Andrea Hessler
Republik der Besserwisser
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Warum versuchen wir, über alles und ...
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Andrea Hessler
Republik der Besserwisser
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Warum versuchen wir, über alles und jedes Bescheid zu wissen? Mal ehrlich: Der Besserwisser ist immer der andere, und wer mehr weiß, hat mehr vom Leben. Aber stimmt das wirklich? Wir bekommen täglich suggeriert, dass sich Wissen auszahlt. Wer über bestimmte Informationen verfügt, hat sicherlich bessere Chancen auf einen guten Job, kann sich gesund ernähren, preisgünstige re-importierte Autos kaufen und in die lukrativsten Aktienfonds investieren. Ob Computernutzung oder Autoreparatur – die InformationsTyrannei schraubt die Maßstäbe an unsere Leistungen im privaten und beruflichen Bereich ständig nach oben. Aber macht uns das wirklich zu glücklicheren Menschen? Und was verpassen wir eigentlich, wenn wir uns mit bestimmten Dingen nicht mehr beschäftigen? ISBN 3-87024-571-9 2003 Argon Verlag GmbH, Berlin
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Montag: Kindsmüller ist überall ................................................. 3 Dienstag: Das Leben – eine Quizshow? ................................... 20 Mittwoch: Im Besserwisserclub................................................ 37 Donnerstag: Wissen auf Papier................................................. 54 Freitag: Aus dem Tagebuch eines Besserwissers ..................... 79 Samstag: Endstation Baumarkt ............................................... 101 Sonntag: Glaube, Liebe, Hoffnung ......................................... 126
Montag: Kindsmüller ist überall
I don’t like Mondays Bob Celdof Über jede Sache kann man zwei Reden halten eine für sie und eine gegen sie Protagoras Am zweiten Tag der Schöpfung schied der Herr Erde und Wasser. Und sah, dass es gut war. Vier Tage und ein paar bemerkenswerte Erfolge später schuf er den Menschen; der durfte dann die neu erschaffene Welt mit Namen belegen und fröhlich einherspazieren. Der Mensch benannte den zweiten Tag der Woche nach dem Planeten, den er jeden Abend aufsteigen sah: Montag. Und auch das war gut so. Doch kurze Zeit später wurde Gott zornig, da die Menschen seinem Befehl zuwiderhandelten, verbotenes Obst aßen, ihre Unschuld verloren und Besserwisser wurden. Da ließ Gott die Menschen mit ihren Montagen und dem ganzen übrigen Schlamassel allein und verdonnerte sie zur Arbeit. Jetzt ärgern sich die Menschen vor allem montags, dass sie zur Arbeit gehen müssen. Viele werden aus Ärger oder Angst krank, oder sie geben vor, krank zu sein. Oder sie holen sich am Wochenende – meist in Verbindung mit erhöhtem Alkoholkonsum – ein blaues Auge und machen dann am Montag blau. Und es gibt die Montage der Ehrgeizigen und Fleißigen, die ihren Kater mittels Makeup verbergen und trotz übler Kopfschmerzen zur Arbeit schleichen. Und dann gibt es noch die Langweiler, die aus Pflichtgefühl am Sonntagabend gar nichts getrunken und somit auch keinen Schwips samt Kater -3-
haben. Sie sind am Wochenende gejoggt, haben mit ihren raunzigen Kindern gespielt, ihre Steuererklärung gemacht, die Zeit gelesen und das Kellerregal zusammengebaut. Jetzt hüpfen sie fröhlich pfeifend die Treppe hoch, während wir uns zum Aufzug schleppen, um unser Büro im ersten Stock zu erreichen. Oben angekommen, stehen sie bereits parat und erzählen von ihren wunderbaren Wochenenderlebnissen, die überwiegend ihrer intellektuellen und körperlichen Weiterentwicklung gewidmet waren. Wir hingegen gucken triefäugig und hadern mal wieder mit unserem Selbstkontrollversagen, das uns dazu verleitet hat, das Wochenende von der ersten bis zur letzten Sekunde auszukosten (wir arbeiten ständig am Projekt »schönes Leben«, behaupten Psychologen) und lustig zu sein und zu viel Wein zu trinken, giftige Zigaretten zu rauchen und zu viel zu quatschen, sodass wir jetzt noch ganz heiser sind und uns kaum zur Wehr setzen können gegen diese ewig nüchternen und vernünftigen Besserwisser-Quatschköpfe. Die quetschen sich samt ihrer guten Laune zu mir in die Kaffeeküche. Ich lasse mir einen doppelten Espresso aus dem Automaten zischen und verbrühe mir mangels funktionierender Kleinmotorik fast die Hand; doch Mitleid habe ich nicht zu erwarten, denn Besserwisser haben die Sensibilität von Klosettsitzen und reden immer weiter und reden und reden. Sie haben heute Morgen bereits jede Menge aktuellen Konversationsstoffes angesammelt und blubbern ununterbrochen, um mich an ihren neuen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Diese haben sie den beiden führenden MontagsBesserwisserbibeln entnommen, Spiegel und Focus, die man dank ihres praktischen Formates so prima in öffentlichen Verkehrsmitteln lesen kann. Natürlich fahren Besserwisser Bus und Bahn, um sparsam und umweltschonend zu sein und um die Zeit zum Lesen nutzen zu können, während wir mal wieder damit beschäftigt waren, mit Restalkohol und Konzentrationsstörungen durch die morgendliche Rushhour zu gurken. Jetzt -4-
tauschen sich die Montagmorgen-Streber aus, und wir nachlässigen, vergnügungssüchtigen, katergeplagten SensationSeekers sind leider bei weitem noch nicht zu unserer Tageshöchstform aufgelaufen und können wieder nicht mithalten. Im Moment wäre ich nicht einmal imstande, gegen den skurrilen Herrn Kindsmüller zu argumentieren; also ziehe ich mich in mein Büro zurück. Dort denke ich an den Nachbarn meines Freundes Martin, der für uns zum Synonym für eine naive Weltanschauung geworden ist. Herr Kindsmüller wollte sich mit dem Studenten der Philosophie und Germanistik unterhalten über die Welt der großen Städte und wichtigen Universitäten und fragte den angehenden Geisteswissenschaftler, wie viele Bücher es denn so gebe an einer Universität. Wenigstens 5000, sagte der frisch gebackene Student vorsichtig. Das sei ja keinesfalls möglich, meinte Herr Kindsmüller, völlig von den Socken: Auf der ganzen Welt gebe es, da sei er sich sicher, keine 5000 Bücher – wie also an einer einzigen Universität! Damit war das Thema für ihn erledigt, weitere Informationen und Diskussionen schienen ihm völlig überflüssig. Inzwischen wissen wir: Kindsmüller ist überall. Die naive Sicht auf die Welt und alle dort stattfindenden Begebenheiten, gepaart mit der Überzeugung, vieles – wenn nicht alles – besser zu wissen als die meisten Mitbürger, ist ein Charakteristikum unserer Zeit. Ich schaue aus dem Fenster, schlürfe meinen Kaffee und sehe sie unten vorübergehen – die Protagonisten in der Welt der Besserwisser: Banker im grauen Anzug, Managerinnen im Business-Kostüm, Politessen in Uniform. Manche voll gehängt mit Klunkern, bestückt mit teuren Uhren; andere mit Kaffeeröster-Uhren und witzigen T-Shirts, bestimmt aus der Mata-Hari-Passage; mit blonden Haaren, mit schwarzen Haaren, mit Glatzen. Geschäftig, eilig, diskutierend oder vor sich hin starrend. Kaum einer lacht. Es gibt wenig zu lachen.
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Wir machen uns das Leben gegenseitig schwer. Sie machen uns das Leben schwer. Wer kennt sie nicht, wer hasst sie nicht: Besserwisser sind überall. Sie ruinieren unsere Unterhaltungen mit teils zutreffenden, meist jedoch pseudoqualifizierten Bemerkungen. Sie sind der Tod von privaten Partys und offiziellen Meetings und scheinen mit dem festen Vorsatz durchs Leben zu marschieren, alle anderen Menschen mit ihrem ungesunden Halbwissen zu belästigen. Sie haben zu allem und jedem etwas zu sagen, stets wohlmeinende, jedoch unerwünschte Ratschläge auf den Lippen. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Dozieren, das sie bis zum Exzess beherrschen und damit jede ihnen auch noch so wohlgesinnte Umgebung nerven. Sie erobern trotz ihrer Geistlosigkeit unsere Welt und ruinieren unsere gute Laune. Wir leben nicht in einer Freizeitrepublik. Wir leben in der Republik der Besserwisser. Die kennen den Maler, dessen Bilder wir und unsere ebenfalls halbgebildeten Freunde mit Unverständnis betrachten. Sie wissen um die bahnbrechenden Vorschläge diverser Politiker zum Abbau der Arbeitslosigkeit und können diese selbstverständlich sofort toppen. Sie nerven auf jeder lustigen Fete, indem sie uns belehren über Raumfahrt und Nouvelle Cuisine, existenzialistische Literatur und die neuesten Modetrends aus den Metropolen von Paris bis Schanghai. Sie wissen, wo es Designermöbel zum halben Preis gibt und welche Autoversicherung die günstigsten Beiträge hat. Sie lesen sämtliche Wirtschaftsblätter und haben auch in der Baisse natürlich nur Aktien, die im Wert steigen. Haben wir uns endlich entschlossen, ein Weiterbildungsseminar zu besuchen, treffen wir dort garantiert mindestens einen Besserwisser, der schon hundert solcher Seminare besucht hat und jetzt seine gesammelten Erfahrungen zum Besten geben will. Wir, in aller Bescheidenheit, wissen viel und teilen uns gerne mit – natürlich
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geistreich und fundiert. Doch Besserwisser, da sind wir uns sicher, das sind bestimmt nur die anderen. Ich rühre in meinem Espresso (leider habe ich keinen Zitronensaft – Kaffee mit Zitronensaft soll angeblich Harald Juhnkes ultimativer Kater-Killer gewesen sein. Ich ziehe Zucker vor, der soll das Gehirn in Schwung bringen, zumindest kurzfristig). Warum fallen mir diese Nervbolzen gerade heute auf? Sicherlich gab es den Phänotypus des Besserwissers doch schon immer. Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, die eigene Umgebung inklusive der dort vertretenen Zeitgenossen für optimierungsfähig zu halten. Ohne die Anregung einzelner Vertreter unserer Gattung hätten unsere Vorfahren nicht vor ein paar hunderttausend Jahren auf zwei Beinen ihre Höhlen verlassen, um aufrechten Ganges zu jagen und mittels Werkzeug die Welt zu erobern. Nicht immer ist Besserwisserei schädlich. Auch heute gönne ich neidlos meinen praktisch veranlagten Mitmenschen den Ruhm, den sie durch ihre Tüftelei erringen. Immerhin verdanken wir ihnen so unverzichtbare Hilfsmittel wie jene Knoblauchpresse, die statt des ewigen Matsches jetzt endlich akkurate, winzige Knoblauchwürfelchen produziert und auch noch einfach zu reinigen ist. Leider lässt das Design dieses genialen Küchengerätes zu wünschen übrig, kein Wunder also, dass wir die Presse ausgerechnet auf der Auer Dult entdeckt haben; das ist Münchens lustigste Freiluftveranstaltung, bei der talentierte Propagandisten wie vor hundert Jahren altmodische Gemüsehobel und Hosenspanner anpreisen, die Lichtjahre von der Alessi-Ästhetik entfernt sind, dafür jedoch den Charme von Großmutters Küche versprühen. Trotz ihrer formalen Defizite ist die Knoblauchpresse ein echter Fortschritt der Menschheitsgeschichte, der mich bei jedem Gebrauch aufs Neue begeistert und fast ebenso unentbehrlich geworden ist wie der ScrewpullKorkenzieher, der Korken niemals zerbricht oder zerbröselt, -7-
sondern mit einem satten Plop unversehrt aus dem Flaschenhals zieht. Dann kann man ganz professionell an dem feuchten Ende des Korkens schnuppern und so tun, als würde man daran irgendwie die Qualität des Weines erkennen, aber in Wahrheit will man nur von der eigenen Unsicherheit ablenken. So ist dieser sündhaft teure Korkenzieher die Rettung für romantische Abendessen, wenn man mit zitternden Fingern die erste gemeinsame Flasche Wein öffnet und nur ganz leicht den Besserwisser beziehungsweise die Besserwisserin raushängen lässt, um den potenziellen Partner nicht zu verschrecken. Dabei sind es natürlich in erster Linie Männer, die mit ihren Fähigkeiten und Erfolgen prahlen, wogegen Frauen ihr Können im Zuhören und Bewundern und Nett-Ausschauen und Tischdekorieren beweisen und aus taktischen Erwägungen ihr eindeutig besseres rhetorisches Talent verbergen. Beim Flirten hat sich also kaum etwas geändert in den letzten hundert Jahren – offensichtlich brauchen Männer die permanente Bestätigung, welch tolle Hechte sie sind, und deshalb halten wir Weibchen uns mit unserem profunden Wissen wenigstens so lange zurück, bis wir in einer festen Beziehung stecken, um dann verbal umso heftiger loszulegen und dem Typen zu zeigen, wo zumindest rhetorisch – der Hammer hängt. Alles Lüge Der Mensch ist unvernünftig. Diese Tatsache machen sich ungezählte Ratgeber zunutze. Entweder erzählen sie uns mit erhobenem Zeigefinger, was wir tun und was wir nicht tun sollten. Oder sie belehren uns hinterher, wenn wir mal wieder Mist gebaut haben. Das nützt dann meist noch weniger als alle Ermahnungen im Vorfeld. Ein gutes Beispiel sind die diversen Kater-Killer-Tipps, die uns regelmäßig nach Feiertagen oder nach dem Karneval aufs Auge gedrückt werden. Nicht bewiesen ist, dass Kaffee mit Zitronen- und Orangensaft, Rollmöpse, PuErh-Tee, Artischockensaft und ähnliche Scheußlichkeiten -8-
wirklich Kopfschmerzen und Übelkeit lindern. Sicherlich will uns die Fraktion der Spaßverderber und Gesundheitsfanatiker nur zusätzlich bestrafen. Am wahrscheinlichsten ist, dass echte Schmerzmedikamente wie Aspirin oder Paracetamol helfen (was die Gesundheitsapostel natürlich ablehnen – Strafe muss sein!); ebenso wirksam ist – so paradox das scheint kaltes Bier auf ex, das durch weiteren Alkohol den Alkoholabbau verzögert und so die in unserem Organismus diffundierenden, giftigen, Schmerz auslösenden Zwischenprodukte verdünnt. Cheers! Im beruflichpraktischen Bereich beschert uns die positive, konstruktive (nicht nörgelige, kritisierende) Besserwisserei also viele neue, nützliche Dinge, zum Beispiel den Tempomaten, den Dampfkochtopf, den fahrbaren Rasenmäher. Doch leider nimmt immer mehr eine andere Form der Besserwisserei überhand, die gar nichts zur Verbesserung unseres Lebensstandards beiträgt, sondern vielmehr unsere Nerven, schlimmstenfalls sogar unser Leben ruiniert. Böse Fehlentscheidungen werden von Menschen getroffen, welche sich für ungemein schlauer als andere halten; sie schlagen die guten Ratschläge ihrer Umgebung leichtfertig in den Wind und stürzen so sich selbst und andere ins Verderben. So zerrten Pilot und Copilot der Birgen-Air-Maschine nach dem Start von der Dominikanischen Republik beide so lange in unterschiedliche Richtungen am Steuerknüppel, bis das Flugzeug samt Besatzung und sonnengebräunten To uristen ins Meer stürzte. Nicht jede besserwisserische Fehlentscheidung wird zwangsläufig zum Fiasko; doch bestimmt die sich ausbreitende Besserwisserei immer mehr unser privates wie berufliches Miteinander. Fatale Folge dieser Entwicklung ist keine größere Souveränität in unserer Entscheidungsfindung, sondern eine Einbuße an Lebensqualität. Warum beschäftige ich mich immer häufiger mit Dingen, von denen ich keine Ahnung habe? Warum verplempere ich Zeit und Energie mit der Zubereitung von -9-
Kosmetika, schütte versehentlich zu viel von dem nach Weihnachten riechenden Konservierungsstoff Zimt-Ester in die Feuchtigkeitscreme (ein Rezept der Hobbythek, jener Do- ityourself-Sendung aus den Achtzigern, die dem regelmäßigen Zuschauer ein nahezu autarkes Leben ermöglicht hätte) und bekomme dann im Gesicht Millionen roter, juckender Pusteln? Warum gebe ich Geld für Anlegerzeitschriften aus, obwohl ich gar kein Kapital zum Anlegen habe? Mir geht es wie Millionen anderer Menschen, die ihre Freizeit mit Tätigkeiten füllen, für die sie weder ausgebildet sind noch sich in sonstiger Weise qualifiziert haben: Sie reparieren Autos, verlegen Böden, spekulieren an der Börse und kaufen für Milliarden Euro pro Jahr irgendwelche Pillen, die wenig helfen und oft sogar Leber und Nieren ruinieren. Unzählige unterwerfen sich einer Man-kann-alles-wissen-und-selbermachen-Doktrin; doch das Aufsaugen vermeintlich nützlicher Informationen und Tipps absorbiert so viel Zeit, dass keine mehr übrig bleibt für echte Reflexion. Gerade wegen unserer vielfältigen Beschäftigungen, die uns ein ausgefülltes Leben suggerieren, werden wir daher immer nervöser und unzufriedener. Auch auf meinem Schreibtisch liegen, neben den Resten eines belegten Brötchens vom Freitag, wie jeden Montag der Spiegel und Focus. (Bin ich ein pathologischer Schlamper, ein Messi? Wo ist nur wieder das Buch mit den Tipps, wie man sich selbst, seine Arbeit und den Schreibtisch organisiert?) Was werden mir die heutigen Ausgaben der beiden Konkurrenten bringen – nützliche Informatione n oder nur leidlich gute Unterhaltung? Was nützt es mir, dass der Spiegel mir weismachen will, einer seiner Politik-Redakteure habe unter dem Kabinettstisch gesessen und jede Menge geheimster Informationen erhalten? Dies ist mit Sicherheit ebenso eine Ente wie die Behauptung eines der dortigen Kulturredakteure, die Dresdner Semperoper sei mit Gips restauriert worden, weil das DDR-Regime kein -10-
Geld für Marmor gehabt habe. Was mir beweist, dass der Kulturredakteur noch nie etwas von Stuckmarmor gehört haben kann, einem Gestaltungsmittel, das schon die Architekten des Barock verwendeten, das also mit der finanziellen Situation des DDR-Regimes rein gar nichts zu tun hat. Und was soll ich vom ältesten deutschen Besserwisser-Medium halten, wenn es in seiner vermeintlich ureigensten Domäne der Politik – falsche Fachtermini verwendet und den Minister eines Ministeriums als Amtschef bezeichnet? Wo doch der Amtschef in Wahrheit nicht die politische Spitze eines Ministeriums ist, sondern der Verwaltungschef, also der oberste Manager. Der Besserwisser in uns allen Diese Erkenntnisse verschaffen mir Genugtuung – bin ich selbst ein Besserwisser? Und dann muss ich trotz meiner Kopfschmerzen lachen, weil mir eine Analyse der SpiegelSprache von Hans Magnus Enzensberger wieder einfällt, der dem ersten deutschen Nachrichtenmagazin eine »angestrengte Humorigkeit« und den »verzweifelten Witz eines Alleinunterhalters« bescheinigt hat, der »sein Publikum um jeden Preis bei der Stange halten muss«. Dies gelingt ihm in meinem Fall sogar; Geschichten, so haben wir gelernt, müssen ja nicht wahr sein – Hauptsache, sie sind schön geschrieben. Dagegen sind die Ratings von Focus ziemlich langweilig; mir gefällt nur das Ranking mit den 100 reichsten Deutschen, und das steht alljährlich im Manager Magazin. Die Bestenlisten mit Ärzten und Anwälten sind mir schnuppe. Aber ich gehöre auch nicht unbedingt zur Zielgruppe; Focus wird ja angeblich von der technisch ausgerichteten so genannten Info-Elite gelesen, also jener unangenehmen Besserwisserfraktion, die uns halbjährlich mit neuen Handy-Modellen, nicht funktionierenden Internet-Anschlüssen und der elektronischen -11-
Aufrüstung von Autos belästigt. Der Technik-Schnickschnack in meinem Auto führt dazu, dass ich beim Fahren wegen all der blinkenden Lämpchen und der vielen Knöpfe auf dem Armaturenbrett regelmäßig die Autobahnausfahrt verpasse, da ich die verbale Unterstützung durch die schnarrende Stimme des Leitsystems einfach nicht ertragen kann. Anstatt auf dessen Display blicke ich immer wieder auf die Reichweitenanzeige, denn seit einem einschlägigen Erlebnis mit einem leeren Tank habe ich verdammte Angst davor, stehen zu bleiben. Die Anzeige teilt mir mit, dass ich noch hundert Kilometer fahren könne, und im nächsten Augenblick sind es nur noch fü nfzig Kilometer, weshalb ich in Panik zur nächstgelegenen Raststätte fahre, um dort völlig überteuerten Sprit zu tanken; beim Losfahren stelle ich dann fest, dass ich doch noch mindestens neunzig Kilometer weit hätte fahren können. Also hat mich die Elektronik, die bestimmt ein Technik-Elite-Focus-Leser ausgetüftelt hat, wieder verarscht. Sollte ich mich jetzt endlich genau darüber informieren, wie diese Reichweitenanzeige funktioniert? Würde ich nicht einfacher und glücklicher leben ohne derartige Recherchen? Warum versuchen wir, über alles und jedes Bescheid zu wissen? Warum unterwerfen wir uns einer Informationstyrannei mit dem Ziel der Fast-Allwissenheit? Die meisten von uns wollen eines nicht wahrhaben: Besserwisser sind in unseren Augen immer nur die anderen. Wir selbst hingegen kennen uns auch in fremden Metiers leidlich aus und übertreiben bei der Weitergabe unseres wertvollen Wissens lediglich ein bisschen. Wer genießt es nicht, mit der eigenen Halbbildung zu punkten? Bei bestimmten gesellschaftliche n Events gehören das gekonnte Flöten von Banalitäten und das Vortäuschen von Fachwissen in allen möglichen Disziplinen geradezu zum Charakter der Veranstaltung. Wer bei Partyplauderei und Vernissagen-Geplänkel nicht mitspielen kann, gilt schnell als verstockter Schmock, Langweiler und als nicht gesellschafts-12-
fähig. Der berühmtberüchtigte Smalltalk ist beim zwanglosen Aufeinandertreffen ja auch durchaus sinnvoll, lockert die Atmosphäre und ist ein ideales Instrument, um den Gesprächspartner vorsichtig abzutasten. Daher wird dieses spezielle Talent von Benimmbüchern und Flirt-Ratgebern zur hohen Kunstform erhoben und hat sicherlich seine Berechtigung. Unser alltägliches Miteinander hat nun mal einen anderen Zweck und Charakter als ein wissenschaftliches Symposium. Wissen – auch als Anhäufung nutzloser Einzelinformationen ohne praktische Relevanz – fasziniert uns. Wenn wir etwas ausgetüftelt haben, triumphieren wir wie der Urmensch in Stanley Kubricks Film 2001 – Odyssee im Weltraum, der die Keule erfindet und sofort anderen eins überbrät. An diesem Verhalten hat sich seit einer Million Jahren nur wenig geändert. Heute benutzen wir in der Regel nur Worte statt Prügel. So schauen Millionen Deutsche mehrmals wöchentlich Quizsendungen im Fernsehen an, die aus dem Zusammenhang gerissene Details aus Biologie, Entertainment und Geographie abfragen und schon mittelmäßig erfolgreiche Kandidaten mit höheren Geldsummen belohnen als ein durchschnittlicher Literatur- oder Wissenschaftspreis. Scheitert ein Kandidat, stellen wir mit Befriedigung fest: Mensch, das hätte ich aber gewusst! Doch warum befriedigt es uns neben dem finanziellen Anreiz –, mehr zu wissen als unsere Mitmenschen? Warum genießen wir es, Schnellfahrer am Überholen zu hindern, die größte der kleinen Sunda-Inseln benennen zu können und einem anderen Partygast sämtliche Designer-Outlets Europas aufzuzählen? Nur Besserwisser kommen weiter
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Tag für Tag wird uns suggeriert, dass Wissen sich auszahlt – und auf den ersten Blick stimmt das ja auch. So nervt uns zwar ein Vertreter der Spezies Homo Besserwissens mit seinen Erläuterungen der unterschiedlichen Qualitäten diverser Laptops, Fertiggerichte und Sportwagenmodelle. Doch wenn wir ehrlich sind, werden wir durch den selbstgefälligen Vortrag von Informationen, ohne die wir bisher gut gelebt haben, nicht nur gereizt, sondern auch neidisch. Wer über diese – echten oder vermeintlichen – Insiderinformationen verfügt, hat sicherlich bessere Chancen auf einen guten Job. Er oder sie kann sich gesund ernähren, preisgünstig reimportierte Autos kaufen und in die lukrativsten Fonds investieren. Aufgrund der Erfolgsbeispiele in unserer Umgebung fühlen wir uns dem Druck ausgesetzt, uns ebenfalls eine Vielzahl von Informationen anzueignen, die uns zu vergleichbaren Erfolgen befähigen, dadurch unsere Zufriedenheit erhöhen, unseren Lebensstandard und unser Prestige verbessern. Hervorgerufen wird diese Suggestion in erheblichem Maße durch eine Informationsflut, die uns terrorisiert, weil wir ihr trotz ständigen Medienkonsums immer hinterher hecheln. Eine Unzahl von Ratgeberbüchern, Wirtschaftszeitschriften und Doit-yourself-Magazinen überflutet täglich unsere Umwelt; ständig sind wir mit dem Anspruch konfrontiert, noch mehr zu lesen, alle wichtigen Sendungen im Fernsehen zu verfolgen und regelmäßig im Internet zu surfen. Deutschland hat die dichteste Presselandschaft weltweit. Nirgendwo sonst gibt es ähnlich viele so genannte Nutzwerttitel und Special-Interest-Zeitschriften. Ergänzt wird dieses Sammelsurium durch Dutzende ähnlich gestrickter Fernsehsendungen. Ob Fliegenfischen, Computerspiele oder Autoreparatur – die Informationstyrannei schraubt die Maßstäbe an unsere Leistungen im privaten wie im beruflichen Bereich ständig nach oben; wir sollen Menüs fabrizieren wie der Gourmetkoch im Fernsehen, die politischen Probleme des Nahen Ostens analysieren wie der dortige ARD-14-
Korrespondent und dank cleverer Geldanlage so viel an Vermögen anhäufen, dass wir im Alter nicht auf die staatliche Rente angewiesen sind. Bibeln für Besserwisser: Ratgeberliteratur Die meisten Ratgebermagazine in Presse, Funk und Fernsehen geben praktische Anleitungen und Tipps, zum Beispiel für italienisch kochen, Vogelhäuschen basteln, Pullover stricken. Okay für den, der’s mag. Ratgeber in Buchform erzählen uns dagegen, wie wir das Projekt »Schöner, besser, erfolgreicher leben« am besten bewältigen; dabei ist der Fokus der einzelnen Werke durchaus unterschiedlich. Ein Dauerbrenner ist die Analyse der grundsätzlichen Unterschiede von Mann und Frau (wobei sich die Kommunikation zwischen den Geschlechtern nach meiner Erfahrung trotz dieser Werke in den vergangenen Jahren um keinen Deut verbessert hat). Ganz hoch greifen Autoren mit Titeln wie Die Glücksformel – Glück, Erfolg und Zufriedenheit, vermeintlich mathematisch berechenbar. Ebenfalls Renner sind alle Hinweise, wie wir unser Leben einfacher gestalten, stringenter, effizienter. Mein ultimativer Tipp: Bleiben Sie so, wie Sie sind. Kein Mensch wird gegen seine Natur ordentlicher, sparsamer, einfühlsamer, kultivierter, interessanter, geschmackssicherer, eloquenter, unterhaltsamer … Schade. Und zu bezweifeln ist auch, dass uns höhere Mächte bei diesen sinnlosen Bestrebungen helfen: Weder das Ummodeln der Wohnung nach Prinzipien des Feng Shui noch Titel wie Bestellungen beim Universum haben bei einer einzigen mir bekannten Person Positives bewirkt. Aber man kann schön über diese Experimente plaudern, Sinn für das Außergewöhnliche beweisen und einen gerade noch akzeptablen Touch ins Esoterische zugeben. Macht sich prima auf Partys. Die Folge unserer vielfältigen Bemühungen: Wir leben zwar in einer arbeitsteiligen Gesellschaft; doch letztlich sieht es so -15-
aus, dass nahezu die gesamte Arbeit der Alltagsbewältigung auf fast alle Bürger verteilt wird. Noch nicht einmal Angehörige der Mittelschicht haben heutzutage die finanziellen Möglichkeiten, alle unliebsamen, zeitfressenden und Fremd-Knowhow erfordernden Tätigkeiten outzusourcen. Wir sind gezwungen, in den unterschiedlichsten Bereichen zu dilettieren. Besser wissen, schlechter leben Sicherlich wollen wir alle nicht zu jenen Zeiten mangelnder Bildung zurück, als die Mehrzahl der Menschen kaum Informationen erhielt, nicht mitentscheiden durfte und völlig fremdbestimmt war. Welche fatalen Auswirkungen mangelhafte Informationen, Unwissenheit und blinde Gefolgschaft hinter Gurus, Führern und vermeintlichen Besserwissern haben können, mussten ja gerade die Deutschen im vergangenen Jahrhundert erleben. Wir leben heute in einer Demokratie, in der – glücklicherweise – jeder einen weiten Ermessensspielraum hat, was er wie macht. Diese Freiheit ist ein wesentliches Kennzeichen unserer pluralistischen Gesellschaft. Wir sollten jedoch die mit ihr einhergehenden Nachteile nicht aus den Augen verlieren: Die Komplexität unseres Alltags führt dazu, dass wir uns immer mehr verzetteln. Wir unterliegen nicht nur dem Terror der Überinformation, sondern auch dem Zwang, täglich Dutzende von Entscheidungen zu treffen. Bringt es uns wirklich weiter, bei der Hausratversicherung zehn Euro im Jahr zu sparen? Mit welchem Zeitaufwand haben wir den Wissenserwerb für diese Ersparnis erkauft? Lohnt es sich wirklich, dass wir uns mit Dingen beschäftigen, die früher von Fachleuten erledigt wurden? Warum sollen wir den Druckertreiber eigenhändig installieren? Gehen nicht schöne Traditionen flöten, wenn wir Fachwissen nicht mehr ausreichend schätzen? Sollten wir uns nicht wieder -16-
mehr das alte Sprichwort »Schuster, bleib bei deinem Leisten« zu Herzen nehmen? Der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi meint, eine der wichtigsten Entscheidungen, die ein Mensch treffen müsse, sei jene, womit er seine Zeit verbringe. Nur wenn wir Beschäftigungen wählten, in die wir uns vollkommen versenken könnten, seien wir in der Lage, den von ihm beschriebenen »Flow« zu erreichen: Glück im selbstvergessenen Tun. Csikszentmihalyis Forschungen ergaben, dass die meisten Menschen diesen Zustand des Einsseins mit sich und der Welt wesentlich häufiger bei der Arbeit als in der Freizeit erreichen. Sie wissen viel in ihrem Job, setzen ihr Wissen bestmöglich ein und erreichen so ein Höchstmaß an Zufriedenheit. Dagegen lassen wir uns paradoxerweise gerade in unserer Freizeit stressen. Obwohl wir in einer so genannten Spaßgesellschaft leben, verbringen wir häufig unsere Zeit mit Tätigkeiten, die uns im Grunde unseres Herzens so viel interessieren wie der sprichwörtliche Reissack, der in China umfällt. Dabei spielen wir uns selbst und anderen etwas vor. Unser Ich verteidigt sich gegen den Imageverlust, der bei dem Eingeständnis droht: »Das weiß ich nicht, das kann ich nicht.« Vor allem durch Medien lassen wir uns suggerieren, dass Besserwisserei glücklich und erfolgreich macht und dass uns dank des Anhäufens von Informationen eine bessere Zukunft blüht. In Wahrheit werden wir nicht zufriedener, sondern immer genervter. Am meisten ärgert uns, wenn wir die vermeintlichen Vielwisser und Alleskönner beim Flunkern, bei Übertreibungen oder Irrtümern erwischen. Noch peinlicher ist es, wenn wir beim Seifdesign unseres Lebens, der Schönung unserer Geschichte, der Übertreibung unserer Erfolge, ertappt werden. Häufig erzählen wir lieber etwas Falsches als gar nichts zu erzählen. So wird die allseits gepflegte Besserwisserei nicht selten zur Hochstapelei, unser Leben zu einem einzigen Werbespot in -17-
Sachen Ego. Auc h dieses Verhalten hat eine lange Tradition; schon die chinesischen Kalligraphen im spätmittelalterlichen Yangzhou spielten ihren reichen Gönnern eine exzentrische, bohemienhafte Lebensweise vor, um sich interessant zu machen und möglichst viel Geld abzuzocken. Und immer noch schaffen es vor allem Künstler und professionelle Selbstdarsteller, Aufmerksamkeit zu erregen – Sänger, Tänzer, Schauspieler. Was bleibt uns Durchschnittsmenschen übrig, wenn wir nicht über ein derartiges Talent verfügen? Die verbale Schaumschlägerei: Besserwisserei. Im Glauben, fast alles zu wissen und zu können, werden wir überheblich: Wir spekulieren mit Optionsscheinen und schließen den Herd an (Starkstrom!). Im Beruf verhindert Besserwisserei das Gelingen von Projekten; der Besserwisser stört die Arbeit seiner Kollegen und mischt sich auch in jene Bereiche ein, von denen er keine Ahnung hat. Besonders betroffen von besserwisserischen Einwänden ist der gesamte Dienstleistungssektor und Kreativbereich. Besserwisser beauftragen Architekten und wollen dann die Dachgaube selbst entwerfen; Besserwisser verhunzen Texte von Public-Relations-Profis, Anzeigenkampagnen und Fernsehspots teurer Werbeagenturen. Besserwisser greifen dankbar jede neue Managementtheorie auf und bestehen auf deren Umsetzung im Unternehmen – bis zur nächsten Idee. Besserwisser favorisieren Firmenzusammenschlüsse, weil sie Größe schick finden, obwohl Analysen längst ergeben haben, dass die meisten Fusionen misslingen. Besserwisser geben uns Ernährungstipps, die jeden Ökotrophologen erblassen lassen – um vier Wochen später eine ganz andere Diät anzupreisen. Ananas in Hollywood Zu den gefragtesten Ratgebern zählen Diätbücher. Schlank zu werden und zu bleiben ist eines der wichtigsten Lebensziele für Menschen der westlichen Hemisphäre. Dabei soll man -18-
wahlweise abnehmen mit dem Mond oder mit Topinambur, mit oder ohne Fett, mit Eiweiß oder Kohlehydraten, mit exzessiver Gymnastik oder mäßigem Dauerlauf, mit Herrn Strunz oder mit Herrn Lagerfeld. Schön ist auch, wenn man den eigenen diätischen Ehrgeiz auf den Partner ausdehnen soll (»Wie koche ich meinen Mann schlank?«), ein Modell, das schon bei Gerd und Hillu nicht funktioniert hat und Männer zwangsläufig in die Kneipe treibt, wo sie dann nicht nur Buletten, sondern auch kalorienreiches Bier zu sich nehmen. Diese Diätratgeber haben alle eines gemeinsam: eine geringe Erfolgsquote und eine noch geringere Halbwertzeit. Wer spricht heute noch von der vor Jahren propagierten Hollywood-Diät, die vor allem den ungehemmten Genuss von Ananas propagierte? Ein ähnliches Schicksal werden Blutgruppen-Diät, Trennkost und 3-D-Diät erleiden. Warten wir’s ab. Mahlzeit! Diesen ganzen Schwachsinn lassen wir uns nicht nur gefallen, sondern beißen die Zähne zusammen und machen mit. Wir unterwerfen uns dem Druck verschiedener meinungsbildender Gruppen – Freundeskreis, Partygesellschaft, Abteilung unserer Firma, Sportverein. Sozialpsychologische Untersuchungen haben ergeben, der Gruppendruck gehe so weit, dass wir unseren eigenen Sinneswahrnehmungen nicht mehr trauen und uns objektiv falschen Aussagen anschließen, um nicht negativ aufzufallen. Diese Anpassung an fremde Besserwisserei verursacht häufige Misserfolge, somit Stress, wirkt demoralisierend und ist ungesund. Gerade unangepasste Menschen, Spinner und Exzentriker (die nur ihr eigenes Ding durchziehen und andere in Ruhe lassen), sind gesünder als der Durchschnitt der Bevölkerung in Industrieländern. Besserwisserei frustriert. Besserwisserei tötet. Stellen wir sie doch einfach ab.
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Dienstag: Das Leben – eine Quizshow?
Wissen ist Macht. Aber nichts wissen macht auch nichts. Volksmund Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden. J. W. v. Goethe Wie viel Wissen braucht der Mensch? Es ist Dienstag, kurz nach der Tagesschau. Brav habe ich mich über Gewerkschaftsforderungen, Gesetzesvorlagen und die Situation im Nahen Osten informiert. Der Wetterbericht kündigt für die kommenden Tage endlich ein Frühlingshoch an. Ich lümmle auf der Couch; meine Beine, wie eine Mumie eingewickelt in die orangetürkis gemusterte Bassetti- Decke, hängen seitlich über der linke Sofalehne. Ich versuche, mit der rechten Hand das Rotweinglas zu erreichen, und knete mit der linken meine kalten Zehen. Meine einzigen Gesellschafter an diesem Abend sind die Wollmäuse unter den Heizkörpern; wenn ich den Kopf leicht schräg lege, kann ich sehen, wie sie zwischen dem kalten Luftzug von der Eingangstür und dem warmen Dunst der Heizung hin und her wuseln. Ich nehme mir vor, morgen früh die ganze Wohnung zu saugen, doch dann fällt mir ein, dass ich keine Staubsaugerbeutel mehr habe. Mühsam schäle ich mich aus meiner edlen italienischen Baumwollverpackung und schlurfe zum Schreibtisch, um einen Einkaufszettel zu schreiben. Dabei stolpere ich über die fertig
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gepackte Sporttasche, die wie ein nylonglänzender Vorwurf neben dem Schreibtisch steht. Mangelnde Bewegung führt zu Zellulitis und Herztod. Ich ramme mir das linke vordere Bein des Schreibtisches zwischen die rechten Zehen, verfluche die Entscheidung, aufzustehen, und vor allem meine Vergesslichkeit. Als ich nach der Zettelbox greifen will, stoße ich aus Versehen den blauen Becher mit den Kugelschreibern um, die in alle Richtungen davonkullern; sie klackern auf dem Parkett, ich krieche hinterher, finde neben dem Papierkorb den Einkaufszettel vom vergangenen Wochenende, den ich hatte liegen lassen, weshalb ich das Boeuf Stroganoff leider ohne Zwiebeln zubereiten und meinen Sonntagskaffee ohne Milch trinken musste. Obwohl ich mich ja ausreichend informiert hatte und es besser wusste, musste ich die ge schnetzelte Rinderlende mit Hilfe von Phantasie und Kreativität zubereiten. Ananas aus der Dose half mir beim Verfeinern, was Herr Siebeck wahrscheinlich nicht goutiert hätte, aber Herr Stroganoff hätte mir sicherlich verziehen, und beim Feinschmecker, dem Fachblatt für die gehobene Esskultur, könnte ich mit der neuen Kreation vielleicht sogar den Preis der Hobbyköche gewinnen. Aber vor allem fand ich mein Essen super. Ich liebe den Geschmack von Rindfleisch und bin ein Fan von Ana nas aus der Dose (wie die Ossis zur Vorwende- Zeit), denn die hat immer so schön viel Saft, der sich prima mit dem Fleischsaft verbindet … Ich könnte mir meine kleine Gaumenfreude jetzt natürlich dadurch verderben, dass ich beim Geschmacksdiktator Siebeck nachschlage, der mir bestimmt erklären würde, wie vollkommen unmöglich Konservenfrüchte schmecken. Aber woher weiß Herr Siebeck, was mir wie schmeckt? Kann man überhaupt falsch oder richtig schmecken? -21-
Besserwessi – Besserossi Ein Besserwisser-Thema in aller Kürze: Die Animositäten zwischen Wessis und Ossis haben sich wohl weitgehend gelegt. Sicherlich wird es inzwischen nicht mehr jedem Wessi-Schluri gelingen, die armen Ossis mit unnötigen Versicherungen und sinnlosen Ratenkäufen über den Tisch zu ziehen, die unsere Neubürger zu einer gewissen Verstimmung berechtigt haben. Allerdings finden wir es doch befremdlich, dass sich unsere Brüder und Schwestern im Osten auch nach neueren Umfragen immer noch als die besseren Deutschen fühlen, rein moralisch gesehen. Irgendwie scheint es kaum IMs und keine unverschämten Schaffner, Verkäufer, Kellner etc. gegeben zu haben, sondern nur sympathische Widerstandskämpfer in der Tradition von Rosa Luxemburg und Che Guevara. Der Fachbegriff hierfür, so die Umfrageexpertin Elisabeth NoelleNeumann, ist die »Legendenbildung«: Der Mensch neigt dazu, seine Vergangenheit zu beschönigen. Ansonsten würden wir die ganzen Tiefschläge, die uns im Laufe unseres Lebens so treffen, wohl gar nicht aushakten. Während ich in Gedanken weiter an meinem abgewandelten Rezept arbeite und die Einwände von Freunden und potenziellen Gästen vorwegnehme – Martin würde wahrscheinlich aus purer kritischer Gewohnheit die Nase rümpfen, Daniela würde auf frischen Ananas bestehen –, ergänze ich den überfälligen Einkaufszettel. Dabei stelle ich fest, dass ich mir die Staubsaugerbeutel bereits notiert hatte. Und unterstrichen. Und mit Ausrufungszeichen versehen. Ich stecke den Zettel in mein Portemonnaie; so habe ich ihn garantiert beim nächsten Einkauf dabei. Diese Vorbeugungsmaßnahme löst jedoch nicht mein grundsätzliches Problem, das ich mit Millionen Menschen teile: -22-
Ich weiß zwar viel, vergesse aber ständig etwas. Weiß ich wirklich mehr und bin schlauer als Hans Magnus Enzensbergers Friseuse Zizi, die er als Verkörperung unserer Trashkultur erfunden hat, bevor es diesen Begriff überhaupt gab? Zizi hat keinen intellektuellen Ehrgeiz; sie füllt ihre leidlich anspruchslosen grauen Zellen mit Informationsmüll aus Fernsehen und Klatschblättern. Da jedoch unsere Welt – inklusive der Hitparaden-Seifenopern-Kultur – immer komplexer wird, müssen sich Menschen wie Zizi trotzdem ganz schön anstrengen, um all die Prominenten-Affären, Pop-Hits und Namen von Fertiggerichten, Musikproduzenten und Teppichludern abrufbereit zu speichern und sich ihre soziale Kommunikations- und Handlungsfähigkeit zu sichern. Bedeutet Vergesslichkeit, dumm zu sein? Das ist schwerer, als man glaubt. Die Vielfalt unseres Alltags und der Schwall an Trivialitäten, der uns täglich überschwemmt, hätten selbst unsere größten Denker vergangener Jahrhunderte heillos überfordert. Wir mögen uns im Durchschnitt auf einem niedrigeren intellektuellen Niveau bewegen als Leibniz oder Kant; doch wissen wir heute, in Bits und Bytes gemessen, viel mehr als Goethe, Hegel und Schopenhauer. Und wir haben – ebenso wenig wie Fichte, Herder oder Nietzsche – meist keine Skrupel, unsere Besserwisserei durchzusetzen. Die Philosophen führten teilweise schlimmere öffentliche Schlammschlachten als Ralph Siegel und Dieter Bohlen beim Grand Prix d’Eurovision. Hegel und Schleiermacher gingen wegen der Beurteilung einer Dissertation mit Messern aufeinander los; Arthur Schopenhauer beschimpfte Hegel als platten, geistlosen, ekelhaft widerlichen und unwissenden Scharlatan. Herder warf Kant vor, Hirn-23-
gespinste zu produzieren, der notorisch überhebliche Fichte nannte seinen Kollegen Nicolai ungezogen und tölpelhaft. Wir streiten heute überwiegend nicht um philosophische Probleme, sondern ärgern uns über arrogante Computerverkäufer, hochnäsige Kellner und Rücksichtslosigkeit im privaten wie geschäftlichen Umgang. So lassen wir uns oft den Schneid abkaufen; obwohl ich seit fünfzehn Jahren mit dem Computer arbeite, husche ich immer noch verschreckt durch Vobis-Läden, Saturn oder Mediamarkt und traue mich kaum, einen Verkäufer anzusprechen, der mir eine Maus verkaufen könnte. Ich habe Angst vor dem Technik-Geblubber und vor dem Eingeständnis, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wie die schönen Buchstaben von der Tastatur auf meinen Bildschirm wandern. emnid-Umfrage: 37 Mio. Bundesbürger verweigern sich dem Internet. Schmusen und Schikanieren Eines der beliebtesten Besserwisser-Themen in Deutschland ist die immer noch unbeantwortete, drängende Frage: Wer schikaniert wen mehr: unfreundliche Verkäufer, Kellner und Handwerker ihre Kunden? Oder doch die unverschämte Kundschaft eher Verkäufer und andere Dienstleister? Für beide Standpunkte finden sich unendlich viele Zeugen und Referenzen. So widmet sich das gelungene Buch Alptraum Kunde – der Titel lässt es uns ahnen – den armen, gebeutelten Verkäufern, die durch inkompetente, unverschämte Kunden an den Rand eines Nervenzusammenbruches getrieben werden. Kein Wunder, dass sich Verkäufer eines Baumarktes auf einer eigenen Website mit dem Namen Baumarkt-Horror austoben, wo sie von unglaublichen Erlebnissen mit besserwisserischen Hobby-
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Installateuren berichten, die zu allem Überfluss auch noch ihre ungezogenen Köter zwischen die Regale kacken lassen. Die brutale Direktheit der Deutschen, ob im philosophischen Diskurs, beim Seelenstriptease im Fernsehen oder im persönlichen Kontakt mit Freunden und Geschäftspartnern, stößt vielen unserer ausländischen Besucher auf; der Australier Richard Lord schrieb sogar eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit uns Deutschen und warnte angelsächsische Abenteurer, die sich zu uns wagen, vor Unfreundlichkeit und gnadenloser Kritik, Arroganz und Besserwisserei. Unrecht hat er damit nicht. In unserer Tübinger Frauen-WG hatten wir kurzfristig eine französische Mitbewohnerin namens Jeanette, die uns ein Semester lang nervte, weil sie immer wieder Zitronenschalen auf den Kompost schmiss. Die Feinheiten der schwäbischen Mülltrennungsphilosophie blieben ihr ein Buch mit sieben Siegeln, und unsere didaktischen Fähigkeiten reichten nicht aus, ihr das Problem der mit Chemie behandelten Zitronenschalen in seiner ganzen Dimension begreiflich zu machen. Wenn wir also gelegentlich – rein rhetorisch – in die Runde fragten, wer denn schon wieder gegen die Regeln des reinen Kompostes (der übrigens fürchterlich stank und unter hygienischen Gesichtspunkten völlig untragbar war) verstoßen hatte, sagte sie einfach mit charmantem Lächeln: »Isch.« Am Ende des Semesters warf sie sich ein letztes Mal in Schale und lud Freunde zu einem orgiastischen Schneckenessen ein; dann schleuderten die wild gewordenen Franzosen mitten in der Nacht 120 leere Schneckenhäuser an unsere Haustür, sodass wir fast aus dem Bett fielen – und jede Menge Weinflaschen auf den Kompost. Am nächsten Tag ging Jeanette zurück nach Paris. Sie trennte lieber sich von uns und Deutschland als den deutschen Müll.
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Ebenfalls häufig wird von der Verkäuferfront bemängelt, dass sie sich in ihrem Job heutzutage fast wie Animateure anbiedern müssten, um noch Erfolg zu haben. Andererseits empfehlen Verkaufstrainer (die wahrscheinlich selbst nie das letzte Rädchen Lyoner halbieren müssen, um genau 50 Gramm auf die Waage zu kriegen!), keinen kriecherischen Schmusekurs zu fahren, sondern eine ideale Balance zu finden zwischen freundlicher Zustimmung und kompetentem Widerspruch. Erstaunlich ist, dass keines der von seriösen Profis empfohlenen Rezepte den größten Erfolg verspricht. Vielmehr sind genau jene Verkäufer wirtschaftlich am erfolgreichsten, die sich am unverschämtesten aufführen: Anlagebetrüger. Die drängeln am Telefon und schreien und beschimpfen ihre Kunden sogar als Feiglinge und Schlappschwänze. Und der gemeine Deutsche, ebenso feige wie geldgierig, zeichnet Optionsscheine und verjubelt – tief in seinem Innern sicherlich wider besseres Wissen – seine Spargroschen. Ganz allein wollen wir uns diesen Besserwisser-Schuh jedoch nicht anziehen; wir mögen zwar – unglücklicherweise auch im Ausland – häufig eine oberlehrerhafte Attitüde an den Tag legen. Aber wir trösten uns mit der Erkenntnis aus unseren Urlaubserlebnissen, dass unsere Nachbarn auch nicht besser sind. Am besten lässt sich die Besserwisser-Konkurrenz auf für alle Kombattanten fremdem Terrain beobachten. So hat ein tunesischer Hotelmanager, um endlich die täglichen Keilereien zwischen Holländern, Deutschen und Engländern abzustellen, die Urlauber nach Nationen getrennt in den riesigen Speisesälen seines Ferienbunkers untergebracht. Jetzt kloppen sie sich zwar immer noch – aber erst am Strand, wenn die Deutschen morgens um sechs mal wieder alle Liegen besetzt haben. Auf dieses Niveau würden wir uns zwar nicht herabbegeben; uns stinkt stattdessen, dass unsere französischen Freunde prinzipiell meinen, sie hätten das Savoir vivre gepachtet, und -26-
stundenlang über ihren Wein quatschen; unsere englischen Nachbarn fühlen sich immer noch als die Eroberer im Auftrag von Her Majesty und tun so, als würde ihnen die Welt gehören, während sämtliche Italiener unseres bevorzugten umbrischen Urlaubsdorfes der festen Überzeugung sind, dass überhaupt nur in Italien richtig gekocht werde – die Meinung ihrer deutschen Freunde und Bekannten, also unsere, spielt bei all diesen Diskussionen so gut wie keine Rolle. Und wir versinken regelmäßig in Hochachtung, wenn wir den Eindruck haben, jemand habe mehr Ahnung als wir, bis wir es schließlich nicht mehr ausha lten und aus der Haut fahren. Offensichtlich entwickeln wir zuerst Minderwertigkeitskomplexe gegenüber unseren europäischen Nachbarn, um schließlich zu dem uns oft vorgeworfenen rüden Verhalten überzugehen. Dann lassen wir gerne den Moralapostel raushängen, werfen den Italienern vor, einen Kriminellen an die Staatsspitze gesetzt zu haben und sich selbst bevorzugt im Ausland zu tummeln, weil bei ihnen alles drunter und drüber geht. Wissen und Lifestyle waren für die Deutschen immer schon Statussymbole Doch wir beruhigen uns auch schnell wieder und sind eigentlich nicht so schlimm, wie man uns gerne vorwirft. Schon unsere sprichwörtlich ungezogenen Vorfahren, die Vandalen, waren gar nicht so brutal, wie man ihnen nachsagt. Sie versuchten sogar, die vornehmen Römer samt deren kultivierten Lebensgewohnheiten zu imitieren. Im besetzten Karthago zogen sie in die römischen Villenviertel und unternahmen jede denkbare Anstrengung, um sich zu assimilieren und ebenso snobby zu werden wie ihre Feinde.
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Das scheint uns bis heute nicht richtig zu glücken. Unsere französischen Nachbarn beklagen schon seit jeher eine gewisse Trampelhaftigkeit der Deutschen. Voltaire disputierte mit Friedrich dem Großen viele Jahre; schließlich hatte der Preuße genug von dem feingeistigen Franzosen und entließ ihn in Ungnade. Voltaire erging sich nicht in vulgären Beschimpfungen seines ehemaligen Gönners, sondern bemerkte nur süffisant »On presse l’orange, on Jette Pécorse.« Und wann werd ich Millionär? Das alles weiß Zizi hundertprozentig nicht; aber sie würde wahrscheinlich die Staubsaugerbeutel nicht vergessen. Warum also kann ich mir die Streitereien von Königen und Philosophen merken, nicht aber alltägliche, banale Aufgaben? Und wessen Leben verläuft wohl angenehmer, ruhiger, entspannter: meines oder das der Zizis dieser Welt? »Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück.« Gottfried Benn Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als »schützende Ignoranz«: Die Dummen wissen nicht, dass sie dumm sind; sie sind – wohl zu ihrem eigenen Schutz – doppelt inkompetent. Sie reden Stuss, treffen falsche Entscheidungen und bewerten ihr Verhalten auch noch falsch, nämlich zu positiv. 80 Prozent der Deutschen halten deutsche Produkte und Dienstleistungen für Weltspitze. 80 Prozent aller Autofahrer halten sich für bessere Fahrer als der Durchschnitt. -28-
Da bin ich doch glücklicherweise wesentlich reflektierter: Ich weiß, dass ich ein vergesslicher Trottel bin und nicht einparken kann. Oder, um einen weiteren Klassiker abzuwandeln: Ich weiß, dass ich oft nichts weiß. Zum Beispiel weiß ich leider nicht, was mir meine 30 Programme heute zu bieten haben; auf dem Einkaufszettel vom Wochenende war neben Milch und Staubsaugerbeuteln auch vermerkt: Programmzeitschrift kaufen. Da ich keine Lust auf Volksmusik, einen B-Western aus den 50er Jahren oder ein Polit-Magazin habe, bleibe ich beim Zappen wie so oft bei einer Quizsendung hängen. Bei der Quizsendung. Der Abend ist gerettet. Es gibt Wer wird Millionär? mit Günther Jauch. Dies wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine nette Fernsehstunde: spannend, unterhaltsam, informativ. Ich erinnere mich an die Aussage eines Medienwissenschaftlers – seinen Namen habe ich leider vergessen –, der meint: »Das Fernsehen ist ein mediokres Medium, es macht Dumme dümmer und Kluge klüger.« Das ist eine prima Rechtfertigung (vor wem eigentlich?) für meinen weinseligen Quizabend. Es werden zwar keine klassischen Zizis auf dem Kandidatenstuhl sitzen; doch ich werde Menschen erleben, die schwitzend versuchen, in den Tiefen ihres Schulwissens und ihrer Allgemeinbildung zu kramen; sie werden mit den Augen rollen, ›oooch jetzt ham se mich aber erwischt‹ ächzen und sich überwiegend bodenlos blamieren. Ich werde grinsen, mir selbst einreden, dass ich an ihrer Stelle selbstverständlich wüsste, dass ein Tier namens Klunkerkranich existiert und dass unser westlicher Kulturkreis Abendland genannt wird. Denn ohne Zweifel könnte ich mindestens 95 Prozent der vom Computer ausgespuckten Frage n -29-
beantworten. So ärgere ich mich, dass nicht ich bei Günther Jauch sitze, mit ihm schäkern und die Million abzocken kann. Ich bin nicht allein mit Jauch, den Kandidaten und meinem Bordeaux; zwischen acht und zwölf Millionen Zuschauer raten jedes Mal mit. In der Werbepause hole ich mir Brie und Baguette sowie ein weiteres Glas Rotwein. Schon etwas angetütert überlege ich: Was fasziniert uns an diesem überwiegend banalen medialen Kreuzworträtsel? Und was bringt Menschen dazu, sich für dieses Quiz zu bewerben, in der Hoffnung oder gar trügerischen Gewissheit, mehr zu wissen als viele andere? Mythos unserer Zeit: Nur die permanente Anhäufung von Wissen, die dauernde Weiterbildung, garantiert uns Glück und Erfolg. Allzu schnell sind wir bereit, zu glauben, dass lebenslanges Lernen uns tatsächlich weiterbringt, dass wir durch das Aufnehmen immer neuer Informationen klüger, erfolgreicher, unabhängiger werden, den Hauptgewinn bekommen. Wir sollen nicht mehr fürs Leben, sondern lebenslänglich lernen, und dabei schwingt für viele Menschen inzwischen der Ruch einer Verurteilung mit: Kreuzworträtsel lösen bis zum Ende deiner Tage. Was, wenn man kein leidenschaftlicher Rätselfreak ist? Und irgendwie auch ohne ständige Fortbildung mit sich und der Welt zufrieden? Auch Pädagogen und Soziologen beurteilen diesen Anspruch zunehmend kritisch; sie beklagen, dass die Forderung nach lebenslangem Lernen zu einem Glaubenssatz mutiert sei, dessen Umsetzung mit missionarischem Eifer verfolgt werde. War die Möglichkeit des Bildungserwerbs vor wenigen Jahrzehnten noch Ausdruck von Demokratisierung und mehr sozialer Gerechtigkeit, so ist sie heute eher Zwang als Chance. -30-
So wird auch Zizi sich regelmäßig nicht nur die Informationen über Adel und Showbiz zu Gemüte führen, sondern ebenso jene über neue Haarfarbemittel und Shampoos. Aber vielleicht sehen Kritiker der Weiterbildungsdoktrin diese ja auch zu problematisch; weder die triviale noch die berufsorientierte Spielart des Wissenserwerbs taugt tatsächlich zum Religionsersatz oder ist ausschließlich Selbstzweck. Beide ermöglichen uns erst lebensnotwendige soziale Interaktionen – gleichgültig, ob wir nun die deutschen Fußballmeister seit Gründung der Bundesliga aufsagen können oder sämtliche Fleisch fressenden Dinosaurier. Beim Quiz à la Wer wird Millionär? ermöglicht die zufällige Auswahl der Fragen, die längst nicht alle auf Bildung im klassischen Sinn, ja noch nicht einmal auf einfachem Schulwissen basieren, fast allen Teilnehmern wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis: Ich weiß, also bin ich! Genauso wie ich mit Extrainfos bei der Arbeit, der Kindererziehung oder beim Fußballgucken Kompetenz beweise und mir somit die ersehnte soziale Anerkennung sichere, kann auch der Quizkandidat entsprechende Erfolge verbuchen. Der persönliche Erfolg oder Misserfolg bei der Quizsendung hängt noch mehr als in anderen Lebensbereichen zwar überwiegend vom Zufall ab – nicht jeder kann sich bei so exotischen Themen wie Tiefseeschnecken, Edelsteine und Feldherren gleichermaßen auskennen. Aber es gibt gewisse, von der Mehrzahl der Menschen akzeptierte Mindeststandards; auch wenn wir uns von einem früher allgemeingültigen Bildungskanon inzwischen entfernt haben, werden sich doch die meisten Zuschauer mit mir fragen: Kann ein Mensch intelligent und gebildet sein, der den Spruch nicht kennt »Warum ist die Banane krumm?« »Nennen Sie fünf Rebsorten.« (Aufgabe beim Test für die Aufnahme in den diplomatischen Dienst)
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Ich nippe an meinem Bordeaux und zittere erst mit Karin und dann mit Herbert, die mangels Erfolgs beide keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Mit der Genugtuung des Besserwissers stelle ich fest, dass ich doch von meiner Schulbildung zehre, obwohl ich die Schule und insbesondere sämtliche dort agierenden Lehrkräfte nicht ausstehen konnte und das FürsLeben-Lernen mir schnurzegal war. OECD-Studie: 10 Prozent der deutschen Schüler sind funktionelle Analphabeten. Die Leistungen der deutschen Schüler liegen in allen Fächern unter dem Durchschnitt. In Deutschland gibt es die meisten Sitzenbleiber. Der Landauer Kognitionspsychologe Reinhold Jäger, der sich wissenschaftlich mit dem Lernen beschäftigt, stellt wie viele seiner Kollegen unserem Bildungssystem ein vernichtendes Zeugnis aus: Es suggeriere, dass einfache Regeln und Lösungswege ausreichten und dass spotmäßige Einzelinformationen und Spezialwissen als »Bildung« bezeichnet werden könnten. Es gebe kein allgemein akzeptiertes Wissensniveau, keine Honorierung von echten Leistungen statt formaler Qualifikationen; unser Bildungssystem orientiere sich nicht an der Lebenswirklichkeit, es fördere weder die Vermittlung von vernetztem Wissen noch die Anleitung zur Teamarbeit. Der Erfolg von Wer wird Millionär? ist kongenialer Ausdruck dieser Defizite: Wenn Einzelkämpfer Robert im Rampenlicht sitzt, muss er aus dem Zusammenhang gerissene Fragen beantworten.
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Nach welcher Märchenfigur hat der Schriftsteller Fallada sein Pseudonym gewählt? Er darf nur in der äußersten Not die Hilfe von Freunden oder vom Publikum in Anspruch nehmen; dann stehen für die Hilfestellung nur wenige Sekunden zur Verfügung. Die ganze Veranstaltung ist ein typischer Teil unserer Beschleunigungsgesellschaft, deren Motto lautet: immer mehr, immer schneller, höher, weiter, erfolgreicher. Kein Wunder, dass sich bei diesen Anforderungen zunehmend Unbehagen an unserer Spaß-durchLeistung-Gesellschaft breit macht. Wer wie Zizi nicht ganz doof ist, aber in der Abteilungsleiterbesprechung oder auf der Party keinen wesentlichen Wissensoutput zu bieten hat, bekommt schnell Schwierigkeiten, ein dauerha ftes und ausreichendes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Nicht nur gilt, »Ich weiß, also bin ich!«, sondern auch die tragische Negation: »Ich weiß nicht, also bin ich nicht!« Psychologen und Therapeuten haben daher neuerdings neben den klassischen Krankheiten wie Psychosen oder Paranoia ein weiteres Betätigungsfeld: Sie müssen sich immer häufiger auch mit zunächst so unwirklich anmutenden Störungen beschäftigen wie der Gelotophobie: der krankhaften Angst, ausgelacht zu werden. Warum alles besser wissen? Nur allzu schnell lassen wir uns ins Besserwisser-Boxhorn jagen, hecheln wie der Esel hinter der Möhre hinter den Vorgaben her, die uns unsere Umgebung macht. Nachdem die 80er und 90er Jahre eine neue, intensivere Beziehung zu -33-
unserem Körper einforderten und reihenweise 50jährige Muttis mit Übergewicht in den Aerobic-Kurs sprinteten, manifestiert sich in unserem aktuellen Jahrzehnt eine weitere Doktrin: Sei clever und vermarkte dein Wissen – es lohnt sich, ein Besserwisser zu sein! Wir sollen nicht nur fit und schlank, sondern spontan und originell, belesen und geistreich sein – und andere damit aus dem Feld schlagen. Deshalb ist der schlagfertige Harald Schmidt unsere Ikone, während die Zizis natürlich auf ewig sonnengebräunte Dünnbrettbohrer aus »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« oder »Verbotene Liebe« stehen. Und wenn Harald Schmidt mit leichtem Teint aus dem Sommerurlaub zurückkehrt, dann wünschen wir uns ihn wieder blass, blaulippig und böse – so, wie wir ihn lieben. Es gehören schon ein großzügig dimensioniertes Selbstbewusstsein und ein gehöriges Maß an Rücksichtslosigkeit dazu, will man sich diesen Anforderungen nach Wissen und Esprit sowie dem sozialen Druck der eigenen Umgebung entziehen. Nur wenige von uns werden am Ende ihres Lebens wie Nietzsche beha upten können: »Ich habe nie über Fragen nachgedacht, die keine sind. Ich habe mich nicht verschwendet.« Auch ich bin gegen Ende der Sendung – wie meistens hat keiner der Kandidaten eine Million gewonnen – glücklicherweise viele Gläser voll Rotwein von der überheblichen Selbsteinschätzung Nietzsches entfernt. Bei aller kritischen Distanz fühle ich mich Enzensbergers blauäugiger Zizi näher als dem arroganten Skeptiker. Kurz bevor dieser sich endgültig in den Wahnsinn verabschiedete (wohl eine Folge der Syphilis, nicht des Alkohols), hielt er sich immer noch für einen ganz tollen Typen und bezeichnete die Kapitel seiner Biographie Ecce Homo mit Sprüchen wie »Warum ich so klug bin, warum ich so weise bin, warum ich so gute Bücher schreibe«. So unverfroren selbstherrlich würden sich von uns sicherlich nur wenige aufführen. Doch auch die einfache, gesunde -34-
Selbsteinschätzung inklusive Selbstkritik wird in unserer Gesellschaft systematisch ausgeschaltet. Von Kindesbeinen an werden wir darauf programmiert, Wissen wie Waren anzuhäufen und gleichzeitig unsere höheren Reflexionsprozesse zu unterdrücken. Wir tragen unsere Belesenheit und unser Knowhow wie eine Standarte vor uns her; sie haben eine ähnliche Funktion wie die Labels unserer Kleidung: zu kommunizieren, wie toll und interessant, individuell und attraktiv wir sind. Dazu gehört, dass wir, aus pragmatischen und nachvollziehbaren Gründen, im privaten und gesellschaftlichen Umgang miteinander eine Show abziehen; wir studieren unsere Rollen und lernen Texte auswendig, um abwechselnd im Wirtschaftskrimi und in der Boulevardkomödie, als schlauer Quizkandidat, geistreicher Unterhalter oder Protagonist eines Liebesdramas zu brillieren. Diese Aufführungen nennen wir dann unser Leben. Doch auch wenn wir bei unserer Theaterspielerei etwas über die Stränge schlagen, indem wir uns mittels Wissen unangenehm produzieren, sind die einzelnen Akte meist nicht Ausdruck reiner Eitelkeit, sondern aus der Not geboren. Wer überleben will, darf sein Licht keinesfalls unter den Scheffel stellen; man muss sich in Szene setzen und mit psychologischen Tricks arbeiten. Es genügt nicht, mehr als andere zu wissen; wer Erfolg haben will, muss sich taktisch geschickt verhalten und Verbündete finden. Auch dafür ist Wer wird Millionär? ein gelungenes, weil aus dem Leben gegriffenes Beispiel. Wenn Günther Jauchs Kandidaten ihn mit großen Augen und jammernder Stimme um Hinweise bitten, gleichen sie den Kindern an der Kasse im Supermarkt, die ihre Mütter wegen der dort aufgebauten Pyramiden aus Süßigkeiten nerven; diese werden von Marketingfachleuten nicht umsonst »Quengelware« genannt. Die Fortsetzung der Geschichte für Er-
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wachsene – das Eis an der Tankstelle, der Schokoriegel im Kino wird dann als »Impulsartikel« bezeichnet: Konsumiere sofort, denke später. Nichts anderes gilt für unser wie Quengeloder Impulsartikel erworbenes Häppchenwissen: Es bringt uns nur einen vorübergehenden, oft auch nur einen vermeintlichen Vorteil. Mir hat das Millionen-Quiz an diesem Abend zwar einen Schwips und gute Unterha ltung, aber kein Geld gebracht. Durch den exzellenten Rotwein ermutigt, beschließe ich, mich endlich als Kandidatin zu bewerben. Für mein Vergesslichkeitsproblem habe ich allerdings immer noch keine Lösung gefunden. Und wenn ich ehrlich bin, ist es mir – Häppchenwissen hin oder her wie vielen meiner Mitmenschen einfach wichtiger, im Job und beim Smalltalk mitreden zu können, als rechtzeitig Staubsaugerbeutel im Haus zu haben. Ich weiß, dass eine perfekte Wohnung mir auch Anerkennung bringen könnte. Doch die ist mir weit weniger wichtig, als gekonnt über die Ästhetik des amerikanischen Westerns, über die dekonstruktivistische Mode von Rei Kawakubo oder die neuesten Entwicklungen in der Gentechnik parlieren zu können. Ich gebe zu, ein Besserwisser zu sein. Und nur wer die richtigen Antworten kennt, wird Anerkennungsmillionär.
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Mittwoch: Im Besserwisserclub
Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem ändern zu. Altes Sprichwort Niemand ist dagegen gefeit, dass er einmal etwas Albernes sagt. Ärgerlich ist das nur, wenn einer so etwas mit Pathos von sich gibt. Michel de Montaigne Besserwisser in nächster Nähe und anderswo Nach meinem unterhaltsamen, aber etwas einsamen Fernsehabend mit Günther Jauch will ich mich am Mittwoch mit Freunden treffen. Das ist als Belohnung für meine frisch geputzte Wohnung wirklich angemessen: Ausgehen und Spaß haben. Mit diesem Vergnügen liege ich laut Meinungsforschung voll im Trend. Beliebteste Freizeitbeschäftigung der Deutschen heute: Fernsehen Radiohören Zeitunglesen Aktivitäten im Freundeskreis Beliebteste Freizeitbeschäftigung der Deutschen in den 50er/60er Jahren: -37-
Aus-dem-Fenster-Schauen Das Aus-dem-Fenster-Schauen ist hierzulande weitgehend verschwunden; nur in kleinbürgerlichen Wohnvierteln sieht man gelege ntlich noch Opas im Rippenunterhemd, die Arme aufgestützt auf einem Sofakissen mit aufgestickten Blumen, mit griesgrämigem Gesicht über dem Sims hängen. Dabei wird gerne geraucht und Dosenbier getrunken; dann werfen sie ihre Kippen auf den Bürgersteig. Und wenn jemand falsch parkt, wird sofort gemeckert und die Autonummer notiert. Beobachten, Kontrollieren und Denunzieren tauchen zwar in den einschlägigen Untersuchungen und Statistiken nicht auf, sind aber als Freizeitbeschäftigung hierzulande weiterhin verbreitet und äußerst beliebt. Ein selbst ernannter Hilfssheriff patrouilliert regelmäßig durch unsere Wohngegend und steckt fotokopierte Zettel mit Drohungen an die Windschutzscheiben von Falschparkern, bevor er zur Polizei geht und Anzeige erstattet. Woher nimmt dieser Typ die Zeit und die Kraft, sich mit banalen Ordnungswidrigkeiten zu beschäftigen? Offensichtlich hat er kein Interesse an wirklich sinnvollen Beschäftigungen: Nachrichten schauen, After-Work-Partys besuchen, die In-und-Out- Listen von Vogue und Gala studieren, von der perfekten Welt träumen, in der alle Menschen gut gekleidet, gut gelaunt und gut eingerichtet sind. Auf seine Art bewegt sich der Rippenhemd-Opa mit seiner Parksünderverfolgung in einem sehr dauerhaften Trend. Schon die heilige Inquisition konnte sich jeder Menge williger Zuträger bedienen. Während im stockkatholischen Italien, in unmittelbarer Nachbarschaft des Vatikans, die Inquisition teilweise sogar verboten war, wurden hierzulande Hunderttausende im Namen des rechten Glaubens auf Basis einer tödlichen In- undOut-Liste denunziert und hingemetzelt. So ließ zum Beispiel der Erzbischof von Trier im Jahr 1585 so viele Frauen als Hexen verbrennen, dass in zwei Dörfern der Gegend jeweils nur noch -38-
zwei Frauen übrig blieben. Der Einsatz deutscher Besserwisser hat sich für die katholische Kirche also bewährt, und so wundert es nicht, dass heute mit Kardinal Josef Ratzinger wiederum ein Deutscher als Chef der obersten Kontrollbehörde, der Glaubenskongregation, amtiert. Besserwisserpflicht: Immer im Trend sein Wie entstehen Trends? Wer macht sie? Wer sind die wahren Trendsetter? Und wer bringt uns wie dazu, ihnen zu folgen? Firmen wie Adidas und Levi’s schicken Trendscouts los, um den Puls der Zeit pochen zu hören. Das sind Berufsjugendliche, die sich in Kreisen bewegen, zu denen angejahrte Manager keinen Zugang haben. Die berichten dann über interessante Phänomene wie die Angewohnheit amerikanischer Ghetto-Kids, aus Solidarität ihre Sneakers ohne Schnürsenkel und ihre Hosen ohne Gürtel zu tragen, weil ihre Freunde im Knast sitzen und keine Schnürsenkel oder Gürtel haben dürfen. Dann produzieren diese Unternehmen Hosen, die im Schritt hängen und auch ansonsten ziemlich derangiert aussehen. Die können dann Teenager aus der Mittelschicht für teures Geld kaufen, um ein cooles Image zu bekommen. Daraus folgt zwangsläufig, dass sich Verbrechen doch lohnt. Zwar nicht für jene, die geklaut oder geschossen haben. Aber auf Umwegen dann für unsere Wirtschaft, also für uns alle. Perfektioniert wird dieses System durch professionelle Agenturen und Trendbüros. Dort sitzen Trendforscher, die die Berichte der Scouts wissenschaftlichanalytisch aufbereiten und für teures Geld verkaufen. Und irgendwann landen dann so unsinnige Gepflogenheiten wie absichtlich verwanzte Hosen oder sinnlose Sicherheitsnadeln bei Couturiers. Dann kauft sich die Düsseldorfer Schickeria bei Eickhoff auf der Kö zerrissene Jeans von John Galliano, die aussehen wie aus der Caritas-39-
Kleidersammlung, aber 1000 Euro kosten und wirklich nur noch blondierte Berufsgattinnen auf Sylt beeindrucken. Spätestens jetzt weiß jeder halbwegs informierte Mensch, dass der Trend endgültig vorbei ist. Wir Besserwisser haben das natürlich schon lange vorher gewusst, da wir kein Geld und keine Lust haben, auf der Kö einzukaufen. Wir sind viel schlauer, denn wir schaffen es, den Trend immer gerade dann zu erwischen, wenn er zwischen Knast und Kö mäandert. Dann kaufen wir bei jungen Demnächst-Design-Stars ein, die irgendwo in zugigen Lagerhallen mit klammen Fingern Löcher in gefärbte Felljacken pulen. Heute ist die Besserwisserei individualisiert und weniger blutig. Auf die Spitze getrieben wird sie, indem man nicht nur auf der eigenen Meinung beharrt, sondern sie mit Hilfe von Polizei und Justiz durchzusetze n versucht. Missgunst und Racheakte für vermeintliche oder tatsächliche Kränkungen nehmen zu. Der Neid, in unserer abendländischen Kultur eigentlich als eine der sieben Todsünden gegeißelt, wird von der Werbeindustrie sogar als Marketingargument eingesetzt : Eine der heute noch bekanntesten Anzeigen wurde vor Jahren vom Autovermieter Sixt geschaltet. Abgebildet war ein Porsche mit dem Text: Neid und Missgunst für 99 Mark. Perfektioniert wird dieses System durch professionelle Agenturen und Trendbüros. Dort sitzen Trendforscher, die die Berichte der Scouts wissenschaftlichanalytisch aufbereiten und für teures Geld verkaufen. Und irgendwann landen dann so unsinnige Gepflogenheiten wie absichtlich verwanzte Hosen oder sinnlose Sicherheitsnadeln bei Couturiers. Dann kauft sich die Düsseldorfer Schickeria bei Eickhoff auf der Kö zerrissene -40-
Jeans von John Galliano, die aussehen wie aus der CaritasKleidersammlung, aber 1000 Euro kosten und wirklich nur noch blondierte Berufsgattinnen auf Sylt beeindrucken. Spätestens jetzt weiß jeder halbwegs informierte Mensch, dass der Trend endgültig vorbei ist. Wir Besserwisser haben das natürlich schon lange vorher gewusst, da wir kein Geld und keine Lust haben, auf der Kö einzukaufen. Wir sind viel schlauer, denn wir schaffen es, den Trend immer gerade dann zu erwischen, wenn er zwischen Knast und Kö mäandert. Dann kaufen wir bei jungen Demnächst-Design-Stars ein, die irgendwo in zugigen Lagerhallen mit klammen Fingern Löcher in gefärbte Felljacken pulen. Auch die Sparkassen, immer noch nicht unbedingt ausgewiesen als Vermögensverwalter der High Society, warben lange Zeit mit dem Neidkomplex: meine Yacht, mein Auto, mein Rennpferd, mein Vermögensberater. Wer keine Statussymbole vorzuweisen hat, versucht, sich seinen Anteil am Wohlstandskuchen per Gericht zu erstreiten – nicht selten durch Intrigen und Verleumdung. Man kann sich Mercedes, Villa und Swimmingpool nicht leisten, hat aber wenigstens die Chance, als Besserwisser auf sich aufmerksam zu machen. Geplagte Amtsrichter wissen davon ein Lied zu singen. Sie müssen nolens volens über Streitigkeiten verhandeln, die überwiegend dazu dienen, das Ego von Besserwissern zu streicheln: Ich bin wichtig, weiß Bescheid und habe Recht. In keinem anderen Land gibt es ähnlich viele Juristen und wird so häufig prozessiert wie in Deutschland. In den USA finden zwar die spektakulärsten Prozesse statt; nirgendwo sonst auf der Welt können Tölpel, die sich den Mund mit heißem Kaffee verbrennen, ein sechsstelliges Schmerzensgeld abzocken. Aber auf derartige Auswüchse mit dem Finger zu zeigen ist reichlich pharisäerhaft; was soll man von den Bewohnern eines Landes schon erwarten, in dem viele Häuser -41-
ohne Küchen gebaut werden und die meisten Jugendlichen noch nicht mal imstande sind, ein Spiegelei zu braten? Außerdem: Wären lukrative Urteile wie das zitierte hierzulande möglich, würden sich nicht wenige Leute den Kaffee absichtlich brühend heiß in den Mund oder sonst wohin gießen, um auf Kosten eines Unternehmens oder einer Versicherung reich zu werden. Jedes Jahr entdecken Versicherungen Hunderte Fälle von versuchten Betrügereien, bei denen sich Versicherte tatsächlich selbst verstümmeln, um eine Rente zu erhalten – besser ein Finger ab, als weiter arbeiten zu gehen. Eine der beliebtesten Prozessarten der Deutschen ist der Streit mit dem Nachbarn. Ob Eigentümer oder Mieter, kein Vorwurf scheint zu absurd, kein Verhalten zu abwegig, um damit nicht seine unmittelbare Umgebung schurigeln zu können. Pro Jahr gibt es knapp zwei Millionen neue Prozesse vor deutschen Zivilgerichten. Zuerst werden heimlich Büsche oder Gartenzwerge geköpft, Haustiere gemeuchelt und Beleidigungen ausgetauscht; dann rennt der ansonsten so bequeme deutsche Michel, unterstützt von einem der ums Überleben ringenden Anwälte, zum Amtsgericht. Dort können die beteiligten Parteien durch ihre Rechtsvertreter oft nur mühsam von Tätlichkeiten abgehalten werden. Beim Amtsrichter werden dann wirklich interessante Fälle verhandelt, zum Beispiel die Geschichte vom Automechaniker Jürgen, der eine Stereoanlage mit zwei Hundert-Watt-Boxen in eine Wand seiner Wohnung einmauerte und seinen Nachbarn regelmäßig mit infernalisch lauter Musik beschallte; sobald dieser in Notwehr die Polizei holte, herrschte wieder Grabesruhe. Die perfide Inszenierung flog nur auf, weil die Polizisten eines Abends länger bei Jürgens Nachbarn verweilten, -42-
der am Rande eines Nervenzusammenbruchs und nach Einschätzung der Schupos massiv selbstmordgefährdet war. Andere Streitigkeiten enden dank des Eingreifens höherer Instanzen letztlich doch noch ohne schlimmere Blessuren. So haben wir es dem segenreichen Einfluss des Fernsehens zu verdanken, dass die sächsische Hausfrau Regina Zindler ihren beklagenswerten Nachbarn besiegte; dessen Knallerbsenstrauch ließ angeblich ihren Maschendrahtzaun verrotten. Nach Wochen des Kampfes, während dem Tausende Schlachtenbummler das vogtländische Auerbach belagerten, wurde das unerwünschte Gewächs schließlich entfernt. Die Zaunkönigin Zindler bezahlte diesen Erfolg ebenfalls mit nervlicher Zerrüttung, kam allerdings dank des Einsatzes einer psychologischen Fachkraft, gesponsert von einem Fernsehsender, wieder ins Lot. Als besonderes Schmankerl durfte sie sich auch noch über erhebliche Tantiemen aus dem Lied freuen, das Komödiant Stefan Raab zu ihrer vor dem Fernsehgericht ausgetragenen Nachbarschaftsklage komponierte. Wie schön, dass sich Besserwisserei und Querulantentum auszahlen. Und wie gut, dass wir durch mitfühlende Journalisten über diese weltbewegenden Ereignisse auf dem Laufenden gehalten werden! Selig sind die geistig Armen Es ist 16 Uhr; ich telefoniere mit Daniela, Guido, Joachim und Katja. Wir beschließen, italienisch essen zu gehen. Wir können uns nicht sofort entscheiden, sondern möchten uns die Wahl des Restaurants so lange wie möglich offen halten. Das Überangebot an Möglichkeiten erschlägt uns; im Umkreis von einem Kilometer gibt es mindestens zehn italienische Restaurants. So werden wir wohl wieder kurz vor knapp spontan »mittels eines mental shortcuts« entscheiden, wie unser -43-
Psychologenfreund Uli anmerkt; dann hätten wir gute Chancen, meint er, dank unserer Erfahrung und Intuition das beste Lokal zu finden. Wir sollten, so Uli, unsere Entscheidungen möglichst immer spontan treffen; das habe die Evolution so vorgesehen: Unsere Vorfahren konnten auch nicht lange überlegen, ob sie das Mammut oder das Gnu jagen sollten. Das leuchtet ein und ist im Prinzip ein prima Plan, haut dann aber doch nicht hin, weil das La Bruschetta um zwanzig Uhr natürlich vollkommen ausgebucht ist und sechs Personen auch an einem Mittwochabend nur schwer einen Tisch bekommen. Wir müssen unsere psychologisch fundierte Mammut-gegenGnu-Entscheidung also revidieren. Bei der verbliebenen Auswahl ist es relativ gleichgültig, für welches Restaurant wir uns entscheiden werden. Ausnahmsweise ist keine langwierige Recherchearbeit notwendig. Obwohl Italien viele Regionalküchen hat, die Dutzende unterschiedlicher Gerichte hervorgebracht haben, unterscheiden sich die Angebote der Italiener hier in Deutschland fast so wenig wie der Burger eines McDonald’s in Hamburg von jenem in München. Auch der Tonfall der Ober und ihr Auftreten, ihre Körperhaltung, diese unnachahmliche Mischung aus Servilität und Arroganz, sind in allen Pizzerien, Osterien und Ristorantes vertreten und begeistern mich jedes Mal aufs Neue. Ich genieße es, wenn einer dieser kleingewachsenen, schwarz gelockten Schmalspurcasanovas herbeigefegt kommt, bekleidet mit einem picobello weißen Hemd, einer eng sitzenden schwarzen Hose und edlen Lederslippern, mir seine Arme entgegenstreckt, lächelt und meine Jacke abnimmt. Darf esch helfe, Signorina, esch bringe de Jacke zu de Garderobe. Grazie, Giovanni! Danke, dass du so nett bist, und vor allem auch besser gekleidet als 90 Prozent der männlichen Gäste, die überwiegend ein Attentat -44-
auf die Ästhetik darstellen, trotz GQ und Fit for Fun. Wir bestellen nach den Empfehlungen unseres Obers; wir gehen davon aus, dass er als Berufsitaliener weiß, wovon er spricht, und dass er uns nicht den Fisch und die Pilze von gestern unterjubeln will. Isse ganz frisch, Signorina. Pasta, Fisch und Wein schmecken vorzüglich, und ich frage mich, was die aufgebrezelten, hysterischen Ally-McBeal-Kopien am Nachbartisch zu meckern haben; lustlos stochern sie in ihren Nudeln rum, strecken ihre dünnen Beinchen unter dem Tisch hervor, damit man ihre imitierten Prada-Schläppchen sehen kann, schnuppern ihre Näschen kräuselnd am Wein und sind sich empört in ihrer Wertung einig: Der korkt! Leider ist ihnen entgangen, dass der offene Hauswein aus einer Zwei-LiterBouteille kredenzt wurde, die gar nicht mit einem echten Korken verschlossen war, sondern mit einem Plastik-Imitat. Doch derartig feine Unterschiede spielen keine Rolle; hier und anderswo geht es nicht um objektivierbare Qualitätsmerkmale, sondern darum, sich auf Kosten von Mitmenschen zu profilieren, Blamage inbegriffen. Wir grinsen uns an, persiflieren die Damen vom Nachbartisch, indem wir auch schnuppern und schlürfen und fachkundige Kommentare zu Jahrgang und Herkunft des Weins abgeben und der unendlichen Reihe der Warmduscher-Begriffe den schönen Ausdruck AllyMcBeal-Gucker hinzufügen. So können wir uns als echte, wenn auch leicht boshafte, letztlich jedoch harmlose Gutmenschen fühlen. Wir benehmen uns zwar oft nicht besonders nett, haben jedoch das Talent, aus nervigen Situationen das Beste zu machen; wir verniedlichen unsere eigenen Fehler, achten aber peinlich genau auf das politisch und auch ansonsten korrekte Verhalten unserer Mitmenschen, ohne dass wir bei einem Fehlverhalten ernsthafte Disziplinierungsversuche unternehmen würden. So können die gespreizten Damen ungestört weiterplauschen.
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»Hat keinen Zweck«, meint Daniela. »Die sind doof, die würden einen echten Korken nicht mal erkennen, wenn sie ihn essen müssten.« Und dann haben wir weiter Gelegenheit, das Thema Weinprobe zu vertiefen, denn Joachim hat gelesen (»Muss man eigentlich alles wissen?«, fragte Ottfried Fischer bei der Verleihung des bayerischen Fernsehpreises, und bezeichnete Leute wie uns zu Recht als »Primzahlerklärer und Geo-Leser«), dass dieses ganze Brimborium um die Weinkennerschaft einfach erfunden und erlogen ist, weil nicht einmal vermeintliche Experten auf der Basis ihrer eigenen Beschreibungen einen Wein wieder erkennen. Die Weinkennerei scheint, vor allem bei Männern, ein prima Statussymbol zu sein. Auch wer keinen Porsche hat, kann samstags zu Jacque ’s Weindepot fahren, jede Menge exotische Tropfen probieren und abends dann bei der neuen Flamme mit aufgelesenen Erkenntnissen zu Edelfaule und Bouquet brillieren. Das kommt besser als der profane Porsche, den sich ja jeder Dödel kaufen kann, auch wenn er sein Geld mit der Produktion von Müllsäcken oder Plastikeimern verdient. Bei der Gelegenheit fallt uns eine Episode aus unserer Studentenzeit ein, über die wir auch heute Abend wieder herzlich lachen. Claudia gabelte einen Kommilitonen auf, der sich bei ihr mit einer Flasche Wein aus dem Supermarkt einschleimen wollte. Der Fusel hatte einen ziemlich exotischen Namen – Oberrottaler Nasenschwengel oder so ähnlich –, was für den ersten Lacher sorgte. Als dann der Verehrer noch über Halsabstieg und Restsüße ventilierte, war das Eis endgültig gebrochen. Wir schlössen uns der fachmännischen Verkostung an, ruinierten willentlich die Stimmung mit der Bemerkung: »Der bric ht hinten ab«, und waren gar nicht böse, als der Weinenthusiast sich frühzeitig verabschiedete. Schmatzen, schlürfen, gurgeln, spucken
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Jetzt ist es wissenschaftlich erwiesen: Das Getue um den Wein ist überwiegend nur Show. Der Weinforscher Frederic Brochet aus Bordeaux hat die Kompetenz einiger anerkannter Weinkenner getestet und konnte sie allesamt der Hochstapelei überfuhren. Brechet füllte in mehrere Flaschen den gleichen, mäßigen Tropfen und versah sie mit verschiedenen Etiketten. Welch erstaunliches Ergebnis: Die grandiosen Tester beurteilten jene Weine am besten, die eine hochtrabende Bezeichnung hatten. Alle Flaschen, die ein NullachtfuffzehnEtikett hatten, wurden von den vermeintlichen Fachleuten abgebürstet und mit den üblichen Negativ-Attributen belegt (schlechter Halsabstieg!). Auch geräuschmäßig sind Önologen total unsensibel. Sie schmatzen, schlürfen und gurgeln – ein Verhalten, das bei einem gepflegten Abendessen völlig indiskutabel wäre, aber als Insider-Sitte von uns Ignoranten staunend akzeptiert wird. Wir fragen uns lediglich, warum bei all den ekligen Behältnissen, in die sie den verkosteten Wein schließlich spucken, nicht schon längst der Wirtschaftskontrolldienst auf der Matte steht. Weinforscher Brechet maß übrigens auch die Hirnaktivitäten seiner Testpersonen. Er stellte fest, dass das menschliche Gehirn optische Signale schneller verarbeitet als das, was wir riechen und schmecken. Wir lassen uns also von unseren Augen leiten und betrügen; vielleicht sollten wir künftig besser die Etiketten der Weine, die der Sommelier eines Restaurants kredenzt, gar nicht mehr anschauen. Wer weiß, ob in der Flasche wirklich ein Grand Cru schwappt. Jetzt beschließen wir, bald mal wieder gemeinsam Wein kaufen zu gehen und ein paar hippe BoBos unseres Viertels zu verblüffen. Das Heraushängen angeblicher Fachkenntnisse sorgt immer wieder für grandiose Unterhaltung, man kann frei phantasieren und die Nachwuchsbourgeois bei ihren Bemühungen beobachten, einen gepflegten Lebensstil zu -47-
entwickeln. Neben Weinhandlungen sind auch Delikatessengeschäfte ein wunderbares Terrain, auf dem wir gerne unsere Kennerschaft als Gourmets ausspielen. Es ist schon verblüffend, mit welch geringem Einsatz man die tollsten Wirkungen erzielen kann. Wann hat eine Frau die Gelegenheit, minutenlang einen Mann voll zu quatschen, ohne unterbrochen zu werden? Wenn es um die Qualität von Parmaschinken, Honigmelonen oder Schweizer Bergkäse geht, ja genau der, der von einem Senn im Sommer einsam in dreitausend Meter Alpenhöhe zusammengerührt wird. Nebenher kann frau sich der Reihe nach sämtliche Melonen aus dem Obstregal greifen, an ihnen schnuppern und mit dem Zeigefinger wie an einer Tür an ihnen klopfen, sie alle als zu unreif verschmähen und den nun völlig verunsicherten, fremden Herrn zum Kauf von Karambolen überreden, welche, so haben wir angeblich gehört, die Lebenserwartung in Malaysia um mindestens ein Jahr erhöhen. Dann hängen die Typen an unseren Lippen, packen sich ihr Körbchen voll mit den nahezu geschmacklosen Sternfrüchten, wir nehmen nur deutsche Äpfel mit und lassen zum Abschluss der Unterhaltung dann die Bemerkung fallen, dass wir Sternfrüchte leider gar nicht mögen, auch wenn sie noch so gesund sind. Frauen sind weniger leicht aufs Glatteis zu führen. Sie verlangen den Parmaschinken so dünn geschnitten, dass sie durch die Scheiben gucken können, während die Mutter unserer italienischen Freundin Rosita den Schinken immer so dick wie Fleischwurst auf die Panini legt. Irgendwie scheint der Fluss kulinarischer Informationen innerhalb Europas doch nicht so ganz zu funktionieren. All diese unsere gesammelten Erkenntnisse könnten wir jetzt natürlich unseren Nachbarinnen mitteilen, und wären wir auf einer Party oder Vernissage, würden wir dies sicherlich auch tun. Doch hier und jetzt halten wir uns vornehm zurück, denn wir wollen den Kontakt zu den Damen ja nicht vertiefen. Zudem -48-
halten wir generell die Erfolgsaussichten der meisten Belehrungen für gering, und so sind unsere Besserwisserausführungen selten als echte Überlebenshilfe gedacht, sondern meist nur als kleines Unterhaltungsprogramm gegen die Widrigkeiten des Alltags. Dieser ist unglücklicherweise durch Regeln bestimmt, auf die wir kaum Einfluss haben. Sie werden uns von anderen Zeitgenossen aufs Auge gedrückt, die mächtiger und geschickter sind. Wir hingegen müssen uns mit Lästigkeitsfaktoren wie der Einkommensteuer, Geschwindigkeitsbeschränkungen und Pflichtversicherungen herumärgern. Offene Rebellion gegen nervende Mitmenschen oder gegen widrige Lebensumstände liegt uns nicht. »Natürlich weiß ich, dass man die Pasta nicht im Löffel aufrollt, dass unser Steuersystem ungerecht ist und dass unser Plastikmüll in Indonesien landet«, resümiert Guido leicht resigniert. »Aber soll ich mich deshalb aufregen?« Auch wir anderen sind keine überzeugten Weltverbesserer; wir schaffen es höchstens zum sozial unauffälligen Undercover-Anarchisten; konziliant beschweren wir uns nicht immer gleich über einen schlechten Cappuccino, sondern schütten ihn schon mal in die Topfpflanze hinter uns, weil wir nicht auffallen wollen. Uns geht es ja nicht – so viel Ehrlichkeit muss sein – um das Ergründen von Zusammenhängen oder um die engagierte Verbesserung der Welt. Wir verkaufen keine Erdnüsse mehr für Amnesty International wie noch zu Schülerzeiten und protestieren nicht mehr gegen den Hunger in der Dritten Welt. Wir verwenden Zeit und Energie lieber dafür, Wissen anzuhäufen, um zu brillieren und uns wie einen Schokoriegel oder ein Waschmittel als Marke zu positionieren: tolle Verpackung, Inhalt leider austauschbar. Konsequenzen hat unsere Informiertheit nicht.
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Wir nehmen Anteil an vielen Dingen – auch an solchen, von denen wir nach objektiver Beurteilung wenig bis nichts verstehen. So gehören wir zur großen Masse von Gelegenheitsbesserwissern, die ihrer Umwelt nur ab und zu mit gut gemeinten Ratschlägen oder ärgerlichen Fehlentscheidungen auf den Keks gehen; doch bleibt das – zum Glück für uns und unsere Mitmenschen – meist ohne schlimme Folgen. Denn: Wir sind eigentlich völlig normal und verhalten uns so wie mindestens 90 Prozent unserer Freunde und Bekannten im Alter von 20 bis 80. Unsere wichtigste Devise ist: Es läuft doch ganz gut. Zwar nicht optimal, aber immerhin so lala. Für die Ego-Präsentation von Hasardeuren haben wir dagegen kein Verständnis. Mit einer Mischung aus Ekel und Amüsement schauen wir zu, wie tumbe Selbstdarsteller vor einem sensationshungrigen Talkshowpublikum ihre Fetisch-Sexualpraktiken erläutern. Von Skifahrern, die unter Lawinen begraben werden und von halb ertrunkenen Rafting-Kanuten lesen wir mit wohligem Grusel in der Zeitung, ohne diesen gefährlichen Freizeitspaß jemals für uns selbst in Erwägung zu ziehen. Ebenso wenig würden wir uns in Bahngleise einbetonieren lassen; der körperliche Einsatz beim Durchsetzen politischer Ziele ringt uns neben ungläubigem Staunen zwar eine gewisse Bewunderung für diese Extremform der Überzeugungsarbeit ab. Doch letztlich halten wir diese Weltverbesserei für müßig, teuer und überflüssig; wir beschränken uns meist auf ein rein verbales Engagement bei geselligen Zusammenkünften wie heute. Da können wir nicht nur Dampf ablassen, sondern auch ausgiebig über die weit verbreitete Dummheit lamentieren. Das entlastet Seele und Nerven und ist preiswerter zu haben als politisches oder soziales Engagement. So können wir es kaum fassen, als Guido berichtet, dass sich in seiner Apotheke viele türkische Familien vor ihrem jährlichen Heimaturlaub bis an die Zähne mit Antibiotika eindecken. Wir wissen natürlich, dass Antibiotika nur bei bakteriellen -50-
Erkrankungen eingesetzt werden dürfen und falsch dosiert lebensgefährlich sein können. Und dann empören wir uns über die Mütter aus weniger feinen Kreisen, die Katja in ihrer Klinik betreut. Sie wollen nicht stillen, »um keine Hängetitten zu bekommen«. Das können wir schon deshalb nicht verstehen, weil wir zwar für die natürliche Geburt und Aufzucht des Nachwuchses sind, bei Hängetitten aber natürlich, ohne mit der Wimper zu zucken, die Hilfe der ästhetischplastischen Chirurgie in Anspruch nehmen würden. Allianz der Egoisten All dies passt zu unserer überwiegend feigen Grundeinstellung: Besser nicht anecken, lieber nichts riskieren. Dank ihr haben wir keinerlei Verständnis für die Kamikaze-Kategorie der Besserwisserei, also für Leute wie Barbara und Heinz, die sich durch das mutige Austoben ihrer Überzeugungen fahrlässig selbst ruiniert haben. Sie leben nach dem Motto: »Für diesen Mist habe ich jetzt keine Zeit« oder »Wird schon gut gehen«. Damit verunsichern sie uns in unserem beschaulichen Biedermeier-Dasein und werden daher lediglich als tragisches Unterhaltungselement toleriert. Vielleicht ist es also ganz gut, dass heute beide abgesagt haben. Irgendwie können wir einfach nicht verbergen, dass wir es total bescheuert finden, wenn ein akademisch gebildeter Mensch wie Barbara über Jahre hinweg keinen einzigen Euro Steuern bezahlt, schließlich kalte Füße bekommt, eine Selbstanzeige macht und jetzt ihr restliches Leben lang Steuerschulden abbezahlen muss, für die sie teure Kredite aufnehmen musste. »Da würde ich ja eher vom Balkon springen«, meint Joachim. »Oder besser noch: auswandern!« Dies ist natürlich nur eine rein hypothetische Möglichkeit, da keiner von uns den Mumm zu einem dieser beiden Schritte hätte. Auch Heinz kann für sein -51-
geschäftliches Abenteuer, in diesen schwierigen Zeiten ein Unternehmen in einer ihm völlig fremden Branche zu gründen, nicht auf unser Verständnis hoffen. Über erfolgreiche Startups lesen wir zwar gerne im Manager Magazin oder in der Wirtschaftswoche. Aber wir selbst würden das Risiko Selbständigkeit nur mit einer Millionenerbschaft und nach intensiver Beratung durch IHK und Steuerberater eingehen. Natürlich haben wir als engagierte Besserwisser unsere beiden Freunde rechtzeitig gewarnt. Doch dass sie sich wider besseres Wissen und vor allem entgegen unserer wohlmeinenden Ratschläge als Steuer- beziehungsweise ExistenzgründungsHasardeure outen, macht uns ratlos und verstimmt. Die Begründung »Ich hatte einfach zu viel zu tun, um mich mit dem Steuerkram zu beschäftigen« finden wir zwar leidlich originell; gleichzeitig verweisen wir jedoch kopfschüttelnd auf unsere Bitt- und Dankesbriefe an die geneigten Mitarbeiter des Finanzamtes, mit denen wir erfolgreich um Nachsicht und Stundung gebettelt haben. Wir richten uns in Job und Privatleben einigermaßen häuslich ein, fahren in der 30-Zone maximal 40 und betrügen das Finanzamt nur im kleinen Stil: Wer bekommt heute den Bewirtungsbeleg? Zur Wahl gehen wir trotz eines latenten Unmuts, den wir schon beim Anblick der meisten Politikdarsteller empfinden, weil wir uns dazu verpflichtet fühlen. Wir wüssten zwar, wie man Bayer Leverkusen endlich zur deutschen Fußballmeisterschaft führen, den Hunger in der Dritten Welt beseitigen und das Defizit des städtischen Kulturbetriebes beseitigen könnte – aber uns fragt ja keiner. Trotzdem sind wir durchdrungen von einem nahezu unerschütterlichen Optimismus; er
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lässt uns sporadisch hoffen, unsere zaghaften Kommentare zu den Problemen dieser Welt würden doch etwas verbessern. Den zwangsläufigen Ruin durch geschäftliche Eskapaden oder exzessive Anschaffungen überflüssiger Luxusgüter beobachten und kommentieren wir in bester Besserwissermanier: Ich hab’s ja gleich gesagt. Dagegen können Bungeejumper, Höhlentaucher und Fallschirmspringer auf unser Verständnis bauen; sie haben Spaß an einem sozial adäquaten Risiko mit Adrenalinausstoß, das heute wohl die Bärenjagd unserer Vorfahren ersetzt. Doch letztendlich lassen sich unsere eigenen kleinen Siege über die Widrigkeiten des Alltags viel besser feiern, wenn es neben uns auch Verlierer gibt – Pech für jene, die Bankrott gehen oder deren Fallschirm klemmt. Glücklicherweise haben sich Allys Schwestern schon vor geraumer Zeit vom Acker gemacht, wahrscheinlich wieder einmal in Richtung »Szene« auf der Suche nach Mr. Right, der hoffentlich – wenn ihm sein Seelenfrieden lieb ist die Finger von den Nervtucken lässt. Am Ende des gemeinsamen Abends fühlen wir uns wieder so richtig wohl in unserer Haut. Wir haben uns gegenseitig bestätigt, dass wir toll sind und dass die Welt uns eigentlich nicht verdient.
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Donnerstag: Wissen auf Papier
Denn was man schwarz, auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Johann Wolfgang von Goethe, Faust Die Spezialisten mehren sich. Die Denker bleiben aus. Ingeborg Bachmann Besser wissen – schlechter leben Hilfe, heute ist Donnerstag – Pflicht-Lesetag; heute erscheinen die Zeit, der Stern und die Wirtschaftswoche. Ich will kein Versager sein. Ich muss mich informieren. In der Mittagspause hole ich mir aus dem kleinen Kiosk im Nachbarhaus zusätzlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Hamburger Abendblatt. Aus Gewohnheit schalte ich den Fernseher ein, obwohl mir klar ist, dass man nicht gleichzeitig essen, lesen, fernsehen und zwischendurch noch telefonieren kann. Ich schalte von Phoenix auf ntv, von ntv zu N24 und wieder zurück. Auf den beiden oberen Bildschirmdritteln redet ein mir unbekannter Bundestagsabgeordneter über ein Thema, das mich nicht interessiert. Währenddessen läuft am unteren Bildschirmrand ein Tickerband mit den Aktie nkursen aus Tokio. Wen interessieren denn die? Wer kann überhaupt so schnell lesen? Habe ich eine Gastritis, weil ich das »Multitasking« nicht beherrsche: wie ein Computer mehrere Dinge parallel zu erledigen? Habe ich einen völlig verspannten Nacken, weil ich
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zu viel im Internet surfe? Habe ich Kopfschmerzen, weil sich durch Handy-Smog ein Tumor in meinem Gehirn ausbreitet? Werde ich wahnsinnig, weil ich mir zu viele Sorgen mache und mein Gehirn voll stopfe mit Informationen, die ich gar nicht benötige? Und die ich mir sowieso höchstens zu etwa einem Prozent merken kann? Fragen über Fragen, jede weitere Information nährt Zweifel. Ich stelle fest, dass ich mich immer schwerer konzentrieren kann und allmählich – wie ein überdrehtes Grundschulkind – ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom entwickle (darüber habe ich in der Zeit gelesen, einem der dankbarsten Besserwisser-Blätter). Dort stand auch, dass man das ADS mit einer speziellen Diät bekämpfen kann, aber dann müsste ich meine bisherige Diät umstellen, und die hat mir der ehemalige Ernährungsberater von Bill Clinton für ein teures Honorar zusammengestellt; hohe Preise sind in meinem Besserwisser-Kosmos immer noch ein gewisses Indiz für gute Qualität. Also werde ich wohl weiterhin neben unzähligen Medien meine Ro hkost konsumieren. Obwohl Hirnforscher behaupten, dass es physiologisch unmöglich sei, sich innerhalb von drei Sekunden mit mehr als einem Thema zu beschäftigen, überfliege ich mit einem Auge die Schlagzeilen, schaue gleichzeitig fern und schreibe eine Liste mit Dingen, die ich heute noch erledigen will. Zufrieden bin ich mit meinem Output eigentlich nicht, wahrscheinlich werde ich bei allen meinen momentanen Beschäftigungen irgendetwas Entscheidendes übersehen. Doch selbst wenn ich mir viele wichtige Informationen in mein Kurz- und mein Langzeitgedächtnis einbrenne, steht doch eine Tatsache fest:
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Wissen macht weder glücklich noch zufrieden. Warum also hetze ich, wie beim alten Haselgel-Märchen, immer den aktuellsten Informationen, den neuesten Daten, den jüngsten Trends hinterher? Ich komme nicht dazu, eine Nachricht zu verarbeiten, mich mit ihr auseinander zu setzen. Nur weniges freut mich, über vieles kann ich mich ärgern; doch welche Konsequenzen kann und will ich aus diesen Informationen ziehen? Kaum habe ich sie abgespeichert, schreit mir eine neue Zeitungsausgabe, ein weiteres LifestyleFernsehmagazin, eine neue Website entgegen. Die Welt teilt mir mit, dass meine Informationen veraltet sind. Schlimmer noch: dass ich von gestern bin. Um nicht völlig den Anschluss an den Lifestyle der Jugend zu verlieren, zappe ich zwischendurch immer mal wieder zu MTV und Viva. Ich stelle fest, dass Piercing und Tattoos offensichtlich noch en vogue sind, obwohl Madonna sich ihre Tätowierungen angeblich schon vor Jahren hat wieder rausbrutzeln lassen und Naomi Campbell sich längst von ihrem silbernen Bauchnabelring getrennt hat. Ansonsten bestechen die Musiker in den Videoclips durch eine ausgesucht hässliche Garderobe, deren Pflichtbestandteile Wollmützen zu sein scheinen, die wie von Oma gestrickt wirken, und knallenge Polyesterhemden in Schlammfarben, die aussehen, als würden sie nach fünf Minuten Tragezeit bereits muffeln. Ich kuschele mich in mein Irisvon-Arnim-Kaschmirjäckchen (Fabrikverkauf, 100 Euro), das ganz leicht und wunderbar nach dem Duftbeutelchen von Esteban riecht, kreiert von den besten Parfüm-Nasen Frankreichs, und klopfe mir selbst innerlich wegen meines exquisiten Geschmacks auf die Schulter, geschult durch zwanzig Jahre Lektüre von Brigitte, Vogue und Schöner Wohnen.
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Doch trotz dieser kleinen alltäglichen Highlights sind mir im Laufe der Jahrzehnte irgendwie Wohlbefinden und eine gewisse Grundzufriedenheit abhanden gekommen; das heißt, eigentlich haben sie sich mit derselben Geschwindigkeit verflüchtigt, mit der die Medien-Nutzwert-Alleskönner-Besserwisser-Gesellschaft mich in die Zange genommen hat. Für Theodor Fontane gehörte zu einem glücklichen Leben vor allem ein gutes Buch; die UNO hält – neben existenziell wichtigen Dingen wie Essen und einem Dach über dem Kopf – ein Radio für lebensnotwendig. Ich habe viel mehr, doch trotz Teilerfolgen im Bereich Essen (Rohkost vom Clinton-Guru), Garderobe (gelungenes Kombinieren von Designer-Stücken mit C&A), Geldanlage (teure Eigentumswohnung, aber Konto immer am Limit) mag ich mich so richtig eigentlich nicht leiden, und auch meine Freunde und Bekannten scheinen – von idiotischen Chefs und neurotischen Lebensabschnittspartnern einmal abgesehen – vor allem einen Feind zu haben: sich selbst und ihr Mühen um Perfektion. emnid-Umfrage: Für 90 Prozent der Deutschen gehören Weiterbildung und Bereitschaft zur Mobilität zum »Fitsein für die Zukunft«. 40 Prozent sind bereit, berufsbedingt umzuziehen.
ständige
Das Wissen um relativ unwichtige Themen und Details dient offenkundig keinesfalls unserer Psychohygiene. Materiell und sozial weitgehend abgesichert, befinden wir uns in Westeuropa zwar objektiv auf einer Insel der Glückseligen; doch die guten Rahmenbedingungen führen bei uns keineswegs zu mehr Zufriedenheit, sondern zu einer nörgeligen, defätistischen Grundhaltung. In der Schule eigneten wir uns Wissen an, das regelmäßig in Klausuren abgefragt wurde. Wir sollten angeblich -57-
fürs Leben lernen, doch im Prinzip ging es bei Französischer Revolution, Photosynthese oder Kurvendiskussion um gute Noten, ein ordentliches Abitur und den Numerus clausus. Wenn wir Glück hatten, fanden wir das eine oder andere Thema auch mal interessant; leider waren Highlights wie das Züchten von Fruchtfliegen selten, mit deren Hilfe wir die Mendel’sche Vererbungslehre studieren wollten. Die Biester hauten ab und flogen dann zum Entsetzen unserer Biologielehrerin völlig unkontrolliert im Klassenzimmer herum, was die wissenschaftliche Relevanz unseres Experimentes schwer beeinträchtigte und Fräulein Syma nowski zur Verzweiflung brachte, die völlig hysterisch hinter den entwichenen Drosophilae herhechtete. Heute hechten wir hinter Politik, Mode, Umweltschutz her; wir lesen etwas über Theateraufführungen (an Orten, die wir nie besuchen werden), über Musik (die wir nicht hören wollen) und Autos (die wir weder kaufen noch fahren möchten). Das finden wir eigentlich gar nicht besonders spannend. Doch so, wie das Abitur für uns eine Eintrittskarte in eine erfolgreiche Zukunft sein sollte, hoffen wir heute durch unsere SuperInformiertheit auf die Zulassung zu bestimmten Kreisen und auf ein Leben, das ewig spannend und unterhaltsam ist. Es gibt glücklicherweise keine Klausuren und Prüfungen mehr, aber auch kein Abitur, nach dem wir uns fühlten, als würde uns die ganze Welt gehören. Und keine Sommerferien, in denen alles wurscht war und wir das Gefühl hatten, die kommenden hundert Jahre im Freibad liegen zu können, wo wir abends gemütlich eine Tüte bauten, in die Sterne guckten und einfach nichts taten. Inzwischen mussten wir bitter erfahren, dass diese geniale Zeit der vollkommenen Laschheit, der absoluten Ausgeglichenheit nie mehr kommt. Stattdessen müssen wir beim Psychologen Mihaly Csikzentmihalyi lesen, dass die arme Bäuerin von der Alm oder der einfache Arbeiter häufiger einen Flow – so eine Art -58-
Arbeitsorgasmus – erleben, insgesamt glücklich vor sich hin brokeln und sich (wovon sie glücklicherweise nie hören werden) in einem so genannten Zufriedenheitsparadox befinden: arm, aber glücklich. Dem können wir – zumindest in unserer Hemisphäre – noch nicht mal einen romantischen Aspekt abgewinnen. Schon Aristoteles erkannte, dass alle Menschen glücklich sein möchten, doch unser großer Skeptiker Immanuel Kant nannte den Begriff des Glücks »inhaltsleer und unbrauchbar«. Umfrage des Allensbacher Institutes für Demoskopie: 68 Prozent der Deutschen sehen den Sinn ihres Lebens darin, glücklich zu sein und genügend Freunde zu haben. Doch der Weg zum Glück scheint für viele von uns mit Hindernissen aus Tonnen von Papier und Tausenden von Fernsehstunden gepflastert. Wissen ist unser Kapital, unser Weg zum Glück. Anders als echte Exzentriker, die sich den Teufel um ihr soziales Umfeld scheren, lebt der Durchschnittsmensch weltweit von der Anerkennung seiner Umgebung. Die si t für einen Börsenmakler (Geld, Geld, Geld), einen Massai-Krieger (viele Kühe, viele Frauen, Reihenfolge beliebig) oder einen Fabrikarbeiter aus dem Ruhrpott (Bier, Häuschen, Tauben) leider einfacher zu erlangen als für eine Hamburger Journalistin (Reden, Schreiben, Besserwissen bis ans Ende aller Tage). emnid-Umfrage in der Amica: Nur 24,8 Prozent nennen die große Liebe als Lebenstraum. 55,2 Prozent hätten lieber genug Geld für ein sorgenfreies Leben. 1,2 Prozent wären gerne berühmt.
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Daher nimmt unsere Medienhörigkeit immer groteskere Ausmaße an; ahnten unsere Vorfahren noch, dass Glück im Diesseits kaum machbar ist, und verlegten das Glücksversprechen auf ein besseres Jenseits, so ist vielen von uns dieser Ausweg leider verschlossen. Anstelle des einzig wahren Buches konsumieren wir Dutzende verschiedener Medien mit diversen Heilsversprechen und entfernen uns weiter und weiter von unserem Seelenfrieden. Das von Csikzentmihalyi propagierte »selbstvergessene Tun« erleben wir nur selten; wir trauen uns nicht, etwas unmittelbar zu erleben, aus einem Impuls heraus auf Anregungen unserer Umwelt zu reagieren. Nervös schauen wir erst mal links und rechts, fahrig blättern wir in Zeitschriften; ständig sind wir damit beschäftigt, uns unserer selbst zu vergewissern. Wir müssen testen, ob wir auch wirklich die richtige Meinung vertreten, ob das Bild, das wir aufhängen, auch wirklich unserem gewünschten Image entspricht, ob uns unsere Bemühungen tatsächlich »weiterbringen« – oder ob wir leider auf dem völlig falschen Dampfer sind, weil uns eine spontane Idee, eine ausgefallene Präferenz in die totale Katastrophe der Missachtung, ins soziale Abseits führt. »Mein metaphysisches Bedürfnis habe ich bis zur Konfirmation ausgelebt«, meint Brigitte, unsere erfolgreiche Bankerin, und schaut dabei unglücklich drein. Dabei hat sie gerade eben erst einen Hundert-Millionen-Deal eingefädelt und im Zuge dessen einen arabischen Scheich abgebürstet, was für mehrere Tage Euphorie ausreichen sollte. Doch selbst wenn es ihr richtig schlecht ginge, würde sie sicherlich nicht offen mit uns über ihre Probleme sprechen. Wer leidet, tut dies am besten im stillen Kämmerlein, denn es ist nicht opportun, die eigene Umgebung damit zu behelligen. Wir unterliegen der Glück-ist- machbarDoktrin: Mit Selbstdisziplin, Engagement und vor allem dem richtigen Wissen über ungefähr zehntausend Disziplinen wird alles so, wie du es dir vorstellst! Heute starren wir statt ins Herrgottseckchen lieber auf unseren modernen Hausaltar, den -60-
Fernsehapparat, und widmen uns unserer liebsten Freizeitbeschäftigung: dem mediengerechten Design unserer Person und unseres Lebens. emnid-Umfrage: Menschen ohne religiöse Bindung leben ungesünder als gläubige Menschen und wollen mehr Sex. Die Gläubigen leiden stärker unter den gängigen Schönheitsnormen, vor allem die Katholiken. So verbringen wir die eine Hälfte unserer Freizeit damit, uns oberflächliches Wissen anzueignen und unseren Körper auf jene Idealform zu trimmen, die uns von Lifestylepostillen als Glücksgarant vermittelt wird. In der anderen Hälfte unserer Zeit nutzen wir unser intellektuelles und muskuläres Self-Design, um unseren Marktwert weiter zu erhöhen, beziehungsweise um Dinge zu tun, die wir nicht richtig können und die uns keinen Spaß machen – das Leben als Vielseitigkeitsrennen; oder wir renommieren mit unserem ungesunden Halbwissen, das sich so gut auf beruflichen und gesellschaftlichen Events macht. Hurra! Endlich können wir den Lohn für unsere Bemühungen einfahren, wenn wir in einer Arbeitsbesprechung die Entwicklung eines sicherlich überflüssigen Produktes befördern und uns gleich auch noch mit der Markteinführungsstrategie für Europa und die USA profilieren. Den Erfolg feiern wir abends beim Dinner mit Freunden – natürlich nur, um auch noch die Kritiken zu den neuesten Kinofilmen loszuwerden. Nur selten werden wir aus dem Konzept gebracht. Neulich trafen wir die Kolumnistin eines bekannten Frauenmagazins, die sich über die weit verbreitete Besserwisserei beschwert hatte, und beschuldigten sie der Heuchelei: »Das ist ja wohl der Gipfel des Pharisäertums«, schimpfte Anja. »Zuerst werden eure Leser mit jeder Menge sinnloser, rudimentärer Informationen über fremde Länder, Steuern und den optimalen Umgang mit Hunden -61-
beglückt; dann regt ihr euch über jene Leute auf, die ihr jüngst erworbenes Wissen an den Mann bringen wollen!« Wir stießen auf wenig Verständnis bei der Dame, die unsere tiefe Betroffenheit offenkundig nicht nachvollziehen konnte und entnervt davonstöckelte. »Was bildet sich die dumme Nuss eigentlich ein«, höhnte Brigitte. »Der wahre Nutzwertfaktor dieser ganzen Geld-, Rechts-, Gesundheits- und Einkaufsberatungsartikel besteht doch nicht darin, dass man Geld hortet oder besser kochen kann. Wer setzt denn diese blöden Tipps überhaupt um? Mir reicht es völlig, wenn ich jemandem mit meinem theoretischen Wissen imponieren kann soll der Trottel doch dann selbst versuchen, wie er Geld und Steuern sparen kann.« Sie jedenfalls, so ihr resigniertes Resümee, werde durch mehr Wissen weder reicher noch glücklicher. Und auch ihr Ex-Gatte – ein bekannter Wirtschaftsredakteur – kann all die Informationen, die sein Magazin seinen Lesern aufdrängt, leider nicht für sich selbst verwerten, sondern überzieht permanent sein Konto. »Offensichtlich ist es vielen interessanten Persönlichkeiten nicht gegeben, sich erfolgreich um ihr eigenes Tagesgeschäft zu kümmern«, stellte Bettina abschließend fest. Resigniert gaben wir ihr Recht. Keiner der Artikel oder Fernsehbeiträge, die uns zu bestimmten Themen serviert werden, verbessert unsere Lebensqualität. Der permanente Verbesserungsdruck macht uns nervös und unzufrieden, weil wir wie der Esel hinter der Möhre hinter
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jedem Informationsfitzelchen herhecheln, das uns höhere Kompetenz bei was auch immer verspricht. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts stieg die Zufriedenheit in der deutschen Bevölkerung parallel zum wirtschaftlichen Wachstum an. Besser wissen – schlechter leben, dies scheint das entscheidende Ergebnis unserer Informationsbemühungen zu sein. Heute sind wir besser informiert als jemals zuvor über Aktien und Versicherungen, Immobilien und Garantien beim Autokauf. Wir haben im Durchschnitt dank besserer Informationen mehr Geld (oder wir sind, da umfassend, aber falsch informiert, am Neuen Markt arm geworden), doch auch wenn unsere Lebensqualität vordergründig besser geworden ist, empfinden wir dies nicht so. In den vergangenen Jahren ist die so genannte Glückseffizienz der Wirtschaft immer geringer geworden: Wir werden heute schlauer, reicher und schlechter gelaunt. Nachdem ich meine Möhren-Sellerie-Rohkost verspeist habe (reinigt das Blut, verbessert Sehkraft und Haut), starte ich ein weiteres mediales Ablenkungsmanöver: schnell mal reinschauen, was Amazon zum Thema Glück und Zufriedenheit bietet. Knapp 1700 Treffer aus allen Lebensbereichen – Religion und Paartherapie, Gesundheit und Hexerei, Selbstdisziplin und Faulheit – jede Menge Ratgeber, um das eigene Leben glücklicher zu gestalten. Arbeiten Sie mehr, besser, schneller! Arbeiten Sie weniger, gemütlicher, machen Sie nur, was Ihnen Spaß macht! Offensichtlich bringt die Lektüre den Lesern wenig Erfolg, da immer neue Bücher erscheinen; die Autoren widersprechen sich, und ich könnte wahrscheinlich mein -63-
gesamtes weiteres Leben damit verbringen, auszuprobieren, wer denn nun Recht hat. Dazu habe ich wirklich nicht die geringste Lust. Könnte ich es schaffen, einfach mehr Dinge auf mich zukommen zu lassen? Wäre ich glücklicher, wenn ich nur noch wichtige Dinge kaufen würde – entspannende Belletristik, ein pflegeleichtes Gymnastik-Trikot, einen schwarzen Minirock, um gelegentlich schmeichelnde Blicke von ein paar netten Jungs zu ergattern? Wäre es nicht angenehmer, wie früher in den Sommerferien auch jetzt nur noch das zu tun, was uns wirklich interessiert und Freude macht? Würden wir dann endlich mal auch diesen ominösen Flow spüren? emnid-Umfrage: 48 Prozent aller Männer finden, dass jede Ausgabe zur Verbesserung des Äußeren ihr Geld wert ist. Oder bin ich einfach überempfindlich und habe als einziger Mensch weit und breit Probleme mit der Datenflut, während andere Menschen diese effizient nutzen? Das ist ein Thema, das mich wirklich interessiert; im Zweifel helfen Erkenntnisse von Meinungsforschungsinstituten und Marktforschern. Meine Recherchen haben Erfolg: Studie der Nachrichtenagentur Reuters: Viele Manager fühlen sich von der über sie hereinbrechenden Informationsmenge überfordert. Prima, dass sich ausgerechnet eine Nachrichtenagentur mit diesem Problem beschäftigt, also eine der Institutionen, die MitUrsache des Problems sind. Das ist ungefähr so, als würden Mars und Ferrero über den Kariesbefall ihrer Kunden -64-
lamentieren. Schön, dass wir darüber gesprochen haben! Im profanen Selbstversuch stellen wir dasselbe fest: Die Doktrin des Alleswissen-Müssens und der ständigen Erreichbarkeit führt zu Konzentrationsmängeln und Unzufriedenheit bei der Arbeit. »Ich kann in der Kanzlei nicht mehr in Ruhe nachdenken«, klagte gestern Abend unser Freund Alfred, ein erfolgreicher Anwalt. »Wenn ich mich mit einem Fall beschäftigen will oder ein Plädoyer vorbereiten muss, gehe ich nach Hause, lege mich erst mal eine halbe Stunde hin, um zu entspannen, und schalte alle Telefone aus.« Warum traue ich mich nicht, ähnlich rigoros vorzugehen? Was mache ich falsch? Hätte ich wie meine Freundin Bur gula schon vor Jahren mit dem Nintendo mein Reaktionsvermögen trainieren sollen? Vielleicht verschenke ich einfach meinen Fernsehapparat, um endlich meine Zeit nicht mehr bei Friends oder Eine schrecklich nette Familie zu verplempern. Andererseits sind die meisten amerikanischen Sitcoms nicht nur unterhaltsam, sondern bieten einen prima Einblick in unterschiedliche Milieus der US-Bevölkerung (daher zählen sie bei mir zur Weiterbildung, sind wichtig und gesprächsfördernd und ein Pluspunkt auf meiner Besserwisser-Agenda, während deutsche Vorabendserien langweilig und verlogen sind, gar nichts präsentieren außer sich selbst und zudem von absolut talentlosen Laiendarstellern gespielt werden). Der qualitative Unterschied zwischen Friends und Gute Zeiten, schlechte Zeiten ist so groß wie zwischen der Met und dem Bonner Stadttheater. Bevor ich nach diesen anstrengenden Überlegungen an den Schreibtisch zurückkehre, werfe ich noch schnell einen Blick in die TV Spielfilm, die ich mir eben gekauft habe. Nach Friends werde ich heute Abend den White-Trash-Proleten Al Bundy anschauen und dann mit Martin und Julia ins Kino gehen. Es gelingt mir, ohne Abschottungsmanöver à la Alfred wieder in meine Arbeit einzusteigen. Ich habe Glück; heute läuft mein individuelles Selbstschutzprogramm gegen den Informations-65-
Overkill ausnahmsweise reibungslos: Meine Synapsen leiten nur Informationen weiter, die harmlos, nett und unterhaltend sind. Oder tragisch, mich aber nicht persönlich betreffen. Wenn das Modegenie Yves Saint Laurent seinen endgültigen Rückzug aus der Couture erklärt, nehme ich das als kulturellen Verlust zur Kenntnis; wer wird jetzt so unorthodoxe Schneiderideen entwickeln wie den Smoking für Frauen oder die Kombination der Stofffarben Pink und Orange? Und ist Jean Paul Gaultier – immerhin auch schon fünfzig – tatsächlich »der einzige würdige kreative Nachfolger«, wie Saint Laurent selbst meint? Und warum um alles in der Welt werde ich mir die Nachricht seiner Demissionierung samt seinem traurigen Gesicht wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage merken können, während viele politische Entscheidungen und News aus der Wirtschaft einfach an mir vorbeirauschen? Ich zappe zum behäbigen Mittagsmagazin von ARD und ZDF. Links und rechts neben meinem Teller, auf dem Sessel und auf dem Boden vor mir liegen Zeitungen und Zeitschriften, teilweise mehrere Tage oder gar Wochen alt; auf dem Sideboard stapeln sich Vogue und In Style, Capital und Finanztest. Wie Millionen anderer Deutscher pflege ich seit Jahren die Illusion, mit Hilfe dieser Blätter schöner, reicher und erfolgreicher zu werden, was mangels Erfolgs zu einer permanenten Frustration führt. Ich werde trotz aller guten Vorsätze rückfällig und rufe einen Mediendienst im Internet auf, um die neuesten Branchendaten zu sehen: Acht von zehn Deutschen lesen täglich Zeitung, mehr als dreißig Millionen Zeitungen werden pro Tag gedruckt. Hinzu kommen mehr als zweitausend Publikumszeitschriften und über dreieinhalbtausend Fachzeitschriften, die den Markt überschwemmen. Außerdem werden wir verfolgt von zahllosen -66-
Kundenzeitschriften, Anzeigenblättern, Prospekten, Geschäftsberichten, Imagebroschüren … Im Durchschnitt beschäftigen wir uns täglich länger mit verschiedenen Medien, als wir schlafen oder arbeiten; kaum eine Minute verbringen wir ohne Radio, Fernsehen, Zeitschrift oder Internet. Wissensdurstig oder mediensüchtig? Offensichtlich bin ich nicht alleine mediensüchtig. Im kleinen Kiosk, wo ich häufig Magazine zu den Themen Mode, Essen, Autos oder Design kaufe, treffe ich regelmäßig ältere Damen, die sich mit der gesamten Palette an Yellow Press eindecken. Woche für Woche fiebern sie den neuesten Nachrichten über Caroline und Mette Marit entgegen und leiden mit Uschi Glas und Jenny Elvers. Sie führen ein Leben aus zweiter Hand, indem sie an den Glücks- und Unglücksmomenten der Schönen, Reichen, Berühmten teilhaben. Sicherlich haben diese Omas das Streben nach ihrem eigenen Glück längst aufgegeben – kein Grund für uns Medienjunkies, hochnäsig zu sein. Im Prinzip leben auch wir aus zweiter Hand, fremdbestimmt und unzufrieden, obwohl uns täglich suggeriert wird, dass wir dank der Zeitschriften und Sendungen selbständiger und zufriedener werden könnten. Ein Großteil unseres Medienkonsums dient nicht nur der unterhaltenden oder intellektuellen Beschäftigung mit Gott und der Welt, sondern vor allem unserer persönlichen Weiterentwicklung und der Vermehrung unseres Vermögens. Wir wollen besser aussehen, mehr verdienen, günstig einkaufen. Ein unübersichtlicher Wust an Ratgeberliteratur verspricht uns dabei Hilfe; wir können Dutzende von Tabellen mit Preisen von Ferienhäusern und Shampoos studieren, die Angebote von Versicherungen und Banken vergleichen. Dabei wird uns vor allem Folgendes eingebläut: -67-
Schau nach und Informiere dich dann wirst du glücklicher leben! Welch bodenlose Lüge. Brigitte hat Recht. Wozu eigentlich? Worin besteht der Vorteil, viele Stunden mit dem Konditionenvergleich von Girokonten zu verplempern? Was würde passieren, wenn man sich nicht informierte? Was wäre, wenn wir ab jetzt nur noch mit dem Wissen agierten, das wir zufällig bis heute in unseren Köpfen angesammelt haben? In der Zeit, die wir nun sparen, könnten wir spazieren gehen, Musik machen, einen Roman lesen. Das ist mit einer Gurkenmaske auf dem Gesicht zugegebenermaßen ebenso schwierig, wie ein Wirtschaftsmagazin zu lesen. Und schon bin ich wieder mit einem neuen AppetenzAppetenzkonflikt – ein paar Schlagworte sind erstaunlicherweise aus dem Psychologie-Grundkurs hängen geblieben – konfrontiert: Soll ich eher an der Verbesserung meiner Finanzlage als an der Verschönerung meines Teints arbeiten? Und meine Balkonkästen sind auch noch nicht bepflanzt. Jetzt werde ich wenigstens für fünf Minuten ausspannen; mein superteurer, superbequemer, superdesignter SedusBürostuhl lässt sich in Liegestellung bringen wie der Sessel bei meiner Kosmetikerin. Eine gute Gelegenheit, nachzudenken. Ich verdiene ganz gut, bin einigermaßen gesund und habe nette Freunde und eine gute Beziehung. Zudem bin ich älter als die Generation Ally und habe daher – theoretisch – gute Chancen, glücklich zu sein, da angeblich die individuelle Zufriedenheit mit dem Alter zunimmt. Warum bin ich trotzdem nicht glücklich und zufrieden? Trotz guter Rahmenbedingungen nagt permanent die Unzufriedenheit an mir. Scho n döse ich und träume von dem ultimativen Sonnenurlaub unter Palmen, ohne Handy, Computer -68-
und Nutzwertzeitschriften. Plötzlich tauchen zwei gut gebaute karibische Kellner auf und bieten mir leckere Cocktails an; verführerisch flüstern sie mir die Preise ins Ohr … very cheap, Madam, do you like? Sie wedeln mit einer Preisliste vor meiner Nase herum und lecken sich die Lippen. Ich nehme das erste Glas, schlecke an der Garnitur aus Kokosnuss- und Ananasscheiben … bäh! Während meines Fünfminutenschlafes hat sich meine Gurken-Quark-Maske selbständig gemacht. Ein Teil der Soße läuft mir noch über das Gesicht, während die verschmierten Gurkenscheiben auf den Teppich purzeln. Hoffentlich finde ich den Ordner mit Haushalttipps, die ich seit Jahren aus Zeitschriften ausschneide, und es gelingt mir, die Pampe rückstandslos zu beseitigen. Natürlich ist der Ordner spurlos verschwunden. Stattdessen finde ich einen uralten Artikel zum Thema »So organisieren Sie Ihr Büro«. Ich werfe ihn sofort in den Papierkorb und beschließe, nie mehr einen Tipp aus Zeitschriften zu lesen, auszuschneiden oder gar zu archivieren. Ich werde nur noch tun, wozu ich Lust habe und was meine Steuerberaterin mir nahe legt, damit ich nicht in den Knast wandere. Ich werde nie mehr Capital oder DM Euro lesen, Finanztest oder Guter Rat. Ich hasse diese geschäftigen Redakteure, die ungefähr zehn Millionen Aktienfonds daraufhin überprüfen, welcher pro Jahr ein zehntel Prozent mehr Rendite macht oder fünfzig Cent weniger Verwaltungskosten verursacht. Vor allem deshalb, weil ich gar kein Geld für Aktien habe. Und wenn ich es hätte, würde ich es nicht für Aktien ausgeben. Sondern lieber Urlaub machen, und zwar ohne im Internet zu recherchieren, bei welchem Reiseveranstalter das Hotel Bellavista um einen Kiki günstiger ist als bei den anderen Anbietern. Ich würde einfach jenen Veranstalter belohnen, der mir die Ferien am schmackhaftesten macht, der den schönsten Katalog hat und so meine Vorfreude steigert.
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Die ewige Schnäppchenjagd nervt und bringt gar nichts außer negativem Stress und der Gefahr, mit einer besonders unangenehmen Sorte von Besserwissern vereint zu werden: jenen Urlaubern, die allinclusive gebucht haben und daher überzeugt sind, Anspruch auf permanente Besäufnisse zu haben. Sofort nach dem Frühstück watscheln sie zur Bar und sind spätestens mittags so blau, dass jedes Bad im Meer oder Pool lebensgefährlich wird. Als kürzlich ein karibischer Barkeeper um die Gesundheit seines Gastes bangte und ihm keinen weiteren Mojito mixen wollte, klagte der Prolet vor einem deutschen Gericht. Er wollte einen Teil des Reisepreises zurückbekommen. Glücklicherweise hat er den Prozess verloren. Da ich schon mal dabei bin, fasse ich weitere gute Vorsätze: Ich werde nie mehr einem dieser schleimigen Fuzzis auf den Leim gehen, die mir den allerallerbilligsten Telefonnetzbetreiber aufschwatzen wollen (die Rechnung ist mir wurscht, die setze ich von der Steuer ab); ich werde auf keinen Fall noch einmal von einer Supermarktpropagandistin mit zehn Zentimeter langen, pinkfarbenen Fingernägeln einen SonderangebotSixpack probiotischen Joghurts kaufen (habe ich im Kühlschrank vergessen, ist komplett verschimmelt). Und nie mehr werde ich in meiner kargen Freizeit einen Versicherungsvertreter in meine Wohnung lassen, der mich so lange belatschert, bis ich eine Hausratversicherung abschließe (außer dem Perser und dem Sedus-Stuhl gibt es bei mir nichts zu holen). Inzwischen ist die Quarkpaste ganz prima auf dem Rosenmuster meines Bidjars eingetrocknet. Die Auswaschaktion wird verschoben, ich brauche jetzt Unterhaltung. Die Chancen stehen gut: Donnerstag ist nicht nur Lese-, sondern vor allem Kinotag. Martin und Julia stehen bereits in der Schlange an der Kasse. Wir scheinen die einzigen Besucher jenseits der dreißig zu sein. Um uns herum hippeln tätowierte und gepiercte -70-
Teenies, lehnen sich mit riesigen Tüten Popcorn an die schmuddeligen Säulen des Foyers, rauchen, trinken Cola. Und sie kommunizieren in einem Idiom, das uns Fossilen völlig fremd anmutet: Kanak Sprak, ein Mischmasch aus Türkisch und Rudimentär-Deutsch, promotet von den Filmstars Erkan und Stefan (von denen wir immerhin schon gehört haben) und auf die Schippe genommen vom deutschtürkischen Comedy-Star Kaya Yanar (dessen Sendung wir gerne sehen). »Eh, was guckst du, escht krass Alter, die blond Tuss.« Das verstehen sogar wir, obwohl wir uns nicht gerade intensiv mit unseren ausländischen Mitbürgern beschäftigen, die in unserem Besserwisser-Leben nur als Lieferanten von pappsüßen Pavlacka auftreten. Da wir überwiegend zur Gruppe der Dinks gehören (double income, no kids), haben wir auch kein Verständnis für die jungen Mädels mit ihren Plateau-Turnschuhen, die den Charme recycelter Autoreifen versprühen und in Kombination mit superengen Plastikhosen den leider häufig vorhandenen Babyspeck an Hintern und Schenkeln (diese Zeit unserer Biographie haben wir erfolgreich verdrängt) so richtig schön zur Geltung bringen. Ey, voll geil, ey. Kein Wunder, dass sich in diese anstrengende Multi-KultiGesellschaft der Mega-Kinopaläste kaum ältere Herrschaften wie wir verirren, zumal uns das kulinarische Angebot nicht eben vom Hocker reißt. Das beschränkt sich auf Eiscreme und Popcorn oder Nachos mit Käsesauce. Dazu wird gerne Bier oder Cola gereicht. Man kann natürlich auch Fanta oder Saft trinken. Und dann gäbe es da noch Eiscreme und … oder so. Die ausgesucht freundlichen Mitarbeiter dieser MaxiMegapaläste sind natürlich auch ganz super drauf und toll cool gekleidet und riesig hilfsbereit. Als wir nach einer halben Stunde Anstehen an der Kasse endlich dran sind, ist unser Film leider bereits ausverkauft, weil wir wie die Teenies ausgerechnet auf Jackie Chan stehen. Der Filmstar aus Hongkong drückt mit seinem artistischen Die-Wände-Hochgehen nicht nur unser -71-
Lebensgefühl aus, sondern ist auc h einer unserer seltenen Bezugspunkte zur Jugendkultur. Würden wir nicht gelegentlich MTV gucken, bei H&M einkaufen oder ins Kino gehen, wüssten wir leider überhaupt nicht, was Teenager so bewegt; nur Martin, lange Jahre Redakteur einer Marketingzeitschrift, beschäftigt sich beruflich mit Menschen unter fünfundzwanzig, während sie für etablierte Besserwisser überwiegend als Störfaktor in Erscheinung treten. Sicherlich sind sie auch daran schuld, dass unsere telefonische Kartenbestellung nicht geklappt hat. Von der ewig besetzten Leitung wurde ich an einen Automaten weitergeleitet, der mich in kafkaesker Verzweiflung zurückließ. Gibt es Filmfans, die es tatsächlich schaffen, zu der richtigen Ziffer des automatischen Tonbandes durchzudringen, das dann wirklich eine Bestellung entgegennimmt? Ich habe acht gebrüllt, acht, acht … Das Scheitern bei vermeintlich einfachen technischen Herausforderungen zehrt heftig an unserem Selbstwertgefühl. Es ist ein weiterer Beweis, dass wir doch nie genug wissen und häufig scho n an den alltäglichsten Aufgaben verzweifeln. So erfüllt es uns mit umso größerer Genugtuung, dass immer mehr Großkinos Pleite gehen. Dank gründlicher Lektüre der einschlägigen Wirtschaftsblätter hatten wir schon lange geahnt, dass man mit ausschließlich jugendlichen Kunden nicht genug verdient. Und wer uns nicht mit Canapés und Sekt bewirtet, ist selbst schuld, wenn die Kasse nicht stimmt. Zukünftig bleiben uns daher wohl auch die designerischen Zumutungen der Großkinos erspart, über die wir in der Innenarchitekten-Bibel AIT gelesen haben. Ein Glück, wir hatten schon mit dem Gedanken gespielt, unseren Frust im Stil des Serienkillers Patrick Bateman zu verarbeiten, den Bret Easton Ellis in seinem Roman American Psycho beschrieben hat. So ein Auszucker mit einem Bolzenschussgerät böte uns zudem die Chance, mal als Gast zu Harald Schmidt geladen zu werden; der gibt gerne Lesungen mit Texten seines Lieblingsautors Ellis. In -72-
den vollen Sälen sitzen dann vergeistigte Buchhändlerinnen und werden ganz blass um die Nase, während wir cool dreinschauen, obwohl uns auch schon ganz schlecht ist und wir nur nicht klein beigeben und einfach verschwinden wollen. In Wahrheit sind wir natürlich ganz brav und moderat und bleiben beim harmlosen Meckern. Das reicht, um uns gegenseitig unsere intellektuellzynische Ader zu bestätigen, die wir bei allen Vor-und- nach-uns-Generationen so schmerzlich vermissen. Deshalb mögen wir eigentlich auch keine Programmkinos mit ihrem Betroffenheitspublikum. Mit der spezifischen Besserwisserei feministischer Studienrätinnen und grüner Soziologen haben wir nichts am Hut. Als Besserwisser wollen wir vor allem eines nicht: Gegenstand berufsmäßiger Besserwisserei von Moralaposteln mit Wollsocken sein. Ein Hund, ein Schwanz und der Wunsch nach Balsam fürs Ego Amerika, du hast es besser. Dort wird die moral majority immerhin von so interessanten Figuren wie korrupten Fernsehpredigern, ehebrechenden Präsidenten und schweinsgesichtigen, sadistischen Kleinstadtsheriffs repräsentiert; dies bestätigt prima unsere weitgehend defätistische Grundhaltung gegenüber unserer wirtschaftspolitischen Peergroup jenseits des Atlantiks. Dagegen müssen wir uns in Deutschland mit bärtigen DDR-Pfarrern, der Frauenunion und einem grünen Außenminister als moralischen Instanzen begnügen. Gelegentlich werden sie flankiert von Bundespräsidenten, Bischöfen und weinenden Bürgermeistern, welche die Annahme von unerlaubten Parteispenden zugeben. Mit dieser Art Moralaposteln können wir leben, solange sie uns nicht bei jeder Zigarette und jedem Steak bezüglich deren Folgen für den Regenwald ermahnen. Doch als Mitglieder der Wowereit- ich-bin-schwul-73-
und-tolerant-aber-trotzdem-spießig- Generation wollen wir nicht ständig mit unseren eigenen Schwächen und Versäumnissen konfrontiert sein. Wir suchen Amüsement und freibeuterischen Hedonismus ohne Risiko und moralische Rechtfertigungsarien. Was uns natürlich keineswegs daran hindert, selbst bei jeder Gelegenheit über Spießer und Proleten vom Leder zu ziehen. Und das ist auch gut so! Der Film Wag the dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wackelt entpuppt sich als grandiose Politsatire und als cineastischer Glücksfall. Filmproduzent Motts, oscarreif gespielt von Dustin Hoffman, soll einen Krieg als Hollywoodspektakel inszenieren und der ganzen Welt einen Konflikt mit Albanien vortäuschen, den es in Wahrheit gar nicht gibt. Motts liefert ein tränentriefendes Rührstück ab, das nur eine Aufgabe hat: von den sexuellen Eskapaden des Präsidenten abzulenken. Der Coup gelingt, weil Motts sein Metier beherrscht. Und weil der Präsident bis auf seine Libido vollkommen unter dem Einfluss von Beratern, Öffentlichkeitsarbeitern und Geheimdiensten – dem Neudesign seines Lebens und dem der gesamten Nation aus purem Egoismus zustimmt. Wir lachen, doch bald rutschen wir unruhig auf unseren Sesseln hin und her. Wer weiß, ob alles stimmt, was uns so vorgegaukelt wird? Vielleicht hat Platon Recht mit seinem Höhlengleichnis: dass wir in Wahrheit nur die Schatten einer Realität sehen, aber nie diese selbst. Und vielleicht sind Schröder, Merz und Westerwelle gar keine realen Figuren, sondern nur Schauspieler, mit denen uns eine höhere Macht veräppelt? Vielleicht gibt es die Matrix wirklich? Und wir sind nur die Clowns und Claqueure, die das System am Laufen halten und dafür mit einem leidlich interessanten Leben inklusive Weltverbesserungsapproach belohnt werden? Auch Regisseur Motts hat bei seinem Glanzstück einen schweren Kampf auszufechten. »Ich hasse es, wenn alle sich einmischen«, klagt der Profi über seine dilettierenden Auftraggeber. Am Ende ist der Präsident gerettet und Motts tot. -74-
Die besserwisserische Politkamarilla schaltet ihn aus, weil er seinen Erfolg nicht in aller Stille genießen, sondern ausposaunen will. Wie den meisten von uns genügt es ihm nicht, etwas richt ig gut gemacht zu haben; er braucht Publikum, will gelobt und bewundert werden. Da irrt sich Mihaly Csikzentmihalyi wohl hinsichtlich der menschlichen Natur: Wir sind bei weitem nicht alle mit einem stillen Glück bei unseren Lieblingsbeschäftigungen zufrieden; wir empfinden keineswegs automatisch den inzwischen zur psychologischen Modeerscheinung avancierten »Flow«; dieses absolute Wohlbefinden bei einer Tätigkeit, die wir lieben, stellt sich bei den meisten von uns nur ein, wenn uns die Menge zujubelt. Oder wenn wenigstens der Chef, ein Freund oder der Auftraggeber uns für unsere Leistung lobt. »Für Produzenten gibt es keinen Oscar«, jammert Motts mehrmals. »Doch ich will die Anerkennung.« Statt dieser kommt die CIA. Es muss ja nicht gleich der absolute Flow sein. Doch den Job gut machen und dafür gelobt werden – das ist Balsam für unser aller Ego, auch wenn wir uns eher profanen Tätigkeiten widmen müssen. Wir werden zwar üblicherweise nicht liquidiert, wenn wir Anerkennung fordern. Aber die Anforderungen, die wir erfüllen müssen, bevor wir gelobt werden, steigen ständig. Wer einen Arbeitsplatz hat, muss scheinbar immer mehr arbeiten, sich immer besser qualifizieren, ständig mobiler und belastbarer werden. Wir sind zum Besserwissertum verdammt, was wir uns zu allem Überfluss auch noch mühsam selbst erarbeiten müssen. Kein Wunder, dass wir nach dem Film nur noch kurz etwas trinken gehen, en passant auf dem Heimweg im Stehen an der Bar.
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Der Klassenprimus-Komplex und italienische Gegenmittel Eigentlich können wir uns zwei Ausgehabende nacheinander fitnesstechnisch gar nicht leisten; wir trinken Kirschsaft mit Tonic (schmeckt fast wie Campari Soda) und schauen dabei auf die Uhr. »Theoretisch müsste ich heute noch die FAZ und die Wirtschaftswoche lesen«, jammert Liane. »Ständig renommieren meine Kollegen mit Informationen aus der Financial Times und der Business Week. Und ich weiß noch nicht mal, was im Stern oder im Spiegel steht.« Wir bedauern sie gebührend und beklagen unser schweres Schicksal: dass wir uns allmählich immer mehr dem Bild des perfektionistischen Deutschen annähern, geprägt durch die Sekundärtugenden Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit und Fleiß, die neuerdings mit Attributen wie Eigenverantwortung und Selbstmanagement verkuppelt werden. Und dass wir trotzdem nie unser selbst geplantes Pensum schaffen, nie genug verdienen und vor allem nie gelobt werden. Unsere italienische Freundin Fiona, die wir zufällig im Cius getroffen haben, nennt uns Jammerlappen und meint: »Ihr habt einen Klassenprimus-Komplex.« Das habe ein italienischer Journalist im Corriere della Sera geschrieben, und sie sehe das genauso. »Ihr seid doch schon viel zu perfekt, das macht uns anderen Europäern Angst«, klagt sie. »Oder zumindest erscheint ihr so. Immer wollt ihr fleißiger, zuverlässiger, fortschrittlicher als wir sein.« Richtig, Fiona, das brauchen wir einfach, weil unser Essen schlechter ist als das der Italiener und Franzosen und der Geschmack des Durchschnittsdeutschen eine Katastrophe ist. Wenn wir uns schon nicht gut kleiden, wollen wir wenigstens ordentlich aussehen und fleißig arbeiten.
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Fiona geht natürlich noch nicht nach Hause, sondern flirtet mit dem Barkeeper, der ihr einen Prosecco ausgibt. Ich packe die Zeit, die Wirtschaftswoche und den Stern in meine superedle schwarze Shopping Bag von Zetbe, die prima zu meinem schwarzen St.-Emile-Anzug und den Ferragamo-Schuhen passt. Doch das fällt hier keinem auf, weil ungefähr jede zweite Frau in Hamburger Bars das neutrale schwarze Outfit präferiert, und aus der Medienszene sind es dann sogar achtzig Prozent; wie Krähen kauern wir auf unseren Barhockern und beäugen unsere ebenfalls meist schwarz gewandeten Begleiter beziehungsweise jene Männer, die wir uns als solche wünschen. Aber Letztere sind eindeutig in der Minderzahl. So fällt unser Blick immer mal wieder auf das Titelblatt von Max oder Fit for Fun, doch leider kommen diese Typen hier nicht rein; heute Abend haben wir mal wieder nur einen Mischmasch aus Landeiern und Vertretern hier, und in unserem Fitnessstudio hat sich auch schon lange kein Model-Typ mehr blicken lassen. Inzwischen kneift Fiona den Barkeeper in seinen Bizeps, wild entschlossen, diese Nacht nicht einsam in die Kissen zu weinen. Sie zwinkert uns zu und flüstert: »Ich weiß, dass das unvernünftig ist, aber schaut mich nicht so an …« Und da wir tatsächlich so vernünftig sind, wie sie uns vorwirft, zahlen wir und machen uns auf den Heimweg. Und dann sind wir ganz still und geknickt, weil unser Abend wie die meisten Tage und Abende zwar lustig und unterhaltsam war, aber letztlich nur ein Ablenkungsmanöver von unserer Alltagstristesse. Ich werfe alle Magazine in den nächstgelegenen Papierkorb und muss dreimal durch halb Winterhude fahren, um einen Parkplatz zu finden. Warum gibt es Parkplatzsuche«?
keinen
Ratgeber
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»Die
erfolgreiche
Ich stelle mein viel zu großes Auto (Sicherheit geht vor!) auf einem Firmenparkplatz ab, den ich morgen in aller Herrgottsfrühe räumen muss. Todmüde falle ich ins Bett und träume von der Königin der Besserwisser. Das bin ich. Ich sitze auf einem Thron aus Zeitschriften und werfe huldvoll Schnipsel mit guten Ratschlägen unters Volk, bis mein Thron zusammenkracht und mich samt meinem Besserwisser-Leben unter Tonnen von Papier begräbt.
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Freitag: Aus dem Tagebuch eines Besserwissers
Es ist besser, Genossenes zu bereuen, als zu bereuen, dass man nichts genossen hat. Giovanni Boccaccio Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und nicht den Wert. Oscar Wilde Man gönnt sich ja sonst nichts Es ist halb sieben. Es ist zu früh. Es ist zu laut. Aus meinem Radiowecker röhrt Anastasia die Hymne der vergangenen Fußballweltmeisterschaft. Ich bin kein Sportler, der Millionen verdient, morgens trainiert und massiert und betütert wird. Ich habe Kopfschmerzen und miese Laune, und das Aspirin ist alle. Mein Tag hat schon schlecht angefangen und wird sich leider auch nicht um die bestmögliche Verteilung von Millionen auf ausländische Konten drehen. Ich werde mich mit der Hausverwaltung streiten, mit Auftraggebern herumärgern und bei der Reinigung mein eingegangenes Rene- Lezard-Jackett reklamieren, das ich eigentlich heute bei einem wichtigen Termin tragen wollte. Wenn ich Glück habe, bleibt wenigstens Zeit für eine Verwöhnsitzung beim Masseur. Fußreflexzonenmassagen sind kein vollwertiger Ersatz für Sex, aber weniger aufwändig und ein frauentypischer Trost für die Entbehrungen einer Long-Distance-Beziehung. -79-
Ich lasse für ein paar Minuten die Sprüche zweier notorisch gut gelaunter Radiomoderatoren über mich ergehen, bevor ich auf den Abstellknopf haue. Endlich Ruhe. Jetzt kann ich mich ganz allmählich an den Gedanken gewöhnen, dass ich aufstehen muss. Power-Prinzip des Motivationstrainers Anthony Robbins: Verbessere deinen physiologischen Zustand! Iss kein Fleisch, trink keinen Alkohol, denke positiv! Dann springst du nach sechs Stunden erholsamen Schlafes frohgemut aus den Federn, gerüstet für einen Tag voll guter Gedanken, prima Leistungen und immenser Erfolge. Schön wär’s. Leider hat mich das Motivationstraining nur kurzfristig motiviert, was vielleicht auch an meiner grundsätzlich kritischen Einstellung gegenüber wildem Hüpfen und unkontrollierten Zuckungen in Gegenwart fremder Menschen liegt. Oder daran, dass ich die Vorzüge von Trennkost nicht erkennen kann, zumal diese von Ungusteln wie Ferdinand Piëch oder Ignacio Lopez favorisiert wird, die fröhlich in einen Apfel beißen und dabei ihre Wurstwecken verspeisenden Mitarbeiter drangsalieren. Zudem vertrage ich kein Obst zum Frühstück, das verursacht mir Blähungen und Sodbrennen, da sich mein Körper seit Jahrzehnten an Toast mit Nutella und Croissants mit Marmelade gewöhnt hat und mir meine gelegentlichen Rohkosttage schon das Maximum an Selbstbeherrschung abverlangen. Warum sollen wir auf die kulturelle Annehmlichkeit industriell gefertigter Lebensmittel verzichten, obwohl sie gut schmecken und gleichzeitig die Beschäftigung von Tausenden
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Menschen Chemikern, garantieren?
Fooddesignern,
Marketingexperten
Immerhin hat es Zehntausende von Jahren gedauert, bis wir uns den evolutionären Fortschritt von Weißbrot, Schokocreme und Dosenmilch erarbeitet hatten; da wäre der Rückgriff auf naturbelassene Körner und schorfbedecktes Öko-Obst doch wahrlich ein Rückschritt in die Barbarei. Und der sollte Anjas und Bettinas Bartmännern vorbehalten bleiben, die sich auch anderen löblichen zivilisatorischen Gepflogenheiten entziehen, zum Beispiel der regelmäßigen Rasur oder dem Tragen geschlossener Schuhe bei Temperaturen unter 30 Grad. Die durchschnittliche Schlafdauer in Deutschland hat sich seit 1900 um mehr als eine Stunde verringert. Trotz frühzeitiger Heimfahrt war meine Nacht wieder zu kurz. Wir sind ein Volk von notorisch unausgeschlafenen Miesepetern. Wer schläft, sündigt nicht und macht auch ansonsten keinen Unsinn, wogegen Schlafmangel nachweislich zu Arbeits- und Autounfällen sowie erhöhter Anfälligkeit für Infekte und Krebs führt. Schon Hippokrates bemerkte: Durch Enthaltsamkeit und Ruhe werden viele Krankheiten geheilt. Einstein war schlau und hat angeblich zwölf Stunden pro Tag geschlafen. Napoleon war eine überehrgeizige Betriebsnudel, hat nur vier Stunden geschlafen und seine Umgebung tyrannisiert. Das Ergebnis ist bekannt. Der geniale Physiker ließ sich von seinen Träumen inspirieren, der zu kurz geratene Feldherr stürzte seine Armee gegen Preußen und Engländer in die Schlacht von Waterloo, kommentierte dieses Abenteuer mit der Bemerkung »Dies wird nicht ernster als ein Frühstück«, wurde von Wellington und Blücher vernichtend geschlagen und endete auf dem tristen Eiland St. Helena. Doch wenigstens -81-
brauchte er dort im Gegensatz zu uns Normalsterblichen kein Geld, sondern wurde von ein paar unbelehrbaren Fans betütert. Mir hilft mal wieder niemand. Niemand unterstützt mich, wenn ich heute, neben aller sonstigen Unbill, auch noch die Bank anrufen muss, um wegen der Erhöhung meines Dispokredites zu verhandeln, was ungefähr so angenehm ist, wie auf Scherben zu gehen. Das habe ich zwar beim Motivationstraining hingekriegt (wider Erwarten kann ich auch ohne Dope in Trance fallen), aber leider hat die euphorisierende Wirkung dieses Erlebnisses nur kurz angehalten; es steht also zu befürchten, dass auch das unmittelbar bevorstehende Zusammentreffen mit Vertretern des Finanzdienstleistungsgewerbes wie schon die Begegnungen zuvor – schmerzhaft für mein Ego und wenig erfolgreich werden wird. Diese Zusammenkünfte sind ähnlich sinnlos wie jene Schülerpartys, die wir zu Encountern – so eine Art Psychoterror-Vorhölle – umfunktionierten; wir spielten uns als Nachwuchspsychologen auf – schon ganz die zu großen Hoffnungen berechtigenden Besserwisser – und machten einige unserer Mitschüler fertig, indem wir bei ihnen angebliche Persönlichkeitsdefizite diagnostizierten. »Es tut mir wirklich Leid, Klaus, aber ich wollte dir schon immer mal sagen, dass dein extrem serviles Verhalten gegenüber dem Rektor und dein hypochondrischer Schnupfen uns wirklich total nerven und dass du endlich versuchen solltest, mehr aus dir rauszugehen, dann müsstest du nicht ständig in irgendwelche psychosomatischen Krankheiten flüchten.« Es gibt wohl keine bessere Methode, einen Menschen komplett zu verunsichern, als mit einem bedauernden, leichten Kopfschütteln pseudowissenschaftliche Analysen bezüglich seines Charakters und dessen Entwicklung abzusondern. Management by Chaos
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Nicht nur die Mode, auch das Management von Unternehmen folgt wechselnden Trends. Zirka fünfzig Bücher erscheinen jedes Jahr, die neue oder angeblich neue Management-Ansätze propagieren. Zwei Hauptthemen stehen im Mittelpunkt: Wie gehe ich mit Mitarbeitern um (wahlweise sanft oder zackig), und wie regelt man organisatorische Abläufe. In beiden Bereichen gehen die Meinungen heftig auseinander. So wird die Fokussierung auf KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess) abgelöst durch KVP2; auf Soft Management oder Management by walking around folgen Lean Management und Downsizing. Wurden gestern die Fertigungstiefe erhöht und Lieferanten zugekauft, stehen heute Outsourcing, Spezialisierung und Konzentration auf die Kernkompetenzen auf dem Programm. Welche Methode tatsächlich die erfolgreichste ist, lässt sich kaum nachvollziehen. Seltsamerweise gibt es trotz oder wegen oder mit den unterschiedlichsten Managementansätzen ebenso Erfolge wie Misserfolge. Autoritär geführte Unternehmen können erfolgreich oder pleite sein, kooperativ geführte Unternehmen ebenso. Letztlich gibt es nur ein Grundprinzip, das ein erfolgreicher Unternehmer beherzigen muss: Geld verdienen. Das wusste schon Fritzchen beim Klassentreffen. Als sich alle wunderten, dass ausgerechnet Fritzchen es zu Haus und Mercedes gebracht hatte, sagte er: »Ich kauf den Hammer für zehn Euro und verkauf ihn für zwanzig. Von den zehn Prozent lebe ich.« Vielleicht sollte ich das mal bei den Bankern versuchen? »Ich kann ja verstehen, dass Sie mir kein Geld geben wollen; Sie können einfach nicht anders, weil Sie ein anallibidinöses Verhältnis zu Geld haben, da Ihre Mutti Sie zu früh aufs Töpfchen gesetzt hat.« Prima ausgedacht; doch leider traue ich mich erfahrungsgemäß dann meist doch nicht, ganz cool solche Weisheiten von mir zu geben. Stattdessen werde ich wie üblich feige kuschen und versuchen, mich von der demütigenden -83-
Situation, um Geld zu betteln, abzulenken, indem ich die billigen Anzüge samt den Schuppen auf den Revers meiner Gesprächspartner taxiere und mich damit tröste, dass ich nie so schlecht gekleidet und frisiert sein werde wie diese Pfennigfuchser. Ich starre an die Decke und schwöre mir innerlich, zukünftig beim Einkaufen vernünftiger zu sein, den Designerladen von Petra Teufel (wo ich mich wie im Himmel fühle) links liegen zu lassen und doch endlich sämtliche Bücher von Bodo Schäfer zu lesen, damit ich nie mehr auf das Wohlwollen der Bank fuzzis angewiesen bin. Doch da ich mich selbst gut genug kenne, weiß ich auch genau, dass daraus sehr wahrscheinlich nichts wird. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, sagt ein englisches Sprichwort, und deshalb kann ich meine Erfolgsaussichten auch gut einschätzen – ich werde mich nicht ändern, und mein Leben wird sich nicht ändern, es sei denn, ich gewinne endlich im Lotto oder schreibe endlich einen Bestseller. Ansonsten ist in unserem durchschnittlichen Leben mit all seinen durchschnittlichen Begebenheiten das Repertoire an Rollen begrenzt, die wir glaubwürdig spielen können, auch wenn wir uns ständig informieren. Zwar können unser Verstand und unsere Psyche auf verschiedene Erlebnisse zurückgreifen, und aus diesen Erfahrungen, so berichten Kognitionspsychologen, basteln wir uns für alle möglichen Situationen unterschiedliche Persönlichkeiten zurecht, die wir dann unserer Mitwelt präsentieren; doch ich habe weder das schauspielerische Talent noch die Chuzpe eines Jürgen Schneider oder Manfred Schmieder, die beide den seriösen Geschäftsmann gaben und bei den Banken Milliarden abzockten, aber dann leider so unvorsic htig waren, sich erwischen zu lassen, und in den Knast wanderten, was trotz allen Spaßes, den sie vorher hatten, sicherlich keine gute Option ist. Da waren die angeblichen schwarzen Stammesfürsten, die vor ein paar Jahren meine Heimatstadt besuchten, wirklich cleverer. -84-
Sie boten wohlhabenden Mitbürgern an, in die Exploration von Goldminen in Sierra Leone zu investieren. Und genau jene Zeitgenossen, die ihre Brötchen damit verdienen, dass sie uns für teuer Geld gute Ratschläge erteilen – Ärzte, Notare, Rechtsanwälte – fielen, geblendet von der Aussicht auf ein Vermögen in Geld und Gold, reihenweise auf die afrikanischen Betrüger rein. In einer Provinzstadt, in der Vertreter anderer Hautfarben heute noch misstrauisch beäugt und mit diversen Vorurteilen belegt werden, vertrauten Honoratioren sechsstellige Beträge Leuten an, die weder einem der Geprellten bekannt waren noch sich durch ernsthafte Referenzen ausweisen konnten. Die schwarzen Prinzen wurden im besten Hotel am Platz einquartiert, großzügig bewirtet und mit Farbfernsehgeräten und Stereoanlagen beschenkt. Und plötzlich waren sie samt Geschenken und zu investierendem Geld verschwunden – eine der schönsten Besserwisserpleiten, die man sich denken kann. Die ganze Region hat schadenfroh gelacht; dabei hätten die meisten anderen Bürger sicherlich auch investiert, wenn sie das nötige Geld gehabt hätten und von einem der Beteiligten angesprochen worden wären. Wir verfügen – theoretisch – über jede Menge Informationen; der Schriftsteller Umberto Eco charakterisierte unsere Zeit als vernunftbetont, aber entzaubert. Doch ein Großteil der Leute ist gar nicht imstande, dieses Wissen zu analysieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn Betrüger freie Bahn haben, liegt das nicht nur daran, dass etwa dreißig Prozent der Deutschen selbst einfachste Bruch- und Prozentrechnungen nicht beherrschen; erschwerend kommt hinzu, dass wir immer seltener auf unser Bauchgefühl vertrauen und uns aus Geldgier mit Leuten einlassen, die wir eigentlich unsympathisch finden. Wider besseres Wissen
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Mir fallen die Ratschläge von unserem Freund Bernd ein, dem Personalberater, der bei den Einstellungsgesprächen und Assessment-Centern in seiner Firma nicht nur die kognitive, sondern auch die emotionale Intelligenz der Kandidaten testet. »Ihr müsst wieder lernen, langsam zu denken, Informationen intuitiv auf euch wirken zu lassen«, hat er uns neulich ans Herz gelegt, als wir über unsere Entscheidungsschwäche und andere Molesten unseres anstrengenden Daseins klagten. »Außerdem solltet ihr euch selbst von höherer Warte aus beobachten und eure Denkprozesse überprüfen.« Prima Idee. Doch das Talent, sich selbst und die eigenen Entscheidungen durch ein »metakognitives Mentoring« zu überprüfen, wie er uns empfohlen hat, scheint nur wenigen Menschen gegeben zu sein; Bernd selbst, der es ja besser wissen müsste, neigt übrigens auch gerne zum Verzicht auf Intuition und Selbstreflexion, zum Beispiel dann, wenn er bei unseren Wochenend-Spaß-SportTreffs immer einen völlig unangemessenen Ehrgeiz entwickelt und hinterher zwei Tage mit schmerzverzerrtem Gesicht herumhumpelt. Ich muss ihn unbedingt bald auf diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität hinweisen, doch bestimmt fällt ihm dann wieder irgendeine schlaue Erklärung ein; Bernd verdanken wir wirklich wesentliche Erkenntnisse zu unserem Menschsein als solchem, und er hat uns auch beigebracht, dass wir die Widersprüche unserer Existenz – wie er selbst es natürlich meisterlich beherrscht – mittels »ironischer Distanz« bewältigen könnten – baue Mist und lache darüber. Das ist leider bei vielen Fehlern nicht leicht zu machen, weil sie uns körperlich, psychisch oder finanziell ruinieren, aber, lieber Bernd, wir werden unser Möglichstes tun und dich in unsere Dankgebete einschließen. Die richtige Entscheidung zu finden – ob mit Bauch und/oder Hirn – funktioniert jedenfalls bei uns und bei Millionen anderen Menschen überhaupt nicht. Neunzig Prozent unserer Krankheiten verdanken wir unserer überzivilisierten, unvernünftigen -86-
Lebensweise – zu viel Alkoho l, Fett und Zigaretten, zu wenig Schlaf, Bewegung, Kontemplation. Und dann lassen wir uns auch noch um unser hart erarbeitetes Geld bringen. Polizei und Justiz schätzen, dass allein in Deutschland jährlich zweistellige Milliardenbeträge von Anlagebetrügern abgegriffen werden. Den größten Erfolg haben jene Gauner, welche die höchste Rendite versprechen; dabei müsste sich jeder Mensch mit durchschnittlichem Verstand sagen, dass bereits Gewinne von mehr als zehn Prozent äußerst unwahrscheinlich, Gewinne von mehreren hundert oder gar tausend Prozent so gut wie nicht realisierbar sind – und selbst wenn sie es wären, würde unsereinem niemand die Möglichkeit dieser Investition anbieten; vielmehr würden bestimmt wieder nur jene zum Zug kommen, die eh schon reicher als wir sind. Wir werden nie zu einem Gordon Gecko und glücklicherweise auch nicht zu einem Nick Leeson, der die gesamte Barrings-Bank mit seinen riskanten Anlagegeschäften ruinierte, ins Gefängnis musste, dort Krebs bekam, gesund wurde, einen Bestseller schrieb und heute wieder ein akzeptiertes Mitglied der Finanzwelt ist. Ein Leben als Hasardeur und Abenteurer, das wir voll Staunen aus der Ferne betrachten. Wir müssen oder dürfen kleinere Brötchen backen – vielen Dank, Herr Volksbank und Frau Sparkasse. Und wenn mal einer von uns etwas Exotischeres riskiert als einen Bausparvertrag, gibt es schnell eins auf die Mütze und oft auch Schlimmeres. So werden viele Opfer von Anlagebetrügern sogar mehrfach geprellt, weil sie wie beim Glücksspiel – entgegen jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung versuchen, Verluste durch neue Einsätze wettzumachen. Das nennt man »Chasing« – vielen Dank für die Information, Bernd –, und es ist genau das -87-
Gegenteil von metakognitivem Mentoring; es bedeutet, dass die Opfer ihrem verlorenen Geld neues hinterherwerfen und so immer weiter ins Verderben rutschen. Besonders klasse ist dabei, dass die meisten Betrogenen nicht zur Polizei laufen und Anzeige erstatten können, weil es sich bei dem verlorenen Geld um Schwarzgeld handelt und sie Gefahr laufen, zu dem bereits erlittenen Schaden auch noch eine Geld- oder Gefängnisstrafe aufgebrummt zu bekommen. Zuerst nutzen diese Schlaumeier ihren ganzen Grips und ihre Energie, um das Finanzamt zu betrügen, und dann werden sie von Gangstern um die Früchte ihrer Steuerhinterziehungsaktion gebracht; das gefällt mir gut, dass ein Lump den anderen bescheißt, und ich empfinde keinerlei Mitleid, sondern nur Schadenfreude. Doch leider fehlt das Geld dann in unseren Steuerkassen, weshalb wir ehrlichen, staatstreuen Bürger umso mehr bezahlen müssen. Aber wenigstens kann ich die GoldEpisode als Einstieg in meinen Artikel über Anlagebetrug verwenden, der dann unter Umständen drei bis fünf Leute vor ähnlichen Betrügern bewahrt. So hat mein Besserwisser- Tag ja doch noch einigermaßen erträglich begonnen; ich notiere mir auf die Schnelle ein paar Stichworte (dank eines Tipps von Patricia Highsmith aus ihrem sehr empfehlenswerten Büchlein Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt habe ich immer und überall Notizzettel griffbereit, übrigens einer der wenigen Ratschläge aus Büchern, der sich – anders als bei meinen Einkaufszetteln – bewährt hat). Ich schreibe auf, dass es Selbsthilfegruppen für Spielsüchtige gibt (»Gamblers Anonymous«), in denen sich auch gescheiterte Spekulanten ausweinen können, die statt in der Spielbank an der Börse zocken. In diesen Selbsthilfegruppen können sie dann ihrem verlorenen Geld hinterher weinen und sich selbst bezichtigen wie die Flagellanten im 16. Jahrhundert, die sich blutig schlugen (heute nicht mehr üblich) und rumheulten und eine wirklich eklige Form von Besserwisserei an den Tag legten, -88-
indem sie sich auf ein moralisches Podest stellten. Ich beschließe, selbst vor Ort zu recherchieren. Als Besserwisser will ich alles möglichst aus erster Hand erfahren, um dann meine gesammelten Erkenntnisse möglichst wirkungsvoll unter die Leute bringen zu können. Außerdem habe ich vor kurzem in Baden Baden wider besseres Wissen 600 Euro verspielt: »Hallo, ich heiße Andrea und bin auch pleite, aber jetzt spiele ich nicht mehr Black Jack, sondern Lotto.« Widerwillig steige ich endlich aus dem Bett, schlurfe in die Küche und brühe mir von Hand einen Kaffee auf (unsere typisch deutschen Kaffeemaschinen sind der Tod des Rost-Aromas, während in dem guten alten Melittafilter das Kaffeepulver so richtig schön aufquillt und sein Aroma voll entfaltet). Im Stehen trinke ich schnell den Kaffee, betrachte meine blaue IKEAKüche und verfluche meine knappe Kasse, die mich zwingt, wohl noch einige Jahre in dem Billigpressspandesign der schwedischen Kreativitätsschnorrer zu leben, die bei guten Designern abkupfern und sich überhaupt aufführen wie der Elch im Porzellanladen. Wie toll stabil und haltbar die Produkte des unmöglichen Möbelhauses sind, konnten wir kürzlich bei Harald Schmidt bewundern, in dessen netter Familienshow gelegentlich Waren getestet werden. Als Manuel Andrack beim Aufbauen von »Billy« ein Loch von der Größe einer Kanonenkugel in die Rückwand bohrte, hauten wir uns lachend auf die Schenkel. Das war dann mal wieder ein Beweis, wie erfolgreich diese unselige Selbstbaumasche ist (was wir natürlich schon vorher wussten). Zudem haben derartige Vorführungen einen viel höheren Unterhaltungswert als die Tabellen und chemischen Formeln bei Ökotest und Stiftung Warentest und bleiben einem daher besser im Gedächtnis; deren Ergebnisse werden so uncharmant präsentiert, dass wir sie immer gleich wieder vergessen. Dann stehen wir ratlos im Supermarkt, weil uns einfach nicht mehr einfällt, welches Mineralwasser diesen absurd hohen -89-
Nitratgehalt hatte; wir fühlen uns nachhaltig beeinträchtigt in unserer Besserwisser-Existenz, da wir es nicht schaffen, tendenziell nützliche Informationen zu behalten, während völlig sinnloser Info-Müll unsere grauen Zellen verkleistert. Nach diesen Überlegungen bin ich einigermaßen wach, denn pointiert formulierte Kritik an den gesellschaftlichen und sonstigen Zuständen bringt mich erfahrungsgemäß am besten in Schwung; glücklicherweise muss ich zum Aufwachen morgens nicht joggen wie Joschka Fischer oder wie die hiesigen Hanseaten-Yuppies, die um die Alster hecheln und dabei den Schweiß in alle Richtungen verspritzen, weshalb ich dort schon gar nicht mehr spazieren gehen mag. Außerdem bekomme ich Zustände, wenn ich diese dünnen, dünnlippigen Eibletten mit ihren dünnen blonden Pferdeschwänzchen in ihrem EscadaSport-Outfit sehe, die beim Laufen ihre knöchernen Hintern so komisch rausstrecken und ihre Knie an der Beininnenseite aneinander scheuern und sicherlich demnächst ihren Meniskus operieren lassen müssen, weil sie diesen Laufstil haben, den meine Mutter »über den großen Onkel laufen« nennt. Jetzt heißt es Beeilung, denn spätestens ab viertel nach sieben ist die Pförtnerloge des Bürogebäudes besetzt, auf dessen Parkplatz ich gestern Nacht mein Auto abgestellt habe, und dann droht akute Abschleppgefahr. Auf dem Rückweg fahre ich, da ich schon mal unterwegs bin, noch schnell bei der Tankstelle vorbei. Ich verschmiere meine Finger am Tankdeckel, der rutscht mir aus der Hand und rollt unter das Auto. Ich hole den Ölmessstab und stochere den Deckel unter dem Auto hervor, bis mir einfällt, dass es ja viel einfacher gewesen wäre, zwei Meter vorzufahren. Aber das hätte eine gewisse praktische Intelligenz erfordert, die mir leider nicht im Übermaß gegeben ist. Von weitem sehe ich, wie mich das Mädel, das einsam an der Kasse sitzt, beobachtet. Sie darf nur kassieren und wahrscheinlich bei Androhung der Todesstrafe das Gebäude samt Kasse nicht verlassen. Weit und breit ist kein Tankwart oder sonstiger -90-
potenzieller Helfer zu sehen. Warum eigentlich muss ich mir die Finger selbst schmutzig machen? Warum gibt es bei uns keine real existierende Dienstleistungsgesellschaft, in der mir derart ungeliebte Arbeiten wie Tanken, Scheibenwaschen und DenÖlstand-Messen von Profis abgenommen werden? Warum müssen – oder wollen die meisten von uns immer alles selbst machen? Ich wische meine stinkenden Finger an dem Recycling-Papier ab, das Aral gnädigerweise seinen unfreiwilligen Do-it-yourselfKunden zur Verfügung stellt, und hole mir beim Bezahlen noch schnell ein Croissant. Mir fällt ein Editorial von Wolfgang Bachmann ein, das er für den Baumeister geschrieben hat, weil auch er die schöne alte Tradition der Tankstellen mit Bedienung vermisst. Er meint, unsere Volkswirtschaft beruhe inzwischen leider auf dem Prinzip der dilettierenden Angestellten: Dank 37,5-StundenWoche hätten die meisten von uns zu viel Freizeit, die wir mit allen möglichen Bau-, Renovier- und Bastelarbeiten ausfüllen wollten. Wolfgang beklagt – wie ich und alle meine Freunde – nicht nur das erzwungene Do- it- yourself an den Tankstellen, sondern auch die Tatsache, dass Millionen Hobbywerker die Handwerker nicht mehr ordentlich arbeiten lassen. Auch ich habe mich schon als Kind gewundert, dass es Menschen geben kann, die am Sams tagnachmittag freiwillig unter, in oder neben ihren Autos liegen, schrauben und löten und malen und wischen, und seit damals ist diese Unsitte des Alles-Selbermachens immer weiter eskaliert. Was dabei rauskommt, ist bestenfalls nicht gefährlich, selten dauerhaft zufrieden stellend und ästhetisch häufig ziemlich daneben: sackähnliche selbst gestrickte Pullover, mit Spoilern aufgemotzte 3er BMW, selbst gezimmerte Gartenhäuser und ähnliche Grausamkeiten. Und an -91-
den Tankstellen gibt es trotz zehn Prozent Arbeitslosen niemanden, der uns Bürohengsten Benzin, Öl und Luft nachfüllt. Theoretisch kennen wir uns zwar in vielen Bereichen so gut aus, dass wir fast vollkommen autark vom Rest der Welt leben könnten – es hapert nur an der praktischen Umsetzung. Noch nie gab es eine derart ausdifferenzierte Gesellschaft von Spezialisten für alles und jedes – aber letztlich müssen wir trotzdem den Großteil unserer Alltagsgeschäfte – Bügeln, Tonerkartuschen wechseln, Mineralwasserkästen schleppen – selbst erledigen; ein echter Tiefpunkt in der Menschheitsgeschichte. Da mich – ebenfalls ein Defizit unserer arbeitsteiligen Gesellschaft – kein Fahrer kutschiert, muss ich wieder um den Block fahren, bis ich endlich einen freien Parkplatz finde. Dort stelle ich das Auto für die kommenden Tage ab. Eine der Großstadttragödien ist, dass nahezu jeder Einwohner ein Auto hat, aber viele damit kaum fahren, weil man zu Hause keinen Parkplatz bekommt oder bei der Arbeit keinen Parkplatz bekommt oder bei den Freunden, die man besuchen will, keinen Parkplatz findet. Trotz dieses bekannten Problems fährt man am Samstagabend mit dem Auto dahin – schon um den guten Vorsatz zu bestärken, dieses Mal nicht so viel zu trinken –, sucht dort ewig einen Parkplatz, kommt völlig genervt zur Party, wo Chips und Häppchen natürlich schon alle sind, und betrinkt sich dann, hungrig und verzweifelt, erst recht. Dies führt dazu, dass man mit dem Taxi nach Hause fahren muss, am nächsten Tag einen Saukater hat, aber trotzdem das Auto holen muss, weil es auf einem Anwohnerparkplatz steht. Und obwohl wir den Ablauf dieses Intermezzos nur allzu gut in Erinnerung haben, machen wir wieder und wieder den gleichen Fehler – die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt ein Sprichwort; wie die meisten Menschen glauben wir daran, dass Optimismus gesund ist. Doch Psychologe Uli hat uns schon vor langer Zeit erklärt, dass defensive Pessimisten im Prinzip besser dran sind, weil sie mit dem Schlimmsten rechnen und besser vorausplanen, während -92-
wir naiv und blauäugig durch die Welt tapern, obwohl wir eigentlich genau wissen, auf welche Störungen und Handicaps wir uns besser einrichten sollten. Desillusionierung des Besserwissers Als ich mein Büro betrete, ist es halb neun. Nach den bisherigen Anstrengungen brauche ich zur Stabilisierung sofort ein richtig gutes Frühstück. Ich tunke das erstaunlich frische, knusprige Tankstellen-Croissant in meinen Milchkaffee, zerdrücke das buttrige, aufgeweichte Hörnchen an meinem Gaumen (ich versuche, langsam und genüsslich zu essen, wie es der Verein »Slow Food« erklärt) und werfe den Computer an. Jetzt kann ich endlich mit meiner Arbeit beginnen. Ich breite meine Notizen und die Unterlagen des Bundeskriminalamtes auf dem Schreibtisch aus und lege los. Es flutscht. Ich bin glücklich. Das muss der Flow sein. Ich schreibe über Anlagebetrüger, über deren Opfer, über Privatdetektive und Möglichkeiten, das verlorene Geld zurückzubekommen. Meine Laune bessert sich von Minute zu Minute. Endlich bin ich wieder in meinem Metier; ich kann mein erarbeitetes Wissen anwenden. Ich stelle mir vor, wie Menschen sich meinen Artikel gegenseitig zeigen, weil er so viele wichtige Informationen enthält. Der Redakteur wird mich loben. Ich werde Leserbriefe mit Dankeschöns und Hilferufen bekommen. Ich werde Tipps geben und mich freuen, weil ich ein guter Besserwisser bin. Da ich mir meine gute Laune und die allmähliche Einstimmung aufs Wochenende nicht verderben lassen will, überprüfe ich meinen aktuellen Kontostand online und verschiebe daraufhin das Treffen mit den Bankern auf Montag. Schade. Es ist zu spät für die Fußmassage. Ich ziehe ein braves Kostümchen an (wichtiger Karriere-Tipp aus einer Frauenzeitschrift: Kleiden Sie sich, wie es Ihr Arbeit-93-
geber/Auftraggeber erwartet! Ihr Rock darf nicht zu kurz, Ihr Ausschnitt nicht zu tief sein! Tragen Sie keinen teuren Schmuck und kein aufdringliches Parfüm! Strahlen Sie Seriosität und Kompetenz aus!) und mache mich auf den Weg zur Agentur, einen wunderbaren Text mit einer ganz tollen Lobeshymne für die Imagebroschüre des Auftraggebers – eine Versicherung – in meiner Aktentasche, den ich natürlich vorab schon brav gemailt habe. Da ich keinesfalls meinen Parkplatz aufgeben will, fahre ich mit dem Bus. Mit dem Regenschirm bleibe ich an meiner Wolford-Strumpfhose hä ngen – 20 Euro im Eimer, die Fahrt mit dem Taxi wäre billiger gewesen, und ich kann nur hoffen, dass den anwesenden Herren meine riesige Laufmasche nicht auffällt. Doch wie erwartet linsen sie nur gelegentlich verstohlen zu meinen Beinen, sind ansonsten schlecht vorbereitet, aber wahnsinnig engagiert und bemängeln vermeintliche versteckte Aussagen in meinem Text, welche dieser nach meiner Interpretation gar nicht enthält. Sodann machen sie mir und Jens, dem Agenturchef, Formulierungsvorschläge, die dieser dankbar aufnimmt und »gelungen« findet; das wundert mich nicht, da er zwar ein guter Geschäftsmann, aber ein lausiger Schreiber ist und wir schon in der Journalistenschule regelmäßig lachend auf dem Boden lagen, wenn seine Texte besprochen wurden. Ich hingegen leide und versuche, die schlimmsten Stilblüten zu verhindern. Warum müssen sich hoch bezahlte Manager in kreative Arbeitsprozesse ihrer Dienstleister einmischen? Warum versuchen Menschen, die in ihrem Leben drei Aufsätze und fünf Briefe geschrieben haben, als Schriftsteller zu reüssieren? Warum bin ich ein Versager, schreibe keine Krimis wie Donna Leon, obwohl mir ständig neue Plots einfallen, sondern beschäftige mich als unterbezahlter Lohnschreiber mit Betrügern, Banken und Versicherungen (was auf dasselbe hinausläuft und im Laufe der Jahre auch nicht interessanter wird)? Warum werde ich als begnadeter Besserwisser von -94-
erfolgreicheren Besserwissern schikaniert? Und wird dies alles bis ans Ende meiner Tage so weitergehen? Ich sinke auf meinem Stuhl zusammen und versuche, mein resignatives Selbstbild zu verscheuchen. Anthony Robbins empfiehlt: »Sie selbst entscheiden, was Sie fühlen und wie Sie handeln. Wir können die Art und Weise, wie wir die Welt erleben, augenblicklich verändern!« Ich erlebe die Welt als schwierigen, anstrengenden Ort mit anstrengenden Geschäftspartnern, anstrengenden Nachbarn und einem dauernden Kampf um Wohlwollen, Sympathie, Geld und vor allem um die besseren Argumente. Hier und heute kann ich wohl nichts verändern, das ging alles in die Hose. Mir fällt Andreas ein, der Architekt, der unter ähnlichen Schwierigkeiten leidet und sich von seinen Bauherren schurigeln lassen muss. »Wenn du ein Einfamilienhaus baust, hast du am Ende entweder einen Prozess mit dem Bauherrn oder ein Kind mit der Bauherrin.« So weit sein Resümee. Glücklicherweise hat er sich im Laufe seiner Karriere dann doch mehr Prozesse als nichteheliche Kinder eingehandelt, doch dazu auch einen veritablen Frust. »Früher gingen die Leute zum Architekten, weil sie etwas Schönes, Individuelles haben wollten; sie haben auf sein Fachwissen vertraut und sich beraten lassen«, berichtet er von besseren Zeiten. Doch heute sei auch in seiner Branche die Zeit der Besserwisser angebrochen. »Heute bin ich Psychiater, Eheberater, Geschmacksberater – zu allen Problemen darf ich
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mich äußern, aber die Dachgaube will der Auftraggeber selbst entwerfen.« Mehr Diskussionen, mehr Ärger, mehr Zeitaufwand: Die Ansprüche an Arbeitnehmer und Selbständige werden immer höher. Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski schreibt in seinen Prognosen über die Arbeitswelt 2010, dass die Arbeit der privilegierten Vollzeitbeschäftigten immer intensiver, konzentrierter und psychisch belastender werde. Zudem beginne der Ausverkauf der Arbeitslust: Nur noch knapp ein Drittel aller Beschäftigten könne sich heute noch in der Arbeit selbst verwirklichen; die anderen müssen sich schicke Hobbys suchen, um in den Genuss des Flows zu kommen. Auch ich würde jetzt lieber etwas Sinnvolles, Spannendes, Unterhaltsames tun, als mein mühsam erworbenes Knowhow in einer ausschweifenden Diskussionsrunde mitzuteilen, kalten Kaffee und billige Kekse zu konsumieren. Bin ich nicht kritikfähig? Warum behagen mir Ton und Inhalt dieses bedeutungsschwangeren Kaffeekränzchens so überhaupt nicht? Mit meiner Skepsis befinde ich mich in guter Gesellschaft. Das Max-Planck-Institut für psychologische Forschung hat schon vor Jahren festgestellt, dass beim viel gerühmten Brainstorming selten etwas Sinnvolles herauskommt. Meine Gedanken schweifen weiter zu einem Artikel von Fredmund Malik, Leiter des Managementzentrums St. Gallen, über den in unserer Wirtschaft gepflegten Mythos des Teams. Auch er bezweifelt heftig, dass Teamarbeit in jedem Falle effizient und der Sache dienlich sei; insbesondere alle wirklich großen kreativen Leistungen, so Malik, seien nachweislich von einzelnen Menschen erbracht worden, die ungestört arbeiten konnten und nicht von Besserwissern gestört wurden: große Romane, Opern, geniale Erfindungen. Trotzdem nennen die meisten Unternehmen Teamfähigkeit als absolut unverzichtbare Schlüsselqualifikation, lassen dann jedoch bevorzugt jene
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Zeitgenossen Karriere machen, denen es gelingt, konziliantere Teammitglieder wegzuboxen. Die Sieger schaffen sich eine Hausmacht von Zuträgern, Arbeitsbienen und Schmeichlern, welche ihre Position festigen und ihre Verdienste rühmen – das Team als Applaudierclub. Gibt es echte Teamarbeit irgendwo? Die wäre wahrscheinlich sehr effizient und Energie sparend. Wir müssten uns nur auf unseren Aufgabenbereich konzentrieren und hätten das befriedigende Gefühl, unsere Arbeit im Griff zu haben. Mir fällt spontan nur ein gelungenes Beispiel ein: Mutti spült, ich trockne das Geschirr ab. Im Beruf müssen wir uns trotz Team-Mythos mit allen Arbeitsbereichen beschäftigen, versuchen, über alles Bescheid zu wissen, damit wir ja nicht abgehängt werden. Die Folgen sind Stress für alle Beteiligten und Mittelmäßigkeit der Ergebnisse. Wer es nicht schafft, alle anstehenden Aufgaben selbst zu lösen, muss eine andere Strategie entwickeln: Wir lenken uns durch kleine Abenteuer ab oder schmeicheln uns bei jenen ein, die uns auf der Erfolgsleiter überholt haben. Vielleicht sollte ich das jetzt auch mal probieren? emnid-Umfrage: 51 Prozent der Arbeitnehmer versuchen, Affären am Arbeitsplatz zu vermeiden. 32 Prozent der Arbeitnehmer mit niedriger Bildung haben nichts gegen eine Affäre am Arbeitsplatz. 43 Prozent der Abiturienten und Hochschulabsolventen würden keinesfalls nein sagen. Vor längerer Zeit stand ein wunderbarer Artikel zum Thema Schmeichelei in Psychologie Heute, wegen ihrer ungemein lebensnahen Ratschläge eine meiner Lieblingszeitschriften. Die Autorin gab Folgendes zu bedenken: »Das Lobhudeln wegen kurzfristiger Ziele lässt sich leichter durchschauen als konti-97-
nuierlich über längere Zeit zum Ausdruck gebrachte Ehrerbietung und Beflissenheit.« Wenn man schon seine Beziehungen nach oben durch schmeichelndes Benehmen verbessern wolle, so solle man dies als Langzeitstrategie betreiben und nicht als einmaligen Beeinflussungsversuch. Das leuchtet ein, und so wird das ja dann wohl heute auf die Schnelle nichts mehr mit meiner eben ins Auge gefassten Anbiederung, aber vielleicht sollte ich mit Anthony Robbins’ Power-Prinzip am Wochenende meine Argumentationsstärke und Körpersprache trainieren, um nächstes Mal besser gewappnet zu sein. Ich ringe mir wenigstens ein freundlich dargebrachtes Zugeständnis an meine Auftraggeber ab, den ganzen Text nochmals zu überarbeiten und ihre wertvollen Anregungen zu berücksichtigen. Sie lassen meine gute Absicht gelten. Wir trennen uns in leidlichem Einvernehmen – eins zu eins unentschieden mit leichtem Vorteil für meine Gegner. Auch Besserwisser pflegen Illusionen Nach den bisherigen Anstrengungen dieses Freitags kann mich nur noch ein Ausflug in unsere grandiose Welt des Konsums mit meinem Schicksal versöhnen. Bettina holt mich ab, und wir fahren zu einem Designer-Outlet. (Wie es Bodo Schäfer empfiehlt: Sparen macht Sie zum Millionär!) Leider gibt es auf der Autobahn einen Stau. Wir betrachten all die in Ohren und Nasen bohrenden Fahrer rings um uns, die sich dank ihres Blechkäfigs wohl unbeobachtet fühlen; dann unterhalten wir uns über all die Kleidungsstücke, die wir unbedingt kaufen wollen, weil wir dringend neue Business-Outfits brauchen und weil wir dringend neue Sportsachen brauchen und weil wir ohne die tollen neuen bunten T-Shirts dieses hippen spanischen Labels auf keinen Fall weiterleben können. Und weil wir es uns einfach verdient haben. Kurz vor sechs Uhr kommen wir an. Der -98-
Parkplatz ist krachvoll. Aus den Läden strömen Dutzende von beseelt lächelnden Frauen mit riesigen Plastiktüten. So spart man Geld: Jede prall gefüllte Tüte aus einem Designer-Outlet bedeutet mit Sicherheit ein gespartes Vermögen von 1000 Euro. Wir drängen uns an den Schlangen neben den Kassen vorbei zu den Ständern und den Wühltischen. Wir sind in zwei Stunden hundert Kilometer gefahren (macht hin und zurück 20 Liter Super-Benzin, 22 Euro), um uns in einem Chaos aus Kleidern, Hosen, Jacken, Schuhen wiederzufinden. Wir haben noch etwa zehn Minuten Zeit, um einige Teile anzuprobieren, und entscheiden uns halbherzig für weiße TShirts (die bunten sind leider alle weg), die wir bei Karstadt für etwa ein Drittel des Preises bekommen hätten, aber wo wir schon mal da sind, nehmen wir sie eben mit. »Seit es diese Outlets gibt, gebe ich viel mehr Geld aus für Klamotten als früher«, stellt Bettina erstaunt und resigniert fest. »Und eigentlich habe ich jetzt jede Menge Sachen, die ich nicht wirklich brauche und die mir gar nicht hundertprozentig gefallen.« Na so was. Das ist ja eine tief schürfende Erkenntnis. Das merkt sie jetzt erst? »Wir sind doch gar nicht hier, um wirklich Geld zu sparen«, gebe ich zu bedenken, »sondern um uns kurzfristig gut zu fühlen, während wir uns der Illusion des Sparens hingeben.« Sie rollt mit den Augen und greift nach zwei Sommerröcken – besonders günstig, da die Reißverschlüsse herausgerissen sind. Die können wir locker für ein paar Euro von der türkischen Änderungsschneiderei in unserer Nachbarschaft austauschen lassen. Und dann müssen wir noch die wunderbaren New-BalanceTurnschuhe haben, die so bequem sind, dass sie fast wie eine Fußreflexzonenmassage wirken. Sie sind zwar nicht nennens-99-
wert reduziert, aber wer weiß, ob es die hellblauen noch lange gibt. Dann fahren wir nach Hause. Dort stelle ich fest, dass der Rock mit einem funktionierenden Reißverschluss zu eng sein wird, was ich zwar schon im Laden befürchtet hatte, aber nicht so richtig wahrhaben wollte. Ich bemühe ein letztes Mal für heute meinen Guru Anthony Robbins, der bei unangenehmen Situationen empfiehlt, diese mittels »Reframing« in einen neuen, sinnvollen Zusammenhang zu stellen: Der Rock ist nicht zu eng, sondern bietet mir die Chance, ein bis zwei Kilo abzunehmen. Getreu dem Motto, dass die beste Diät immer jene ist, die morgen beginnt, gönne ich mir einen Campari Orange und einen Krabbensalat. Glücklich betrachte und befühle ich meine neu erworbenen Schätze, bis mein Kronleuchter zischt und die letzte funktionierende Glühbirne blinkend ihren Geist aufgibt; ein kurzes Aufflackern wie von einer Sternschnuppe im Universum meines Besserwisserdaseins, während ich betäubt in die Dunkelheit starre.
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Samstag: Endstation Baumarkt
Das Recht auf Dummheit gehört zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Mark Twain Jeder Mensch kommt mit einer sehr großen Sehnsucht nach Herrschaft, Reichtum und Vergnügen sowie einem starken Hang zum Nichtstun auf die Welt. Voltaire Althergebrachtes und neues Besserwissen Samstage sind spannend, Samstage sind toll. Ganze Stadtviertel sind auf den Beinen. Die Straßen sind voll, die Leute sind kribbelig, aber nicht so nervös und gestresst wie an Arbeitstagen, sondern voller Hoffnungen und Erwartungen. Wen wird man beim Einkaufen treffen? Mit wem kann man abends ausgehen? Und vor allem: Wohin? Der Samstag ist das Highlight der Woche, für den Samstag rackern wir uns ab, für die Vergnügungen des Samstags ist uns nichts zu viel oder zu schade. Heute wollen wir richtig leben: frisch geduscht, gut gekleidet, froh gestimmt. Kaum verlassen wir das Haus, öffnet der Samstag vor uns seine Möglichkeiten wie ein bunter Sommerblumenstrauß. Man kann in kleinen griechischen, italienischen und türkischen Läden Obst und eingelegtes Gemüse, Amarettini und Pavlaka kaufen, wozu während der Arbeitswoche immer die Zeit fehlt. Man kann am Goldbekmarkt eine Currywurst essen und für das gemütliche gemeinsame Kochen mit Freunden ein Bresse-Huhn -101-
samt dieser leckeren winzigen Kartoffeln erstehen; die werden nicht in gewöhnlichen Plastiksäcken angeboten, sondern in stilechten ruralen Leinenbeutelchen; wahrscheinlich hat sie die Bäuerin nach dem Füttern, Baden, Streicheln und Liebkosen der wertvollen Hühner selbst von Hand gewebt. Dann kann man in einem der neuen schicken Cafes einen Cappuccino trinken, Zeitung lesen und Leute gucken, wobei selbstverständlich letztere die eigentlich wichtigste Beschäftigung ist. Der Samstag macht uns kribbelig, denn er kann unserem Leben eine entscheidende Wendung geben; heute ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass wir den Partner unserer Träume finden, dass wir uns neu verlieben, dass wir einen Menschen finden, der unsere Seele zum Klingen bringt und die Mühen der Woche von uns abstreift. Endlich haben wir Gelegenheit, neue Leute kennen zu lernen, Kontakte zu knüpfen, unser soziales Leben zu aktivieren. Und wenn das nicht klappt, haben wir immer noch die Chance, mit dem netten Typen zu plaudern, der am Tisch gegenüber scheinbar völlig vertieft in die Lektüre der FAZ ist, aber immer mal wieder rüberschaut und lächelt, bis schließlich ein paar Freundinnen und Freunde auftauchen und ihn mit Küsschen links und Küsschen rechts und dann nochmals links begrüßen. Dies zeichnet sie als wahre Begrüßungsexperten und kosmopolitisch versierte Kenner europäischer Grußrituale aus; denn von unseren Freunden aus Lausanne wissen wir, dass zwei »Bis Bis« Unglück bringen und daher unbedingt abwechselnd drei Mal die Wangen bis auf etwa einen Zentimeter aneinander geführt werden müssen, ohne dass man sich ganz berührt; dabei sollte man ein ganz sachtes Hallo oder Bonjour säuseln und keinesfalls die Arme einfach runterhängen lassen, und man sollte auch nicht an dem zu Begrüßenden herumtatschen, sondern die Hände etwa in Höhe der Brust seitlich vom Rumpf hochhalten – natürlich ohne die kleinen Finger gouvernantenmäßig abzuspreizen. -102-
Diese höheren Weihen des fortgeschrittenen sozialen Miteinanders verdanken wir nicht etwa einem Benimmkurs, obwohl derartige Veranstaltungen seit den 90er Jahren eine unerwartete Renaissance erlebten, als die Kinder der 68er erkennen mussten, dass ihre antiautoritäre KinderladenErziehung zwar ganz lustig war, aber im Hinblick auf Karriere und Kohle nicht zum Ziel führte. Jetzt lassen sie sich für teures Geld jene Umgangsformen beibringen, die ihre Eltern so nonchalant vernachlässigt haben. Und ihre Umgebung kann teils erstaunlich kurzfristige Wandlungen vom Punk zum Parvenü miterleben, wobei wir Beobachter aus der Besserwisserszene natürlich bemerken, dass der mühsam antrainierte Benimm jene Leichtigkeit vermissen lässt, die unsere auf natürlichem zwischenmenschlichem Wege erworbene Bis-Bis-Perfektion auszeichnet. emnid-Umfrage zu Stil und Etikette: 88 Prozent der Deutschen kritisieren fehlende Hilfsbereitschaft. 85 Prozent der Deutschen kritisieren »bei Tisch rülpsen oder schmatzen«. 41 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer in Deutschland stören schlechte Tischsitten sehr. Nachdem der nette, gut aussehende Kaffeetrinker die ganze Runde abgebist hat, werden die unterschiedlichsten Frühstückskombinationen bestellt, wobei es seit Harry und Sally Mode zu sein scheint, keinesfalls einfach etwas zu bestellen, was auf der Karte steht – die gekochten Eier müssen ins Glas und der Milchkaffee muss ins Glas, obwohl diese Unsitten doch erfahrungsgemäß zu kaltem Eiglibber beziehungsweise zu Brandblasen an den Fingern führen, den Bestellern aber offensichtlich ein erhebendes Gefühl des Savoirvivre vermitteln. -103-
Und dann wird noch eine Portion Honig extra im Glas gewünscht, aber es gibt nur Industriehonig in Plastikdöschen, bei deren Öffnen Frau sich gerne die Fingernägel abbricht. Schließlich wird die Tischrunde gegenüber um einige virtuelle Personen erweitert, die man nicht sehen kann, da sie gerade einkaufen oder schon bei dem ausgezeichneten Stehitaliener ein paar Häuser weiter einen Prosecco trinken und eben mal per Handy anrufen, um zu zeigen, dass sie noch existieren und dass auch sie sich schon in den vormittäglichen Samstagsvergnügungen tummeln, bereit für alles, was Spaß macht. Spaß wollen wir hier und jetzt, die Gegenwart ist für uns Maßstab aller Dinge. Im Abendland war es der Patristiker Aurelius Augustinus, der sich als Erster mit dem Verhältnis von Mensch, Zeit und Raum beschäftigte; er stellte bereits im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung fest, dass die Zeit von unserem Bewusstsein nicht zu trennen ist und dass nur die Gegenwart, das unmittelbare Jetzt, für uns Menschen wirklich sei, wohingegen Vergangenheit lediglich in der Erinnerung existiere, die Zukunft aber nur in unserer Erwartung, daher beide für uns Menschen nicht eigentlich wirklich seien. So fliehen wir Vergangenheit und Zukunft und versuchen, Personen und Geschehnisse in die Gegenwart gleichzuschalten, was uns jedoch offensichtlich nur bruchstückhaft gelingt: Ständig sind wir in Körper und Gedanken halb hier und halb dort, ein Phänomen, das Augustinus natürlich noch nicht voraussehen konnte, das jedoch viele Geisteswissenschaftler unserer Zeit beschäftigt. Durch unsere intensive Nutzung aller vorhandenen Medien – vom traditionellen Buch über Radio, Fernsehen und Kino zum Internet – leben wir in »einer vorherrschenden Kultur der abwesenden Gegenwart«, die zu einer gewissen Oberflächlichkeit unserer Beziehungen führen kann, schreibt zum Beispiel der amerikanische Psychologe und Philosoph Kenneth Gergen. Die »Hyperrealität der Medien« entfremde uns von unserer Präsenz in der wirklichen Welt. Doch ganz so neu -104-
ist dieses Phänomen dann doch nicht, denn schon Karl Marx studierte und promovierte in Jena, ohne jemals dort gewesen zu sein. Auch die Milchkaffeetrinker vom Nachbartisch tauchen telefonisch in unterschiedliche Kommunikationszirkel ein; da sie offenkundig keinen Wert auf Intimität ihrer Gespräche legen, hat ihre private und öffentliche Umgebung zwangsläufig Teil an ihrer Unterhaltung: Abwesende und Abwesendes werden in unsere Cafe-Gegenwart integriert, und alle Gäste können unmittelbar erfahren, in welcher Beziehung die Teilnehmer der Frühstücksrunde zu den jeweiligen Anrufern stehen und welche gemeinsamen Aktivitäten man für das Wochenende plant. Werbeträgeranalyse des Allensbacher Institut für Semoskopie: 13 Prozent der Westdeutschen haben starke Persönlichkeiten. 42 Prozent der Deutschen sind als »insgesamt stark« einzustufen. 45 Prozent der Deutschen werden als »mäßig stark« oder »schwach« eingestuft. Trotz der Geräuschbelästigung durch die allseits ausufernde Handytelefoniererei stellt diese doch eindeutig einen Fortschritt gegenüber den früher üblichen stundenlangen Telefonkonferenzen dar, die den gemeinsamen Aktivitäten mehrerer Leute meist vorausgingen; zuerst musste man mit Tina und dann mit Sibylle besprechen, ob und falls ja wo man abends Trivial Pursuit spielen wollte, Tina rief dann Jochen an, der leider nicht erreichbar war, sich erst Stunden später meldete, nachdem er seinen Anrufbeantworter abgehört hatte, dann aber bereits mit Klaus zum Squash verabredet war, weshalb man für den TrivialPursuit-Abend nach einem Ersatzspieler suchen musste und die ganze telefonische Verabrederei schließlich so langwierig wurde, dass man schon gar keine Lust mehr auf ein Treffen hatte. -105-
Dank Handy sind wir heute immer und überall erreichbar; es vertieft unsere Beziehungen zu jenen Menschen, die uns wirklich wichtig sind. »Das Handy ist ein Medium, das den kulturellen Veränderungen einer abwesenden Gegenwart entgegenwirkt, indem es den Sinn für Gemeinschaft, Identität und moralische Werte fördert und unsere Beziehung zu nahe stehenden Personen stärkt.« Kenneth Gergen Doch letztlich kann auch das schönste Telefonat – »ich bin in der Innenstadt, schaue mir gerade die Auslagen bei Walter Steiger an« – nicht den persönlichen Kontakt ersetzen, zumal wir bereits mehrfach versehentlich andere Passanten angerempelt haben; die meckern zwar, telefonieren aber selbst auch und tragen daher zumindest eine Teilschuld an dem Zusammenprall. Allerdings würden wir selbstverständlich nicht so weit gehen wie jener Autofahrer, der von der Polizei aus dem Verkehr gezogen wurde, weil er das Lenkrad mit den Füßen bediente, während er gleichzeitig mit zwei Handys telefonierte. Eine schöne Episode, die wir gerade der Süddeutschen Zeitung entnommen haben, es lohnt sich eben doch, auch ein paar Minuten täglich in die Lektüre der vermischten Seiten zu investieren, die allemal interessanter sind als der Politik- oder Wirtschaftsteil und außerdem Stoff liefern für den Smalltalk heute Abend oder irgendwann. Glücklicherweise können wir an einem Samstagvormittag unser Handy bald ausschalten, da man spätestens zwischen elf und zwölf Uhr wenigstens einen Bekannten getroffen hat, mit dem man ungestört plaudern möchte; vielleicht beim Einkaufswagendepot, wo wir hektisch gerade nach einer Pfandmünze kramen, die natürlich unauffindbar bleibt; oder -106-
beim Verstauen von Milch, Käse, Orangenmarmelade und Aufbackbrötchen im wahnsinnig praktischen Drahtkorb, der sehr wahrscheinlich passend zu den momentan angesagten französischen Lebensmitteln ebenfalls aus der Bresse oder aus Burgund importiert wurde, wo ihn ein alter Bauer, die Gitane Mais im Mundwinkel, mit seinen knorrigen, sonnenverbrannten Fingern und mit Hilfe einer alten, vergammelten Zange zusammengefriemelt hat. Auf diese Unterstützung handwerklicher Betätigung legen wir als moderne, politisch bestens informierte Zeitgenossen schon deshalb Wert, weil sie auf alle Fälle sinnvoller is t als die EUSubventionen für riesige landwirtschaftliche Maschinenparks zur Erzeugung von Labberfleisch und Genweizen. Ganz im Sinne des vorherrschenden Zeitgeistes sind wir zwar überzeugte Europäer, doch sollte diese ganze Europa-Veranstaltung gefälligst kostenneutral durchgezogen werden, beziehungsweise wenn schon subventioniert wird, dann doch bitte das Almbäuerlein samt der Bergwiese mit dem 30-Prozent-Gefälle. Die Landwirtschaftspolitik ist übrigens eines unserer Lieblingsthemen bei öffentlichen und privaten Events, da sich in unserem sozialen Umfeld keine konventionellen Bauern befinden und wir mit den Ökobauern, bei denen wir gerne unseren Salat kaufen, auch meist nur per Preisschild und Handzettel kommunizieren. So sind unsere pointierten Diskussio nsbeiträge nicht durch Einwürfe echter Experten gefährdet, und wir können wieder mal wissenstechnisch so richtig auf den Putz hauen. emnid-Umfrage: 82 Prozent der Deutschen fordern Bauern auf, Landwirtschaft auf den teureren Ökobetrieb umzustellen.
ihre
Doch der Hauptgrund für die Wahl des rustikalen Behältnisses ist natürlich, dass wir unsere Umgebung sehr schön -107-
auf unser Qualitätsbewusstsein beim Kauf von Lebensmitteln hinweisen können, wenn die Tomaten und Erdbeeren und Karotten so wunderbar malerisch darin drapiert sind, anstatt sie in einer profanen Plastiktüte zu verstecken. Dank derartiger ländlicher Hilfsmittel, die gerade in Großstädten gerne gekauft werden, können sich auch Mitteleuropäer mit ihrer dauernden Sehnsucht nach Süden und Sonne fast wie auf einem südfranzösischen Markt fühlen; man schnuppert gelegentlich an dem gerade erworbenen Lavendelbeutelchen und bröckelt kleine Stücke von der frischen Baguette-Stange ab, die wie eine Standarte aus dem Korb ragt und signalisiert: »J’aime la France«, und so schön duftet, dass man einfach nicht mehr bis zu Hause warten kann. Zudem beweist unser Drahtkorb dank seiner nahezu unbegrenzten Lebensdauer unser Bewusstsein für Nachhaltigkeit, wenn wir ihn nicht wie neulich wochenlang auf dem Balkon deponieren, weshalb er jetzt schon leichte Rostflecken aufweist, die sich jedoch mit etwas Schmirgelpapier sicherlich entfernen lassen. Oder man entscheidet im Sinne echter Authentizität, dem Korb etwas Patina zu gönnen, in der Hoffnung, dass er nicht demnächst in rostigen Einzelteilen auseinander bröselt. Unbelehrbarkeit Doch sicher ist sicher, also entschließe ich mich schweren Herzens – zumal ja noch der Kauf von Glühbirnen aussteht – zur Fahrt in den Baumarkt, um die Leuchtmittel und das Schmirgelpapier sowie einige weitere unentbehrliche praktische Hilfsmittel wie Nägel, Leisten, ein Gartenschäufelchen, eine Gießkanne für den Balkon und ein kleines Werkzeugsortiment zu erstehen. Außerdem brauche ich dringend weiße Farbe, da Katrin bei unserem letzten gemeinsamen Frühstück gegen meinen ausdrücklichen Wunsch und Ratschlag darauf verzichtet hat, in die original italienische Alu-Espressomaschine (eines -108-
dieser Primitivgeräte, das man auf die Herdplatte stellt) den verdammten Gummiring einzubauen. Als analytisch denkende Unternehmensberaterin hätte sie doch meinen Einwand ernst nehmen sollen, dass der Ring sicherlich für irgendetwas gut sei – erfahrungsgemäß tauchen auch bei einfachen Maschinen nicht plötzlich irgendwelche Einzelteile auf, die von übermütigen Herstellern als Quantité négligeable mitgeliefert wurden. Doch Katrin war leider mal wieder völlig unbelehrbar, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie Unternehmensberaterin ist. Hätten Sie’s gewusst? Unternehmensberater erteilen gerne selbst Ratschläge, können und wollen aber von ihren Mitmenschen äußerst ungern welche annehmen. Damit passen sie ganz wunderbar zur Besserwisserelite aus Ärzten, Juristen und Journalisten. Doch Unternehmensberater haben gegenüber uns anderen Besserwissern einen entscheidenden Vorteil: Sie können ungestraft die Prinzipien und Regeln ihres Berufsstandes sehr geschmeidig an die jeweils vorherrschenden Meinungen und Bedürfnisse anpassen; so haben wir mit Katrin und einigen anderen Vertretern des Metiers bereits die Hinwendung von kooperativen Führungsprinzipien zu autoritären – und wieder zurück erlebt; wir durften an ihren Argumenten teilhaben für, später gegen die Körperspracheseminare von Sammy Molcho. Dann erlebten wir den Schwenk von der These »Menschen wollen motiviert werden« zur überraschenden Einsicht »Menschen lassen sich nur durch sich selbst motivieren«, worauf man dann doch wieder zur Ausgangsbehauptung zurückfand, dass ein Mensch sehr wohl durch andere motiviert werden könne. Ganz pragmatisch sahen die Berater wohl ein, dass die Motivation, die wir uns selbst angedeihen lassen, kaum Geld -109-
bringt, während Motivation durch außen stehende Profis, häufig mit dem Nimbus von Gurus, sich ganz wunderbar versilbern lässt. Sehr beliebt ist dabei übrigens der Rückgriff auf asiatische Helden wie Sun Tsu (Die Kunst des Krieges) oder europäische Recken wie Clausewitz (Vom Kriege) oder Machiavelli (Der Fürst), wobei ganz praktisch abwechselnd Ehrenhaftigkeit und Skrupellosigkeit ins Spiel gebracht werden können. Sehr schön für uns Besserwisser ist, dass sich alle unsere wechselnden Meinungen mit Hilfe derart bewährter Kronzeugen – gerne aus der Vergangenheit – begründen lassen; auf echte Kenner der jeweiligen Materie trifft man selten, und wir müssen glücklicherweise kaum damit rechnen, dass uns auf diesem hohen Niveau der Besserwisserei jemand ernsthaft widerspricht. So sind wir auch nicht beleidigt, wenn unsere Mitmenschen sich durch Trivialitäten à la Wer wird Millionär? Hervortun, haben wir diese Stufe der Besserwisserei doch längst hinter uns gelassen. Perfektionistisch, arbeitswütig, depressiv Wir ahnten es bereits, Psychologen bestätigen es: Der Durchschnittsdeutsche ist arbeitswütig und perfektionistisch. Da er seinen eigenen Ansprüchen häufig nicht genügt und im Prinzip alles noch besser weiß, als er es gerade gemacht hat, entwickelt er Phobien (zum Beispiel Spinnenangst), Manien und merkwürdige Gewohnheiten, wie sich die Wimpern auszureißen, tausendmal am Tag die Hände zu waschen oder Volksmusiksendungen zu gucken. Oder er wird depressiv, was übrigens den meisten von uns im Laufe unseres Lebens blüht – glücklicherweise nicht als Dauerzustand. Und auch die tödliche Arbeitswut, in Japan Karoshi genannt und als Versicherungsfall für die Angehörigen anerkannt, kommt bei uns glücklicherweise nicht so häufig vor wie dort. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Männer und Frauen im gleichen Maße von diesen psychischen Auffälligkeiten im Zuge der Perfektionismussucht -110-
betroffen sind; ernsthafte Therapeuten halten – unter anderem aus diesem Grund – die momentan gern und viel gelesenen populärwissenschaftlichen Werke über angeblich unterschiedliche psychische Verarbeitungsprozesse bei Mann und Frau für Kappes. Während also Katrin mir von ihren jüngsten Erfolgen berichtete – Seminare für Manager, basierend auf den uralten Gedanken des Samuraikämpfers Miyamoto Musashi (Das Buch der fünf Ringe) –, entlud sich die Espressomaschine mit einem lauten Knall; das dicke Gebräu verteilte sich mit einem wahnsinnigen Druck explosionsartig in der gesamten Küche, spritzte in sämtliche offen stehenden Schränke hinein und bis hinaus in den Flur. Wir saßen bei dem Knall wie versteinert im Wohnzimmer – glücklicherweise hielten wir uns nicht in der Küche auf, sonst brauchte ich wahrscheinlich nicht nur einen neuen Wandanstrich, sondern auch eine Hauttransplantation. Jetzt sehen Wände und Decke aus wie mit brauner Airbrushmalerei verziert; meine Bemühungen, einen Profi- Anstreicher für die Beseitigung der Malaise zu engagieren, haben sich als fruchtlos erwiesen, da Firmen entweder bis Ende des Jahrhunderts ausgebucht sind oder scheinbar mit vergoldeten Pinseln arbeiten und höhere Stundensätze verlangen als Zahnärzte beim Gebissbauen. Das stinkt uns schon lange, dass die Klasse der Handwerker uns Akademiker mit ihrem überlegenen Praktiker-Herrschaftswissen zunehmend quält und uns bei der Reparatur von Wasserhähnen, Waschmaschinen und Autos so schamlos über den Tisch zieht. Derartige Niederlagen sind in unserem Besserwisserkosmos nicht vorgesehen, aber scheinbar unvermeidlich. Schon Aristoteles definierte in der Oikonomia die Wirtschaft schlicht über die Vorgabe, dass die Ausgaben keinesfalls höher als die Einnahmen sein dürften; ein angesichts der Komplexität unseres heutigen Daseins schwieriges Unterfangen, wenn uns bereits so banale Dinge wie -111-
die Instandhaltung unserer Wohnungen und technischer Gerätschaften ein Vermögen kosten. Vielleicht haben Platon und Aristoteles ja schon die ungute Herrschaft unserer zünftig abgeschotteten Handwerker vorausgesehen; jedenfalls haben sie für deren Ausschluss vom Athener Bürgerrecht plädiert, was auf unser vollstes Verständnis stößt. Doch alles Jammern hilft nicht, unsere Wände möchten wir gerne schön weiß haben, unsere Haushaltsgeräte sollten funktionieren, und unsere schönen Autos sollten fahren. Wir haben natürlich keinen Chauffeur, wie das früher gang und gäbe war, der sich den ganzen Tag liebevoll um unser Fahrzeug kümmern könnte, sondern müssen selbst zur Werkstatt fahren, wenn uns ein Geräusch verdächtig erscheint; beim Kfz-Meister unserer Wahl müssen wir uns dann dessen Ausführungen über technische Details anhören, die wir sowieso nicht verstehen; das irritiert uns vor allem deshalb besonders, weil wir es gewohnt sind, unsererseits durch überlegenes Wissen zu glänzen und dieses – gefragt oder nicht – an den Mann zu bringen. Zu Recht schwant uns nichts Gutes, wenn nun auf einmal die Rollen vertauscht sind und wir, ohne diese Tatsache im Geringsten verbergen zu können, überhaupt keine Ahnung haben. Irgendwie hören wir nur zwischen dem Gemurmel über kaputte Filter und fehlende Schrauben immer wieder Geld, Geld, Geld, gib mir Geld, noch mehr Geld. Und ganz legal bluten wir Geld für Wohnungen und Autos und alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens wie Tom Wolfes Börsenmakler Sherman McCoy in seinem Ro man Fegefeuer der Eitelkeiten – zwar keine Millionen, aber doch ewig genug. Warum regt sich eigentlich alle Welt über Scientologen auf, die laut ihrem toten Guru Hubbard auch Geld, mehr Geld, noch mehr Geld machen sollen? Grinsend stehen sie in der Fußgängerzone wie bestellt und nicht abgeholt, verkaufen billig gemachte Paperbacks und versuchen, arglosen Passanten ihren merkwürdigen Psychotest anzudrehen. Bezeichnend ist, dass der -112-
einzige unserer Mitschüler, der schon in den Siebzigern auf diesen Mumpitz reinfiel, von uns »Mausi« genannt wurde und nie den Mund aufbekam, aber wohl als menschliche Knetmasse von den Hubbard-Jüngern gekrallt wurde. Natürlich haben seine mickrigen Bekehrungsversuche bei uns rein gar nichts gefruchtet, denn Scientologen spielen sich zwar gerne als Besserwisser auf, sind aber mangels echten Besserwissertalentes ein für alle Mal aus dem Besserwisseruniversum ausgeschlossen, das lediglich Sozialkompetenzvirtuosen wie uns Vertretern der akademischen Mittelschicht offen steht: oszillierend zwischen einem Hang zu bour geoisem Luxus (den wir uns – noch – nicht leisten können) und dem gewissen Laisserfaire der Boheme, das wir uns aus Studentenzeiten herübergerettet haben, diskursgestählt, belesen und abgebrüht. So ärgern wir uns ständig, dass man offensichtlich mit einem erfolglosen Sciencefiction-Schreiber an der Spitze und durch sinnlose Tests und Seminare ein weltweites Wirtschaftsimperium aufbauen kann; dagegen rackert unsereiner und kommt trotzdem nie auf einen grünen Zweig, was definitiv nicht an den Vertretern von obskuren Sekten und Clubs liegt, sondern unter anderem an der Wegelagerei unserer handwerklichen Helfer. Die haben ihre Abzockerei in den vergangenen Jahrzehnten perfektioniert; wir zucken alarmiert zusammen, wenn sie, nur mit todtraurigem Gesicht und einem lächerlichen Schraubenzieher bewaffnet, neben dem Fernsehapparat stehen, den Kopf schütteln und was von begrenzter Lebensdauer der Dioden brabbeln und dann gleich einen wunderbaren Prospekt mit diesen supertollen neuen Flachgeräten rauszerren, die man sogar leasen kann, und der Vertrag ist auch schon fertig ausgefüllt, wir brauchen also nur noch zu unterschreiben, und dabei haben wir auf dem Scientologenwisch angekreuzt, wir ließen uns nicht spontan auf irgendwas ein – alles Lüge.
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Glück ist Verzicht, predigte der griechische Philosoph Epikur, doch er kannte nicht die Vielfalt unserer Warenwelt und die drängenden Bedürfnisse unseres Alltags. Also habe ich jetzt einen neuen Flatscreenfernseher und ein repariertes Auto. Da aber meine letzte Autoreparatur so viel Geld, Geld, Geld verschlungen hat, muss ich jetzt selbst streichen und hämmern, denn mehr als zwei Engagements von Handwerkern pro Monat kann ich mir nicht leisten, und lieber murkse ich an meiner Wand herum als an einem Automotor, denn ich hänge an meinem Leben. Das wäre ohne Fernseher und Auto sowieso nicht lebenswert, also waren diese Ausgaben einfach existenziell wichtig und absolut richtig. Selbstüberschätzung Tief in meinem Innern lehne ich zwar das Wildern in fremden Domänen ab; eine Vielzahl menschlicher Katastrophen ist sicherlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Schuster nicht bei ihrem Leisten bleiben. Und wenn ich ehrlich bin, zweifle ich auch schon im Vorfeld an den Ergebnissen meiner Bemühungen, da ich absolut keine Lust zum Renovieren oder Basteln habe. Doch irgendwie kommt man sich fast wie ein Depp vor, wenn alle Bekannten von irgendwelchen selbst erzeugten handwerklichen Erfolgen schwärmen und sich die eigene Handarbeit bisher auf Kuchenbacken und das Anrühren von Gesichtscremes beschränkt hat. Briten und vor allem Amerikaner haben fürs Heimwerken eine prägnante Formulierung kreiert: Die autoritäre Aufforderung: DIY – Do it yourself! Keine Chance für Profis auf der Insel und in den USA! Dort feierte DIY schon frühzeitig Erfolge, weil den ersten Siedlern gar nichts anderes übrig blieb, als die Axt und den Colt selbst zu schwingen; beide Traditionen haben sich bis heute erhalten: Bohre, schleife und schieße -114-
selbst! Da irgendwann erfahrungsgemäß jede Modewelle aus den USA zu uns rüberschwappt, machen sich auch hierzulande seit etwa dreißig Jahren Baumärkte breit. Selbst Martin, studierter Philosoph und Intellektuellster unseres Clubs, legt seit neuestem selbst in seiner Wohnung Hand an; da wäre es doch peinlich, zuzugeben, dass ich noch nie eine Wand gestrichen oder ein Bild aufgehängt habe. Auch Schöner Wohnen, das Leib-und-Magen-Magazin für das doppellinkshändige Schwulenpärchen, gibt neuerdings Bau- und Bastelempfehlungen für Leute, die sich für 4000 Euro ein Cassina-Sofa und für 5000 Euro ein Cappellini-Sideboard kaufen, aber dann die handgeschliffenen und gewienerten Luxus-Edelstahl- Vorhangstangen von Phos selbst in die Wand dübeln sollen. Wollen wir uns also selbst nicht ins soziale Abseits katapultieren, sind wir zur Besserwisserei und ständigen Ausweitung unserer Interessen und Fähigkeiten verdammt. Ausgenommen von der immer mehr um sich greifenden Besserwisserdoktrin sind nur wenige Koryphäen wie Herztransplanteure oder Astronauten; sie haben das Glück, dank ihres Metiers über einen derartigen Kompetenzvorsprung zu verfügen, dass sie sich in ihrer knappen Freizeit ungestraft amüsieren dürfen, ohne mit unserem handwerklichen Pflichtprogramm belastet zu sein. Doch jetzt wird es baumarkttechnisch für mich ernst. Schon von weitem erkenne ich Jochen, der einen riesigen Karren über den Parkplatz schiebt, fast einem Kind über den Fuß fährt und mit Bambusstangen, die von dem ausladenden Einkaufswagen in alle Richtungen abstehen, seinen Umstehenden beinahe die Augen aussticht. Ich winke und rufe, während Jochen verzweifelt versucht, mir etwas zuzurufen, was wie »renovieren« klingt. Dann sehe ich, wie er neben einem Lieferwagen mit aufgemaltem Firmenschild stehen bleibt, aus dem zwei Männer in blauen Drillichanzügen steigen, wie sie typischerweise von -115-
Handwerkern getragen werden. Offensichtlich hat der sparsame Jochen eine Malerfirma mit der Renovierung seiner Wohnung beauftragt. Ich kann beobachten, wie die drei immer wieder zum Eingang des Baumarktes gehen, dort weitere Pakete und Stangen und Bretter und Eimer einladen und auf riesigen Erledigungslisten die einzelnen Posten ihrer Beute ausstreichen, während ich noch nicht einmal einen Parkplatz ergattert habe. Und natürlich habe ich mal wieder keine Einkaufsliste dabei; ich habe niemanden, der mir beim Aussuchen, Tragen, Wegschaffen der sperrigen Teile hilft. Ich weiß nicht, welche Leisten sich zum Zusammenbau als Bilderrahmen eignen (warum habe ich das eigentlich vor?) und welche Stäbe als Kletterhilfen für meine Balkonpflanzen. Ich sitze in meinem Auto und warte, dass jemand wegfährt oder dass ein schöner Prinz kommt und mich auf seinem weißen Pferd entführt oder wenigstens ein Freund, der nur Müllsäcke kaufen will, zufällig vorbeikommt und sich meiner erbarmt. Es kommt aber keiner. Schließlich finde ich einen Parkplatz, hole mir einen Einkaufswagen, der schon unbeladen mindestens eine Tonne wiegt, und eiere in das weitläufige Gebäude. Do it yourself ist angesagt, Millionen Menschen werkeln am Feierabend und am Wochenende mit Pinsel und Hammer. B.A.T. Freizeitforschungsinstitut: Die Deutschen verbringen in ihrer Freizeit mehr Zeit mit Gartenarbeit als mit Sex. Riesige Einkaufswagen, beladen mit Waschbecken und Teppichrollen, Pflanzenkübeln und Torfballen, werden mühsam durch die engen Gänge geschoben; rechts und links türmen sich Teppichboden- und Tapetenrollen in zehn Meter hohen Regalen. Man trifft sich bei den Schlagbohrmaschinen, fachsimpelt etwas, geht weiter zu den Holzspezialisten, die Bretter und Leisten -116-
zusägen, holt auf dem Rückweg zur Kasse noch Kleinkram wie Nägel und Glühbirnen und steht dann stundenlang an der Kasse, während die Kassiererin tausend Einzelteile der Vorgänger in der Schlange auf das Band wuchtet und scannt. Deutsche geben im Jahr in den Heimwerker-, Bau- und Gartenfachmärkten über 15 Milliarden Euro aus. Die meisten Kunden hier sehen nicht so richtig glücklich aus, eher angespannt; es riecht nach Leim, Farbe und Holzspänen, nach Hektik und Schweiß. Mir fällt die Zeitungsnotiz über den Baumarktkunden ein, der Dämmplatten übermannshoch auf seinem Einkaufswagen türmte, zu schnell in die Kurve ging und unter den herabstürzenden Platten begraben wurde, einen komplizierten Beinbruch erlitt und dann, bar jeder Einsicht in sein unvernünftiges Verhalten, den Baumarkt verklagte. Ich weiß nicht, ob er tatsächlich Schmerzensgeld bekommen hat. Doch Fälle wie seiner häufen sich. Über fünf Millionen Unfälle passieren jährlich bei Aktivitäten im Haus, beim Sport und in der Freizeit. 250000 Unfälle beim Heimwerkern, 200000 Unfälle bei der Gartenarbeit. Überwiegend Stich- und Schnittverletzungen. 87 Prozent der Verletzten sind Männer. Angesichts der Blutspur durch deutsche Heime und Gärten ist es kein Wunder, dass laut Kundenmonitor, einer bundesweiten, jährlich erhobenen Branchenübersicht, Bau- und Heimwerkermärkte noch unbeliebter sind als Banken, Flughäfen und Krankenhäuser. Das ist wirklich ein Paradox, denn schließlich sind wir alle mehr oder weniger freiwillig hier, auch wenn ich -117-
mich, noch zehn Meter von der Kasse entfernt, bereits verfluche, weil ich die Glühbirnen nicht im Supermarkt gekauft und mich nicht richtig um einen Renovierungsprofi gekümmert habe. Als ich endlich bezahlt habe, fällt mir ein, dass ich die kleinen, sündhaft teuren Halogenbirnchen für meinen Kronleuchter vergessen habe, die es ansonsten im Umkreis von mehreren Kilometern nirgends gibt, seit das kleine Elektrofachgeschäft im Nachbarhaus dichtgemacht hat. Bald wird es nur noch Supermärkte und Baumärkte und Discounter geben, und dann, Freunde, werden wir nicht nur feststellen, dass man Geld nicht essen kann, sondern auch, dass man bei OBI nicht bummeln kann und dass das Einkaufen bei Aldi eigentlich gar keinen Spaß macht, weil es unsere Sinne so wenig anspricht wie ein Mückenschiss. Und dass wir unser ganzes schönes, dort beim Einkaufen gespartes Geld dafür ausgeben müssen, uns wenigstens gelegentlich die Illusion eines angenehmen Einkaufserlebnisses aufrecht zu erhalten, indem wir in eine Metropole fahren, uns in eine der wunderbaren Passagen setzen und für einen Kaffee, ein Croissant und einen Saft 17 Euro bezahlen. Dabei müssen wir dann jenen Leuten zuschauen, die es sich leisten können, richtig auf den Putz zu hauen und dort auch wirklich einzukaufen, während wir mit unserer jämmerlichen Rabattmarkenexistenz hadern. Ich schiebe den Einkaufswagen zum Auto, packe den ganzen Krempel in den Kofferraum und auf den Rücksitz und gehe zurück zur Leuchtenabteilung. Mein Rücken schmerzt. Mein Kopf brummt. Ich weine und fluche und stelle mich wieder ans Ende der Schlange. Als ich bezahle, ist es kurz vor drei Uhr. Als ich zum Auto zurückkomme, ist es zugeparkt. Ich haue mit der Faust auf die Hupe, ohne jede Hoffnung, dass tatsächlich jemand vorbeikommen könnte, um mich zu befreien. Dann sehe ich wieder Jochen. Er kauft nochmals Farbe. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck kommt er zu mir gelaufen und lässt es sich nicht nehmen, mir über seine erfolgreichen -118-
Bemühungen und die grandiose Unterstützung seiner ProfiHelfer am heutigen Tag zu berichten: Früh aufgestanden. Wohnzimmer ausgeräumt, abgeklebt und gestrichen; Regal gebaut; in der Männerrunde herzhaft gefrühstückt und Bier getrunken; Pläne geschmiedet für einen Motorradausflug; Esszimmer ausgeräumt, abgeklebt und gestrichen, dabei Witze erzählt, Playmate des Monats diskutiert, Bier getrunken, Spaß gehabt. Sodann Balkongeländer abgeschmirgelt und neu gestrichen, mit der Nachbarin vom Balkon nebenan geschäkert; ihr versprochen, die beiden Jungs im Blaumann mal vorbeizuschicken; von Balkon zu Balkon Sekt gereicht, die beiden Jungs allein weiterarbeiten gelassen; gute Laune gehabt, zum Baumarkt gefahren, mich getroffen. Kein Verständnis für schlechte Laune meinerseits geäußert. Abschließender Kommentar: »Ich kann gar nicht verstehen, warum manche Leute selber streichen. Ist doch viel lustiger, wenn das andere machen.« Und unter Umständen billiger: Nach Hause zurückgekehrt, beschließe ich, auf das Abkleben zu verzichten, um Zeit zu sparen. Es ist 16 Uhr. Wenn ich eine Stunde für Duschen, Haare waschen, Schminken einplane und gegen 20 Uhr bei Sylvia sein will, habe ich noch etwa zwei Stunden für die Renovierungsaktion. Bei zügiger Arbeit könnte das wenigstens für den Flur reichen. Ich reiße den Deckel des Farbeimers ab. Der Eimer fällt beinahe um, die Farbe schwappt über und spritzt auf das Parkett und den chinesischen Läufer. Und auf Imelda, den zyklamfarben lackierten Schuhschrank, der sich so wunderbar für das Verstauen von 50 Paar Schuhen eignet, doch jetzt aussieht, als hätte er Windpocken: feuchte, weißliche, blaurot grundierte Pusteln. Ich rufe Jochen an, der mit Freunden ran guckt, und entlocke ihm Namen und Telefonnummer seiner Anstreicherfirma. Dann schaffe ich alle Handwerksutensilien in den Keller. Beim Föhnen rekapituliere ich meinen Tag; was habe ich alles falsch gemacht? Spät aufgestanden, einkaufen gegangen; Anja -119-
getroffen, ins Cafe gegangen, über Gott und die Welt geredet. Beziehungsstress erörtert, Kuchen gegessen, gewartet, dass der Typ vom Nachbartisch uns anquatscht. Nichts passiert. Zum Baumarkt gefahren, genervt gewesen, tropfende Billigfarbe gekauft. Besserwisser Jochen getroffen, Bewunderung für sein Organisationstalent geäußert, um Hilfe zu schnorren. Nicht geklappt, da Jochen schnell zu der Schnecke vom Nachbarbalkon zurückwollte. Stundenlang durch den Baumarkt geirrt, Halogenbirnen vergessen. Genervt gewesen. Nach Hause gefahren, zu spät dran gewesen. Läufer ruiniert. Parkett verschmiert. Schuhschrank verspritzt. Schaden im vierstelligen Bereich; Wohnung sieht schlimmer aus als vor der unseligen Aktion. Warum, warum nur traue ich mir zu, nebenbei mal schnell die Arbeit zu tun, für die andere drei Jahre lang zur Berufsschule gehen und eine Gesellenprüfung machen? Höhepunkt der Besserwisserwoche: Samstagabend Der Abend kann den Tag noch retten. Samstagabende sind die besten Abende der Woche. Auch bei Paaren sind sie meist reserviert für soziale Aktivitäten, man braucht nicht alleine zu sein und muss sich nicht über den Typen neben einem auf dem Sofa ärgern, der gerade das vierte Bier köpft und die Chips auf den Boden bröselt. Am Samstagabend trifft man sich mit Freunden zur Feier des Tages nicht nur beim Italiener, sondern in einem besonderen, gerne auch etwas teureren Lokal. Besser noch: Man lädt nach Hause ein (sobald die Wohnung wieder in Ordnung ist), oder man wird eingeladen. Am besten sind die kleinen bis mittelgroßen Partys, die so übersichtlich sind, dass man keinen attraktiven Gast übersieht. Dann sollte die Mischung stimmen: Absolute Voraussetzung für das Gelingen (also für die optimale Selbstpräsentation aller Gäste) ist ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und -120-
Frauen (Ausnahme: reine Damen- oder Herrenabende), von alten Bekannten und neuen Gesichtern. Und ebenfalls immer ganz gut macht sich eine bunte Mischung aus unterschiedlichen Berufen, wobei unser Wunsch nach Vielfalt nicht so weit geht, unsere Sekretärin oder Friseuse oder unseren Maler oder den Getränkelieferanten einzuladen; wir haben zwar nichts gegen Vertreter dieser Berufsgruppen, aber so richtig mit ihnen zu kommunizieren fiele uns denn doch schwer. Umfrage des Allensbacher Institutes für Demoskopie: 38 Prozent der Bevölkerung zählen Freude am Feiern zu den besonderen Fähigkeiten, die den Deutschen gut liegen. 6 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass die Deutschen besonders gut malen können. Schließlich sind am Samstagabend Wohnzimmer, Küche und Flur unsere Bühne, und die verlangt ein Publikum von echten Connaisseurs, die uns intellektuell und rhetorisch das Wasser reichen können. Dass diese auch aus einer anderen als unserer eigenen Schicht stammen könnten, wird immer unwahrscheinlicher; schon in den 70er Jahren erkannten Medienforscher das Phänomen der »wachsenden Wissenskluft«: Menschen mit hohem sozioökonomischem Status profitieren weit mehr von dem zunehmenden Medienangebot als Lieschen Müller. Und am Samstagabend können wir prima beweisen, dass uns das Medienangebot nicht terrorisiert. Wir werden kenntnisreicher, geistreicher, wortreicher. Immerhin haben wir die ganze Woche gelesen, ferngesehen, telefoniert, im Internet recherchiert. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir vorführen können, wie sehr wir von dieser ganzen Anstrengung profitieren. Ganz locker, ganz lässig. Medienterror? Wer kommt denn auf so eine blöde Idee! Lieschen Müller oder Zizi hätten – leider, leider – wahrscheinlich bei unseren geistreichen Ge-121-
sprächen kaum eine Chance, sich zu profilieren, und so beschränken sich unsere Kontakte zu den armen Abiturlosen dieser Welt auf kurze Intermezzi beim Einkaufen oder Haareschneiden. Nachdem wir Sylvia gratuliert und unsere – überwiegend doch gekauften, nicht selbst gebastelten – Geschenke überreicht haben, stehen wir mit Sektglas und Fingerfood in kleinen Grüppchen zusammen und sind ungeheuer dankbar für die Aufmerksamkeit, die uns alte Freunde und neue Bekannte schenken. Interessiert lauschen wir den Berichten über ausgefallene sportliche Aktivitäten und berufliche Erfolge, über dramatische Urlaubserlebnisse und leidenschaftliche Liebschaften. Und dann genießen wir es ganz besonders, dass wir endlich mit allen während der vergangenen Tage erworbenen neuen Informationen und Erkenntnissen renommieren können. Partys sind die Höhepunkte der Besserwisserei; die Ärmsten, die nicht bereit sind, bei diesem Gesellschaftsspiel mitzumachen, sollte sich möglichst zügig betrinken, um eine Ausrede für das eigene Unvermögen zu haben. Wer hier gewinnen will, hat es schwer; konnte man sich vor Jahren noch mit so banalen Themen wie exotischen Urlaubszielen und außergewöhnlichen Leistungen des eigenen Nachwuchses profilieren, so wird dies heute eher als peinlich empfunden. Die uralte Technik des Smalltalks, für die früher etwas guter Wille und ein Minimum an Medienkonsum ausreichten, ist zum Hochleistungsparcours geworden. Wir können uns noch an Zeiten erinnern, als wir uns für Stunden mit dem alten Pennälerspiel Stadt, Land, Fluss vergnügten. Eine erste Steigerung erfuhren unsere Quizabende durch Trivial Pursuit. Heute muss unser Wissensniveau zumindest für Wer wird Millionär? ausreichen. Doch sollte sich das Renommierwissen nicht auf Geographie, Diäten und die Lebensläufe der nationalen Luderszene beschränken; wir wollen doch wirklich sophisticated sein und durch überraschende Bemerkungen glänzen. -122-
Umgang mit Besserwissern (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Der große Bluff Abzocker und Schnäppchenjäger: Sie sind am leichtesten zu verblüffen, indem wir einfach freimütig zugeben, nicht zu sparen und richtig Spaß zu haben am Verprassen von Kohle. Wir waren noch nie beim Schlussverkauf oder im Factory Outlet; alle Menschen, die sich diesen enervierenden Freizeitbeschäftigungen hingeben, sind für uns kleinliche, geizige Wichte. Wir erwähnen so nebenbei, dass unsere RobertoCavalli-Jeans mehr als 250 Euro gekostet hat, und schnorren dabei von dem Korinthenkacker eine Zigarette nach der anderen. Dann teilen wir ihm mit, dass der Scientific American berichtet hat, sparsame Menschen würden früher sterben, weil sie häufiger Herzinfarkte und Magengeschwüre bekommen. Am glaubwürdigsten – das gilt für alle Besserwisser-Bluffs – wird unser Vortrag, wenn ein eingeweihter Freund uns unterstützt. Er kann fragen, ob wir die bei unserem jüngsten Optionsgeschäft erzielten Gewinne schon spaßfördernd angelegt haben. Wir erzählen begeistert vom Helicopterskiing in Aspen. Da war der Geizhals mit Sicherheit noch nicht, also ist unsere Aufschneiderei nicht verifizierbar, doch umso neidfördernder. Er wird sich nie mehr trauen, von Rabatten beim Autokauf zu erzählen. Schmalspurphilosophen und Heilssucher: Unzählige Glaubensgemeinschaften buhlen um Sympathie und Geld. Vor allem Neu-Mitglieder sind meist völlig begeistert und wollen an ihren Erweckungserlebnissen andere teilhaben lassen. Wir erzählen, dass wir heftig mit dem Buddhismus sympathisieren, aber uns noch nicht für eine konkrete Richtung entscheiden konnten. Zur weiteren Erleuchtung werden wir demnächst mit Richard Gere in Tibet wandern. Leider dürfen nur Leute mit, die -123-
mindestens 100000 Dollar für ein Kloster spenden. Die Vorbereitungstreffen finden übrigens privat bei Richy statt. Wir waren schon mal da und erzählen begeistert von der beruhigenden Wirkung des Donghia-Sofas in seiner Villa, auf dem wir abends sitzen und grünen Tee trinken durften. Bartmänner und Birkenstockträger: Auch viele Grün-Alternative sind – zumindest outfittechnisch – ins bürgerliche Lager übergewechselt. Sie haben eingesehen, dass Selbstgestricktes keine Voraussetzung für Wertkonservativismus ist. Doch immer noch laufen genügend Altachtundsechziger, Jutta-DitfurthEpigonen und Pelzsprüher rum. Sie halten unsere Welt prinzipiell für schlecht, alle Konzerne für menschenverachtend und Werbung für das größte Übel der Menschheit. Da sie meist einen unversiegbaren Vorrat an einschlägigen Argumenten und Zahlen haben, hilft nur die Schocktherapie: Wir erzählen, dass wir einen unserer besten Freunde gerne auf die Jagd begleiten, dass wir die Erziehungsdiktatur in Singapur für eine erfolgreiche und effiziente Gesellschaftsform halten und dass wir die Einführung der öffentlichen Prügelstrafe bei Ladendiebstählen zumindest diskussionswürdig finden. Primzahlerklärer und Galileo-Gucker: Sie sind der Konversations-GAU für all jene Menschen, die keinen Leistungskurs Chemie oder Physik hatten und sich heute noch fragen, warum Flugzeuge eigentlich fliegen. Hier hilft die pseudowissenschaftliche Aufbereitung eines Themas, das wir spannend finden und wo wir uns leicht ein paar verblüffende Informationen anlesen können. Dankbar ist das Thema Essen. Wussten Sie eigentlich, dass das Zusammenwirken von Vitamintabletten und makrobiotischer Algensuppe die Anfälligkeit für Alzheimer erhöht? Haben wir irgendwo gelesen. Wo? Leider vergessen. So kann man sich glücklich schätzen, wenn man zwar von Kunstgeschichte im Prinzip keine Ahnung hat, aber zufällig aus -124-
dem Feuilleton der FAZ vom alten Wettstreit um die Überlegenheit von Bildhauerei und Malerei erfahren hat, der am hitzigsten, so erfahren wir, in Florenz ausgetragen worden sei; diese Information können wir bei der erstbesten Gelegenheit anbringen und uns dank der kürzlich angelesenen Argumente ganz wunderbar nach Belieben der einen oder anderen Meinung anschließen; eine rhetorische Steilvorlage für unsere Besserwisserclique, während weniger beschlagene Gäste unseren Ausführungen mit Staunen folgen und wir uns genüsslich – nach Stützung unserer Behauptungen durch Beschreibung der skulpturalen Canapés – Letztere triumphierend in den Mund schieben.
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Sonntag: Glaube, Liebe, Hoffnung
Die wahre moralische Vornehmheit besteht in der Kunst, seine Siege als Niederlagen zu kostümieren. Emile M. Cioran Ein Verzicht auf das Wirken ist unter gewissen Umständen ebenso verdienstlich wie das Wirken selbst. Michel de Montaigne Sonntag. Endlich ausschlafen. An nichts denken. Träumen. Einfach nur ausruhen. Und dann: aus der Traum. Mich weckt leider kein netter Liebhaber (was mache ich falsch? Habe ich nicht die richtigen Ratgeber gelesen, um den Mann fürs Leben zu finden? Sollte ich endlich auch mal im Internet chatten oder doch lieber eine Anzeige schalten? Und falls ja – in welchem Medium?), sondern die Dame ein Stockwerk über mir; sie hat mich gestern Nacht mit ihrem Stilettos- in-den-Boden-Rammen schon am Einschlafen gehindert und ist heute früh a) schon wieder vor mir wach und b) schon wieder auf Highheels unterwegs. Besserwisser unbeliebt Umfragen des Institutes für Demoskopie in Allensbach haben ergeben, dass typische Besserwisserberufe immer unbeliebter werden. So gehören Arzt, Pfarrer und Rechtsanwalt – die klassischen Honoratioren früherer Zeiten – im Augenblick zwar immer noch zu den angesehensten Personen hierzulande, aber alle mit sinkender Tendenz. Rechtsanwälte haben mit dem -126-
stärksten Imageverlust zu kämpfen. Sehr schöne Begründungen hierfür liefert Professor Johann Braun mit seiner »Theorie der juristischen Unbeliebtheitsspirale«: Die Begegnung mit einem Juristen löse bei vielen Menschen »eine gewisse Verstimmung« aus, da man in rechtlichen Dingen niemanden belehren könne, »ohne ihn gleichzeitig auf subtile Weise zu verletzen«. Und die Tätigkeit des Juristen bestehe nun mal darin, rechtlich Unwissende ständig zu belehren. Daher wirke die bloße Existenz eines Juristen auf viele Menschen wie ein rotes Tuch. Auch hätten Juristen eine nur ihnen allein geläufige Fachsprache entwickelt, von der alle anderen Zeitgenossen ausgeschlossen seien, was diese zu bloßen Objekten des Rechts degradiere. Kein Wunder also, dass wir so unbeliebt sind, und schon Friedrich Wilhelm I. von Preußen konnte Rechtsanwälte nicht leiden, weshalb er ihnen eine bis heute gültige Kleiderordnung aufs Auge drückte: Sie sollten »schwarz gehen mit ein Mäntelchen bis an die Knie«, damit man »die Spitzbuben schon von weitem erkennen und sich vor ihnen hüten könne«. Während ich auf die Stuckrosette an der Decke starre, frage ich mich, nach wie vielen tausend Schritten der Zack-ZackStechschritt-Grenadier-Zicke mein teuer sanierter Stuck wohl zu bröseln anfängt. Schon kurz nach ihrem Einzug hat sie in der Wohnung ihres Lebensgefährten (oder vielmehr: in der Wohlstands-Steuerspar-Abschreibungs-Drittwohnung von dessen Eltern) das Regiment übernommen; jetzt geht es bei den beiden immer häufiger zu wie in dem netten Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf, in dem Elizabeth Taylor und Richard Burton aufeinander rumhacken – die Ehe als Hölle auf Erden – wobei Taylor/Burton auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnten, was bei Künstlern und Kreativen nie schadet. Doch nicht alles, was uns als Film gefällt, wollen wir unbedingt live erleben; deshalb schlurfe ich auf meinen weinroten Samtschlappen, die ich in einem piekfeinen, sündhaft teuren Laden in Kämpen auf -127-
Sylt gekauft habe und mit denen ich weniger Lärm mache als ein Mäuschen, in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Leider hört man in der Küche auch das Gekeife von oben; ich schalte den Deutschlandfunk ein und höre mir einen katholischen Gottesdienst an, damit ich zur Abwechslung ein neues Thema habe, über das ich mich ärgern kann. Warum müssen Priester im Gottesdienst singen, auch wenn einige von ihnen gar nicht singen können? Bei denen klingt dann die Messe so furchtbar, als wollten sie die Gläubigen mutwillig aus der Kirche vertreiben. Mir sind die Buddhisten am sympathischsten; die sind immer schön glatt rasiert, meditieren ruhig vor sich hin, klingeln dabei nur mit kleinen Glöckchen und rattern gelegentlich mit ihren Gebetsmühlen, um dann ganz friedlich eine Tasse Tee mit Butter zu trinken und Räucherstäbchen zu schwenken. Leider kann ich mich selbst nicht so gut meditativ versenken, obwohl das sicherlich gut wäre für mein seelisches Gleichgewicht. Daher war ja mein einziger Versuch in Richtung fernöstliche Beruhigung von vornherein zum Scheitern verurteilt; mit Sabine hatte ich ausgerechnet einen Kurs in integrativer Meditation bei der Volkshochschule gebucht. Die Atmosphäre in der verschwiemelten alten Schulaula war einfach völlig unmeditativ, und die Vor-Meditiererin hatte eine piepsige Stimme und war eine unangenehme, schleimige Wollsockentante, also das weibliche Pendant zu Anjas Bartmännern, brrr. Sabine und ich waren natürlich die einzigen Meditierer, die Designerklamotten anhatten; aber wir hatten keine Meditationsmatten dabei; so mussten wir auf dem krachharten, kalten Boden liegen, der nach vergammelten Turnschuhen roch. Zu Beginn wurden wir alle aufgefordert, unsere sämtlichen Vornamen zu nennen und diese zu kommentieren, aber Sabine und mir fiel in unserer bodenlosen Phantasielosigkeit nichts ein zu unseren Namen, weshalb ich nur sagte: Ich heiße Andrea und -128-
finde den Namen gut. Sabine fand sich und ihren Namen auch ganz gut, aber derart wenig betroffene Selbstbeurteilungen kommen in diesen Meditationskreisen gar nicht gut an, weshalb uns plötzlich alle anderen Meditierer giftig anstarrten, die vorher über ihre diversen Namen geschwallt hatten, mit denen sie sich angeblich nicht identifizieren konnten. Wir rutschten mit angespannten Bauch- und Gesäßmuskeln auf dem harten Boden rum und versuchten, uns echt betroffen zu fühlen und vor allem so auszuschauen, um die Stimmung etwas zu entschärfen. Doch die war endgültig im Eimer, als mein Nachbar sagte. »Ich heiße Knut und bin auf der Suche nach mir selbst«, worauf Sabine und ich uns nur ungläubig anschauten, mangels ausreichend Halt gebender Bauchmuskulatur nach hinten kippten und vor Lachen nicht wieder hochkamen. Unsere Meditationsgruppe war empört und die ganze schöne besinnliche Stimmung dahin, und die Chef-Meditiererin klingelte empört mit ihrem Glöcklein, und dann legte uns die Gruppe nahe, zukünftig woanders zu meditieren, typisch Freizeitbuddhisten. Wir gaben erleichtert klein bei und verlegten den Ort von Besinnung und Kontemplation einfach ins Ban Thai, lehnten uns bequem in den Polstern zurück, bestellten einen tropischen Cocktail und ausgezeichnetes Thai Food, streichelten unsere leider nahezu muskellosen Bäuche und waren plötzlich ganz prima entspannt. Du kannst mich einfach nicht versteh’n! In den vergangenen Jahren haben populärwissenschaftlich unterfütterte Bücher und Artikel in Zeitschriften (vor allem Frauenmagazinen) zum Thema Liebe, Partnerschaft und Sexualität einen Boom sondergleichen erlebt. Charakteristisch ist für sie, dass nahezu jeder denkbare Standpunkt vertreten und in wohlfeile Tipps transformiert wird: Frauen sollen sich wahlweise offensiv an Männer ranschmeißen oder vornehm zurückhalten, Männer sollen sich abwechselnd als Frauen-129-
versteher oder Macho aufführen. Argumente werden bemüht aus Psychologie und Astrologie, Soziologie und Psychotherapie. Rät ein Autor seinen Lesern: »Lauf nicht vor der Liebe weg«, so steht schon ein Konkurrent bereit, der zu viel Nähe als sicheren Tod der Libido geißelt (»Acht Lügen, die Liebe betreffend«). Aus diesen Werken lernen wir vor allem eines: wie man mittels trivialer Alltagsweisheiten, Vorurteilen und pseudowissenschaftlicher Erkenntnisse Geld verdienen kann. Die einzige Rechtfertigung für das Lesen von Liebesratgebern ist ihr gelegentlich vorhandener Unterhaltungswert. Mein Favorit: Ehe, Liebe, Geschlecht, das mein für damalige Verhältnisse leidlich progressiver Vater in den 50er Jahren erwarb. Schön ist die Erinnerung an einen weinseligeð Abend in unserer Studentinnen-Wohngemeinschaft, als ich aus dem Werk vorlas; bei der Stelle, als der Autor einem frisch vermählten Paar empfiehlt, bei der Entjungferung anästhesierende Salbe zu verwenden, lagen wir vor Lachen fast unter dem Tisch. Ähnliche Unterhaltungshighlights bieten aber auch Ratgeber jüngeren Datums wie Die perfekte Liebhaberin; so sind die Anleitungen für die sexuelle Befriedigung eines Mannes (der absolute Schlager: die Ode des Brian – die Autorin hat nach eigenen Angaben bei einem schwulen Freund recherchiert) mittels Handarbeit, unterstützt durch ordentlich viel Gleitmittel (unbedingt auf Wasserbasis!), ein echter Höhepunkt der Paarliteratur. Sowohl der lautstarke Streit über mir als auch die Messe im Radio sind ein Anlass, um mal wieder über den Menschen als solchen nachzudenken. Unser menschliches Dasein dreht sich schwerpunktmäßig um zwei Bereiche: Geld und Sex. Wer offen behauptet, beide Triebfedern interessierten ihn nicht, lügt, ist ein Mönch (eine Nonne), lügt trotzdem, verdrängt, hat kurzfristig andere Prioritäten (zum Beispiel, den eigenen Körper zu stählen, um wiederum bessere Chancen beim anderen Geschlecht und -130-
besseren Sex zu haben), ist krank, verrückt oder bestenfalls gnadenlos langweilig. Kein Wunder also, dass sich Tausende von Therapeuten, Wissenschaftlern, Experten um unser Verhältnis zu Sex und Geld kümmern. Beispielsweise fallen wir immer wieder auf Werke herein, die den Liebeszauber beschwören, Regeln aufstellen für das Gewinnen und Halten eines Partners, uns Erstaunliches berichten über das Zuhören und das Einparken und die grundsätzlich verschiedenen Talente von Männern und Frauen. Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die meisten Bücher zu den Themen »Wie komme ich an Kohle« und »Wie komme ich zu Sex« an Männer richten, während sich nahezu alle Ratgeber zu Themen wie »Warum verstehe ich ihn nicht«, »Wie gehe ich mit seiner buckligen Verwandtschaft um« oder »Besser labern, Streit vermeiden« an die weibliche Bevölkerungsmehrheit wenden. Wie meine Freundinnen habe ich mindestens ein Dutzend Bücher zum Thema Männer/Frauen im Regal, und wir tauschen uns permanent über alle Thesen und Theorien aus, ohne auch nur einen Millimeter weiterzukommen, was sicherlich nicht an uns liegt, sondern natürlich an den Typen, auf die wir immer wieder treffen. Allerdings geht es uns noch besser als vielen unserer Geschlechtsgenossinnen; denen nützt ihr mühsam erworbener Wissensvorsprung in der Beziehungsarbeit gar nichts mehr: Mehr als 50 Prozent der weiblichen Mord- und Totschlagsopfer werden von männlichen Verwandten ins Jenseits befördert, fast 30 Prozent von männlichen Partnern und Bekannten. Offen bleibt bei der Untersuchung des Bundeskriminalamtes, ob Frauen überwiegend wegen oder trotz ihrer rhetorischen und sozialkommunikativen Überlegenheit getötet werden – penetrante Besserwisserei als Mordmotiv? Ein schwacher Trost ist es da, dass im Durchschnitt trotzdem die Frauen weltweit länger leben als Männer. Dies sei darauf zurückzuführen, so sagen uns sozialmedizinische Studien, dass sich bei Männern aggressive -131-
Anteile ihres »emotionalen Ensembles« zu stark entwickeln und verhärten. Diese »Chronifizierung aggressiver Strebungen zur dauerhaften, systematischen Feindseligkeit« (und nicht irgendwelche Hormone oder die häufig verantwortlich gemachte Arbeitsüberlastung) führe, so die Forscher, zu einem erhöhten Risiko, eine koronare Herzerkrankung zu bekommen und an dieser auch zu sterben. Leider sind die Ergebnisse einer Ernährungsstudie der Uni Oxford noch nicht bis zu allen unseren männlichen Artgenossen durchgedrungen; die Wissenschaftler haben ermittelt, dass Obst und Gemüse nicht nur den Cholesterinspiegel senken, sondern auch beruhigend auf Gewalttäter wirken; eine Nachricht, welche die Zusammenstellung des durchschnittlichen männlichen Speisezettels (Essen wir heute Steak oder Schnitzel? Oder doch lieber Würstchen?) in ein neues Licht rückt. Selbst wenn es zwischen Männern und Frauen nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen kommt, muss man vor allem eines konstatieren: Auch im Beziehungsgestrüpp (wie in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel beim Umgang mit Geld) kann die riesige Beraterphalanx samt ihrer Seminaren, Therapiestunden, Büchern und Zeitschriften kaum großartige Erfolge vorweisen; Tatsache ist, dass immer mehr Beziehungen scheitern und immer mehr Menschen und Unternehmen Bankrott gehen. Dies lässt zwei Schlüsse zu. Erstens: Der Mensch an sich ist weitestgehend beratungsresistent; wir kaufen uns zwar jede Menge Bücher und Zeitschriften, besuchen interessante Seminare und reden mit Freunden über unsere Probleme – leider ohne große Erfolge. Obwohl wir es besser wissen (müssten), wiederholen wir immer wieder die gleichen Fehler. Zweitens: Anstatt uns mit unseren Fehlern abzufinden, hadern wir ständig mit unserem Unvermögen, unsere finanziellen und zwischenmenschlichen Angelegenheiten optimal zu regeln, und verschwenden viel Zeit und Energie mit Aktionen, -132-
die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, was zu immer wiederkehrenden Frustrationen führt. Warum halten die meisten Menschen am Ideal der ewig glücklichen Zweierbeziehung fest, die möglichst nahtlos irgendwann in die Ehe mit Kindern münden sollte? Und dann mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu 50 Prozent beim Scheidungsrichter endet? Und warum verharren Millionen Leute in einer eheähnlichen, aber nachweislich ausgelutschten und desaströsen Verbindung, obwohl eine Trennung ohne die Notwendigkeit von Unterhaltsvereinbarung und Versorgungsausgleich problemlos möglich wäre? Warum lässt sich Herr Steuersparer junior ein Stockwerk über mir von seiner Lebensabschnittsgefährtin mit Schimpfworten abbürsten, die jederzeit strafrechtlich sanktionierbar wären? Stattdessen suggerieren uns jede Menge vermeintlicher Experten, dass die endlose Liebe möglich, das harmonische Zusammenleben machbar ist. Dafür sollen wir gefälligst alle finanziellen und psychischen Kräfte mobilisieren: Beziehung als Arbeit und Mühe. Interessant ist hierbei, dass sich beim Thema Partnerschaft, Ehe, Sex nahezu jeder Mensch als Experte fühlt – auch wer, wie die katholischen Priester, keinerlei praktische Erfahrung hat oder haben sollte. Der Radio-Priester hat aufgehört zu singen. Jetzt redet er ganz vernünftig daher; ich beiße in meine delikate Mandel-Madeleine (die mich im Gege nsatz zu Proust an gar nichts erinnert außer an meine letzte delikate Mandel-Madeleine) und bin leidlich besänftigt. Sicherlich wären die Zehn Gebote – wenn Menschen sie ernsthaft beherzigen würden – ein ganz prima Ratgeber und besser als ein Großteil der jüngeren Ratgeberliteratur. Doch leider wird dieser Klassiker immer mehr durch weitere Ratschläge und Belehrungen verwässert. Inzwischen ist es zehn Uhr geworden. Ich höre aus weiter Entfernung Kirchenglocken heftig läuten (Kirchenglockengeläut, auch mit hoher Dezibelstärke, ist als Ausdruck der freien -133-
Religionsausübung grundgesetzlich geschützt und muss daher auch von Nichtgläubigen hingenommen werden). Kommentaren zum Bürgerlichen Gesetzbuch entnehme ich außerdem, dass sogar heftige Streitigkeiten als »normale Wohngeräusche« zählen und – leider – von den Nachbarn ebenfalls toleriert werden müssen. Andererseits, so habe ich gelesen, ist Lärm ein schlimmer Krankmacher, und schon die Dauerberieselung mit Musik führt nachweislich zu psychischen und physischen Schäden. Mich bedrückt besonders die Gefahr, dass ich das Telefon nicht klingeln hören könnte und womöglich diverse Anrufe zur heutigen Freizeitgestaltung verpasse; das wäre fatal, denn schließlich ist der Sonntag – nach dem Samstag – der zweitwichtigste Tag für unsere sozialen Kontakte und muss unbedingt für Sport und Kultur genutzt werden, damit wir uns selbst und der Welt mal wieder beweisen können, dass wir in jeder Hinsicht on top sind. Wir wollen unbedingt zur Ausstellung dieses absolut erfolgreichen Berliner Malers, dessen Bilder Wolfgang Joop neulich allesamt aufgekauft hat. Ich könnte mich schwarz ärgern, dass ich bei der letzten Vernissage keines der Gemälde (nicht genügend Geld) und noch nicht mal einen Druck (auch noch nicht genügend Geld) gekauft habe, also die zu erwartende Steigerung von Prominenz und Verkaufspreisen von Herrn Kehl leider ohne mich stattfinden wird; dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass ich wirklich nicht geschäftstüchtig bin und kein Gespür für Gelegenheiten habe und kohletechnisch alles falsch mache, obwohl ich doch vor dem Einschlafen statt eines Krimis oder eines Paar-Beraters jetzt immer Bodo Schäfer lese. Dann dämmere ich allerdings tatsächlich sofort weg – zum wiederholten Mal ein echter Beweis meines mangelhaften Engagements bei Geschäften und Geldanlage. Wegen des fortdauernden Krachs über mir beende ich mein sonntägliches Im- Bett-Leseritual mit Tee und Keksen (einige -134-
Reste der Zeit vom Donnerstag lese ich aus sentimentaler Gewohnheit, InStyle zur Unterhaltung mit dem beruhigenden Fazit: auch Stars sind oft schlecht angezogen, und schließlich die aktuelle Vogue als Masochismus-Programm – wer kann sich den neuen Yamamoto-Mantel leisten? Ich leider nicht) und verziehe mich schließlich ins Wohnzimmer, um den Presseclub anzuschauen. Wie so häufig fesselt mich der Presseclub – und das gilt leider für alle politischen Talkshows – nur mäßig. Das Fernsehen sei strukturell korrupt, behauptet der französische Soziologe Pierre Bourdieu, denn die Fernsehleute missbrauchten das elektronische Medium für ihre eigene narzisstische Selbstdarstellung. Die heute agierenden Journalisten lassen keine außergewöhnlichen Eitelkeiten erkennen, bewegen sich jedoch argumentativ im Kreis und sind äußerst zahm und moderat. Aber sie dürfen wenigstens ihre Gedanken zu Ende formulieren und dienen nicht als Werkzeuge für die Inszenierung der Illusion eines Gespräches, für gemeinsames öffentliches Phantasieren von einer gerechteren Politik und Welt. Ich trauere dem Internationalen Frühschoppen mit Werne r Höfer nach, wo die Diskutanten noch jede Menge Wein in sich reinschütteten und dann ihre deutsche Aussprache immer lausiger und ihre Beiträge immer heftiger wurden, bis alle durcheinander schrien und die Russen sich den Schlips wegrissen und die Amerikaner aussahen, als würden sie gleich den Colt zücken, und Werner Höfer gar keinen ernsthaften Versuch unternahm, die versoffene Runde zu disziplinieren. Diese erste Polit-Talkshow des deutschen Fernsehens war zwar auch nicht erhellender als der Presseclub heutzutage, aber viel lustiger. Und ich beschließe, nie mehr eine Talkshow anzusehen, es sei denn, interessante Menschen wie Karl Lagerfeld würden interviewt, dessen Dönekes allemal unterhaltsamer sind als die ewigen neoliberalen Statements eines Herrn Henk el oder die Rentenphantasien eines Herrn Blüm. -135-
Doch es hat absolut keinen Sinn, der Vergangenheit hinterher zutrauern, gleichgültig, ob sie zwanzig Jahre oder gerade mal zwölf Stunden zurückliegt. Vielmehr müsste ich mich mehr mit meiner Zukunft beschäftigen. Nach der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow habe ich meine Grundbedürfnisse – wie Essen, ein Dach über dem Kopf und ein Minimum an Sicherheit abgedeckt. Jetzt kann ich mich anspruchsvoll weiter nach oben arbeiten und mich tendenziell der Perfektion meines sozialen Umgangs, dem Erlangen von mehr Prestige und vor allem meiner Selbstverwirklichung widmen. Dazu hätte eigentlich Sylvias Geburtstagsfest dienen können; das wäre dann ein schöner Ab schluss meines nicht so erfolgreich verlaufenen Samstags geworden. Aber irgendwie war ich zu erschöpft, um mich richtig in Szene zu setzen, zumal das geplante Geschenk, der selbst gebastelte Bilderrahmen, nicht fertig wurde. Und dann macht es nach Jahren ernstlicher Bemühungen um die Anerkennung von Freunden und Fremden auch nicht mehr so viel Spaß wie zu Studentenzeiten, als wir noch locker und unbeschwert waren und die Klamotten ziemlich wurscht waren und wir auf dem Höhepunkt unserer intellektuellen Fähigkeiten waren, die jetzt zunehmend von Arbeit und Alltag verschüttet werden. Irgendwann weiß man auch nicht mehr sicher, welche Begebenheiten aus dem eigenen Leben man wem schon erzählt hat, da die Partygesellschaften selten identisch sind und immer wieder ein paar neue Gesichter auftauchen. Einerseits wollte ich meine witzigsten Anekdoten unbedingt gerne dem wahnsinnig gut aussehenden Typen erzählen, der Sylvia formvollendet eine Rose überreichte; aber dann hatte ich Angst, dass die Umstehenden die Schoten bereits kennen könnten und innerlich mit den Augen rollen wü rden und nur dank ihrer leidlich guten Erziehung keine abfälligen Bemerkungen über meine mangelnde Originalität machen würden.
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Also blieb ich stehen und starrte nur zu dem Grüppchen rüber und traute mich mal wieder nicht, dazuzustoßen und irgendeine Belanglosigkeit von mir zu geben, um ins Gespräch zu kommen. Leider bin ich auch bei weitem nicht so schlagfertig wie die Mädels aus Sex and the City, die reihenweise reiche Männer aus Manhattan abschleppen und zwar nicht den ewigen Mister Right finden, aber wenigstens Mister Right for one Night, was auch schon nicht schlecht ist. Hierzulande wurde Smalltalk früher Konversation genannt und Jugendlichen von ihrem sozialen Umfeld und steifen Tanzstundenlehrern beigebracht, ebenso wie Standardtänze, Schuhe putzen oder alte Omas über die Straße führen. Heute hat die Überlieferung alter Sitten und Sozialtechniken leider nur noch wenige Anhänger, was dazu führt, dass wir und vor allem die Generationen nach uns eher artistische Kunststückchen auf dem Skateboard beherrschen als das Reinigen des Kühlschranks – ein echtes Problem, denn eine Untersuchung in Holland hat ergeben, dass der Kühlschrank des durchschnittlichen Single-Haushaltes nur wenige, völlig vergammelte Lebensmittel enthält und meist eher an eine Schimmelzuchtanlage erinnert als an einen Aufbewahrungsort unserer teuer im Bio supermarkt erworbenen Möhren und Joghurts. Leider sind die Tipps der amerikanischen Haushaltsikone Martha Stewart offensichtlich noch nicht bis zur europäischen Mittelstands-Single-Klasse vorgedrungen; dabei hat sie so unnachahmlich humorvolle Anregungen wie das Fabrizieren von Halloween-Drinks (»Eyeball«), die aussehen, als würden blutige Augäpfel darin schwimmen. Ich beschließe, a) meinen Kühlschrank gleich morgen zu putzen und b) einen Blick in die Kühlschränke meiner Freunde zu werfen, um festzustellen, ob ich bei ihnen wirklich gefahrlos etwas essen kann. Da ich bezweifelte, dass Sylvias Schönling meine gesammelten Erkenntnisse zu Schimmelpilzsporen schätzen würde, hielt ich den Mund. Mir fielen jene Damen wieder ein, die ich für -137-
einen Artikel zu Benimmkursen interviewt hatte. Sie verdienen viel Geld damit, Leuten beizubringen, wie man sich in Gesellschaft bewegt, aber leider nehmen sie es teilweise selbst nicht so genau mit ihren Ansprüchen und rauchen und husten am Telefon, ohne sich zu entschuldigen, oder hüpfen nackt in Schokoladencreme (um Werbung für gesellschaftskonformes Betragen zu machen?); wir können nur hoffen, dass dieser Gag nicht allzu viele Menschen mit durchschnittlicher ästhetischer Ausstattung zum Nachmachen motiviert; es reicht, wenn wir die ganzen Dickbäuche und Krampfadern am Strand und im Freibad sehen müssen. Und dann muss ich grinsen, weil mir einfällt, was die Kulturwis senschaftlerin Elisabeth Timm geschrieben hat: dass Benimmkurse keineswegs zu besserem Benimm führen, sondern dazu, dass die Teilnehmer hochnäsig und besserwisserisch werden und auf ihre Umgebung herabsehen, was ja auch kein feiner Zug ist. Aber typisch, denn die Mehrzahl der Teilnehmer dieser Verans taltungen, so Timm, stamme wie die Dozentinnen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, und diesen Verhältnissen, so hoffen die Ärmsten, könnten sie dank irgendwelcher Hummerzutzelkurse entrinnen. Doch das klappt nicht, denn die frisch benimmgeschulten Parvenüs kontrollieren jetzt akribisch ihre Umgebung, und so verachtet ein Spießer den anderen, während er geschwollen daherredet und überlegt, ob man die Erbsen nun auf die Gabel schaufeln muss oder aufpiksen kann oder gar in die Kartoffeln mit Sauce quetschen darf. Pfui, also alles kleinkarierte Möchtegerns, keine echte Herzensbildung, sondern nur vorgespieltes gutes Betragen. Setzen, ungenügend. Da sind mir echte Hochstapler und Glücksritter wie der falsche Amtsarzt Dr. med. Dr. phil. Gert Uwe Postel doch lieber; die haben einfach einen höheren Unterhaltungswert. Der gelernte Postbote mit mittlerer Reife erschwindelte sich das Abiturzeugnis und einen Studienplatz in katholischer Theologie und gab sich schließlich auch noch als -138-
Psychiater aus, ein echter Humorbolzen. Dr. Postel fertigte im Auftrag von Gerichten Gutachten über vermeintlich geistesgestörte Delinquenten, kassierte über 40000 Mark für diese Dienste, deren Qualität nie in Zweifel gezogen wurde, und kommentierte diese Hochstapelei, als man ihm auf die Schliche kam, mit der Bemerkung: »Auch eine dressierte Ziege kann Psychiatrie ausüben.« Das wollen wir mangels eigener Erfahrungen in diesem Metier jetzt einfach mal so stehen lassen. Jedenfalls ringen uns die Doktorspiele der Dr. Postels dieser Welt eine gewisse Hochachtung ab, haben wir doch normalerweise bereits ein schlechtes Gewissen bei trivialen Übertreibungen unserer eigenen Leistungen, auch wenn wir aus purem Überlebensdrang in unseren Bewerbungen ein kurzes Praktikum im Ausland als verantwortungsvolle Tätigkeit mit Führungserfahrung deklarieren. Gestärkt durch einen Cosmopolitan (den ultimativen Aufreißer-Drink), wollte ich mich doch noch ganz auf meine Initiative zur Kontaktaufnahme konzentrieren. In der FAZ hatte ich gelesen, dass ein Meister des Smalltalks sein Wissen hinter Floskeln verbirgt und jede ernsthafte Unterhaltung vermeidet, und so suchte ich gestern Abend verzweifelt nach wenig verfänglichen Aufhängern aus den beliebten Themenkreisen Essen, Trinken, Wetter und Sport. Gerade, als ich mich für einen kulinarischen Einstieg entschieden hatte und auf Sylvias charmanten Gast zusteuerte, der genüsslich in ein Roggenbrötchen mit Bündner Fleisch biss, wurde dieser von einem Freund beiseite gezogen, und ich hörte, wie sie beschlossen, lieber in einen Club zu gehen, als an Ort und Stelle »bloß rumzuquatschen«, und mir fiel schlagartig auf, dass die beiden doch ziemlich doof waren und unserer Unterhaltung gar nicht würdig. Dann hatte ich plötzlich schlechte Laune und beschloss, nach Hause zu fahren, was wieder mal mit stundenlanger Parkplatzsuche endete. -139-
Doch jetzt bin ich sonntagsmäßig richtig gut drauf; Brigitte holt mich ab in ihrem neuen Porsche, den sie sich von dem Geld gekauft hat, das ihr Exmann nach der Scheidung rausrücken musste. Wir fa hren ins Fitnessstudio und können uns ewig lang nicht entscheiden, welchen Kurs wir besuchen sollen, da ständig neue Hüpf- und Stoß-Sportarten angeboten werden; wir schwanken zwischen Tae-Bo (Das Original!) oder Kick-for-Fun (aerobisches Kickboxen) oder Ninjutsu (die Technik der Schattenkrieger) oder Brazilian Jiu-Jitsu oder Shoot-Wrestling und lösen unseren mehrfachen Appetenz-Konflikt, indem wir den Kampfsporteinsatz verschieben und wegen des schönen Wetters beschließen, an der Elbe spazieren zu gehen beziehungsweise das schöne Cabrio spazieren zu fahren. Zum Kaffeetrinken sind wir bei Herbert und Isolde eingeladen, die jede Menge Geld, aber keinen Geschmack haben. Doch wir sind ja großzügig und tolerant und mögen die beiden trotzdem und bringen als Einweihungsgeschenk für ihre neue Eigentumswohnung in Othmarschen eine DesignerBorsten-Vase der Berliner Blindenmanufaktur mit, um das Ambiente durch Originalität etwas aufzupeppen. Die Vase entpuppt sich als Fehlgriff, denn sie passt ganz offensichtlich nicht zum Einrichtungsstil der beiden. Die haben sich zwar von ihren spießigen Lieschen-Müller-Eiche-Rustikalmöbeln getrennt, wozu wir vor ihrem Umzug dezent rieten; anschließend haben sie jedoch offensichtlich ihre neuen Möbel nicht, wie wir empfohlen hatten, im Stilwerk gekauft, sondern sind zu unserem Entsetzen übergeschwenkt zu einem eklektizistischen EthnoKitsch-Ambiente mit Gunter-Lambert-Pseudo-Mallorca-Schränken, Decken aus indischer Sari-Seide, balinesischen Holzpuppen und nordafrikanischen Sitzkissen. Jetzt ist ihre Wohnung eine grauenhafte Mischung aus Finca und Suk mit einer Prise Rajastan. Herbert und Isolde gehören zu den typischen Kitschmenschen, die nie einen Sinn für echte Kunst und Ästhetik -140-
entwickeln. Sie lesen jede Menge Wohnzeitschriften, die ihnen helfen, unverbesserlich ihren schlechten Geschmack auszuleben, und fallen auf jede neue Mode rein. Dabei würden sie es natürlich empört von sich weisen, offensichtlichen Kitsch zu kaufen (wie er neuerdings sogar in Museumsshops vertrieben wird, zum Bespiel die Mona Lisa als Handtuchdekor), aber sie begreifen nicht, dass ihre willkürlich der angestammten Umgebung, ihrem authentischen Kontext entrissenen und in Masse durcheinander platzierten Dekorstücke aus aller Welt genauso schlimm sind wie die Lampen-Gondeln, die unsere Eltern in den 60er Jahren aus Venedig mitbrachten. Wir hätten ihnen zur Einweihung besser ein Buch des italienischen Kulturwissenschaftlers Gillo Dorfles geschenkt; diesem hätten sie entnehmen können, dass auch ihre kitschigen karibischen Perlmuttmuscheln prinzipiell die Chance hätten, sich zu »rehabilitieren«. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass sie »entmystifiziert« würden, indem man sie in einen völlig neuen Zusammenhang stellt oder in einer völlig anderen Atmosphäre benutzt, zum Beispiel in einer ansonsten von jeglichen Kitschelementen freien Umgebung. Das haben die beiden Neu-Wohnungseigentümer auch versucht, aber Geschmacks-Avantgardisten wie Brigitte, die in Tübingen ein paar Vorlesungen im Fach Empirische Kulturwissenschaften besucht hat, wenden in unserer typischen Besserwissermanier ein, dass diese »entmystifizierten« Gegenstände von Ignoranten wie Herbert und Isolde förmlich vergötzt würden. »Da wird Kitsch als Zeichen einer vermeintlichen Raffinesse zusammen mit Möbeln von Jasper Morisson inszeniert, und alles sieht aus wie ein einziges Ausrufungszeichen schaut her, wie individuell wir mit verschiedenen Stilelementen umgehen«, lästert Brigitte. Das sei viel schlimmer als der von uns allen so gerne geschmähte Kleinbürgerkitsch, nämlich echter HyperSupersnob-Kitsch und daher grundsätzlich abzulehnen.
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Das sagen wir natürlich nicht offen, denn trotz unseres überzeugten Besserwisser-Daseins wollen wir zumindest unseren Freunden nicht auf den Schlips treten und geben uns großzügig und tolerant, auch wenn wir es überhaupt nicht verstehen können, dass Isolde immer noch diese furchtbaren Bodum-Kannen verwendet, anstatt endlich auf die MonoKlassiker umzuschwenken, was wir ihr schon vor geraumer Zeit geraten haben. Aber mit ihrem fehlenden Geschmack befinden sich die beiden ja in illustrer Gesellschaft; auch Leute wie der spanische Kronprinz Felipe, die sich eigentlich grandiose Architekten und Einrichter leisten könnten (zum Beispiel Andre Putman), greifen designtechnisch oft komplett daneben und lassen sich Domizile bauen, die ausschauen »wie ein billiges Drei-Sterne-Hotel aus der Provinz, das versucht, wie eine Luxusherberge zu wirken«, bemängelte der spanische Architekten- und Designerverband. Inzwischen ist es fünf Uhr nachmittags, und wir müssen uns allmählich auf den letzten Abend der Woche vorbereiten; Vernissagen sind die besten Besserwisser-Events schlechthin, denn glücklicherweise sind moderne Kunstwerke nahezu jeder Interpretation zugänglich. So freuen wir uns tierisch darauf, mal wieder ein paar Kunstbanausen mit absolut sinnlosen Erläuterungen zum Thema »Was wollte uns der Künstler damit sagen?« auf den Arm nehmen zu können. Im Kunstverein treffen wir Bernd, den Personalberater, der wie üblich nur halb privat ist und mit der anderen Hälfte seiner Persönlichkeit auf Akquise- Tour und mit beiden Hälften humpelt, weil er heute Nachmittag mal wieder zu exzessiv Sport getrieben hat. Als professioneller Marketing-Mensch bestätigt er Bettina und mir, dass unsere Neuerwerbungen aus dem Designer-Outlet-Stresskauf vom Freitag uns wunderbar stehen; dann schränkt er sein Lob jedoch ein, indem er uns vorwirft, insgesamt zu viele Klamotten zu besitzen und überhaupt ein unnötig stressiges, kompliziertes Leben zu führen. Er droht uns : -142-
»Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr als Messis enden, und dann kann euch nicht mal mehr metakognitives Mentoring helfen.« Wir haben zwar längst vergessen, was das eigentlich sein soll, aber es klingt beängstigend, und Daniela knickt vor Schreck von ihren Manolo-Blahnik-Highheels herunter. Innerhalb von Sekunden schwillt ihr Knöchel zu einem unförmigen Klumpen. Bernd hilft ihr, zu einem Sessel zu humpeln, und holt uns Wein. Wir können ihn nicht daran hindern, uns seine Messi-Analysen vorzutragen: dass wir konfus seien, keine zeitliche und räumliche Ordnung herstellen könnten, viel zu viel kaufen und von den erworbenen Sachen viel zu viel aufbewahren würden – kurzum, unser Leben sei eine einzige »mess«, eine katastrophale Unordnung; dass Messis früher oder später nahezu zwangsläufig an Depressionen und Essstörungen erkranken oder unter Panikattacken leiden würden. Er empfiehlt uns, einer Selbsthilfegruppe beizutreten. Wir trinken ein Glas Wein nach dem anderen und sagen ausnahmsweise gar nichts. Ich denke an meinen zugemüllten Schreibtisch und den dreckigen Kühlschrank. Und an Danielas wild in ihrer Wohnung verteilten Schuhe. Bettina schaut Bernd genervt an. Irgendwie hat er zwar Recht, aber so genau wollten wir es nun auch wieder nicht wissen. Dann sagt Bettina, dass er der absolut unangenehmste Besserwisser von uns allen sei, nämlich völlig humorlos, geistlos und egozentrisch. Und dass er zwar ordentlich sei, aber ein Langweiler. Und wenn wir nicht so geduldig wären, müsste er einer Langweiler-Selbsthilfegruppe beitreten, er solle sich doch mal informieren, wo es so eine gebe. Dann grinsen wir, haken Daniela unter und stöckeln Richtung Auto. Wir sind beschwipst, aber trotzdem vernünftig und rufen nach einem Taxi. Wir bringen Daniela nach Hause und beschließen unsere Besserwisser-Woche bei einer Flasche Bordeaux. Wir fühlen uns gut. Und ab morgen wird alles noch besser.
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