eine Geburtsurkunde.«
Sie starrten ihn an, als ob er etwas völlig Überraschendes gesagt hätte. Rands Ausdruck wurde schnell wieder etwas freundlicher, aber Deevers Überraschung löste sich und machte einer finsteren Miene Platz. »Wo ist sie?« verlangte Rand. »Steingesicht hat sie. Ihr Mann da draußen.« Rand wandte sich zu Deevers. »Sehen Sie mal nach.« Deevers sah noch immer finster drein, erhob sich aber. »Ich bin noch immer der Ansicht, daß wir die Sache gleich erledigen sollten.« Er erhielt keine Antwort auf seine Bemerkung, also ging er aus dem Raum. Ein paar Augenblicke später kam er mit einem Streifen Papier zurück, den er Rand übergab. »Was meinen Sie, wo er das wohl gefunden hat?« fragte Rand, nachdem er das Papier mit einem kurzen Blick gewürdigt hatte. »Es müssen eine Menge Papierfetzen herumfliegen. Das sieht aus wie ein Teil von – « »Er wüßte ja gar nicht, wonach er zu suchen hätte. Wieso sollte er überhaupt auf den Gedanken kommen, zu suchen?« »Was wissen Sie schon, was er gemacht hat, bevor er hierhergebracht wurde?« sagte Deevers. »Er hat sich in der ganzen Gegend herumgetrieben.« Duncan hielt sich krampfhaft an seinen Knien fest. Warum redeten sie so miteinander, als ob er gar nicht hier sitzen und ihnen zuhören würde? Die Geburtsurkunde bedeutete ihnen nicht mehr, als sie Steingesicht bedeutet hatte. Das war eine recht unangenehme Szene gewesen. »Augenblick bitte«, hatte Duncan gesagt, natürlich aufgebracht, aber seiner selbst völlig sicher. »Ich habe vielleicht meinen Personalausweis verloren, aber das bedeutet noch lange nicht, daß ich nicht mehr existiere. Was soll das für ein Unfug sein? Ich habe noch immer einige Rechte.« Und Steingesicht hatte gesagt: »Was sind Rechte?« Ja, das waren seine Worte gewesen. Duncan hatte die Geburtsurkunde aus seiner Brieftasche gezogen und sie diesem Vollidioten vor die Augen gehalten in der Überzeugung, daß ihn das zufriedenstellen mußte – oder
aber es gab überhaupt nichts, was ihn zu überzeugen vermochte. Nun, damit hatte er recht gehabt. Nachdem er den Text laut gelesen hatte, hatte Steingesicht gefragt: »Was ist Vater? Was ist Mutter? Was heißt Geburt?« Duncan sah Rand zu, wie er die Geburtsurkunde zusammenfaltete und in seiner Tasche verstaute. Es war ganz offensichtlich, daß ihn diese beiden für jemand anders hielten. Jemand hatte etwas getan, und Deevers und Rand hielten ihn für den Schuldigen. Wenn er die Sache nicht bald klärte, dann konnte die Situation außer Kontrolle geraten, wenn das nicht schon der Fall war. »Ich habe es nicht getan«, sagte er. »Sie haben den Falschen erwischt.« »Wie sah Ihre Ausweiskarte aus?« fragte Rand. So können sie nicht weitermachen, sagte der kleine Schwätzer in Duncans Bewußtsein. Jemand mußte einmal anfangen und etwas Sinnvolles von sich geben. Er wußte, daß es ihm nicht half, zu zucken und zu beben, wie er es tat, aber ein Dämon in seinem Bewußtsein warnte ihn davor, daß er eines Tages so verrückt sein würde wie diese beiden da, wenn er sich nicht wenigstens in Äußerlichkeiten gehen ließ. »Sie war weiß, ungefähr neun mal sechs Zentimeter«, sagte er. »Sie trug meinen Namen, die Adresse, eine Körperbeschreibung und den Vermerk über die Wehrpflicht.« »Und sie war weiß?« »Ich sagte schon, daß sie weiß war.« Deevers sah ihn mit ruhiger Feindseligkeit an. Warum? Dieser Mann hatte keinen Grund, ihn zu hassen. Er hatte ihn nie zuvor in seinem Leben gesehen. Rand stellte einen Stiefel auf das Knie des anderen Fußes und kratzte mit einem Fingernagel Schmutz von der Sohle. »Wie sah sie aus, nachdem sie aus Ihrer Brieftasche gefallen war?« Wie sah sie aus? Er hatte gespürt, daß etwas Schicksalhaftes geschah, während er zusah, wie die weiße Karte in den Strom schmutzigen Wassers gezogen wurde. Zusammen mit Blättern und Schmutz war sie in die Kanalisation geschwemmt worden. »Ach, zum Teufel!« Er erinnerte sich, wie er das laut ausgesprochen hatte. Überrascht hatte er festgestellt,
daß er am Rinnstein kniete, und noch mehr hatte ihn überrascht, wie sehr er zitterte. Einen Augenblick lang war es ihm so vorgekommen, als ob die Karte kurz vor dem Eintauchen ins Wasser Farbe und Form gewechselt hätte. Sie hatte seltsam metallisch und eher rund gewirkt, grün und gänzlich unvertraut. »Sie sah grün aus«, sagte er, verbesserte sich aber sofort wieder. »Nein, sie war weiß. Ich sagte es doch, sie war weiß.« Rands Hand lag untätig auf seinem Stiefel, und während er Deevers ansah, umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen. Deevers blieb ernst und schüttelte seinen Kopf. »Das bedeutet gar nichts.« »Sie wissen, was es bedeutet.« Duncan hatte laut zu sich selbst gesagt: »Ach, zum Teufel!« Und das hatte ihn wieder in die Wirklichkeit zurückgebracht. Sein Personalausweis war aus seiner Brieftasche gefallen, das war alles, was geschehen war. Das konnte schließlich jedem passieren – und passierte auch oft genug. Natürlich würde er einen anderen erhalten; oder er konnte sogar selbst einen herstellen. Ein Ausweis war ein bedeutungsloser Gegenstand, nicht einmal ein wirkliches Symbol. Ein Stück Papier konnte niemals die Summe eines lebenden und atmenden menschlichen Wesens ausmachen. »Es macht doch keinen Unterschied, was für eine Farbe sie hatte«, sagte er und sah Deevers an. »Es ist sehr wichtig«, gab Rand zurück. »Ich verstehe nicht, was das ausmachen soll. Wenn Sie herausfinden wollen, wer ich bin, dann sollte das einfach genug sein.« »Wir wissen bereits, wer Sie sind«, sagte Deevers. Er war sich zweifellos der Wirkung bewußt, die seine Worte auf Duncan hatten, und seine Augen bestätigten das. Sie waren klein und rund und dunkel; es war kein Lachen in ihnen, obwohl er ziemlich belustigt war, und Duncan spürte es, als er in diese Augen sah. »Warum lassen Sie mich dann nicht gehen?« Er mußte es zweimal sagen, weil seine Stimme beim erstenmal zu heiser war. »Sie könnten mich wenigstens meinen Anwalt anrufen lassen.«
Rand sah zur Seite. »Ich fürchte, Sie können ihn nicht anrufen.« »Warum nicht?« »Ferngesprächsgebühren«, sagte Deevers, und seine dunklen Augen belustigten sich mehr denn je. Rand bedachte ihn mit einem verärgerten Blick. »Lassen Sie das!« »Wir verschwenden nur unsere Zeit.« »Sie können doch nicht erwarten, daß das in einer Stunde zu klären ist.« »Ich habe gar nicht vor, es zu klären«, sagte Deevers. »Die Sache ist bis auf einen Rest von armseligen null komma null null zwei Prozent geklärt. Ich schlage vor, wir kennzeichnen ihn und die anderen ähnlichen Fälle als jährlichen Verlust und vergessen die Geschichte.« »Nein.« »Wir haben diese Routine schon ein dutzendmal hinter uns gebracht, und es ist nichts dabei herausgekommen.« Duncan sah sie verständnislos an, konnte es nicht länger ertragen und legte seine Hände flach auf den Boden, stützte sich ab. Die Furcht hatte ihm die Kraft genommen. Langsam und mühevoll richtete er sich auf. Deevers Gesichtsausdruck wirkte alarmiert. »Verschwinden wir von hier«, sagte er. »Wartet!« rief Duncan, während er kämpfte, um auf die Füße zu kommen. Als er es endlich geschafft hatte, hatten die beiden Männer bereits den Raum verlassen, und die Tür glitt zu. Sie blieb noch einen Spalt weit auf, so daß Rand noch einmal hereinsehen konnte. »Das sollten Sie nicht tun.« »Was tun?« Duncan schrie vor Wut und Verzweiflung. »Laßt mich hinaus. Ihr könnt mich nicht hier zurücklassen!«
Durch den Spalt konnte er sehen, wie Deevers Augen auf und ab tanzten. Dieser Mann schien sich über ihn zu amüsieren, insbesondere dann, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf ließ. »Ich habe nichts getan. Wenn Sie glauben, daß ich ein Verbrechen begangen habe, dann sagen Sie mir wenigstens, was es sein soll.« Rand schüttelte den Kopf und sagte: »Sie haben kein Verbrechen begangen.« »Schön, ich werde mich gut benehmen, ich werde Sie nicht angreifen. Ich bin ein Wurm und Sie sind der allmächtige Gott, aber lassen Sie mich frei.« »Das kann ich nicht.« »Sagen Sie mir, warum.« »Weil Sie wahnsinnig sind.« Er schreckte vor der Pein dieser Worte zurück, schlug vernehmbar gegen die Zellenwand, so daß es ihm am Kopf und am Rücken schmerzte. Einen Augenblick lang starrte er wild um sich, dann wandte er sich wieder zu Rand. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte er und langte durch den Spalt hinaus, um Rand an seinem Hemd festzuhalten. Doch Rand hatte sich bereits in sichere Entfernung gebracht. »Das hier ist kein Sanatorium. Wo sind die Ärzte und die Krankenschwestern? Was ist das hier eigentlich?« »Es ist ein Lagerraum, der einzige Ort, den wir für Sie finden konnten. Versuchen Sie nicht, mehr herauszufinden, weil das für Sie nur schmerzlich sein kann.« Dann waren sie beide nicht mehr hinter dem geöffneten Spalt zu sehen. Er begann in seiner Zelle auf- und abzugehen, und als er damit aufhörte, war er sicher, daß er eine deutliche Spur im Boden hinterlassen hatte. Er untersuchte die Zellenwände. Seine Hände hatten noch nie einen glatteren Stahl berührt. Es fühlte sich wie Glas an, und selbst die abgerundeten Ecken waren so glatt und eben wie alles andere. Sein Selbstvertrauen kehrte allmählich wieder zurück. Man hatte ihm nichts angetan, und die Aussichten sprachen dafür, daß ihm auch nichts geschehen würde. Aus irgendeinem Grund versuchten Rand und
Deevers, ihn in den Wahnsinn zu treiben oder an sich selbst zweifeln zu lassen, und sie hatten eine Menge unternommen, damit alles entsprechend aussah. Aber das hier war keine Gefängniszelle. Steingesichts Uniform hatte ihn getäuscht, aber jetzt wußte er, daß sie nicht echt war, und die Polizeistation da draußen war ihm auch nur vorgemacht worden. Was die Zelle anging, so mußte sie tatsächlich das sein, was Rand gesagt hatte, ein Lagerraum, aber sie glich keinem Raum, den Duncan jemals gesehen hatte. Selbst mit einer Planierraupe hätte es schwerfallen müssen, sich einen Weg durch die massive Stahltür zu bahnen. Schließlich streckte er sich auf dem kalten Boden aus und legte den Kopf auf seine Arme. Aus all diesem Theater mußte früher oder später etwas Vernünftiges sichtbar werden, und dann würde er einen Aufruhr entfachen, um Rand und Deevers hinter die Gitter zu bringen, hinter die sie gehörten. Er lag noch immer auf dem Boden, als Rand zurückkam. Er machte gar nicht erst Anstalten, aufzustehen, da er sehen konnte, daß der andere nicht vorhatte, die Tür zu öffnen. Er stützte sein Kinn auf eine Hand und sah zu, wie Rand durch die schmale Öffnung spähte und ihn schließlich entdeckte. »Wir haben noch etwas zu bereden.« »Natürlich wegen der Karte«, sagte Duncan. Rand deutete ein schwaches Lächeln an. »Das ist richtig, ja. Es ist tatsächlich sehr wichtig, müssen Sie wissen.« »Ich weiß nur, daß Sie wie ein einigermaßen normaler Mensch aussehen, nicht wie ein Entführer. Für wen arbeiten Sie? Eine Spionageorganisation? Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich bin nicht im Besitz von Geheimnissen.« Rand seufzte und lehnte sich gegen den stählernen Türrahmen. »Konzentrieren Sie sich auf die Plakette. Ich meine die Karte. Wie fühlten Sie sich, als Sie sie im Rinnstein liegen sahen?« »Daran kann ich mich nicht erinnern.« »Versuchen Sie es.« »Ich habe überhaupt nichts empfunden. Warum auch?«
»Ich glaube, Sie lügen.« Duncan hob den Kopf. »Tun Sie mir einen Gefallen und gehen Sie wieder.« »Glauben Sie mir, das ist wichtig.« »Ihnen glauben? Sie sind vielleicht gut.« »Waren Sie wütend?« fragte Rand. »Nein.« »Traurig?« »Natürlich nicht.« »Glücklich?« »Gehen Sie doch!« »Hatten Sie das Gefühl, daß etwas Schicksalhaftes geschehen war?« Duncan langte nach seinem Kopf und wälzte sich so, daß er auf dem Rücken zu liegen kam. »Nan!« rief er. Rands überraschtes Gesicht hing in der Öffnung. »Wer ist Nan?« »Meine Frau, Sie Narr!« »Ihre Frau?« Seine ihn liebende Frau. Sie hatte ihn gefragt: »Was ist passiert? Bist du in einen Unfall verwickelt worden? Bist du gestürzt?« Er war soeben ins Haus getreten – müde, hungrig und im Begriff, ärgerlich zu werden, weil noch kein Essen auf dem Tisch stand. Sie nörgelte noch immer herum, stellte unaufhörlich Fragen, bis er die Fassung verlor und sie verfluchte. Er bereute es jedoch sofort wieder, und er versuchte sie zu küssen. Sie hielt ihn von sich weg, während sie mit einem angsterfüllten Ausdruck auf seine Brust starrte. Dann ging sie zum Telefon und rief die Polizei. »Sie ist krank«, erklärte er Rand. »Verstehen Sie nicht, warum ich hier heraus muß? Sie können mir helfen. Sie brauchen nur die Tür weit genug zu öffnen, damit ich hinaus kann.« Es klappte nicht. Rand stand nur da und starrte ihn an, und nichts geschah. Er sagte die Wahrheit, aber das bewirkte gar nichts. »Wann werden Sie dieser Geschichte ein Ende machen?« fragte er wütend.
»Das kann ich nicht«, sagte Rand. Sehr schön. Was zuviel war, war zuviel. Es gab niemanden, der ihm helfen konnte, außer ihm selbst. »Bringen Sie mir wenigstens so etwas wie ein Bett, auf das ich mich legen kann«, sagte er. »Wie würde Ihnen das gefallen, wenn Sie auf diesem Boden schlafen müßten?« »Tut mir wirklich leid«, sagte Rand. »Ich hatte gar nicht daran gedacht, daß es zu unbequem sein könnte.« »Nun?« »N – Steingesicht – wird Ihnen eine Liege bringen.« Als Rands Gesicht von der Öffnung verschwand, kam Duncan lächelnd wieder auf die Füße. Er mußte auf die eine oder andere Weise von hier wegkommen, und wenn sie darauf bestanden, daß er das Spiel nach ihren Regeln spielte, dann würde er das eben tun. Er stand in der Ecke neben der Tür, als Steingesicht öffnete und eine Liege hereintrug. Er schlug Steingesicht ohne jede Vorwarnung. Er war eben dabei, die Liege abzusetzen, als Duncans geballte Fäuste seinen Nacken trafen. Die Veränderungen wurden sichtbar, sobald er aus der Zelle trat. Jemand hatte die Polizeistation weggenommen. Er befand sich jetzt in einem ziemlich kleinen Vorraum, alles war aus glänzendem Stahl gemacht, eine kleine Tür befand sich neben seinem Gefängnis und drei Meter weiter eine andere. Noch bevor seine Furcht sich ausweiten konnte, gewann er seine Fassung wieder. Das war schon in Ordnung. Sollten sie Dinge ab- und umbauen, wie es ihnen gefiel. Sie spielten noch mehr Spiele, als er angenommen hatte, aber das sollte ihn keinen einzigen Augenblick aufhalten. Er versuchte die Tür neben seiner Zelle, und sie gab millimeterweise nach. Er hielt den Atem an und verharrte unbeweglich, als er die Stimmen von Rand und Deevers vernahm. »Das Gewissen hängt von der Intelligenz ab«, sagte Rand, und es klang wütend. »Wo bleibt denn Ihres? Sie reden doch dauernd von Ihrem IQ.« »Ich halte nichts davon, sie zu verschwenden.«
»Wir sind für ihn verantwortlich. Wir haben ihm das angetan, Sie und ich.« »Also taten wir es. Sie haben genug Geschäftssinn, so daß ich Ihnen nicht zu sagen brauche, was zu tun ist. Sie machen nur Ausflüchte.« »Zum Teufel, er wird bald genug in den Desintegrator wandern.« Duncan schob die Tür lautlos weiter zurück. Nachdem er in dem Raum war, schloß er die Tür hinter sich und bewegte sich hinter einen Stapel von großen Kartons. Er konnte die beiden Männer noch immer nicht sehen, daher bewegte er sich leise in die Richtung, aus der ihre Stimmen kamen. »Es ist passiert, weil er seine Identitätsplakette verloren hat«, sagte Rand. Er sprach verbissen, als würde er etwas zum x-tenmal wiederholen. »Das ist verrückt.« »Nein, die Entwicklungseinheit ist verrückt.« Deevers Ton wurde eisig. »Was wollen Sie damit sagen?« »Keine Angst, wir können dieser Sache ein Ende machen, ohne daß Sie dabei Geld verlieren. Ich möchte natürlich nicht, daß Sie dabei um einen Dollar zu kurz kommen. Nichts dergleichen.« »Wieso glauben Sie, daß Sie die ganze Geschichte durchschaut haben?« »Als er seine Identitätsplakette verlor, überkam ihn ein Schock«, erklärte Rand. »Plötzlich war er niemand – nichts. Das konnte er nicht ertragen, und deshalb fiel er zurück in sein Unterbewußtsein. Zum Teufel, lachen Sie nicht so spöttisch. Es ist ganz offensichtlich, daß er eines hat. Von wo sonst bezieht er seine Erinnerungen? Verstehen Sie denn nicht? Er konnte es nicht ertragen, nicht existent zu sein. Er brauchte ein Ich.« Was Deevers sah, hatte nichts mit dem zu tun, was Rand sagte. Seine Augen weiteten sich, und sein Gesicht wurde noch blässer, als er Duncan hinter den Kartons entdeckte. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er eine Tasse Kaffee vom Tisch, die auf dem Boden zerbrach.
Die plötzliche Versteifung von Rands Rückgrat war das einzige Anzeichen dafür, daß auch der kleinere Mann bemerkt hatte, daß etwas nicht stimmte. »Ich bin jünger und größer als ihr beide, und ich bin verzweifelt«, sagte Duncan. »Machen Sie keine Dummheiten.« »Nicht näher herankommen!« sagte Deevers. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und schien in seinem Sessel zu versinken. »Wo ist die Wache?« schrie er durch seine Finger. »Ich habe ihn bewußtlos geschlagen. Keine Sorge, ich habe ihn nicht verletzt.« »Oh, mein Gott«, schnaubte Deevers und warf Rand einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sie und Ihre verdammte Psychologie!« Rand wandte sich langsam herum. Sein Gesicht war bleich, aber er schien ganz ruhig zu sein. »Er ist nicht gefährlich.« Duncan trat hinter den Kartons hervor und ging auf sie zu. Während er sich bewegte, sah er sich um. Sie hatten Kaffee getrunken. Der Tisch war mit Zigarettenkippen übersät. Zwei Schlafkojen befanden sich an einer Wand, und ein alter Ölbrenner hielt eine Kaffeekanne warm. Die Kartons und Kisten entlang der Wände trugen Aufschriften, die sie als Nahrungsmittel kenntlich machten. In einem offenen Schrank sah er verschiedene Kleidungsstücke – Mäntel, Kopfbedeckungen, Stiefel – und zwei merkwürdige Ausrüstungen, die wie Taucheranzüge aus Gummi aussahen, hingen an einem Haken. Er sah keine Waffen, bis er sich umwandte und das Gewehr sah, das Deevers auf ihn gerichtet hatte. Rand sah es zur gleichen Zeit und schnellte auf Deevers zu. »Weg damit!« schnappte er. Das Gewehr in Deevers Hand schwankte. »Was wird er tun?« Duncans Hände waren zu Fäusten geballt. »Sie haben kein Recht, mich zu erschießen. Ich habe nichts getan. Ich bin unschuldig!« »Er hat recht«, sagte Rand. »Tun Sie das Gewehr weg.« Deevers zögerte, war noch unentschlossen. Plötzlich schleuderte er das Gewehr zu Boden und sah zu, wie es bis vor Duncans Füße schlitterte.
»Mach schon«, sagte er. »Nimm es dir. Du bist der Boss hier.« »Ich will kein Gewehr. Ich will nur weg von hier.« »Es gibt keinen Ort, wohin du gehen könntest«, sagte Rand mit einer seltsam veränderten Stimme. Irgend etwas hatte sich geändert; Rand sprach ihn jetzt ganz anders an als zuvor. »Ich möchte nach Hause.« »Das hier ist nicht…« »Halten Sie den Mund und lassen Sie ihn gehen«, stieß Deevers zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Geht es denn nicht in Ihren Dickschädel hinein, daß er leidet?« »Geh schon«, sagte Deevers zu Duncan mit einem feisten Grinsen. »Du bist frei. Hör nicht auf ihn. Er ist noch verrückter als du es bist.« Mit steifen Gliedern bewegte sich Duncan auf die Tür zu. Er hatte sie fast erreicht, als Rand hinter ihm herrief. »Wenn du hinausgehst, dann vergiß nicht, alle Türen hinter dir zu schließen. Und wenn du wieder zurückkommst, dann vergiß es ebenfalls nicht.« »Ich werde nicht zurückkommen.« Rand saß auf der Kante seines Stuhls, sein Kopf sank zwischen seine Knie, und er sah nicht auf, während er antwortete. »Du wirst. Deine Selbsttäuschung begann in dem Augenblick aufzubrechen, in dem du gesagt hast, die Karte wäre grün gewesen. Denke an das, was ich gesagt habe. Unser Leben hängt davon ab.« Er legte seine Hände zusammen und berührte mit ihnen seine Stirn. »Gib uns nicht alle Schuld. Wir haben es nicht so gemeint.« Duncan stand reglos da, die Hand zur Tür ausgestreckt, und ihn überlief ein kalter Schauer. Der Mann hatte so ernst geklungen, und doch waren seine Worte bedeutungslos. Worauf wollte er hinaus? War das noch so ein Trick, um ihn hier festzuhalten, bis sie erreicht hatten, was immer sie wollten? Zum Teufel mit Rand, und mit Deevers auch. Er brauchte nicht hierzubleiben und ihnen zuzuhören, sie konnten ihn nicht halten, weil sie zu schwach waren. Er war ihr Gefangener, und dabei hatten sie nicht einmal gewagt, das Gewehr gegen ihn anzuwenden. Er war frei, oder etwa nicht?
Er hatte nie eine so erheiternde Freiheit gekannt. Er raste in Richtung auf die Außenwelt, als hätte er sie eine Ewigkeit lang entbehren müssen, und seine Füße bewirkten schlagende Geräusche auf dem Stahlboden, während er durch die Türen raste und sie hastig hinter sich schloß. Er befand sich in einem langen Tunnel, der in drei kürzere Bereiche aufgeteilt war, in denen sich Behälter und Maschinenteile befanden, denen er freilich keinen zweiten Blick schenkte. Schließlich entkam er aus diesem Gruftgehäuse. Licht traf sein Gesicht, er schnappte nach Luft, seine Hand schloß automatisch die letzte Tür, dann wirbelte er herum, die Welt zu grüßen. Erneut schnappte er nach Luft. Er mußte irgendwo in dem Tunnel eine falsche Abbiegung erwischt haben, nur das konnte die Erklärung sein für das, was sich in jeder Richtung um ihn herum erstreckte; er hatte einfach eine Abbiegung übersehen und eine falsche Richtung eingeschlagen, denn das hier war nicht – Es war in Ordnung gewesen, als sie in seine Wohnung kamen und ihn wegschleppten, und es war in Ordnung gewesen, als sie ihn in dieses dunkle Loch warfen und ihn leiden ließen. Es war sogar noch in Ordnung gewesen, als sie die Polizeistation wegnahmen und durch stählerne Gewölbe ersetzten, aber, bei Gott, das hier war nicht in Ordnung. Sie konnten nicht einfach die Welt unter seinen Füßen wegziehen. Der Himmel war ein weißes Feuer, beherrscht von einer Sonne, die den Boden mit ihren grellen Strahlen peitschte. Wolken waren überall, und dennoch war der weite Himmel ein blendender Spiegel. Der Boden unter ihm war eine kahle Ebene. Da war keine Erde, sondern nur aufgeworfener Sand, der in kleinen Wolken hochstäubte, während er vorwärtstaumelte. Gezackte Felsenspeere ragten rund um ihn herum auf, einige so groß wie. Gebäude, andere so klein, daß er sie überschreiten konnte. Die Hitzewellen ließen alles vor ihm verschwimmen. Etwas bewegte sich in der Entfernung, kleine Flecken, die gegen den häßlichen Horizont zu erkennen waren, und er ging eine Zeitlang in diese Richtung, während sein Herz gegen seine Rippen schlug. Er ging und betete darum, daß das die Erde sein möge, irgendeine unerforschte Wüste vielleicht, in der die Gesetze der Natur einem eigenen Muster
folgten, aber er wußte, daß dieser Ort nichts mit seiner Heimat zu tun hatte. Es war die zerstörte Oberfläche einer anderen Welt, eines anderen Planeten im Kosmos, was besagte, daß er sich außerhalb jeder Wirklichkeit befand, denn der Mensch vermochte noch nicht einmal den Mond zu erreichen. Jetzt sah er sich bewegende Gestalten, und er ging noch schneller. Hoffnung kam auf und bekämpfte die Furcht, sich allein mit diesen beiden Verrückten auf einer fremden Welt zu befinden. Ein riesiges Tal war in die Oberfläche des Planeten getrieben worden, und in seiner Tiefe lag ein weiter metallener Komplex. Der lange Abhang des Tals war mit Stufen versehen worden, die wie eine Art Treppe in eine Grube hinabführten. Bagger hoben tonnenweise Gestein aus und ließen es in offene Wagen fallen, die auf einem Schienenweg durch eine enge Schlucht aus dem Tal rollten. Die Schienen verliefen eine Zeitlang über eine ebene Fläche, um dann in den Felsen zu verschwinden. Mannschaften arbeiteten an der Öffnung zu einem tiefen Schacht, bedienten einen Flaschenzug, der Kübel aus dem Schacht hochzog, und trugen diese zu einem Kuppelgebäude am Talrand. Oberhalb des Tals arbeiteten andere Gruppen mit Förderbändern, die Gesteinsproben zu einem trichterförmigen Behälter transportierten. Das waren die Gestalten, die Duncan aus der Ferne gesehen hatte, und als er auf sie zurannte, wollte er ihnen bereits einen Gruß zurufen. Er war jetzt noch etwa sechs Meter vom nächsten entfernt, als er im Lauf innehielt und ungläubig den Mann anstarrte, der gar keiner war. Keine der Gestalten war menschlich. Sie waren Insekten – riesige, ameisenähnliche Kreaturen, die sich schneller als Menschen bewegten und stark genug waren, um Kübel anzuheben und zu tragen, die mehr als eine Vierteltonne Erz enthalten mußten. Sie arbeiteten konzentriert und schweigend, und als Duncan einen zögernden Schritt in ihrer Richtung machte, wandten sie sich nur um und warfen ihm einen kurzen Blick zu, um dann mit ihrer Arbeit fortzufahren. Ihre Körper waren Ansammlungen von behaarten Kugeln, die Reihe um Reihe zusammengesetzt waren und zwei Hände, einen Rumpf, zwei Arme mit drei beweglichen Fingern für die Hände und einem klobigen Kopf bildeten. Sie hatten zwei vorstehende Augen, die
gleich einer dunklen Flüssigkeit schimmerten. Ein kleines Loch von der Größe einer Münze befand sich unterhalb der Augen. Er sah kein einziges menschliches Wesen. Die Mannschaften im Tal, die Arbeiter überhalb, die gelegentlichen Arbeiter, die in das kuppelförmige Bauwerk gingen oder daraus hervorkamen, sie alle waren Ameisen. Duncan brauchte lange Minuten, um diese Tatsache zu verdauen. Eine neue Welle der Furcht breitete sich in seinem Bewußtsein aus wie ein Nebel, der durch verbotene Korridore schlich, ein namenloser Schrecken, den sein Körper aufsaugte wie kaltes Wasser. Er ging auf zwei Geschöpfe zu, die einem Strom schmutzigen Wassers zusahen, das durch eine Förderrinne lief. Die Furcht ließ ihn unbeholfen werden, und er bemerkte den kleinen Erzhaufen erst, als er darüber gestolpert war. Er lag auf dem Rücken und starrte in das Gesicht eines Insekts. Es beugte sich soeben über ihn. »Du bist gestürzt«, sagte es mit leiser, monotoner Stimme. »Ich werde dir beim Aufstehen helfen, und dann werden wir dich genau untersuchen, ob du beschädigt bist.« Die Hände, die ihn ergriffen und auf die Füße stellten, waren fest und stark. Ein rundes grünes Schild war mitten auf der mächtigen Brust der Ameise befestigt. Duncan las die Buchstaben ABT, die auf das Schild aufgedruckt waren. Die vorstehenden Augen sahen auf Duncans Füße herab, wanderten dann langsam höher, bis sie auf seiner Brust verhielten. »Deine Identitätsplakette ist weg«, sagte das Ding. Duncan befreite sich aus dem Griff des Rieseninsekts und wich zurück. »Du bist ein Insekt«, wisperte er. »Du weißt überhaupt nichts.« Plötzlich begann er zu schreien. »Du bist ein blödes Vieh, und du weißt überhaupt nichts.« »Bist du wirklich da?« fragte die Ameise. »Eine blöde, hirnlose Ansammlung von Instinkten«, schrie Duncan. Er wich noch weiter zurück, rutschte und schlitterte über den felsigen Grund. Die Ameise folgte ihm einen Schritt, und er schrie: »Bleib mir vom Leib!«
»Du hast keine Identität«, sagte das Geschöpf. »Es gibt aber kein Wesen ohne ein eigenes Selbst. Da kann etwas nicht stimmen. Das müssen wir einem Menschen mitteilen.« »Ich bin ein Mensch«, wimmerte Duncan. »Du bist nichts. Ich versuche es zu verstehen, aber ich kann es nicht. Warum kommt es mir so vor, als würdest du dort stehen?« Plötzlich trat eine zweite Ameise zwischen die beiden. Ihre Augen sahen auf ABT, schwenkten dann nach rechts und richteten sich auf Duncan. Das Schild auf ihrer Brust trug die Buchstaben NN. Einer ihrer Finger kam hoch und deutete auf Duncans Brust. »Das ist ein Verlorener. Laß ihn allein. Sieh ihn nicht an. Denk nicht an ihn. Er ist verloren. Nur ein Mensch kann ihn erkennen, denn nur ein Mensch kann sich Dinge vorstellen, die nicht wirklich sind.« ABT nickte langsam. »Jetzt verstehe ich. Du hast recht. Er ist verloren. Er existiert nicht für dich oder mich, aber er existiert für den Menschen.« Duncan taumelte davon und versteckte sich hinter größeren Geröllbrocken. Die beiden Ameisen sahen ein paar Augenblicke hinter ihm her, dann gingen sie zurück zu den Förderbändern, als ob sie ihn vergessen hätten. Er fiel auf den Rücken. Der Himmel war nichts als ein weißes Flammenmeer, das sich nach überallhin zu erstrecken schien. Es reichte sogar bis in sein Gehirn. Ungebetenes Wissen kam über ihn. Die Sonne sah anders aus, weil sich die Atmosphäre von der Erde unterschied. Seine Brust bewegte sich auf und nieder, während er einige kräftige Lungenzüge frischer Luft einholte. Nein. Das war Teil des Traums und nicht Wirklichkeit. Er selbst war der Traum. Alles war wirklich, nur er selbst nicht. Er wollte das glauben, wollte verzweifelt wahrhaben, daß es so wäre, gab diese Lüge aber fast augenblicklich wieder auf. Er war wirklich, und das war auch der Planet, auf dem er lag, und diese beiden Tatsachen zusammen bedeuteten, daß er entweder zu atmen vermochte, wo sich kein atembarer Sauerstoff befand, oder daß er etwas einatmete, was für einen Menschen giftig gewesen wäre.
Aber er befand sich auf der Erde. Er war ein Erdenbürger und besaß ein weißes Haus und hatte eine Frau namens Nan. Sie hatte braune Haare und dunkle Augen. Die Kinder würden ihr ähnlich sehen, wenn sie geboren wurden. Oder waren sie bereits geboren worden? Die Sonne brannte in sein Gehirn, so daß er sich nicht zu erinnern vermochte. Er senkte seinen Blick auf den kahlen, leblosen Boden und schloß die Augen. Er brauchte lange, um den Weg zurück in den Tunnel zu finden. Er taumelte wie ein Blinder, rannte gegen Dünenwälle an, fiel in Felsspalten und zog sich mühsam wieder heraus. Er schloß alle Türen hinter sich. Rand und Deevers hatten Steingesicht aus der Zelle getragen und in eine Ecke ihres Wohnbereichs gelegt. Duncan hielt an und starrte auf das, was er für ein menschliches Wesen gehalten hatte. Er hatte geglaubt, einen Menschen bewußtlos zu schlagen. Was er tatsächlich getan hatte, sah er jetzt. Er hatte eine Riesenameise getötet. Seine Fäuste hatten den spindeldürren Hals zerschmettert und beinahe den Kopf abgetrennt. Ein Gewirr von blutigen Adern und glänzendem weißem Gewebe drang aus der Wunde heraus. Das grüne Brustschild mit den Buchstaben NN lag auf dem Boden gleich einem Auge, das ihn herausfordernd ansah. Deevers war herumgewirbelt, als er hereinkam, und hatte sich eilig zur entfernten Seite des Tisches begeben. Jetzt setzte er sich nieder, wachsame Augen auf ihn gerichtet. Rand stand inmitten des Raums, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er starrte intensiv auf den Boden, als läge ihm nichts daran, irgend etwas anderes anzusehen. Duncan ging mit langsamen Schritten weiter, bis er direkt vor Rand stand. Er bemühte sich, den anderen mit festem Blick anzusehen, aber als Rands Kopf hochkam, sank sein eigener hinab, bis sein Kinn seine Brust berührte. Er spürte, wie sich auf seinem Rücken der Schweiß ansammelte, und er zuckte innerlich zusammen, während er der Worte harte, die ihn zu einer verrückten Existenzlosigkeit verdammen würden. Er war noch immer nicht darauf gefaßt, als sie kamen. Sie waren wie Peitschenruten, die seinen Körper mit Stahlspitzen marterten. Sie trieben ihn zurück in eine dunkle Höhle, in der er sich angstvoll
zusammenkauerte. Er sah Rand nicht an, aber er suchte nach der verborgenen Lüge in der Sprechweise des Mannes, lauschte nach der subtilen Verschmitztheit, die beweisen würde, daß diese ganze Sache ein Schwindel war, ein gemeiner Versuch, seine Wirklichkeit zu zerstören, aus welchen obskuren Gründen auch immer. Doch da war nicht die geringste Spur von Spott oder Täuschung in Rands Stimme. Er sprach gleichmäßig und emotionslos, offen und grausam, und nur die dünnen Linien um seine Augen herum verrieten, daß er sich der Schmerzen bewußt war, die er verursachte. »Deevers und ich sind Teilhaber eines irdischen Unternehmens, das DNA-Laboratorium genannt wird. Wir produzieren lebende Organismen, die auf Planeten zu arbeiten vermögen, deren Lebensbedingungen für Menschen ungeeignet sind. Unser wichtigstes Produkt ist ein großes insektenähnliches Geschöpf, das bei der Förderung von Metallen nützlich ist, die auf der Erde nicht verfügbar sind. Die biologischen Grundlagen all dieser Organismen sind die gleichen; nur die Proportionen sind unterschiedlich. Ein Organismus wächst, wenn neue Materie schneller aufgebaut wird, als die alte zerfällt. Das Reifestadium wird erreicht, wenn das biologische Material mit der gleichen Geschwindigkeit wächst, wie das alte zerfällt. Wir halten lediglich den letzteren Vorgang auf, bis unsere Produkte eine zufriedenstellende Größe erreicht haben. Unsere ›Insekten‹ fallen in drei Kategorien. Es sind drei verschiedene Typen, die für bestimmte Aufgaben geschaffen und trainiert werden. Die DKN- und ABT-Typen bedienen die Förderanlagen und arbeiten in den Minen. Unsere beiden NN-Typen sind dazu programmiert, die anderen zu überwachen, um festzustellen, ob auch nichts danebengeht. Vor zwei Jahren wurde ein ABT wahnsinnig. Er hielt sich für einen Menschen. Deevers und ich haben zwei Jahre lang herauszufinden versucht, was ihn und andere Insekten wahnsinnig gemacht hat. Jetzt wissen wir es, und das haben wir dir zu verdanken. Wir lassen unsere Geschöpfe aus einem bestimmten biologischen Material wachsen, und die Entwicklung wird so manipuliert, daß das Nervensystem und die Muskeleinheiten dem Gehirn entsprechen, das
unabhängig davon gezüchtet wird. Während das Insekt wächst, wird es chemisch konditioniert, um in unterschiedlichen Umgebungstypen überleben zu können. Die Kohlenhydrate, Fette und Proteine, die das Gehirn bilden, werden in einer solchen Weise beeinflußt, daß sie ein menschliches Gehirn reproduzieren, und zwar nicht nur ein einfaches Faksimile, sondern das exakte Duplikat vom Gehirn eines Menschen, der einmal gelebt hat. Wer dieser Mensch war, dessen Gehirn wir als Modell benützt haben, spielt keine Rolle. Eine Rolle spielt lediglich, daß wir etwas geschaffen haben, was wir nicht verstehen. Deevers und ich wollten eigentlich mehr Zeit haben, um unsere Produkte zu testen, bevor sie hierher gebracht würden, aber die Regierung brauchte Metall und brachte uns deshalb dazu, diesen Teil unseres Programms aufzugeben. Wir haben zugestimmt, weil wir keinerlei Grund zu der Annahme hatten, daß unsere Insekten etwas anderes wußten als das, was ihnen beigebracht wurde. Und so seltsam es ist, wir sind uns fast völlig sicher, daß die Geschöpfe, die dort draußen arbeiten, wirklich nichts anderes wissen. Aber du weißt mehr, und es gab andere, die ebenfalls zuviel wußten. Vor ein paar Stunden hast du deine Identitätsplakette verloren. Vielleicht wurde sie von einem der Zughaken weggerissen, die die Kübelbehälter zu den Förderbändern hochziehen. Jedenfalls ging sie verloren, und damit hast du dich plötzlich ohne jede Identität wiedergefunden. Dein Gehirn hat die Vorstellung, du könntest vielleicht gar nicht existieren, abgelehnt und dir damit zugleich ein neues Selbst geschaffen. Wir wissen nicht, wie oder warum das geschehen ist. Wir wissen nicht, wie du zu Erinnerungen an die Erde, die irdische Kultur und das menschliche Leben gekommen bist, obwohl dir das niemand beigebracht hat, aber wir wissen, daß du über solche Erinnerungen verfügst. Ich würde diese ganze Sache am liebsten sofort abbrechen. Ich möchte Zeit haben, um meine Produkte genauer zu untersuchen, sie jedem bekannten psychologischen Test zu unterziehen, und um herauszufinden, was ich eigentlich geschaffen habe. Habe ich ein Geschöpf geschaffen, das mit seiner Arbeit zufrieden ist, oder eine Monstrosität, die zu einem unglücklichen Dasein verdammt ist? Aber sie wollen mir keine Zeit mehr geben. Die Regierung sagt nein. Die Insekten sollen eingesetzt werden, um das herzustellen, was die Erde braucht.
Daher gibt es nur eines, was ich tun kann, und ich hoffe, es ist das Richtige und nicht nur ein Eingriff, der die Situation verschlimmern wird. Von jetzt an werden die Arbeiter ohne jede wirkliche Identität hergestellt werden. Sie werden nicht mehr zu einem Selbst-Bewußtsein in dem Sinne geführt werden, daß damit irgendeine Bedeutung verbunden wäre. Ihre Typenschilder werden an der Wölbung zwischen Brustkorb und Becken angebracht sein, und sie werden nichts davon wissen. Ich hoffe, das funktioniert. Ich hoffe, wenn sie keine Identitäten haben, und wenn ihnen nicht beigebracht wird, daß es so etwas wie ein Selbst gibt, daß sie es dann auch nicht verlieren können. Das ist alles, was ich tun kann. Ich kann mir im Augenblick nichts anderes vorstellen.« Rand hielt inne. Er hob die Hände und strich mit den Fingern durch sein Haar. Seine Schultern gaben nach, und er schloß die Augen. Duncan hob eine seiner eigenen Hände hoch und starrte sie an. Er konnte die Linien in der Handfläche sehen und die dunklen Haare, die oberhalb der Knöchel auf dem Handrücken begannen. Er spürte, wie sein Herz Blut durch seinen Körper pumpte. Der Traum – wenn die Unwirklichkeit, in die sein Bewußtsein gestürzt war, ein Traum genannt werden konnte – wollte nicht weggehen. Schließlich hob er den Kopf. »Was ist mit den anderen geschehen?« »Sie wollten sterben.« »Und das will ich auch«, wisperte eine Stimme, und Duncan begriff, daß es seine eigene war. »Wir haben einen Desintegrator in dem Kuppelgebäude im Tal«, sagte Rand. »Wir benützen ihn, um Gesteinsrückstände zu beseitigen.« Gesteinsrückstände? In einer solchen Weise zu sterben, würde bedeuten, niemals gelebt zu haben, und er hatte gelebt. Denn die letzten paar Stunden waren wirklich gewesen. Sein Tod sollte einen Sinn haben? Aber was für einen Sinn konnte es für ihn geben? Er suchte seine Erinnerungen ab, bis er eine fand, an der er sich festhalten konnte. Menschen wurden früher einmal ihrer Verbrechen wegen getötet, und er war des Verbrechens der Täuschung schuldig. Er hatte vorgegeben, ein Mensch zu sein. Das war eine Lüge. Er war
gewissermaßen auf dem Fließband geboren worden, und seine Empfängnis hatte in einem Laboratorium stattgefunden. Er hatte behauptet, daß die Erde seine Heimat war. Auch das war eine Lüge gewesen. Er hatte keine Heimat. Dieses Wort bedeutete einen Ort des Wachsens, der Wärme, des Geliebtwerdens, nicht eine fremde Insel, die Venus genannt wurde, auf der nichts wuchs als die Zeit, Wärme in der flammenden, alles verzehrenden Hitze von Hochöfen gemessen wurde, und wo Gefühle nichts waren als ein Krebsherd im Zellenverband einer genetischen Züchtung. Er war schuldig. Sein Urteil lautete auf Tod. »Ich bin bereit«, sagte er. »Ich möchte mit dir gehen«, sagte Rand, und als Duncan zögerte, fuhr er fort: »Ich weiß, daß du dich noch immer in deinem Traum befindest. Du kannst nicht allein gehen.« Duncan versuchte etwas zu sagen, aber er vermochte nur zu nicken. Rand nahm einen der Anzüge, die aus einer Art von Gummimaterial zu bestehen schienen, von der Wand und begann ihn anzulegen. Deevers saß noch immer am Tisch. Er wirkte erleichtert und sah zu, wie verwehte Rauchspuren seiner Zigarette zur Decke hochzogen. Als Duncan auf ihn zuging, zuckte er zusammen, und seine Augen verengten sich. »Du und ich, wir haben etwas gemeinsam«, sagte Duncan. »Uns geht die Menschlichkeit ab.« Deevers Mund bildete einen dünnen Strich, und sein Gepicht verdüsterte sich. Er wollte etwas sagen, wandte sich dann plötzlich ab. Rand ging voraus bis in den zweiten Raum, wo er einen kleinen offenen Wagen in den Korridor stellen ließ. Er und Duncan stiegen ein. Rand setzte sich hinter das Lenkrad und steuerte den Wagen den Korridor hinunter, bis sich die letzte Tür hinter ihnen schloß. Im Freien angelangt, raste der Wagen über Spalten hinweg und zwischen Felsen hindurch und trug die beiden auf das Tal zu, in dem sich das Kuppelgebäude befand. Die Sonne brannte gnadenlos. Für Duncan war sie nur ein milder gelber Ball, der ihn dazu brachte, mit den Augen zu blinzeln. Der Boden war rauh und zerklüftet, aber Duncan
stellte sich vor, im Wind wogendes Gras zu sehen. Er sah einem Kaninchen zu, das aus seiner Höhle schoß und einen Augenblick lang schnüffelnd verhielt, um dann im Dickicht zu verschwinden. Rand begleitete ihn in das Gebäude, an den glühenden Hochöfen vorbei, an die er sich nicht erinnerte, einen gewundenen Korridor entlang, der zu einem unerträglich heißen Raum führte, in dem flüssiges, strahlendes Gold aus einer Förderrinne in Gußformen lief, die über ein Förderband weitertransportiert wurden. Der Desintegrator war größer als ein Mensch und zweimal so breit. Es war ein Metallkasten mit einem durchscheinenden Eingang. Wenn man hineinsah, dann konnte man die Luft im Inneren flimmern sehen wie Wüstenluft unter gleißender Sonne. Rand hielt ihn am Arm fest. »Kannst du mich hören?« Sein Gesicht wirkte bleich hinter der Sichtscheibe, und seine Hand auf Duncans Arm zitterte. »Du brauchst nur hineinzugehen und den Eingang zu schließen.« Duncan ging einen Schritt auf den Kasten zu. Rand verstärkte seinen Griff. »Vergiß den Traum. Was hat er dir schon genützt? So kannst du nicht gehen.« Duncan wußte, daß es ihm genauso ergehen könnte, wäre er ein Mensch der Erde, der zum Tode verurteilt war. Ein Priester würde kommen und ihm die letzte Ölung geben, dann würde ein Arzt auftauchen, um ihm ein Betäubungsmittel anzubieten; ein kleiner Trost, um ihm die Angst zu nehmen. Das Gesetz ließ das durchaus zu. Es reichte vollkommen, einen Mann zu töten, man brauchte ihm dabei keine Schmerzen mehr zuzufügen. Aber das war nicht die Art von Sterben, die er sich wünschte. Als er durch den Eingang trat, sah er einen kleinen Lichtreflex, der von der Sonne hätte verursacht sein können. Eigenhändig schloß er die Tür hinter sich. Er sah noch, wie Rands Lippen lautlose Worte bildeten: »Lebewohl, DKN.« Der Traum beschützte ihn, trat zwischen ihn und den Geist eines Insekten-Ichs. In seinen Gedanken rief er: Ich bin ein Mensch, und seine Wirklichkeit trug den Sieg über die andere Wirklichkeit davon. Die
Kräfte der Vernichtung, die die Atome seines harten, krustigen Körpers durchströmten, drangen in die empfindsame Weichheit eines menschlichen Wesens ein, und seine Reise ins Vergessen war furchtbar und von unerträglichen Schmerzen begleitet. Wie er es begehrte. Originaltitel: SHELTERING DREAM Copyright © 1971 by Universal Publishing and Distributing Corp. Aus dem Amerikanischen von Bernt Kling