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Butler � Parker � Nr. 20 � 20
Günter Dönges �
Parker wetzt die � Scharte aus �
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Josuah Parker ließ den mittelgroßen dicklichen Mann nicht aus den Augen. Dieser etwa 40jährige Mann, gut gekleidet und recht selbstsicher, stand vor der langen Theke der Fotoabteilung und blätterte Prospekte durch. Rechts und links von ihm standen andere Käufer. Sie ließen sich Fotoapparate, Vorsatzlinsen und Ferngläser zeigen. Drei höfliche, aber bereits etwas nervös gewordene Verkäufer hatten alle Hände voll zu tun, um die Fragen der Kunden zu beantworten. Es ging auf Mittag zu. Im ›Jackson‹, einem großen, vierstöckigen Warenhaus in San Francisco, herrschte starker Käuferandrang. Die Gänge zwischen den Verkaufstheken und Rundtischen waren dicht gefüllt. Die vielen Fahrstühle fuhren Sonderschichten, um die Kunden von einer Etage in die andere zu befördern. Die vielen Rolltreppen im ›Jackson‹ waren dicht besetzt. Es herrschte genau jenes Gedränge, das Taschendiebe und trickreiche Gauner besonders schätzten. Sie konnten ungehindert und erfolgreich arbeiten. Und sich blitzschnell in der Menge verlieren, falls Gefahr drohte. Es drohte ihnen Gefahr. Einmal von den fest angestellten Warenhausdetektiven. Vier an der Zahl
waren es, die pro Vierstundenschicht durch das riesige Warenhaus schlenderten. Gefahr drohte den Gaunern aber auch vor allen Dingen von einem seltsam gekleideten Kunden, der an der Brüstung der zweiten Lichthofgalerie stand. Dieser Mann trug einen schwarzen, altertümlich geschnittenen Covercoat, unter dem sich ein ebenfalls pechschwarzer Anzug befand. Dieser Mann hielt einen altväterlich gebundenen Regenschirm in der Hand und schmückte seinen Kopf mit einer schwarzen runden Melone. Es handelte sich um den Butler Josuah Parker, der sich in die Überwachung des Warenhauses eingeschaltet hatte. Seit einigen Wochen machte eine gut und wahrscheinlich auch straff organisierte Bande von Ladendieben die Stadt unsicher. Alle Warenhäuser in Frisco, ob groß oder klein, wurden auf raffinierte Art und Weise heimgesucht und bestohlen. Trotz der größten Wachsamkeit der Warenhaus-Detektive hatte man diesen Dieben bisher nicht beikommen können. Was in den Netzen der verstärkten Überwachung hängengeblieben war, waren nur kleine Fische, wie es im Fachjargon hieß. Das ›Jackson‹ war von den Ladendieben besonders böse heimgesucht worden. Einmal, weil dieses Warenhaus besonders groß war, zum anderen, weil der Publikumsverkehr hier 3 �
immer sehr stark war. Um weiteren Verlusten vorzubeugen, war die Direktion des Warenhauses auf den Gedanken gekommen, einen Spezialisten zusätzlich zu engagieren. Man war auf den Butler Josuah Parker verfallen. Mundpropaganda und Tips der Polizei hatten auf Parker aufmerksam gemacht. In einschlägigen Fachkreisen galt Josuah Parker als zwar skurriler, aber auch sehr erfolgreicher Amateur-Kriminalist. All das waren die Gründe, warum Parker an der Brüstung der Lichthofgalerie stand und den dicklichen Mann vor der Theke der Fotoabteilung beobachtete. Parker war aufgefallen, daß dieser etwas 40jährige Mann trotz des großen Betriebs vor der Theke die Zeit und Nerven hatte, die Prospekte durchzublättern. Normaler wäre es doch wohl gewesen, er hätte sich die bewußten Prospekte eingesteckt und irgendwo abseits vom Getriebe in aller Ruhe durchgelesen. Parker glaubte sicher zu sein, daß er einem raffinierten Ladendieb auf der Spur war. Wegen der Entfernung konnte Parker es nicht riskieren, seinen Platz an der Galerie zu verlassen. Der Mann vor der Theke hätte sich ja inzwischen entfernen können. Um diesen möglichen Ladendieb aber in jedem Fall bremsen zu können, griff der Butler in die linke Tasche seines Covercoats und
holte ein seltsam geformtes Drahtgebilde hervor, an dem zwei daumendicke Gummistränge baumelten. Schnell und geschickt steckte Parker die beiden Drahtgebilde zusammen und besaß im gleichen Moment eine starke Gabelschleuder. Es handelte sich um eine kleine Gelatinekapsel, die mit roter Leuchtfarbe gefüllt war. Zerplatzte diese Gelatinekapsel im oder auf dem Ziel, trat die Flüssigkeit hervor und färbte alles rot ein. Noch konnte und durfte der Butler nicht schießen. Noch blätterte der hartnäckige Kunde in den Prospekten herum. Er schob sich dabei allerdings langsam, kaum merklich, an die Fotoapparate heran, die links von ihm auf der Theke aufgebaut waren. Nun sah Parker auch, daß dieser Kunde einen Regenschirm mit sich führte. Sollten darin die gestohlenen Apparate verschwinden? Josuah Parkers Gesicht blieb unbeweglich. Nur in seinen eisgrauen Augen war Leben. Sie ließen der seltsamen Kunden nicht aus den Augen. Parker glaubte, auf der richtigen Spur zu sein. Er konnte zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht wissen, daß dieser Mittag der Beginn haarsträubender Abenteuer sein würde… *
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Der dickliche, etwa 40jährige Mann war sich seiner Sache vollkommen sicher. Nicht umsonst stand er vor der Theke. Sein Regenschirm wartete darauf, einige Fotoapparate aufzunehmen. Er wartete nur noch auf die günstigste Gelegenheit. Er hatte erst vor einer Stunde den Auftrag erhalten, einige Leicas zu besorgen, prompt machte er sich an die Arbeit. In seinen Augen war dieser Diebstahl nur eine Kleinigkeit. Die günstige Gelegenheit bot sich recht bald. Zwei jüngere Leute, wahrscheinlich gerade verheiratet, denn sie turtelten noch recht intensiv miteinander, ließen sich von einem der drei Verkäufer Fotoapparate zeigen. Sie waren sehr wählerisch und interessierten sich für immer neue Modelle. Auf der Theke stapelten sich die Apparate. Der dickliche, korrekt gekleidete Mann mit dem Aussehen eines seriösen Geschäftsmannes, schob sich an das Pärchen heran. Ein schneller Blick in die Runde. Weit und breit kein Detektiv zu sehen. Für solche Personen besaß er nämlich einen sicheren Instinkt. Er war kein Anfänger in der Branche. Sein Blick glitt an den Galerien des Lichthofes hoch. Erfahrungsgemäß konnten sich dort an den Brüstungen Hausdetektive aufgebaut haben. War die Luft
rein? Sie war sauber wie nach einer chemischen Behandlung. Das scharfe Auge des Trickdiebes konnte keinen Detektiv erspähen. Blitzschnell machte er sich an die Arbeit. Der scheinbar seriöse Geschäftsmann rempelte die junge, verliebte Frau ungeschickt an, entschuldigte sich wortreich und hob ihre zu Boden gefallene Tasche auf. Gleichzeitig ließ seine linke Hand einige Fotoapparate im Regenschirm verschwinden. Das alles geschah mit solch einer Schnelligkeit, die glatt Bewunderung verdiente, hätte sie nur einem besseren Zweck gedient. Weder die Kunden vor der Verkaufstheke noch die Verkäufer dahinter merkten etwas von diesem raffinierten Diebstahl, zumal der Trickdieb die Prospekte durcheinander geworfen und über die Apparate verstreut hatte. Der Trickdieb entschuldigte sich noch einmal und schickte sich an, in der Menge zwischen den Verkaufsständen zu verschwinden. Ihm kam es darauf an, den nun gefährlich gewordenen Regenschirm verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck wartete neben einem runden Verkaufstisch ein junger Mann. Auch er trug einen Regenschirm. Doch dieser Schirm enthielt keine Beuteware. Er hätte von jedem noch so mißtrauischen 5 �
Detektiv untersucht werden können. Der Trickdieb steuerte auf diesen jungen Mann zu. Er wollte die Regenschirme austauschen. Alles schien vollkommen glattzugehen. Geduld und Vorsicht hatten sich wieder einmal gelohnt. Dachte er…! Plötzlich zuckte er unter dem Anprall eines kleinen Geschosses zusammen. Er spürte einen an sich harmlosen Schmerz auf der Stirn. Und erschrak. Steif, wie erstarrt, blieb er stehen. Seine Finger hatten sich rot gefärbt. Blut…?! Er spürte die warme Flüssigkeit auf der Nasenwurzel, auf den Wangen. Er sah erschreckte Gesichter, entsetzt aufgerissene Augen, die ihn anstarrten. Einige Kunden um ihn herum deuteten auf sein Gesicht. Eine bereits bejahrte Frau stieß einen ersten, gellenden Schrei aus. Parkers Geschoß hatte getroffen. Der Trickdieb war gezeichnet worden. Der so seriös aussehende Geschäftsmann spürte eine bleierne Schwäche in den Beinen. Er fühlte sich tödlich getroffen und verwundet. Er taumelte gegen den Verkaufstisch und merkte gar nicht, daß sein Regenschirm schnell und geschickt ausgetauscht wurde. »Hilfe… Hilfe…«, murmelte der Trickdieb mit versagender Stimme. »Hilfe, ich verblute.« »Aber nicht doch«, sagte in diesem
Augenblick eine beruhigende Stimme neben ihm. »Ich werde Sie in den Rettungsraum bringen. Kommen Sie…!« Der Trickdieb spürte sofort, daß diese beruhigende Stimme Gefahr bedeutete. Ein Hausdetektiv mußte ihn angesprochen haben. Für solche Sprachschwingungen besaß er ein feines Gehör. Und er dachte an den wohl gefüllten Regenschirm. Wurden die gerade gestohlenen Apparate gefunden, war er geliefert. Zwei einschlägige Vorstrafen hatte er bereits auf dem Buckel. Wurde er nun zum dritten Mal überführt, konnte er sich auf einen langjährigen Aufenthalt hinter stählernen Gittern gefaßt machen. In seiner Panik beging er den Fehler, flüchten zu wollen. Er stieß die erschreckt aufschreienden, eben noch mitfühlenden Kunden zur Seite und rannte los. Er kam nicht weit. Er verfing sich in der kompakt zusammengedrängten Menschenmenge. Dann spürte er eine harte Hand auf seiner Schulter. »Stecken Sie’s auf«, sagte die Stimme, die ihm äußerst unangenehm war. »Kommen Sie mit ins Büro! Ich glaube, Sie haben mir etwas zu sagen.« Der Trickdieb ließ resigniert den Kopf sinken. Er dachte an die Fotoapparate in seinem Schirm. Er wußte noch nicht, daß die beiden Schirme 6 �
ausgewechselt worden waren. Sonst hätte er vielleicht eine Lippe riskiert, wie es in seiner Branche so treffend hieß… * Der junge Mann mit dem wohlgefüllten Regenschirm strebte langsam dem Ausgang zu. Er verhielt sich vollkommen normal und ging keinen Deut schneller, als es angebracht war. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Der Trick mit den vertauschten Regenschirmen war schon oft praktiziert worden. Warum sollte ausgerechnet heute eine Panne passieren? Natürlich dachte er über seinen Mitarbeiter nach. Er konnte sich nicht erklären, was seinem älteren Partner passiert war. Auch der junge Mann hielt die rote Flüssigkeit auf dem Gesicht seines Partners für Blut. Wie es zu dieser Verwundung gekommen war, konnte er sich nicht erklären. Hauptsache aber war und blieb, daß er die Beute aus dem Warenhaus bringen konnte. Alles andere würde sich schon von allein ergeben. Der junge Mann stand dicht vor dem Ausgang. Er hielt einen Moment inne und sah zurück. Von seinem Partner war nichts zu sehen. Das Geschiebe und Gedränge zwischen den Theken war zu stark. Die Sicht war ihm versperrt.
»Können wir Sie einen Moment sprechen?« Der junge Mann blieb wie festgenagelt stehen. Langsam nahm er den Kopf zur Seite. Neben ihm stand ein unauffällig gekleideter Mann von etwa 45 Jahren. Er lächelte den jungen Mann an, doch seine Augen waren an diesem Lächeln nicht beteiligt. Der junge Trickdieb wußte sofort Bescheid. »Versuchen Sie nicht zu verschwinden«, redete der Mann mit den kalten Augen weiter. »Ich bin nicht allein hier.« »Was wollen Sie?« regte sich der junge Trickdieb auf. Hinter seinen Worten stand keine Überzeugungskraft. »Darüber unterhalten wir uns im Büro«, meinte der Mann mit den kalten Augen. »Kommen Sie!« »Na schön. Aber das werden Sie bereuen.« Der Trickdieb blitzte den Hausdetektiv gereizt an, fügte sich aber in sein Schicksal. Er ließ sich in den Fahrstuhl dirigieren. Unterwegs versuchte er, seinen Regenschirm mit den Fotoapparaten loszuwerden. Er erledigte das mit großer Geschicklichkeit. Als er und der Hausdetektiv an Stofftheke vorbeikamen, einer hängte der junge Trickdieb den Griff des Regenschirms in ein Krawattengestell. Es klappte wunderbar. Der Hausdetektiv hatte nichts gesehen 7 �
und blieb ahnungslos. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« schnauzte der junge Trickdieb, als er zusammen mit seinem Bewacher im sonst leeren Fahrstuhl stand. »Ich werde mich beschweren, darauf können Sie Gift nehmen. Und Ihr Verein wird eine Schadenersatzklage an den Hals bekommen, die sich gewaschen hat.« »Kein Mensch hindert Sie daran, das zu versuchen«, erwiderte der Hausdetektiv. »Fest steht, daß Sie gestohlen haben. Und zwar Fotoapparate. Warum wollen Sie das abstreiten?« »Ich soll gestohlen haben? Sind Sie verrückt? Wo sollen diese verdammten Apparate denn sein? In meiner Rocktasche?« »In Ihrem Regenschirm.« »Regenschirm? Sind Sie blind? Wo habe ich einen Regenschirm?« Der Hausdetektiv deutete mit dem Kinn hinunter auf die linke Hand des Trickdiebes. Und im gleichen Moment merkte der Hausdetektiv, daß der bewußte Regenschirm nicht mehr vorhanden war. »Sehen Sie Gespenster?« höhnte der junge Mann. »Wo habe ich einen Regenschirm, he? Sie haben mich wahrscheinlich verwechselt. Aber dieser Irrtum wird Sie Geld, viel Geld kosten.« »Das ist doch… Sie hatten doch…!« Der Hausdetektiv stotterte herum. Sein Gericht färbte sich rot.
Er preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Einen Dreck hatte und habe ich«, antwortete der junge Mann mit scharfer, empörter Stimme. »Sie haben den falschen Mann erwischt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie lassen mich laufen, und ich werde diesen Zwischenfall vergessen.« »Ausgeschlossen…!« »Mann, sind Sie stur. Sie sitzen doch in der Tinte. Begreifen Sie denn nicht, welche Chance ich Ihnen biete?« »Sie kommen mit ins Büro.« »Aber Sie suchen doch einen Mann mit Regenschirm, oder?« »Wenn schon… Sie kommen mit!« »Schön, ich komme mit. Sie sind am Drücker. Aber jetzt werde ich aufdrehen. Sie wollen ja nicht begreifen.« Der Hausdetektiv verzichtete darauf, eine Antwort zu geben. Er schob den jungen Mann aus dem haltenden Fahrstuhl und dirigierte ihn auf eine Tür zu, hinter der sich ein langer Korridor befand. Von hier aus zweigten die einzelnen Büros der Kaufhausverwaltung ab. Sie landeten in einem sehr unpersönlich und sachlich eingerichteten Büro, dessen Mobiliar aus Aktenschränken, Karteikästen, Schreibmaschinen und einer Fotoatelier-Ecke bestand. »Packen Sie Ihre Taschen aus«, forderte der Hausdetektiv den jungen 8 �
Mann auf. »Mit dem größten Vergnügen.« Der junge Trickdieb grinste unverhohlen. Was konnte ihm schon passieren? Er hatte den Hausdetektiv gründlich hereingelegt. Man konnte ihm nichts beweisen. Die Fotoapparate lagen schließlich in dem Regenschirm. Und dieser Regenschirm hing irgendwo an einem Gestell im Erdgeschoß des Warenhauses. »Zufrieden?« fragte der junge Mann, als er seine Taschen geleert hatte. »Sie arbeiten für die Wäscherei Huntington?« fragte der Detektiv, der den Inhalt der Brieftasche durchblätterte. »Mann, Sie können ja sogar lesen«, spottete der junge Mann. »Sie heißen Jerry Mulligan?« »Sie werden immer besser«, meinte der junge Mann und grinste. »Wie heißt Ihr Partner, der Ihnen den Regenschirm in die Hand gedrückt hat?« Der Hausdetektiv ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wovon reden Sie eigentlich?« »Von diesem Regenschirm hier«, antwortete der Detektiv. Er beugte sich über einen Tisch und hob einen Regenschirm vom Stuhl hoch. Er legte ihn betont langsam auf den Tisch und öffnete ihn. Dann holte er nacheinander drei Fotoapparate aus den Falten der Schirmseide. Der junge Trickdieb schluckte. Seine Augen verengten sich.
Erspurte, daß ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er faßte sich jedoch schnell. »Wollen Sie mir was anhängen?« fragte er heiser. »Wieso, Sie sitzen doch bereits in der Tinte«, meinte der Hausdetektiv gelassen. »Wir werden jetzt Ihre Fingerabdrücke aufnehmen und sie mit denen auf dem Schirmgriff vergleichen. Wetten, daß sie identisch sind?« »Verdammt…!« »Sie sind nicht gerade wortreich«, spottete nun der Hausdetektiv. »Haben Sie uns für Anfänger gehalten, Mulligan?« »Meine Fingerabdrücke werden Sie nicht bekommen«, sagte der junge Mann heftig. »Muß ich unbedingt die Polizei verständigen?« »Bleibt die aus dem Spiel, wenn ich mitspiele?« »Natürlich. Sie werden selbstverständlich Hausverbot für das ›Jackson‹ bekommen. Aber das läßt sich ja wohl verschmerzen, oder?« »Gut, ich mache mit. Ich begreife nicht, wie Sie diesen Zauber hinbekommen haben.« »Ihr Partner Arthur Stone ebenfalls nicht.« »Sie haben Stone?« wunderte sich der junge Trickdieb. »Natürlich. Was dachten denn Sie, Mulligan?« »Ich begreife das einfach nicht. Bis9 �
her ist doch immer alles gutgegangen; ich meine, also, Sie müssen nicht glauben, daß ich schon öfter hier…« Der junge Mann verhaspelte sich gründlich. Er hatte bereits viel zuviel gesagt. Er wußte das und ärgerte sich darüber. »Ich kann Ihnen alles erklären, Mulligan«, gab der Hausdetektiv ernst zurück. »Wir sind schon ausgekochte Fachleute. Aber unser neuer Kollege stellt uns alle in den Schatten. Sagenhaft, welche Tricks er aus seinen Taschen zaubert…« * Gemessen und würdevoll schlenderte Butler Parker durch das Warenhaus. Er war außerordentlich zufrieden. Schon am ersten Tag seines Wirkens hier im ›Jackson‹ war es ihm gelungen, zwei raffinierte Trickdiebe zu erwischen. Nach seinem Schuß mit der Gabelschleuder hatte er die beiden Hausdetektive schnell und geschickt eingesetzt. Parker hatte den Trick der beiden äußerlich so ungleichen Ladendiebe sofort durchschaut und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Nun saßen die beiden Diebe im Büro und wurden verhört. Um diese technischen Dinge kümmerte Parker sich nicht weiter. Er konnte sich voll und ganz auf Chefdetektiv Hassler verlassen, der den
Einsatz der Warenhausdetektive leitete. Hassler war ein ehemaliger Kriminalsergeant, der freiwillig aus dem Behördendienst ausgeschieden war. Er wußte, wie man Verhöre leitete. Josuah Parker glich einem pensionierten, leicht verschrobenen Collegelehrer, als er durch das Warenhaus schlenderte. Kein Mensch hätte hinter ihm einen sehr trickreichen und erfolgreichen Amateurdetektiv vermutet. Auch nach dem Erfolg, den er gerade erst für sich hatte buchen können, blieb er wachsam und vorsichtig. In einem solch riesigen Haus wie dem ›Jackson‹ gab es zu allen Stunden Kunden, die ohne Bargeld oder Scheck einkaufen wollten. Das Angebot reizte zu sehr. Es lag ja quasi ungeschützt auf den Tischen und Theken herum. Es lud direkt zu schnellem Zugriff ein. Josuah Parker erreichte die Herrenabteilung in der dritten Etage. Hier war es bedeutend ruhiger als auf den Etagen, wo billige Massenartikel angeboten wurden. Auf langen Rollständern hing die Herrenoberbekleidung. Die Verkäufer waren auf den ersten Blick nicht zu sehen. Sie waren von der Direktion angewiesen, sich im Hintergrund zu halten. Die Kunden sollten möglichst unbelästigt bleiben und in aller Ruhe aussuchen und wählen können. Josuah Parker, den Regenschirm 10 �
über den linken Unterarm gehängt, schritt an den dichtgefüllten Kleiderständern entlang. Sein Ziel war die Wäscheabteilung, die sich im Hintergrund befand. Hier herrschte schon ein etwas stärkerer Publikumsandrang. Plötzlich entdeckte Parker ein Beinpaar. Es ragte hinter einem Anzugständer hervor. Die tadellos gepflegten Schuhe, die dezenten Fesselsocken und die Hosenbeine deuteten an, daß der Besitzer dieser Dinge nicht gerade Durchschnitt war. Parker fiel aber auch auf, daß die Füße in diesen Schuhen auf seltsame Art und Weise eingedreht waren. Sie schienen kein Körpergewicht tragen zu müssen. Josuah Parker ließ sich natürlich nichts anmerken. Sein Pokergesicht veränderte sich nicht. Er ging weiter, als habe er nichts gesehen. Er schien das am Boden schleifende Beinpaar bereits wieder vergessen zu haben. Dann aber bog der Butler scharf ab, teilte die Anzüge und entdeckte den Mann, dessen Kopf an der verchromten Querstange angebunden zu sein schien. Seine Augen verengten sich etwas. Parker vermied jedes Aufsehen. Er faßte sofort nach den Wangen des Erhängten, dessen Augen ihn selbst noch im Tode entsetzt ansahen. Die schlaffen Wangen des etwa 50jährigen Toten wiesen normale Kör-
pertemperatur auf. Der Mann schien erst vor wenigen Minuten erhängt worden zu sein. Ein Selbstmord schied aus. Das zeigte schon die Schwellung an der rechten Schläfenseite. Vor dem Erhängen mußte der Mann niedergeschlagen worden sein. Josuah Parker sah sich verstohlen um. Eine Leiche im ›Jackson‹! Das war genau das, was nicht bekannt werden durfte. Auf eine Reklame dieser Art konnte die Direktion des Warenhauses gern verzichten. Jetzt galt es schnell zu handeln. Vielleicht hielt der Mörder sich noch im Warenhaus auf. Doch wie ihn finden? Ein aussichtsloses Unternehmen. Selbst für einen Josuah Parker. * Der Mörder verhielt sich genauso ruhig wie Josuah Parker. Er hatte die Rolltreppen benutzt und erreichte nun das Erdgeschoß. Er wollte den riesigen Bau verlas, sen. Der Mörder war ein dunkelgrau gekleideter Mann, der etwa 38 Jahre alt sein mochte. Freundliche Augen blitzten hinter Brillengläsern, die blau eingefärbt waren. Dieser Mann hätte hinter jedem Bankschalter Figur gemacht. Er war der Typ Mann, den man gern nach dem Weg fragt oder um Feuer bittet. 11 �
Er hatte den Südausgang des ›Jackson‹ bereits erreicht und wollte hinaus auf die Straße treten, als er stehenblieb, sich plötzlich umwandte und zurück in das Warenhaus ging. Er schien etwas vergessen zu haben. Es mußte etwas sehr Wichtiges sein, sonst wäre er als Mörder bestimmt nicht in das Haus zurückgekehrt, in dem er vor wenigen Minuten erst einen Mord begangen hatte. Nun, die Lösung für sein Verhalten war mehr als simpel. Der Mörder wollte sich Zigaretten kaufen. Es zeugte für seine Selbstsicherheit und Frechheit, daß er diesen belanglosen Kauf nicht aufschob. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Vor dem Tabakstand gleich rechts vom Ausgang mußte er ein paar Sekunden warten. Er ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Er beobachtete das schlanke Zigarettenmädchen, das ihn freundlich, aber seelenlos anlächelte. Der Mörder merkte nicht, daß er das Opfer eines raffinierten Taschendiebes wurde. Er wurde von dem Zigarettenmädchen zu sehr abgelenkt. Der Taschendieb, ein schmaler Bursche, etwa 24 Jahre alt, flink wie ein Wiesel und mit den schwarzen Knopfaugen eines Frettchens, fiel gegen den Mörder und schob ihn etwas zur Seite. Im gleichen Moment schlitzte eine
Rasierklinge den Anzündstoff über der Brieftasche auf. Mit schnellem Griff fingerte der Taschendieb nach der Brieftasche, die erstaunlich gut gefüllt war und vor Papieren und Briefen förmlich überquoll. Das alles geschah innerhalb einer knappen Sekunde! Der Taschendieb entschuldigte sich, ließ die Brieftasche verschwinden und wandte sich ab. Der Mörder hatte noch nichts bemerkt. Er beantwortete das mechanische Lächeln der Zigarettenverkäuferin und sah sie verständnislos an, als sie zusammenschreckte und auf seinen Anzug deutete. Synchron mit dieser Bewegung hörte er neben sich eine halblaute, aber harte Stimme. »Bleiben Sie stehen, Mann, wir haben alles gesehen!« Der Mörder wußte nicht, daß der Taschendieb entdeckt und gestellt worden war. Er glaubte, angesprochen worden zu sein. Und er wußte schließlich, daß er vor wenigen Minuten erst einen Mord begangen hatte. Der Mörder war kein Anfänger. Er glaubte zu wissen, daß ein paar Revolvermündungen auf ihn gerichtet waren. Er blieb unbeweglich stehen. Seine Gedanken schossen wie Ratten hin und her. Wie konnte er sich durchschlagen? Neben ihm entstand ein heftiger Wortwechsel. Eine schrille, noch 12 �
junge Stimme protestierte gegen eine Festnahme. Der Mörder riskierte es, den Kopf herumzunehmen. Er schluckte, brauchte einige Zeit, bis er den Schrecken verdaut hatte. Dann sah er seine Brieftasche. Sie befand sich in der Hand eines unauffällig gekleideten Mannes. Die Brieftasche verschwand in der Jackettasche dieses Mannes, der den Arm eines jungen Mannes mit einem Polizeigriff festhielt. »Meine Brieftasche…!« hörte sich der Mörder sagen. Seine Stimme klang belegt, war heiser. Schließlich wußte er sehr genau, welchen Wert diese Brieftasche für ihn hatte. Dafür hatte er einen Mord begangen. »Sie haben nichts gemerkt?« fragte ihn der Mann, der die Brieftasche nun besaß. »Ich bin Hausdetektiv Porch, Sir.« »Mein Kompliment«, sagte der Mörder, dessen Stimme schon wieder normal klang. »Sie haben gut aufgepaßt.« »Er schlitzte Ihr Jackett auf«, sagte Detektiv Porch. »Verdammt…!« stieß der Mann hervor. Er holte unwillkürlich zu einem Fausthieb aus. Der junge Taschendieb mit der schrillen Stimme duckte sich ängstlich. »Ich schlage vor, wir vermeiden jedes Aufsehen«, sagte Detektiv Porch. »Darf ich Sie höflichst bitten, mit in mein bescheidenes Büro zu kommen, Sir?«
»Ich bin in Eile«, antwortete der Mörder. »Geben Sie mir die Brieftasche zurück! Ich werde keine Anklage gegen diesen Strolch erheben.« »Tut mir leid, die Brieftasche kann ich Ihnen erst aushändigen, wenn ich genau weiß, daß Sie der Besitzer sind.« »Mann, das sehen Sie doch«, fuhr der Mörder den Hausdetektiv scharf an. Er deutete auf sein zerschlitztes Jackett. »Brauchen Sie noch bessere Beweise?« »Ich brauche vor allen Dingen Ihre Unterschrift unter das Protokoll«, gab der Hausdetektiv lächelnd zurück. »In wenigen Minuten können Sie dann schon gehen.« Der Mörder überlegte blitzschnell. Auf einen Wortwechsel wollte er es nicht ankommen lassen. Nur kein Aufsehen erregen, war seine Devise. Auf der anderen Seite konnte er nicht an die Brieftasche heran, wenn er sich dem Wunsch des Hausdetektivs nicht beugte. Er nickte. »Schön, bringen wir es hinter uns«, meinte er mit versöhnlicher Stimme und rang sich ein breites Lächeln ab. Dabei überlegte er, ob der Erhängte am Kleiderständer wohl schon entdeckt worden war. Der junge Taschendieb ließ sich ohne Schwierigkeiten abführen. Er war sehr kleinlaut geworden. Hinter Hausdetekiv Porch und dem Dieb ging der Mörder. Seine rechte Hand 13 �
hatte er in die Tasche gesteckt. Die Finger umspannten den kurzen Kolben einer flachen, automatischen Waffe. Er brauchte nur die Sicherung umzulegen, dann konnte er alle kommenden Schwierigkeiten mit einem Schuß beenden. Noch war die Gelegenheit ungünstig. Als Hausdetektiv Porch auf den Lift zusteuerte, ahnte er nicht, wie dicht sein Mörder bereits hinter ihm war… * Josuah Parker durchsuchte die Taschen des Toten. Das Detektivbüro im ›Jackson‹ wußte bereits, was passiert war. Es hatte die Mordkommission verständigt. Parker war neben der Leiche des Erhängten zurückgeblieben und nutzte die Gelegenheit, aus erster Hand ein paar Privatinformationen zu sammeln. Ihm fiel sofort auf, daß die Brieftasche des Toten fehlte. Er wußte natürlich nicht mit letzter Sicherheit, daß dieser Mann eine besessen hatte. Doch dem ganzen Typ nach zu urteilen, mußte der Tote eine Brieftasche gehabt haben. War er umgebracht worden, um sie zu stehlen? Oder hatte der Mörder sie mitgenommen, um die Identifizierung der Leiche zu erschweren?
Parker ging schnell, aber methodisch vor. In der linken Hosentasche des Toten fand er einen Schlüsselbund, ein Taschentuch und einige Tickets von der Cable-Car. In der rechten Hosentasche entdeckte Parker einen einzelnen Schlüssel, an dem ein Plastikanhänger befestigt war. ›Central-Garagen‹ stand darauf. Der Schlüssel gehörte wahrscheinlich zu einer abschließbaren Autobox dieser Garage. Die Innentasche des Jacketts, wo sich gewöhnlich die Brieftasche befindet, war leer. In der rechten Innentasche stießen Parkers Finger auf einige Papiere. Er zog sie hervor. Sie waren eine Wäscherechnung, zwei Tage alt, und ein Telegrammformular. Schnell überflog er den Text. Der Absender war ein gewisser Ted Surtees. Er teilte einem Frank Carpenter mit, Treffpunkt sei das ›Jackson‹ und zwar um 12.30 Uhr in der dritten Etage. Herrenabteilung. Parker sah zur elektrischen Uhr hoch, die an der Trennwand anmontiert war. Sie zeigte bereits 13.00 Uhr. War Frank Carpenter, wie der Erhängte wohl hieß, von diesem Ted Surtees erhängt worden? Motiv des Mordes mußte die Brieftasche gewesen sein. Nur sie allein. Sonst hätte der Mörder alle sonstigen Hinweise auf die Identität seines Opfers ver14 �
schwinden lassen. Josuah Parker merkte sich die Adressen von Frank Carpenter und Ted Surtees. Mehr war im Moment nicht zu tun, zumal die Mitglieder der Mordkommission erschienen… * Die Tür des Lifts glitt ins Schloß. Der Taschendieb, der Mörder und Hausdetektiv Lesley Porch waren allein in der engen Kabine. Der Mörder lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kabinenwand. Er lächelte den Hausdetektiv freundlich an. Die Mordgedanken hinter seiner Stirn waren nicht zu erraten. Der junge Taschendieb seufzte auf. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Er kam nicht auf den Gedanken, den Detektiv anzufallen. Dazu fühlte er sich viel zu schwach. »In ein paar Minuten werden Sie Ihre Brieftasche haben«, meinte Porch zu dem Mörder. »Kommt jetzt nicht mehr darauf an«, gab der Mörder lächelnd zurück. »Ich war eben vielleicht etwas zu nervös.« »Verständlich, wenn einem der Anzug aufgeschlitzt worden ist«, erwiderte Porch. »Ich denke, der Schaden läßt sich mit der Direktion regeln.« »Warten wir’s ab«, gab der Mörder zurück. Er wies auf die Druckknöpfe, die den Fahrstuhl in Bewe-
gung setzten. »Warum fahren wir nicht?« »Ich nehme dort den Kollegen noch mit«, meinte Lesley Porch. Er wies durch die Glasscheibe. Der Mörder sah einen Mann, der auf den Lift zueilte. Betrat dieser Mann die Kabine, dann standen die Chancen schlecht sofort an die Brieftasche heranzukommen. Der Mörder wußte es. Eine Sekunde lang war er versucht, den Startknopf auf der Signaltafel zu drücken und dann sofort zu schießen. Er mußte auf jeden Fall verhindern, daß die Brieftasche geöffnet und durchsucht wurde. Solch ein Risiko konnte er unmöglich eingehen. Der Mörder beobachtete den näherkommenden Mann. Zu seiner Überraschung und Erleichterung winkte der Mann ab. Er wollte nicht mit hinauffahren. Er schüttelte zusätzlich den Kopf und bog dann nach rechts ab. Sekunden später verschwand er hinter einer hochgetürmten Stoffauslage. »Dann eben nicht«, meinte Lesley Porch. Er war nach wie vor ahnungslos. Der Mörder lächelte freundlich. Nun konnte sein Plan nicht mehr schiefgehen. Er blieb gelassen, sah zu, als der Hausdetektiv den Startknopf des Lifts eindrückte. Der Lift hob sofort ab und schwebte nach oben. 15 �
Der Mörder umklammerte seine automatische Waffe. Er wollte durch den Anzugstoff schießen. Der junge Taschendieb war überhaupt kein Problem. Wahrscheinlich würde er sich vor Schreck nicht rühren, wenn der Schuß erst einmal gefallen war. Er schob den Sicherungsbügel herum. Sein Zeigefinger krümmte sich. Er nahm Druckpunkt… * Josuah Parker stand vor der Glastür des Lifts im dritten Geschoß. An der außen angebrachten Signaltafel erkannte er, daß der Lift in Bewegung war und nach oben fuhr. Um sich die Treppen hinauf in die vierte Etage zu sparen, blieb der Butler stehen. Er wollte zusteigen. Die Kabine schwebte heran. Die dicken Drahtseile zitterten, die Kabelschlange rutschte in sich zusammen. Dann schwebte der Lift auf die Glastür zu. In diesem Moment hörte der Butler einen peitschenartigen Knall, als sei irgendwo eine Sicherung zersprungen. Butler Parker trat sofort zur Seite, um von der Kabine aus nicht gesehen zu werden. Er wußte aus langer Erfahrung, welches Gerät diesen eigenartigen Knall verursacht hatte! Im Lift mußte geschossen worden sein!
Die Kabine erreichte den Türausschnitt und hielt an. Josuah Parker hakte den Universal-Regenschirm von seinem linken Unterarm los und ging in Ausfallstellung. Er war sich sicher, daß er und sein Regenschirm Arbeit bekamen. Die Tür öffnete sich. Ein junger Mann torkelte aus der Kabine heraus, raffte sich auf und rannte dann in langen Sprüngen davon. Parker rührte sich nicht von der Stelle. Er haßte unnötige Bewegungen. Er nahm dafür den UniversalRegenschirm hoch und zweckentfremdete ihn in einen behelfsmäßigen Speer. Mit dem Bambusgriff voran schoß dieser Behelfsspeer durch die Luft. Er landete zwischen den Schulterblättern des jungen Mannes und riß ihn mit seinem Schwung von den Beinen. Der junge Mann stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel gegen das Fußgestell eines Kleiderständers. Es gab einen dumpfen Laut, als sein Kopf aufprallte. Der junge Mann rollte auf die Seite und blieb dann regungslos liegen. Parker wandte sich dem Lift zu. Verständlicherweise hatte er erst jetzt dafür Zeit. Als er in die Kabine hineinblicken wollte, peitschte ein Schuß auf. Das Geschoß pfiff haarscharf an seinem Kopf vorbei, sirrte durch die 16 �
Luft und schlug gegen eine Wasserdüse unter der Decke. Die Druckleitung brach auseinander. Ein daumendicker Wasserstrahl zwängte sich durch diese Öffnung. Der Lift war in Bewegung gesetzt worden. Er schwebte bereits nach oben. Parker kam zu spät, um diesen Schuß mit seiner eigenen Waffe zu beantworten. Er hielt zwar den vorsintflutlichen Colt in der Hand, doch er drückte nicht ab. Er hätte doch nicht getroffen. Um den Fahrstuhl einzuholen, mußte Parker sich nun sehr beeilen. Auf der anderen Seite bestand die Gefahr, daß der junge Mann, der aus der Kabine geflüchtet war, erwachte und sich davonmachte. Weit und breit war keine Hilfe zu sehen… Der Schuß aus dem Lift hatte alle Kunden und Verkäufer in Deckung gehen lassen. Keiner traute sich hervor. Parker konnte nicht wissen, daß sich in dem Lift eine Tragödie abgespielt hatte. Er wußte nichts von Hausdetektiv Lesley Porch. Deshalb kümmerte er sich erst mal um den jungen Mann. Von ihm erhoffte er zu erfahren, wer der Schütze im Lift war. Der junge Mann erhob sich bereits. Er griff sich an den schmerzenden Kopf, bewegte ihn vorsichtig und schien sich jetzt erst wieder zu erin-
nern, was vorgefallen war. Wie gehetzt sah er sich um, zog die Beine an und sprang auf. Er wollte seine Flucht fortsetzen. »Gönnen Sie sich etwas Ruhe, junger Mann«, meinte Josuah Parker mit ruhiger Stimme. »Vielleicht verraten Sie mir, wer auf Sie geschossen hat.« »Er hat… er hat ihn umgebracht«, stieß der Taschendieb hervor. »Umgebracht? Wen, wenn ich fragen darf?« »Den Teck in der Kabine«, stöhnte der junge Mann. »Und mich wollte dieser Hund auch noch umlegen.« »Kommen Sie…!« Parkers Stimme hatte jeden Unterton von Gelassenheit verloren. Er umspannte das rechte Handgelenk des Taschendiebes und zog ihn zum nächsten Haustelefon. Er rief das Detektivbüro des ›Jackson‹ an. Erstaunlich knapp und präzis gab Parker seine Meldung durch. Dann löste er den Hörer etwas vom Ohr und wartete. Der Taschendieb stotterte seinen Bericht herunter. Er verhaspelte sich immer wieder, wiederholte sich und hatte Mühe, die nackten Tatsachen zu erwähnen. Parker unterbrach ihn nicht mit einem Wort. So erfuhr er, wenn auch mit Verspätung, was sich im Erdgeschoß und dann im Lift zugetragen hatte. Wenig später meldete sich wieder das Detektivbüro des Hauses. Chefinspektor Hassler war am Apparat. 17 �
Seine Stimme klang aufgeregt. »Porch ist schwer angeschossen worden«, meldete er. »Der Revolverheld ist verschwunden. Verdammt, heute ist der Teufel los, Parker. In unserem Bau scheinen sich die Gangster der Stadt ein Stelldichein zu geben!« * »Sie sind wie ein Magnet«, sagte Anwalt Mike Rander. »Sie ziehen Gauner und Verbrecher an, Parker! Ihren ersten Tag im ›Jackson‹ hatte ich mir ruhiger vorgestellt!« »Keiner bedauert diese Entwicklung mehr als ich, Sir«, gab Parker zurück. »Es ist mir zwar gelungen, zwei Mitglieder der WarenhausGang zu fassen, doch dieser rätselhafte Mord in der Herrenabteilung dürfte noch einiges Kopfzerbrechen verursachen.« Josuah Parker und Mike Rander saßen in einem Taxi. Sie waren auf dem Weg in die Mason Street. Laut Adresse auf dem Telegrammformular mußte der erhängte Frank Carpenter dort wohnen. Falls der Tote mit dem Empfänger des Telegramms identisch war. Das Telegramm in seiner Tasche war kein Beweis dafür, daß er tatsächlich Frank Carpenter war. »Ich sehe einen innigen Zusammenhang zwischen dem Erhängten und der Schießerei im Lift«, meinte
Josuah Parker nach einer kleinen Pause des Nachdenkens. »Ich möchte mich selbstverständlich auf keinen Fall festlegen, Sir, doch scheint mir, daß die Brieftasche des Erhängten von jenem Mann geraubt wurde, der von dem jungen Taschendieb anschließend im Erdgeschoß bestohlen wurde.« »Könnte sein, Parker«, gab Mike Rander nachdenklich zurück. »Wenn Sie gestatten, Sir, möchte ich meinen Gedankengang fortsetzen.« Parker hatte zu seiner üblichen Ruhe zurückgefunden. »Der junge Taschendieb, den ich bei der Flucht aus dem Lift abfangen konnte, sagte deutlich aus, daß der Bestohlene aus dem Erdgeschoß sich ausschließlich um die Brieftasche kümmerte und sie dem leider angeschossenen Mr. Lesley Porch entriß.« »Blenden wir zurück«, warf Mike Rander ein. »Im Anzug des erhängten Frank Carpenter vermißten Sie eine Brieftasche. Es könnte sich tatsächlich um dasselbe Stück handeln.« »Ich bin dessen fast sicher, Sir.« »Hoffen wir, daß uns die Telegramm-Adresse weiterbringen wird«, seufzte Mike Rander auf. »Verflixt, und ich hatte mit ein paar gemütlichen Ferientagen hier in Frisco gerechnet. Taschen- und Ladendiebstahl hörte sich verlockend an. Und jetzt sitzen wir mitten in einem Mordfall, Parker. Viel Ver18 �
gnügen! Wer weiß, wie sich dieser Mord noch entwickeln wird.« »Keinesfalls ruhig, Sir, wenn mir diese nüchterne Prognose gestattet ist«, gab Josuah Parker zurück. »Um eine übliche Brieftasche kann es sich meiner bescheidenen Ansicht nach bestimmt nicht handeln. Diese Brieftasche muß Sprengstoff enthalten.« »Sprengstoff welcher Art?« »Ich wage es nicht, den Propheten zu spielen«, wich Josuah Parker aus. »Wenn Sie erlauben, möchte ich nun aussteigen und mich zu Fuß der Mason Street nähern.« »Klar, steigen Sie aus, Parker! passen Sie auf sich auf! Ich werde mich um den Absender des Telegramms kümmern. Hoffentlich existiert dieser Ted Surtees wirklich.« »Ich erlaube mir, Sir, Ihnen viel Glück zu wünschen«, erwiderte Parker. Er klopfte gegen die Scheibe zwischen Fond und Taxifahrer, ließ anhalten und stieg aus, ohne sich noch mal nach seinem jungen Herrn umzuwenden. Mike Rander sah hingegen seinem Butler nach. Unmerklich schüttelte er den Kopf über Parker. Man sah es diesem skurrilen Mann wirklich nicht an, daß er innerhalb kurzer Zeit zu einem gefürchteten Verbrecherschreck geworden war… Die Mason Street stieg steil an. Bei der Planung von San Francisco hatten die derzeitigen Planer übersehen, wie gebirgig und hügelig das
Gelände war. Auf dem Reißbrett waren die Straßen entstanden und tatsächlich auch gebaut worden. Das war der Grund für die vielen Steigungen in dieser Stadt, die in die Beine der Fußgänger und in die Getriebe der Autos ging. Aus alten Zeiten waren einige der Cable-Cars übernommen worden, einfache, offene Straßenbahnen, die per Zahnrad oder Zugkabel über die steilen Steigungen geschleppt wurden. Solch eine Straße war die Mason Street. Und an dieser Straße lag das Haus, in dem der erhängte Frank Carpenter wohnen sollte. Josuah Parker ließ sich von einer in den Gleisen kreischenden Cable-Car überholen. Er brauchte nur noch wenige Schritte zu tun, dann stand er vor einem bereits angejahrten Appartementhaus. An den Hinweistafeln im Erdgeschoß orientierte sich der Butler. Er war fast überrascht, tatsächlich den Namen Frank Carpenter zu finden. Absender und Empfänger des bewußten Telegramms in der Brusttasche des Ermordeten schienen also zu stimmen. Frank Carpenter wohnte in der zweiten Etage. Es gab zwar einen Lift. Verständlicherweise verzichtete der Butler darauf, ihn zu benutzen. Seit knapp einer halben Stunde hatte er eine Abneigung gegen Fahrstühle. In 19 �
ihnen konnte zuviel passieren. Er benutzte die Treppe, die mit einem abgetretenen Kokosläufer belegt war. In der zweiten Etage blieb er vor der Tür des Mr. Frank Carpenter stehen. Dahinter war alles ruhig. Parker legte seinen schwarz behandschuhten Zeigefinger auf den Klingelknopf. Seine linke Augenbraue hob sich erstaunt, als er sofort nach dem Läuten Schritte hörte. Die Tür wurde geöffnet. Eine junge, sehr angenehm aussehende Dame von etwa 25 Jahren sah den Butler erstaunt an. »Sie wünschen?« fragte sie und trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Eine Erscheinung wie die des Butlers hatte sie bisher bestimmt nur im Film gesehen, in einem englischen Film, um genau zu sein. In einem Film also, in dem ein Original englischer Butler mitwirkte. »Mein Name ist Parker«, stellte sich der Butler vor. »Genauer gesagt, Josuah Parker. Ich begrüße Sie!« »Was wollen Sie mir verkaufen?« erkundigte sich die junge Dame. Sie sah nicht nur angenehm aus, sie war ausgesprochen attraktiv anzusehen. Mittelgroß, schlank, trug sie einen knapp sitzenden Hausanzug, der ihre Figur nachdrücklich unterstrich. Ihr blondes Haar fiel in sanften Wellen auf die Schultern herab. »Ich würde sagen, daß ich auf Empfehlung von Mr. Frank Carpen-
ter komme«, erklärte der Butler höflich und lüftete seine schwarze steife Melone noch mal. »Oh, Onkel Frank. Das ist etwas anderes. Kommen Sie doch herein, Mr. Parker!« Sie gab die Tür frei und führte ihn in einen Wohnraum mit zwei niedrigen Fenstern. Es gab hier den üblichen, imitierten Kamin, die Sitzgruppe mit tiefen Sesseln und die niedrigen Wandschränke, auf denen Leuchter standen. Auf dem Boden lag ein dicker grauer Wollteppich. »Ich bin Helen Angus«, stellte sich nun auch die junge Dame vor. »Ich führe den Haushalt meines Onkels.« »Ich bin ungemein erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte Josuah Parker und deutete eine knappe Verbeugung an. »Um mich präzise auszudrücken, Miß Angus, ich hoffe, hier nicht nur Ihren Onkel anzutreffen, sondern auch Mr. Ted Surtees.« »Mr. Surtees?« Helen Angus sah den Butler fragend an. »Sie kennen Mr. Surtees nicht?« wunderte sich der Butler. »Nein, tut mir leid. Müßte ich ihn denn kennen?« Helen Angus sah Josuah Parker interessiert an. Bei dieser Gelegenheit stellte der Butler fest, daß die junge Dame leuchtstarke blaugraue Augen besaß, mit denen sie umzugehen verstand. »Ich weiß es nicht«, wich Butler Parker aus. »Vielleicht handelt es 20 �
sich um einen Geschäftsfreund Ihres Onkels.« »So wird es wohl sein«, meinte sie. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« »Nur, wenn auch Sie etwas trinken, Miß Angus. Ich möchte überhaupt dringend empfehlen, daß Sie sich mit einem stärkenden Schluck versehen.« »Glauben Sie, daß ich ihn nötig haben werde?« »Ich fürchte, ja.« »Sie sagen das mit eigenartiger Betonung, Sir. Ist… ist meinem Onkel Frank etwas passiert?« »Leider, Miß Angus.« »Mein Gott…! Ist er verunglückt?« »In etwa. Etwas genauer ausgedrückt, er wurde ermordet, Miß Angus.« »Ermordet?« Sie sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an und schluckte. Langsam ließ sie sich in einen Sessel nieder. »Ermordet, sagen Sie?« »Es passierte im Warenhaus ›Jackson‹, in dem ich zur Aushilfe als Hausdetektiv angestellt bin.« »Wie war denn das möglich? Onkel Frank hatte doch keine Feinde. Hat man seinen Mörder gefunden?« »Bisher leider nicht, Miß Angus. Aber um ihn zu finden, brauche ich einige Hinweise.« »Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Mister Parker.« Ihre
Stimme klang mutlos und leise. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß Onkel Frank tot sein soll.« »Er wollte sich nach meinen Informationen mit einem gewissen Mr. Ted Surtees treffen.« »Ich kenne diesen Surtees nicht.« Sie griff nach einer kleinen Lackschachtel, die auf dem Tisch stand. Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihr eine Zigarette entnahm. Parker zeigte sich selbst in dieser Situation als Gentleman. Er holte sein Feuerzeug aus der Westentasche und reichte ihr Feuer. Helen Angus zuckte nervös zurück, als es aufflammte. Ein mittlerer Flammenwerfer hätte nicht mehr Feuer spucken können. Parkers Feuerzeug war glatt geeignet, behelfsmäßig als Schweißbrenner eingesetzt zu werden. »Darf ich fragen, ob und wo Ihr Onkel arbeitete?« lautete Parkers nächste Frage. »Onkel Frank ist… ich meine, war Konstrukteur. Sein Leben verlief ohne jede Aufregungen. Mein Gott, warum hat man ihn umgebracht?« »Ich werde es im Laufe der Zeit herausfinden, Miß Angus, und mir dann die Freiheit nehmen, Ihnen Bericht zu erstatten«, versprach Josuah Parker. »Wann haben Sie Ihren Onkel zuletzt gesehen? Erhielt er heute vormittag nicht ein Telegramm?« Sie nickte. 21 �
»Kennen Sie den Inhalt des Telegramms?« Sie schüttelte den Kopf. Sie griff in den Ärmel ihrer Bluse und zupfte ein Taschentuch hervor. Sie tupfte sich die ersten Tränen ab und schluchzte. »Ihr Onkel war heute nicht im Büro?« fragte Parker weiter. »Nur für ein paar Stunden«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. »Er wollte für eine Woche Urlaub machen und sich mal richtig entspannen.« »Tragisch, ausgesprochen tragisch«, stellte Parker fest. »Von welcher Firma, wenn mir diese letzte Frage gestattet ist, wollte Ihr Onkel sich denn entspannen?« »Engineering Development«, schluchzte sie, »bitte, lassen Sie mich allein. Ich könnte nicht mehr antworten.« Parker verließ still und unauffällig das Appartement. Der Vorhang zwischen Diele und Wohnraum fiel hinter ihm zu. Parker nutzte diese Gelegenheit, schnell den Briefkasten an der Tür zu öffnen. Er fand zwei Briefe, die er einsteckte. Eine Sekunde später fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Parker wollte keinen Diebstahl begehen. Er fand nur, daß dieses zarte, junge Mädchen nicht noch weiter strapaziert werden durfte. Dazu gehörten schließlich auch Postsachen, von denen man ja nie vorher
wußte, wie angenehm oder peinlich sie waren. * Noch im Treppenhaus öffnete Parker die beiden Briefe. Der erste Brief war eine Antwort auf ein Bewerbungsschreiben, das Frank Carpenter an eine Ingenieurfirma in Los Angeles gerichtet hatte. Die Bewerbungsunterlagen wurden zurückgeschickt. Man bedauerte mit wenigen dürren Worten, im Moment keine freie Stelle für Mr. Carpenter zu haben. Parker klammerte das Foto von den Bewerbungsunterlagen ab. Hier hatte er endlich einen Beweis in der Hand, daß der Erhängte im ›Jackson‹ mit Frank Carpenter identisch war. Das Brustbild zeigte unverkennbar den Toten, den Parker am Kleiderständer entdeckt hatte. Der zweite Brief stammte von der San Francisco State Bank. Mr. Frank Carpenter wurde mitgeteilt, daß sein Kreditantrag in Höhe von 2000 Dollar abgelehnt worden sei. Parker überlegte einen Moment, nahm die schwarze steife Melone vom Kopf und barg die beiden Briefe darin. Er schob sie unter die Stahleinlage. Immerhin hatte er in den vergangenen Stunden ausgiebig mit Taschendieben zu tun gehabt. Er wollte sich nicht bestehlen lassen. Die beiden Briefe waren recht inter22 �
essant. Sie deuteten darauf hin, daß Frank Carpenter in einigen Schwierigkeiten gesteckt haben mußte. Parker verließ das Appartementhaus. Er hakte den Regenschirm über den linken Unterarm, rückte sich die schwarze Melone zurecht und wollte die Mason Street in Richtung Hafen hinuntergehen. Sah er nicht, daß sich hinter ihm ein Wagen vom Straßenrand löste? Merkte er nicht, daß ihn dieser Wagen augenscheinlich verfolgte? Parker schritt steif und würdevoll aus. Er dachte an sein Gespräch mit Helen Angus, an den erhängten Mr. Carpenter und an die beiden Briefe. Je mehr er über sie nachdachte, desto interessanter erschienen sie ihm. Er wurde sich klar darüber, daß er die Engineering Development so schnell wie möglich besuchen mußte. Dort erfuhr er gewiß mehr über den Erhängten. »Hallo, können Sie mir helfen?« Parker fühlte sich angesprochen. Er wandte sich zur Seite. Etwa anderthalb Meter von ihm entfernt hielt ein dunkler Buick am Straßenrand. Der Beifahrer hatte sich aus dem Fenster gebeugt und winkte Parker zu. Der Butler stutzte unmerklich. Selbst ein genauer und aufmerksamer Beobachter hätte es kaum bemerkt. Parker spürte augenblicklich, daß
Gefahr drohte. Sein fein ausgebildeter Instinkt warnte ihn. Situationen dieser Art kannte er schließlich mehr als genug. Doch Parker ließ sich nichts anmerken. »Ich hoffe sehr, Ihnen helfen zu können«, sagte er höflich, lüftete seine schwarze Melone und trat an den Wagenschlag heran. »Wenn mich nicht alles täuscht, soll ich Ihnen mit meinen, wenn auch bescheidenen Ortskenntnissen aushelfen, nicht wahr?« Der Mann auf dem Beifahrersitz starrte ihn entgeistert an. Solch eine gewundene, barock zu nennende, Antwort hatte er ganz sicher nicht erwartet. »Wie war das?« fragte er. Er verzog sein breites, grobes Gesicht, als habe er in eine besonders saure Zitrone gebissen. »Wohin oder was möchten Sie?« präzisierte Parker seine Frage. »Ach so, jetzt geht mir ein Licht auf«, meinte der Beifahrer und grinste. »Sehen Sie sich das hier mal genauer an, Alterchen.« Er ließ den Lauf einer 38er im Ausschnitt des Wagenfensters erscheinen. »Wenn mich nicht alles täuscht, eine Schußwaffe«, stellte Parker fest. »Mann, Sie haben Nerven, oder Sie sind ein Vollidiot«, knurrte ihn der Mann mit dem groben Gesicht an. »Wenn ich den Zeigefinger bewege, 23 �
sind Sie ein toter Mann. Ist das klar?« »Nicht unbedingt«, widersprach Parker höflich. »Es kommt darauf an, wie gut oder schlecht Sie schießen.« »Ich schieße sogar erstklassig«, warnte ihn der Mann. »Steigen Sie ein, Alterchen. Wenn Sie parieren, passiert Ihnen nichts. Wenn Sie Ärger machen, sind Sie Dauergast im Spital!« »Ihre Argumente überzeugen mich im Moment«, stellte Parker fest. »Aber ich möchte dennoch nicht versäumen, in aller Form gegen diese Art des Menschenraubs zu protestieren.« »Mach’ schon, Alter.« Der Mann zischte wie eine gereizte Klapperschlange. »Deinen Unsinn werde ich dir schon schnell austreiben…!« Parker stieg ein und hielt den Mund. Er hätte sich selbstverständlich zur Wehr setzen können. Er verzichtete darauf. Kontakt mit Gangstern jeden Kalibers war immer wichtig. Nur so erfuhr man schließlich, wie die Figuren im tödlichen Spiel verteilt waren… * Der Mörder aus dem ›Jackson‹, der Frank Carpenter erhängt hatte, konnte es einfach nicht fassen. Immer wieder nahm er die Briefta-
sche hoch, die vor ihm auf dem Tisch lag. Und immer wieder murmelte er Flüche, die von Minute zu Minute eindeutiger und wütender wurden. Er hatte allen Grund, sich so zu verhalten. Die Brieftasche vor ihm auf dem Tisch war nicht die, die man ihm aus der Brusttasche geschlitzt hatte. Es war die Brieftasche des jungen Taschendiebes. Und die war für den Mörder natürlich vollkommen wertlos. Er konnte es nicht riskieren, zurück ins ›Jackson‹ zu gehen. Nach seiner Flucht, nach dem Niederschießen des Hausdetektivs, durfte er sich dort nicht mehr sehen lassen. Es war überhaupt gefährlich für ihn, sich auf den Straßen sehen zu lassen. Schließlich wußte zumindest der Taschendieb, wie er aussah. Wie komme ich an die Brieftasche heran? fragte sich der Mörder. Umsonst habe ich Carpenter schließlich nicht umgebracht. Die Brieftasche stellt für mich ein Vermögen dar. Und abgesehen vom Geld garantiert sie sogar mein Leben. Kann ich sie nicht zurückholen, dann dürfte es mir an den Kragen gehen. Dann ist nicht nur die Polizei hinter mir her, sondern dann muß ich auch mit ein paar ausgesuchten Berufsmördern rechnen. Und die dürften gefährlicher sein als die Polizei. Sie werden mich aufspüren, ganz gleich, wo ich mich auch ver24 �
stecke… Der Mörder zuckte zusammen. Das Telefon in seinem Hotelzimmer schrillte unangenehm laut. Allein dieses Geräusch war wie eine Mahnung. Der Mörder riß sich zusammen, gab sich einen Ruck und hob den Hörer aus der Gabel. »Hier Hyman«, meldete er sich. »Hier ist der Kaiser von China«, lautete die ironische Antwort. »Sie wissen, wer ich bin?« »Natürlich.« Walt Hyman spürte, daß sein Mund trocken wurde. »Wie sieht’s denn mit der Ware aus?« erkundigte sich der Mann am anderen Ende. »Ich soll sie doch gegen Abend bekommen, ja?« »Das geht klar«, antwortete Walt Hyman gegen seinen Willen. Die Angst vor dem Anrufer war größer als sein Mut, die Wahrheit zu bekennen. »Sehr schön.« Die Stimme des Anrufers klang wohlwollend. »Ich wußte doch, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Hyman. Wann sehen wir uns?« »Gegen 22.00 Uhr. Auf den Twin Peaks.« »Wo da genau?« »Auf dem nördlichen Hügel, einverstanden?« »Schön. Vergessen Sie nicht zu kommen, Hyman! Aber so dumm werden Sie ja wohl nicht sein, oder?« Der Anrufer lachte leise auf. »Natürlich werde ich kommen«,
gab Walt Hyman zurück. »Und vergessen Sie nicht, mir die Quittungen mitzubringen.« »Keine Sorge, Hyman! Auf mich, verstehen Sie, auf mich kann man sich verlassen.« »Ich weiß, ich weiß. Deshalb arbeite ich ja mit Ihnen zusammen.« »Was ist aus Ihrem Lieferanten geworden? Wird er keine Schwierigkeiten machen oder Verdacht schöpfen?« »Nein.« »Warum so kurz angebunden, Hyman?« »Am Telefon kann ich darüber nicht sprechen. Verlassen Sie sich darauf, er wird keine Schwierigkeiten machen.« »Na gut, das ist schließlich Ihr Job. Bis dann…!« Walt Hyman hörte das Klicken in! der Leitung. Er hielt den Hörer in der Hand und starrte die Zimmerwand an. Er hatte das Gefühl, als zöge sich ein dichtes Netz über seinem Kopf zusammen. Wütend warf er den Hörer in die Gabel. Er stand auf, zündete sich eine Zigarette an. Ich sollte sofort abhauen, sagte er sich. Warum habe ich nicht den Mut, alle Brücken hinter mir einzureißen? Ich brauche doch nur raus zum Flugplatz zu fahren und zu verschwinden… Aber vielleicht wird der Flugplatz 25 �
überwacht. Vielleicht lassen sie mich schon seit Tagen nicht mehr aus den Augen. Vielleicht wissen sie, daß ich nur zu gern verschwinden möchte… Walt Hyman, der Mörder mit den schwachen Nerven, trat ans Fenster und sah hinunter auf die Straße. Der Betrieb auf der Straße und auf den Gehsteigen war normal. Schaulustige standen vor Fensterauslagen der Geschäfte, unterhielten sich am Straßenrand, saßen in parkenden Wagen und verschwanden in Geschäften. Jedermann von diesen Leuten konnte ein Spitzel sein. Jeder konnte den Auftrag haben, ihn, Walt Hyman, zu beschatten. Gab es überhaupt noch eine Fluchtmöglichkeit? Würden ihm am Abend wirklich die Quittungen ausgehändigt werden? Fragen über Fragen! Der Mörder wischte sich über die Stirn. Nein, er mußte mitspielen. Er mußte wenigstens so tun, als sei alles in Ordnung. Er ging zurück zum Sessel und ließ sich in die Polster fallen. Es mußte doch noch einen Ausweg geben, um den tödlichen Kreis zu durchbrechen. Nun, solch ein Ausweg verlangte Mut und Härte. Der Mörder prüfte sich, ob er die Nerven hatte, einen ganz bestimmten Plan durchzuführen. Dieser Plan war lebensgefährlich für ihn, aber er war und blieb die eine Möglichkeit, das Beste aus dieser Situation zu machen. Er mußte doch noch einmal zurück ins
›Jackson‹. Und zwar nach Ladenschluß. Er mußte alle Schränke des Detektivbüros nach der bewußten Brieftasche durchwühlen. Er war sicher, daß sie sich noch im ›Jackson‹ befand. Fand er sie aber nicht, dann mußte seine Waffe noch einmal sprechen… * »Ich möchte als sicher unterstellen, daß Sie mich nicht zu einer Spazierfahrt eingeladen haben«, sagte Josuah Parker höflich. »Um auf den Kern der Sache zu kommen, was kann oder muß ich für Sie tun?« »Erst mal den Mund halten«, sagte der Beifahrer mit dem groben Gesicht. »Ich beuge mich natürlich Ihren Wünschen. Aber gehe ich richtig in der Annahme, daß es sich um den leider so plötzlich verstorbenen Mr. Frank Carpenter handelt?« »Er trifft den Nagel auf den Kopf«, wandte sich der Beifahrer an den bisher schweigsamen Mann am Steuer. »Was sagst du zu diesem klugen Burschen?« »Laß dich auf nichts ein«, warnte der Fahrer seinen Partner. »Ich wette, dieser alte Knabe hat es faustdick hinter den Ohren.« »Wogegen ich protestieren möchte«, schaltete sich Josuah Parker ein. »Ich pflege mich jeden Morgen zu waschen.« 26 �
»Half jetzt endlich den Mund«, schnauzte der Beifahrer. »Sei froh, daß wir keine anderen Saiten aufziehen.« Parker zog es vor, ab sofort den Mund zu halten. Der Buick kreuzte die Market Street, bog in die Mission Street ein und fuhr dann in normalem Tempo hinunter zum Hafen in Richtung der Fährkais. Parker sah jedoch nur äußerlich müde und hilflos aus. Ihm kam es jetzt darauf an, sich den Weg genau zu merken. Für später, wenn er selbst wieder aktiv wurde. Daß es hinunter zum Hafen ging, wunderte ihn nicht sonderlich. Dort gab es schließlich die meisten und besten Verstecke. Parker dachte darüber nach, wer ihn wohl entführt haben mochte. Freunde des erhängten Frank Carpenter? Oder dessen Feinde? Ging es um die Brieftasche? Nun, die hatte der wahrscheinliche Mörder bei seiner Flucht aus dem Warenhauslift ja gerade noch mitgehen lassen können. Es stimmte den Butler sehr nachdenklich, daß die beiden Entführer nicht darauf bestanden, ihm die Augen zu verbinden. Das Hafengebiet war bereits erreicht. Ihnen war es gleichgültig, ob Parker sah, wohin die Fahrt ging oder wo sie endete. Sollte das bedeuten, daß sie ihm so oder so keine Gelegenheit mehr
geben wollten, darüber etwas zu berichten? Mit anderen Worten: Planten sie seine Ermordung…? * Anwalt Mike Rander, der junge, sympathische Strafverteidiger aus Chikago, Arbeitgeber und Freund des Butlers, hatte eine Niete gezogen. Die Adresse auf dem Telegrammformular entpuppte sich als Schnellimbiß. Die beiden Männer hinter der Theke wußten weder etwas von einem Ted Surtees noch von einem Telegramm. Sie zeigten auf die beiden Telefonzellen im Hintergrund des Lokals. Von dort aus konnte schließlich jeder ein Telegramm absetzen und dann schleunigst verschwinden. Mike Rander verlor keine Zeit damit, sich weiter nach Surtees zu erkundigen. Er trat wieder auf die Straße und wartete auf seinen Butler. Als insgesamt dreißig Minuten verstrichen waren, schlenderte Mike Rander ein Stück die Straße hinunter. Weit und breit war von Parker nichts zu sehen. Um das Verfahren abzukürzen, bog Rander in eine Seitenstraße ein und erreichte die Mason Street. Er hatte Glück, in eine gerade abfahrende Cable-Car einsteigen zu können. Rumpelnd, rasselnd und schwerfällig setzte dieses seltsame Gefährt sich in Bewegung. 27 �
Es kroch die schwindelnde Steilstrecke mit dem Temperament einer angefeuerten Schildkröte empor. Nach zehn Minuten erreichte Mike Rander das Haus, in dem Frank Carpenter wohnte. Auch er hielt sich an die Hinweistafeln und stieg hinauf in die zweite Etage. Nach dem Klingeln öffnete ihm Helen Angus, die Nichte Carpenters. »Sie wünschen?« fragte Helen Angus nervös. »Eine Frage: Wurden Sie von einem Mr. Josuah Parker besucht? Ich wollte mich hier mit ihm treffen.« »Mr. Parker? Ein älterer Herr, recht ungewöhnlich gekleidet?« »Das ist er.« »Er ist vor gut einer halben Stunde bereits gegangen.« »Sie sind eine Verwandte von Mr. Frank Carpenter?« »Stimmt. Nähere Einzelheiten kann Ihnen Ihr Bekannter mitteilen. Ich bin in Eile. Verzeihen Sie, aber ich bin auch etwas nervös.« »Sie wollen verreisen?« »Ich ziehe mich nur zurück in meine Wohnung.« »Ich werde nicht weiter stören«, entschuldigte sich Mike Rander. Er grüßte und verließ die Tür. Auf der Straße angekommen, wandte er sich nach links und ging die steile Straße hinunter. Er war sicher, von der blonden, jungen Dame beobachtet zu werden.
Deshalb bezwang er auch seinen Wunsch, sich umzuwenden und das Fenster zu beobachten. Die junge Dame sollte glauben, er warte nicht in der Nähe des Hauses, sondern gehe wirklich. In einer Seitenstraße hielt Mike Rander Ausschau nach einem Taxi. Er unterdrückte einen Fluch. Gerade jetzt, wo er solch einen Wagen brauchte, war kein Taxi zu sehen. Und er brauchte unbedingt einen Wagen, um die junge Dame aus Carpenters Wohnung verfolgen zu können. Er wußte nicht, wer sie war, welche Rolle sie spielte. Er spürte nur, daß er sie nicht aus den Augen verlieren durfte. Alles, was mit dem Mord an Carpenter auch nur entfernt zusammenhing, mußte beobachtet werden. Er wandte sich an einen dicklichen, gemütlich aussehenden Mann, der mit zwei großen, schweren Koffern aus einem Schuhgeschäft herauskam. Wahrscheinlich ein Vertreter, der seine Musterkoffer verstauen wollte. »Können Sie mir helfen?« fragte Rander. »Sagen Sie mir erst, wie diese Hilfe aussehen soll.« »Meine Freundin zieht um. Sie will mir nicht sagen, wohin.« »Ihr Pech.« Der Vertreter lächelte. »Ich erstatte Ihnen alle Auslagen, wenn Sie ihr nachfahren. Zusammen mit mir.« 28 �
»Soll das ein fauler Witz sein?« fragte der Vertreter mißtrauisch. »Hier, meine Karte«, sagte Rander und überreichte dem Vertreter seine Visitenkarte. Dazu packte er einen 20-Dollar-Schein. »Sieht gut aus«, meinte der Vertreter. »Sieht noch besser für Sie aus, wenn Sie sich beeilen. Es wird nur ein paar Minuten dauern, bis ich in ein Taxi umsteigen kann.« »Schön, fahren wir los«, erwiderte der dickliche Mann und grinste vertraulich. »Man ist ja kein Unmensch.« Es klappte wie am Schnürchen. Der Wagen bog in die Mason Street ein. In diesem Augenblick stieg die blonde Helen Angus in einen Ford und fuhr los. Rander erkannte sie trotz der Entfernung an ihrem Haar. »Der Ford ist es«, rief Mike Rander, der vom Jagdfieber erfaßt wurde. »Lassen Sie sich nicht abschütteln!« »Mann, ich bin Vertreter«, sagte der Dickliche und schnaufte empört. »Wer mich abschüttelt, der muß erst noch geboren werden…« * »Aussteigen, Alter, Sie haben es geschafft.« Parker ächzte, als er sich in Bewegung setzte und aus dem Wagen
stieg. Er war schwach in den Beinen und mußte sich am Wagenschlag festhalten. Seine rechte Hand umklammerte den Bambusgriff des Universal-Regenschirms. Parker sah sehr mitgenommen aus. Der Gangster mit dem groben Gesicht grinste unverhohlen. Er wies auf eine Tür, die sich am Ende einer Tiefgarage befand, in die sie hineingefahren waren. »Werden Sie den kleinen Fußmarsch noch schaffen?« fragte er dann. »Langsam, etwas langsamer, bitte.« Kraftlos klang die Stimme des Butlers. Immer wieder kleine Verschnaufpausen einlegend, schritt Parker auf die Tür zu. Hinter der Eisentür, die von dem Fahrer des Wagens aufgeschlossen wurde, befand sich, der eigentliche Lagerkeller. Auch hier Fässer, Kisten, Langholz und Baumwollballen. Gleich hinter dem Eingang gab es einen Lastenaufzug. Die seitliche Sicherung bestand aus grobem Maschendraht. Parker schreckte zurück, als er diesen Lastenaufzug betreten sollte. Der Gangster hinter ihm versetzte ihm einen Stoß. Der Butler stolperte und hielt sich am Maschendraht fest. Wirklich, er sah unglücklich und hilflos aus. Sie fuhren hinauf ins Erdgeschoß. Durch blau gestrichene Scheiben sickerte Licht in die große Lager29 �
halle. Hohl klangen die Schritte der drei Männer wider. Sonst war es unheimlich still. Parker wurde durch eine Art Schlucht geführt, die von hochragenden Baumwollballen gebildet wurde. Er blieb stehen und schnappte keuchend nach Luft. »Einen kleinen Moment, mein Herz.« »Der klappt uns zusammen, bevor wir beim Chef sind«, sagte der Gangster mit dem groben Gesicht. »Laß ihn«, gab der Fahrer zurück. Er zeigte sich von Parkers Gesundheitszustand doch etwas beeindruckt. »Es geht schon wieder«, murmelte der Butler. Es ging so lange, bis er in einem kleinen, niedrigen Büroraum auf einen Stuhl fallen konnte. Er stützte sich auf seinen UniversalRegenschirm auf. Der Fahrer verließ den Raum. Seine Schritte waren nach wenigem Sekunden schon nicht mehr zu hören. Parker sah durch das einzige Fenster des Raumes hinaus auf den Hafen. Barkassen schossen umher, ein paar Frachter wurden in das große Hafenbecken gelotst. Längs eines Kai waren weit ausladende Kräne in Aktion. Sie leichterten festgemachte Frachter. Rechts im Hintergrund war die erregend geschwungene Linie der San Francisco-Oakland-Brücke zu sehen. Die
Fahrzeuge darauf waren nicht größer als Miniaturspielzeug. Der Gangster mit dem grob geschnittenen Gesicht zündete sich eine Zigarette an. Er lehnte an der Wand und langweilte sich. Auf Parker achtete er kaum. Er dachte wohl, daß ein müder, matter Mann keine Gefahr bedeutete. »Werde ich lange bleiben müssen?« fragte Parker ihn. »Kommt darauf an, wie schnell Sie reden, Alter.« »Worüber soll ich sprechen?« erkundigte sich der Butler. »Wer interessiert sich für mich?« »Der Chef.« »Kenne ich ihn?« »Bestimmt nicht, Alterchen. Aber Sie werden ihn gleich kennenlernen. Und ich rate Ihnen, schnell und offen zu reden. Der Chef ist verdammt ungeduldig.« Die Stimme kam von der Tür her. »Und ob er das ist!« Sie hatte sich unhörbar geöffnet. Halb verdeckt von dem Fahrer war ein schlanker, mittelgroßer Mann von etwa 48 bis 50 Jahren zu sehen. Er trug einen grauen Hut, einen grauen, sehr gut geschnittenen und wahrscheinlich auch teuren Anzug und eine Sonnenbrille, die hier in dem düsteren Raum bestimmt nicht angebracht war. »Parker mein Name«, stellte sich der Butler vor. »Josuah Parker. Ich hoffe, Ihnen helfen zu können.« 30 �
»Wo ist die Brieftasche?« Rund heraus und direkter hätte die Frage gar nicht ausfallen können. Der Mann mit der Sonnenbrille wußte, worauf es ankam. Er wußte auch, was er wollte. Seine Stimme klang hart und drohend. »Die Brieftasche?« wiederholte Parker in einem Ton, als müsse er sich mühsam erinnern. »Spielen Sie mir kein Theater vor«, herrschte ihn der Mann an. »Sie wissen genau, daß ich die Brieftasche von Carpenter meine. Ich weiß, daß Sie Hausdetektiv im ›Jackson‹ sind. Sie sehen«, er lächelte dünn und schneidend, »ich bin erstklassig informiert. Sie haben Carpenter gefunden. Sie müssen wissen, wer die Brieftasche hat. Vielleicht haben Sie sie sogar eingesteckt, oder?« »Ein Mißverständnis, ein grenzenloses Mißverständnis«, antwortete Parker höflich. »Gewiß, ich bin Hausdetektiv im ›Jackson‹. Das wage ich nicht abzustreiten, Sir. Ich habe auch jenen Mann gefunden, den man erhängt hat. Carpenter ist wohl sein Name. Aber von einer Brieftasche weiß ich nichts.« »Soll ich die Wahrheit aus Ihnen herausprügeln lassen? Kostet mich nur ein Fingerschnipsen, Parker! Wer weiß, vielleicht geht Carpenters Ermordung sogar auf Ihr Konto.« »Sie überschätzen meine Fähigkeiten«, verwahrte Parker sich gegen diese Unterstellung. »Ich habe den
Toten gefunden. Aber eine Brieftasche fand ich nicht in seinen Taschen.« »Was denn sonst, he?« »Nichts, würde ich sagen.« »Und wie haben Sie erfahren, wo Carpenter wohnt, he?« Die Stimme des Sonnenbrillenträgers troff von Hohn. »Wie kamen Sie an die Adresse? Was wollten Sie von Carpenters Nichte?« »Ich wollte ihr, ob Sie es nun glauben oder nicht, Sir, mein Beileid und Mitgefühl ausdrücken.« »Dreht ihn durch den Wolf, bis er die Wahrheit sagt«, kommandierte der Mann gereizt. »Wollen doch mal sehen, wer den längeren Arm hat.« Parker seufzte, als die beiden Gangster langsam auf ihn zukamen. Er übersah nicht die Gummischläuche, die sie plötzlich in ihren Händen hatten. Wozu sie dienen sollten, war ihm ebenfalls klar. Kurz, Josuah Parker war wieder einmal in Schwierigkeiten geraten… * In der Langton Street endete die kurze Verfolgungsjagd, von der die blonde junge Dame in ihrem Ford bestimmt nichts geahnt hatte. Sie hielt vor einem großen Gebäudekomplex, in dessen Erdgeschoß Geschäfte untergebracht waren. Da sich in der Nähe ein Taxistand befand, konnte Mike Rander ohne 31 �
Besorgnis aussteigen. Der dickliche Vertreter bedauerte das fast. »Schade, daß wir uns schon trennen«, meinte er. »Die Sache wurde richtig spannend. Ich habe mich wie ein Privatdetektiv gefühlt.« »So ähnlich komme auch ich mir vor«, erwiderte der junge Anwalt. »Obwohl die es vielleicht raffinierter angestellt hätten als wir.« »Muß ich Ihnen auf den Schein was ‘rausgeben?« wollte der Vertreter wissen. »Nicht einen Cent.« Mike Rander winkte ab. »Sie ahnen nicht, wie sehr Sie mir aus der Patsche geholfen haben.« Er wartete, bis der Vertreter samt seilen Musterkoffern im Straßenverkehr verschwunden war. Dann schlenderte Rander auf den Taxistand zu und stellte sich hier in der Nähe vor ein Schaufenster. Von seinem Platz aus konnte er den Ford gut beobachten. Fuhr die junge Dame weiter, brauchte er sich nur in ein Taxi zu setzen. Jetzt hatte sie keine Chance mehr, ihn loszuwerden. Da war die blonde Frau schon wieder. Sie trat an den Ford heran und trug Koffer, Reisetasche und Mantel ins Haus hinein. In der Tür gab sie einem Hauswart den Wagenschlüssel. Der setzte sich ans Steuer und fuhr mit dem Ford davon. Wahrscheinlich brachte er ihn in eine nahe gelegene Garage.
Mike Rander verließ den Taxistand. Nun mußte er herausbekommen, wer die Frau war und wo sie in diesem Haus wohnte. Minuten später ging er bereits durch die kleine Halle des Hauses und blieb vor dem Lift stehen. Die rot aufleuchtenden Signalknöpfe zeigten an, daß der Lift noch unterwegs war. Er hielt in der vierten Etage. Dort mußte die Frau nun aussteigen. Rander holte ihren Vorsprung ein. Er benutzte die Treppe. Kraftvoll und dennoch geschmeidig stürmte er die Treppenstufen hinauf. Er brauchte nicht zu befürchten, daß ihn belustigte oder erstaunte Blicke trafen. Wer benutzte in solchen Häusern schon die reguläre Treppe? Lieber wartete man vor dem Lift, um Kraft und Muskeln zu schonen. Die vierte Etage. Mike Rander drückte die verglaste Pendeltür auf und warf einen Blick in den langen Korridor. Er hatte wieder einmal den richtigen Zeitpunkt erwischt. Die junge Frau trug gerade ihren Koffer in ein Appartement. Sie merkte auch jetzt nicht, daß sie beobachtet wurde. Der Anwalt wartete, bis sich die Tür des Appartements geschlossen hatte. Dann ging er den Korridor hinunter und sah sich das Schild auf der Holztür an. »Helen Angus«, stand dort zu lesen. Sie hieß also Angus, falls es tatsächlich ihre Woh32 �
nung war. Nun nahm Rander sich sehr viel Zeit. Mit dem Lift fuhr er zurück in die Halle. Hier traf er mit dem Hauswart zusammen, der Miß Angus’ Wagen weggebracht hatte. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich bei diesem Mann nach Helen Angus zu erkundigen. Nein, es war besser, kein Wort zu sagen. Es bestand die Gefahr, daß der Mann plauderte und der Frau mitteilte, man habe sich nach ihr erkundigt. Es mußte eine bessere Auskunftsstelle geben. Rander fand sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einer Bierbar. Hier erfuhr er gleich auf Anhieb mehr, als er sich in seinen kühnsten Träumen hätte denken können. Ein schwatzhafter Barkeeper kannte Helen Angus sogar sehr gut. »Mann, die hat früher mal hier gearbeitet«, sagte er. »Ein tolles Kind, sage ich Ihnen. Die machte Umsatz. Die brauchte ihre Kunden nur anzusehen, dann konnten sie die Drinks nicht schnell genug in sich hineinschütten.« »Und wo arbeitet sie jetzt?« »Sie wurde uns vor der Nase weggeschnappt. Von einem Burschen, der hier in der Stadt irgendein Nachtlokal haben muß. Sind Sie hinter Helen her?« »Sie gefällt mir.«
»Da werden Sie nichts erreichen, Mann. Die ist in festen Händen.« »Ist das ihr neuer Chef?« »Scheint so.« »Sie wissen nicht, wo sich diese Bar befindet?« »Sie sind hartnäckig«, meinte der Barkeeper. »Lassen Sie mich nachdenken. Ich glaube, es ist die ›FriscoStar‹ oder so ähnlich. Muß am Hafen liegen, ‘nen Eid kann ich darauf aber nicht ablegen.« »Ich werde mich schon durchfragen«, beruhigte Rander den Barkeeper. Er warf einen Dollarschein auf die Theke und bestellte sich einen Drink. »Der Rest ist für Sie. Sagen Sie, stammt Helen hier aus Frisco?« »No, bestimmt nicht. Sie kommt aus Los Angeles. Das weiß ich ganz genau.« »Keine Verwandten hier?« »Noch nicht mal ‘ne alte Tante«, behauptete der Barkeeper. »Ich müßte das wissen. Sie kam zu uns, als sie hier in der Stadt aufkreuzte. Früher war sie nett und nicht so hochgestochen wie jetzt.« »Sie läßt sich hier bei Ihnen nicht mehr sehen?« »Aus der Traum, seitdem sie abgehauen ist. Vielleicht hat sie aber auch nur ein schlechtes Gewissen.« »Wieso?« »Na, weil sie nach ein paar Monaten schon abgehauen ist.« Mike Rander stellte noch weitere Fragen, aber sie brachten ihn nicht 33 �
weiter. Der Barkeeper hatte nichts Wesentliches mehr zu sagen. Nun kam es darauf an, Parker zu finden. Rander war gespannt, was sein Butler inzwischen erreicht hatte… * Der Mann mit der Sonnenbrille, der Chef der beiden Gangster, schaute auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten lang hatte er diesen alten Burschen seinen beiden Schlägern ausgeliefert. Es wurde Zeit, einzuschreiten. Der Mann war sicher, daß dieser Parker inzwischen gesungen hatte. Er schritt durch das Treppenhaus, stieg über die Betonstufen hinauf ins Erdgeschoß, um von dort aus zum Büro zu gehen. Je näher er kam, desto deutlicher waren die dumpfen Schläge zu hören. Der Mann mit der Sonnenbrille grinste dünn. Seine beiden Schläger leisteten ganze Arbeit. Wen sie sich vornahmen, der sang in allen Tonarten. Vor der Tür blieb der Mann kurz stehen. Er hörte ein Stöhnen, ein unterdrücktes Schnaufen, ein Wimmern. Dazwischen immer wieder die dumpfen Schläge, die von den Gummischläuchen verursacht wurden. Er öffnete die Tür. Und er blieb im gleichen Moment wie angewurzelt stehen.
Josuah Parker stand neben dem Tisch. In der Hand hielt er einen der beiden Gummischläuche. Damit schlug er in ungleichmäßigen Abständen auf den Tisch. Parker untermalte dieses Geräusch mit Stöhnen und Wimmern. Die beiden Schläger lagen auf dem schmutzigen Bretterboden und spuckten Gift und Galle, soweit sie es konnten. Parker hatte sie mittels einer Handschelle raffiniert miteinander verbunden. Die Handschelle koppelte den linken Arm an das rechte Bein der beiden Schläger. »Treten Sie näher«, forderte Parker den Bandenchef auf. »Leider sah ich mich gezwungen, etwas energisch zu werden. Ich hasse es, auf diese Art und Weise befragt zu werden.« Der Bandenchef nickte, grinste breit, als verstehe er Spaß und… sprang den Butler im gleichen Moment an. Er hatte sehr viel Fahrt. Und er schoß an Josuah Parker vorbei, der es vorgezogen hatte, schnell zur Seite auszuweichen. Der Bandenchef stolperte über einen seiner Schläger, verlor das Gleichgewicht und rammte mit der linken Schulter gegen die Steinwand. »Sie benehmen sich ausgesprochen jungenhaft und unüberlegt«, tadelte Parker seinen Besucher, der sich mühsam auf die Beine stellte. »Wäre es nicht besser, sich in aller Form und Ruhe zu unterhalten?« Der Bandenchef wollte es nicht 34 �
einsehen. Er setzte sich die Sonnenbrille zurecht und ließ seine rechte Hand am Rock hochklettern. Ihr Ziel war ganz sicher das Schulterpolster, in dem sich mit noch größerer Wahrscheinlichkeit eine Schußwaffe befand. »Aber so nehmen Sie doch Platz«, forderte Parker den Bandenchef auf. Mit der Spitze des Universal-Regenschirms wies er auf den freien Stuhl. Der Bandenchef nickte, ließ seine Hand vorschnellen und’ wollte nach seiner Waffe greifen. Genau in diesem Moment änderte die Spitze des Universal-Regenschirms die Marschrichtung. Sie fuhr auf den Hals des Bandenchefs zu und erbebte leicht, als Josuah Parker auf einen am Griff versteckt angebrachten Knopf drückte. Dadurch wurde ein langer, nadelspitzer, wippender Stockdegen freigemacht, der unten aus der Schirmspitze hervorzischte. Die Spitze dieses Degens blieb auf dem Adamsapfel des Bandenchefs liegen. »Ich möchte doch nicht hoffen, daß Sie Dummheiten machen wollen«, meinte Parker höflich. »Sie glauben nicht, wie sehr ich Blutvergießen verabscheue. So setzen Sie sich doch bitte! Mit wem habe ich übrigens das äußerst seltsame Vergnügen?« Der Bandenchef wagte sich nicht zu rühren. »Ihre Antwort, wenn ich höflichst bitten darf«, ermahnte Parker seinen
Gast. »Wie heißen Sie?« »Mike Unnings«, stotterte der Bandenchef nach einer kleinen Schaltpause. »Aber, aber…« Parker schüttelte verweisend den Kopf. »Wer will mich denn anlügen? Habe ich nicht vielmehr einen Mr. Ted Surtees vor mir?« Und ob er ihn vor sich hatte! Der Bandenchef zuckte zusammen, als habe ihn die Degenspitze angeritzt. »Ich schlage vor, Sie legen Ihre Brieftasche auf den Tisch«, redete der Butler weiter. »Ist es nicht zu komisch, Mr. Surtees, daß wir es immer wieder mit Brieftaschen zu tun haben? Ich könnte mich, wenn ich recht überlege, vor Vergnügen kugeln.« Der Bandenchef fand zu seiner Sprache zurück. »Überspannen Sie bloß nicht den Bogen«, sagte er gereizt. »Schön, jetzt sind Sie am Drücker. Aber das kann sich ändern!« »Die Brieftasche bitte«, mahnte Parker höflich. »Mit meinen Nerven ist es eigenartig, wie ich gestehen muß. Sie sind vollkommen in Ordnung, wenn man sich meinen Wünschen fügt und ihnen nachkommt. Ist das aber nicht der Fall, so geraten sie in eine Vibration, der ich nicht Herr werden kann. Dann sind es die Nerven, die mich und meinen Degen beherrschen.« Und wirklich, Parkers Arm und 35 �
Hand gerieten in eine gefährliche Vibration. Sie setzte sich im Regenschirm fort. Die Degenspitze begann zu flattern. Sie rutschte über den Hals des Bandenchefs, der erschreckt zu schnaufen begann. »Warten Sie«, sagte der Mann mit gepreßter Stimme. »Ich rücke sie ja schon ‘raus.« Sekunden später lag die Brieftasche auf dem Tisch. Parker faltete sie auseinander und wußte nach wenigen Sekunden, daß er es mit Mr. Ted Surtees zu tun hatte. Damit hatte er den Absender des Telegramms gefunden, das Frank Carpenter, wenn auch auf Umwegen, in den Tod geschickt hatte. »Kommen wir nun endlich zur Sache«, sagte Parker nach Prüfung der Brieftasche. »Warum wurde Carpenter im ›Jackson‹ ermordet? Sie sind zwar nicht sein Mörder, wie ich unterstellen möchte, aber Sie müssen eine ungefähre Ahnung haben, wer es sein kann.« Bevor Ted Surtees antworten konnte, wurde sein Name laut und deutlich gerufen. Die Stimme kam aus dem Treppenhaus. »Hilfe…!!!« brüllte Surtees mutig zurück und ließ sich von der Degenspitze nicht länger in Schach halten. Parker schüttelte den Kopf. »Wie schade, daß unser Gespräch unterbrochen wird«, sagte er bedauernd. »Zumal ich Ihnen ein Austauschgeschäft vorschlagen wollte.
Aber Sie wissen ja wahrscheinlich, wo ich zu finden bin. Vielleicht sieht man sich zu einem späteren Zeitpunkt einmal wieder.« Er wirbelte den Universal-Regenschirm herum. Der Bambusgriff hakte hinter den Unterschenkel. Ein kurzer Ruck, und Ted Surtees lag am Boden. Parker lüftete höflich seine schwarze steife Melone und verschwand hinter der Tür, die ins Lager führte. Übrigens keine Sekunde zu früh, denn zwei aktionsbereite Männer stürmten das Büro. Sie hielten Revolver in Händen. Sie hatten den Hilferuf genau gehört. »Ihm nach…!« brüllte Surtees mit sich überschlagender Stimme. »Bringt ihn um, diesen Hund. Er darf nicht entwischen…!« * Josuah Parker hatte keineswegs die Absicht, hinunter in die Tiefgarage zu fliehen. Gewiß, er wollte sich absetzen und die Unterhaltung mit den Gangstern vorerst mal beenden. Es entsprach aber nicht seinem Gefühl für Würde und Gemessenheit, sich wie einen scheuen Hasen herumhetzen zu lassen. Aus diesem Grund ließ er sich wieder einmal etwas einfallen. Parker erinnerte sich, Kisten und Fässer gesehen zu haben. Seiner bescheidenen Ansicht nach ließ sich 36 �
daraus etwas machen. Es mußte allerdings schnell geschehen, denn sein Vorsprung war ja nicht besonders groß. Die ersten Schüsse fielen. Sie lagen erfreulicherweise recht schlecht und zischten über seinen Kopf hinweg in die großen Baumwollballen hinein. Parker erreichte die Fässer, die aufeinandergestapelt waren. Sein Universal-Regenschirm trat in Aktion. Blitzschnell schraubte er den Bambusgriff vom Schirmstock los und entrollte das lange, dünne und ungemein zähe Nylonseil. Er warf die Bambuskrücke als eine Art Enterhaken hoch und hatte sofort Erfolg. Der Griff verfing sich hinter einem Faßrand. Parker strammte das Nylonseil. Als er zusätzlich seine Muskeln strammte, kam das obere Faß eines Stapels aus dem Gleichgewicht und landete donnernd auf dem Betonboden. Salzlake spritzte aus den auseinanderplatzenden Faßdauben. Einige Salzheringe machten sich selbständig und schlidderten über den glatten Boden. Das nächste Faß…! Und dazwischen immer wieder Schüsse. Die verfolgenden Gangster hörten zwar den Krach, doch sie konnten noch nicht ausmachen, um was es sich handelte. Parker löste das nächste Faß vom Stapel. Es fiel bedeutend sanfter zu
Boden, wurde von der Masse der eingesalzenen Heringe abgefedert. Dieses Faß machte sich auf den Weg und rollte langsam, dann schneller werdend, durch die Gasse zwischen den hohen Baumwollstapeln. Die beiden schießenden Gangster hörten ein Poltern und Rumpeln. Dann sahen Sie das Faß, das auf sie zurollte. Seitlich wegspringen war unmöglich. Dazu war die Gasse viel zu eng. Die beiden Gangster drehten sich auf ihren Absätzen um und preschten zurück zum Büro. Sie wurden von dem Faß verfolgt, das allerdings nach einigen weiteren Metern an einem vorspringenden Baumwollballen hängenblieb. Wütend machten die beiden Schützen sich wieder an die Verfolgung. Sie fühlten sich düpiert und auf den Arm genommen. Verfolgungsjagden dieser Art waren ihnen bisher unbekannt geblieben. Dabei gerieten sie in den Bereich der Salzheringe, die sich auf dem Betonboden breitgemacht hatten. Glatteis war ausgesprochen stumpf gegen die wabbelige Masse. Die beiden Meisterschützen purzelten übereinander, fielen sich hilfesuchend gegenseitig in die Arme und landeten anschließend in der aufspritzenden Salzlake. Sie verschmierten sich die Augen, fühlten das beißende Brennen unter den Lidern und steckten auf. Mit 37 �
weichen Knien, wankend und fluchend, arbeiteten sie sich aus den Heringen heraus und traten den Rückzug an. * Ted Surtees war nicht untätig geblieben. Während seine beiden Gunner Parker verfolgten, kümmerte der Bandenchef sich um die beiden anderen Männer, die sich mit Parkers Handschelle abmühten. Surtees gab schnell auf. Hier half nur eine erstklassige Feile, um die beiden Männer voneinander zu trennen. Dazu hatte er aber keine Zeit. Es ging darum, Parker am Verlassen dieses Lagerschuppens zu hindern. Er durfte nicht entwischen. Er wußte bereits viel zuviel. Ted Surtees durfte nicht das Risiko eingehen, daß Parker sich an die Polizei wandte und ihn verriet. Damit flog dann ein Geschäft auf, das sich seit langer Zeit sehr gut bewährt hatte. Surtees war bereit, alles zu tun. Er rechnete damit, daß Parker hinunter in die Tiefgarage flüchtete. Einen anderen Fluchtweg kannte er ja schließlich nicht. Um Parker aus dem Hinterhalt abzufangen, falls es ihm gelang, den Gaunern zu entkommen, benutzte Surtees zwar einen Umweg, doch er hatte den Vorteil, sich frei und ungehindert
bewegen zu können. Er stürzte zurück in das Treppenhaus, flog förmlich die Steinstufen hinunter und landete im Keller des Lagerhauses. Sein Weg führte ihn durch Gewölbe, die mit Waren aller Art vollgestopft waren. Surtees brauchte nur knapp fünf Minuten, bis er neben dem Lastenaufzug stand. Hier wollte er Parker erwarten und abfangen. Und wirklich, schon nach wenigen Sekunden hörte er über sich einen Krach, als stürzte die Decke ein. Unwillkürlich nahm er den Kopf zwischen die Schultern. Er hob die entsicherte Waffe an. Lange Sekunden verstrichen. Der Lastenaufzug rührte sich nicht. Aber dann, nach einem Quietschen und Scharren im Schacht, wurde der Lastenaufzug tatsächlich in Bewegung gesetzt. Surtees wollte darauf verzichten, Parker Fragen zu stellen. Ihm genügte es den Butler mit einigen gezielten Schüssen für immer zu erledigen. Damit war dann sein Inkognito gewahrt. Darauf kam es jetzt ausschließlich an. Da war der Lastenaufzug. Surtees sah die Umrisse einer Gestalt, die sich in der hinteren Ecke des Aufzugs herumdrückte. Das war Parker…! Ted Surtees riß die Waffe hoch und feuerte einige Schüsse auf diese Gestalt ab. Eine wilde innere Befrie38 �
digung erfüllte ihn. Er wußte, daß er getroffen hatte. Auf seine Hand hatte er sich bisher immer noch verlassen können. Und ob er getroffen hatte. Blut spritzte aus der Gestalt. Doch dieses Blut roch penetrant nach Salz. Surtees begriff zuerst nicht. Er beugte sich etwas vor, um besser sehen zu können. Dann sah er seinen peinlichen Irrtum ein. Er hatte nicht den Butler, sondern zwei kleine aufeinandergestellte Salzheringfässer beschossen. Und sogar getroffen. Im gleichen Moment erklang oben vom Schacht her ein fröhliches Auflachen, das an das ausgelassene Meckern einer Ziege erinnerte. »Ich ziehe es mit Ihrer Erlaubnis vor, Sir, einen anderen Weg zu benutzen!« rief Parkers Stimme nach unten. »Damit wir uns verstehen, Mr. Surtees, ich beabsichtige nicht, die Polizei einzuschalten. Ich hoffe, daß wir früher oder später doch noch handelseinig werden können. Ich erlaube mir, mich zu empfehlen.« Surtees war zuerst starr vor Wut. Dann sprang er in den Aufzug hinein und schoß nach oben, obwohl ihm sein Gefühl sagte, daß es reine Munitionsverschwendung war. Seine Vermutung war natürlich richtig. Josuah Parker schritt schon zurück
durch den Lagerschuppen. Mit sicherem Gefühl fand er bald eine Möglichkeit, diesen ungastlichen Ort zu verlassen. Er hätte vielleicht die Möglichkeit gehabt, Surtees zu überlisten und außer Gefecht zu setzen. Aber was wäre damit gewonnen worden? Surtees hätte freiwillig niemals seine Karten auf den Tisch gelegt und gesagt, welche sonderbaren Geschäfte ihn mit Frank Carpenter verbunden hatten. Nein, Parker hielt es für richtiger, daß Surtees sich um ihn bemühte und mit interessanten Angeboten aufwartete. Gewiß, ein lebensgefährliches Spiel, vorsichtig ausgedrückt. Doch Parker spielte meist sehr hoch, um noch höher gewinnen zu können… * »Ich möchte annehmen, daß die kommende Nacht ruhig verlaufen wird«, sagte Josuah Parker zu seinem jungen Herrn, Anwalt Mike Rander. Parker hatte seine Erlebnisse geschildert und auch den Bericht Mike Randers entgegengenommen. Es war so etwas wie eine Pause eingetreten. Die Gangster warteten ab. Parker und Mike Rander genossen die Verschnaufpause. Für die Zeit ihres Aufenthaltes in San Francisco bewohnten sie einen 39 �
kleinen Bungalow in der Nähe des Marina Parks, an der Nordspitze von Frisco. Der langgestreckte, flachgedeckte Holzbau ließ Luft und Sonne herein. Die vielen Glasflächen waren aber auch eine freundliche Aufforderung an Gangster, doch näherzutreten. »Auf Ihre Prognose möchte ich mich lieber nicht verlassen«, meinte Anwalt Rander. Er deutete auf die Fenster. »Wer weiß, ob gewisse Gangster nicht schon durch das Gelände schleichen.« »Mr. Ted Surtees wird hier bestimmt nicht erscheinen«, antwortete der Butler. »Er wird die Überreichung meiner Visitenkarte für eine Falle halten.« »Glauben Sie, daß Surtees Frank Carpenter im ›Jackson‹ umgebracht hat?« »Es sieht nicht danach aus, Sir. Die Ermordung Carpenters dürfte auf ein anderes Konto gehen.« »Eben. Und dieser Mörder läuft noch frei herum, Parker. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wer es sein könnte. Mit diesem Mörder müssen wir rechnen.« »Ich beuge mich Ihren Argumenten«, räumte Josuah Parker ein. »Unter diesen Aspekten dürfte es dann doch wohl angebracht sein, den Bungalow zu räumen.« »Sage ich doch die ganze Zeit.« Mike Rander lachte auf. »Und was Ihren Surtees angeht, so sehe ich
schwarz, Parker. Dieser Gangster wird bereits die Stadt verlassen haben. Glauben Sie wirklich, er traut Ihnen und rechnet damit, daß Sie der Polizei gegenüber den Mund halten?« »Ich möchte es annehmen, Sir.« »Ich nicht, Parker. Sie sind zu optimistisch. Wir hätten uns Surtees gleich nach Ihrer Flucht vorknöpfen sollen. Aber damit ist es nun vorbei. Er dürfte sich spurlos abgesetzt haben.« »Nicht ganz, Sir.« »Sie wissen, wie wir Kontakt mit ihm halten können?« »Vielleicht auf dem Umweg über jene Miß Helen Angus, die zu beobachten Sie die Freundlichkeit hatten, Sir.« »Was hat Miß Angus mit Surtees zu tun?« »Ich möchte unterstellen, daß sie sich kennen, Sir.« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Miß Helen Angus hat, wie Sie von dem bewußten Barkeeper erfuhren, keine Verwandten hier in San Francisco. Mir versicherte sie, sie sei die Nichte des ermordeten Frank Carpenter. Sie führte ihm angeblich den Haushalt. Nach Mr. Carpenters Ermordung verlor sie keine Zeit, die Wohnung ihres angeblichen Onkels zu verlassen und zurück in ihre eigene Wohnung in der Mason Street zu fahren. Mit anderen Worten, Sir, Miß Helen Angus dürfte ein 40 �
doppeltes Spiel treiben.« »Das könnte tatsächlich sein«, gab Mike Rander nachdenklich zurück. »Ich schlage vor, wir sehen uns dieses Nachtlokal ›Frisco-Star‹ einmal aus der Nähe an, Parker.« »Sie entheben mich der Mühe, Sir, diesen Vorschlag selbst zu unterbreiten«, gestand Josuah Parker. »Ich habe mir gestattet, die Lage dieses Nachtclubs in Erfahrung zu bringen. Wenn Sie wünschen, Sir, könnten wir sofort fahren. Und auf dieser Hinfahrt vielleicht noch einmal im ›Jackson‹ vorbeisehen.« »Wie bitte?« wunderte sich Mike Rander. »Einblick in die bewußte Brieftasche nehmen, Sir, um die es geht.« »Wie bitte?« Mike Rander war sprachlos. »Diese Brieftasche ist nicht verschwunden?« »Sie wurde durch einen glücklichunglücklichen Zufall vertauscht«, berichtete Parker, der diese Tatsache vor einer knappen Stunde per Telefon von Chefdetektiv Hassler erfahren hatte. »Hausdetektiv Porch, der im Lift von einem bestohlenen Kunden angefallen wurde, verlor nur seine eigene Brieftasche, nicht aber die des bestohlenen.« »Donnerwetter, das wird uns weiterhelfen.« »Chefdetektiv Hassler fragte an, ob er die Brieftasche der Polizei übergeben solle. Ich schlug ihm freundlichst vor, damit noch etwas zu war-
ten. Ich möchte sie mir ansehen.« »Gehen wir«, meinte Rander. Er überlegte und fand dann seinen Faden. Er wandte sich an Parker. »Sagen Sie, Parker, haben Sie das Telegramm aus Carpenters Jackett an die Polizei weitergereicht?« »Oh, ich fürchte, das ist mir im Eifer des Gefechts glatt entgangen, Sir.« Parker sah sehr unschuldig aus. »Kann ja passieren«, meinte Anwalt Rander und schmunzelte. »Ich würde das aber schleunigst nachholen und das Telegramm weiterleiten. Ich möchte mit den Behörden hier in Frisco keinen Ärger haben, Parker.« »Sie können sich wie immer fest auf mich verlassen, Sir«, versprach Josuah Parker. »Welche Waffe bevorzugen Sie übrigens für den geplanten, gemeinsamen Ausflug? Einen 38er oder lieber eine automatische Waffe?« »Eine Gegenfrage, Parker. Könnten Sie mir, falls ich es wünsche, auch einen mittelschweren Granatwerfer oder einen Panzer besorgen?« »Gewiß, Sir.« Parker zuckte nicht mit der Wimper. »Dazu müßten Sie mir allerdings etwa eine gute Stunde Zeit lassen…« * Noch eine Stunde bis zum vereinbarten Treffpunkt. Der Mörder von Frank Carpenter, 41 �
Walt Hyman, stand auf der Rückseite des ›Jackson‹ und schätzte die Möglichkeiten ab. Er mußte natürlich mit Nachtwächtern rechnen. Solch ein großes Haus wurde bestimmt nicht unbewacht gelassen. Mit wie vielen Leuten er rechnen mußte, wußte Hyman nicht. Die Todesangst saß ihm im Nacken. In genau einer Stunde erwartete ihn der Auftraggeber an der Twin Peaks. Er wartete auf die Übergabe der bewußten Brieftasche. Mit faulen Ausreden oder Entschuldigungen durfte er diesem Mann nicht kommen. Zu lange schon hatte er ihn hingehalten. Walt Hyman schlenderte langsam auf das Einfahrtstor zu. Durch das geöffnete Tor konnte er den breiten Eingang für die Hausangestellten erkennen. Es gab zwei verglaste Pförtnerhäuschen. In einem dieser Verschläge saß ein Nachtportier. Er machte Eintragungen in ein dickes Buch. Walt Hyman hielt sich nicht mit langen Überlegungen auf. Er vertraute seinem guten Stern. Er ging mit festen Schritten auf den Glasverschlag zu, als gehöre er zum Haus. Er sah, daß der Nachtportier den Kopf hob. »Sind die Leute schon da?« fragte Hyman mit kühler, gelassener Stimme. »Welche Leute?« Der Nachtportier
sah ihn fragend an. »Die Elektriker«, antwortete Hyman in einem Ton, als sei seine Frage die selbstverständlichste Sache von der Welt. »Hier ist mein Passierschein.« Er griff in die Rocktasche und… zog seine Schußwaffe hervor. Der Portier riß die Augen weit auf, schluckte und hob zögernd die Arme. »Kommen Sie aus dem Aquarium ‘raus«, kommandierte Hyman. »Beeilung, mein Junge, wenn du noch länger leben willst.« »Nicht schießen, nicht schießen«, wiederholte der ältere Mann mit zitternder Stimme. »Ich spiele ja mit.« »Machen Sie schon…!« Hyman wartete, bis der Portier den Glasverschlag verlassen hatte. Mit dem Lauf der automatischen Waffe dirigierte er den eingeschüchterten Mann in den Eingang des Hauses. »Keine Sorge, ich will nicht die Kasse klauen«, sagte Hyman. »Wo finde ich das Büro der Hausdetektive?« »Vierter Stock«, leierte der Portier mit versagender Stimme herunter. »Kommen Sie mit ‘rauf«, meinte Hyman in plötzlichem Entschluß. »Es knallt, wenn Sie Dummheiten machen.« »Ich werde… keine Dummheiten… machen«, stöhnte der Portier. Er sah kreideweiß aus. 42 �
Seine Lippen bebten. »Reißen Sie sich zusammen. Diese Mätzchen ziehen bei mir nicht.« Gnadenlos klang die Stimme des Mörders. Er schlug mit der flachen Hand in das Gesicht des fassungslosen Mannes. Dann trieb er ihn auf den Lift zu. »Vierter Stock«, wiederholte Hyman. »Wehe, mein Junge, wenn Sie mich belogen haben…!« * »Ich möchte meiner Überraschung darüber Ausdruck verleihen, Sir, daß der Nachtportier seinen Platz verlassen hat.« Butler Parker und Mike Rander hatten die Rückseite des ›Jackson‹ erreicht und waren aus Randers Leihwagen ausgestiegen. »Vielleicht wäscht er sich die, Hände«, deutete Mike Rander diskret an. »Auch ein Portier wird hin und wieder ein menschliches Rühren verspüren.« »Dann hätte er die Scherengitter herabgelassen, Sir.« »Also, was vermuten Sie wieder einmal, Parker?« »Der Portier dürfte gegen seinen Willen den Glasverschlag verlassen haben, Sir.« »Mit anderen Worten?« »Er ist gezwungen worden, ins Haus zu gehen.« »Sie denken an einen Überfall?«
fragte Rander leise. »Mehr an die Brieftasche, Sir, wenn ich darauf hinweisen darf. Sie befindet sich im vierten Stock, im Büro von Chefdetektiv Hassler.« »Dann los«, entschied der junge Anwalt. »Kaum zu hoffen, daß wir auf der Spur von Carpenters Mörder sein könnten.« Die beiden äußerlich so ungleichen Männer benutzten die Feuertreppe, um hinauf in die vierte Etage zu kommen. Obwohl Mike Rander mit seinen 38 Jahren wesentlich jünger war als sein Butler, konnte er ihn nicht abhängen. Sie erreichten die vierte Etage. Parker wies auf einen Feuerlöscher, der an der Wand angebracht war. »Hätten Sie etwas dagegen, mir den Rücken zu decken, Sir?« fragte er leise. »Wie stellen Sie sich das vor?« »Falls der Mörder aufgeschreckt wird und flüchtet, Sir, könnten Sie ihm mittels des Feuerlöschers einen Gleitteppich aus Trockenschaum bereiten.« »Keine schlechte Idee.« Rander grinste. Bevor er aber weitere Fragen an Parker richten könnte, hatte der Butler sich bereits empfohlen. Mike Rander merkte, daß Parker ihn wieder einmal raffiniert abgelenkt und hereingelegt hatte. Doch er hielt sich an die Abmachung. Es 43 �
war schon richtig, was Parker vorgeschlagen hatte. Einen Gegner nahm man besser in die Zange. Falls es nämlich zu Komplikationen kam… * Hyman riß dem Nachtportier den Hauptschlüssel aus der Hand. Mit diesem Schlüssel ließen sich alle Schlösser im ›Jackson‹ öffnen, nur nicht die Tresors. Aber damit hatte Walt Hyman ohnehin nicht gerechnet. Ihm genügte es vorerst, in das Büro von Chefdetektiv Hassler hineinzukommen. Ohne den Nachtportier aus den Augen zu lassen, schloß er die Tür auf. Ein kurzer Wink mit der Automatic genügte, damit der Portier das Büro betrat. »Drehen Sie sich zur Wand um«, kommandierte Hyman. Er konnte den alten Mann nicht mehr gebrauchen. Er hätte ihn beim Suchen nach der Brieftasche nur gestört. Heftig wandte sich der Mann um. Und bevor er überhaupt begriff, was sich hinter ihm tat, schlug Hyman mit dem Lauf der Waffe zu. Der Nachtportier stieß einen unterdrückten Seufzer aus. Dann brach er in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Hyman kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er blieb einen Moment stehen und sah sich die Regale und Aktenschränke an. Dann schritt er
hinüber zum Schreibtisch. Hier wollte er mit seiner Suche nach der Brieftasche beginnen. Die Schublade des Schreibtisches war fest verschlossen. Hyman fluchte, nahm sich gar nicht erst die Zeit, sie mit einem Nachschlüssel zu öffnen, sondern griff nach einem starken Brieföffner und klemmte damit das leichte Schloß auf. Viel zu schnell und viel zu hastig sortierte er den Inhalt der Lade durch. Die Brieftasche war nicht zu sehen. Nun kamen die beiden Seitenfächer des Schreibtisches an die Reihe. Auch hier trat der Brieföffner erneut in Aktion. Walt Hyman wütete wie ein Vandale. Seine Hände zitterten. Heftig und schnell ging sein Atem. Viel Zeit hatte er ja nicht. Auch die beiden Seitenfächer enthielten nicht die gesuchte Brieftasche. Hymans Nervosität steigerte; sich zur Panik. Er fragte sich zum erstenmal, ob die Brieftasche überhaupt noch im ›Jackson‹ war. Was aber war, wenn man sie bereits der Polizei übergeben hatte? Er zwang sich zur Ruhe. Hyman blieb vor einem geschlossenen Rollschrank stehen. Ob er hinter dem Rollverschluß die Brieftasche fand? War es nicht sinnlos, weiter nach ihr zu suchen? Die Zeit verstrich, schmolz immer mehr zusammen. In vierzig Minuten mußte er bereits an den Twin Peaks sein. 44 �
Hyman steckte auf. Er ging achtlos an dem am Boden liegenden Nachtportier vorbei, wollte hinaus auf den Korridor treten, als eine Hand nach seinem linken Fußgelenk griff und es festhielt. Der Nachtportier war zu sich gekommen. Noch konnte er nicht klar denken. Instinktiv aber wollte er den nächtlichen Eindringling festhalten. Daß er sich damit in unmittelbare Lebensgefahr begab, merkte er in seinem Eifer gar nicht. Zuerst war der Mörder zusammengezuckt. Der Griff nach seinem Fußknöchel war zu überraschend gekommen. Als er aber sah, wer ihn stoppen wollte, da schoß Zornesröte in sein Gesicht. Er fand in dem hilflosen Mann am Boden so etwas wie einen Blitzableiter für seinen Ärger. Der Mörder winkelte seinen Arm an. Der Lauf der Automatic senkte sich auf den Nachtportier. Hyman war bereit, den Mann niederzuschießen…! * »Wie unnötig und sinnlos!« Walt Hyman hörte hinter sich eine ruhige, fast gelassene Stimme. Er wirbelte sofort herum. Der Nachtportier hatte Zeit. Der lief ihm nicht weg. »Sie zwingen mich zu Maßnahmen, die ich selbst nicht sonderlich schätze«, redete Josuah Parker wei-
ter. Dann schlug er mit seinem Universal-Regenschirm zu. Walt Hyman kam nicht mehr dazu, einen Schuß zu lösen. Hart wurde sein Handgelenk getroffen. Die Waffe fiel polternd zu Boden. Ein geschickter Fußtritt des Butlers beförderte sie unter den Schrank rechts von der Tür. Er sah vor sich nur einen sehr konservativ gekleideten Mann, der einfach kein ernsthafter Gegner sein konnte. Hyman warf sich auf diesen Mann. Seine Fäuste flogen durch die Luft. »Sie echauffieren sich völlig unnötig«, sagte Parker mit vorwurfsvoller Milde. Er trat elegant wie ein Torero zur Seite. Walt Hyman schoß mit großer Fahrt an ihm vorbei. Doch nicht schnell genug. Butler Parker fand noch hinreichend Zeit, den Bambusgriff seines UniversalRegenschirms auf den Hinterkopf des Mörders zu legen. Die Korridorwand bremste den Flug des Gangsters. »Ich möchte annehmen, daß Sie eine Brieftasche suchen«, sagte Parker. »Wer… wer sind Sie?« fragte Walt Hyman mit schwerer Zunge. »Namen sind Schall und Rauch«, stellte Josuah Parker fest. »Begnügen Sie sich mit der Tatsache, daß ich mich genauso für die Brieftasche Carpenters interessiere wie Sie.« »Sind Sie…« Der Mörder hielt ein. 45 �
Er sah etwas, was ihn mit großer Freude erfüllte. Der Nachtportier war auf den Beinen. Er stand bereits dicht hinter dem Butler. Und er hatte seinen Schlüsselbund zum Schlag erhoben. Er hielt den Butler für seinen Gegner. Und den wollte er schnell und nachdrücklich von den Beinen bringen. Parker bemerkte das Stutzen seines Gegenübers. Bevor er jedoch schalten konnte, donnerte das Schlüsselbund auf seine Melone. Nun, es richtete keinen Schaden an. Die schwarze steife Melone war immerhin mit solidem Stahlblech gefüttert. Parker sah sich aber immerhin veranlaßt, sich umzudrehen, um den Irrtum richtigzustellen. Walt Hyman nutzte diese kleine Verwirrung. Schnell war er auf den Beinen und lief den Korridor hinunter. Parker war nicht gewillt, diesen Mann entwischen zu lassen. Er nahm seine Melone vom Kopf und schickte sie auf die Reise. Wie ein Bumerang kreiselte sie hinter dem flüchtenden Mörder her. Sie war wesentlich schneller. Hyman spürte plötzlich einen Luftzug auf den Nackenhaaren. Bruchteile von Sekunden später erhielt sein Kopf einen harten Schlag, Hyman verdrehte die Augen, ging in die Knie und stürzte zu Boden. »Zwingen Sie mich nicht, meine Waffe zu benutzen«, rief Parker mit
merklich erhobener Stimme. Er hielt einen vorsintflutlich aussehenden Colt in der Hand, den man zu Zeiten der Goldgräber als veraltet abgelehnt hatte. Parker schritt würdevoll auf Hyman zu, der diesmal nicht so schnell wieder zu sich kam. Parker hob die Melone auf und setzte sie auf seinen Kopf. Er wandte sich an den Nachtportier, der ihn fassungslos und überrascht ansah. »Ich schlage vor, Sie kümmern sich nicht weiter um diesen Zwischenfall. Einzelheiten werde ich Ihnen später mitteilen. Jetzt geht es erst einmal darum, das Feld zu räumen.« Der Mann ließ sich von Parker willenlos wegziehen. Scheu schaute er sich an der Korridorbiegung nach Hyman um. Der Gangster lag noch immer besinnungslos am Boden… Hyman kam zu sich. Er faßte sich an den schmerzenden Hinterkopf. Er fühlte sich benommen, doch er wußte sehr genau, was passiert war. Vorsichtig sah er sich um. Wo war dieser seltsam schwarz gekleidete Mann mit dem ulkigen Regenschirm? Wo war der Nachtportier? Beide Männer waren nicht zu sehen. Holten sie Hilfe herbei? Lagen sie sich gegenseitig in den Haaren? Walt Hyman richtete sich auf, zog sich an der Korridorwand hoch und ging vorsichtig zurück in das Büro. 46 �
Er bückte sich und stöhnte. Im Hinterkopf schien sich ein Schmiedehammer zu betätigen. Doch das Bücken lohnte sich. Er entdeckte seine Waffe unter dem Schrank. Hyman warf sich bäuchlings auf den Boden, angelte mit der Hand nach der Schußwaffe und schnaufte zufrieden, als er sie ans Tageslicht ziehen konnte. In diesem Augenblick fühlte er sich schon wieder bedeutend besser. Der kalte Stahl der Waffe beruhigte seine Nerven. Hyman horchte in den Korridor hinaus. Alles war ruhig. Vorsichtig, unwillkürlich auf Zehenspitzen gehend, pirschte er sich an den Lift heran. Die Kabine befand sich im Erdgeschoß. Er riskierte es nicht, sie heraufzuholen. Dafür benutzte er die Feuertreppe. Auch im Treppenhaus war alles ruhig. Er dachte an eine Falle. Wartete man unten auf ihn? Warum hatte man ihn liegen lassen? Hyman begann zögernd mit dem Abstieg. Und er schaute auf seine Uhr. Noch knapp fünfzehn Minuten bis zum Treffen. Er setzte alles auf eine Karte und rannte die Treppenstufen hinunter. Die schußbereite Automatic hielt er in der Hand. Wenn es sein mußte, wollte er sich seinen Fluchtweg freischießen. Es gab keine Schwierigkeiten. Kein Mensch versuchte ihn aufzuhalten.
Hyman erreichte das Erdgeschoß, hastete an dem leeren Pförtnerverschlag vorbei und wollte auf das geöffnete Tor zulaufen. In diesem Augenblick sah er den Kombi, dessen Motor lief. Der Wagen war leer. Der Fahrer schien im Haus zu sein. Hyman nutzte seine Chance. Mit schnellen, langen Sätzen eilte er auf den Wagen zu, riß die Tür auf und setzte sich ans Steuer. Als er einkuppelte, hörte er laute Rufe hinter sich. Als er mit dem Wagen durch das Tor preschte, dröhnte ein Schuß. Das Geschoß jaulte am Wagen vorbei und blieb stecken. Hyman gab Vollgas. Trotz der Panne im Warenhaus lief doch noch alles glatt. Und was die Brieftasche anging, so wußte er bereits eine Lösung… Mit einer Verspätung von fast fünfzehn Minuten traf Walt Hyman an den Twin Peaks ein. Hyman ließ den Kombi auf dem Parkplatz stehen. Er verschwand sofort. Die entsicherte Automatic hielt er sicherheitshalber gleich in der Hand. Er wollte keine Zeit verlieren, wenn er seinem Partner gegenüberstand. Doch er kam zu spät. Der Mann, der sich am Telefon ›Kaiser von China‹ genannt hatte, war nicht mehr da. Hyman geriet in Panik. Sollte alles vergebens sein? Hatte er sich umsonst ein Bein aus47 �
gerissen, um doch noch halbwegs pünktlich zu den Twin Peaks zu kommen? Oder wartete sein Auftraggeber irgendwo versteckt auf ihn? Es war für Hyman zu gefährlich, die umliegenden Sträucher und Büsche nach diesem Mann abzusuchen. Nach dieser zweiten Panne galt es, so schnell wie möglich die Stadt zu verlassen. Jetzt war für ihn hier nichts mehr zu holen. Er beeilte sich, zurück zum Kombi zu kommen. Diesmal verzichtete der Mörder aus dem ›Jackson‹ darauf, in Deckung zu bleiben. Ja, er blieb unterwegs sogar stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er brauchte etwas für seine aufgeputschten Nerven. Da stand auch schon der Wagen. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihm. Walt Hyman ging um den Wagen herum, wollte die Tür öffnen. In diesem Augenblick hörte er seinen Namen. Er wurde leise, fast flüsternd gerufen. »Hyman, haben Sie die Unterlagen mitgebracht?« Der Mörder blieb sofort stehen. Er wußte nicht genau, von wo aus er angerufen worden war. Noch durfte er die Waffe nicht heben. »Die sind hier«, gab er ebenso leise zurück. »Sehr gut, wenn Sie mich auch warten ließen, Hyman. Legen Sie die
Brieftasche auf den Wagenkühler! Gehen Sie zurück dort zur Bank und warten Sie!« »Wer garantiert mir, daß ich die Quittung bekomme?« fragte Hyman nervös. »Ich…!« Das war die ganze Antwort. Hyman griff in seine Brusttasche und legte seine eigene Brieftasche auf den Wagenkühler. Dann ging er langsam zurück und schritt auf die angegebene Bank zu. Unterwegs drehte er sich um. Er sah eine Gestalt, die neben dem Wagen aufgetaucht war. Nur die Umrisse von ihr waren zu erkennen. Hyman riß den Arm hoch und feuerte kurz hintereinander zwei, drei Schüsse ab. Die Stille der Nacht hier oben auf den Twin Peaks wurde damit jäh unterbrochen. Die Gestalt am Wagen duckte sich ab. In diesem Moment ratterte von der Bank her eine Maschinenpistole los. Die Stille der Nacht existierte nicht mehr. Walt Hyman warf sich zwar zur Seite. Doch er spürte einige harte, schmerzende Schläge, die irgendwo seinen Körper trafen. Dann blieb er auf dem Weg liegen. Er hatte nicht das Bewußtsein verloren. Geistesgegenwärtig rührte er sich nicht. Er wollte die Maschinenpistole nicht noch einmal herausfordern. Eine Falle, dachte er, er hat mir 48 �
eine Falle gestellt. Er hat mich umbringen wollen. Ich darf mich nicht rühren. Ich muß mich tot stellen. Hoffentlich verschwinden sie sofort. Der Motor des Kombi heulte auf. Die eingeschalteten Scheinwerfer strichen sekundenlang über seinen Körper. Mein Gott, dachte der Mörder, sie wollen mich überfahren. Sie wollen mich überrollen. Er wollte aufspringen und weglaufen. Und er merkte, daß er die Beine nicht bewegen konnte. Sie schienen nicht mehr Teile seines Körpers zu sein. Er schrie entsetzt auf und schloß krampfhaft die Augen. Dann wartete er auf die Räder des Kombiwagens…! Der Mann, der auf Walt Hyman geschossen hatte, saß am Steuer eines Buick. Er stieß den Wagen rückwärts vom Parkplatz herunter und hielt kurz an. Ein zweiter Mann stieg schnell zu. Der Motor heulte auf. Der Schütze gab Vollgas und fuhr los. Er kam nicht weit. Ein unbeleuchteter Wagen löste sich vom Parkplatz. Er war etwas schneller als der Buick. Er schnitt ihm den Weg ab und nahm ihn, wie man sagen und es plastisch ausdrücken könnte, voll auf die Hörner. Blech riß kreischend auseinander, Glas splitterte, Reifen ließen zischend die Luft entweichen. Kurz
der Buick verwandelte sich innerhalb weniger Augenblicke in ein schrottreifes Wrack. Der Mann am Steuer schlug mit der Stirn gegen den Wagenpfosten und verlor das Bewußtsein. Sein Begleiter zeigte Neigung, mit dem Kopf zuerst durch die Frontscheibe zu fliegen. Die quergestellte Maschinenpistole hinderte ihn daran. Der Mann blieb in der bereits nicht mehr vorhandenen Scheibe, das heißt, genauer ausgedrückt, im leeren Rahmen stecken. Auch er war leicht verwirrt und begriff noch nicht recht, was sich zugetragen hatte. Er sah auch nicht den mittelgroßen, schlanken Mann, der den Kombiwagen verließ, der als Rammsporn gewirkt hatte. Dieser Mann war ungemein korrekt gekleidet, trug eine schwarze steife Melone und einen Regenschirm, der untadelig am linken Unterarm hing. Es war Josuah Parker, der sich den von ihm absichtlich bewirkten Schaden aus der Nähe ansah. Parker war sehr zufrieden, daß keine körperlichen Schäden eingetreten waren. Er nutzte die kurzzeitigen Ohnmachten der beiden Fahrer aus, sie mittels einer Handschelle miteinander zu verbinden. Dann entwaffnete er sie und kümmerte sich um Walt Hyman. Hyman, der überhaupt nicht begriffen hatte, was sich zugetragen hatte, war gefährlich wie eine Viper. 49 �
Er hörte Schritte, glaubte, seine Mörder wollten sich doch noch mal mit ihm beschäftigen, und riß seine automatische Waffe hoch. »Sie brauchen, wenn ich recht sehe, einen Arzt, aber doch nicht eine Schußwaffe«, sagte Parker mit tadelnder Stimme. »Werfen Sie sofort dieses unsympathische Instrument weg, wenn ich Ihnen Hilfe angedeihen lassen soll.« Walt Hyman gehorchte augenblicklich. In der Stimme, die ihn ansprach, war eine Überzeugungskraft, der er nicht widerstehen konnte. Klirrend landete die Automatic dicht vor Parkers Füßen. Er hob sie auf und steckte sie ein. »Ein erster Schritt in Richtung Vernunft«, sagte Parker dann. »Hoffentlich kommt er für Sie nicht zu spät. Die Maschinenpistole war etwas, womit selbst ich nicht rechnen konnte. Ich bitte, das nachträglich entschuldigen zu wollen.« »Schnell, einen Arzt!« stöhnte Hyman. »Gewiß, gewiß, alles zu seiner Zeit.« Parker orientierte sich schnell, aber auch umfassend, woran es Hyman fehlte. Er richtete sich auf. Er stützte sein Kinn auf den Griff seines Regenschirms. »Warum das alles?« fragte er dann. »Warum dieser sinnlose Mord an Frank Carpenter? Warum diese hektische Aufregung? Ich denke, Sie werden mir einige Fragen wahr-
heitsgemäß beantworten müssen.« »Ja doch, aber nicht jetzt«, stöhnte Hyman, der nun den Schmerz in seinen Beinen spürte. »Bringen Sie mich erst zu einem Arzt. Schnell!« »Sie bestimmen die Gangart meiner Schnelligkeit«, antwortete der Butler ungerührt. »Sagen Sie, wenn auch in kurzen Worten, warum Frank Carpenter ermordet wurde? Sagen Sie mir, welchen Wert die bewußte Brieftasche darstellt. Inzwischen werde ich Ihnen das anlegen, was man einen ersten Notverband nennt. Ich hoffe, Sie sind mit dieser Regelung einverstanden, dient sie doch unseren gemeinsamen Interessen…!« * »Ausgezeichnet, Parker, der Trick hat ja gewirkt«, meinte Mike Rander eine knappe halbe Stunde später. »Einen Moment lang glaubte ich wirklich, der Mörder hätte Lunte gerochen.« »Ich zweifelte nicht einen Moment daran, Sir, daß Walt Hyman den Kombiwagen besteigen würde«, gab Parker würdevoll und selbstsicher zurück. »Der Kombiwagen mit seinem laufenden Motor bot sich zur Flucht ja geradezu an. Walt Hyman nahm sich nicht die Zeit, in das Wageninnere zu sehen. Und ich meinerseits hielt es nicht für angebracht, meine Anwesenheit im Wagen 50 �
kundzutun.« »Was hat Hyman Ihnen gestanden?« wollte Anwalt Rander wissen. »Nicht nur mir, sondern auch der Kriminalpolizei legte er dar, warum er Frank Carpenter erdrosselt und anschließend am Kleiderständer im ›Jackson‹ aufknüpfte.« »Ich warte auf Einzelheiten.« »Nun, Sir, ich glaube, ich darf mich mit Ihrer Genehmigung kurz fassen«, begann Josuah Parker. Versprechen Sie mir nur nicht zuviel«, spottete der junge Anwalt, der genau wußte, wie barock sein Butler sich auszudrücken pflegte. »Frank Carpenter arbeitete für die Engineering Development«, begann Parker mit seinen angeblich kurz gefaßten Erläuterungen. »Er war Konstrukteur in der Abteilung für Raketensteuerung. Er verdiente sehr viel Geld, doch er wußte damit nicht sonderlich gut umzugehen. Seine Ausgaben überwogen die Einnahmen. Kurz, Mr. Frank Carpenter machte erhebliche Schulden. Und zwar in einer Bar, über die noch einige Worte zu verlieren sein werden. Carpenter unterschrieb Schuldscheine und befand sich plötzlich in den Fängen eines Agentennetzes. Er wurde gezwungen, Konstruktionsunterlagen seiner Firma zu fotografieren. Er hielt seine Auftraggeber mit unwichtigen Details hin. Bis sie
ihm, wie es so treffend heißt, das Messer an die Kehle setzten. Da Carpenter zu diesem Zeitpunkt von seiner Firma gekündigt worden war, hatte er keine Hemmungen mehr. Vielleicht sah er eine Gelegenheit, sich zu rächen. Kurz, er beschaffte die gewünschten Unterlagen und deponierte sie in seiner Brieftasche. Diese Brieftasche wollte er im ›Jackson‹ seinem Auftraggeber aushändigen.« »Bisher hört sich alles klar an, Parker. Walt Hyman kann dieser Auftraggeber aber nicht gewesen sein, oder?« »Natürlich nicht, Sir. Walt Hyman ist kein Agent, sondern ein ganz gewöhnlicher Gangster dieser Stadt. Nach seinen Angaben, an deren Richtigkeit ich keineswegs zweifle, übernahm er gegen gute Bezahlung den Auftrag, Frank Carpenter zu beschatten. Am bewußten Tag, an dem Sie und meine Wenigkeit im ›Jackson‹ von den Ereignissen geradezu überrollt wurden, sollte er sich an Carpenter heranmachen und ihm entweder heimlich oder mit Gewalt die Brieftasche entwenden. Carpenter witterte Unheil, als er sich Hyman gegenübersah. Er wollte, laut Hymans Aussage, schießen, wurde aber von Hyman niedergeschlagen, erwürgt und am Kleiderständer aufgehängt.« »Wer ist Hymans Auftraggeber, Parker?« 51 �
»Ein gewisser Mr. Ralph Pointer, Sir, jener Mann, der den Buick steuerte. Er und sein Begleiter mit der Maschinenpistole haben den Schock des Zusammenstoßes bereits überstanden und sind vernehmungsfähig. Sie streiten augenblicklich alles ab, doch es ist meiner bescheidenen Meinung nach nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr Leugnen aufgeben. Sie werden von Walt Hyman eindeutig belastet. Zudem fand sich in Pointers Jackett eine Sammlung von Quittungen.« »Quittungen? Worüber?« »Nun, richtiger müßte es heißen: Geständnisse. Walt Hyman bestätigt darauf mit seiner vollen Unterschrift, gewisse Straftaten in Los Angeles und hier in San Francisco begangen zu haben. Diese Geständnisse enthalten genaue Beschreibungen von kleineren und größeren Verbrechen. Damit dürfte Pointer Walt Hyman unter Druck gesetzt haben. Diese Geständnisse in seinem Jackett könnten zu einem Strick für Pointer werden, denn er wußte ja schließlich von diesen Verbrechen und hielt es nicht für notwendig, sich an die Behörden zu wenden.« »Haben Sie Hyman und Pointer nach Ted Surtees gefragt?« erkundigte sich Mike Rander. »Dazu hatte ich leider keine Möglichkeit«, gestand Parker. »Wieso nicht, Parker? Lange genug hielten Sie sich doch im Polizei-
Hauptquartier auf.« »Mir waren die Hände gebunden«, sagte Parker höflich. »Ich vergaß, Ihnen zu sagen, Sir, daß ich es versäumte, der Polizei das bewußte Telegramm auszuhändigen. Als es mir wieder einfiel, wollte ich die Verhöre nicht weiter stören. Ich hielt es für richtig, still und bescheiden zu gehen.« »Sagen wir es doch laut und deutlich«, gab Mike Rander zurück. »Sie haben die Nase noch immer nicht voll. Sie wollen sich nun auch noch um diesen Ted Surtees kümmern?« »Ich erlaube mir, diesen Vorschlag zu unterbreiten, Sir, zumal Mr. Surtees ja zum Gesamtkomplex dieses Falles gehört. Er ist es doch schließlich gewesen, wenn ich richtig vermute, der die Konstruktionsunterlagen in Empfang nehmen sollte. Mr. Pointer und Walt Hyman kamen Mr. Surtees ja nur zuvor. Sie sind das gewesen, was ich Konkurrenz-Agenten nennen würde.« »Sie haben gewonnen«, meinte der junge Anwalt und lächelte müde. »Machen wir also weiter. Sehen wir uns Surtees an. Und seine angebliche Nichte. Schlimmer als bisher kann es ja gar nicht kommen.« Parker, manchmal etwas abergläubisch, versäumte nach diesen Worten nicht, dreimal auf Holz zu klopfen… Am anderen Morgen erschien Josuah Parker wie gewöhnlich im 52 �
›Jackson‹. Die wilden Abenteuer der vergangenen Stunden schienen ihm nichts ausgemacht zu haben. Er war zurückhaltend, würdevoll und gemessen wie immer. Chefdetektiv Hassler vom ›Jackson‹ sah ihn lächelnd an. »Mich hat es vom Schlitten gehauen«, sagte er mit Hochachtung in der Stimme. »Ehrlich gesagt, Mr. Parker, ich habe gegrinst, als ich sie zum erstenmal sah.« »Ich bemerkte es«, antwortete Josuah Parker. »Ich beging natürlich nicht den Fehler, Ihnen dieses Lächeln übel zu nehmen. Ich habe mich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, daß man mich leicht belächelt.« »Sie sind ein toller Bursche«, redete Hassler weiter. »Von der Polizei weiß ich, was Sie geschafft haben. Ich verstehe nicht, warum Sie als Butler arbeiten. Sie hätten doch ganz andere Möglichkeiten. Sie könnten sich als Privatdetektiv eine goldene Nase verdienen.« »Geld oder sonstiger Tand interessieren mich nicht«, gab Parker würdevoll und bestimmt zurück. »Ich betreibe das Aufdecken von Verbrechen als reines Hobby, als Freizeitgestaltung, wenn Sie wollen.« »Aber Sie arbeiten doch weiterhin als Butler…! Nichts gegen Anwalt Rander. Er ist ein feiner Mann. Und ich weiß, daß er als Strafverteidiger eine Kanone ist, aber Butler bleibt
schließlich Butler.« »Ich fühle mich für Mr. Rander verantwortlich«, antwortete der Butler. »Er ist, gemessen an mir, noch recht jung. Ich möchte ihn vorerst noch nicht aus den Augen lassen. Zudem weiß ich, daß Mr. Randers Beruf mir die Möglichkeit verschafft, mich mit immer neuen und interessanten Kriminalfällen beschäftigen zu können.« »Wie Sie die Agenten aufs Kreuz gelegt haben, ist einmalig.« Hassler schüttelte den Kopf. Er konnte es einfach nicht verstehen, daß dieser skurrile Mann ausgekochte Gangster ausgespielt hatte. »Damit wären wir bereits beim Thema«, sagte Parker. »Ich würde gern einen Blick in Mr. Carpenters Brieftasche werfen.« »Tut mir leid, Parker, aber die ist nicht mehr hier.« »Sie haben sie der Polizei übergeben?« »Übergeben müssen«, gab Chefdetektiv Hassler zurück. »Nach dem Rummel bei den Twin Peaks war es für die Polizei klar, daß die Brieftasche der Dreh- und Angelpunkt ist.« »Haben Sie eine Aufstellung darüber, was sie enthielt?« »Natürlich, ich habe mir von den Kollegen von der Polizei eine genaue Inhaltsliste aufstellen und die quittieren lassen. Man soll später nicht sagen, ich hätte irgend etwas zurückbehalten.« 53 �
»Darf ich, wenn es recht ist, einen schnellen und flüchtigen Blick auf diese Liste werfen?« »Klar, Parker. Ich fürchte jedoch, Sie werden enttäuscht sein. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum die Brieftasche einen Mord ausgelöst hat. Konstruktionsunterlagen oder entwickelte Kleinbildfilme waren nicht darin.« »Man wird sehen«, sagte Parker. Er legte bedächtig die schwarze steife Melone auf den Wandschrank, entledigte sich seines UniversalRegenschirms und griff dankend nach der Liste, die Chefdetektiv Hassler ihm reichte. Sie war mit großer Gewissenhaftigkeit angelegt worden. Jedes Fetzchen Papier darin war aufgeführt. Je ein Stichwort sagte darüber aus, was auf den betreffenden Papieren stand. Kurz, obwohl die Brieftasche im Moment nicht mehr greifbar war, konnte der Butler sich einen guten Überblick verschaffen. Chefdetektiv Hasslers Angaben stimmten. Der Inhalt der Brieftasche war unverdächtig. Butler Parker wollte seinen Blick bereits von der Liste abwenden, als er stutzte. Er beugte sich nochmals über das Blatt Papier, um besser sehen zu können. Da war eine Ansichtskarte vom Golden Gate Park aufgeführt worden. Genauer gesagt, von dem Teil,
der Oriental Tea Garden hieß. Daß Frank Carpenter als Einwohner von Frisco solch eine Ansichtskarte gekauft hatte und mit sich herumführte, mußte etwas zu bedeuten haben. »Haben Sie etwas entdeckt?« Chefdetektiv Hassler sah den Butler erwartungsvoll an. »Ich stehe vor einem Rätsel«, antwortete Parker wahrheitsgemäß. »Warum mag dieser an sich doch so wertlose Brieftascheninhalt diese Unruhe ausgelöst haben, die von Mord zu Mord reicht. Sollte ich es wider Erwarten herausbekommen, Mr. Hassler, werde ich nicht versäumen, Sie zu verständigen.« Hassler sperrte Mund und Nase auf, als Josuah Parker höflich grüßte, nach Melone und Universal-Regenschirm griff, um dann das Büro zu verlassen. * Anwalt Mike Rander verließ den kleinen Bungalow am Marina Park, um ins ›Jackson‹ zu fahren. Dort wollte er sich mit seinem Butler treffen und dann gemeinsam mit ihm zur Engineering Development zu gehen. Vom Bungalow aus hatte er einige längere Telefongespräche mit seinem Büro in Chikago geführt. Wenn der junge Strafverteidiger auch häufig unterwegs war, so hielt er doch 54 �
stets Kontakt mit seinem Büro, das übrigens gut besetzt war. Außer einer Sekretärin und einem sehr tüchtigen Bürovorsteher arbeiteten für Rander noch zwei Anwälte, die sich bei ihm die Sporen verdienten. Mike Rander schloß die Tür hinter sich ab und wollte hinüber zu seinem Leihwagen gehen, der vor der geöffneten Garage stand. Er kam nicht weit. Er hörte seinen Namen, blieb stehen und wandte sich zur Seite. Neben einem Strauch stand ein Mann, der eine Sonnenbrille trug. Er sah korrekt gekleidet und vollkommen seriös aus. Nur ein Revolver vom Kaliber 45 in seiner Hand störte diesen Gesamteindruck. Randers Augen verengten sich etwas. »Muß ich unbedingt die Hände hochnehmen?« fragte er. »Besser nicht, Rander. Geben Sie sich völlig normal. Ich muß mich mit Ihnen unterhalten.« »Schön. Gehen wir zurück ins Haus?« »Ich bin doch kein Selbstmörder«, antwortete der Mann und lachte auf. »Ihrem verdammten Butler traue ich nicht über den Weg.« »Mir ergeht es nicht anders«, erwiderte Mike Rander. Er hatte überlegt, wie er sich verhalten sollte. Der Mann mit der Sonnenbrille mußte Ted Surtees sein. Parker hatte diesen Mann genau beschrieben.
»Gehen wir«, sagte Surtees. »Mein Wagen steht an der Straße. Wenn Sie verschwinden wollen, werde ich schießen.« »Sie machen einen verdammt nervösen Eindruck«, stellte der Anwalt fest. »Los, kommen Sie!« Mike Rander ging die Auffahrt hinunter. Am Straßenrand, ein paar Schritte vor der Einfahrt auf das Grundstück, parkte ein Pontiac. Am Steuer saß ein Mann, der ebenfalls eine Sonnenbrille trug. Mike Rander stieg in den Wagen. Gewiß, er hätte sich möglicherweise durchkämpfen können. Mike Rander hatte von seinem Butler sehr viel gelernt. Auch seine Tricks konnten sich sehen lassen. Aber wie gesagt, er wollte nun wissen, was Surtees von ihm wollte. Schließlich war das der Mann, mit dem der ermordete Frank Carpenter sich hatte treffen wollen. »Darf ich rauchen?« erkundigte sich Rander, als der Pontiac anzog. »Warten Sie damit, bis wir von der Straße ‘runter sind«, gab der Träger der Sonnenbrille zurück. Er preßte die Mündung seines 45ers gegen die Seite des Anwalts. »Um es vorweg zu nehmen, Rander, mich legt man nicht noch mal rein, klar?« »Parker scheint sich bei Ihnen unbeliebt gemacht zu haben.« »Ihm werde ich noch die Rechnung präsentieren. Darauf können 55 �
Sie sich verlassen.« Der Pontiac folgte ein gutes Stück dem Marina Boulevard, bog dann nach Süden ab und stoppte schon nach wenigen Minuten vor einem Baugelände. »Sehen Sie den Mann dort?« fragte Ted Surtees. Er wies mit der freien Hand auf einen halb fertigen Bau. Mike Rander wandte sich unwillkürlich zur Seite. Als er begriff, daß er damit bereits in der Falle saß, spürte er einen harten, sehr schmerzhaften Schlag auf dem Hinterkopf. Er fiel mit dem Kopf gegen die Wagenscheibe. Dann verlor er das Bewußtsein. Er hörte nicht mehr das ironische Auflachen seines Begleiters… * Die Engineering Development befand sich am nördlichen Teil der breiten Straße, die sich The Embarcadero nennt und die Kais von San Francisco miteinander verbindet. Die Räume der Firma waren in den Steinbaracken einer stillgelegten Werft untergebracht. Die Zufahrt wurde von einem Schlagbaum und von einem Mann bewacht, der eine Art Uniform trug. Parker hatte hier auf seinen jungen Herrn, Anwalt Mike Rander, gewartet. Nach etwa dreißig Minuten, die er vergeblich ausgehalten hatte, hielt Parker es für angebracht, mit seinen Ermittlungen zu beginnen. Sorgen
um das Ausbleiben seines jungen Herrn machte er sich nicht. Bis er vor dem Manager des Unternehmens stand, mußte Parker einige Formulare ausfüllen, sich einem Hauswart anvertrauen und schließlich fast zehn Minuten lang in einem Vorzimmer warten. Dann endlich durfte er Mr. Mark Meilers begrüßen. Mark Meilers war ein massiger Mann, der fast zwei Zentner schwer sein mochte. »Sie kommen wegen Carpenter?« fragte er mit einer Stimme, die gequetscht klang. »Sie kommen zu spät. Er arbeitet nicht mehr für uns.« »War die Polizei nicht schon bei Ihnen?« fragte Parker. »Die Polizei? Wer sind Sie eigentlich? Was wollen Sie?« »Um es kurz zu machen, Mr. Meilers, ich bin Angestellter auf Zeit im ›Jackson‹. Ich fand, es muß gesagt werden, den unglücklichen Mr. Carpenter und konnte die Behörden verständigen.« »Momentchen, Sie sind dieser Warenhausdetektiv, der sich mit den Gangstern herumgeschlagen hat?« erinnerte sich Meilers plötzlich. »Die Polizei hat von Ihnen gesprochen. So sehen Sie also aus…!« »Hoffentlich sind Sie nicht zu sehr enttäuscht«, meinte der Butler. »Und hoffentlich nehmen Sie meine Worte für bare Münze. Ich glaube sagen zu können, daß die gestohlenen Unter56 �
lagen Ihrer Firma sich noch in dieser Stadt befinden.« »Die Unterlagen…?« »Nach meinen Informationen wurden wichtige Konstruktionsunterlagen Ihrer Firma von Carpenter entwendet.« »Ist das schon an die große Glocke gehängt worden?« ärgerte sich Mark Meilers. »Ich hoffe nicht, daß Sie mich für eine große Glocke halten«, gab Josuah Parker zurück. »Wenn Sie hingegen die Zeitungen und Nachrichtenbüros meinen, so kann ich sagen, daß sie noch nicht informiert worden sind.« »Entschuldigen Sie meine Nervosität«, sagte Meilers. »Sie ahnen nicht, welch ein Durcheinander bei uns herrscht. Wir wissen nämlich noch nicht sicher, welche Unterlagen entweder gestohlen oder kopiert worden sind. Carpenter muß sehr raffiniert gearbeitet haben. Er arbeitete immerhin in der Koordinierungsabteilung. Dort laufen alle Detailkonstruktionen zusammen.« »Warum wurde Carpenter von Ihnen entlassen?« »Weil er trank, weil er unzuverlässig und schlecht geworden war. Ich konnte das Risiko nicht eingehen, ihn noch weiter zu beschäftigen. Schließlich arbeiteten wir für die NASA. Unsere Arbeiten sind streng geheim.« »Ihre Firma arbeitet auf privater
Basis, Sir?« »Klar, wir tragen das ganze Risiko. Wir entwickeln Details für Raketensteuerungen und bieten sie der NASA an. Wenn man gut ist, läuft der Laden.« »War bei Ihnen je ein Mr. Ted Surtees beschäftigt?« »Nie, das weiß ich ganz sicher. Wer soll dieser Surtees sein?« »Eine Spur, die ich verfolge«, murmelte Parker zurückhaltend. »Um noch einmal auf die Konstruktionsunterlagen zurückzukommen, Sir, Sie wissen bereits, daß Zeichnungen, Berechnungstabellen und Pläne nicht verschwunden sind?« »Mit großer Sicherheit, ja. Carpenter hätte auch Schwierigkeiten gehabt, so etwas aus der Firma herauszuschmuggeln.« »Warum, wenn mir diese bescheidene Frage gestattet ist?« »Nach Dienstschluß gehen alle Zeichnungen und Arbeitsunterlagen an mein Büro zurück. Hier werden sie mit der Ausgabeliste verglichen und abgehakt. Dann wandern alle Unterlagen in einen bombensicheren Tresor.« »Wie glauben Sie, Sir, könnte Carpenter Ergebnisse der Firmenarbeit herausgeschmuggelt haben?« »Wenn Sie mich fragen, so muß er sie fotografiert haben. Während seiner Dienststunden.« »Wäre Mr. Carpenter das möglich gewesen?« 57 �
»Ja, ich denke doch. Er war zwar mit zwei anderen Kollegen in einem Büro zusammen, aber die schwirrten häufig im Betrieb herum, um Anweisungen zu erteilen. Sie wissen doch wahrscheinlich, wie schnell man mit einer Geheimkamera arbeiten kann. Dazu braucht man heutzutage kein Blitzlicht und Stativ mehr.« »Sind die beiden Mitarbeiter von Mr. Carpenter zuverlässig?« »So zuverlässig wie alle übrigen Mitarbeiter. Wem kann ich schon hinter den Schädel schauen? Weiß ich, was meine Mitarbeiter denken, was sie planen?« »Danke, Sir, das ist alles, was ich wissen wollte.« »Das war alles? Sie wissen doch noch gar nichts.« »Mehr, als ich zu hoffen wünschte«, bluffte der Butler. »Ich hoffe, die Unterlagen beschaffen zu können.« »Mann, wenn das klappt, dann lasse ich mich nicht lumpen. Haben Sie tatsächlich eine Spur entdeckt?« »Eine sehr gute, und, wie es so treffend heißt, auch eine sehr heiße, Sir.« »Wo kann ich Sie erreichen?« Parker nannte seine Adresse am Marina Park. Dann lüftete er seine schwarze Melone und schritt gemessen von dannen. Mark Meilers sah dem Butler sehr nachdenklich nach. Dann legte er die Zigarre in den Aschenbecher und
griff nach dem Telefon… Parker hatte freien Zutritt zum Bezirksgefängnis. Leutnant Damoni vom Crime-Department hatte ihm die Besuchserlaubnis verschafft. Nur zu gern übrigens, denn er hatte bereits erkannt, welch wichtige Hilfe Parker ihm bot. Zudem wußte Leutnant Damoni sehr genau, daß der Fall noch längst nicht geklärt war. Es gab zu viele Fragen, die auf eine Antwort warteten. Und da waren schließlich noch die Unterlagen, die Frank Carpenter an Ted Surtees hatte übergeben wollen. Wo sie sich nun befanden, wer sie sich angeeignet hatte, das wußte im Moment kein Mensch. Ralph Pointer, der Walt Hyman ins ›Jackson‹ geschickt hatte, um Carpenter abzufangen und ihm die Unterlagen abzujagen, staunte nicht schlecht, als er sich im Besuchszimmer dem komischen Butler gegenübersah. »Was wollen Sie denn noch von mir?« fragte Pointer grimmig. »Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen. Sie haben meinen Wagen und mich angefahren.« Parker griff nach der Melone und drehte sich um. Er schickte sich an, das Besuchszimmer sofort wieder zu verlassen. »He, was ist?« rief Pointer, der mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte. »Ich dachte, ich hätte es mit einem 58 �
halbwegs intelligenten Menschen zu tun«, antwortete Parker von der Tür her. »Nicht aber mit einem Mann, der seine Lage nicht richtig einschätzen und beurteilen kann.« »Und ob ich die richtig einschätze«, antwortete Pointer gereizt. »Man will mir anhängen, ich hätte Hyman auf diesen Carpenter angesetzt. Aber das streite ich entschieden ab.« »Und der Mann mit der Maschinenpistole, der neben Ihnen im Wagen war?« »Ich nahm ihn unterwegs als Anhalter mit. Beweisen Sie mir das Gegenteil!« »Aber nicht doch«, gab Parker sanft und höflich zurück. »Nicht ich werde Ihnen nachweisen, daß Sie Hymans Auftraggeber sind. Nicht ich werde beweisen, daß Sie Carpenter die Konstruktionsunterlagen abjagen ließen. Das wird eine andere Person für mich tun, die ich Ihnen auf Wunsch präsentieren kann.« »Von wem reden Sie eigentlich, he?« »Ich rede von der Person, die Ihnen den Tip gab, daß Carpenter Konstruktionspläne seiner Firma herausgeschmuggelt hat. Muß ich tatsächlich noch deutlicher werden, Mr. Pointer?« »Wovon reden Sie eigentlich?« wiederholte der Gangster noch einmal. »Nun, ich würde so sagen«,
begann der Butler mit seiner Antwort. »Ich möchte und kann nicht annehmen, daß Sie einen Traum hatten, daß Sie im Rahmen dieses Traums den Tip bekamen, daß Frank Carpenter Konstruktionsunterlagen anzubieten habe. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Sie erwarten wohl, daß ich Ihnen darauf antworte, wie?« Pointer lachte höhnisch. »Natürlich nicht. Sie sind ja, wie ich inzwischen leicht feststellen konnte, ein dummer und gewöhnlicher Durchschnittsgangster. Ihnen geht jegliches Format ab!« Pointer grinste nicht mehr. Er fühlte sich verletzt, in seiner Gaunerehre gekränkt… »Was Sie nicht sagen«, meinte er nach kurzem Nachdenken. »Nun, Sie gehören doch zu jener Sorte von Gangstern, die freudig und willig auf sich nehmen, was andere Personen Ihnen eingebrockt haben. Mit anderen Worte und um sehr deutlich zu sein, Mr. Pointer, während Sie sich auf einen längeren Zuchthausaufenthalt einrichten müssen, wird Ihr Partner sich nach wie vor der Freiheit erfreuen und das Leben genießen können.« Pointer rieb sich die Lippen mit seinem Mittelfinger. Er dachte angestrengt nach. Natürlich hatte er sehr genau verstanden. Er wußte, worauf der Butler anspielte. »Sie glauben also, ich hätte einen 59 �
Geschäftspartner gehabt?« fragte er endlich. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es, Mr. Pointer.« »Sie wollen mich bluffen, he?« »Eine bescheidene Gegenfrage, wenn es recht ist.« Parker blieb höflich und sehr würdevoll, obwohl er es mit einem ausgekochten Gangster zu tun hatte. »Woher wußte ich wohl, daß Sie sich auf den Twin Peaks mit Ihrem Werkzeug Walt Hyman treffen wollten?« »Sie haben sich an Hyman gehängt, das ist alles.« Pointer zog ein verächtliches Gesicht. »Bleiben Sie nur ruhig bei Ihrer Vermutung«, erwiderte der Butler. Ihm war bekannt, daß weder Hyman noch Pointer wußten, wie er tatsächlich zu den Twin Peaks gekommen war. »Aber lassen Sie sich sagen, daß ich das bekam, was man in Ihren Unterweltskreisen einen Geheimtip nennt. Um noch deutlicher zu werden, Mr. Pointer, Sie haben Ihre Schuldigkeit getan. Sie zeigen sich eben als wahrer Gentleman, nicht wahr?« »Sie haben keinen Geheimtip bekommen«, brauste Pointer gereizt auf. »Sie wollen mich bluffen. Ich soll Ihnen in die Falle gehen.« »Befinden Sie sich nicht bereits darin?« gab der Butler zurück. »Ich werde offen und ehrlich zu Ihnen sein. Ich weiß, von wem Sie die Information erhielten, daß Carpenter
Konstruktionsunterlagen gestohlen hatte. Ich kann es dieser Person nur nicht beweisen. Das können nur Sie allein, Pointer.« »Na und…?« Pointers Finger verschränkten sich nervös ineinander. »Sie allein müssen auch wissen, wie weit Sie Ihre Höflichkeit treiben können. Nur Sie allein, Mr. Pointer! Ich wünsche Ihnen vorerst angenehme Jahre hinter Zuchthausgittern!« Als Parker gegangen war, blieb Point er einen Moment lang am Tisch sitzen. Er mußte erst vom Aufsichtsbeamten angestoßen werden, um aufzustehen. Die Worte des Butlers schienen in dem Gangster intensiv nachzuwirken… »Richtig, Mr. Parker, es wurde für Sie angerufen«, antwortete Chefdetektiv Hassler vom ›Jackson‹. »Wer das gewesen ist? Ob Mr. Rander? Keine Ahnung. Aber ich habe mir die Nummer geben lassen.« »Wann erfolgte dieser Anruf, wenn ich fragen darf?« Butler Parker rief von einer Poststation aus an. Langsam machte er sich Sorgen darüber, daß sein junger Herr sich nicht meldete. »Vor etwa einer halben Stunde, Mr. Parker. Notieren Sie sich die Nummer.« Parker benutzte seine schneeweiße Hemdmanschette, um sich die Nummer aufzuschreiben. Kaum eingehängt, wählte er sie. Er war 60 �
gespannt, wer sich melden würde. Er mußte einige Zeit warten. Das Freizeichen meldete sich mit monotoner Freigebigkeit. Endlich knackte es in der Leitung. Eine Stimme meldete sich. »Hier spricht Parker, Josuah Parker«, begann der Butler die Unterhaltung. »Sie haben mich zu sprechen gewünscht?« »Endlich…!« antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Sie lassen Ihren Brötchengeber aber verdammt lange warten, Parker.« »Sie sprechen, wenn ich richtig interpretiere, von Mr. Rander?« »Sie sind ein kluges Kind.« Der Mann auf der Gegenseite lachte ironisch. »Und Sie sind, wenn ich nicht irre, Mr. Ted Surtees, nicht wahr?« »Sie haben meine Stimme erkannt?« »Kann ich etwas für Mr. Rander tun?« erkundigte sich der Butler, ohne auf Surtees’ sinnlose Frage einzugehen. »Sie können, Parker. Sie können. Aber Sie müssen sich verdammt beeilen.« »Weshalb muß ich unter Zeitdruck handeln?« »Weil ich die bewußten Unterlagen von Carpenter brauche. Ist das klar?« »Ich fürchte, Mr. Surtees, ich werde Sie enttäuschen müssen. Ich
besitze sie nicht.« »Dann beschaffen Sie sie sich eben. Falls Ihr Boß den nächsten Tag lebend überstehen soll.« »Sie überschätzen meine Fähigkeiten«, erklärte der Butler. »Ich wüßte nicht, von wem ich sie mir beschaffen sollte. Sie scheinen vom Erdboden verschwunden zu sein.« »Haben Sie mir nicht von einem Geschäft gesprochen, he? Na also…! Sie raffinierter Bursche wissen genau, was gespielt wird. Sie treiben ein doppeltes Spiel. Rücken Sie die Unterlagen raus, dann bekommen Sie Ihren Boß heil wieder!« »Wieviel Zeit werde ich haben?« »Sagen wir, zwei Stunden, Parker.« »Und wie und wo erreiche ich Sie?« »In zwei Stunden rufe ich Sie im Bungalow an. Sie wissen, dem am Marina Park.« »Noch etwas!« Parker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Welche Garantie habe ich, daß Mr. Rander sich tatsächlich in Ihrer Gewalt befindet?« »Sie werden ihn vermissen. Daran werden Sie’s merken, Parker. Diesmal bin ich am Drücker! Haben Sie verstanden?« »Deutlich genug haben Sie sich ausgedrückt, Mr. Surtees. Bei der Beschaffung der Dokumente könnten Sie mir eigentlich eine kleine Hilfestellung geben.« 61 �
»Ich soll Ihnen dabei helfen? Bin ich verrückt? Sie würden mich doch nur reinlegen wollen. Aber das ist Ihnen nur einmal gelungen.« »Ich muß Sie dennoch fragen, ob Sie schon einmal in Mr. Carpenters Wohnung gewesen sind.« »Nein.« »Waren Sie es, der Carpenter in Schulden stürzte?« »Und ob…!« Surtees lachte auf. »Gaben Sie Carpenter den Auftrag, die Unterlagen von seiner Firma zu beschaffen?« »Ja, zum Teufel. Aber denken Sie daran, daß zwei Stunden eine verdammt kurze Zeit sind. Machen Sie sich an die Arbeit!« »Erlauben Sie eine vorläufig letzte Frage«, meinte der Butler höflich. »Wer außer Ihnen wußte von Carpenters Schwierigkeiten, von seinen Schulden und von den Unterlagen, die er Ihnen doch im ›Jackson‹ übergeben sollte?« »Sie sollten zur Polizei gehen! Verhören können Sie schon!« Surtees lachte wieder. »Darf ich unterstellen, daß außer Ihnen kein Mensch von all den Dingen gewußt hat?« »Wie sind Sie denn an diese Dinge rangekommen, he? Ich wette, Sie haben Carpenter auf dem Gewissen, Parker. In zwei Stunden. Und jetzt Schluß mit den blöden Fragen. Denken Sie an Ihren Boß! Wenn Sie nicht spuren, ist er geliefert. Ich
kenne eine Stelle hier im Hafen, die besonders tief ist…!« Viel Zeit hatte der Butler tatsächlich nicht mehr. Er wußte sie jedoch gut zu nutzen. Von einem Taxi ließ er sich in das Zentrum der Stadt fahren. Hier stieg er aus und suchte nach einem passenden Geschäft, das seinen speziellen Wünschen entgegenkam. Nach knapp fünf Minuten hatte er solch einen Laden gefunden. Sein sicherer Instinkt hatte ihn wieder einmal richtig geführt. Parker betrat das Geschäft, das den Freunden der ›Do it yourself-Bewegung‹ diente. Ein noch recht junger Mann erschien und fragte nach Parkers Wünschen. »Ich habe die Freude, einen kleinen Enkel zu haben«, erklärte Josuah Parker. »Dieser hoffnungsvolle junge Mann wünscht sich zu seinem Geburtstag eine Rakete.« »Haben wir selbstverständlich auf Lager.« Der junge Mann war sehr selbstsicher. »Ich suche keine fertige Rakete«, korrigierte der Butler. »Ich halte Ausschau nach den Bauplänen für eine Rakete. Mein Enkel, ich muß es zu meiner Freude sagen, ist ein begabter Bastler, dem man schon einige Schwierigkeiten zumuten darf.« »Natürlich, haben wir auch«, erklärte der Verkäufer. »Wenn Sie mir folgen wollen…?« 62 �
Parker wollte. Und er ließ sich Baupläne von Raketen zeigen, die es tatsächlich in sich hatten. Es waren, wenn sie einmal zusammengesetzt waren, kleine, kunstvolle Gebilde. Die Baupläne sahen zu Parkers Freude sehr technisch aus. Aber er war noch nicht recht zufrieden. Wählerisch, wie Parker nun mal war, ließ er sich sehr viele Vorlagen zeigen. Er entschied sich schließlich für zwei sehr komplizierte Bastelpläne. Das Gewirr der Zeichnungen, Aufrisse, Detailschnitte und verschiedenfarbigen Linien entzückte ihn. »Ich werde zwei davon nehmen«, sagte Parker. »Und nun nennen Sie, mir doch bitte die Adresse einer Kopieranstalt.« »Sie wollen die Zeichnungen noch einmal kopieren lassen?« wunderte sich der junge Mann. »Übereinander«, erklärte der Butler mit größtem Ernst. »Sie müssen verzeihen, daß ich es meinem Enkel nicht zu leicht machen möchte. Richtig, haben Sie noch irgendein nettes, passendes Formelbuch der Mathematik?« »Ja, aber ich verstehe nicht…« Der junge Verkäufer sah Parker etwas mißtrauisch an. »Es würde zu lange dauern, Ihnen das alles zu erklären«, meinte der Butler freundlich. »Ich bedanke mich
für Ihre Hilfe, junger Mann.« Parker bekam zusätzlich noch sein Formelbuch und die Adresse der Kopieranstalt. Während Parker auf das Zusammenpacken der Ware wartete, sah er im Geist die verkleinerten Arbeitspläne vor sich, die er mit langen, mathematischen Formeln zu garnieren gedachte. Er war sich sicher, daß Mr. Surtees bestimmt nicht so schnell dahinterkam, daß die angeblichen Raketenunterlagen nichts als Modellpläne waren. Knapp eine Stunde später konnte der Butler Mike Rander in Empfang nehmen. Das heißt, Mike Rander fuhr in einem Taxi vor. Er sah unbeschädigt und gesund aus. Dementsprechend fühlte er sich auch. Den Schock seiner Entführung hatte er bereits längst überwunden. »Darf ich Ihnen zuerst meine Glückwünsche, sodann einen Drink anbieten?« erkundigte sich Parker, der seine innere Freude in diesem Moment nur mühsam unterdrücken konnte. »Ich nehme beides«, antwortete Mike Rander und ließ sich in einen Sessel des Bungalows fallen. Er wartete, bis er den Drink hatte. »Sagen Sie, Parker, wie haben Sie es geschafft, daß Surtees mich laufen ließ?« »Ich verschaffte ihm die Unterlagen, auf die er im ›Jackson‹ vergeblich wartete, Sir.« 63 �
»Die Konstruktionsunterlagen?« Rander sah seinen Butler erstaunt an. »Sie haben sie gefunden?« »Ich nahm mir die Freiheit, neue Pläne zu liefern«, gab der Butler zurück. »Ich muß gestehen, daß ich ein wenig unruhig war, als ich sie Mr. Surtees’ Boten aushändigte.« »Sie glauben nicht daran, daß er sein Wort halten würde?« »Das auch, Sir. In erster Linie aber fürchtete ich, er könnte den Unwert der Pläne durchschaut haben. Sie stammen aus einem Bastlerkasten für die reifere Jugend.« Rander begriff sofort. Er lachte laut auf. Er hatte Mühe, sein Glas in der Hand zu halten. »Und ob er darauf reingefallen ist«, konnte er schließlich unter Lachen sagen. »Ich beobachtete ihn, als der Bote ihm die Pläne aushändigte. Surtees sah sie sich sehr genau an. Er war sichtlich beeindruckt. Aber ich sah ihm an, daß er davon nichts verstand.« »Dafür werden seine Käufer um so schneller erkennen, daß sie völlig wertloses Material erhalten haben.« »Sie werden schäumen!« »Und sich umgehend wieder an Surtees wenden«, meinte der Butler. »Ich hoffe, daß Mr. Surtees dann versuchen wird, seinen Zorn auf uns abzuladen, Sir.« »Das ist wohl auch die einzige Möglichkeit, Parker, um ihn noch mal zu sehen. Wo ich festgehalten
wurde, weiß ich nicht. Es war an irgendeinem Hafenkai. Ich hörte den Lärm auf dem Wasser, das Kreischen von Verladeeinrichtungen. Wo ich war, könnte ich nicht sagen. Man hat mir die Augen verbunden und mich dann irgendwo in der Stadt einfach aus dem Wagen steigen lassen.« »Nun, Sir, ich kenne eine Lagerhalle, die Mr. Surtees schon einmal wegen mir in ein Gefängnis verwandeln wollte. Vielleicht könnte man dort einmal bei Gelegenheit vorbeischauen.« »Sie sind noch immer sehr unternehmungslustig, Parker.« »Weil Mr. Surtees noch nicht hinter Schloß und Riegel ist, Sir. Und weil ich zu meinem Leidwesen noch immer nicht weiß, wer das Bindeglied zwischen der Pointer-HymanGang und Mr. Surtees und Carpenter ist.« »Es handelt sich wirklich um zwei verschiedene Gruppen«, bestätigte Anwalt Rander. »Surtees kann’s noch immer nicht verstehen, wer ihm die Tour mit Carpenter vermasselt hat. Er kann sich nicht erklären, wer von seinen Plänen wohl geplaudert haben mag.« »Vielleicht kann ich bald mit solch einer Erklärung dienen.« Parker sah wieder einmal harmlos aus. »Theoretisch, Sir, wüßte ich wohl zu sagen, wer hier eine Doppelrolle gespielt hat. Zur Zeit möchte ich 64 �
mich noch nicht festlegen.« »Behalten Sie Ihre Geheimnisse ruhig für sich«, antwortete der junge Anwalt. »Mein Bedarf ist vorerst gedeckt.« »Konnten Sie zufällig heraushören, an wen Mr. Surtees die bewußten Unterlagen verkaufen wir?« »Er scheint auf eigene Rechnung zu arbeiten. Seine Käufer dürften außerhalb der Staaten zu finden sein. Ich weiß sicher, daß er ein Ferngespräch mit Tokio führte. Er kündigte darin die Lieferung einer Ware an. Er dürfte die Konstruktionsunterlagen gemeint haben.« »Ich neige ebenfalls zu dieser Auslegung, Sir. Mr. Surtees wird uns wohl bald mit näheren Einzelheiten dienen müssen.« »Sie glauben, ihn noch erwischen zu können?« »Aber selbstverständlich, Sir. Darin setze ich meinen ganzen bescheidenen Ehrgeiz. Mr. Surtees ist ein sehr gefährlicher Agent. Ihm muß das Handwerk so schnell wie möglich gelegt werden. Es besteht die Gefahr, daß er sich sonst weiterhin als Spion und Agent betätigt.« * Helen Angus, schlank, attraktiv und lächelnd, trug erheblich zum Umsatz alkoholischer Getränke bei. Sie war der Star des Nachtclubs, der übrigens tatsächlich ›Frisco-Star‹
hieß. Es handelte sich um einen völlig normalen Nachtclub, ohne jede Sensation. Die Getränke waren gut, aber nicht erstklassig, das Essen eine offensichtliche Zumutung und die langen, schlanken Beine der Serviererinnen nicht besonders aufregend. Das war wenigstens Parkers Meinung von diesem Lokal, das sich im Kellergeschoß eines großen Kinos befand. Es mußte aber eine Menge Leute geben, die anderes über dieses Lokal dachten, denn schließlich’ war es sehr gut besucht. Es lag wahrscheinlich an Helen Angus, die nicht nur den Umsatz hob, sondern von Zeit zu Zeit auch mit heiserer Stimme neckische Liedchen sang. Sie runzelte übrigens die Stirn, als sie Josuah Parker entdeckte. Er saß allein an einem kleinen Wandtisch. Mike Rander war in der Menge vor der Bartheke untergetaucht. Helen Angus ließ sich ihre unangenehme Überraschung nicht lange anmerken. Sie nutzte die erste Gelegenheit, zu ihm an den Tisch zu kommen. Sie setzte sich unaufgefordert. »Was wollen Sie hier?« fragte sie verärgert. »Sind Sie hinter mir her?« »Wie schnell Sie doch einen alten, verbrauchten Mann durchschaut haben«, gestand der Butler. »Also, hier bin ich. Was wollen Sie?« »Mich nur etwas umsehen, Miß 65 �
Angus. Und vielleicht auch einen kleinen Sieg über meine Widersacher feiern. Darf ich Sie zu dem einladen, was Sie hier in den Staaten einen Drink nennen?« »Sie feiern einen Sieg?« fragte sie. »Nun ja, welcher Mensch ist nicht eitel. Mir gelang es, einigen Gangstern das Handwerk zu legen.« Sie antwortete nicht, sondern sah den Butler nur abwartend an. »Es handelt sich um Männer, die Sie wahrscheinlich nicht kennen, Miß Angus.« »Na, und…?« »Um Mr. Hyman und um Mr. Pointer. Das ist auch der wirkliche Grund, warum ich hier zu Ihnen gekommen bin. Ich versprach Ihnen doch, den Mörder Ihres Onkels ausfindig zu machen. Es ist mir gelungen. Walt Hyman, ein Mann, den Sie wahrscheinlich gar nicht kennen, ermordete Ihren Onkel Frank Carpenter!« »Davon habe ich noch gar nichts gelesen«, antwortete die blonde Frau. »Die Morgenzeitungen werden wohl darüber berichten«, redete der Butler schwatzhaft weiter. »Es dürfte von Interesse sein, daß Hyman von einem Gangster namens Ralph Pointer angestiftet worden ist. Aber auch diesen Mann werden Sie wahrscheinlich nicht kennen.« »Das alles wollen Sie allein geschafft haben?« Helen Angus sah
den Butler ungläubig an. »Ich will zugeben, daß ich vom Glück sehr begünstigt wurde«, räumte Josuah Parker untertreibend ein. »Im Vertrauen gesagt, Miß Angus, Ralph Pointer dürfte kurz vor einer entscheidenden Aussage stehen. Er ist nämlich nur das Werkzeug gewesen. Sein Anstifter konnte sich der Verhaftung bisher entziehen.« »Warum erzählen Sie mir das alles?« fragte Helen Angus gereizt. »Der Mörder meines Onkels ist gefunden. Gut, mehr will ich gar nicht wissen. So, und jetzt muß ich mich umziehen. Werden Sie länger bleiben?« »Ich möchte Ihren nächsten Auftritt auf keinen Fall versäumen«, meinte Parker würdevoll. »Ich bin, wie ich gestehen muß, ein Liebhaber der schönen Künste.« Helen Angus konnte schon wieder lächeln. Sie nickte Parker zu und verließ den Wandtisch. Sie verschwand hinter einem Vorhang neben der langen Bartheke… * Ted Surtees wollte es einfach nicht glauben. Immer wieder hob er die starke Lupe vor das rechte Auge. Immer wieder beugte er sich über die verkleinerten Konstruktionspläne, die Josuah Parker ihm geliefert hatte. 66 �
Immer wieder studierte er die winzig kleine Anmerkung innerhalb der verwirrend angeordneten Detailzeichnungen der Rakete. »Verwende Gardens Hartleim!« So lautete die bewußte Anmerkung. Zuerst hatte Surtees darüber hinweggelesen und sich gar nichts dabei gedacht. Dann aber, mit einiger Spätzündung, hakte sich diese kurze Anmerkung in seinem Gehirn fest. Wieso wurden bei solch komplizierten Dingen wie bei einer Rakete Gardens Hartleim empfohlen? Das konnte doch einfach nicht stimmen. Ja, und dann, nach langen, quälenden Schreckminuten, war Surtees aufgegangen, daß der Butler ihn mit simplen Bastlerplänen hereingelegt hatte. Daran war nun nicht mehr zu zweifeln. Auch die verwirrenden mathematischen Formeln stellten keine Konstruktionsgeheimnisse dar. Surtees erinnerte sich notgedrungen seiner Collegezeit. Er erkannte Formeln, über die er in den Klassen der Mittelstufe geschwitzt hatte. Kein Zweifel, Josuah Parker hatte ihn sogar sehr gründlich reingelegt. Die Blaupausen waren wertlos. Surtees war natürlich nicht in der Lage, diese Täuschung auf die leichte Schulter zu nehmen. Humor und Selbstironie gingen ihm ab. Er empfand nur eine stetig wachsende
Wut in sich, die ihm fast den Atem raubte. Ich bringe diesen Kerl um, schwor er sich wütend. Er hat mich schon wieder reingelegt! Dafür wird er mir büßen. Und diesmal gebe ich ihm keine Chance. Er soll mich von einer anderen Seite kennenlernen.« Es klopfte an der Tür. Surtees beeilte sich, die Konstruktionspläne vom Tisch verschwinden zu lassen. Er war allerdings nicht schnell genug. Helen Angus hatte die Tür zu seinem Privatbüro bereits geöffnet. Sie machte einen ziemlich aufgeregten Eindruck. Sie warf einen schnellen Blick auf die Zeichnungen, die zu einem Drittel noch aus der Schublade hervorragten. »Dieser entsetzliche Parker ist draußen«, meldete Helen Angus. »Weiß der Himmel, wie er mich aufgestöbert hat.« »Parker ist draußen?« »Ja, ich habe mich doch deutlich genug ausgedrückt, oder?« »Auf diesen Burschen habe ich gerade gewartet.« »Ist etwas?« wollte Helen Angus wissen. »Wie…? Nichts…! Aber ich muß ihn sprechen. Lock’ ihn in die Garderobe, Helen!« »Ich traue diesem Kerl nicht über den Weg«, antwortete Helen Angus. »Lotse ihn aus der Bar«, wiederholte Surtees noch mal. »Alles 67 �
andere laß mich machen, Helen.« »Na schön, aber ich werde dann verschwinden, Ted. Mit deinen Geschäften will ich nichts zu tun haben.« »Auf einmal?« Er lachte höhnisch auf. »Ich bin nur vorsichtig«, sagte sie. »Wenn du Parker verschwinden lassen willst, dann bitte nicht hier im Haus. Wissen wir, ob er allein gekommen ist?« »Dieser Kerl hat die Frechheit, allein zu kommen«, erwiderte Ted Surtees. Er zündete sich eine Zigarette an. Als Helen Angus sein Büro verlassen hatte, griff Surtees in die Schreibtischschublade. Als er die Hand wieder zurückzog, hielt er einen 45er darin… Josuah Parker knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Aschenbecher. Helen Angus hatte ihn gebeten, in die Garderobe zu kommen. Warum und weswegen, war auf dem Zettel nicht vermerkt gewesen. Josuah Parker stand auf, griff nach seinem Universal-Regenschirm und nach seiner schwarzen steifen Melone. Dann ließ er sich von einer der langbeinigen Serviererinnen den Weg weisen. Er schlug den Vorhang zur Seite und schritt würdevoll und gemessen, wie es seine Art war, den langen, nur spärlich erleuchteten Korridor hinunter. Helen Angus schien seine Schritte
gehört oder ihn sogar beobachtet zu haben. Sie öffnete plötzlich die Tür zu ihrer Garderobe und kam dem Butler entgegen. »Gott sei Dank, daß Sie kommen!« Ihre Stimme klang aufgeregt. »Ich bin eben angerufen worden, Mr. Parker. Und raten Sie mal, von wem?« »Ich möchte Ihnen nicht die Freude nehmen, Miß Angus. Ich lasse mich gern überraschen.« »Kommen Sie…!« Sie trat zur Seite und ließ Parker vorausgehen. Der Butler schien diesmal wirklich ahnungslos zu sein. Er bedankte sich mit einem freundlichen Nicken und betrat die Garderobe. Dann änderte sich schlagartig die Situation. Vor ihm stand Ted Surtees, der Mann mit der Sonnenbrille, der Mann also, mit dem Parker sich bereits im Lagerschuppen an den Kais herumgeschlagen hatte. »Oh…!« sagte Parker nur. »Mit mir haben Sie nicht gerechnet, was?« Surtees Stimme klang triumphierend. Mit dem Lauf seines 45ers dirigierte er Parker in die Ecke. »Mich glaubten Sie hier wohl nicht zu sehen, wie?« »In der Tat«, meinte Parker höflich. »Für Ihren Trick werden Sie bezahlen«, stieß Surtees hervor. »Ich hätte es mir ja gleich denken können, daß die Pläne nicht echt waren.« 68 �
»Sie versetzen mich in einiges Erstaunen«, antwortete der Butler. »Sie haben bemerkt, daß die Pläne nicht echt waren?« »Fast zu spät. Aber nur fast, Parker. Sie wollten mich mit billigen Bastelplänen aufs Kreuz legen.« »Ich muß gestehen, Mr. Surtees, daß mir die Anfertigung dieser Pläne einigen Spaß bereitete«, erwiderte der Butler. »Ich fühlte mich in meine Jugendtage versetzt.« »Ich versetze Sie gleich in die Hölle«, brauste Surtees auf. »Halten Sie mich für einen Trottel?« »Wollen Sie die Wahrheit hören?« »Wie bitte? Natürlich…!« »Sie sind das, was Sie einen Trottel nannten. Ich bedaure unendlich, Ihnen das sagen zu müssen.« »Werden Sie bloß nicht frech, Parker.« »Was erwarten Sie nun von mir?« »Wir werden eine kleine Spazierfahrt unternehmen, Parker. Ich gebe Ihnen die letzte Chance, die richtigen Pläne herbeizuschaffen. Falls sie noch mal falsch spielen, ist es aus mit Ihnen.« »Wie soll ich Ihnen denn die Pläne verschaffen, Mr. Surtees? Ich besitze sie nicht.« »Das wird sich zeigen. Aber sagen Sie mir, warum ich ein Trottel sein soll, he?« »Weil Sie sich schon seit geraumer Zeit mit Frank Carpenter teilen mußten.«
»Wie bitte? Drücken Sie sich deutlicher aus.« Butler Parker antwortete in einem Plauderton, als bestünde keine Gefahr für ihn. Den schweren, drohenden 45er in der Hand von Ted Surtees nahm er überhaupt nicht zur Kenntnis. »Nun«, begann Parker in seiner recht umständlichen Art. »Sie konzentrierten sich auf Carpenter. Sie bemühten sich, ihn Schulden machen zu lassen. Sie setzten ihn anschließend unter Druck und erpreßten ihn. Frank Carpenter wurde von Ihnen gezwungen, Konstruktionsunterlagen zu beschaffen. Und während dieser ganzen Zeit ahnten Sie nicht, daß Ihre Bemühungen Punkt für Punkt überwacht wurden.« »Von wem?« »Von Pointer, falls dieser Name Ihnen etwas sagt. Dieser Mr. Pointer aus Los Angeles wußte genau, was Sie planten, wußte genau, welche Unterlagen Carpenter zu liefern vermochte.« »Lächerlich…!« »Deshalb war Pointer auch in der Lage, Walt Hyman ins ›Jackson‹ zu schicken. Pointer wußte fast auf die Minute genau, wann Carpenter sich mit Ihnen dort im Warenhaus treffen wollte. Er oder, besser gesagt, sein Werkzeug Hyman war sogar schneller als Sie, Mr. Surtees.« »Was reimen Sie sich nur für einen 69 �
Unsinn zusammen«, antwortete der Gangster, der allerdings sehr nachdenklich geworden war. »Kommen wir zur wichtigsten Frage«, sagte Parker, der auf Surtees’ Bemerkung nicht einging. »Pointer und Hyman wußten also, was Sie planten, wußten, wen Sie unter Druck gesetzt hatten. Ich möchte Ihnen die Frage stellen, wer diesen Gangstern diese Informationen geliefert haben könnte.« »Verdammt…!« »Mir scheint, Mr. Surtees, Ihnen ist das aufgegangen, was man im Volksmund so treffend ein Licht nennt.« »Sie meinen…?« Surtees hatte fast Hemmungen, den Satz zu beenden. »Jawohl, das meine ich«, erwiderte Parker. »Sie glauben, Helen Angus hätte mich an Pointer verpfiffen?« fragte Surtees mit harter Stimme. »Sie allein können diese Frage genau beantworten«, meinte der Butler. »Im Grunde wissen Sie ja inzwischen, daß Miß Helen Angus ein doppeltes Spiel getrieben hat.« »Ich bring’ sie um…!« »Das, Mr. Surtees, würde ich mir an Ihrer Stelle noch sehr überlegen. Zudem glaube ich, daß Miß Angus für Sie nicht mehr erreichbar ist.« »Warum nicht? Das wollen wir doch mal sehen.« »Sie dürfte sich meiner bescheidenen Ansicht nach empfohlen haben,
Mr. Surtees.« Der Gangster und Agent sprang zur Tür. Dann fiel ihm allerdings ein, daß Butler Parker noch nicht außer Gefecht gesetzt worden war. Er bremste also seinen Schwung. Der Revolverlauf schwenkte herum und richtete sich wieder auf den Butler. »Wollen Sie sich zu Ihrer Dummheit auch noch lächerlich machen?« fragte Parker sanft und schüttelte verweisend den Kopf. »Ich bin selbstverständlich nicht allein gekommen. Sehen Sie doch mal dort hinauf, wenn ich raten darf!« Parker wies mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Zimmerdecke hoch. Surtees nahm automatisch den Kopf hoch und sah nach oben. Diesen günstigen Augenblick wußte der Butler zu nutzen. Der Bambusgriff seines Regenschirms schwenkte hoch und traf genau die Kinnspitze des Mannes. Ted Surtees verdrehte daraufhin sehr beeindruckt die Augen und fiel in Parkers hilfreiche Arme. Ted Surtees hatte sein Spiel verloren. Als er wieder klarsehen konnte, befand sich die Waffe schon nicht mehr in seiner Hand. Dafür hatte er Zeit und Gelegenheit, die Handschellen an seinen Gelenken intensiv betrachten zu können… *
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Helen Angus preßte die Pläne an sich. Sie saß in einem Taxi und ließ sich zu ihrer kleinen Wohnung bringen. Dort wollte sie sich schnell ankleiden. Zur Zeit trug sie nämlich nur ihren Schminkmantel. Sie hatte den Nachtclub sehr hastig verlassen. Helen Angus lachte in sich hinein. Wie schnell und reibungslos hatte doch alles geklappt. Während Surtees sich mit diesem komischen Butler unterhielt, war sie zurück in Surtees’ Büro gelaufen, hatte die Konstruktionsunterlagen aus der Schreibtischlade gezerrt und sich dann empfohlen. Es hatte also doch noch geklappt. Sie wußte sehr genau, welchen Wert die Pläne hatten. In Tokio wurden ihr dafür kleine Vermögen gezahlt. Von Surtees wußte sie, an welcher Stelle sie die Pläne anbieten konnte. Aber auch von Pointer hatte sie erfahren, wer sich für geheime Konstruktionsunterlagen hier in den Staaten interessierte. Es kam nun darauf an, die beiden Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. Wer am besten zahlte, sollte die Unterlagen erhalten. Da es dunkel war, fiel ihre ungewöhnliche Bekleidung nicht auf, als sie aus dem Taxi stieg. Helen Angus hastete zum Lift, fuhr hinauf in ihre Wohnung, sperrte die Tür auf und lief sofort in den kleinen Schlafraum. Innerhalb weniger Minuten war sie
angekleidet. Inzwischen war sie sich auch klar darüber geworden, wem sie die Unterlagen anbieten sollte. Hier in den Staaten war das Pflaster inzwischen zu heiß geworden. Sie hielt es für angebrachter, mit der nächsten Maschine Frisco zu verlassen. Im Ausland war die Luft nun wesentlich gesünder für sie. Sie klappte den kleinen Reisekoffer auf und nahm die Geheimpläne in die Hand. Noch einmal faltete sie sie auseinander. Sie ergötzte sich an den verwirrenden Strichen und Linien. Sie hielt den Atem an, als sie die wunderbaren, komplizierten Rechenformeln überflog. Ja, sie konnte schon sehr gut verstehen, warum Interessenten im Ausland ein Vermögen dafür zu zahlen bereit waren. Ihr Doppelspiel hatte sich tatsächlich gelohnt. Nun gab es nur noch sie. Sie allein kam in den Genuß der harten Dollars. Sie brauchte nicht mehr zu teilen, wie es seinerzeit ausgemacht worden war. Sie klappte den kleinen Koffer zu, verließ die Wohnung und fuhr mit dem Lift nach unten. Habe ich ein Glück, sagte sie sich, da ist ja auch schon ein Taxi. Wie für mich bestellt. Sie winkte dem Fahrer zu. Das Taxi glitt in einer eleganten Kurve an den Straßenrand. Schnell stieg Helen Angus ein. 71 �
»Zum Flugplatz«, sagte sie. »Wenn Sie schnell sind, bekommen Sie ein Extra-Trinkgeld.« Und ob der Fahrer schnell war… Er schwenkte den Wagen in fast verwegener Fahrt durch die Straßen. Helen Angus lehnte sich beruhigt in die Polster zurück. Sie zündete sich eine Zigarette an. Das Spiel war bereits gewonnen. Doch dann schreckte sie plötzlich zusammen. Der Wagen schoß durch eine Toreinfahrt, brauste in unverminderter Schnelligkeit auf die Rampe einer Tiefgarage zu und befand sich im gleichen Moment auch schon unter der Erde. Hart quietschten die Pneus, als der Wagen anhielt. Der Taxifahrer wandte sich zu Helen Angus um. »Endstation, Miß Angus«, sagte er. »Die Polizei wartet bereits auf Sie! Auf Freudenkundgebungen können Sie verzichten! Möglicherweise haben Sie dazu nämlich keinen Grund…!« Anwalt Mike Rander stieg aus dem Wagen, setzte die Fahrerkappe ab und winkte Leutnant Damoni zu, der hinter einem abgestellten Wagen erschien. Dann mußten Damoni und Rander fest zupacken, um Helen Angus aus dem Wagen zu bekommen. Sie war vor Enttäuschung nämlich ohnmächtig geworden…
* � Butler Parker und Mike Rander statteten dem ›Jackson‹ einen Abschiedsbesuch ab. Auch hier herrschte eitel Zufriedenheit und Freude. Chefdetektiv Hassler berichtete darüber. »Die Festnahme der beiden Trickdiebe hat uns auf die richtige Spur gebracht«, sagte er. »Die beiden Gauner haben Geständnisse abgelegt und werden vor Gericht als Kronzeugen auftreten. Sie sind Mitglieder einer Gang, die Bestellungen auf bestimmte Waren entgegennahm und sie erst dann von den Bandenmitgliedern ausführen ließ. Der Anführer ist ein Hehler, der eine Pfandleihe betreibt.« »Diesem Gaunerchef sollte man einen Orden verleihen«, meinte Anwalt Rander. »Durch seine Leute sind wir ja überhaupt erst auf die Agenten gestoßen. Ohne den Diebstahl der Brieftasche hätten wir die Spur nicht aufnehmen können.« »Wie ist es denn bei Ihnen gelaufen?« wollte Chefdetektiv Hassler, wissen. »Lassen Sie Parker erzählen«, meinte Anwalt Rander. »Oh, ich habe nicht viel Zeit. Ich werde auf dem Gericht erwartet«, antwortete Hassler leicht verschreckt. Er dachte wohl an die Ausführlichkeit von Parkers Berichterstattung. 72 �
»Na schön, dann bekommen Sie von mir die Stichworte«, sagte Anwalt Rander und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Ich möchte vorausschicken, Hassler, daß alle Beteiligten bereits gestanden haben. Miß Angus gab den Anstoß dazu, als sie alle Schuld auf ihre vielen Freunde schieben wollte.« »Hört sich kompliziert an«, warf Hassler ein. »Beginnen wir bei Carpenter. Er machte Schulden. Er wurde zielsicher von Helen Angus dabei unterstützt. Als er bis zum Hals in der Tinte saß, trat Surtees an ihn heran und verlangte Konstruktionsunterlagen. Und Carpenter willigte ein. Surtees und Helen Angus waren eng miteinander befreundet. Wahrscheinlich ist Helen Angus erst durch den Barbesitzer Surtees an die Spione geraten. Möglich aber auch, daß Helen Angus Surtees mit dieser Branche bekannt gemacht hat. Während Surtees nicht an Verrat glaubte, fädelte Helen Angus ihr doppeltes Spiel ein. Sie stand in enger Verbindung mit Ralph Pointer, der aus Los Angeles nach Frisco kam, um sich an diesem Fischzug zu beteiligen. Helen Angus gab ihm die erforderlichen Tips. Sie kannten sich beide von Los Angeles her. Surtees ahnte natürlich nichts davon. Aber auch nicht Carpenter, der
sich mit Helen Angus anfreundete. Als Carpenter schließlich tief in die Geheimtresore seiner Firma greifen wollte, zog Helen Angus als angebliche Nichte zu ihm in die Wohnung. Sie wollte den kostbaren Carpenter nicht aus den Augen lassen. Als er die Unterlagen hatte, wollte er sich mit Surtees hier im ›Jackson‹ treffen. Helen Angus wußte durch Carpenter und von Surtees davon. Sie verständigte schleunigst Pointer. Und der schickte seinen Gunner Walt Hyman ins ›Jackson‹. Was sich dann zutrug, wissen Sie ja, Hassler.« »Warum trieb diese Angus dieses doppelte Spiel?« wollte der Chefdetektiv wissen. »Sie hatte wohl von Anfang an vor, die Unterlagen an sich zu bringen und sie auf eigene Rechnung zu verkaufen. Sie wollte sowohl Surtees als auch Pointer hereinlegen. Sie sieht harmlos und nett aus, aber sie ist gefährlicher als eine gereizte Viper.« »Wieso legte sie ein Geständnis ab?« »Was hätte sie abstreiten sollen?« antwortete Mike Rander und grinste. »In ihrem Reisekoffer fanden sich ja die Konstruktionsunterlagen. Sie fühlte sich auf frischer Tat ertappt und steckte auf.« »Dann sind die Unterlagen also doch gefunden worden?« »Die echten leider noch nicht.« »Moment mal, jetzt komme ich 73 �
nicht mit. Helen Angus hatte die Geheimunterlagen doch bei sich. Sagten Sie gerade…!« »Sie glaubte, die richtigen Unterlagen zu haben. Deshalb legte sie auch prompt ein Geständnis ab. Sie konnte ja nicht wissen, daß sie genauso wie Surtees hereingelegt worden war.« »Etwa von Parker?« Hassler wandte sich zu dem Butler um. »Von ihm«, bestätigte Mike Rander. »Er hatte Surtees Bastlerpläne von Modellraketen in die Hände gespielt Sie bekommen sie in jedem Spielwarengeschäft für ein paar Dollar.« Hassler lachte. »Weiß Helen Angus schon, daß auch sie hereingelegt worden ist?« »Leutnant Damoni will sie damit in den nächsten Tagen überraschen, wenn alle Einzelgeständnisse fix und fertig unterschrieben sind.« »Wie wird sich Helen Angus freuen«, meinte Hassler und wischte sich ein paar Lachtränen aus dem Gesicht. Dann kam ihm jedoch ein Gedanke und er fragte: »Wo sind nun die richtigen Pläne? Sie sollen sich doch in Frank Carpenters Brieftasche befunden haben?« »Ach richtig, die Pläne…!« Mike Rander sah seinen Butler an. »Wo mögen sie nur sein, Parker?« »Wenn Sie erlauben, Sir, werde ich sie aus ihrem Versteck holen.« Parkers Stimme klang gelassen und
selbstverständlich. Nun wunderte sich selbst Mike Randers. »Sie wissen, wo die echten Pläne sind?« »Gewiß, Sir, mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit.« »Und wo, wenn man fragen darf?« »Wenn Sie erlauben, Sir, lade ich Sie zu einem kleinen Ausflug in die Parks der Stadt ein. Richtiger gesagt, zu einem Ausflug in den Golden Gate Park. Ich vergaß Ihnen mitzuteilen, daß Leutnant Damoni dort bereits auf unsere Ankunft wartet.« »Aus Ihnen soll ein Mensch klug werden«, murmelte der Anwalt. »Selbst mich überraschen Sie noch immer am laufenden Band.« Der Oriental Tea Garden im Golden Gate Park sah genau so aus wie auf der Ansichtskarte. Da war die haargenaue Rekonstruktion orientalischer Tempel, da waren die exakten Nachbildungen verschwiegener Haremsgärten, die vielen Teiche mit Lotosblumen und die geschwungenen Brücken, von denen die ›Mondbrücke‹ besonders ins Auge sprang. Von diesem Teil des Parks aus war die Golden Gate Brücke deutlich zu sehen. Die mächtige, kühne und erregend geschwungene Konstruktion zog die Blicke immer wieder an. Leutnant Damoni hatte wenig Sinn für die Schönheiten dieses Parks. Er sah den Butler erwartungsvoll an. 74 �
»Nun zaubern Sie mal das Kaninchen aus dem Hut«, sagte er. »Hier sollen sich die Konstruktionsunterlagen befinden, die Carpenter gestohlen hat?« »Ich möchte es mit größter Sicherheit annehmen, Sir.« »Lassen wir uns also überraschen«, sagte Damoni zu Mike Rander. »Ich möchte wissen, wie Ihr Butler auf diesen Park gekommen ist. Davon ist doch nie die Rede gewesen.« »Weil Frank Carpenter nicht mehr reden konnte«, antwortete der Butler. »Entsinnen Sie sich des Inhalts der gefundenen Brieftasche, Sir?« »Natürlich…! Moment, befand sich nicht eine Ansichtskarte von diesem Park darunter?« »Darauf spiele ich an, Sir.« »Ja, aber wieso…!?« »Mr. Frank Carpenter ist Einwohner von San Francisco gewesen«, sagte der Butler würdevoll und in dozierendem Tonfall. »Warum hätte er sich solch eine Ansichtskarte kaufen sollen? Er konnte den Park ja schließlich alle Tage besuchen. Es mußte also eine besondere Bewandtnis mit dieser Karte haben. Er besaß Spionagematerial, er hatte vor, es Surtees zu übergeben. Mr. Carpenter riskierte es nicht, dieses Material mit sich herumzutragen. Er kam auf die Idee, einen kleinen Umweg zu wählen. Er richtete das ein, was Fachleute der Spionagebranche einen ›toten Briefkasten‹
nennen. Die bewußte Ansichtskarte war der Schlüssel zu diesem Briefkasten. Diesen Schlüssel nun wollte Carpenter seinem Erpresser Surtees übergeben. Wahrscheinlich mit einigen erklärenden Worten.« »Zum Henker, warum bin ich nicht auf diesen Gedanken gekommen?« ärgerte sich Leutnant Damoni. »Der Bildausschnitt auf der Karte ist aber ziemlich groß«, sagte Mike Rander. Auf Anraten seines Butlers hatte er sich ein Duplikat der Ansichtskarte verschafft. Dieses Duplikat hielt er nun in der Hand. »Ich glaube zu wissen, welches Versteck Carpenter wählte«, sagte Josua Parker. »Sie sehen auf dem rechten Bildrand einen Tempel. Die beiden Bronzetüren sind weit geöffnet. Der Blick fällt, wie auch in natura, auf den schweren vergoldeten Ahnenschrein.« »Stimmt, ist zu sehen«, murmelte Damoni. »Ich schlage vor, in diesen Ahnenschrein zu greifen«, redete der Butler weiter. »Dort werden Sie die vermißten Unterlagen finden.« Leutnant Damoni sah zuerst den Butler, dann Anwalt Mike Rander an. Er schluckte, glaubte wohl kein Wort. Dann aber wollte er es wissen. Er drehte sich auf dem Absatz um und… rannte auf den Tempel zu. Butler Parker wandte sich ab. »Ich denke, Sir, wir wollen die 75 �
Freude Mr. Damonis nicht stören«, sagte er. Als er sich in Bewegung setzte und dem Tempel den Rücken zukehrte, folgte ihm zwar Mike Rander, doch nur zögernd. Wiederholt schaute er sich um. Parker bekam so einen kleinen Vorsprung vor seinem jungen Herrn. Ihn schien die Angelegenheit schon nicht mehr zu interessieren. Für Parker war der Fall erledigt. Leutnant Damoni stieß vom Tempel her einen Schrei aus. Mike Rander blieb nun vollends stehen. Er war gespannt, ob der Crime Officer wirklich die Geheimunterlagen gefunden hatte. »Ich hab sie, ich hab sie…!« brüllte Damoni vom Tempel her. Er schwenkte einen prall gefüllten, großen Umschlag und lief auf Anwalt Mike Rander zu. »Mann, ich hab’ sie tatsächlich gefunden. Alles fotografierte Zeichenpläne. Sagen Sie mir, wie Parker das herausbekommen hat? Ich meine, wie er so richtig hat schalten können?« »Keine Ahnung«, antwortete Mike Rander. »Sie sehen, er hat sich noch nicht mal umgedreht. Für ihn war es selbstverständlich, daß die Unterlagen im Schrein sind.« Leutnant Damoni und Rander holten den Butler ein. Der Polizeioffizier hielt den Umschlag hoch.
»Es sind die Unterlagen«, wiederholte Domani noch einmal. Er strahlte vor Freude. Parker blieb nun doch stehen. »Ich zweifelte nicht einen Moment daran«, sagte er dann würdevoll. »Sie sagen mir etwas, was ich bereits seit dem Blick auf die Inventarliste der Brieftasche wußte, Sir.« »Ja, und warum haben Sie die Unterlagen nicht aus dem Schrein geholt, Parker?« »Weil sie dort am sichersten waren, würde ich sagen. Sie haben ja gesehen, daß die von mir gekauften Bastelpläne vollends ihren Zweck erfüllten und die Gangster beschäftigten, Sir.« »Sie haben Nerven«, stöhnte Damoni auf. »Sie sprechen von etwas, was Parker gar nicht hat«, meinte Anwalt Mike Rander und grinste. »Wie ich meinen Butler einschätze, so beschäftigt er sich schon jetzt wieder mit einem neuen Fall.« »Sie müssen Frisco verlassen?« »Miami Beach erwartet uns«, antwortete Rander. »Oder, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Miami Beach wartet auf Parker. Und ich kann schon jetzt einigen Gangstern versprechen, daß sie von einer Überraschung in die andere fallen werden…!«
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