Reality Bites
Science & Fiction
von Corinna Cramer, F.A.Z.-Archiv
42. So lautet die Antwort, die der intelligentest...
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Reality Bites
Science & Fiction
von Corinna Cramer, F.A.Z.-Archiv
42. So lautet die Antwort, die der intelligenteste Computer des Universi ums, Deep Thought, in Douglas Adams SF-Satire auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Rest gibt. Eine unbefriedigende Antwort für jemanden, der nach dem Sinn des Lebens sucht. Wenn das so ist, so seine Schlußfolgerung, muß die Frage präzisiert werden. Die Antwort ist jedenfalls 42. Wie also kann die Frage lauten? Um dieses Problem zu lösen, muß Deep Thought einen Computer konstruieren, der eine unendlich größere Rechenleistung hat als er selbst. Diesen nennt er die Erde. Doch leider geht das Experiment schief. Eine Horde interstella rer Friseure und Telefondesinfizierer schießt als Missing Link in der menschlichen Entwicklungsgeschichte den Neandertaler in die erdge schichtliche Bedeutungslosigkeit und aus der Evolution, an deren Ende, so programmierte es Deep Thought, die Frage aller Fragen stehen sollte. Gut. So sind wir, die Nachfahren der Friseure und Telefondesinfizierer nun auf uns allein gestellt. Wir fabulieren und malen uns die Zukunft in Literatur und Kunst zurecht, schaffen uns theoretische und experimen telle Szenarien. Science Fiction ist ein Weg, die große Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Rest zu konkretisieren; sie herunter zu brechen auf das was vorstellbar ist, was die Zukunft einmal sein könnte. In der Extrapolation werden gesellschaftliche Gegenwart und wissen schaftlicher Forschungsstand weiterentwickelt, um sich schließlich jen seits dessen zu finden, was möglich, logisch oder denkbar erscheint. Diese Aufgabe erfüllen Literatur und Film in unterschiedlicher Weise. Die Science Fiction Literatur kann die großen Themen wissenschaftlich und philosophisch-kritisch erörtern. Sie bietet den Zukunftsentwurf und vermittelt eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen kann, in solchen U topien oder Dystopien zu leben. Der Science Fiction Film macht diese Ahnung sinnlich erfahrbar. Seine Verwandtschaft mit der Literatur ist nicht zu leugnen. Noch in den Kinderschuhen zeigte sich das Kino faszi niert von den Geschichten Jules Vernes und H.G. Wells. Viele SF-Filme sind eigentlich Literaturverfilmungen, die allerdings ange sichts ihrer visuellen Darstellungsmöglichkeiten weit über das geschrie bene Wort hinausgehen können. Ihre Stärke und gleichzeitig auch Schwäche liegen nicht im theoretischen Exkurs, sondern in dessen Ver gegenwärtigung. Denn mehr als die gute Geschichte ist es die sinnliche, technisch so perfekte Oberfläche die die Lust am Zuschauen ausmacht. Diese scheinbare Realitätsnähe, die Unschärfen an den Grenzen dessen, was gesellschaftliche Norm und technologischer Standard ist, sie beflü geln die Phantasie. Aus der Lust des Zuschauers entwickelt sich die Lei denschaft am eigenen Fabulieren. So werden Matrix und Blade Runner zu den am meisten diskutierten Filme im Internet. In zahllosen Foren und Chatrooms diskutieren Fans, Philosophiestudenten, Forscher und Technikbegeisterte, ob künstliche Intelligenzen im evolutionären Prozeß eines Tages den Menschen ablösen können. Sie fragen, ob Wirklichkeit, wie wir sie landläufig verstehen, tatsächlich existiert oder ob das Kon strukt der Virtual Reality nicht schon den Lebensalltag der westlichen Zi vilisationen bestimmt.
Utopisches Denken Die offene Zukunft und ihre Feinde Muskelspiele des Mythos Meistens kommt es anders Alles was der Mensch will, wird machbar sein Zehntausend Jahre Einsamkeit Kugelstoßen kann jede Kanone besser Internetlinks
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Science Fiction und Literatur Der Futurologische Kongress Die Menschheit, zweiter Versuch Anleitung zum Bau einer Zeitmaschine Drahtlose Traumreise Herr Wells, hier wird kein Buch geschrieben Stählerne Träume verrückter Onkels Die Erkenntnis der unbegrenzten Freiheit
erfüllt uns mit Entsetzen Erkanntes und Erschaffenes Lesestoff in Los Alamos Wir wissen nicht, wer "wir" sind Was liest die Zukunft? Der Traum, aus dem die Stoffe sind Das Gefühlsleben der Androiden
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Zukunft auf Zelluloid Miezen und Matritzen Ideologie? Welche Ideologie? Sein Gehirn käst Das Weltall spricht leider Englisch Die offene Zukunft und ihre Feinde All diese Momente werden sich in der Zeit verlieren Androiden aus der Puppenkiste Menschlichkeit siegt Wie reproduziert man das Schicksal? "I'm sorry, Dave, I'm afraid I can't do that!" HALs Erbschaft
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Utopie und Gesellschaft Im Leib des Integral Keimbahn ohne Tempolimit Herrschaft der Maschinen Ist denn gar nichts mehr heilig? Das Modell Urmensch Das Credo der Extropier Aus den Ruinen unserer Zeit
wächst ein zweiter Kapitalismus
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Golem und Frankenstein Neue Menschen braucht das Land? Unternehmen Unsterblichkeit Raus aus dem öligen Körper Der Hausmeister mit eingebauter Fernbedienung Quo vadis, Robo sapiens?
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Künstliche Intelligenzen Mehr Hirn! Traum ohne Raum Wenn du denkst, du denkst,
dann denkst du nur, du denkst Mehr Hirn, weniger Datenspeicher Ein Gewehr verwandelt uns nicht in einen Killer Operation Schutzengel Der Rechner ist ja nackt Intelligenz ist unwichtig Raumfahrt, Aliens, Asteroide Lautlos im Weltall De-Luxe-Schwindel im Innenohr Ist da wer? Gibt es den Krieg der Sterne? Nur eine Frage der Zeit Die Beschaffenheit des rasenden Eros Warum die Außerirdischen mit uns
Verbindung aufnehmen müssten Das Spaghetti-Theorem Bitte nicht krümeln!
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Status Quo In weiter Ferne so nah Stoff für eine neue Revolution Wie man Robotern Beine macht Erbmoleküle spielen "Tic Tac Toe" Mißratene Kopien:
Fast immer geht das Klonen schief Der Spuk, den Einstein beschwor Der Quantencomputer nimmt Gestalt an Das Superhirn im Reagenzglas Schmetterlinge im Windkanal Die Computer von morgen sind reine Zauberei Nach dem Internet Revolution am Küchenherd Die große Heimleuchtung
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Utopisches Denken Die offene Zukunft und ihre Feinde
Muskelspiele des Mythos
Utopien waren über Jahrhunderte hinweg eine Sache für Leser. Der einzige Weg zu all den im Nirgendwo angesiedelten Städten und Ländereien der Zukunft führte über bedruckte Buchseiten. Selbst Illustrationen ließen sich, wo sie an den Rändern der utopischen Bleiwüsten erblühten, nur durch Legenden erschließen - denn die Utopie war immer nur ein Planspiel, ein in den Raum gegossenes Skript. Doch die Welt der Texte, in der sich frühneuzeitliche Utopiker eingerichtet haben, scheint mittlerweile weitgehend unbewohnbar geworden zu sein. Zugleich erhebt sich die Frage, ob die Zukunft überhaupt noch unter der Adresse einer Utopie anzuschreiben ist. Im neuen Themenheft des "Merkur", das unter dem Motto "Zukunft den ken - Nach den Utopien" steht, werden Ausweichquartiere in Betracht gezogen. Der Berliner Philosoph Gunter Gebauer etwa macht Kino, Lebenswissenschaften und Werbung als utopische Medien der Ge genwart aus und sieht ihren Schnittpunkt im Körper, der sich ganz an die Stelle der abstrakten Gesellschaftsmodelle der klassischen Utopie geschoben habe: Ordnung ist unsichtbar, der Leib hingegen ein attraktives Ausstellungsstück. Doch die Anschaulichkeit der neu en Nichtorte - ob sie den gentechnologisch verbesserten oder einfach nur den gut durchtrainierten Body zum Gegenstand haben - ver schiebt auch die Gattungsgrenzen der Utopie. Mit dem perfekten Körper nämlich betritt ein einzelner Held den stets dem Gemeinwe sen vorbehaltenen utopischen Schauplatz, und mit ihm hält - so Ge bauer - der Mythos dort Einzug: Die Zukunft liegt nicht mehr einfach da und wartet darauf, entdeckt zu werden, sie stellt sich im Körper als immerwährende Verheißung dar. So wird der Wegweiser zur ei gentlichen Utopie: Supermann, geh du voran! Den Anfang solcher "Mythopien" machte nach Gebauer Rousseau, als er so lange am Körper seines Émile bastelte, bis dieser als reines Naturprodukt da stand. Von dieser Urszene strahlender Körperlichkeit aus zieht Ge bauer eine Linie zu Bodybuildern, DDR-Athleten und Silikonbrüsten. Gerade das Verschwinden der Produkte aus der Werbung täusche darüber hinweg, daß das eigentlich umworbene Produkt heute der glückliche Körper sei: der Werbeblock als geschlossene Utopie. Bei dieser kulturkritischen Pointe könnten fast Bret Easton Ellis und Fré déric Beigbeder Pate gestanden haben: Hat ersterer die genaue In ventur derjenigen Accessoires, mit denen sich der amerikanischen
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Körper schönmacht, mit einer Fundamentalkritik an der Dekadenz des Kapitalismus verbunden, so brachte letzterer den verlorengegan genen Glauben an die Macht der geheimen Verführer zu neuen Eh ren. Bei den Popliteraten ist das Utopia des Alltags bloß ein getarnter Locus horribilis. Fragt sich nur, ob der Gang ins Kino nicht einen et was differenzierten Blick auf den scheinbar zum ideologischen Mono lithen gewordenen Körper ermöglicht. Ein Beitrag von Josef Früchtl, der sich im selben Heft dem künstlichen Menschen im Sciencefiction widmet, zeigt andere Routen durchs postmoderne Utopia auf. Hier findet sich der Heroismus des Körpers längst in Frage gestellt durch die Herausforderungen der Artifizialität - gerade ein Film wie "Blade Runner", der vom Aufstand der Replikanten gegen ihre unmenschli chen Schöpfer handelt und den Helden selbst dem Verdacht der Künstlichkeit aussetzt, zeigt die innere Brüchigkeit des utopischen Raums der Körper auf. Und läßt nicht auch Spielbergs "A.I." den Ro boter als letzten Menschen zurück? Auch die Allgegenwart des sicht baren Körpers nimmt uns die Notwendigkeit, ihn zu entziffern, nicht von den Schultern. ANDREAS ROSENFELDER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.2001, Nr. 223 / Seite 57
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Meistens kommt es anders
Über die Haltbarkeit von Voraussagen Von Erwin K. Scheuch Vergessen zu werden ist das Beste, was fast allen großen Gesell schaftsgemälden und -prognosen geschehen kann. Dennoch wird uns eine Fülle von Panoramen für Gegenwart und Zukunft angeboten, die sich zeitlich überlagern. Die Vielfalt der TV-Clips, mit denen wir am Zeitgeschehen teilnehmen, verlangt nach einer vereinfachenden Ord nung. Eine Metapher mag zum Verständnis helfen. Schauen wir aus dem Fenster eines Zuges, dann reißt der Strom von Bildern nicht ab. Erst wenn wir vom Ende des Zuges zurückschauen, kann aus den BildFetzen eine Landschaft werden. "Landschaften" werden gebraucht. In der Ideengeschichte brachte das Hans Vaihingers "Philosophie des Als Ob" (1911) bereits auf den Begriff. Für moderne Gesellschaften ist eines gewiß: Die Zukunft ist anders als die Gegenwart. Dabei gibt es für uns keine Rückkehr zu einem "golde nen Zeitalter", wie bei vergangenen Hochkulturen geträumt wurde, und ein "Ende der Geschichte" vermögen nicht einmal die verbliebe nen Marxisten auszumachen. Bewegung hin zum "Ende offen" ist das Leitmotiv des Wandels der modernen Welt. Da wirken unzutreffende Prognosen und irrige Diagnosen dennoch als das, was im Luhmannschen Soziologiejargon "komplexitäts reduzierend" genannt wird. Es könnte auch gesagt werden "entlas tend durch Vereinfachung". 1935 berief Präsident F. D. Roosevelt eine Kommission mit den profi liertesten Köpfen seines Landes. Sie sollten die wichtigsten Verände rungen bis zum Jahre 1965 voraussagen. Dreißig Jahre galt als eine diskutable Zeitspanne, die etwa dem Planungshorizont größerer Be triebe entsprach. Nicht erwartet wurde von diesem Expertengremium unter anderem, daß unser internationales Transportwesen durch Jets revolutioniert wurde, daß die Atomspaltung gelang und daß Computer den Alltag umkrempeln würden. Dabei gab es für all die genannten Techniken durchaus schon Ansätze. Nun sind außerhalb kleiner Zirkel von Fachleuten bloße Ansätze zu revolutionären Entwicklungen in Technik und Wissenschaft für andere
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kaum zu erkennen. Eine vergleichbare Blindheit zeigte die damalige Expertenkommission jedoch auch gegenüber den Fernwirkungen zeit genössischer Veränderungen in Politik und gesellschaftlichem Alltag. Noch weniger als die Folgen eines möglichen Zweiten Weltkriegs wur de erkannt, daß es eine Entkolonialisierung geben könnte und welche welthistorischen Veränderungen daraus folgen würden. Völlig jenseits des Horizonts der Experten lag 1935 die Vorstellung eines Massen wohlstandes dreißig Jahre später. Die Grenzen zwischen Prognose und Diagnose in einer modernen Gesellschaft im Wandel sind fließend. Die Gegenwart in unseren Ge sellschaften ist vielgestaltig (soziologisch: diese sind "hoch differen ziert"). Zeitgenossen wünschen aber, daß dies auf einen einfachen Nenner gebracht wird. Im Englischen nennt man die dazu passenden Gesellschaftsbilder "paintings with a broad brush" - was hier mit "ge sellschaftliche Kolossalgemälde" übersetzt sein soll. Ein solches Kolossalgemälde war die Behauptung einer Massengesell schaft als Folge einer immer weiter um sich greifenden Vermassung. In den fünfziger und sechziger Jahren des soeben zu Ende gegange nen Jahrhunderts standen für eine solche Sicht ihrer Gegenwart klangvolle Namen wie Ortega y Gasset und Salvador de Madariaga. Mit dieser Deutung wurde reagiert auf den ungewohnten Zustand eines sich in diesen Jahrzehnten rasch verbreitenden Massen wohlstands. Dadurch wurde ein Zugang zu Gütern und zu Verhal tensbereichen - wie Ferntourismus - für Bevölkerungskreise eröffnet, die darauf nicht vorbereitet waren. Dies war dann die zweite HochZeit der Kulturkritik, die insbesondere in Deutschland - aber nicht nur hier - bereits in der Zwischenkriegszeit die intellektuelle Diskus sion dominierte. Widersprüchlichkeit von Gesellschaften Als Beleg für den Prozeß der Vermassung galten im zwanzigsten Jahrhundert die Massenmedien, zunächst insbesondere der Film und das, was die Massenpresse genannt wurde. In den fünfziger Jahren war für die Kulturkritik, und darüber hinaus für eine allgemeinere Öffentlichkeit, das Fernsehen die Bestätigung der Mutmaßungen über eine Massengesellschaft. Tatsächlich gab es zu Zeiten, als die Über tragungswege für Fernsehen knapp waren, auch in unseren hochdif ferenzierten Gesellschaften Sendungen, die von der Hälfte der Bevöl
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kerung gleichzeitig angeschaut wurden. Vergessen war, daß sich in Ländern wie den Vereinigten Staaten das Publikum gegenüber dem Radio in dessen erster Entwicklungsphase ähnlich verhalten hatte. Heute reicht das Angebot der TV-Sender von Phoenix und Arte über CNN und n-tv sowie ARD und ZDF bis hin zu RTL und Pro 7. Da ist ein Programmacher glücklich, wenn seine Quote fünfzehn Prozent des Publikums erreicht - so wie eine Zigarettenfirma heute gut leben kann mit einem Marktanteil von fünf Prozent. Gegenwärtig haben entgegengesetzte Kolossalgemälde Konjunktur, die mit verschiedenen Akzenten alle eine immer weiter fortschreiten de Individualisierung in den Wohlstandsgesellschaften diagnostizie ren. Besonders wirksame Verkünder dieser Lehre vom Auseinander laufen unserer Gesellschaften sind Anthony Giddens und Ulrich Beck, die von sich selbst vermuten, daß sie führenden Politikern in England und Deutschland ein Weltbild liefern. Insbesondere Beck verkündet und ersehnt den Verfall unserer Klein familie. Die Individualisierung der Lebensläufe werde zur Regel. Daß im "Westen" die Verhaltensweisen nicht mehr flächendeckend durch Gruppenzugehörigkeit geprägt werden, wußte um die Jahrhundert wende schon Georg Simmel. Er hatte hierfür jedoch eine gänzlich andere Deutung: Kreuzung sozialer Kreise. Ähnlich Robert Musil thematisierte er hiermit, daß wir je nach dem Kontext in unserem Verhalten anderen Gruppenkonformitäten folgen. Die Vielfalt der Medien ist allerdings unterschiedlich deutbar: als Plu ralität der Konformität zu vielfältigen Gruppen, die nur einen Teil einer Person ansprechen, aber auch als Beleg für die These der im mer weitergehenden Individualisierung: Die Zeitschriftenauslagen an großen Bahnhöfen bieten für fast jeden Lebensbereich vielfältige Publikationen an, ob das nun Möbeleinrichtungen oder Tennis oder Wirtschaftsthemen sind. Gerade dies ist für Gerhard Schulze einer der Belege, daß unser heu tiges Leben statt durch Unterschiede nach sozialer Klasse durch Kon formitäten zu verschiedenen Lebensstilen charakterisiert werde. Die Bedeutung der unterschiedlichen Art privater Lebensführung hatte bereits Max Weber im Zusammenhang mit seiner Sicht sozialer Un gleichheit hervorgehoben. Bei Schulze hat dies aber einen anderen, neuen Akzent. Die Lebensstile sollen wiedergeben, wie wir uns als
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eine "Erlebnisgesellschaft" einrichten. Diese Sicht hat dann auch Schulze mit Beck gemein: Wir sind pausenlos zu einer Abfolge von Erlebnissen unterwegs. In den Branchen Werbung und Public Relati ons wird das auf gut Denglisch "Event-kultur" genannt. Alle diese Kolossalgemälde können durchaus auf aktuelle Trends hinweisen, verabsolutieren diese aber gegenüber anderen gleichfalls zu beo bachtenden Entwicklungen. Das galt ebenso schon für die zu Recht vergessenen Prophetien des Schullehrers Oswald Spengler vom "Un tergang des Abendlandes". Erinnert sei an den Film "Modern Times" von Charlie Chaplin, in dem dieser als Fließbandarbeiter dann selbst zum Teil einer Maschine wird. Zu Zeiten des Höhepunktes von Taylo rismus und Refa war die Verallgemeinerung dieses Bildes des Produ zierens nicht ohne Plausibilität. Marxisten wie Antonio Gramsci sahen Ende der zwanziger Jahre in der "wissenschaftlichen" Führung des Produktionsablaufs gleich eine neue Entwicklungsstufe des Kapitalis mus, den "Fordismus". Dann entdeckten mit Peter Glotz die Achtund sechziger Antonio Gramsci neu. Was heute bei der Produktion als modern gilt und sich als Erneue rung auch durchsetzt, ist ersichtlich ziemlich genau das Gegenteil dessen - wie Gruppenarbeit. Vor etwa 35 Jahren befriedigte aber die Vision des Menschen als Teil der Maschine viele, die für die Verände rung des Wirtschaftens ein einfaches Leitmotiv suchten. Lehrreich an diesem Motiv ist die Unverwüstlichkeit solcher Visionen. Widerspricht der Augenschein des Augenblicks dem behaupteten Bild, so gerät dieses momentan in Vergessenheit. Bei nächster Gelegenheit ist das dann aber wieder präsent. Aktuell sind Mutmaßungen über die Herrschaft von Computern. Ende Juni äußerte Christoph Albrecht in dieser Zeitung die Befürchtung, daß schon bald Computer dem menschlichen "Geist" überlegen sein werden. "Dann ist die Vernunft eine endgültig verlorene Illusion. Ge gen die Übermacht der Maschine können wir uns schon heute nichts mehr von ihr erhoffen." Aus zwei Gründen müssen solche Kolossalgemälde unzutreffend sein. Entwicklungen in der Technik sind nur unvollkommen vorauszusagen, in Zukunft noch weniger als bereits heute. Vor allem sind unsere hochdifferenzierten Gesellschaften reaktiv - reagieren auf Druck mit Gegendruck - und widersprüchlich zugleich. In den Kolossalgemälden wird dagegen ein Gleichklang unterstellt, der alle Lebensbereiche
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prägen soll. Und wer solches entgegen aller offensichtlichen Unter schiedlichkeit des Lebens in der jeweiligen Gegenwart anbietet, darf auf ein erlöstes Publikum hoffen. Es gibt keine allgemein akzeptierte Theorie des sozialen Wandels, ja nicht einmal mehr ein allgemein akzeptiertes Leitmotiv, wie dies noch für die berühmten Sozialwissenschaftler Deutschlands um 1900 galt. Max Weber verstand die Veränderungen, die Zeitgenossen "Mo dernisierung" nannten, als Prozeß der Rationalisierung aller Lebens bereiche. Georg Simmel sah in der zunehmenden Rechenhaftigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen das Leitmotiv des Wandels. Eng verwandte Vorstellungen waren der Wandel von Gemeinschaft hin zu Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies und von der mechanischen hin zur organischen Solidarität bei Emile Durkheim. Neuere Ergebnisse der Sozialgeschichte der Modernisierung legen ein anderes Deutungsschema nahe. Das fügt sich auch besser zu dem erwähnten Bild einer Gesellschaft als reaktiv. Philipp Ariès zeigt an der Verwandlung der Kindheit, wie ein vordem in traditionellen Ge sellschaften sehr sachliches Verhältnis zwischen Eltern und Kind zu einer hoch emotionalisierten und dadurch auch sehr störanfälligen Beziehung wurde. In traditionellen Gesellschaften gibt es so etwas wie eine Pflicht zum Nepotismus (wie heute noch in den kommunisti schen Monarchien), werden bei wirtschaftlichen Beziehungen Vor zugsbehandlungen für Freunde erwartet und schlechtere Bedingun gen bei einander fremden Personen. Wird in heutigen Transaktionen einem fremden Handelspartner bedeutet, er erhalte einen Freund schaftspreis, so müßte die vernünftige Reaktion darauf im Weglaufen bestehen. Das Wirtschaften ist in der Tat in weiteren Bereichen sehr sachlich geworden - wenngleich auch nicht so total, wie Manager auf Aktionärsversammlungen glauben machen wollen. Parallel hierzu ist eine Ehe in unseren Zeiten durch Liebe der Partner füreinander gerechtfertigt. Da Gefühle eine sehr unsichere Grundlage für die Beständigkeit einer Institution sind, gibt es heute hohe Schei dungsraten. Wird dies als Zerfall der Institution Ehe verstanden - wie beispielsweise bei Beck -, dann ist das eine Fehldeutung. Die Anfor derungen an persönliche Verträglichkeit werden sehr hoch und die Bereitschaft, bei Unverträglichkeit eine Beziehung aufzulösen, dann ebenfalls. Bei sehr hohen Wiederverheiratungsraten auch nach meh reren Scheidungen ist die angemessenste Deutung: Man kann viel
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leicht mit einem gegebenen Partner nicht leben, aber auch nicht oh ne einen solchen. Untersuchungen des Instituts for Social Research in Ann Arbor zeigen: Die unglücklichsten Zeitgenossen in einer heuti gen Wohlstandsgesellschaft sind alleinlebende ältere Männer, gefolgt von alleinlebenden älteren Frauen. Kurzfristige Moden Wir bewegen uns aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Richtung auf ein völlig durchrationalisiertes Alltagsleben. Akzeptieren wir die mo derne Gesellschaft als widersprüchlich, so liegt als Metapher nahe, von einer Rochade zu sprechen: Vordem sehr sachliche Bereiche wurden und werden emotionalisiert und früher eher durch Gefühl strukturierte Bereiche versachlicht. Eine völlig durchrationalisierte Existenz dürfte für die meisten Menschen eine anthropologische Un möglichkeit sein. Manche Sozialwissenschaftler sprechen deshalb von modernen Gesellschaften als "Hybridkulturen". Durch moderne Medien werden Teilentwicklungen als grundlegende Veränderungen thematisiert und mit der Konzentration unserer Auf merksamkeit auch rasch wieder entwertet. Die Achtundsechziger hielten sich für die Zukunft unserer Gesellschaft und sehen mit Fas sungslosigkeit, daß die Enkel ihre Beliebigkeit als Leitmotiv des Le bens unverständlich finden. Szenarien verwelken rasch. Inzwischen hat der Auffinder der Erleb niskultur, Gerhard Schulze (Bamberg, wo solche Szenarien gepflegt werden), erkannt: "Überraschend viele Angebote zur Millenniumsfei er 2000 waren nicht ausgebucht, weil viele Menschen zu Hause blei ben wollten." Stefan Hradil (Mainz) beobachtet "eine gewisse subjek tive Erschöpfung bei der Nutzung des Erlebnispotentials ... das äu ßert sich derzeit auch ganz konkret etwa darin, daß Partnerschaft und Familie ein gutes Stück Stellenwert zurückerhalten haben". Die meisten Berichte über Änderungen registrieren Oberflächen gekräusel. Moderne Gesellschaften haben ein Ausprobieren von Neu em institutionalisiert. Daraus ist zu folgern, daß die meisten Neue rungen im Verhalten kurzfristige Moden bleiben. Anfang der sechzi ger Jahre hatten Konsumforscher in den Vereinigten Staaten den Ausprobierer als sozialen Typ erspäht, ihn aber irrtümlich zum "Taste Maker" (Geschmackspionier) erklärt. Für das Marketing von Konsum
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gütern wäre es komfortabel gewesen, hätte man an den "Taste Ma kern" die Zukunft erkennen können. Aber auch in diesem Fall erwie sen sich Gesellschaften als relativ, macht die Mode des Augenblicks der Mode von morgen Platz. Gelassenes Verständnis für die Aufge regtheit des Tages ist angebracht: Wie schlecht stünde es jedoch um die Medien, wären sie Vehikel für das semper idem! Nicht angezeigt ist ein technischer Determinismus. Ein Beispiel hier für ist bisher die Kombination von Fernsehgerät, Telefondraht und Computer zu Bildschirmtext (btx). Bildschirmtext ist zum Teil deshalb nicht angenommen worden, weil im Entwicklungsland England und auch in Deutschland das Abspielen der Informationen über Fernsehen die Einsicht versperrte, daß es sich bei btx eben nicht um eine Form von "broadcasting" handelte, sondern im Gegenteil von "narrow casting". Und beim "interaktiven Fernsehen" wurde verkannt, daß nicht jeder von uns sein eigener Autor sein will, der in den ihm ange botenen Ablauf eines Geschehens selbst aktiv eingreifen will. In allen Lebensbereichen mit hoher Unsicherheit besteht ein Bedürf nis nach Gewißheiten. Diese werden in Variationen angeboten: als Kulte, wo das richtige Einhalten von Regeln bei Beschwörungen das Ergebnis kontrollieren soll, als Moden, bei denen aus massenhaftem Gleichklang von Überzeugungen Gewißheit folgt, und nicht zuletzt als einem Einreihen in die Gefolgschaft eines Gurus, der heute schon weiß, wie die Welt morgen sein wird. Dagegen gilt die Wirtschaft neben den Naturwissenschaften als ein Bereich, in dem nüchterne Berechnung vorherrschen soll. In dieser Vorstellung des Wirtschaftens als kühl kalkulierendes Handeln sollte jedoch nicht eine Beschreibung, sondern eine kulturelle Norm gese hen werden, eine notwendige Form des Begründens für einen Hand lungsvorschlag. Ob dieser aber selbst tatsächlich Ergebnis eines Kal küls war oder nicht Folge von Vermutungen und Motiven, die ande ren Steuerungskräften unterliegen, ist sehr oft die Frage. Die Häufig keit von Moden in der Wirtschaft gerade in den Chefetagen sehr gro ßer Unternehmen läßt vermuten, daß angesichts mangelnder Vor aussagbarkeit von Folgen des eigenen Entscheidens die Begründun gen die tatsächlichen Antriebsmomente zudecken sollen. Die siebziger Jahre waren im Westen die Hoch-Zeit der "conglomera tes" - deutsch "Mischkonzerne". Weises Management war damals das
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Zusammenkaufen von Firmen aus verschiedenen Wirtschaftsberei chen. Heute herrscht die gegenteilige Philosophie vor: Outsourcing Lean Management - Just in time production. Aber das Lean Manage ment kann in Konflikt geraten zu der Dezentralisation nach der Philo sophie der Profitcenter. Das Outsourcing schafft Abhängigkeiten von Zulieferanten. Ist das Ganze noch weltweit organisiert, so wird ein bei Störungsfreiheit ökonomisch effizientes System außerordentlich verletzlich. Große Mode sind gegenwärtig Fusionen, insbesondere internationale. Dafür gibt es eine wirtschaftlich klingende Begründung: Mit der Glo balisierung könnten nur noch Global Players (ja, es heißt bekanntlich tatsächlich "Spieler") überleben. Soziologen wissen aber, daß bei großen Unternehmungen mit der Größe Führungsprobleme exponen tiell zunehmen. Empirische Untersuchungen ergeben dann auch, daß in etwas mehr als der Hälfte nach der Fusion der Unternehmensge winn geringer ist als die addierten Gewinne vor der Fusion. Angesichts solcher Unsicherheiten auch und gerade im Bereich der Wirtschaft wird versucht, Gewißheit durch Verfahren zu erhöhen. Neben der altbekannten Extrapolation gibt es solche Techniken wie das Delphi-Verfahren (mehrstufige Expertenbefragung) und die Scenario-Technik. Das sind zweifellos Vorteile gegenüber der einfachen Extrapolation, aber wir müssen eben auch hier mit der Unvorherseh barkeit im großen und ganzen sowie der begrenzten Vorhersehbar keit im einzelnen leben. Unsere westlichen Gesellschaften sind auf Wandel hin angelegt. Hier lebt man anders als in den Hochkulturen in der Vergangenheit mit der Gewißheit, daß es nicht so bleiben wird, wie es heute ist. Und nicht zuletzt auch mit der Einsicht, daß es kein "goldenes Zeitalter" gegeben hat, aus dem Ziele für den Wandel abzuleiten wären. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2000, Nr. 245 / Seite III
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Alles was der Mensch will, wird machbar sein Verheißungen, Ängste, Geschäfte:
Nanotechnologen erwarten die dritte industrielle Revolution
Ein Gespräch mit drei Pionieren einer neuen Technologie "Wenn wir weit genug zu den Grundlagen des Lebens vorgedrungen sind, braucht keiner Ihrer Wünsche unerfüllt zu bleiben." Diese alte Verheißung des Nobelpreisträgers Albert Szent-Györgyi hat jetzt die Nanotechnologie übernommen. Sie sieht sich - ermutigt durch die Initiative Bill Clintons - als Agent der dritten industriellen Revolution. Bill Joys utopistische Warnungen vom Amoklauf der Nano-Roboter müssen nicht wahr werden. Aber die Fachleute zweifeln nicht, daß die Miniaturisierung industrieller Prozesse einen Wandel herbeiführt, der mit dem Eintritt ins Informations- und Biotechnikzeitalter ver gleichbar ist und neue Fragen aufwirft. Die Firma Zyvex in Dallas war das erste Unternehmen, in dem sich Physiker, Chemiker, Program mierer und Ingenieure dem Bau solcher millionstel Millimeter kleinen Maschinen widmeten. Von dem Informatiker und Geschäftsmann James von Ehr II. finanziert und unter der Ägide der einflußreichen Nanotechnologen Ralph Merkle und Robert Freitas jr. übt man sich dort an der Manipulation einzelner Moleküle. F.A.Z. In Deutschland ist man sich durch die von Bill Joy eröffnete Debatte längst klar darüber geworden, daß in der Nanotechnologie etwas Bahnbrechendes passiert. Manche halten es gar für eine be drohliche Entwicklung, die man unbedingt aufhalten sollte. Ist es notwendig, Grenzen zu setzen? Merkle: Der kritische Punkt ist der, daß überhaupt versucht wird, die Forschung zu stoppen. Diese Versuche sind sogar gefährlich. Zur Zeit gibt es verschiedene Strategien im Umgang mit der Nanotechnologie. Die eine ist, die Technologie zu blockieren oder aufzugeben. Die an dere Möglichkeit ist, die Technik kontrolliert fortzusetzen, Richtlinien dafür zu entwerfen, wie es das Foresight Institute getan hat. Dies ist der sicherere Weg, weil man sonst die Forschung isoliert und in die Hände derer treibt, die am wenigsten verantwortlich damit umgehen. Für viele birgt die Nanotechnologie ähnliche Risiken wie die Nuklear technik. Sehen Sie auch die Gefahr, daß uns eine neue, unter Um ständen unbeherrschbare Großtechnologie ins Haus steht?
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Von Ehr: Nein, Nanotechnologie ist etwas, was man vielleicht schon in zehn oder zwanzig Jahren im eigenen Haus oder in der Garage gebrauchen wird. Man benötigt dazu auch keine riesigen Mengen Energie. Genau darin sehen Kritiker wie Joy freilich eine Gefahr: daß es viel leicht ähnlich wie beim Plutonium eines Tages von Terroristen für ihre Zwecke mißbraucht werden könnte. Freitas: Das ist ein Grund mehr, weshalb man sich davor hüten soll te, die Entwicklung zu stoppen. Denn die Technologie, die unter Um ständen die Probleme erzeugt, ist die gleiche wie die, die Lösungen bereitstellt. Diese Möglichkeiten sollte man nicht verspielen. Merkle: Was wäre, wenn wir uns entschlössen, die Elektrizität auf zugeben? Die Elektrizität hat gute und schlechte Seiten. Aber wenn wir uns freiwillig zum Ausstieg entschließen würden, hätten wir keine Kommunikation, keine Computer und all diese modernen Technolo gien. Das wäre keine gute Strategie. Ray Kurzweil und Bill Joy haben die Vision, daß die Menschen in we nigen Jahrzehnten in der Lage sein werden, auf kleinster molekularer Ebene alles mögliche zu konstruieren, was sich der Mensch oder die Natur ausdenkt. Ist es das, worauf Sie in Ihrer Firma derzeit hinar beiten? Merkle: Im Prinzip ja. Wir sollten in einigen Jahrzehnten in der Lage sein, die meisten Atome unseren Vorstellungen entsprechend und natürlich wie es die Gesetze der Physik erlauben, zu arrangieren. Und diese Technologie sollte durchaus auch ökonomisch vertretbar sein. Heute können wir es in aller Ruhe diskutieren. Myrvold hat die gegenwärtige Lage der Nanotechnologie mit der Si tuation Leonardo da Vincis verglichen, als er sich gerade daranmach te, ein Flugzeug zu entwickeln. Merkle: Wir sind vielleicht sogar schon etwas näher dran. Man kann schon durchaus einzelne Moleküle bewegen. Der Beginn der Nanotechnologie geht auf Richard Feynman und sei nen berühmten Vortrag "There is plenty of room at the bottom" im
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Jahre 1959 zurück. Wann haben Sie begonnen, seine Ziele in die Praxis umzusetzen? Merkle: Feynmans Rede war wirklich visionär. Aber nicht viele Men schen haben sie damals ernst genommen. Die eigentliche Bewegung begann in den achtziger Jahren. Zwei Entwicklungen waren dafür ausschlaggebend: Das war erstens die Erfindung von Rasterelektro nenmikroskopen. Mit ihnen ist es möglich geworden, einzelne Mole küle oder Atome zu bewegen und zu manipulieren. Das war für viele ein Schock. Die andere Entwicklung betrifft die theoretische Arbeit von Eric Drexler, der Mitte der achtziger Jahre klarmachte, daß die physikalischen Gesetze einer gezielten Manipulation einzelner Mole küle nicht im Wege stehen. In den späten achtziger und neunziger Jahren ist das zunehmend akzeptiert worden. Etwas, über das Bill Joy gesprochen hat und das viele Menschen fas ziniert, sind die sogenannten Nanobots, winzige molekulare Roboter, die sich in den Körper einschleusen lassen und sich wie Menschen selbst reproduzieren. Ist das eine realistische Vorstellung? Freitas: Es gibt diese Möglichkeit. Man könnte so etwas entwerfen. Aber es gibt keinen Grund, warum diese medizinischen Nanobots sich reproduzieren sollten. Merkle: Sehen Sie, eine Maschine, zum Beispiel ein Auto, bietet Transportmöglichkeiten und ein Pferd auch. Das Pferd ist ein biologi sches System. Es kann mehr als die Maschine, es kann beispielswei se Heu, Karotten oder andere Lebensmittel fressen. Es kann damit in seiner Umwelt überleben. Ein Auto dagegen funktioniert nur in einer sehr künstlichen Umwelt. Wir müssen es mit einem bestimmten Treibstoff versorgen, wir müssen Straßen bereitstellen, und wir müs sen es warten. Die Vorstellung, daß ein wild gewordenes Auto sich verselbständigt, ist Unsinn. Es ist deshalb auch im Falle der Nanoma schinen Unsinn, weil die Apparate, die wir bauen, nicht anpassungs fähig sind. Sie sind etwas völlig anderes als etwa Mikroorganismen. Genauso verhält es sich mit der Reproduktion. Das biologische Modell dafür läßt sich unmöglich mit Maschinen realisieren. Die selbständige Vermehrung von Nanobots wird mit der natürlichen Reproduktion überhaupt nicht zu vergleichen sein. Aber im Prinzip wird sie möglich sein.
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Schon die Möglichkeit aber schreckt die Menschen auf. Merkle: Das Foresight Institute wurde 1986 genau wegen solcher Bedenken gegründet. Seither wird darüber viel diskutiert. Wir haben inzwischen Richtlinien für den Umgang mit der Nanotechnologie ent worfen. Die Diskussion ist für uns alle ein gewaltiger Bildungsprozeß. Sie meinen, daß sich unser Denken schneller weiterentwickeln muß, damit wir die Angst beherrschen? Von Ehr: Ich denke, wir müssen die Technologie auf ganz natürliche Weise annehmen. Sehen Sie, ich trage Kontaktlinsen, die mir das Sehen erlauben. Und seit einem schweren Unfall vor fünfzehn Jahren habe ich Stifte in meinen Gelenken, die mir erlauben zu gehen. Ich bin nicht weniger Mensch, weil ich künstliche Teile im Körper trage. Vor zweihundert Jahren war das noch nicht denkbar. Aber es ist doch auch natürlich, daß Furcht entsteht, wenn von Inge nieuren so etwas Fundamentales erdacht wird. Merkle: Was im Moment passiert, ist eine reine Diskussion darüber, was geschen wird und was geschehen soll, wenn die neue Technolo gie angewendet wird. Die meisten Vertreter der technischen Diszipli nen werden mir zustimmen, daß molekulare Maschinen machbar sind. Unterschiedliche Meinungen gibt es derzeit nur darüber, wie lange es noch dauern wird, bis dieses Stadium erreicht ist, und über einige technische Aspekte, auf welchem Wege dieses zu erreichen ist. Auf welchem Gebiet wird die Nanotechnologie die ersten bedeuten den Erzeugnisse liefern? Freitas: Möglicherweise in der Medizin. Die ersten klinischen Tests mit Nanomaterialien stehen unmittelbar bevor. Von Ehr: Ich als Geschäftsmann glaube, daß bessere Werkstoffe die erste große Anwendung sein werden. Denn diese sind einfacher her zustellen als Nanobots für die Medizin. Welche Arten von Materialien werden das sein?
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Von Ehr: Leichte und extrem stabile Materialien. Ich denke, wir kön nen Materialien herstellen, die sogar hundertmal so stabil sind wie Stahl. Die Nanoröhren aus Kohlenstoff, die dabei eine große Rolle spielen, werden schon in den nächsten Jahren sehr viel schneller und billiger herzustellen sein. Wir versuchen derzeit intensiv, einzelne Moleküle im Labor aufzunehmen und sehr präzise dorthin zu bringen, wo wir sie gerne hätten. Wir betreiben eine Art positionelle Chemie. Kleine Organisationen wie Zyvex haben hier die Chance, voranzuge hen und ganz neue Dinge auszuprobieren. Bedeutet das, daß Sie sich wie in der Genomforschung in einem Ren nen mit großen Institutionen befinden? Merkle: Es wird sicher eines geben. Ich weiß nicht, wann das Wett rennen richtig beginnt. Im Moment befinden wir uns vor allem in ei nem Wettlauf mit der Zeit. Wir wollen möglichst bald Produkte her stellen und Gewinn machen. Sie vergleichen die Nanotechnologie mit der Erfindung des Flugzeu ges, aber werden die Folgen nicht viel dramatischer sein? Wird die Nanotechnologie nicht das Wesen der Menschen verändern? Merkle: Ich bin in dieser Hinsicht eher konservativ. Sehen Sie, ich bin etwas übergewichtig. Wenn jemand kommt, der sicherstellt, daß ich gesund bleibe, werde ich seine Hilfe annehmen. Der Punkt ist, daß wir nicht mehr fragen, was technisch machbar ist. Wir fragen vielmehr, was wir wollen, was wir wünschen. Das ist allein unsere Entscheidung. Technologie eröffnet uns Möglichkeiten. Sie sagt nicht, welche Wege wir beschreiten müssen. Zu den fundamentalen Optionen, die sich der Mensch wünscht, ge hört neben der, möglichst gesund zu leben, auch jene eines mög lichst langen Lebens. Könnten diese Wünsche nicht der Motor einer ganzen Industrie werden? Freitas: Natürlich. Aber es wird auch immer eine Gruppe von Leuten geben, die nicht ewig leben wollen. Und es wird Leute geben, die nicht geheilt werden wollen. Es ist ihre Entscheidung, die neuen Mög lichkeiten nicht zu nutzen. Wird es nicht auch viele Menschen geben, die nicht das Geld haben werden, die Technologie zu ihrem Vorteil zu nutzen?
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Merkle: Das ist etwas anderes. Einer der entscheidenden Punkte ist, daß die Preise schnell fallen werden, wenn wir beginnen, molekulare Maschinen im industriellen Maßstab zu erzeugen. Das wird ähnlich sein wie mit der heutigen Software. Die Herstellungskosten werden rasch sinken. Etwas Ähnliches prognostizierten vor kurzem Wissenschaftler auf einem Gensymposion in Los Angeles. Sie behaupteten, daß in viel leicht fünfzehn Jahren jedem eine gute Gesundheit beschert werden könne, weil diese dank der Gentechnik so preiswert und einfach zu haben sei. Die Veranstaltung war voller Studenten, und sie mußten alle herzhaft lachen. Merkle: Tatsache ist, daß die medizinische Versorgung heute teuer ist. Nur die Versorgung der Jungen ist billig. Warum? Weil ihre mole kularen Maschinen gut funktionieren. Wir haben derzeit noch nicht die Möglichkeit, die Funktionalität des menschlichen Körpers wieder adäquat herzustellen. Die Menschen, die das Angebot der Nanotech nologie am ehesten annehmen werden, sind die, die am meisten zu verlieren haben. Wenn Sie eine schwere Krankheit haben, werden Sie alles versuchen, daß Sie geheilt werden. Das sind die üblichen Verheißungen. Was aber, wenn das Vorhaben scheitert, wenn sich das alles als technologische Seifenblase ent puppt? Merkle: Man kann einfach nicht mehr behaupten, molekulare Ma schinen zu bauen sei physikalisch unmöglich. Wie kann jemand, der selbst aus molekularen Maschinen besteht, so etwas behaupten? Wir haben biologische Modelle dafür, Mikroorganismen. Sie sind recht einfache molekulare Maschinen. Und Craig Venter behauptet sogar, daß schon wenige hundert Gene ausreichen, eine solche primitive biologische Nanomaschine künstlich herzustellen. Warum sollte es uns also nicht gelingen? Viele Wissenschaftler sind kulturell in einer Welt der Science-fiction groß geworden. Sie haben im Fernsehen "Star Trek" gesehen und Science-fiction-Bücher gelesen. Diese kulturellen Muster scheinen sehr mächtig zu sein. Gilt das auch für Sie? Freitas: Sicher war ich früher ein Trekkie.
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Glauben Sie, daß die für viele immer noch sehr fremde Nanotechno logie schneller und erfolgreicher von der Bevölkerung akzeptiert wird als etwa die Gentechnologie? Merkle: Wenn Sie auf die verschiedenen Szenarien sehen, wie sich die Nanotechnologie entwickeln könnte, dann ist die größte Sorge, daß die Politik etwas in ihren Augen Verlockendes, aber auch völlig Verrücktes tun würde: die Technologie vollständig zu verbieten. Das wäre ein gefährlicher Kurs. Selbst dieses Verbot könnte aber nur höchstens zu 99,9 Prozent effektiv sein. Und die Lücke, die die de mokratischen Staaten an dieser Stelle öffnen, könnten unverantwort liche Regime zur Entwicklung dieser Technologie für andere, bedroh liche Zwecke nutzen. Aber ist die Gefahr nicht extrem gering, nachdem sich Clinton ent schlossen hat, die Nanotechnologie öffentlich mit knapp einer Milliar de Mark zu unterstützen? Merkle: Ich hoffe es. Das Risiko ist heute wirklich kleiner, aber es ist immer noch schwer abzuschätzen. Wahrscheinlich wird sich sehr bald zeigen, wie nützlich diese Technologie ist. Dann ist Schluß mit dieser Diskussion. Gehören die künstlichen roten Blutkörperchen, die Sie in Ihrem Buch "Nanomedicine" beschreiben, zu diesen nützlichen Erfindungen? Freitas: Ich denke, ja. Die Respirozyten sind zwar noch nicht kon struiert, das Ganze ist erst ein Entwurf. Aber die Respirozyten sind sicher eines Tages machbar, wenn es möglich sein wird, Nanobots zu bauen. Ich stelle sie mir als winzige Gebilde vor, die aus ungefähr 18 Milliarden Atomen bestehen. Diese werden zu kleinen Kugeln von etwa einem tausendstel Millimeter Durchmesser arrangiert. Die Respirozyten bilden eine Art Gastank, der mit kleinen Pumpen ausge rüstet ist, unter Druck steht und den Sauerstoff in die Peripherie des Körpers transportiert. Geregelt wird der Gasaustausch durch winzige Sensoren. Die Respirozyten sind künstliche Ebenbilder der roten Blutkörperchen. Nur daß sie Sauerstoff hundertmal so effizient trans portieren wie ihre natürlichen Vorbilder. Wo kommt die Energie her?
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Freitas: Sie stammt von dem Zucker im Blut und dem Sauerstoff, der in den Kugeln gespeichert ist. Wir benötigen nur etwa ein Piko watt pro Nanobot. Was passiert, wenn diese Nanomaschinen beschädigt sind oder nicht richtig funktionieren? Freitas: Eine Möglichkeit, an die man sofort denkt, ist, daß sie exp lodieren könnten. Die Sicherheit läßt sich aber gewährleisten, wir haben das im Detail berechnet eingebaut. Eric Drexlers Buch aus dem Jahre 1986 heißt "Engines of Creation". Sind Sie dann so etwas wie seine Ingenieure? Freitas: Wir sind eher die Designer. Wann, glauben Sie, können solche Nanoapparate gebaut werden? Freitas: Nicht vor zehn oder zwanzig Jahren, vielleicht in dreißig Jahren. Das alles klingt so, als müßte Hollywood unbedingt mit Ihnen Kon takt aufnehmen. Freitas: Das hat es bereits. Tatsächlich arbeite ich mit Leuten der PBS zusammen. Wir drehen derzeit einen Film über die Zukunft der Medizin. Merkle: Wenn es soweit ist, wird man sich natürlich die Frage stel len, bei welchen Szenarien der Einsatz von Respirozyten sinnvoll ist. Wenn die künstlichen Blutkörperchen helfen, mich metabolisch am Leben zu erhalten, dann ist das sicher nützlich. Als genauso sinnvoll wird sich die Nanotechnologie in anderen technologischen Bereichen, der Materialforschung und der Mikrotechnik beispielsweise, erweisen. Sie prognostizieren eine industrielle Revolution? Merkle: Ja natürlich. Es wird die nächste Revolution sein. Die Nano technologie wird die Medizin, den Verkehr, die Werkstoffkunde und viele andere Gebiete verändern. Vieles läßt sich heute nur erahnen.
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Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein? Merkle: Wir benötigen zuerst einen Assembler, wenn wir molekulare Maschinen bauen wollen. Das ist ein kleiner Apparat, der winzige Kopien von sich selber herstellen und als winzige Fabrik dienen kann. Auf diese Weise ist es möglich, in immer kleinere Dimensionen vor zustoßen. Das ist unser großes, unser wichtiges Ziel. Der Assembler ist gewissermaßen die Verkörperung der Nanotechnologie. Wenn wir diese Technik beherrschen, dürfte es kein Problem sein, aus einzel nen Molekülen Bausteine und Maschinen zu produzieren. Das werden die meisten von uns sicher noch erleben. Die Fragen stellten Jordan Mejias, Joachim Müller-Jung und Frank Schirrmacher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.09.2000, Nr. 220 / Seite 59
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Zehntausend Jahre Einsamkeit
Wie wir unsere Nachkommen vor uns selber schützen wollen Ein Bericht an den Kongreß
Es ist ein "Bericht an eine Akademie", und er ist keine neunzig Seiten lang. Er scheint einem Science-fiction-Buch entnommen, basiert aber auf der Arbeit einer hochrangigen wissenschaftlichen Expertenkom mission. Sein Titel lautet: "Zehntausend Jahre Einsamkeit", und sein Verfasser heißt Gregory Benford. Benford ist erfolgreicher Sciencefiction-Autor, mit hohen Auszeichnungen versehener Physikprofessor an der Universität von Kalifornien und ständiger Berater der Nasa. Als Buch liegt das Dossier auch unter dem Titel "Deep Time - How Humanity Communicates Across Millennia" vor (Avon, 1999). Wem die zivilisatorischen Ängste, Visionen und Hoffnungen dieses anbrechenden Jahrhunderts übertrieben vorkommen, versehe sich mit diesem Buch. Wer der Zukunft der Kunst mißtraut, lese diese neunzig Seiten. Er wird auf deren glänzende Zukunft stoßen. Wer die wissenschaftliche Debatte der legitimierenden Macht der reinen Wis senschaft überlassen will, lasse sich hier eines Besseren belehren. Hier ist ein Beispiel für Geschichtspolitik, ein Anwendungsfall für Er innerungsstrategie. Es geht um die Grundfragen des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Wie schaffen wir Tabus? Wie setzen wir Verbote durch? Wie verhin dern wir, daß Menschen Grenzen überschreiten? Wie kann die mo derne Gesellschaft ein neues Nonplusultra errichten: Bis hierher und nicht weiter? Das ist gewöhnlich eine Frage für evangelische Akade mien, für Moralphilosophen und für Streitgespräche über die Grenzen des Machbaren. Hier aber geht es nicht um Moral. Die Kommission des Gregory Ben ford, besetzt mit Physikern, Anthropologen, Linguisten, Gehirnfor schern, Molekularbiologen und Kosmologen, hat vom amerikanischen Kongreß eine mit 1.8 Milliarden Dollar etatierte Aufgabe bekommen. Sie lautet: ein Zeichen- und Abwehrsystem zu entwickeln, das die amerikanischen Endlagerstätten für radioaktiven Müll vor zufälligen Eindringlingen schützt. "Sie meinen, die Salzstöcke sollen markiert werden...?" fragt Benford den Anrufer. "Ja", unterbricht der ihn, "ge nauso: Der Kongreß will einen Schutz für zehntausend Jahre."
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Was Benford jetzt beschreibt, ist nichts anderes als der Versuch, mit der Zukunft zu kommunizieren. Es ist das ebenso größenwahnsinnige wie verantwortungsbeladene Unternehmen, eine ferne Zukunft vor dem realen tödlichen Erbe unserer Gegenwart zu warnen. Es ist kei ne Phantasie und keine Science-fiction, sondern eine "Erbediskussi on" ganz eigener Art. Sie fragt: Wie können wir unsere Nachkommen vor uns selbst schützen? Wie können wir Grenzen ziehen, die Ein dringlinge vor dem Nonplusultra zurückhalten? Der Salzstock, an dem das "Pilote Project" seine Arbeit begann, be findet sich in Carlsbad, New Mexico. Die riskante Halbwertzeit des dort gelagerten und zu lagernden Atommülls beträgt zehntausend Jahre. Das Verkehrsministerium sagt voraus, daß in den Wüsten und Salzseen des Gebietes kaum neue Städte entstehen würden. Die Umweltschutzbehörde berechnet, daß der gelagerte Atommüll nicht mehr als tausend Tote in zehntausend Jahren verursachen würde. Das sind die Ausgangsbedingungen der Kommission. Zunächst erarbeitet sie ein Konzept, das sie "probability trees" nennt. Schon bald merkt sie, daß jede Form von politischer und sozi aler Prognose absurd ist. Sie arbeitet deshalb mit zwei politischen Arbeitshypothesen. Die eine geht von grundsätzlich neuen politischen Verhältnissen in den nächsten zehntausend Jahren aus, die andere nennt sich "USA Forever" und geht von einer Weiterexistenz der Ver einigten Staaten aus. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß atomare Endlagerstätten im Laufe von zehntausend Jahren aufgebrochen werden? Nach langwie rigen Berechnungen geht die Kommission von einer Wahrscheinlich keit von unter zehn Prozent aus. Die Energiebehörde erklärt, ein Ri siko von zehn Prozent sei tolerierbar. Jetzt stellte sich die Gruppe das nächste Problem: Welche Maßnahmen sind notwendig, um die Zu kunft zu warnen und den zehnprozentigen Gefährdungswert einzu halten? Der Physiker Bernard Cohen schlägt vor, den ganzen Betrag von 1,8 Milliarden Dollar bis auf einen Dollar in Sicherungsmarkierungen zu investieren. Ein einziger Dollar, so rechnet er der sprachlosen Fi nanzbehörde vor, der jetzt bei dreiprozentiger Verzinsung angelegt wird, wird in tausend Jahren zu 6 Milliarden Dollar. Cohen will die Behörde und den Kongreß schockieren und den Wahnsinn radioakti
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ver Endlagerung illustrieren: "Da wir das Geld nicht ausgeben, um heutiges Leben zu retten, sollten wir es auch nicht ausgeben, um zukünftiges Leben zu retten." Kein Ökonom, so argumentiert Cohen, würde Geld für tausend Jahre anlegen und verzinsen. Die moderne Gesellschaft aber nimmt das Zehnfache der Zeit für die Lagerung von tödlichem Gift in Kauf. Je mehr sich die Kommission mit der zu bewältigenden Zeitspanne beschäftigt, desto unheimlicher wird noch den abgebrühtesten Ex perten. Ur- und Altertumswissenschaftler werden eingeflogen und berichten über den Bau von Stonehenge und der Pyramiden. Wie mußte Stonehenge (1500 vor Christus) angelegt sein, um 3500 Jahre zu überstehen? Und wie übersteht ein Symbol 10 000 Jahre? Die Kommission läßt sich vom Limes, vom Hadrianswall, von der Großen Mauer berichten und formuliert ihren wichtigsten Grundsatz: groß=bedeutend (big=important) - diese Formel müßte auch in der Zukunft verstanden werden. Auch von den künftigen Generationen, die wir vor unserem Erbe warnen wollen. Herrscher und Künstler wollten immer schon unsterblich sein, und also sucht die Kommission in deren Hinterlassenschaften. Sie studiert die Rezeptionsgeschichte Homers und der Bibel, sie schickt Boten zu den Pyramiden, sie untersucht Granit, Beton, läßt sich vom Biblio thekar der "Library of Congress" den Lebenszyklus von Dokumenten erklären. Der Vorschlag, riesige Betonpfeiler zu errichten, wird verworfen. Un ter den Bedingungen der Erosion könnte der Salzstock in Carlsbad wie eine besonders wichtige und attraktive Stätte wirken und alle Arten von Grabräubern anziehen. Das Symbol für Radioaktivität wird getestet und schon von der Mitwelt nicht verstanden: "Warum", fragt einer, "werden hier soviel Schiffsschrauben vergraben?" Die Anthro pologen empfehlen Totenköpfe. Der Totenkopf erwecke wahrschein lich noch in Jahrtausenden einen natürlichen Fluchttrieb, denn er erinnere den Primaten an Zeiten, wo herumliegende Totenköpfe Auf gefressenwerden signalisierten. Aber ein Historiker erinnert daran, daß Totenköpfe bei den Alchimisten Wiederauferstehung bedeuteten, und ein Psychologe unternimmt Experimente mit Dreijährigen: Klebt der Totenkopf auf einer Flasche, rufen sie ängstlich "Gift", klebt er an der Wand, rufen sie begeistert "Piraten". Nach langwierigen Beratun gen erklärt die Kommission, daß menschliche Knochen - weitver
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streute Skelette - der wirksamste Schutz wären, vorausgesetzt, sie würden zehntausend Jahre überdauern. In mehreren Arbeitsschritten nähert sich die Gruppe der Herstellung des modernen Tabus an - eine Art aufgeklärter Pharaonenfluch soll entstehen und weitergegeben werden. Linguisten überprüfen die Möglichkeit, eine Art Warnung in die mündlichen Traditionen der Um gebung zu implantieren: moderne Märchen, die vor unheimlichen Orten bewahren sollen. Unterdessen berechnen Architekten, wie Be ton- und Granitpfeiler angelegt sein müssen, um heulenden, also unheimlichen Wind zu erzeugen. "Eine spukhafte Atmosphäre", so die Kommission, "ist eine Schutzmaßnahmen für Zeiten und Zivilisa tionen, die die Erinnerung an die Endlagerstätten verloren haben." Der Boden um die Endlagerstätte soll mit Keramik-, Eisen- und Steinplaketten buchstäblich gesät werden, die alle Arten von War nungen enthalten. "Das wird maximal zweitausend Jahre verstanden werden", sagen die Sprachwissenschaftler. Alle Beteiligten - Natur- wie Geisteswissenschaftler - sind sich in zwei Dingen einig. Erstens: Die radioaktive Endlagerung bedeutet mora lisch eine in der Geschichte bislang noch keiner Generation gestellte Verantwortung. Zweitens: Eine Warnung für künftige Generationen ist nur möglich, wenn eine Geschichte erzählt wird. Denn da die töd lichen Folgen der Strahlung zuweilen erst nach Jahren sichtbar wer den, muß unseren Nachkommen der Zusammenhang von Ursache und Wirkung unmißverständlich erzählt werden. Jon Lomberg, der zusammen mit Carl Sagan an der Voyager-Mission mitwirkte, stellt die Frage, die, wie Benford berichtet, die Kommissi on niemals lösen konnte: "Wie können wir sicher sein, daß unsere Markierungen nicht für Kunst gehalten werden? Wir wollen die Leute von dem Ort fernhalten. Wir wollen nicht, daß sie kilometerweit rei sen, um ihn sich anzuschauen." Und er macht den Vorschlag, die oberirdischen Markierungen selbst schwach radioaktiv zu gestalten, so daß auf der Oberfläche eine Art Todeszone entsteht. Die Arbeit der Kommission, so schreibt Benford, sei der "bislang um fangreichste Versuch unserer Gesellschaft, mit der Zukunft über den Abgrund der Zeit zu kommunizieren". Sie ist bis heute nicht abge schlossen. Es ist eine Kommunikation, in der die Semantik des Sak ralen mit seinen Verboten, die Sprache der Kunst mit ihrer suggesti
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ven Macht, der Wissenschaft mit ihrer Rationalität und Effizienz auf ziemlich einzigartige Weise zusammenkommen. Aber ihr Ziel ist nicht, Ruhm und Nachruhm zu verbreiten, sondern Tod durch die Herstellung künstlicher Tabus zu verhindern. Gregory Benfords "Deep Time" ist in seinem sachlichen Perfektionismus ein Vademe cum für unsere Zeit. Es ist ein Lehrbeispiel für unsere Unmöglichkeit, Grenzen zu ziehen. FRANK SCHIRRMACHER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2000, Nr. 209 / Seite 49
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Kugelstoßen kann jede Kanone besser
In der Selbsterhaltung sind die Maschinen dem Menschen allemal überlegen
Ein Rundblick über die Ruinenlandschaft der Rationalität Von Christoph Albrecht Die Prognosen von der Ablösung des Menschen durch die Maschine, wie sie Computerexperten heute vortragen, stoßen bei den Hütern des Geistes in den philosophischen Seminaren oft nur auf ein mitlei diges Lächeln: Noch nie etwas von Hegel gehört, die Guten! Doch taugt die philosophische Tradition wirklich als Bastion gegen den wis senschaftlichen Fortschritt? Sind ihre Fundamente tragfähig, oder ist sie eine gigantische Attrappe? In einem Vortrag vor der HölderlinGesellschaft in Tübingen hat Christoph Albrecht jetzt eine alternative Geschichte der neuzeitlichen Rationalität skizziert. Albrecht setzt der Legende der Aufklärung eine Schattengeschichte entgegen, in der Trickbetrüger und falsche Priester die Hauptrollen spielen. Die Bibel sah den Menschen als Herrn über alle Geschöpfe, doch seiner eige nen Geschöpfe, der Maschinen, wird er nicht mehr Herr. Täuschen die Philosophen den Menschen seit zweihundert Jahren über sein Schicksal, die Selbstabschaffung als letzte Steigerung der Selbstbe hauptung? F.A.Z. Drei Nachrichten aus der Ausgabe dieser Zeitung vom 15. Juni 2000: In Tübingen verstarb der Philosoph Walter Schulz. Schulz war ein Vermittler der idealistischen Philosophie. Er lebte in dem Be wusstsein, für die systematische Philosophie zu spät zu kommen. Er sah seine Aufgabe darin, den Menschen an sich selbst zu erinnern. Wer wird künftig den Menschen an sich selbst erinnern? In Australien ist zum zehnten Mal der jährlich stattfindende TuringTest erfolglos durchgeführt worden. Nach wie vor ist demnach das Sprachvermögen von Computern demjenigen durchschnittlicher Men schen unterlegen. Wir können unterscheiden, ob ein unsichtbarer Gesprächspartner, mit dem wir schriftliche Botschaften austauschen, eine Maschine ist oder ein Mensch. Wie lange können wir der Unver wechselbarkeit unseres Geistes noch gewiss sein? In Italien gelingt es, Hirnstamm und Rückenmark eines betäubten Fisches in einer sauerstoffangereicherten Salzlösung zu konservieren und mit einem Roboter zu verdrahten. Lichtsensoren stimulieren das
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Gehirn des Meerneunauges mit Lichtreizen und steuern indirekt das Verhalten des Automaten. Wissenschaftler sehen das Experiment als weiteren Schritt auf dem Weg zur technischen Unsterblichkeit des menschlichen Geistes. Man wird das Gehirn und seinen "Inhalt" nach dem Tod des Körpers konservieren, es an Apparate anschließen oder in "Elektronenhirnen" duplizieren. Was können wir von dieser Verhei ßung technischer Unsterblichkeit erhoffen? Auf dem Höhepunkt der Aufklärung, im Jahr IV der neuen Zeit, 1796, waren die Begriffe Gott und Unsterblichkeit nicht mehr ohne weiteres zu gebrauchen. In ihrem "Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus" machten Hegel und Hölderlin aus der Not eine Tugend. Die Kirche habe den Glauben vulgarisiert. Wir müssen Gott und Un sterblichkeit nicht aufgeben; man soll sie nur nicht mehr "außer sich suchen dürfen". Die Unsterblichkeit ist heute eine Verheißung der Techniker. Sie wird uns von außen aufgedrängt. Aber die mentalen Prothesen der Zukunft werden uns und unserem Geist - anders als Zahnersatz und Brillen, Telefone und Computer - nicht mehr "äußer lich" sein, denn sie werden unser Geist unmittelbar sein. Hans Blumenberg hat die Neuzeit auf den Begriff des Selbstbehaup tungswillens gebracht. Der Mensch gewinnt die Souveränität, das Menschliche zu übersteigen, es hinter sich zu lassen, sich davon zu befreien. Auch das Systemdenken der Idealisten kannte ein solches "Überschreiten". Die Vernunft "objektiviert" sich, sie prägt sich in ü berindividuellen Gestalten aus, die dem Menschen fremd gegenüber zustehen scheinen. Hegels Dialektik hebt den Schein der Fremdheit auf. Der menschliche Geist erkennt sich wieder im Staat, in den religi ösen Institutionen, in der Geschichte des Denkens. Selbst die Gestalt des "absoluten Geistes" hat letztlich ein menschliches Antlitz. Deshalb spendet das Festhalten an der Tradition des Idealismus bis heute ei nen gewissen Trost gegenüber den "entfremdenden" Wirkungen, die die neuzeitliche Rationalität auf die menschliche Seele ausübt. Die Hoffnung, dass die neuzeitliche Rationalität etwas dem Menschen nichts Fremdes sei, war jedoch von Anfang an trügerisch. Schon 1790 war der Mensch philosophisch verabschiedet worden. Mit dem Namen Hans Blumenbergs ist der Streit um die "Legitimität der Neuzeit" verbunden. Die Neuzeit hat sich ihrem Selbstverständ nis zufolge selbst geschaffen. Nichts will sie der Tradition zu verdan
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ken haben, von der sie sich durch einen Gewaltakt abstößt. Sie ist nicht bloß die Fortsetzung einer früheren Ordnung mit "säkularisier ten" Mitteln. Beispielsweise ist das Trägheitsprinzip nicht etwa eine andere Form der Ruhe eines unbewegten Bewegers. Es beruht viel mehr auf einer neuen Ontologie, einer neuen Art, wie uns die Wirk lichkeit überhaupt gegeben ist. Die Neuzeit bedeutet die Herrschaft der Vernunft; sie beendet die Herrschaft der Metaphysik. Sie ersetzt göttliche Willkür durch menschlichen Ordnungswillen. Anders als der Willkürgott des Mittelalters macht die Vernunft keine Sprünge. Wenn jedoch die Vernunft etwas Beständiges ist, wie kann sie dann plötzlich, ohne Einfluss von außen, aufgetaucht sein? Wie erklärt sich der Bruch zwischen ihren ersten Keimen in der Antike und ihrer Wiederauferstehung in der Neuzeit? Als eine ihrer Gewalt tätigkeiten hat die Aufklärung die Legende vom Priesterbetrug erfun den. Diese Verschwörungstheorie besagt, dass das Licht der Ver nunft, an sich unauslöschlich, durch die eigensüchtige Klasse von Priestern vorübergehend verdunkelt worden sei. Diese These tut den religiösen Bedürfnissen der Menschen Gewalt an. Die Kritiker des neuzeitlichen Machtanspruchs sagen deshalb, das angeblich Neue der Neuzeit verdecke nur den Fortbestand alter me taphysischer Institutionen - so dass etwa der Psychoanalytiker nichts anderes ist als ein säkularisierter Beichtvater. Feinde der neuzeitlichen Rationalität im achtzehnten Jahrhundert waren die deutschen Idealisten. Die Aufklärung scheitert an dem, was in Hegels "Ältestem Systemprogramm" Aufklärung durch Mytho logie heißt: "die Mythologie muss philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophie sinnlich zu machen". Das heißt zugespitzt: Idealismus ist die Fortsetzung des Priesterbetrugs mit anderen, bloß nicht mehr christlichen Mitteln. Die Religion dieser neuen Priester heißt nicht mehr Christentum, sondern Geschichtsphilosophie. Voltaire nannte das System des religiösen Fanatismus l'Infâme, die Niedertracht. Geschichtsphilosophie ist gewissermaßen die Niedertracht als Univer salgeschichte. Wenn jedoch die deutschen Idealisten Feinde der neuzeitlichen Rati onalität waren, wer waren dann ihre Freunde und Verteidiger? Das gegen die Aufklärung gerichtete Programm einer "Mythologie der
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Vernunft" ist keine originäre Leistung der deutschen Idealisten. Es lässt sich auf Fragen und Probleme zurückführen, die sich die Aufklä rer selbst gestellt haben. Der Idealismus, so lässt sich zeigen, ist eine Verballhornung der Aufklärung. Er mystifiziert Theorien der französischen Spätaufklärer. Diese Spätaufklärer waren die Verteidi ger der neuzeitlichen Rationalität um 1800. Sie lassen sich identifi zieren als die zwischen 1794 und 1802 - vom Sturz Robespierres bis zur Verkündung des Konkordats - in Europa tonangebende Schule der "Ideologen". Dieter Henrich gräbt in seinen wortreichen "Kontextualisierungen" und "Konstellationen" zwar gerne obskure Jenenser Theologen aus, aber eine methodische Untersuchung des deutschen Idealismus im Kontext der zeitgenössischen französischen Philosophie um 1800 hat es bisher nicht gegeben. Die von Hölderlin und Hegel aufgegriffene Frage einer "Mythologie der Vernunft" war zum einen auf der prag matischen Ebene der alltäglichen Modernisierung des Lebens gestellt worden. Sie wurde zum anderen auf einer ausdrücklich philosophi schen Ebene gestellt. Hier ging es um die Legitimität der metaphy sik- und traditionsfeindlichen neuzeitlichen Rationalität. Die Literatur der Volksaufklärung wollte die Masse der Bevölkerung bekannt machen mit neuen Techniken der Landwirtschaft, mit Me thoden der Hygiene, mit Praktiken der Familienplanung. Sie machte Propaganda für die Bauernbefreiung, das heißt für den "Agrarkapita lismus" der Grund- und Landesherren. Die Volksaufklärer hatten je doch mit Widerständen zu kämpfen: mit dem Aberglauben der Land bevölkerung, ihrem Gefühl, in den überkommenen Herrschaftsver hältnissen gut geborgen zu sein. Die Frage war nun, ob man der Landbevölkerung Geschichten oder sogar Lügen erzählen dürfe, um sie zu ihrem eigenen Glück zu bringen. 1780 hatte Friedrich der Gro ße die Preußische Akademie der Wissenschaften die Preisfrage stellen lassen, "ob und inwiefern irgendeine Art von Täuschung dem großen Haufen der Menschen zuträglich sein könne". Aufklärung war eine Strategie der politischen Macht. Aufklärung durch Mythologie war Machiavellismus. Die Akademie-Preisfrage ent hält bereits die ganze Dialektik der Aufklärung: dass die Aufklärung um ihrer Ziele willen ihr Prinzip verraten muss. Um der Vernunft wil len muss die Aufklärung ihr Ziel, die Wahrheit, verraten; um des Menschen willen muss sie die Menschen betrügen. Der Akademie
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Wettbewerb endete noch mit einem Unentschieden zwischen Befür wortern und Gegnern der Täuschung; es wurden zwei Preise verge ben. Zehn Jahre später jedoch wurde der Verrat der Wahrheit durch die Vernunft offen vollzogen. Die Zivilverfassung des Klerus vom 12. Juli 1790 hatte die französische Kirche materiell und spirituell enteig net. In seinen "Betrachtungen über die Revolution in Frankreich" stellt Edmund Burke fest, dass die Französische Revolution damit ihren eigenen Vernunftprinzipien widersprach, nämlich dem Men schenrecht auf Schutz des Eigentums. Damit hat Burke die Frage nach der Legitimität der revolutionären Vernunft gestellt. Auf diese Frage gab es zwei Antworten. Die eine Antwort kam aus dem Lager der Feinde neuzeitlicher Rationalität. Dieses Lager be trachtete die Revolution als metaphysisches Geschichtszeichen. Es hatte deshalb ein Interesse, sie zu legitimieren. Diese Antwort hieß Geschichtsphilosophie. Die eine Vernunft zerfällt danach in viele ge schichtliche Gestalten der Vernunft, die sich gegenseitig kannibalisie ren. Dieser Kannibalisierungsprozess ist die Erscheinungsweise des einen, absoluten Geistes und seiner Bewegung in sich selbst. Die aufklärerische Vernunft ist die historische Gestalt des Geistes, die das Christentum als eine obsolet gewordene Gestalt des Geistes kan nibalisiert. Vom Standpunkt des absoluten Geistes ist dies keine Fra ge der Legitimität, sondern der Notwendigkeit. Diese Geschichte vom Weltgeist ist eine Mythologie der Vernunft wie ich finde, eine ziemlich übergeschnappte. Aber auch die Verteidi ger der neuzeitlichen Rationalität und ihrer Prinzipienuntreue waren Mythologen der Vernunft - jedoch in einem anderen Sinn. Dies ist der Fall in den 1791 erschienenen "Ruinen" des französischen Reise schriftstellers und Philosophen Constantin-François Volney. Hölderlin und Hegel haben das rasch auch ins Deutsche übersetzte Buch gele sen. Es wurde nachgewiesen als Quelle für den späten Hegel und von Hölderlins Roman "Hyperion". Der vollständige Titel von Volneys phi losophischem Roman lautet: "Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche". Die Botschaft lautet: Politische Gebilde entstehen, sie erhalten sich eine Weile, und sie verschwinden wieder. Der objektive Geist ist nichts Ewiges, er ist vergänglich. Was heißt das für die behauptete Konstanz der Vernunft? Was sich in der Weltgeschichte konstant erhält, ist nicht mehr eine Substanz, sondern eine Funktion der Materie. Von Bestand ist nicht mehr die
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geistige Substanz namens "Vernunft", sondern die organische Funk tion "Selbstbehauptung". Die Vernunft ist nicht mehr der absolute Zweck der Weltgeschichte, sondern nur Mittel zu historisch zufälligen Zwecken. Vernunft fällt zusammen mit menschlicher Selbstbehauptung. Inso fern gilt das Konstanzpostulat der neuzeitlichen Rationalität weiter: Die Vernunft macht keine Sprünge. Dieses Postulat macht den Spät aufklärer und Revolutionär Volney - er selbst hatte auf die Enteig nung der Kirche hingewirkt - zum Feind der Revolution. Denn wenn die Vernunft plötzlich erscheint, kann sie ebenso plötzlich auch wie der vergehen. Nichts könnte die menschliche Selbstbehauptung ga rantieren. Sie wäre der Willkür nicht mehr eines göttlichen Willens, sondern, wie Burke prophezeit hatte, den Launen von Demagogen unterworfen. Volneys Buch bekämpft deshalb den metaphysischen Enthusiasmus, die romantische oder idealistische Interpretation der Revolution, die einen Höhepunkt erreichte auf dem Föderationsfest vom 14. Juli 1790. Volney zeigt: Es hat keinen absoluten Bruch zwi schen einer alten und einer radikal anderen, neuen Zeit gegeben. Durch diese Frontstellung gegen die metaphysische Leichtfertigkeit der Geschichtsphilosophie verschärft sich jedoch der Legitimations druck. Wenn nämlich die Vernunft die Theologie buchstäblich enteig net, wenn sie ihr rechtswidrig den irdischen Besitz raubt, dann ist dies ein schwerwiegender historischer Bruch mit dem gewachsenen Recht. Diesen tatsächlich revolutionären Bruch zu kaschieren wäre eine Täuschung, wäre Mythologie der Vernunft, wäre die Fortsetzung des Priesterbetrugs mit anderen Mitteln. Deshalb wählt Volney den entgegengesetzten Weg. Er beweist die Vernunft der Mythologie. Sein Buch ist die Arbeit der Aufklärung am Mythos. Volney rechtfer tigt die Mythologie, um die Vernunft zu rechtfertigen. Der Aufklärer Volney beweist, dass es keinen Gegensatz gibt zwi schen Vernunft und Religion. Wenn nämlich Vernunft und Religion prinzipiell dasselbe sind, dann ist die Säkularisierung des Kirchenei gentums keine Enteignung, sondern eine Übertragung, eine transla tio. Denn Religion ist dann bloß eine von mehreren historischen For men der Vernunft. So kann sie durch eine andere Form der Vernunft, die der Aufklärung, ersetzt werden. Volney geht es also um die Legi timität der Säkularisierung. Aber wie beweist Volney, dass Religion tatsächlich nur eine Form der Vernunft ist?
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Er benutzt dazu die Instrumente der Philologie und der Astronomie. Seine Argumentation übernimmt die Theorie eines Schülers des Ast ronomen Joseph Lalande, des Rhetoriklehrers Charles-François Du puis. Sein Werk ist eine Theorie des Ursprungs aller Religionen. Eine erste kurze Fassung erschien 1781, in sieben materialreichen Bänden erschien es 1794, neue Ausgaben erschienen 1866 und 1876. Eine Kurzfassung gab 1796 und 1798 der Chef der Ideologen-Schule, An toine Destutt de Tracy, heraus. Eine deutsche Übersetzung der ers ten Fassung erschien 1787 bis 1789 unter dem Titel "Ursprung der Sternbilder und die daraus zu erklärende Mythologie". Die Wirkung dieses Werks ist noch nicht erforscht; aber wir können sie erkennen bei David Friedrich Strauß, im Bibel-Babel-Streit um 1900, und viel leicht in dem brillanten Buch von Robert von Ranke-Graves über die "Sprache des Mythos", "Die weiße Göttin" - einer sehr feinsinnigen Untersuchung zum Wesen der Poesie. Mit den philologischen Mitteln einer vergleichenden, quasi "struktura len" Mythenanalyse führt Dupuis die Mythen der Weltreligionen auf einheitliche Grundmuster zurück. "Das Thema ist, kurz gesagt", um es mit Ranke-Graves zu formulieren, "die alte, in dreizehn Kapitel und einen Epilog unterteilte Geschichte von Geburt, Leben, Tod und Auferstehung des Gottes des zunehmenden Jahres; die zentralen Kapitel handeln davon, wie der Gott den Kampf mit dem Gott des abnehmenden Jahres verliert, aus Liebe zur kapriziösen, allmächti gen Dreifachen Göttin, der beiden Mutter, Braut und Führerin." Du puis deutet die Mythen als astronomische und physikalische Allego rien. Volney ergänzt dies durch eine zeichentheoretische Erklärung religiösen Aberglaubens als ungewollten Missbrauchs von Poesie und Metaphorik. Am Anfang war die Berechnung der regelmäßigen Überflutungen des Nils mit Hilfe astronomischer Beobachtungen. Am Anfang war also der Kalender. Aus mnemotechnischen Gründen hat man Bilder und Geschichten in die Konstellationen der Sterne hineinprojiziert. Diese Geschichten erzählen den Aufgang und das Verschwinden bestimm ter Sternbilder als die Geburt und den Tod der Götter im Jahreszyk lus. Irgendwann hat man den technischen Ursprung dieser Geschich ten, ihre zeitmessende Funktion, vergessen. Die Götter und ihre Ta ten waren nicht länger bloße Metaphern, sondern sie stiegen als rea le Gestalten auf die Erde hinab. Der "Priesterbetrug" beruht also nur auf einem Vergessen, auf einer Entartung des poetischen Prozesses,
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nicht auf böswilligem Vorsatz. Die Priester sind selbst die Betrogenen der Mythen, die sie erzählen, sie sind Opfer eines zu gut funktionie renden Zeichensystems. Poesie und Mythenbildung sind für Volney also ein Teil der Vernunft. Bei Hölderlin heißt es scheinbar ähnlich, dass "alle Religion ihrem Wesen nach poetisch" ist. Aber der Unterschied zwischen dem Positi visten Volney und den Idealisten ist klar: Die Idealisten wollen die Poesie "wieder zur Lehrerin der Menschheit" machen, die sie am An fang gewesen sei. Für Volney und die Schule der Ideologen in Frank reich dagegen steht fest: Die Schule der Menschheit und ihrer offe nen, anti-metaphysischen Gesellschaft kann nur die Naturwissen schaft vom Menschen sein, eine historische Analyse der Geschichte seiner Denkwerkzeuge, eine physiologische Analyse seines Denkor gans, eine technische Analyse seiner informationsverarbeitenden Prozesse. Den Mythos der Vernunft ersetzt Volney durch die Funktion Selbst behauptung. Selbstbehauptung ist eine Funktion beliebiger autopoie tischer, sich selbst reproduzierender Systeme. Der Mensch ist damit in seiner ontologischen Einzigartigkeit bereits geopfert. Die Mystifika tionen des deutschen Idealismus verschleiern diese "seinsgeschichtli che" Tatsache. Sie leben in geistes- oder neuerdings so genannten "kulturwissenschaftlichen" Seminaren noch fort. In zwanzig oder dreißig Jahren wird die Vernunft von Menschen nicht mehr unter scheidbar sein von der Vernunft maschineller Systeme. Computer werden den Turing-Test bestehen. Dann ist die Vernunft eine endgül tig verlorene Illusion. Gegen die Übermacht der Maschinen können wir uns schon heute nichts mehr von ihr erhoffen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.06.2000, Nr. 145 / Seite 54
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Internetlinks
zu interessanten Themen rund um die Science Fiction. Science Fiction Writers of America Der Verband der amerikanischen Science Fiction Autoren. Hier erfahren Sie aus erster Hand alles über neue Trendes im Genre. Interessante Linkliste zu den Themen SF-Business sowie Wissenschaft und Literatur. The Alternate View Sind Zeitreisen möglich? Wann werden wir uns von A nach B beamen lassen? Der SF-Autor John G. Cramer befasst sich in seinen Kolum nen mit dem Verhältnis von Fiktion und dem Stand der Wissenschaft. EurekAlert! Hier findet die Zukunft statt! Eurekalert bietet Zugriff auf die neues ten Erfindungen in allen Bereichen der Wissenschaft. Was gestern noch Fiction war, ist heute schon Science. SETI-Institut Das SETI- Institut sucht nach Quellen extraterrestrischen Lebens. 2001-Odyssee im Weltraum Was hat es auf sich mit HAL 9000? Das Massachussetts Institute of Technology ist dieser Frage nachgegangen und hat erstaunliche Ant worten gefunden. Bad Astronomy Phil Plait klärt auf über Mythen und Mißverständnisse in der Welt raumforschung. Ist die Mondlandung Wirklichkeit oder Science Ficti on? Finden Sie's raus. Raumfahrtgeschichte Die "History"-Webseiten der Nasa bieten einen umfassenden Über blick über die Geschichte der amerikanischen Raumfahrt. Alle Missio nen werden detailliert beschrieben. Teilweise ermöglicht die Seite den Zugriff auf Originaldokumente der Nasa-Missionen. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt Auf den Webseiten des DLR finden sich Informationen zur deutschen Weltraumforschung. Der phantastische Blick ins All Alle für die Öffentlichkeit zugänglichen Aufnahmen des Weltraumte leskops Hubble finden Sie auf den Seiten des Space Telescope Scien ce Institute. Mission to Mars Die offizielle Webseite der Odyssey-Mission zur Erforschung der Mars-Oberfläche.
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Mars-Society Freiheit für den Mars! Die Webseiten der amerikanischen MarsSociety bieten ein Spektrum von skurril bis wissenschaftlich fundiert. Robotics Server der University of California Der Robotics Server in Berkeley gibt einen aufführlichen Überblick über die heutigen Einsatzmöglichkeiten von Robotern. Außerdem wird die Arbeit des Institutes dargestellt. Germrob Der deutsche Robotikserver mit Informationen und Links rund um das Thema Robotik. Foresight Institute Das Foresight Institute hat eine informative Webseite zum Thema Nanotechnologie mit vielen, thematisch geordneten Dokumenten und Links erstellt. Wer allgemein etwas über das Thema Nanotechnologie erfahren will, wird hier genauso fündig werden wie alle, die an spe ziellen Aspekten interessiert sind. International Technology Research Institute In der Nanotechnologie-Datenbank des International Techology Re search Institute am Loyola-College der Universität Maryland sind In formationen und Links zu Forschungszentren, Geldgebern, Ergebnis berichten und Literatur sowie Veranstaltungshinweise verzeichnet. Nanoclub Lateral Der Nanoclub Lateral ist ein deutsches Netzwerk von mehr als 50 Forschungsinstituten und 20 Industrieunternehmen, die sich auf Er zeugung und Einsatz von lateralen Nanostrukturen konzentrieren. Der Internet-Auftritt umfaßt Informationen über laufende For schungsprojekte und Veranstaltungshinweise. Space.com Hier wird ein NASA-Projekt vorgestellt, in dem künstliche Ameisen den Weltraum erforschen sollen. Arbeitsgemeinschaft der deutschen KI-Institute Die AKI stellt sich und ihre Arbeit vor. Die Webseite bietet einen gu ten Überblick über die praktischen Anwendungen der künstlichen Intelligenz. Das Deutsche Forschungszentrum für künstliche Intelligenz in Kaiserslautern
Das erste deutsche kommerzielle Forschungszentrum für KI stellt sich und seine Projekte auf diesen Seiten vor. Der "neue" Mensch? Hier finden Sie die Extropier und ihre Philosophie von der Überwin dung menschlicher Grenzen mit Hilfe neuer Technologien.
zusammengestellt vom F.A.Z.-Archiv
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Science Fiction und Literatur Der Futurologische Kongress
Die Menschheit, zweiter Versuch Führt der Weg ins Paradies durch das Genlabor? Margaret Atwoods neuer Roman verwischt die Grenzen zwischen Forschung und Fiktion Die Wesen, die in der Wildnis leben, sind vollkommen friedlich. Sie kennen keine Gewalt, ernähren sich vegetarisch, sind unfähig zu Ei fersucht und Lüge, dafür aber voller Ehrfurcht gegenüber Pflanzen und Tieren - so haben sich Generationen von Entdeckungsreisenden jene edlen Wilden erträumt, die sie in weiter Ferne des zivilisations müden Europa zu finden hofften. Kein Volk aber entsprach dieser Projektion jemals so genau wie die Craker. Das ist kein Wunder: Sie verdanken ihre Existenz einem allzu talentierten Genetiker. Er hat sie geschaffen, in einer künstlichen Urwaldsphäre erzogen und von Geburt an mit allem ausgestattet, was ihm nützlich erschien, um in einer von Umweltzerstörung und Klimaveränderung gezeichneten Welt zu überleben. Dazu gehört et wa, daß die Craker gegen UV-Strahlen resistent sind. Aber sie tragen auch die Launen ihres Schöpfers im Gesicht geschrieben: Der näm lich mochte grüne Augen, aber keine Bärte, und so haben die Craker alle die gleiche Augenfarbe und brauchen sich nicht zu rasieren. "Oryx und Crake", der jetzt erschienene neue Roman der kanadi schen Erfolgsautorin Margaret Atwood, schildert in einem raffinierten Gewebe aus Science und Fiction nichts Geringeres als den Untergang der Menschheit - der Genetiker Crake beläßt es nicht bei der Erschaf fung des neuen Menschengeschlechts, sondern entwickelt gleichzeitig ein extrem ansteckendes Virus, das am Ende bis auf die Craker und einen Schulfreund ihres Schöpfers alle dahinrafft. Es ist ein düsteres Bild, das die Autorin zeichnet, und es hellt sich auch nicht durch die Verweise auf die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Zukunftsvision auf. Denn Atwood betont in einem Kommentar zu ihrem Roman, sie habe "nichts erfunden, was wir nicht bereits erfunden haben oder dabei sind, es zu erfinden". Sie schildert eine zweigeteilte Gesellschaft, deren weitaus größerer Teil in einer zu nehmend verseuchten Umwelt mehr schlecht als recht lebt, während sich eine kleine privilegierte Schicht in streng abgeschirmten Luxus
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arealen mit Genforschung und deren kommerzieller Nutzung be schäftigt. Obwohl es von seltsamen Mischwesen wie aggressiven Hu nölfen, schmackhaften, aber kopflosen Chickie Nobs oder anderen Bioformen nur so wimmelt, sind die Naturgesetze keineswegs außer Kraft gesetzt. Der Roman dekliniert die These durch, daß die Biolo gen mit dem Griff ins evolutionäre Erbe zu einer Anthropotechnik finden werden, mit der nicht länger das natürlich vorgegebene, son dern das naturgesetzlich Mögliche Wirklichkeit wird. Bei Atwood ist das Proteom längst entschlüsselt, die Karte der Gesamtheit aller Ei weiße im menschlichen Körper. Genspaltungen sind Alltag, das Zer schneiden und Neukombinieren von Genen verschiedener Spezies wird schon von Studenten beherrscht. Artenbarrieren können einge rissen und genetische Baupläne selbst zwischen entfernten Lebewe sen nach Belieben ausgetauscht werden. Die Referenzen in die reale Welt der Forschung sind allgegenwärtig. Zwar scheint die Annahme heute völlig überzogen, man könne kom plexe Eigenschaften wie die Fähigkeit zum Wiederkäuen auf der ge netischen Ebene verstehen, geschweige denn - wie im Roman be schrieben - von Kühen auf die Craker verpflanzen. Aber immerhin: Die Vorläufer jener Organschweine, die bei Atwood als humanisierte Organspender dienen, stehen schon heute in den Ställen. Der Albtraum der liberalen Eugenik, die Jürgen Habermas in der Embryonendebatte als Utopie eingesetzt hatte, wird bei Atwood kon sequent durchgespielt. Im genetischen Supermarkt der Körperkom plexe gibt es alles, was das Herz begehrt, Irrtümer samt deren Repa ratur inbegriffen: "Versuchen Sie's mit SnipNFix: Erbkrankheiten hier entfernen lassen! Warum so klein? Werden Sie ein Goliath!" Eine absurde Vorstellung? Zwar kann derzeit niemand dank Gen technik groß wie Goliath werden, aber gentechnisch hergestellte Wachstumshormone lassen schon heute kleinwüchsige Kinder höher schießen. Dank Gentechnik Erbkrankheiten zu korrigieren - davon träumen viele Mediziner und Patienten. Sogenannte Eingriffe in die Keimbahn des Menschen sind zwar derzeit tabu und technisch nicht möglich. Ein Blick auf Labormäuse lehrt aber, daß die Technik, an gewandt bei Tieren, rasante Fortschritte macht. Der gezielte und ort genaue Austausch von Genen ist im Mauslabor heute Alltag. Sogar künstliche Chromosomen als Träger gewünschter Gene in menschli chen Zellen werden entwickelt, um Erbanlagen auszutauschen. Ver
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mutlich dürften sich bei der Maus schon bald gentechnisch veränder te Eizellen und Spermien nach Belieben züchten lassen - aus embry onalen Stammzellen. Die technische Realisierbarkeit einer Keimbahntherapie beim Men schen halten selbst seriöse Wissenschaftler wie Mario Capecchi von der Universität Utah in Salt Lake City keinesfalls für ausgeschlossen: "Aber wir sprechen bei der Realisierbarkeit am Menschen nicht über Jahre, sondern über Jahrzehnte." Der Schritt von der Korrektur ge nau definierter Abweichungen im Erbgut hin zur gezielten Verände rung oder gar zum Umbau komplexer biologischer Funktionen mar kiert derzeit die Grenzlinie zwischen seriöser wissenschaftlicher Prognose und Science-fiction. Was aber, wenn künftig neue Entde ckungen etwa die Funktionsweise des Gehirns molekular so aufklären wie früher den genetischen Code? "Wenn wir nicht Gott spielen, wer soll es dann tun?" provozierte James Watson jüngst in einem Inter view. Der Nobelpreisträger, der vor fünfzig Jahren zusammen mit Francis Crick die Struktur der DNS enträtselte, hält den Wunsch des Menschen nach permanenter Selbstverbesserung für angeboren: "Lahme lernen nicht durch Handauflegen wieder gehen, sondern durch Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Medizin." Atwood führt die sen Gedanken konsequent zu Ende und postuliert dazu noch den Tri umph des Ökonomischen über die Medizin - alles ist käuflich in der Welt von "Oryx und Crake", und genau dies wird ihr zum Verhängnis. Denn dies ist die Pointe von Atwoods Wissenschaftsvision: Wenn al les möglich ist, wird auch alles ausprobiert, wenn sich nur genügend Forscher finden, die die Ressourcen ihrer Labors für ein bestimmtes Ziel einsetzen. Je größer dabei der Aufwand ist, desto übermächtiger muß - so kann man rückschließen - der ursprüngliche Wunsch gewe sen sein, dessen Erfüllung so viele visionäre Köpfe beschäftigt hat. Der größte Traum von allen aber, so erscheint es hier, ist der senti mentale von einer reinen, unschuldigen Menschheit, die gar nicht auf den Gedanken käme, durchs Mikroskop zu schauen und den Labor kittel anzuziehen. Wie in Kleists "Marionettentheater" träumt auch Crake vom Wiedereinzug ins Paradies durch die Hintertür. Dafür op fert er buchstäblich alles, neben dem Leben unzähliger anderer auch das eigene, und erweist sich damit als negative Christusgestalt nicht zufällig trägt sein Forschungsprojekt den Namen "Paradise", und die Craker erblicken pikanterweise im Watson-Crick-Institut das Licht der Welt.
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Die Vorstellung, mit der Menschheit noch einmal ganz von vorn an zufangen, beschäftigt die Literaten, seit es die Literatur gibt, und schon die Autoren des Alten Testaments hatten so viel Freude an diesem Thema, daß sie die Erschaffung des Menschen kurzerhand zweimal schilderten. Die Reihe derer, die auf naturmagischem, me chanischem, elektromedizinischem oder eben genetischem Weg ihren Artgenossen ein verbessertes Modell gegenüberstellten, ist lang, und das Bestreben der jeweiligen Schöpfer, in Konkurrenz zu Gott zu tre ten, ist augenfällig - oft genug werden sie dafür grausam bestraft. Atwood setzt mit der Figur Crake einen neuen Akzent, denn seine Bereitschaft, in dem Moment von der Bühne abzutreten, in dem die neuen Geschöpfe in die Freiheit entlassen werden, ist ungewöhnlich, aber nur konsequent - er weiß, daß ihr Gott den Crakern nicht phy sisch begegnen darf, um ihnen keinen alternativen Lebensentwurf vor Augen zu stellen, damit sie nicht vom Pfad der programmierten Unschuld abweichen. Hier allerdings entfernt sich Atwood weit vom Boden gesicherter For schung, und während sie sonst die Grenze zwischen Erkenntnis und Spekulation umtriebig verwischt, ist hier der Abstand augenfällig. Da kommt es zu unfreiwillig komischen Szenen, wenn etwa die männli chen Craker mit blauen Penissen winken, um ihre nur einmal in drei Jahren brünstigen Weibchen zu umgarnen. Sex sei endlich "keine Wolke turbulenter Hormone" mehr, schwärmt Crake. Spätestens hier, bei der Modulation komplexer Verhaltensweisen, wird es biolo gistisch und zugleich völlig unrealistisch, etwa wenn Crake erzählt, er habe das alte Primatenhirn so verändert, um "destruktive Merkmale" zu entfernen, die für die "Übel der Welt verantwortlich sind". Da taucht er wieder auf, der offenbar unausrottbare Glaube, daß es Ge ne für das Gute und Böse gebe, daß man die Übel der Menschheit an der genetischen Wurzel packen könne. Weil aber Atwood am Ende andeutet, daß sich Crake verrechnet haben könnte, steuert ihr Wis senschaftsroman auf die Einsicht zu, daß der Alte Adam auch die erstaunlichsten Manipulationen überleben kann. Margaret Atwood: "Oryx und Crake". Berlin Verlag, 24,- Euro. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01.06.2003, Nr. 22 / Seite 55
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Anleitung zum Bau einer Zeitmaschine
Der Epochentourismus boomt:
Wovon Hollywood mit Crichtons "Timeline" nur träumt,
das hat Professor Mallett fast vollendet
Die Welt mag alles sein, was der Fall ist - doch manchmal ist es gar nicht so einfach festzustellen, was überhaupt die Welt und was ein Fall ist. Im Kino und in der Literatur war es zum Beispiel schon im mer ziemlich einfach, durch die Zeit zu reisen. Ein neues Bild, ein neuer Absatz, und schon war man aus dem Heute in die Steinzeit oder ins Jahr 802 701 gereist, und alle Technik war ein Kinderspiel. Die Apparate, die man in Fernsehserien wie "Time Tunnel", in der Filmtrilogie "Zurück in die Zukunft" oder in H. G. Wells' mehrfach verfilmtem Genre-Klassiker "Time Machine" sah, sie spiegelten vor allem den jeweiligen Stand der Designerphantasien, und ihr gehei mer Antrieb war weniger solare oder atomare Energie, als das Unbe hagen an der Gegenwart. Man reiste unbekümmert um die Paradoxa, die zugleich mit dem ers ten Zeitreise-Roman, Edward Page Mitchells "The clock that went backward" (1888), in die Welt kamen. Wer eine Zeitmaschine baute, zerbrach sich eher selten den Kopf über das Paradox, daß der Zeit tourist ja theoretisch seinen Großvater ermorden und damit verhin dern könnte, daß er selbst geboren werden würde - wodurch er gar nicht erst zurückreisen und den Großvater umbringen könnte. Noch die "Terminator"-Filme ließen den Cyborg Schwarzenegger aus der Zukunft kommen, um die Gegenwart um ihr Futur zu bringen - die Faszination der Zeitreise wurde dadurch nicht geringer, daß sich der Plot in den Fallstricken des "Großvater-Paradoxes" verhedderte. Die Zeit als Gartenschlauch Doch längst haben Schriftsteller auch die Erkenntnisse der Physik über Raum und Zeit adoptiert, wenn sie ihre "Fiction" aus der "Scien ce" entwickeln. Die Historikergruppe, die Michael Crichtons Roman "Timeline" (1999) ins Frankreich des 14. Jahrhunderts schickt, ope riert auf der Basis der Quantentheorie. Und wenn Archäologen in Andreas Eschbachs "Das Jesus Video" (1998) in einem 2000 Jahre alten Grab die Bedienungsanleitung für eine zum Zeitpunkt der Aus grabung noch nicht im Handel erhältliche High-Tech-Videokamera
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finden, ist ihnen Stephen Hawkings "Eine kurze Geschichte der Zeit" so vertraut wie das "Großvater-Paradox". Kein Wunder, daß Crich tons Roman längst zum 3D-Adventure auf CD-ROM wurde und der zeit ebenso verfilmt wird wie Eschbachs Exkursion. Während der Re gisseur Richard Donner ("Lethal Weapon") Anfang April in Montreal mit den Dreharbeiten zu "Timeline" begonnen hat, produziert ProSie ben in Marokko "Das Jesus Video" als zweiteiliges TV-Movie. In die Welt des Sichtbaren, in den vertrauten Raum der alltäglichen Wahr nehmung überführt, wird die Technologie der Zeitreise zur lösbaren Aufgabe, erst recht bei Eschbach, der mit einem gekonnten erzähle rischen Trick alle technologischen Probleme umschifft. Und so wirkt es fast wie eine Antwort auf die Fabrikationen der "Fic tion", wenn nun auch ein Professor für theoretische Physik wieder einmal mit dem Phänomen der Zeitreise flirtet. Ronald L. Mallet heißt der Mann, und auf der Website sieht er eher wie ein älterer Rapper aus (siehe unser Foto) und nicht so, wie man sich einen Physikpro fessor vorstellt. Die Finger an die Schläfen gepreßt, eine kleine, mys teriöse Apparatur vor sich, schaut der 57jährige Professor für theore tische Physik an der University of Connecticut aus dem Bild auf sei ner Website. Und als der "Boston Globe" vor kurzem von Malletts Plänen für eine Zeitmaschine berichtete, da geriet man im Raum des World Wide Web gleich selber in eine Zeitfalte - 90 Prozent aller Fundstellen zu Mallett datieren aus dem Monat Mai 2001, als er mit derselben Theorie schon einmal seine Kreise gezogen hatte. Was diesen "time lag" bewirkt hat, war von Mallet nicht zu erfahren; was den seriösen Wissenschaftler in den "Time Tunnel" treibt, klingt da gegen wie der Ausgangspunkt zu einem Hollywood-Szenario: Um seinen Vater, der vor Jahrzehnten an Lungenkrebs starb, vor den Gefahren des Rauchens zu warnen, habe er sich der Erforschung der Zeitreise verschrieben. Malletts Idee - oder was der Alltagsverstand begreifen kann - beruht auf der Einsteinschen Konzeption der gekrümmten Raumzeit. Sie besagt, daß jedes Stück Materie den Raum und die Zeit in seiner Umgebung beeinflußt. Bei entsprechendem Energieaufwand müßte sich die Raumzeit daher soweit verbiegen lassen, daß aus der Krüm mung ein Kreis wird - Crichton-Leser kennen das als CTCTechnologie, wobei CTC für "closed timelike curve", also für eine ge schlossene, zeitartige Bahn steht. Man kann sich das, ganz naiv, vor stellen, als verböge man einen Gummischlauch mit so großer Kraft,
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daß er sich zu einem Ring schließt. Malletts Überlegungen sind ge deckt durch die Erkenntnisse eines renommierten Astrophysikers namens J. Richard Gott III, der nachgewiesen hat, daß es durchaus Zeitschleifen geben kann - im Gegensatz zu Stephen Hawking, der erklärt hatte, die physikalischen Gesetze gestatteten die Existenz einer geschlossenen Kreisbahn nicht. Auch wenn solche Kurven keine Reisen ins Morgen erlauben, so werden doch die bekannten Parado xien vermieden. Weil der Zustand der CTC mit sich selbst überein stimme, so Gott III, habe die Reise ins Gestern auch keine Auswir kungen auf spätere Ereignisse: Der Zeittourist existiere in einem pa rallelen Universum. Der Clou von Malletts Theorie liegt nun darin, nicht Materie, sondern Licht zur "Verbiegung" der Raumzeit einzusetzen. Zwei Laserstrahlen sollen einander auf der gleichen Kreisbahn entgegenlaufen, so daß Raum und Zeit ihre Rollen tauschen, während im Innern des Strahls die Zeit zirkuliert. Das Problem der erforderlichen Energiemenge wird durch den experimentell gestützten Beweis "verschoben", daß Licht die Raumzeit desto stärker beeinflußt, je langsamer es ist. Licht wie derum läßt sich von seinen rund 300 000 Kilometern pro Sekunde auf circa 60 km/h abbremsen. Auf dieser Grundlage wollen Ronald Mallett und einige Kollegen demnächst klein anfangen - mit einem subatomaren Partikel im Lichtkreis. Die benötigte "Lichtbremse" funktioniert allerdings nur in der Nähe des absoluten Temperatur nullpunkts, bei Minus 273,15 Grad Celsius. Experten wenden zudem ein, selbst bei Gelingen dieses Experiments handle es sich nur um ein Signal, das durch die Zeit geschickt werde. Der Pauschaltourist ins Gestern bleibt also vorerst eine Schimäre, obgleich Mallett behauptet, es handle sich dabei bloß um ein "engi neering problem": "Wir bewegen uns an der Grenze gegenwärtiger Technologie, nicht jenseits dieser Grenze." Diese rhetorische Figur ist noch atemberaubender als jede Formel, da in den theoretischen Vor annahmen der Physiker für die Lösung des "engineering problems" weit mehr Energie verlangt ist, als diese derzeit zu mobilisieren wüß ten. Auch in Crichtons Roman wird dieses Problem durch rhetorische E nergie bewältigt. Die Reisenden gelangen durch sogenannte Wurmlö cher im sogenannten Quantenschaum ins 14. Jahrhundert - wo die Winzigkeit des Wurmlochs jedes Vorstellungsvermögen übersteigt,
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hilft die Metaphorik als Mikroskop. " ,Man kann überhaupt nichts durchschicken.'", heißt es in "Timeline". ",Vollkommen richtig', sagte Gordon. ,Man kann auch kein Blatt Papier durch eine Telefonleitung schicken. Aber man kann ein Fax schicken.'" Daß das "Fax" die kom pletten Informationen für ein menschliches Wesen umfaßt, die zu komprimieren und zu verschlüsseln sind, ist in der Fiction nur eine Frage der Datenverdichtung - "wie JPEG oder MPEG für Bilddaten". Wenn die Analogien elegant Abgründe überspannen, folgt ihnen leichtfüßig die Phantasie: Wie hätte, sagen wir, Ridley Scotts Film "Gladiator" ausgesehen, wenn ein Team aus der Zeitschleife mit Digi talkamerabildern des Kolosseums zurückgekommen wäre, statt auf vorsichtige Vermutungen von Althistorikern und Archäologen setzen zu müssen? Wie wirkt der erste Kreuzzug in Digital Video; wie die Bilder einer Pauschalreise zur Kaiserkrönung Napoleons im Invali dendom? Vermutlich genauso wie jene "dokumentarischen" JesusBilder aus dem Palästina der Zeitenwende, die sich die Protagonisten gegen Ende von Andreas Eschbachs Roman anschauen. So elektrisie ren die Impulse aus der Physik die populäre Mythologie: Der Stoff wird neu aufgeladen, seine Suchtwirkung intensiviert, auch wenn jede neue Version allenfalls eine symbolische Wunscherfüllung ist. Denn zugleich entsteht mit der Lösung des alten ein neues Paradox: Aus den Fragen an die Vergangenheit erhofft man sich Antworten für die Zukunft, obwohl - oder weil - die Zeit der Großen Pest so wenig zur tröstenden Projektionsfläche taugt wie die römische Besatzung in Palästina. Und wie in der "geschlossenen zeitartigen Kurve" kommt man wieder in einer Gegenwart an, deren kleinere und größere apo kalyptische Ängste gerade durch den Trip ins Gestern therapiert wer den sollten. Das Rätsel der Umwandlung Natürlich hat diese Zickzackbewegung zwischen den Zeiten auch da mit zu tun, daß die Wissenschaft ihre eigenen Traumbilder produ ziert, die sie in endlosen Formelketten aufzeichnet, Formeln, an de ren praktischer Umsetzung wiederum andere Wissenschaftler ver zweifeln, weil in einer Welt der Fall ist, was in der anderen wie ein Unfall aussieht. Doch wenn Bruchstücke davon aus den Mauern der "scientific community" in die Öffentlichkeit gelangen, entsteht aus dem Transfer so etwas wie eine Unschärferelation: Auf den Seiten eines Buches oder einer Leinwand erscheinen Raumzeit oder Quan
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tenschaum, die allen Vorstellungen des alltäglichen Bewußtseins zu widerlaufen, als bereisbare Welten. Ähnlich wie bei der Entzifferung des Humangenom ist nicht der beschränkte Geltungsrahmen einer Theorie der Katalysator, sondern deren phantastischer Überschuß, der automatisch Albträume und Visionen freisetzt. Wie bei Freud Tagesreste in einen Traum eingehen können, so wan dern hier Erkenntnisreste in die Bilderwelten kollektiver Vorstellun gen und Mythen. In solchen "Bearbeitungen" kommen die erste Kul tur der Natur- und die zweite Kultur der Geisteswissenschaften zu mindest für eine Zeitlang zusammen - die Formel, die diesen Um wandlungsprozeß beschreibt, ist vermutlich ein größeres Rätsel als die Berechnung jener Kurve, die sich zum Kreis schließt. Und weil selbst theoretische Physiker nicht nur im subatomaren Raum leben, weil sie in der Eiswüste der Abstraktion gelegentlich nach Oasen der naiven Anschauung suchen, ist auch Ronald L. Mallett schon einmal kurz in die Zukunft gereist: Die Regierung werde gewiß Gesetze er lassen, um den Zeitreiseverkehr zu regeln, wenn es soweit sei, beru higte er den "Boston Globe". Das ist zwar so rührend und absurd wie der gute Rat, sich bei minus 275,13 Grad warm anzuziehen, doch wenn man will, kann man darin auch das Echo von Schnitzlers schö nem Satz aus der "Traumnovelle" hören: "Und kein Traum ist völlig Traum." PETER KÖRTE Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.04.2002, Nr. 16 / Seite 21
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Drahtlose Traumreise Alle Ideen unserer Naturwissenschaftler könnten letztlich auch aus dem sehr schlauen Buch eines Dichters stammen: Zur Aktualität von Goethes Homunculus in der Genomdebatte Der Princeton-Professor und Molekularbiologe Lee M. Silver vermutet in seinem Buch "Das geklonte Paradies", daß sich spätestens vom 24. Jahrhundert an die Menschheit in zwei Arten spalten wird: in die "Naturbelassenen" und die "Gen-Reichen". Eine provokante Progno se, die Silver mit der nicht weniger provokanten These begleitet, daß das, was möglich sei, auch Wirklichkeit werde - gleichgültig, ob es ethisch vertretbar ist oder nicht. Wie sehr dürfte aber den selbsternannten Futurologen die Nachricht überraschen, daß bereits vor mehr als 170 Jahren der Prototyp eines "Gen-Reichen" im Wege eines frühen human engineering das Licht der Welt erblickt hat - wenn auch nur als poetische Fiktion. Dies al lerdings vor dem Hintergrund eines damals soeben Wirklichkeit ge wordenen biochemischen Experiments, das man zuvor für unmöglich gehalten hatte. Die Rede ist von der 1828 erstmals gelungenen Um wandlung anorganischer in organische Materie in Gestalt der Wöhler schen Harnstoffsynthese und der hieraus für Goethe resultierenden Neukonzeption der Homunculus-Szenen im zweiten Akt des zweiten Teils der "Faust"-Tragödie. Friedrich Wöhler hatte an der Berliner Gewerbeschule mit Hilfe cyansau ren Ammoniums eine "kristallisierte Substanz" gewonnen, die sich als identisch mit tierischem Harnstoff erwies. Seinem Lehrer Johann Jakob Berzelius in Stockholm hatte Wöhler als stolzer Famulus über sein bio chemisches Experiment berichtet mit dem Hinweis, daß er nunmehr "Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren ... nöthig zu haben". Das war eine Nachricht, deren lebenswissenschaftliche Tragweite für Goethe offenbar ähnliche Bedeutung hatte wie für die Nachgeborenen heute die postmoderne Nachricht von der Entschlüsselung des menschlichen Ge noms. Heute wie damals richtete sich jedenfalls der Blick nicht nur auf das soeben aufgeschlagene neue Blatt im Buch des Lebens. Die Phanta sie eilte zugleich voraus auf eine plötzlich als möglich erscheinende wie auch immer geartete - "künstliche" Generierung des Menschen.
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Bevor Goethe vom Wöhlerschen Experiment Kenntnis erlangte, hatte sich seine Phantasie noch nach rückwärts gewandt. Denn ursprüng lich (zwischen Frühjahr 1826 und Herbst 1827) hatte er den Homun culus im zweiten Akt des "Faust II" geplant als Produkt spätmittelal terlich alchimistischen Denkens; als einen "chemischen Menschen", wie ihn Paracelsus in dem ihm zugeschriebenen, 1572 erschienenen Werk "De natura rerum" beschrieben hatte. Nämlich als ein Wesen, das außerhalb des Mutterleibs entwickelt werden konnte, da nach damaliger Auffassung allein der männliche Same als Träger des Le bens und des Erbguts galt. Ein verzeihliches Vorurteil, wenn man bedenkt, daß die menschliche Eizelle erst 1827 von Karl-Ernst von Baer entdeckt und 1875 erstmals die Verschmelzung von Samenund Eizelle beobachtet wurde. Folglich vermutete Paracelsus, daß - unter Verzicht auf den weibli chen "Brutkasten" - der männliche Same auch in vitro, in einem ge schlossenen Gefäß und bei konstanter Wärme- und Nahrungszufuhr, soweit heranreife, daß nach vierzig Wochen so etwas entstehen könnte wie "ein recht lebendig menschlich kint . . . mit allen glitma ßen wie ein ander kint, das von einem weib geboren wird, doch vil kleiner. Daßelbig wir ein homunculum nennen." Goethe hat sich allerdings dann, im Dezember 1829, mit der Endfas sung der Laboratoriumsszene von diesen altväterlichen Allmachts phantasien verabschiedet zugunsten eines völlig neuen, durch die Harnstoffsynthese angeregten Konzepts, das, bei Licht besehen, sehr viel mehr ist als das, was modischer Sprachgebrauch als Paradig menwechsel bezeichnen würde. Vielmehr schimmert durch die Bio graphie dieses neuen Homunculus bereits das Palimpsest einer be stürzenden Modernität im Zeichen bio- und nanotechnologischer Phantasmagorien. Es ist eine Modernität, die uns erst heute einzuho len beginnt. Wenn nämlich Homunculus seine Dienste anbietet mit den Worten: "Ich leuchte vor", so gilt dies im doppelten Sinne. Zum einen als Antizipation wissenschaftsutopischer Gespenster. Und zum anderen als Goethes Versuch einer ironischen Haltung gegenüber diesen Gespenstern. Etwas mehr Ernst bittet die wissenschaftliche Zunft sich aus Ironisch geht es schon im wissenschaftlichen Vorfeld des Goethe schen Homunculus zu. Denn damals wie heute gab sich die wissen
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schaftliche Zunft seriös, sie verhielt sich zunächst skeptisch gegen über den kursierenden Utopien eines Menschen aus der Retorte. Ja, Berzelius, damals Repräsentant der herrschenden Lehre, hatte auch allen Grund zur Skepsis gegenüber der angeblich gelungenen Harn stoffsynthese seines Famulus. Hatte doch Berzelius noch 1827 selbst dekretiert, "daß wir niemals hoffen könnten, es zu wagen, organische Stoffe künstlich hervorzubringen". Weshalb er denn auch Wöhlers Nachricht über das gelungene Experiment entsprechend ironisch kommentierte: "Sollte es nun gelingen, noch etwas weiter im Pro duktionsvermögen zu kommen . . ., welche herrliche Kunst, im Labo ratorium der Gewerbeschule ein noch so kleines Kind zu machen." Goethes "sehr ernste Scherze" im Lichte des Wöhlerschen Experi ments gehen allerdings schon ganz andere Wege. Bereits der Ort des Experiments ist ironisch-abgründig konzipiert. Fausts jetzt zum Bio chemiker avancierter Famulus, Wagner, der sich schon im ersten Teil der Tragödie ausgewiesen hatte als Grundlagenforscher im Zeichen der Freiheit der Wissenschaft, befindet sich hier, im zweiten Akt des zweiten Teils, genau dort, wo Faust seine eigene Tragödie der Überei lungen einleitete mit der modernsten aller Verwünschungen: "Fluch vor allem der Geduld". Und so wie einst Mephisto zur Stelle war, um Fausts Ungeduld zu bedienen mit dem weitgefächerten Arsenal zukunftswei sender Instrumente der Ungeduld (vom schnellen Mantel über das schnelle Geld bis hin zum schnellen Mord), so ist er auch jetzt wieder zur Stelle, um Wagners Ungeduld des Wissens zu bedienen und mitzu wirken an der Entstehung des künstlichen Menschen. Mephisto erweist sich auch hier wieder als der Katalysator übereilender Tendenzen: Er ist bereit, Wagner zu Akzelerationsschüben zu verhelfen im Sinne eines sich ständig beschleunigenden Tempos naturwissenschaftlicher For schung: "Ich bin der Mann, das Glück ihm zu beschleunen." Entsprechend ungeduldig erweist sich denn auch das Produkt des Wagner/Mephisto-Experiments: Denn im Gegensatz zum ursprüngli chen Goetheschen Konzept entspringt Homunculus nicht als ein zwergwüchsiges Menschlein der Phiole, sondern er bewegt sich ein geschlossen und bauchrednerisch in vitro; und sofort drängt es ihn, "faustisch" in Gestalt übereilten Handelns aus der Flasche zu entwei chen: "Möchte gern im besten Sinn entstehn / Voll Ungeduld, mein Glas entzweizuschlagen." Aber gemach. Anders als im Falle des Dok tor Faust schiebt Goethe jetzt der Ungeduld einen Riegel vor: Ho munculus muß in der Phiole verharren, er kann nicht entfliehen.
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Obgleich die extrakorporale In-vitro-Züchtung dem Biochemiker Wagner also nur halb geglückt ist, ist ihm gleichsam als Nebenpro dukt des "nur halb zur Welt gekommenen" Homunculus doch etwas gelungen, was noch die kühnsten Erwartungen selbst der Protagonis ten der sogenannten "dritten Kultur" übertrifft: Die verbreitete utopisch-literarische Mélange aus Science-fiction, Wissenschaft, Feuille ton und Spaßkultur vor dem Hintergrund der gen- und nanotechno logischen Leitprojekte des 21. Jahrhunderts läßt Wagners Homuncu lus jedenfalls weit hinter sich durch Intelligenzmerkmale, die selbst von Autoren wie etwa Ray Kurzweil und Bill Joy noch gar nicht the matisiert worden sind. Fausts Famulus Wagner weiß zwar noch nichts von der geplanten Kartierung des menschlichen Gehirns. Er weiß auch noch nichts von der durch die Entzifferung des menschlichen Genoms sichtbar gewordenen Urschrift des Lebens. Aber es ist Wag ner durch puren Zufall bereits eine Synthetisierung utopisch antizi pierter Ergebnisse beider Leitprojekte des 21. Jahrhunderts gelun gen. Zumindest Mephisto, als Koproduzent des Homunculus, erkennt sofort die sensationelle Bedeutung des halb geglückten Experiments. Er fordert Homunculus nämlich auf: "Hier zeige deine Gabe." Und tatsächlich verfügt Homunculus über eine Fülle wahrhaft uner hörter Gaben, die jetzt das einlösen, wovon in Wagners Laboratorium bereits die Rede war. Nämlich von einem "Hirn, das trefflich denken soll". Immerhin hatte bereits La Mettrie in seiner (Goethe bekannten) Schrift "L'Homme machine" aus dem Jahr 1748 von sprechenden und denkenden Maschinenmenschen fabuliert. In der modernen Fortset zung bei Kurzweil, wie er es dieser Zeitung darstellte, heißt es hier zu: "Wir können Milliarden winziger Nanoboter durch die Adern schi cken, durch die Kapillaren bis zum Hirn, um es immer in drahtloser Kommunikation miteinander von innen heraus zu kartographieren ... Haben wir erst einmal den Gesamtüberblick, können wir beginnen, es (das Hirn) technisch zu verbessern" (F.A.Z. vom 5. Juli 2000). Ho munculus aber verfügt bereits über dieses verbesserte Gehirn. Aller dings mit der Besonderheit, daß es das von Kurzweil skizzierte Ge hirn um die Dimension der Goetheschen Bildung übertrifft. Das "Opfer" der ersten Kostprobe dieses durch Bildung optimierten Gehirns ist Faust höchstpersönlich: Er liegt bewußtlos auf der Couch in Wagners Laboratorium, wo er Homunculus jetzt Gelegenheit gibt, die Ergebnisse der modernen Tiefenpsychologie zu antizipieren und zu übertreffen. Das Gehirn des Phiolen-Psychiaters Homunculus steht
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jedenfalls bereits im Sinne der Kurzweilschen Utopien in offenbar drahtloser (telepathischer) Verbindung mit den neuronalen Traum arealen des Faustschen Zerebralsystems. Anhand der Hirnströme seines Probanden dringt Homunculus denn auch sofort zum erotischen Urgrund Freudscher Traumdeutungen vor. Homunculus wird hierbei für seine sensationslüsternen Zuhörer, Mephisto und Faust, zum Berichterstatter eines erotischen Films my thologischer Schattenbilder, die aus Platons Höhlengleichnis stam men könnten. Gleichzeitig aber antizipiert er bereits Tendenzen der modernen Informationsgesellschaft. Denn Homunculus praktiziert Herrschaftswissen gegenüber den von seinen Informationen ausge schlossenen Zuhörern. Er ist jener gesuchte künftige Spezialist, der auf Grund von Urteilskraft durch Bildung (noch) in der Lage ist, in Bezügen zu denken und die Relevanz von Informationen zu erkennen und zu bewerten. Homunculus allein erkennt, daß es sich beim Traumbild Fausts um die Zeugung der Helena handelt, um die mythi sche Vereinigung von Zeus in Gestalt des Schwans und Leda, der Gattin des Spartaner-Königs Tyndareos. Homunculus erweist sich damit zugleich als allwissender Garant jener Gedächtnis- und Traditionskultur, deren letzte Repräsentanten, Phi lemon und Baucis, Faust dann in einem hybriden Akt der Ungeduld ("geboten schnell, zu schnell getan", so Fausts Kommentar post festum) durch seine Helfer auslöschen wird. Mit der Konsequenz, daß auch die mit der alten Gedächtniskultur verschwisterte Metaphysik eliminiert wird: Der unerkannt unter den Menschen wandelnde Göt tervater Zeus, der bei Philemon und Baucis Gastrecht genoß, wird ebenfalls ermordet. Ehrt eure alten Männer, so spricht der Dichter Wenn Goethe erklärt: "Wir würden ja noch in der Barbarei leben, wenn nicht Überreste des Altertums vorhanden wären", so repräsen tiert Homunculus diese "Überreste des Altertums". Er ist damit zugleich ein Spätling jenes wissenschaftlichen Deutungsmonopols, das den Geisteswissenschaften als Verwalter des kollektiven Ge dächtnisses der Menschheit spätestens Anfang des zwanzigsten Jahr hunderts abhanden gekommen ist. Der von Grillparzer prognostizier te Dreischritt der Bildung von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität ist nicht zuletzt durch die Beseitigung der "Überreste des
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Altertums" im Zeichen faustischer Ungeduld erst ermöglicht worden. Nietzsche (als gründlicher Kenner der Gespräche Eckermanns mit Goethe) wird diesen Sachverhalt dann präzisieren mit den Worten: "Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus." Er wiederholt hiermit Goethes frühe Einsichten in das Scheitern von Zivilisation, in die Dialektik der Aufklärung, aber auch in die Ver schränkung wachsender Möglichkeiten der Naturbeherrschung und gleichzeitiger Barbarisierung der Triebe im Verbund mit der Unbe lehrbarkeit faustischer Wünsche. Homunculus weist noch einmal den Weg zurück zu den "Überresten des Altertums". Aber er ist bereits der einzig Wissende, der ihn noch kennt, den Weg zur "klassischen Walpurgisnacht". Er allein kennt Ort und Stunde dieses Ereignisses. Er allein ist auch fähig, den alten Schauplatz dieses Ereignisses - Pharsalus, Ort der Entscheidungs schlacht zwischen Caesar und Pompejus - kraft Bildung neu zu deu ten für die (damalige) Gegenwart, nämlich für den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken auf den pharsalischen Feldern. Der Biochemiker Wagner aber muß zurückbleiben. Homunculus be auftragt ihn, als Grundlagenforscher die Lebenswissenschaften zu fördern. Er bestimmt ihn zum Pionier der Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Allerdings mit dem warnenden Zusatz, hierbei umsich tig zu verfahren: "Nach Vorschrift sammle Lebenselemente / Und füge sie mit Vorsicht eins ans andere." Und Mephisto schließt die Szene mit Worten, deren Aktualität schwerlich zu leugnen sein dürf te: "Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen, die wir machten." Mephisto meint mit seinen "Kreaturen" vor allem Homunculus, dem er jene moderne Rolle zuweist, die bereits Paracelsus dem "chymi schen Menschen" zugedacht hatte: Es sind "wunderleut, die zu einem großen werkzeug und instrument gebraucht werden, . . . alle heimli chen und verborgne Ding wissen, die allen menschen sonst nicht möglich sein zu wissen". Homunculus wäre nun sicherlich keiner vom Schlage dieser "wunder leut", wenn er als Allwissender und zugleich faustisch Ungeduldiger nicht wüßte, warum er ausgerechnet den Weg zur "klassischen Wal purgisnacht" einschlägt. Hier nämlich sucht Homunculus bereits das, was in der Bioethik-Debatte inzwischen als Grundrecht des Menschen diskutiert wird: das Recht auf Existenz. Denn nichts wünscht der halbfertige Homunculus mehr, als vollkommen zur Welt zu gelangen.
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Er holt Rat nicht bei den Naturwissenschaften, sondern bei einem vorsokratischen Philosophen, Thales. Das heißt: Die ihm durch den Biochemiker Wagner zugewiesene halbe, scientistisch-künstliche E xistenz genügt ihm nicht. Da das naturwissenschaftliche Experiment der eigenen Menschwerdung nur halb gelungen ist, bedarf es nun der geisteswissenschaftlichen Ergänzung. Die Modernität dieser Szene liegt auf der Hand. Goethe antizipiert hier nichts Geringeres, als die bereits damals auseinanderdriftenden Wissenskulturen (wieder) zu sammenzuführen zu jenem - inzwischen von Geisteswissenschaftlern wie Wolfgang Frühwald angemahnten - notwendigen Diskurs beider Kulturen über eine Definition des Menschen mit dem Ziel, sein zu nehmend scientistisches Verständnis (wieder) durch die Dimension der Kultur zu erweitern. Homunculus sucht geisteswissenschaftlichen Rat für den Prozeß sei ner Optimierung. Es ist ein Rat nicht nur vorsokratischer, sondern sogar mythologischer Art. Und es ist ein sehr kühner, ein posthuma ner Rat, den ihm sein Reisegefährte ins offene Meer, Proteus, mit auf den Weg gibt: "Beliebig regst du dich hier; / Nur strebe nicht nach höheren Orden / Denn bist du erst ein Mensch geworden, / Dann ist es völlig aus mit dir." Ein halbes Jahrhundert später wird dieses Urteil über den Homo sapiens bei Nietzsche dann noch um einige Grade pessimistischer ausfallen: "Die Erde . . . hat eine Haut, und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heißt zum Beispiel ,Mensch'." Wenn daher Thales Homunculus zurück ins Meer verweist ("Im Feuchten ist Lebendiges erstanden"), in den Quellgrund allen Lebens, und ihm vorschlägt: "Gib nach dem löblichen Verlangen, / Von vorn die Schöpfung anzufangen", so empfiehlt Proteus weitaus mehr, nämlich eine Korrektur der Schöpfung im Sinne einer anderen und "verjüngten Schöpfung". Dieses poetisch-symbolische Konzept eines neuen Menschentyps steht freilich quer zu allen gentechnologischen Utopien der Moderne. Denn in der Schlußszene des zweiten Aktes, in den ägäischen Mee resbuchten, wird Homunculus bewußt jedem menschlichen Zugriff auf eine wie auch immer geartete Veränderung des menschlichen Phänotyps durch Veränderung des Genotyps entzogen. Homunculus wird hier einem radikalen Entschleunigungsprozeß durch Rückgriff auf die Evolution unterworfen. Denn seine vom Proteus-Delphin ins
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Meer hinausgetragene Phiole zerschellt am "Muschelthron" der Gala te. Sie löst sich als Meeresleuchten im Wasser auf, und das nur halb gelungene biochemische Experiment Wagners findet jetzt eine "prä darwinistische Fortsetzung" (Albrecht Schöne); Homunculus muß gemäß der Anweisung seines Ratgebers Thales phylogenetisch nach sitzen: "Da regst du dich nach ewgen Normen, / Durch tausend, a bertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit." Warten wir doch einfach dreieinhalb Milliarden Jahre Den Allmachtsphantasien der Ungeduld verordnet Goethe also ironisch ein evolutionshistorisches Moratorium von immerhin rund dreieinhalb Milliarden Jahren. Er, der "voller Ungeduld" entstehen wollte, muß die veloziferische Geschwindigkeit seiner künstlichen Entstehung nun orga nisch kompensieren im Wege einer gigantischen Entschleunigung der Zeit. Vielleicht sogar in Richtung eines Menschentyps, der auch den extremsten Beschleunigungsturbulenzen der fernsten Zukunft noch ge wachsen sein könnte? Die Möglichkeit allerdings, noch einmal "nach höheren Orden" im Sinne des tradierten Phänotyps des Menschen zu streben, dürfte für Homunculus ohnehin gegen Null tendieren. Denn bereits in der zurückliegenden Geschichte des Lebens auf unserem Pla neten verdankt sich nach allem, was wir hierüber wissen, die Hominide nevolution einem schwerlich wiederholbaren "Zufall". Sie beruht über Millionen Jahre hinweg auf sehr kleinen Populationsisolaten, die unun terbrochen von der Ausrottung bedroht waren. Immerhin, in "The Origin of Species" hat Darwin Goethe ausdrücklich gerühmt als "an extreme partisan of similar views". Goethes Homuncu lus sucht in der Tat den Weg der evolutionären Stammesgeschichte des Menschen zurück zum "Origin of Species". Aber er geht von dort aus andere Wege nach vorne und mit einem neuen Ausgang. Homunculus also als poetische Fiktion eines Abschieds vom antiquierten, das heißt "verdüsterten und beschränkten" Menschen? Goethe legt diese Deutung zumindest selber nahe durch seinen erläuternden Hinweis (gegenüber Eckermann am 16. Dezember 1829) zum Verständnis des Homunculus, indem er ihn vieldeutig charakterisiert als ein "geistiges Wesen", das den großen Vorzug habe, "durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht verdüstert und beschränkt" zu sein. Goethe hat jedenfalls seinen eigenen Zeitgenossen die Lektüre des "Faust II" durch Versiegeln des Manuskripts vorenthalten. Den Weg
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des Homunculus zurück ins Antediluvianische hat er der Deutung überlassen für eine Zukunft, die sich jetzt erst langsam anzudenken beginnt. Vor dem Hintergrund moderner Optimierungsstrategien und wachsender Möglichkeiten posthumaner Wüstenbildungen erweist sich Goethes Gestalt des Homunculus heute als der frühe ironische Versuch, den Menschen im Sinne einer "verjüngten Schöpfung" neu zu definieren. Es ist der Versuch einer völlig neuen Humanität, des sen Radikalität bislang unbemerkt geblieben ist. Denn es ist eine Humanität, die sich für Goethe offenbar nur erreichen läßt durch ei nen "Salto mortale" rückwärts aus der ungeduldigen Großhirnepoche. Das klingt nach Eskapismus und reflektiert doch nur Goethes realisti schen Verdacht, daß wir auf Grund der Ungeduld (wie es im "WestÖstlichen Divan" heißt) nie "klug sind zur rechten Zeit". Weshalb er denn auch - mit Blick auf die erst durch nachholende Einsicht er kennbaren Risiken und Kollateralschäden unseres Handelns - seinen böhmischen Briefpartner Graf Sternberg gewarnt hat: "Lassen Sie uns das Positive nicht zu sehr verehren, sondern lassen Sie es uns ironisch behandeln, um ihm den Charakter des Problematischen zu erhalten." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.2002, Nr. 75 / Seite 47
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Herr Wells, hier wird kein Buch geschrieben Weltwissenschaftsgipfel 1920: Lenin zeigte dem alten Europa,
was Mann und Maschine heutzutage leisten
Von Dietmar Dath
Es hätte auch anders ausgehen können - daran nicht zu glauben, wäre damals der Entscheidung gleichgekommen, jeden Gedanken an Sinn in der Geschichte zu verabschieden. Die historische Schreckse kunde zwischen dem Anbruch von Stalins alle freiheitlichen soziokul turellen russischen Blütenträume in den Dreck tretender Herrschaft und Hitlers Machtergreifung in jenem Land, das für alle weltrevoluti onären Szenarien die zentrale Bühne gewesen war, dauerte verhält nismäßig lange. Sie dehnte sich in der Wahrnehmung verzweifelter Freunde und erbitterter Feinde der Revolution mit jeder "Neuen öko nomischen Politik", jeder abgewehrten ausländischen Intervention, jeder Maßnahme gegen innerrussische Konterrevolutionäre schier endlos weiter aus, und nicht nur philosozialistische avantgardistische Künstlergruppen wie die Surrealisten hatten deshalb zusehends Schwierigkeiten damit, mehr oder weniger passiv zusehen zu müs sen, wie sich das Startfenster in eine andere Welt quälend langsam, aber unausweichlich schloß, einem allsehenden Auge unter blei schwerem Lid gleich. Selbst ein so abgeklärter Kopf wie Sigmund Freud schrieb noch in der letzten der "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" von 1932/33: "In einer Zeit, da große Nationen verkünden, sie erwarten ihr Heil nur vom Festhalten an der christlichen Frömmigkeit, wirkt die Umwälzung in Rußland - trotz aller unerfreulichen Einzelzüge - doch wie die Botschaft einer besseren Zukunft. Leider ergibt sich weder aus unserem Zweifel noch aus dem fanatischen Glauben der Anderen ein Wink, wie der Versuch ausgehen wird." Als Freud und die Sorte spätaufklärerischer bürgerlicher Intellektuel ler, deren damals exponiertester Repräsentant er war, sich unter Aussendung von derlei melancholischen Signalen von allen positiven Projektionen auf die "Umwälzung in Russland" langsam zu verab schieden begannen, war dies ein dramatischerer Indikator des ein setzenden Verfalls der geschichtsteleologischen Legitimation des Sowjetunternehmens als selbst die scheußlichsten Berichte von Sta lins Prozessen und Lagern, welche den Abfall der Sympathisanten
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zuallererst bedingten. Unter allen potentiellen Bundesgenossen aus dem liberalen westlichen Lager, die der Sowjetunion in deren zugleich elanvollster und prekärster nachrevolutionärer Phase zwi schen 1919 und 1921 zu Hilfe kommen konnten, waren die Enthu siasmierten der Vernunft, die Herolde der technischen Schicksalsbe zwingung und entschlossenen Fürsprecher der Verwissenschaftli chung des Sozialen und Psychologischen gewiß die Wertvollsten: Sigmund Freud, Bertrand Russell, H. G. Wells. Der letzte in dieser Reihe, bedeutendster Vertreter der "Scientific Romance", wie das heute Science-fiction genannte literarische Genre in Großbritannien noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hieß, hat Lenin, den größten Intellektuellen, Dezisionisten und Strategen der Revolution, 1920, also genau auf dem Scheitelpunkt der tragi schen Entwicklung, in Moskau getroffen. Der Engländer, dem es mit Erzählungen wie "Die Zeitmaschine" (1895), "Krieg der Welten" (1898) und "Ein modernes Utopia" (1905) gelungen war, die von den Romantikern ersehnte "Wiedervezaube rung der Welt" auf dem Wege spekulativer Übersteigerung der im manenten Dynamik wissenschaftsgesteuerter Massenvergesellschaf tung effektiver voranzutreiben als jede Gespenstergeschichte, traf hier auf den Russen, der die Romantik revolutionären Massenüber schwangs mit wissenschaftlicher Exaktheit in eine neue, andere Ver gesellschaftungsdynamik überführen wollte und sich vom Zusam menspiel "überbrückender" Kleinbauernwirtschaft mit stetiger Kollek tivierung und konsequenter Elektrifzierung die Ablösung "unzeitge mäßer" Produktions- und Zirkulationsformen versprach. Die adäquate Schilderung des Zusammentreffens dieser beiden kann nur die Vermessung eines wechselseitigen unvermeidlichen Miß verständnisses sein, das vielleicht das Selbstmißverständnis der bür gerlichen Aufklärung schlechthin ist - verteilt auf die beiden Rollen des maßstabgetreuen Entwerfers der sozialen Landschaften von Ü bermorgen und des entschlossenen Ernstnehmers der Parole "Jetzt oder Nie". War es Lenins Schuld, daß er das Planbare auch für mach bar halten wollte, war es Wells' Schuld, daß ihm das Romantische des freiheitlichen (und dämonischen) Entwurfs als etwas Literari sches und nicht als etwas Politisches galt? In der zum sedimentierten Kauderwelsch selbstgerechter Bürokraten auf Lebenszeit erstarrten Sprache einer parteiamtlich offiziellen Le
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nin-Biographie von 1972 liest sich der mißglückte Versuch, diese Frage zu erledigen, noch so: "Im Herbst 1920 kam der bekannte englische Schriftsteller H.G. Wells nach Moskau. Wells brachte Sow jetrußland große Sympathie entgegen. Obwohl er den Marxismus ablehnte, gab er ungeachtet der ungeheuerlichen Lügen und Ver leumdungen der Bourgeoisie zu, daß die Sowjetmacht vom Volke unterstützt werde und daß die Bolschewiki eine große schöpferische und aufklärende Arbeit entfalteten. Einen unauslöschlichen Eindruch hatte Lenin auf ihn gemacht." Unauslöschlich oder nicht, zwiespältig war der Eindruck auf jeden Fall: Wells' Buch "Russland im Schatten", das von seinen Moskauer Erfahrungen berichtet und unmittelbar nach der Reise entstand, ent hält neben milden, wenn auch leise herablassenden Epitheta für den Sowjetpolitiker wie "Träumer im Kreml" (an der kein geringerer als Trotzki heftig Anstoß nahm) auch die wesentlich weniger schmeichel hafte Wendung von der "Utopie der Elektriker". Wer den späten Wells kennt, der mit "Menschen wie Götter" 1923 zwar noch einmal eine quasisozialistische schöne neue Welt be schwor, sich danach aber zusehends in poetischen Bildern erging, welche die Exaktheit und virile Stilistik früherer Texte in manchmal beinahe den Duktus Richard Rortys vorwegnehmender liberaler Iro nie auflösten, erkennt im Motiv der "Utopie der Elektriker" eine Melo die, die auf die seltsamste Chiffre in Wells' gesamtem Werk voraus weist: den Homo Tewler aus seinem letzten Roman "Man kann nicht vorsichtig genug sein" von 1941. Dieser "Tewlermensch" , eine Konstruktion zwischen Musilschem Ma thematiker und Arno Schmidtschem Gehirntier, dem man gleichsam die schillernde Ölhaut abgezogen hat, ist die anthropologische Verall gemeinerung des mit unverbindlichem Amüsement und vagem Ab scheu geschilderten Helden Edward Albert Tewler. Er ist ein moder ner Lauwarmer, der mit seiner zweiten Ehefrau in der Nähe der Golf plätze von Brighthampton-on-Sea ein beschauliches, nichtsnutziges Leben führt. Die Zeitläufte ignoriert er als leidige, unvernünftige Ku riosa; als sich einmal wer über "Poltisches" erregt und Tewlers Frau dabei an "that great ugly Mussolini" denken muß, kommt Tewlers kühl vernünftiges, neo-stoisches Credo zu sich selbst: ",Geht uns nix an.', sagte Mr. Tewler, treu seiner besonderen Eigenschaft, die ihn niemals sehen läßt, was auf ihn zukommt, bis es ihn erwischt."
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Eine Bombe des gerade beginnenden Zweiten Weltkriegs macht dem depolitisierten Idyll, das eine nicht eben kleine Selbstanklage des resignierten Philosozialisten Wells enthält, ein Ende. Nicht aber der Verallgemeinerung: der Homo Tewler, "scheuer und verlogener Narr, gemäß seiner Erziehung", schickt sich in zahllosen Unterarten wie "Tewler Teutonicus" und "Tewler Anglo-Americanus" an, die Welt zu erobern und "unterhalb der Ebene jeder satanischen Revolte" das Menschheitserbe zu verjubeln. Einmal läßt Wells in diesem pessimis tischen Buch "das Schicksal" sagen, Arten hätten insgesamt am Ende nur die Wahl zwischen Denken und Leben einerseits, Ausrottung an dererseits. Daß ein auf die golfparkartig arrangierten Annehmlichkei ten der technifizierten Welt größten Wert legender Niemand, der im Kleinbürgerdasein das Endziel der Geschichte sieht, diese Alternative mit seiner mißlichen Existenz nicht erfolgreich suspendiert, versteht sich von allein. Der "Tewler" ist linguistisch, gemäß einer Vermutung des Sciencefiction-Historikers K. V. Bailey, wohl vor allem der "Tooler" und "Toi ler", also einer, der in der abstrakten Arbeit und der Arbeitsteilung Hand-Kopf-Werkzeug sozialisiert wurde und sich nichts anderes vort sellen kann. So sehr im Sozialismus marxistischer Herkunft, mit des sen theoretischen Grundlagentexten sich Wells kaum beschäftigt hat, gerade die Aufhebung dieser Arbeitsteilung das Ziel allen geschichtli chen Kampfes, Zweck allen "Klassenbewußtseins" und der Inmarsch setzung des Proletariats als "subjektiven Faktors der Geschichte" gewesen ist, so sehr war die politische Realität der "Elektrikerutopie", derer Wells in Rußland ansichtig geworden war, eben eine der Wekrzeugmacher, die zu Theorie, Wissenschaft, Spekulation und allen anderen Dingen, die das Schreiben und Leben eines wissen schaftlichen Romantikers schreibens- und lebenswert machten, ein rein instrumentelles Verhältnis hatten und haben mußten. Der Aufstand dagegen, von einem zuletzt vor allem künstlerisch ge dachten Wissenschaftsideal aus formuliert, ist die imaginäre Spre cherposition des späten Wells. Er glaubte, daß dem Leninschen Tew lersozialismus und irgendwelchen amerikanischen oder kontinental europäischen Varianten desselben die nicht sehr inspirierende Zu kunft gehörte. Das Genre der "Scientific Romance" hat in den letzten Jahren seitens der Science-fiction-Literargeschichte wie auch lebender Schriftsteller besonders großbritischer Provenienz scharfsinnige Analysen und
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kühne Neu-Erprobungen erfahren. Stephen Baxters, Brian Stable fords oder Kim Stanley Robinsons Wells-Fortschreibungen und die nicht zufällig "A Scientific Romance" betitelte Phantasie des Roman ciers Ronald Wright über das "Zeitmaschine"-Motiv von 1997 sowie eine wachsende Anzahl von Abhandlungen über Wells in allen Spra chen wie etwa Elmar Schenkels letztjähriger großer Wells-Essay sind Indikatoren dafür, daß auch nach der Zerschlagung der "Elektriker utopien" ein Bewußtsein, das die hoffnungsstiftenden Möglichkeiten anhaltender Wissens- und Machbarkeitszuwächse in sogenannten postindustrieller Gesellschaften nicht verkennt, die Gefahr gegenwär tig halten muß, gegen die Wells und andere auftraten: sozial gewon nene Erkenntnisse auf ihre Resultate zu reduzieren, zu Kochrezepten zu machen und als "Sachzwänge" zu vergotten - die Erbsünde des Homo Tewler, an deren Überwindung auch Lenin mehr lag, als Wells wußte. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.01.2002, Nr. 13 / Seite 52
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Stählerne Träume verrückter Onkels
Die Fantasy-Literatur im zwanzigsten Jahrhundert von Tolkien bis Moorcock zwischen Regression und Utopie Von Dietmar Dath Als der strukturalistische Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov in seiner "Einführung in die phantastische Literatur" von 1970 die ge nealogische Forschung zum Thema zusammenzufassen suchte, präg te er das Wort vom "schlechten Gewissen des positivistischen 19. Jahrhunderts", als welches die Literatur frühmoderner Phantasten wie E.A. Poe und Mary Shelley auf die Nachwelt gekommen sei. Kon frontiert mit diesem Erbe und Fortschritten der literarischen Technik, habe man es, so Todorov, seither mit einer Bewußtseinslage zu tun bekommen, die nicht länger an eine unveränderliche äußere Realität glaube - "und ebensowenig an eine Literatur, die die Transkription dieser Realität wäre". Als Todorov diese Sätze in Paris in Druck gab, umgeben von Fern sehgeräten und Mikrowellen-Öfen, hielt sich die Anthropologin Jeanne Favret-Saada gerade wenige Kilometer entfernt im dörflichen Westfrankreich auf, um Material für ihre zusammen mit J. Contreras verfaßte, 1981 erschienene Studie "Corps pour corps. Enquête sur la sorcellerie dans le Bocage" zu sammeln. In dieser Studie, einem Mei lenstein der Aberglaubensforschung, wird die Behexung ganzer Land striche Westfrankreichs während der frühen siebziger Jahre geschil dert, nebst einer allgemeinen Hysterie, in deren Verlauf so gut wie jeder, der ein bißchen pendelt und Zeitungshoroskope liest, von der aufgebrachten Landbevölkerung als Zauberer verdächtigt wird: "Man klagte sogar den Apotheker an, den armen alten Kerl, und als Ergeb nis leidet er jetzt an Depressionen." Favret-Saadas französische Hin terwäldler waren alles andere als wandelnde Anachronismen; ihre soziale Praxis korrespondierte als allenfalls etwas grobschlächtigere Variante einer allgemeinen Zeitströmung, die seinerzeit als Hippie Bewußtsein vom "New Age" und erste große Esoterik-Welle seit den von Madame Blavatskys Theosophie und ähnlichem Mumpitz begeis terten zwanziger Jahren die Großstädte der Industriestaaten erober te. Diese Rückkehr des Archaischen auf breiter Kulturfront war es, die für einen mit J.R.R.Tolkiens "Herr der Ringe" und Hermann Hes ses "Glasperlenspiel" beginnenden, sich darin aber längst nicht er schöpfenden Boom der Fantasy-Literatur sorgte, der das Genre
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nachhaltig ins öffentliche Bewußtsein des Westens hob, wo es seither periodisch Wellen schlägt, die zur Zeit "Harry Potter" und eben auch wieder "Herr der Ringe" heißen. 1977, auf dem Höhepunkt der genannten ersten Welle dieser Art, schrieb ein Schriftsteller, der von ihr persönlich durchaus begünstigt worden war, nämlich der britische Fantasy-Autor und große Dissident des Genres Michael Moorcock, enttäuscht von seinem Metier, eigent lich seien die Welten der Fantasy seit jeher "in der einen oder anderen Form vorwiegend reaktionär (und vorwiegend langweilig). Meistens wird darin die Welt vor der Dekadenz ihrer Zeitgenossen gewarnt, und die Alternativen sind gewöhnlich autoritär und verallgemeinernd - um nicht zu sagen einfältig." Von einem Mann formuliert, der in seinem "Corum"-Romanzyklus eine Wiederbelebung keltischer Mythopoetik vollbracht hat, die sich neben Tolkien nicht zu verstecken braucht und dem Genre mit dem melancholischen Albinoprinzen Elric von Melnibo né seinen größten Antihelden geschenkt hat, sind solche Worte starker Tobak. Der zornige Intellektuelle, der sie äußerte, stand damit nicht allein; innerhalb der zeitgenössischen Phantastik formierte sich in je nen Jahren eine Bewegung neuer Autorinnen und Autoren von Samuel R. Delany über J.G. Ballard bis Ursula K. LeGuin, die mit den eskapisti schen Stammvätern der Gattung abrechnen wollte. Diese sogenannte "New Wave", die während der Zeit von Moorcocks zitierter Kriegserklärung ihren großen Auftritt hatte, wurde von den Anhängern "harter", wissenschaftsbegeisterter Science-fiction als "bloße Fantasy" denunziert, weil sie sich mit den Sozialwissenschaf ten und der ästhetischen Avantgarde einließ; Fantasy-Puristen und Tolkienomanen dagegen sahen in der neuen Bewegung schlicht "Ni hilismus" und "Anarchie" am Werk. Das Ganze wurde vor allem von zwei heute fast ausschließlich der Fantasy zugerechneten Autoren wesentlich befördert, nämlich Moorcock selbst als Chefredakteur der Zeitschrift "New Worlds" in England und dem Amerikaner Harlan Elli son als Herausgeber der 1967 erschienenen Anthologie "Dangerous Visions". Die New Wave lief gegen eine zweifache Verkrustung des sich von Poe und Jules Verne, T.H. Whites Artus-Büchern und den Romantikern Englands wie Deutschlands herschreibenden Erbes der Phantastik Sturm: die schematische, technoromantische Sciencefiction-Utopie einerseits und den pseudomittelalterlichen FantasyEdelkitsch andererseits.
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Der gelungenste satirische Angriff auf diese Erstarrungen, den die New Wave zustande brachte, dürfte Norman Spinrads "Der stählerne Traum" von 1972 sein: ein bierernster wagnerianischer Schwerterund-Helden-Roman, den Spinrad (alias "Homer Whipple") als emsi ger Chronist des Genres entdeckt zu haben vorgibt und der, das ist der düstere fiktiv-editorische Witz der Sache, von einem europäi schen Exilanten in den Vereinigten Staaten der dreißiger Jahre ge schrieben worden sein soll, der ursprünglich Politiker habe werden wollen und dessen Name "Adolf Hitler" laute. Der von Moorcock, Elli son, Spinrad und ihren Mitstreitern konstatierte regressiv-reaktionäre Zug der Fantasy-Literatur ist das eine; ihr Zauber und ihr in gelun genen Momenten unbestreitbares Potential der Verstörung das ande re. Die Dekontextualisierung pastoraler Idyllen und höfischer Tugen den durch Gegenüberstellung mit Aspekten moderner Sensibilität, die das Herzstück jeder guten Fantasy ist, leistet so konsequent keine andere Literaturgattung. Man erkennt dieses Moment in der Schilderung wieder, welche die als Feministin und gute Schülerin der "New Wave" jeder Verklärung "gu ter, alter Fantasy" unverdächtige britische Autorin und Kritikerin Gwyneth Jones vor einigen Jahren von ihrer ersten TolkienLeseerfahrung gegeben hat: "Es war Winter, ich lag krank im Bett. Ich war elf oder zwölf Jahre alt. Ich erinnere mich an diese riesigen, seltsamen, olivgrünen Bände und an meine Begeisterung, als meine Mutter endlich den zweiten Band in einer Bibliothek entdeckt hatte, gerade als ich mit dem ersten fertig geworden war! Ich erinnere mich an die Freude, während ich diese wirklich wunderbare, gewaltige Er zählung verschlang, die da vor meinen Augen vorüberrollte wie eine große Welle. Es war eine Art von Vergnügen, die das Kind nicht kannte und vielleicht nicht einmal verstanden hätte, das kurz vorher die Narnia-Kinderbücher so unbewußt aufgenommen hatte, wie eine Raupe ein Blatt verzehrt." Nicht ohne Liebe nennt Jones hier die bei den zentralen Lektüreerfahrungen ihrer Kindheit, Tolkiens "Herr der Ringe"-Trilogie und Clive Staples Lewis' Kinderbücher über das ver wunschene Land Narnia hinterm Wandschrank, die beiden Hauptwer ke ihrer, wie sie schreibt, "verrückten Onkels". Was immer Lewis, Tolkien und Charles Williams, das fast vergessene dritte Mitglied ih rer literarischen Kleingruppe, der "Inklings" im Oxford der dreißiger Jahre, außer begabten Erzählern und christlichen Apologeten voller Sendungsbewußtsein sonst noch gewesen sein mögen, eins waren sie gewiß: der Nabel all dessen, was heute "Fantasy" heißt. Von ihren
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Werken und den darin vorkommenden verwunschenen Territorien, fremdartigen Wesen und magischen "Technologien" führen zwei di rekte, wenn auch fast unsichtbare Verbindungen zu den beiden Polen des Kraftfelds, aus dem die heutige Fantasy gespeist wird: erstens zur anglo-amerikanischen literarischen Moderne, die ja keine reine apollinische Vernunftgeburt war, sondern in Gestalt von W. B. Yeats, Ezra Pound, T. S. Eliot und dem Autor des transzendentalen FantasyRomans "The Childermass" Wyndham Lewis vier durchaus mit "ok kulten" Interessen experimentierende Säulenheilige hatte, und zwei tens zum neueren phantastischen Unterhaltungsroman, von Robert E. Howards umfangreichem Erzählwerk über den vorgeschichtlichen Barbaren Conan, H. P. Lovecrafts kosmische, "dunkle Fantasy" und Fritz Leibers "Lankhmar"-Geschichten im ersten Drittel des zwanzigs ten Jahrhunderts bis hin zu Stephen Kings "Dunkler Turm"-Reihe, den humoristischen Fantasy-Frivolitäten Terry Pratchetts, den "Shannara"-Büchern von Terry Brooks, der "Xanth"-Saga Piers An thonys oder dem "Rad der Zeit" von Robert Jordan, die heute ganze Regale der Buchhandlungen füllen. Betrachtet man dieses literarische Kontinuum als Ganzes, dann war die wichtigste Leistung der "New Wave" ganz entgegen den Intentio nen ihre Urheber nicht die Zerstörung eskapistischer Abscheulichkei ten, die das Genre überwuchert hatten, sondern die Rekrutierung neuer Stimmen mit neuen literarischen Techniken. Harlan Ellison zum Beispiel, wohl der bedeutendste Autor der "New Wave" im enge ren Sinne, der ihren experimentellen literarischen Techniken anders als viele seiner einstigen Genossen bis heute die Treue gehalten hat, ist sicher immer noch kein Freund Tolkiens oder zartbesaiteter Träu me von Feen und Elfen, schreibt aber doch über Geister in Spielau tomaten, über verlassene Städte, in denen tote Kinder leben und unsichtbare Dämonen, die sich von rassistischen Gewaltausbrüchen ernähren. So steht er mit seiner Bildersprache eben doch in der Tra dition der Orcs und Nazgûl von Tolkiens Mittelerde. Der Kritiker George Slusser hat über Ellisons (Alb-)Traumwelten geschrieben, sie seien flexibel genug, disparateste Elemente, die das zeitgenössische Bewußtsein durchkreuzen, miteinander zu verschmelzen: "Sozialdar winismus, alttestamentliche Ethik, dionysische Mächte, moderne Ökologie". Das aber gilt nicht nur für Autoren wie Ellison oder John Crowley, die solche Verschmelzungsleistungen bewußt anstreben, sondern für das Genre insgesamt, ungeachtet der darin immer wieder auftretenden
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Klischees, von den unaussprechlichen Namen für Personen und Orte ("Sümpfe von Ghr'sukhn", "Prinzessin Esahztok") über die gold schmiedenden Zwerge und sprechenden Drachen bis zum unerfahre nen Zauberer und dem dunklen Herrscher. Eine Marathon-Buchreihe wie Robert Jordans "Rad der Zeit" bietet vordergründig die immergleiche Leier vom bedrohlichen Dunkel, den tapferen Helden, der langen Wanderschaft und den weisen Einge weihten, welche die Geschicke der Welt hezum Guten lenken wollen. Solche Klischees, die übrigens in den Büchern Terry Pratchetts und Tom Holts oder Diana Wynne Jones' "Tough Guide To Fantasyland" auch von praktizierenden Genrekräften parodiert werden, sind jedoch auf jeder Seite von der Erfahrung einer Welt gezeichnet, die eben nicht so ist wie in diesen Büchern. Die endlose Wiederholung der ir realen Topoi ist daher nicht einfach "langweilig", wie Moorcock 1977 meinte, sondern auch eine Form der Insistenz beim Behaupten von Brüchen in der Alltagserfahrung - etwa so, wie es sich auch nach tausend Popsongs über Liebe lohnt, noch einen zu schreiben, weil gegen die Vernutzungslogik von Markt und Alltag nur das Bestehen auf dem Wissen hilft, daß manches nicht abnutzbar ist. Daß der "negative Optimismus" (im Sinne von: immerhin, es könnte auch anders sein) solch klischeegestützter Verfremdung leicht ins "Heile Welt"-Gesumme kippen kann, weiß niemand so gut wie die klügeren Fantasy-Autoren selbst. Sie müssen daher ihren je eigenen Weg zur Konfrontation mit dem Eskapismus-Problem einschlagen. George R. R. Martin etwa, ein zu Zeiten der "New Wave", an der er mitwirkte, noch recht junger, inzwischen sehr erfolgreicher Autor, mußte auf dem Weg zum Fantasy-Schriftsteller sensu strictu zuerst 1983 den SechzigerJahre-Roman "Armageddon Rag" schreiben, der von einer tolkien besessenen Rockband namens "The Nazgûl" handelt, deren Sänger in den Hippie-Jahren einem Attentat zum Opfer fiel und in den egoisti schen, leeren Yuppie-Achtzigern von den Toten aufersteht, nur um a bermals alle Ideale der Hippies ans Böse zu verraten. Kein Geringerer als Stephen King nannte dieses Buch "den besten Rock-Roman, den ich kenne", und benennt damit treffend den kulturellen Austausch, der zwi schen den Größen der Fantasy und einem epochemachenden Sektor der Popkultur während der sechziger Jahre stattfand - wo hätten sich Deep Purple und Led Zeppelin ikonographisch bedienen sollen, wenn es Tol kien nicht gegeben hätte, von den Fantasy-Comics Richard Corbens oder Neil Gaimans "Sandman" ganz zu schweigen?
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Martin hatte inzwischen sein eigenes ehrgeiziges Tolkien-Analogon begonnen, die mehrbändige Romansequenz "Song of Ice and Fire", in der höfische Intrigen, inzestuöse Herrscherhäuser, zynisch-sympathische Zwerge und von Mißbrauch und Schlägen gezeichnete Kinder für eine Sorte harscher Töne sorgen, die Tolkien selbst in seinen fins tersten Stimmungen gescheut hätte. Dunkelheiten, die den Randzonen der städtischen Zentren unserer Zeit entnommen sind, werfen zur Zeit vermehrt ihre Schatten auf die Fantasy-Literatur. Der jüngst auf deutsch erschienene brillante Ro man "Die Auserwählten", erster Band der Trilogie "Steinkreis des Chamäleons" von Ricardo Pinto, zeichnet ein schauerliches Porträt einer ausweglosen Kastengesellschaft samt verzweifelter, gewaltför miger Erotik, das kein urbaner Realist schärfer zeichnen könnte. Die hybriden Gruselkonstruktionen der Schöpferin der "Wraeththu"Bücher Storm Constantine oder die sadomasochistischen EngelsVergewaltigungen im verstörenden Riesenroman "Kushiel' s Dart" von Jacqueline Carey zeigen deutlich genug, daß Fantasy-Autorinnen der Gegenwart die realitätszersetzenden Potentiale dieser Literatur gattung mit einer Souveränität für genreferne Absichten nutzen kön nen, die einen um die zwölfjährigen Tolkien-Leserinnen der Gegen wart bangen läßt: Hoffentlich bekommen sie dieses Zeug nicht zu früh in die Finger. Erlösung von den Übeln der Gegenwart bleibt un terdessen ebenfalls ein Hauptanliegen zeitgenössischer FantasySchriftsteller, ob auf der Basis von okkult hypostasierter VirtualReality-Technologie wie in Tad Williams' "Otherland"-Reihe oder als Allegorie des mormonischen Glaubensbekenntnisses wie in Orson Scott Cards "Alvin Journeyman"-Geschichten. Das alles ist wohl weit weniger geeignet, das für die Lösung von al lerlei Weltproblemen benötigte mündige Bürgerbewußtsein mit esote rischem Widersinn zu vernebeln, als Warner wahrhaben wollen. Im Gegenteil könnte sich zeigen, wie vergleichsweise gut die Lektüre von Fantasytexten die Leser auf den allzuoft ins Talmi-Mythische verzerrten Irrsinn der wissenschaftlich-technischen Lebenswelten einstimmen kann. "Jede ausreichend fortgeschrittene Technologie ist ununterscheidbar von Magie", hat der Science-fiction-Autor Sir Ar thur C. Clarke einmal geschrieben. Daß das ein Versprechen ist, sagt man uns jeden Tag. Daß es auch eine Drohung sein kann, erfährt man nicht zuletzt aus guter Fantasy.
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Tzvetan Todorov: "Einführung in die fantastische Literatur". Carl Hanser Verlag, München 1972. Michael Moorcock: "Das Buch Corum". Roman. Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach 2000. Michael Moorcock: "Elric von Melniboné". Die Sage vom Ende der Zeit. Heyne Verlag, München 1984. Harlan Ellison (ed.): "Dangerous Visions". Doubleday, New York 1967. Clive Staples Lewis: "Die Chroniken von Narnia", Band 1: "Das Wun der von Narnia". Brendow Verlag, Moers 1998. Robert Jordan: "Das Rad der Zeit". Serie bei Heyne. (Zuletzt: "Flucht der Sklaven".) Heyne Verlag, München 2001. George R. R. Martin: "Das Lied von Eis und Feuer". Band 1: "Die Her ren von Winterfell". Goldmann Verlag, München 1997. Fritz Leiber: "Ill met in Lankhmar". Gollanzc, London 1999. Diana Wynne Jones: "The Tough Guide To Fantasyland". DAW, Lon don 1996. Ricardo Pinto: "Der Steinkreis des Chamäleons", Band 1: "Die Aus erwählten". Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2001. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2001, Nr. 294 / Seite 49
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Die Erkenntnis der unbegrenzten Freiheit erfüllt uns mit Entsetzen Am heutigen Mittwoch feiert Stanislaw Lem seinen achtzigsten Ge burtstag. Aus diesem Anlaß besuchte ihn der aus Polen stammende, aber auf deutsch schreibende Autor Radek Knapp in Krakau und sprach mit dem großen Science-fiction-Schriftsteller und Futurologen über seine Biographie und seine Einschätzung der rasant voran schreitenden technologischen Evolution. F.A.Z. In Ihren "Robotermärchen" wird vom Menschen als dem "Bleichling" gesprochen, dem häßlichsten und durchtriebensten We sen im ganzen Universum. Hat er sich Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts etwas gebessert? Im Gegenteil. Inzwischen haben wir schon an die sechs Milliarden Bleichlinge. Sie haben zwar erstaunliche Technologien geschaffen. Doch je komplexer die Technologie, desto primitiver und oberflächli cher die Information. Nehmen wir "Big Brother", der uns durch hochmoderne Satelliten ins Haus gestrahlt wird: ein weiterer Beweis, daß die Bleichlinge sich offenbar das Denken mit Gewalt abgewöhnen wollen. In der modernen Neurologie fängt man gerade an zu begrei fen, was für ein Wunderding das menschliche Gehirn ist. Gleichzeitig müssen wir mitansehen, wie die Besitzer dieses Wunderdings immer dümmer werden. Besteht also die Gefahr, daß die Künstliche Intelligenz uns einholt oder gar überholt? Wohl kaum. Künstliche Intelligenz ist das Resultat von immer schnel ler arbeitenden Schaltkreisen. Man kann deren Anzahl und Kapazität ins Unendliche steigern, aber niemals ein Bewußtsein erzeugen. Dennoch hat der Computer "Deep Blue" den Schachmeister Kaspa row matt gesetzt. Das war auch bis vor kurzem unvorstellbar. Natürlich darf man in der Wissenschaft niemals "niemals" sagen. Als Otto Lilienthal sich 1896 bei einem Flug das Genick brach, glaubte niemand an die Ära der Flugzeuge, geschweige denn der Düsenjets.
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Aber Bewußtsein zu schaffen und es zu simulieren sind zwei Paar Schuhe. Es gibt inzwischen schon "intelligente" Programme, mit de nen man ein paar Worte wechseln kann, aber sie wissen noch lange nicht, wer sie sind. Im übrigen hat man Mühe damit, bei Menschen Beweise für ein Bewußtsein zu finden. Wie sollen es erst Maschinen haben! Das Bewußtsein scheint ein Geschenk zu sein, das nur dem Men schen gemacht wurde. War das Zufall oder die notwendige Folge der Evolution? Es war ein Zufall, wie die Entstehung der menschlichen Spezies ü berhaupt. Wir kennen die Kausalkette inzwischen schon ganz gut. Wäre nicht die Photosynthese entstanden, gäbe es keinen Sauerstoff. Wäre nicht ein großer Meteor vom Himmel gefallen, der die Dinosau rier auslöschte, wären die Säugetiere nicht zum Zuge gekommen und so weiter. Ist Lem auch zufällig entstanden? Aber natürlich. Darüber hinaus gab es zwei Herren, die ganz zufällig mein Leben deutlich mitgestaltet haben. Sie hießen Hitler und Stalin und haben bekanntlich zeitweilig zusammengearbeitet. Als Folge da von wurde ich aus Lemberg vertrieben und landete in Krakau, wo ich meine spätere Frau kennenlernte. Somit fiel auch Ihre Schaffensperiode rein zufällig in die Zeit des Kommunismus. Sind Sie vor der Zensur in die Sterne geflüchtet? Ich war nie ein politischer Mensch, geschweige denn ein Parteigenos se. In meiner Jugend las ich ein Buch von Sir Arthur Eddington, der mir die Augen für die Schönheit der Astrophysik öffnete. Dabei blieb es. Hin und wieder habe ich allerdings ironische Botschaften gegen den Kommunismus transportiert. Aber wenn wir damals den Kom munismus hatten, so haben wir heute den Klerikalismus. Muß sich der Atheist Lem etwa im heutigen Polen verstecken? Na ja, er äußert sich zum Beispiel nicht zur jungfräulichen Empfäng nis: Hätte es so etwas wirklich gegeben, hätte die Gottesmutter Ma ria eine Tochter haben müssen, weil das männliche Y-Chromosom
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fehlt. Natürlich hat ein Erzbischof längst klargestellt, daß es ihr der Erzengel mitgebracht hatte. Was zeigt uns die heutige Genetik noch, außer daß Jesus ein Mäd chen sein müßte? Nach der armen Dolly herrschte eine Triumphstimmung. Bald danach erfolgte die Dekodierung der Nukleotidsequenz eines der ersten menschlichen Chromosomen. Aber was bedeutet das? Es läßt sich vergleichen mit der Zerschnipselung der ersten Seite von Beethovens Neunter in einzelne Noten. Was können die Dekodierer schon mit dieser Datenflut anfangen? Mehr noch, man ging zur Patentierung von Fragmenten des Erbguts. Die Erkenntnis der beinah unbegrenz ten Freiheit, auf die wir zustreben, erfüllt uns mit Entsetzen. Der französische Autor Michel Houellebecq sieht im Klonen die einzi ge Rettung einer degenerierenden Menschheit, vielleicht gar den Schlüssel zur Unsterblichkeit. Die Sterblichkeit ist sicherlich das dominierende Problem der Menschheit, seit unsere Gehirne die Fähigkeit zur Selbstreflexion entwickelt haben. Viele Biotechnologen verkünden, daß die neuen Arten medizinischer Therapie die heute geltenden Grenzen des Le bens sprengen werden. Ab 2050 sollen die Menschen eine Dosis Mut terzellen erhalten, die verschiedene Organe regenerieren werden. Aber auch ein verjüngter Greis mit einem neuen Herzen, Eingewei den und so weiter wird immer noch ein Greis sein. Durch eine rein vegetative Rettung entstünde ein Leben, das nicht die Bohne wert ist. Das Hauptproblem ist jedoch, daß jedes Leben irreversiblen Pro zessen unterworfen ist. Schon Säuglinge kommen mit Merkmalen des künftigen Todes auf die Welt. Der Tod ist der Motor, der die Evo lution antreibt. Wenn er nicht wäre, würden dieses Gespräch heute zwei drei Milliarden Jahre alte Bakterien miteinander führen. Vielleicht kommt die Lösung von außerhalb? Von den grünen Männchen? Also das ist unwahrscheinlich. Aus simu lierten Berechnungen amerikanischer Kosmologen geht hervor, daß die Erde der einzige Planet in der Milchstraße sein könnte, der be wohnt ist. Es fällt mir schwer, an eine andere Zivilisation zu glauben.
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Nach Carl Sagan wäre das eine große "Raumverschwendung", ein "waste of space", wenn es nur uns gäbe. Wenn es irgendwo da draußen jemanden gibt, dann ist eine Verstän digung extrem unwahrscheinlich. Wenn ein Mensch mit Lichtge schwindigkeit reisen könnte, würde er in relativ kurzer Zeit unsere Milchstraße umrunden. Wenn er zurückkäme, würde unser Sonnen system nicht mehr existieren. Wir sollten uns lieber für die aktuellen Probleme auf der Erde interessieren. In der Tat geht hier unten bald eine Epoche zu Ende: Das "Literari sche Quartett" wird eingestellt. Wurde eines Ihrer Bücher jemals dort besprochen? Ich glaube nicht. Aber mein letzter Roman liegt bereits dreizehn Jah re zurück. Ich habe meine geistigen Weichen umgestellt und interes siere mich vorwiegend für die Wissenschaft. Als meine Bücher sehr erfolgreich in der DDR erschienen, hob ich ganze Banknotenbündel Ostgeld ab und fuhr damit mit der U-Bahn in den Westen, wo ich sie umtauschte. Zu diesem Procedere wurde ich von einem damaligen Mitglied des polnischen Schriftstellerverbandes verleitet, der Marcel Reich-Ranicki hieß. Wo und wann würde der Futurologe Lem leben wollen? In dreihun dert Jahren zum Beispiel? Leider weiß ich nicht, wie es dann auf der Welt aussehen wird. Ich weiß nicht einmal, wie es in drei Jahren aussehen wird. Dafür weiß ich aber sehr genau, was in drei Milliarden Jahren passiert: Die Son ne wird sich in einen roten Riesen verwandeln, und alles Leben ver schwindet von der Erde. Auch der Mensch? Nicht nur der Mensch. Sogar die Bakterien. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.2001, Nr. 212 / Seite 49
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Erkanntes und Erschaffenes Science-fiction als Vorbild und Mahnung:
Zum achtzigsten Geburtstag von Stanislaw Lem
Nichts ist so veränderlich wie das Gewaltige. Die Erdkruste ver schiebt sich, die biologischen Arten sind nicht fix, selbst das Univer sum (das vielleicht nur eines unter vielen ist) besitzt eine Biographie. Beschreibungen des Kosmos, die von den exakten Wissenschaften angeboten werden, haben mythischen Ursprungslehren äußerlich Flexibilität und intern permanente Korrigierbarkeit voraus; ein gele gentlicher Mangel an Stallwärme und Sinnlichkeit wird dafür gern in Kauf genommen. Was aber, wenn das moderne Weltbild die Wand lungsfähigkeit kosmischer Prozesse, auf denen es gegenüber den Ewigkeitswerten religiöser Kosmogonien besteht, noch immer unter schätzte? Was, wenn die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung und die Existenz von regulierenden Naturkonstanten die letzten Illusionen wären, von denen man sich befreien müßte, um den Mythos zu über winden? Stanislaw Lem hat es sich ausgemalt, das heißt: Er hat einen erfun denen Denker namens Aristides Acheropoulos es sich ausmalen las sen, im offenen Widerspruch zu den Gedanken naturwissenschaftli cher Koryphäen: "Einige dieser Großen, so Eddington, so Jeans, meinten, der Schöpfer selbst sei Mathematiker gewesen. Acheropou los weist darauf hin, daß die theoretische Physik die Periode solcher Fasziniertheit bereits hinter sich hat, da bemerkt worden ist, daß die mathematischen Formalismen über die Welt entweder zuwenig oder zuviel auf einmal sagen. Wir hielten diese Sachlage für vorüberge hend, Acheropoulos hingegen antwortet: Es ist den Physikern nicht gelungen, eine allgemeine Feldtheorie zu schaffen, sie haben die Phänomene der Makrowelt mit denen der Mikrowelt nicht zu vereinen vermocht, aber dies wird noch eintreten. Welt und Mathematik wer den zur Deckung gelangen, nicht dadurch, daß der mathematische Apparat weitere Rekonstruktionen durchmachen wird, nichts derglei chen; zur Deckung wird es kommen, wenn die Schöpfungsarbeit zum Abschluß gelangt sein wird, sie ist aber noch im Gange." Selten hat eine spekulative Skizze schöpferisches und erkennendes Prinzip ele ganter ineinander geblendet.
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Ein so atemberaubender, Galaxienhaufen wie Reiskörner in der Faust schüttelnder Einfall wie dieser "noch unfertige" Weltenbau, in dessen Architektur Schöpfung und Evolution einander auf allen Entwick lungsstufen durchdringen, wäre anderen Autoren gewiß eine mit viel Pathos vorgetragene philosophische Predigt wert gewesen. Lem aber gibt bescheiden vor, den Einfall lediglich zu referieren, und das auch noch indirekt, nämlich durch den Mund einer Bauchrednerpuppe. Es ist der fiktive Physiker Alfred Testa, der hier spricht und dessen Nobelpreis-Rede das Referat der ketzerischen Gedanken des neuen Giordano Bruno enthält. Der Passus steht in einer der metafiktiona len Miniaturen aus dem Band "Vollkommene Leere" von 1971. Dort macht Lem eine Reihe derartiger Exempel erfundener Literatur zum Gegenstand präziser Kritik, schwelgender Bewunderung und scharfer Polemik. Die Komposition des Buches vollzieht die Quadratur des Schöpfungsund Erkenntniszirkels: Da erfindet einer, was andere, die er gleich miterfunden hat, auf der Suche nach Erkenntnis ihrerseits erfunden haben, und das alles tut er nur, um das von den Erfundenen Erfun dene so objektiv wie möglich zu untersuchen. Wer Schöpfung und Erkenntnis entsprechend der gesellschaftlich organisierten Trennlinie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sauber auseinanderhalten möchte, der hätte aus Lems früher Biogra phie wohl nicht deduzieren können, was später geschah. Der 1921 in Lemberg geborene Autor begann nach eigener Einschätzung als leicht ungeschickter Bastler, dessen erste Liebe den Maschinen galt und der doch in seinen Jugenderinnerungen "Das hohe Schloß" von 1968 bekennen mußte: "Es ist komisch, daß ich zur gleichen Zeit im Werkunterricht immer Schwierigkeiten hatte, weil alles, was ich dort machte, etwas schief, wackelig, nachlässig ausgeführt war, so daß mir in diesem Fach ständig schlechte Zensuren drohten." Nach dem Ende der Schulzeit interessierte ihn die Funktionsweise der Maschine Mensch; er wollte Mediziner werden. Die deutsche Beset zung Polens behinderte diese Pläne zunächst. Als Automechaniker und Schweißer schlug er sich durch, um 1946 nach Krakau zu zie hen, wo er promovierte, zugleich aber auch literarische Texte veröf fentlichte - Lyrik und Aufsätze zur wissenschaftlichen Methodologie. Das Leben großer Forscher birgt ein gewisses Risiko
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Die Forschertugend der Unbestechlichkeit gab ihm früh Zweifel an der in Stalins Herrschaftsraum sakrosankten Lehre des Biologen und lamarckistischen Spinners T. D. Lyssenko ein. Er hat diese Zweifel nicht für sich behalten und sich damit vermutlich seine akademische Karriere verdorben. Aus dem jungen Forschungsassistenten wurde so bald ein Schriftsteller, der nach anfänglichen naturalistischen Versu chen schließlich jene Sorte phantastischer Literatur zu schreiben be gann, deren Handschrift ihn berühmt machte. Seine ersten Sciencefiction-Romane, "Die Astronauten" von 1951 und "Die Magellansche Wolke" von 1955, tragen noch Züge eines anthropozentrischen, trotz Bedenken hinsichtlich des Militarismus im Grunde fortschrittsoptimis tischen Expansionismus, der in den Vereinigten Staaten das Genre der space opera, also die Weltraumabenteuer der A. E. van Vogt oder E. E. Smith prägte. Später hat sich Lem ähnlich wie seine russischen Geistesverwandten Arkadij und Boris Strugatzki von diesem blauen Himmel abgewandt. Geschichtensammlungen wie die "Kyberiade" von 1974 und die "Sterntagebücher", in denen der Astronaut Ijon Tichy so absurde wie luzid berichtete wissenschaftlich-technische Münchhausiaden erlebt und die seit Mitte der fünfziger bis in die siebziger Jahre entstanden, demonstrieren einen Hang zur schwarzen Groteske, der Lems Werk von der geläufigen Literatur über Technik, Wissenschaft und Zukunft abhebt. Sie reichen schon in die finsteren Tiefen hinein, aus denen seine großen pessimistischen Romane, vor allem "Solaris", "Memoiren, gefunden in der Badewanne" und "Fias ko", ihre Formen und Fabeln schöpfen. In all diesen Büchern werden die Grenzen der (Selbst-)Verständigung von Personen, Staaten (insbesondere den beiden tonangebenden im Ost-West-Konflikt), ja ganzen Spezies erkundet. Menschen und au ßerirdische Lebensformen teilen kein semantisches Terrain und ste hen einander deshalb nicht einmal feindlich gegenüber; Zukunft kann Vergangenheit nicht verstehen; der perfekte Roboter zeigt wenig Anhänglichkeit an jene denkenden Tiere mit den nassen Gehirnen, die vor ihm kamen; nicht einmal ein Tagebuch liefert Text, den man für bare Münze nehmen darf. Sozialistischer Realismus war das keiner - der bittere Rationalist war aber ebensowenig je ein Liberaler. In der metahistorischen Antiheils geschichte eines ständigen Verfehlens von Vernunftzielen durch die geschichtsmächtigen Kräfte, die er entfaltet, steht der bare Unsinn des Warenfetischismus und des an gesellschaftlichen Bedürfnissen
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vorbeiproduzierten abstrakten Reichtums im Westen der vulgären Dummheit disziplinargesellschaftlicher Bürokratien im Osten in nichts nach. Wo ein Börsenkrach über die Menschen hereinbrechen kann wie ein Taifun und Hunderttausende durch von niemandem steuerba re, gleichwohl aber von Menschen in Gang gehaltene Prozesse plötz lich ihren Arbeitsplatz verlieren, fühlt sich der einzelne ebenso als Spielball dunkler höherer Mächte wie auf der anderen Seite des Zauns, wo Parteisekretäre nach Staatsdirektiven über Leben und Tod entscheiden. Kein Wunder bei dieser Sicht der Dinge, daß Lem, der von der amerikanischen Science-fiction nie viel hielt, unter deren Autoren ausgerechnet in Philip K. Dick einen Geistesverwandten er kannte. Dessen düstere Satiren über Menschen in zerfallenden Wirk lichkeiten veranlaßten Lem zu dem Lob, Dick sei "einer der wenigen echten Magier unter all den Scharlatanen". Immer wieder kluge Gedankenexperimente zur Inkommensurabilität moderner Lebens-, Sprech- und Wahrnehmungsweisen in lesbare, gar fesselnde Prosa gegossen zu haben ist für sich genommen schon keine kleine Leistung. Aber Lems Blick schweifte darüber hinaus in noch weitere, kältere Fernen. Die dabei erblickten Geheimnisse zu bewahren, klagte er einmal, falle Theologen leicht, denn die dürften mit Widersprüchen operieren. "Doch da die Wissenschaft ein solches Recht nicht besitzt, wird es wohl keine Übertreibung sein, wenn ich sage, daß die Mühen eines phantastischen Schriftstellers, der auf der Seite der Wissenschaft steht, gemeinhin größer sind als die Schwie rigkeiten eines Theologen, der Gott in der Vollkommenheit seines Wesens bestätigt." Das liest sich wie eine melancholisch-treffende Selbstbeschreibung Lems, entstammt jedoch seinem Aufsatz über einen der besten Science-fiction-Romane überhaupt, die Farce "Pick nick am Wegesrand" (1972) der Brüder Strugatzki, in der ein "Ge schenk" beziehungsweise "Signal" einer außerirdischen Zivilisation sich für die Menschen als weder nützlich noch schädlich erweist, son dern Schlimmeres geschieht: Es bleibt unverständlich. Phantastisch, wie der Kerl an die Welt rangeht Zwischen Unverständlichkeit, die oft genug Lems Thema war, und Phantastik gibt es freilich einen Unterschied, der kaum geringer aus fällt als der zwischen Kunst und Leben. Die phantastische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts spricht mit dreierlei Stimmen. Da ist zunächst die viszerale Stimme der kreischenden Absurdität, die im
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kommerziellen Horrorgenre zur marktgängigen Vollendung gelangt ist. Die zweite Stimme ist die eskapistische: der lockende Gesang von Sirenen einer anderen Wirklichkeit, in der die alltäglichen Prob leme der Leser, wenn schon nicht gelöst, so doch durch Verfremdung und Wiederverzauberung der Welt versüßt werden. Dem Wirkungs kreis des so gefaßten Eskapismus gehören ein Großteil dessen an, was sich Science-fiction nennt, sowie fast die gesamte FantasyLiteratur. Als dritte und am Markt leiseste Stimme mischt sich schließlich die spekulative in den Wechselgesang. Sie trägt kontra faktische Rätsel, labyrinthische Perspektiv-Verschränkungen und ver trackte Extrapolationen vor, deren philosophische Schwere nur durch spielerische Eleganz und souveräne Verfügung über literarische Mittel gemildert werden kann. Aber nicht jeder Phantast, der diesem Bereich zuzuschlagen wäre, ist auch ein großer Schriftsteller - die Faszination, die von den Werken so unterschiedlicher Naturen wie Olaf Stapledon, Jules Verne, H. G. Wells oder Alexander Bogdanow ausgeht, rührt selten von literari scher Brillanz her. Umgekehrt hat das in englischsprachigen Ländern unter dem leicht abwertenden Spottnamen des "Slumming" bekannte Phänomen, daß sich erfahrene und vielseitige Erzähler gelegentlich phantastisch-spekulativen Themen zuwenden (man denke an die Ausflüge von John Updike, Doris Lessing oder Margaret Atwood), nur selten den Effekt einer wirklich überraschenden Konfrontation der bekannten stilistischen Techniken mit neuen Herausforderungen er bracht, weil die spekulative Eigenleistung hinter der erzählerischen Versiertheit in den meisten Fällen zurückbleibt. Stanislaw Lem ist deshalb einer der ganz seltenen Autoren geblieben, deren literarische Statur zugleich mit der Reichweite seines gedanklichen, Konzepte und spekulative Konstruktionen schaffenden Vermögens gewachsen ist; die Koevolution von motivischen und erzählerischen Momenten in seinen Büchern über die Jahre zu verfolgen gehört zu den größten Freuden der Lem-Lektüre. Man hat seine prognostischen Fähigkeiten gerühmt, sein an "Empa thie mit der Technik" grenzendes Vermögen, plausible Szenarios für nichtexistente Wissenschaften und Techniken zu erfinden, man hat ihn als Entdecker der virtuellen Realität gefeiert, der den Cyberspace antizipierte, und seine große Abhandlung "Summa Technologiae" von 1964, in der Lem den erzählerischen Modus völlig im Analytischen und Spekulativen verschwinden läßt, könnte sich im Rückblick als so
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etwas wie ein Hauptwerk ausnehmen. Er selbst räumt diesem Zweig seiner Arbeit mit Recht große Bedeutung ein. Aber der grimmige Humor der späteren "Sterntagebücher", die Fä higkeit, das Hoffnungslose zu zergliedern und daraus mit literari schen Kunstmitteln doch wieder etwas wie Trost zu extrahieren, so wie die schiere Lustigkeit einiger seiner interstellaren Szenarios, die sonst außerhalb der absichtsvoll lustigen Sparten von Genreliteratur nur noch Italo Calvinos "Cosmicomics" erreicht haben, verweisen auf eine andere Dimension als die des Propheten der technischen Zei tenwende. In der Gesamtschau ist Lems Werk vor allem eine der schönsten Illustrationen der Einsicht des litauisch-amerikanischen Autors Algis Budrys, das "wissenschaftliche Element" in den besten Werken der Science-fiction habe weder mit der Methode noch der Substanz der tatsächlichen Wissenschaften zu tun, sondern bestehe einfach darin, daß versucht wird, eine Literatur zu schreiben, die sich dem Glauben, der Nachempfindung des Gegebenen und dem Kon sens in jedem Moment verweigert und stets willens ist, die eigenen Fundamente zu untergraben. Lem ist zeit seines Schaffens so ein budrysscher "WissenschaftlerLiterat" gewesen: allzeit bereit, dem Unverständlichen ohne Angst gegenüberzutreten, es nicht auf schon Bekanntes zu reduzieren, aber den Versuch, es zu verstehen, dennoch niemals aufzugeben. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2001, Nr. 209 / Seite IV
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Lesestoff in Los Alamos
Die Fiktionen der Zukunftsromane könnten die Wirklichkeit von morgen sein: Wie Wissenschaftler Politiker rumkriegen Von Gregory Benford Wer wäre berufener über den Zusammenhang von Wissenschaft und Fiktion zu handeln als Gregory Benford? Als Professor für Astround Plasmaphysik an der University of California, Irvine, lieferte er wich tige Beiträge, etwa zur Erforschung "superstarker" Turbulenzen im Plasma. Zugleich ist er ein höchst erfolgreicher Autor von Sciencefiction-Romanen, von denen eine Reihe im Heyne-Verlag auf deutsch erschienen sind. Sie gehören zu jener Spielart der "harten" SF, deren Phantasien auf solidem wissenschaftlichem Fundament ruhen. Wäh rend in sein Werk neueste Forschungen einfließen, verfolgt er in die sem Essay den umgekehrten Weg und geht den Spuren nach, die Fiktionen in den Köpfen der Wissenschaft hinterlassen haben. Von der enormen Wirkung Jules Vernes auf die Richtung wissenschaftli cher Neugierde bis zu den Tischgesprächen des Manhattan-Projekts erscheinen Wissenschaft und Fiktion als ein System kommunizieren der Röhren, wie eines jener Magnetfelder, die Benford erforscht. Daraus folgt auch, daß die möglichen Konsequenzen heutiger Zu kunftsvisionen der Biotechnologie in Filmen und Erzählungen deutli cher zu erkennen sind als in wissenschaftlichen Publikationsorganen. F.A.Z. Der russische Raketen-Visionär Konstantin Ziolkowski schrieb einmal: "Die ersten Samen zu meinen Ideen wurden von dem groß artigen Schriftsteller Jules Verne gesät; er leitete mein Denken in bestimmte Kanäle, daraus entwickelten sich Wünsche, und erst dann begann mein Verstand zu arbeiten." Daß sich Science-fiction-Autoren von der Wissenschaft inspirieren lassen, ist bekannt. Aber daß der Ideenfluß häufig auch die umgekehrte Richtung nimmt, wird oft ver gessen. So wurde der russische Hubschrauber-Pionier Igor Sikorsky von Vernes Buch "Robur der Eroberer" angeregt; der Höhlenforscher Norman Casteret ließ sich von der "Reise zum Mittelpunkt der Erde" inspirieren. Auch so unterschiedliche Talente wie der Erfinder Santos Dumont, Juri Gagarin oder die Ingenieure Simon Lake und Lucius Beebe verdanken ihre Ideen den Visionen Jule Vernes. Auch die jüngere SF-Literatur hat die Wissenschaft mit Anregungen versorgt. So begann Leo Szilard 1932 seine Arbeit an der Kernspal tung, nachdem er H. G. Wells' "The World Set Apart" gelesen hatte.
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Werner von Braun war so süchtig nach Science-fiction, daß man ihm selbst in Kriegszeiten sein Abonnement des amerikanischen SFMagazins "Astounding" mit Diplomatenpost über Schweden nach Deutschland schickte. Viele Erfindungen, so zum Beispiel Roboter, Laser, Computer und Radar, haben in den Büchern von SF-Autoren erstmals das Licht der Welt erblickt. "Man kann nicht sagen, daß Science-fiction-Autoren und Leser es vermochten, einen Menschen auf den Mond zu schießen", so Isaac Asimov, "aber diese Bücher ha ben ein geistiges Klima geschaffen, das überhaupt erst Akzeptanz für solche Ideen erzeugte." Mein eigenes Interesse an diesen Dingen geht auf die Jahre 1967 bis 1971 zurück, in denen ich am Lawrence Radiation Laboratory arbei tete. Ich war von Edward Teller eingestellt worden, der das Vorbild für den Titelhelden von Stanley Kubricks Film "Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben" (1963) abgegeben hatte. Tellers tiefsinniger Verstand machte damals großen Eindruck auf mich. Ich war im Schatten des Kalten Krieges aufgewachsen: Mein Vater hatte als Soldat Karriere gemacht, und unsere Familie lebte in der Nach kriegszeit für sechs Jahre in Japan und Deutschland. Es schien mir damals, als wäre die Unmöglichkeit eines Einsatzes nuklearer Waffen der beste und einzige Weg, um einen strategischen konventionellen Krieg zu vermeiden, dessen schreckliche Folgen ich in den Ruinen von Tokio und Berlin gesehen hatte. Diese Erfahrungen aus erster Hand wurden durch meine Science-fiction-Lektüre ergänzt. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Fiktion stoßen ehrenwerte und phantasievolle Ziele notwendigerweise auf praktische Hindernis se. Ich habe mich nie mit der Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis abfinden können. Meine Kindheit hat mich gelehrt, daß selbst die fortschrittlichsten Nationen instabil waren: Gerade die ganz Großen schienen besonders gefährdet, fatale Fehler zu machen. Heute be stehen für die Ängste meiner Kindheit kaum mehr Anlaß, denn Fikti on und Wirklichkeit scheinen einander nicht mehr diametral gegenü berzustehen. So werden unsere gegenwärtigen wissenschaftlichen und technologischen Probleme wie Genmanipulation, Treibhauseffekt und Atomkraft fast immer nach dem Modell der typischen Frage der SF-Literatur diskutiert: Was wäre, wenn? Wir werden mit einer Zukunft konfrontiert, die uns die Legenden der Vergangenheit entgegenhält. H. Bruce Franklin vertrat in seinem Buch "War Stars: The Superweapon and the American Imagination"
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(Oxford University Press, 1990) die These, daß die Science-fictionLiteratur besonders der frühen populären Magazine die amerikani sche Außenpolitik nachhaltig beeinflußt hat. So las beispielsweise Harry Truman während der dreißiger Jahre die billigen SF-Heftchen, in denen die bösen Mächte immer durch Superwaffen wie Strahlen gewehre und -schilder, Bomben und Spiegel im All besiegt wurden. In den Heftchen-Geschichten wurden diese Waffen oft auch nach dem Sieg in Bereitschaft gehalten, um für eine ungewisse Zukunft gewappnet zu sein. Und Truman war nicht der einzige, der sich von diesen Fiktionen anregen ließ. Die populäre Kultur hat eine breite Wirkung: Ich habe beispielsweise immer wieder erlebt, wie Wissen schaftler Science-fiction-Texte zitierten, um Argumente für oder ge gen den Nutzen hypothetischer Waffen zu finden. Je mehr Physiker ich kennenlernte, desto engmaschiger wurde das Netzwerk, das wis senschaftliche Argumentation und Fiktion miteinander verbindet. Am meisten hat mich das wissenschaftliche Spekulationsvermögen des englischen Physikers Freeman Dyson beeindruckt, den ich an der Universität von San Diego erlebte. Dyson hatte die Kühnheit, seine verrückten Ideen auf den wissenschaftlichen Kolloquien des Instituts vorzustellen. Hier sprach er zum Beispiel über die Erforschung des Alls mit Hilfe von Nuklearraketen und über seine gewagten Vorstel lungen äußerst seltsamer Lebensformen im Universum. Er hatte da mals gerade eine kurze Notiz über ein später als "Dyson-Sphären" bekannt gewordenes Phänomen veröffentlicht: gemeint waren riesige Zivilisationen, die um einen Stern kreisen und dabei alles verfügbare Sonnenlicht absorbieren und Infrarot-Strahlen aussenden. Dyson schlug vor, diese Strahlung zu nutzen, um die Zivilisationen erfor schen zu können. Die These über die "Dyson-Sphären" war seine Antwort auf Enrico Fermis Frage, warum die Erde noch nicht von Au ßerirdischen besucht worden war: Dyson konstatierte, die Aliens blieben einfach zu Hause, und mit ihnen auch all die Energie, die sie brauchten. Auch Dyson hatte als Kind Jules Verne gelesen. Als er acht Jahre alt war, schrieb er einen SF-Roman mit dem Titel "Sir Phillip Robert's Erolunar Collision", in dem Wissenschaftler die Umlaufbahnen von Asteroiden umleiten. Später war Dyson dreist genug, um hochspeku lative und hahnebüchene Ideen in angesehene wissenschaftliche Zeitschriften einzuschmuggeln. Als ich ihn darauf ansprach, antwor tete er grinsend, er sei nicht der einzige, und tatsächlich konnte er
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sich auf eine englische Tradition der Spekulation über die Zukunft berufen, die schon J. D. Bernal und sein Buch "The World, the Flesh and the Devil", Olaf Stapledon und Arthur C. Clarke hervorgebracht hatte. In seinem Buch "Infinite in All Directions" schrieb Dyson: "Schließlich ist Science-fiction nichts anderes als die Erkundung der Zukunft mit den Mitteln der Wissenschaft." Diese Auffassung wurde damals von vielen geteilt. Während meines ersten Studienjahres in La Jolla durfte ich erleben, wie Leo Szilard in den Kolloquien seine vielen Ideen präsentierte. Szilard hatte Einstein dazu gebracht, den berühmten Brief an Roosevelt zu schreiben, in dem dieser erklärte, daß eine Atombombe möglich sei und für das Manhattan Project plädierte. Szilard hatte ein unglaubliches Talent dafür, entschei dende Momente zu nutzen. Er hatte das Potential der Kernphysik schon früh erkannt und seinen Kollegen schon Mitte der dreißiger Jahre einge schärft, ihre Forschung geheimzuhalten. Ich las 1961 Szilards satirischen Science-fiction-Roman "The Voice of the Dolphins" und seine SFKurzgeschichten. Szilard war besessen von den Gefahren der Atomfor schung, und Dyson nahm einige dieser Ideen auf. 1976 gelangte einer von Dysons Studenten in die Schlagzeilen, weil er allein auf der Grundla ge publizierter Daten eine funktionsfähige Atombombe entworfen hatte. Ich habe mich auch immer gefragt, wie es Teller wohl geschafft hat, so effektiv auf politische Entscheidungen einzuwirken. James Gleick be schreibt in "Genius", seiner Biographie über Richard Feynman, daß Tel ler während der vierziger Jahre so kreativ und respektiert wie Feynman war. Er war der Kopf des Manhattan Project, und so mußte ich ihn ein fach über die Verbindungen zwischen Science-fiction, wissenschaftlicher Forschung und Wissenschaftspolitik befragen. Er antwortete mir: "Was langfristige Spekulationen anbetrifft, so vertraue ich nur den wahren Visionären unter den Schriftstellern: Heinlein, Asimov und Clarke habe ich immer gern gelesen; sie sind auf lange Sicht viel wichtiger als ir gendein Verteidigungsminister." Er erzählte dann, wie auch er während der vierziger Jahre in Los Alamos zunächst die billigen SF-Hefte gelesen hat, dann in den fünfziger Jahren die ersten gebundenen Bücher kaufte und schließlich aufgrund seiner Arbeitsbelastung nur noch einigen Favo riten, zumeist hartgesottenen SF-Romanen, die Treue hielt. Schließlich zitierte er einen interessanten Abschnitt aus einem alten SF-Taschenbuch: "Wir suchten nach einer Möglichkeit, um U 235 in einer kontrollierten Explosion zum Einsatz zu bringen. Wir hatten die Vision einer Ein-Tonnen-Bombe, die die Wirkung eines gewaltigen
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Luftangriffs hätte und eine einzige Explosion erzeugen würde, mit der ein ganzes Industriegebiet ausgelöscht werden könnte ... Wenn es uns zudem gelingen würde, einen wirkungsvollen Raketentreibstoff zu entwickeln, einen Treibstoff, der eine Rakete mit einer Geschwin digkeit von tausend Meilen pro Stunde oder mehr fliegen lassen könn te ... Wir arbeiteten das ganze Jahr 1943 und auch noch während ei niger Monate des nächsten Jahres an diesem Projekt. Der Krieg in Eu ropa und die Probleme in Asien wurden schlimmer. Als dann Italien kapitulierte ..." Dieses Zitat stammt aus Anson MacDonalds alias Ro bert A. Heinleins Erzählung "Solution Unsatisfactory", die im Mai 1941 im SF-Magazin "Astounding" abgedruckt worden war. Heinlein antizi piert in dieser Geschichte sogar die Entwicklung des Krieges, und dies beeindruckte auch Teller. Er erzählte, wie die Physiker des Manhattan Project sich beim Mittagessen manchmal über SF-Geschichten aus tauschten, die sie gerade gelesen hatten. Bei einer dieser Gelegenhei ten bemerkte einer der Mitarbeiter, daß Heinleins Geschichten der Wirklichkeit auf unheimliche Weise nahekamen: Auch wenn nicht alle Details übereinstimmten - denn er beschrieb ja keine Bombe, sondern den Einsatz von radioaktivem Staub -, so kam er doch den verhee renden Wirkungen des Einsatzes einer atomaren Waffe sehr nahe. Mir war schon in den fünfziger Jahren aufgefallen, daß Heinleins Spe kulationen in mancher Hinsicht Wirklichkeit geworden waren. Dies bezog sich auf die Tatsache, daß der atomare Niederschlag nach ei ner Explosion viel mehr Menschen töten kann als die Explosion selbst. Man kann noch von Glück sagen, daß die Bomben von Hiro shima und Nagasaki, da sie in der Luft detonierten, nicht so viel Erde aufwirbelten und daher nur relativ wenig Niederschlag erzeugten. Der Niederschlag einer Wasserstoffbombe hätte dagegen eine weit aus verheerendere Wirkung. Teller sagte auch, daß die Physiker in Heinleins Beschreibung der strategischen Situation eine ernüchternde Warnung sahen, denn die nuklearen Waffen führten in eine strategische Sackgasse, was eine unzulängliche Lösung der Probleme darstellte. Die Physiker, die an den neuen Waffen arbeiteten, beschäftigten sich intensiv mit der Frage, wie solche unzulänglichen Lösungen vermieden werden konn ten und wie verhindert werden konnte, daß die nuklearen Waffen totalitären Staaten in die Hände fielen. Heinleins Geschichten konkre tisierten diese Faustischen Dilemmata in einzigartiger Weise.
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Drei Jahre später wurde beim Mittagessen in Los Alamos Cleve Cart mills Text "Deadline" diskutiert, der ebenfalls in "Astounding" er schienen war. In dieser Geschichte wurden tatsächlich die IsotopenTrennung und die Konstruktion einer Bombe detailliert beschrieben. Außerdem gipfelte die Handlung in jener Frage, die damals auch von den Physikern in Los Alamos leidenschaftlich diskutiert wurde: Soll ten die Alliierten die Bombe einsetzen? Es muß auf die in Los Alamos versammelten Wissenschaftler aus aller Welt besonders verblüffend gewirkt haben, daß sie, abgeschottet von allen Traditionen humanis tischer Bildung, mitten in der Wüste von New Mexico auf einen Text gestoßen waren, der ein solches Szenario entwarf. Die Diskussionen über Cartmills "Deadline" waren von entscheiden der Bedeutung. Die Geschichte enthielt frappierende Details und mo bilisierte dadurch starke Reaktionen. War es möglich, daß dieser ob skure Text tatsächlich thematisierte, was die amerikanische Öffent lichkeit wirklich über die neue Superwaffe dachte oder denken wür de, wenn man sie informierte? Die Gespräche beim Mittagessen er regten Aufmerksamkeit. So erinnerte sich Teller daran, wie ein Si cherheitsoffizier mit großem Interesse lauschte und Notizen machte. Rückblickend ist offenkundig, daß die Gespräche der Physiker für die Spionage-Abwehr von großem Interesse waren. Wer war denn über haupt dieser Mensch namens Cartmill? Woher hatte er sein detaillier tes Wissen? Wer hatte ihn über die Probleme der Isotopen-Trennung informiert? Die Wissenschaftler haben sich also schon immer für Science-fiction interessiert, und vermutlich gibt es viele Geschichten darüber zu er zählen, wie Ideen sich aus Träumen zu tatsächlichen Produkten ent wickelt haben. Und natürlich wären die Autoren der damaligen Ära, wie auch heute schreibende Science-fiction-Autoren, sehr befriedigt, wenn sie erfahren könnten, wie ihre Texte in die Geschichte einge gangen sind. Vermutlich hat damals beim Mittagessen in Los Alamos tatsächlich jemand mitgehört. Und das wird heute nicht anders sein. Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts glich einem Schlacht haus, und das größte Problem bestand in der Möglichkeit unabsehba rer kriegerischer Aktivitäten. Dieses Problem wurde gelöst, indem die Menschheit durch die nukleare Abschreckung zu einem strategischen Frieden gezwungen wurde, auch wenn es ein halbes Jahrhundert ge dauert hat, um die Feindschaft zwischen den beiden Supermächten zu befrieden.
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Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat uns Computer und biologische Technologien beschert. Diese Neuerungen werden die Bühne für das nächste Jahrhundert bereiten, in dem nicht mehr die Physik, sondern die Biologie über den Gang der Dinge entschei den wird. Die spekulative Literatur sollte sich daher den vielen Fra gen zuwenden, die sich durch unser immer komplexeres Wissen über die Genetik ergeben. Zudem werden wir auch unseren Planeten auf andere Weise in die Hand nehmen müssen, denn es wird darum ge hen, die Energiebalance und die schrumpfenden Ressourcen in den Griff zu bekommen. Wo können wir angesichts dieser drängenden Probleme Orientierung finden? Am ehesten wohl in Geschichten, in denen die Anliegen der Menschheit und technologische Versprechungen miteinander verbun den werden. Dabei kann uns auch eine andere typische Frage der Science-fiction-Literatur helfen, die Frage danach, wie es weiterge hen soll: Können wir der Aufgabe, unseren Planeten vernünftig zu gestalten, gerecht werden, wenn wir uns weiterhin in traditioneller Weise definieren? Vielleicht sind die Science-fiction-Autoren tatsächlich die geheimen Gesetzgeber der Zukunft. Dies hat vermutlich schon Mary Shelley, die Schöpferin des "Frankenstein", gewußt. Sie hat im neunzehnten Jahrhundert Probleme ins Auge gefaßt, die jenseits literarischer Kon ventionen lagen. Ihr Werk hat die unzähligen traditionellen Romane überlebt, deren Konventionen uns heute nur noch wie in Bernstein gebettete Insekten vorkommen. Die Figur Frankensteins aber wird immer wieder in biologischen Zusammenhängen - wenn auch manchmal fälschlich - heraufbeschworen. Mary Shelley war die Erfin derin der Science-fiction. Ihr Mann, der romantische Dichter Shelley, wog sich noch in dem Irrglauben, die Zukunft würde von seinesglei chen gestaltet werden. Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.2001, Nr. 143 / Seite 46
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Wir wissen nicht, wer "wir" sind Paranoia als Mythos und Realität:
Über Philip K. Dick, die Ausnahmeerscheinung der Science-fiction,
die uns lehrte, dem eigenen Spiegelbild zu misstrauen
In einem berühmt gewordenen Aufsatz hat Michel Butor schon vor einem halben Jahrhundert der Science-fiction vorgeworfen, sie blen de zwar mit spektakulären Bildern und Themen, sei jedoch im Grun de banal und schminke nur alte Geschichten um - sie habe "die Tore weit geöffnet, um auf Abenteuer auszuziehen, und sei dann nur ums Haus herumgegangen" ("La crise de croissance de la science-fiction", 1953). Dieser Vorwurf war und ist nur allzu berechtigt; die SF war immer ein Genre, das einen großartigen Erfindungsreichtum in Ein zelheiten mit einer hartnäckigen "utopischen" Maskerade des ideolo gisch Trivialen verknüpfte, ihre Autoren Kinder, die "ums Haus her um" Weltraum spielten. Was aber, wenn ein solcher Autor ums Haus herumginge in einem anderen, einem Chestertonschen Sinne? In Chestertons Roman "Ma nalive" geht ein Mann, den sein Haus langweilt und deprimiert, in der Tat einmal darum herum - er geht aus der Haustür, umwandert den ganzen Planeten und nähert sich schließlich begeistert dem wieder um bezaubernden, verblüffenden und "neuen" Haus von der Rücksei te. So fällt ein anderer Blick auf das Vertraute, und es kommt dabei auch die Wahrheit zum Vorschein, daß das Finale unserer wichtigsten Abenteuer in der Tat "zu Hause" stattfindet, nicht auf dem Mars. Man weiß das, wenn man vom Mars zurückzukehren versteht. Die Science-fiction hat dieses Kunststück nicht oft zustande gebracht, meist ist sie tatsächlich nur einmal mit einem Raumhelm durch den Vorgarten unserer Realität gerannt, grell verkleidet wie zu Halloween, in Kos tümierungen, an denen man mit sechzehn oder siebzehn Jahren den Geschmack verliert. Unter den bemerkenswerten Ausnahmen, die es hier gibt, ist das OEuvre von Philip K. Dick (1928 bis 1982) vielleicht die größte. Die ser enorm fruchtbare Autor, der zuerst in den fünfziger Jahren die SF-Magazine mit einer Flut von erstaunlichen Geschichten fütterte und dann eine lange Reihe noch erstaunlicherer Romane schrieb (da von allein sechzehn im großen Schub der Jahre 1964 bis 1969), ist
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kein ganz Unbekannter mehr, aber hinreichend vertraut ist der le senden Öffentlichkeit dieses große Beispiel, was die SF vermag, wenn sie im Ernst zu spielen beginnt, noch immer nicht. Das OEuvre eines solchen Schriftstellers ist nur denkbar auf dem Hintergrund einer riesigen Menge schlechter Literatur; es ist, als ob eine Form wie die SF gelegentlich - wenn ein besonders hoher Sätti gungsgrad von mehr oder minder originellen Varianten der Stereoty pie erreicht ist, vielleicht auch dann, wenn die Unoriginalität des Im mergleichen besonders bedrückend geworden ist - etwas wie einen Mutationssprung durchläuft. Stanislaw Lem hat in einem berühmten Aufsatz, der eine vernichtende Kritik der SF und ihrer Fans enthält (derentwegen er aus der Science Fiction World Association ausge schlossen werden sollte), nur eine einzige Ausnahme gemacht: für Philip K. Dick. Dieser ist der exzeptionelle Schriftsteller - aus der SF hervorgegangen, aber ihr Gegenmodell bietend. Lems verachtungsvolle Abrechnung mit der biederen SF kann aller dings nicht ignorieren, daß das stupende Talent von Dick seine Tri umphe deshalb feiern konnte, weil es sich bis zur Trunkenheit mit dem kruden, grellen Material der utopischen und dystopischen Bana lität vollgesogen hatte. "Er hat eine äußerst raffinierte Taktik erfun den: er bedient sich der Kitschelemente - das heißt derjenigen aus gearteten Moleküle, die einst sakral-metaphysischen Wert besaßen in einer Weise, die zur allmählichen Wiederauferstehung des lange toten Metaphysisch-Geheimnisvollen führt. Er läßt sozusagen den Kitsch gegen den Kitsch ankämpfen, er leugnet ihn nicht, er wirft ihn nicht weg, sondern er baut aus ihm eine Jakobsleiter in den entsetz lichen Himmel hinauf . . ." Allerdings mußte dem Autor genug Luzidi tät bleiben, um die Ambivalenz von etwas zu verarbeiten, das glei chermaßen berauschend und unbefriedigend war, um fasziniert und abgestoßen zu sein von den Pulp Magazines. Wie Susan Sontag konstatiert hat ("Notes on ,Camp'"), bedarf es zur Reflexion über einen Stil, einen Geschmack der doppelten Voraussetzung: "einer tiefen Sympathie, durch starke Abneigung verformt". In der Science-fiction begegnet man gelegentlich dem seltenen Grenzfall eines in sprachlicher Hinsicht gleichgültigen (allerdings auch nicht unangenehm unbeholfenen) Erzählens, das durch die Kraft sei nes Erfindungsreichtums "literarisch" wird. Zu Dicks Begabung ge hört der Sinn für das richtige Detail. In "The Man in the High Castle"
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(1962), einer Geschichte von alternativer Zukunft, in der sich nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland und Japan die Vereinigten Staa ten geteilt haben, bringt nichts die Lage in dieser Anderswelt mit ihrer kolonialistischen Dialektik so schön und erhellend auf den Beg riff wie das leidenschaftliche Interesse der japanischen Besatzer an Mickey-Mouse-Uhren und New Orleans Jazz: In solchen kleinen Schilderungen erhellt sich ein Begriff von historischer Kontingenz, der bekräftigt wird, wenn im Roman ein Autor unsere Nachkriegszeit als exzentrische Science-fiction entwirft. Zum bösen Blick fürs Detail gehört eine umfassendere Reflexion, die mit dem Zugriff von Satire und Soziologie den glitzernden Schrott unserer Unterhaltungskultur so lange in den Händen dreht, bis er seine infernalischen Züge preisgibt. Nirgendwo ist Dick so boshaft präzise wie in seiner Einsicht, daß sich für unsere Zukunft die beun ruhigenden klassischen Probleme der Philosophie - Raum und Zeit, Selbst und Wirklichkeit - stets unter dem Aspekt der Mode und des Entertainments stellen. Daß Telepathen nichts Besseres zu tun haben werden, als - wie "pre-fash"-Experten - die nächsten Moden für Design-Firmen auszuspähen ("The Three Stigmata of Palmer Eldritch", 1965); umgekehrt: daß der Mann, der ewig dasselbe Preisausschrei ben mit der ewigen Frage "Where will the little green man be next?" löst, hinter einem hypnotischen Schleier tatsächlich ungeheuer kom plizierte mathematische Prognosen für das Militär anstellt, welches diese für die Raketenabwehr in einem kosmischen Krieg benötigt und dem labilen Genius deshalb eigens die Kleinstadt seiner Kindheit nachgebaut hat ("Time Out of Joint", 1959): Diese Verbindung von paranormalen Fähigkeiten mit dem Schickimicki, der Alltagsbanalität mit dem kosmischen Horror ist vielleicht die typische Signatur seiner Texte. Der Wahnwitz ist banal verankert, die Banalität wahnhaft. Nie mand versteht es besser als Dick, ein paranoides Kolportagemodell vorzuführen und zu einer befremdenden Plausibilität umzustülpen. Mythen der Paranoia sind entscheidend wichtig für Dick; das verbin det ihn etwa mit Burroughs. Man hat darauf hingewiesen, daß Dicks SF der sechziger, siebziger Jahre vor allem nach zwei zentralen Prin zipien organisiert ist: universale Warenförmigkeit aller Gegenstände und Beziehungen; ubiquitäre Verschwörungen. Daß das Leben des Autors ebenfalls von Verschwörungs- und Offenbarungswahn durch flackert war, hat sich erst nach und nach den Lesern offenbart. Die Diagnose, die man hier den sich wechselseitig imitierenden Instanzen
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Kunst und Natur stellen muß, ist besonders verwirrend, weil Dick lange als einer der wenigen politisch hellsichtigen Autoren im Bann kreis der Science-fiction galt. Ganz zu Recht, aber diese Zuordnung hat eine hochkomische Pointe. Er hatte schließlich in seinen letzten Lebensjahren nicht nur wegen der selbst Literaturwissenschaftlern ins Auge springenden Originalität seiner Texte, sondern auch deshalb Aufmerksamkeit erregt, weil man an den Universitäten der siebziger Jahre meinte, hier plötzlich an überraschendem Ort einen Schriftstel ler der Linken entdeckt zu haben. Hier beginnt die hervorragende Komödie der Paranoia. Bei Dick war in der Tat über die anarchistische und - auf ihre Art radikal kapitalismuskritische Prosa seiner SF hinaus die eine oder andere unmißverständlich politische Intervention zu lesen; die ersten Sätze seines kleinen, nach der Bombardierung Kambodschas und dem Einbruch in Watergate geschriebenen Aufsatzes "Die NixonBande" mögen das Kaliber andeuten: "Der Umfang der despotischen Gang organisierter Berufsverbrecher, die legal an die Macht gekom men sind (wie Hitler in Deutschland), wird der Öffentlichkeit der Ver einigten Staaten nun nach und nach enthüllt. Wir Amerikaner sind nun genau in der Situation des deutschen Volkes in den dreißiger Jahren: Wir haben eine kriminelle Regierung gewählt, die uns ,vor dem Kom munismus retten' sollte, und wir werden sie nicht wieder los." Daß auch Paranoiker Feinde haben, war für Dicks Fans schon 1971 bewie sen, als irgend jemand (das FBI?) bei ihm einbrach und einen Teil sei ner Papiere stahl (Hatte er, überlegte man damals, irgendwo beiläufig etwas Hochgeheimes als Gag in einen Roman eingebaut?). Noch bizarrer war dann allerdings die Entdeckung, daß Dick selbst ab einem gewissen Zeitpunkt regelmäßig seine akademischen Bewunde rer wie den bedeutenden marxistischen Kritiker und Literaturwissen schaftler Frederic Jameson (der Dick in einem Nachruf als den "Shakespeare der SF" rühmte) beim FBI als Emissäre des KGB de nunzierte. Hier haben wir eine groteske Glosse zum Verhältnis von akademischem Interpretationsdiskurs und dem, was man einmal "Trivialliteratur" nannte: Der Trivialproduzent wird von der radikalen Universitätsphilologie im Pantheon des Kanons inthronisiert und dankt es ihr, indem er die wohlmeinenden Literaturwissenschaftler als subversive Kommunisten anzeigt. Es gibt hier allerdings auch unangenehme Vorfälle, die nur noch peinlich sind: Wenn Dick ausge rechnet Lem ("from Krakow, Poland") als den Spiritus rector dieser
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stalinistischen Verschwörung anprangert, wird einem klar, daß es bei diesem genialen Komiker auch eine Zone tiefer verwirrter Humorlo sigkeit gegeben hat, wo die Ranküne obsiegte. Hier müßte man vermerken, daß Dick während seiner letzten acht Lebensjahre immer wiederkehrende Visionen rosafarbenen Lichts hatte, in welchen ihm eine ganze Kosmologie geoffenbart wurde. Daß er sich nie ganz sicher war, ob es sich hier um eine Botschaft von Außerirdischen, eine Drogenhalluzination oder um die Stimme Gottes handelte, zeigt eine letzte Resistenz gegen den Wahn. Es ist eigenar tig, wenn man die Schilderung dieses Phänomens etwa in der inte ressanten Biographie von Lawrence Sutin nachliest: Das Schauspiel eines intelligenten Mannes, der die psychologische und religiös philosophische Literatur umpflügt, um zu begreifen, was für Stimmen er da hört, hat etwas ergreifend Komisches, und man meint auch eine gewisse unbesiegbare geistige Robustheit in Dicks Versuchen zu entdecken, seine eigenen Seltsamkeiten zu verstehen. Aber es hat auch etwas Unheimliches, als sei die Logik der Thriller-Phantasien seiner Romane - daß es keinen Ort gibt, an dem man sich verbergen kann - in sein Leben eingewandert. Dies aber - Visionen, Verehrung durch "kommunistische" Akademi ker, zunehmende Verschrobenheit - war der Endpunkt einer langen Laufbahn, die größtenteils unter Ausschluß der literarischen Öffent lichkeit im Dschungel des SF-Fandoms stattfand. Wie viele amerika nische Kult-Autoren (von Poe bis zu den auteurs des HollywoodKinos) ist auch Dick in Europa, vor allem in Frankreich, früher und intensiver rezipiert worden als in den Vereinigten Staaten. Dies mag damit zusammenhängen, daß seine Texte, unruhige Traumwelten zwischen Leben und Tod, Erde und Weltraum, Alltag und Universum, durchaus eine gewisse Affinität zum Surrealismus und zur paraphysi schen Komik haben. Der Reiz dieses Erzählens liegt in der bricola geartigen Zusammenführung heterogener Elemente: Satire, Para noia, Melancholie und eine (beklemmende, aber in ihrer durchge knallten grandeur auch befriedigende) Geschichtskonstruktion. "Ge schichte" ist hier immer experimentell verformt durch ein phantasti sches Element oder mehrere solcher Elemente, deren Auswirkungen mit großem Erfindungsreichtum durchgespielt werden. Daß das In einander der Elemente nicht ganz "aufgeht", daß Teile des Puzzles zu fehlen scheinen, gehört zu den Zügen des hochentwickelten Genres, bei denen zwischen einem unfreiwilligen Defekt und einer bewußten,
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subtilen Strategie nicht immer zu unterscheiden ist. Vieles aber bleibt großartiges, souverän durchgeführtes Phantasiekonzept: Man lese nur die große Reise durch die Vereinigten Staaten in "UBIK", in deren Verlauf in einer Umkehrung des Zeitstroms die Gebrauchsge genstände, die Währung, die Zeitungen rapid "altern" und der Prota gonist immer tiefer in die Vergangenheit zurückgeschleudert wird. Zu Butors Vorwürfen gehörte es, daß die SF sich verzettelt, anstatt (in gemeinsamen Anstrengungen) Gesellschaftsmodelle und Entwick lungslinien zu entwickeln und durchzuspielen. Das ist eine letzte Be schwörung des klassischen utopischen Impulses, der eine "richtige" Gesellschaft ausmalen will, und hier verfällt Butor bereits selbst einer spätaufklärerischen Illusion. Diese Gemeinsamkeit beim Erbauen einer imaginären Welt hat sich niemals realisiert, höchstens als Paro die in den infantilen Zusammenrottungen von Fantasyspielern. Die Hilfsdienste aber, welche die individualistische SF immerhin der ge sellschaftlichen Reflexion leisten kann, liegen stets im dystopischen Bereich, kraft der kalten Hellsicht, die jene zukünftigen Absurditäten beschwören kann, die uns unversehens einholen. Dicks Texte stecken voller böser Gesellschaftskritik, in seinen Visio nen tauchen immer wieder outrierte Details auf, die nach dreißig Jah ren schon nahezu Common-sense-Züge angenommen haben: In der Gesellschaft der Zukunft, die das Aufblühen des Treibhauseffekts erlebt, wird jeder Bürger ein halbes Vermögen für die Kühltechnik ausgeben müssen. Die meisten tierischen Spezies sind in der Welt des radioaktiven Fallout ausgestorben, was ein lebendiges Tier zum bedeutenden Statussymbol macht und einen lebhaften Markt für e lektronische Tierattrappen begründet: Der Roman "Do Androids Dream of Electric Sheep?", berühmt als Vorlage für Ridley Scotts Film "Blade Runner" (1982), spielt mit der verwunschenen Metapher sei nes Titels auf das "elektrische Schaf" an, das im Haushalt des Prota gonisten auf dem Dach grast. (Auch hier geht Dick über die Satire hinaus: Er zeigt, daß wir die Tiere erst "erkennen", wenn sie nicht mehr da sind.) In diesen Details zeigt sich auch ein lebhafter Sinn für die Situations komik der zukünftigen Warenwelt, ein Humor, der die unendlichen Möglichkeiten der slapstickartigen Verkomplizierung des Alltagsle bens durch elektronische Kaffeeautomaten und Türschlösser schon sehr zeitig durchgespielt hat (und wiederum Dicks Einsicht in alle
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Formen gesellschaftlicher Entropie demonstriert). Die Tür verlangt morgens Geld, wenn man die Wohnung verlassen will, und verweist auf einen Paragraphen des mit ihr geschlossenen Vertrages; der e nervierte Benutzer holt ein Küchenmesser und schraubt sie von der Wand. ",Ich werde Sie verklagen', sagte die Tür, als die erste Schraube herausfiel" ("UBIK"). Die SF gewährt uns eine Perspektive - um mit dem Neuen Testament zu reden - "wie in einem Spiegel" (oder besser, in der Übersetzung der St. James's Bible, "through a glass darkly" - ein Zitat, das selbst ein beliebter SF-Titel ist). Diese Blicke in einen Kristall sind verzerrt, und man weiß nicht, ob das Agens der Verzerrung Naivität oder bit tere Scharfsicht ist. Trotzdem sollte man gerade auch im Hinblick auf den verworrenen Optimismus unserer gentechnologischen und vir tualitätselektronischen Diskussionen (dem ein wie gelähmter Huma nismus gegenübersteht, der nichts begreift außer der unkontrollier baren Dämonie der Vorhaben) Dicks kunstvoll stolpernde Parade von Androiden und Maschinen studieren. Die künstlichen Menschen seiner Phantasie - ob Räderwerk, ob Homunkulus - lehren uns vor allem eines: Ihre Erschaffung setzt einen technisch wie moralisch unüber schaubar komplexen Prozeß in Gang. In "We Can Build You" geht die Frauenzimmer Piano Company in einem marktgünstigen Moment von der Produktion von Musikautomaten über zur Herstellung von Repli katen großer Politiker des amerikanischen Bürgerkriegs (was auf die reale Bücherbund- und Heimatvereinsbegeisterung für den Civil War anspielt). Aber die perfekte Kopie ist nur dann perfekt, wenn sie den Eigensinn, die Verschlagenheit und die Begabung der Originale re produziert, und die Replikate agieren auf unvorhergesehene Weise "historisch". Denn in einem Punkt ist die Science-fiction immer mit ihrer hartnäckig-beiläufigen Genrephantasie allen Reflexionen der Wissenschaft und Ethik vorausgewesen: in der Ratlosigkeit bei der Abgrenzung der menschlichen Intelligenz von der nichtmenschlichen (der außerirdi schen und vor allem der vom Menschen selber hergestellten künstli chen). Seit Asimovs Robotergeschichten die Herr-Knecht-Dialektik noch einmal neu inszenierten, begleitet die SF diese reale historische Entwicklung nicht nur - sie ist ihr genuin voraus. Dick, der neben den melancholischen entflohenen Androiden, die Rick in "Do Androids Dream of Electric Sheep?" zur Strecke bringen muß, so viele Phanta sien von künstlicher Menschheit ersonnen hat, gibt uns wenig Anlaß
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zur Hoffnung auf Kontrolle oder Unterscheidbarkeit. Oder die Hoff nung ist sardonisch: Eine frühe Erzählung ("Second Variety", 1953) läßt einen der letzten Menschen in einer von diversen (immer raffi nierteren, vom Menschen nicht mehr unterscheidbaren) Kampfrobo tern endgültig verwüsteten Welt vor dem Tod rasch denken: "Sie fingen immerhin schon an, Waffen zu entwerfen, die sie gegeneinan der einsetzen konnten." Was die SF in ihrem Halbschlaf der Vernunft schon sehr lange ahnte, ist die Unauflösbarkeit des Black-boxRätsels: Es agiert wie ein Mensch, es spricht wie ein Mensch - ist es ein Mensch? Eine andere frühe Geschichte Dicks ("Impostor", 1953) schildert, wie der Wissenschaftler Olham in den Verdacht gerät, ein von außerirdi schen Kriegsgegnern (von Alpha Centauri) lancierter RobotDoppelgänger seiner selbst mit einer eingebauten ungeheuren Bom be zu sein, die auf ein bestimmtes unbekanntes gesprochenes Code wort den ganzen Planeten vernichtet. Er kann den Verdacht nicht zerstreuen, er flieht, er findet schließlich ein havariertes außerirdi sches Schiff mit einer Leiche: der Doppelgänger hat ihn nie erreicht. Das ihm nachjagende Militär stellt ihn am Schiff; er kann alles erklä ren; man entschuldigt sich. Da findet jemand ein Messer in dem Leichnam. "Olham zitterte. Seine Zähne klapperten. Er sah vom Mes ser zu der Leiche. ,Das kann nicht Olham sein', sagte er. Seine Ge danken kreisten, alles geriet in einen Wirbel. ,Habe ich mich geirrt?' Er starrte töricht. ,Aber wenn das Olham ist, dann bin -' Er vollende te den Satz nicht, nur die ersten Worte. Die Explosion war bis Alpha Centauri sichtbar." Wir wissen nicht unbedingt, wer "wir" sind. JOACHIM KALKA Philip K. Dick: "Sämtliche SF-Geschichten". Zehn Bände. Haffmans Verlag, Zürich 1993 bis 2001. Bei Haffmans sind auch einige der wichtigsten Romane lieferbar: "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?", "Zeit aus den Fugen", "Die drei Stigmata des Palmer Eldritch". Philip K. Dick: "The Nixon Gang". SF-Commentary 39, Melbourne 1973. "Der Rabe" 59, Haffmans Verlag, Zürich 2000 (mit einem Sonderteil zu Dick).
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Jeet Heer: "Marxist Literary Critics Are Following Me!" How Philip K. Dick betrayed his academic admirers to the FBI. Linguafranca XI, 4, May/June 2001. Stanislaw Lem: "Science Fiction: Ein hoffnungsloser Fall - mit Aus nahmen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1987. Lawrence Sutin, "Philip K. Dick: Göttliche Überfälle". Eine Biographie. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 1994. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.05.2001, Nr. 114 / Seite 56
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Was liest die Zukunft? Wissenschaft und Fiktion in der technologischen Rückkopplungsschleife:
Woher die neue Cyber-Elite ihre Inspiration bezieht
Von Stephan Vladimir Bugaj
Es gehört zu den merkwürdigen Zügen der neuen, globalen CyberKultur, daß sie auf ganz unerwartete Weise die Macht der Literatur wiederherstellt. Führende Wissenschaftler und Theoretiker der Biound Nanotechnologie, der Künstlichen Intelligenz und des Internets bekennen sich als begeisterte Leser, die die kühn entworfenen Wel ten der Literatur mit Hilfe der Technik Wirklichkeit werden lassen. Nicht Fachbücher mit ihrer pragmatischen Abwägung des Machbaren, sondern eine Science fiction, die keine Rücksicht auf den schleppen den Kriechgang der Wirklichkeit nimmt, dient ihnen als Inspirations quelle oder auch als Versuchslabor für sozialen und technischen Wandel. Stephan Vladimir Bugaj ist als Technischer Vizedirektor der Firma IntelliGenesis, eines führenden Unternehmens auf dem Gebiet der Erforschung Künstlicher Intelligenz, selbst Teil der neuen CyberElite. Er gibt in seinem Beitrag einen Überblick über wichtige Bücher oder Filme, die dem Fortschritt die Richtung buchstäblich vorschrei ben. Die Unbekümmertheit, mit der hier die Grenze zwischen Kult werken und Kulturgütern eingeebnet wird, sagt zugleich sehr viel über das Selbstverständnis einer Kaste aus, die sich in Fragen der Zukunft der Menschheit für allein zuständig hält. Wer die heutige Cyber-Kultur verstehen möchte, muß die Literatur und die Filme kennen, aus denen die Schöpfer dieser Kultur ihre An regungen beziehen. Nicht frühere wissenschaftliche oder technische Errungenschaften und die Fachliteratur, in der sie beschrieben wer den, dienen den Cyberaten als Inspirationsquelle. Bei dem Bemühen, die Technokratie voranzutreiben, kommt vielmehr ein ausgeprägt ästhetisches Empfinden zum Zuge. Diese Literatur ermöglicht nicht nur die soziologische Erforschung der Cyber-Elite, sondern wirft auch ein Licht auf die Träume und Ängste der Menschen, die als Avantgar de und Schöpfer der neuen Gesellschaft gelten können. Ganz oben auf der Liste der bei Cybernauten beliebten Werke stehen drei Bücher: die Bibel, "Ulysses" von James Joyce und die "Illuminatus"-Trilogie von Robert Anton Wilson und Robert Shea. Bei der Er
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schaffung eines neuen technologischen Universums schauen heutige Weltenschöpfer auf den biblischen Bericht über die Kreation der Welt. Die Darstellung des Selbstschöpfungsprozesses bei Joyce verdeutlicht wiederum, was wir tun, während wir die neue Welt erschaffen. Die "Illuminatus"-Trilogie erkundet nun in satirischer Überzeichnung die Machtdynamik der postmodernen Gesellschaft und den Kampf zwi schen Politikern und Machthabern aus der herrschenden Elite - ein Kampf, den nach Ansicht vieler Mitglieder der Cyber-Elite möglicher weise die Politiker durch die Anwendung unserer Technologien für sich entscheiden werden. In ihr findet sich eine zynisch-sarkastische Sicht der Cyber-Elite und vor allem der Hacker. Die gängigen OnlineMythologen haben erhebliche Anleihen bei diesem Werk und auch den Büchern von H. P. Lovecraft gemacht, um Mythen um dunkle staatliche Mächte und ruchlos-hinterhältige Bösewichte zu stricken. Auch können wir als die neuen "Priester der Technologie" in solchen Werken lernen, wie unsere Vorgänger den Machenschaften der poli tisch und wirtschaftlich herrschenden Klassen ihrer Zeit erlagen. Auch wenn in Teilen des Schöpfungsprogramms moderner Wissen schaft und Technologie, etwa der Gentechnik oder der Künstlichen Intelligenz, Ichverliebtheit und Pathos mitschwingen, so ist der Wunsch, die Welt nach unserem Bild neu zu gestalten, doch von je her ein wichtiges Moment in der Geschichte des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Die Bibel hat dem Menschen eine Vor lage für den Schöpfungsprozeß und zugleich angeblich den Auftrag gegeben, sich als erdbeherrschende Spezies durchzusetzen und die Natur nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Als Führer der heu tigen wissenschaftlichen und technologischen Bestrebungen glauben wir, auf einem Weg zu sein, an dessen Ende wir in die Fußstapfen Gottes treten und uns selbst nach dem idealen Bild umgestalten, das wir zu diesem Zweck entwerfen. Viele Anführer der Cyber-Kultur sind nicht religiös in einem traditionellen oder kirchlichen Sinne, möchten aber das göttliche Programm der Weltenschöpfung fortsetzen und die neuen Welten mit intelligenten Lebewesen füllen, damit wir selbst ein neues und besseres Leben führen können. Außer zur Bibel fühlen sich viele Mitglieder der neuen digitalen Elite auch zu anderen religiösen Schriften hingezogen, vor allem zur Kab bala, zum Koran, zum Tao te king und zu einer Reihe von Texten, in denen die Zahlenmystik dieser Schriften behandelt wird. Die Kennt nis der Schöpfungsmythen und der Methoden, mit deren Hilfe die
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alten Hacker ihre Mitmenschen neu zu programmieren versuchten, um die Welt wohnlicher zu machen, ist wichtig für jene, die eine neue und bessere Welt für alle schaffen wollen. Viele Cyberaten las sen sich vor allem von dem Wunsch leiten, über das bloße Menschsein hinauszugelangen und ein Gott zu werden. Für die Dige raten ist Religion ein Fach, das man studieren kann, um mehr dar über zu erfahren, wie man ein großer Schöpfer wird und wie eine neuerschaffene Welt in ethischer, moralischer und rechtlicher Hin sicht beschaffen sein muß, wenn sie nicht der von Aldous Huxley in "Schöne neue Welt" beschriebenen dystopischen Zukunftsvision ver fallen soll. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein weiterer beliebter Text auf der Leseliste jener Technologen und Wissenschaft ler, die begriffen haben, daß zur Veränderung der Welt nicht nur Er findungen, sondern Menschen nötig sind. Vor allem die Bill of Rights gilt als Richtschnur für den Schutz der Menschenrechte in jeder zu künftigen Gesellschaft. Für die Vorhut der Cyber-Kultur erfüllen diese beiden Texte zwei Funktionen. Erstens bieten sie einen weiteren Bauplan für den Schöpfungsakt, in diesem Fall für die Schaffung des stabilsten egalitären Staates der letzten zweihundert Jahre; zweitens sind sie Dokumente, in denen die Grundprinzipien der Menschenrech te und der menschlichen Selbstbestimmung niedergelegt sind. Da die englische und amerikanische Kultur das Internet beherrscht, betrach ten immer mehr Internet-Aktivisten außerhalb Amerikas die Aktivitä ten ihrer eigenen Regierung durch die Brille der amerikanischen Ver fassung. Obwohl man im Ausland durchaus gute kulturelle und politische Gründe haben mag, sich solch einer Amerikanisierung der technolo gischen Führungsschicht zu widersetzen, hat man es dort versäumt, eigene Dokumente für die neue Cyber-Gesellschaft zu propagieren. So haben amerikanische Verfechter des Freiheitsgedankens die Füh rung im Bereich der Internet-Politik übernommen. Sie propagieren die amerikanische Verfassung als das grundlegende staatspolitische Werk für die Cyber-Elite und Adam Smiths "Der Wohlstand der Nati onen" als das grundlegende volkswirtschaftliche Werk. Das Verstehen zu verstehen gehört zu den beliebtesten Zielsetzun gen von Computerexperten, die es für ihre Pflicht halten, die Mecha nismen des Umgangs mit Fachwissen wie auch das Wissen selbst auf
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Maschinen zu übertragen, um unsere menschlichen Fähigkeiten durch die Stärken dieser Maschinen zu verbessern. In der Philosophie der Kybernetik sind bei Cyberaten die Bücher am beliebtesten, die von Praktikern stammen. An der Spitze der Hitliste stehen hier Doug las Hofstadters "Gödel, Escher, Bach", Marvin Minskys "Mentopolis" und Ray Kurzweils "Homo sapiens. Leben im 21. Jahrhundert". Daß diese drei Bücher sich hauptsächlich mit Künstlicher Intelligenz be fassen, ist kein Zufall. Künstliche Intelligenz ist das ehrgeizigste und zugleich romantischste Großprojekt der Computerwissenschaft, und die gottesgleiche Suche nach einer neuen Form intelligenten Lebens bildet eine größere philosophische Herausforderung als die meisten anderen Aspekte der Cyber-Welt. John von Neumann, Hans Moravec, Richard Feynman, Stephen Hawkins, Stephen Pinker und Stephen J. Gould sind weitere Ingenieure und Naturwissenschaftler, deren popu lärwissenschaftliche Werke bei der Cyber-Elite ebenso Anklang finden wie beim allgemeinen Publikum. Alle diese Bücher befassen sich mit der Natur des Lebens, des Geistes oder des Universums und - das ist hier entscheidend - mit der Frage, wie diese sich quantifizieren oder replizieren lassen. Besonderen Anklang finden bei den Cyberaten verständlicherweise jene Philosophen, die sich mit Fragen der Wissenschaft und Technik auseinandersetzen. Andrew Feenbergs Begriff der "subversiven Rati onalisierung" ist besonders attraktiv, weil er Hackern und Cyberaten zu bestätigen scheint, daß politische Macht durch Technologie ge lenkt werden kann. Auch Wissenschafts- und Technikphilosophen wie Albert Borgmann, Don Ihde und Karl Popper sind interessant, des gleichen entschiedene Gegner der Künstlichen Intelligenz wie Dreyfus und Penrose, die viele Cyberaten eher deshalb lesen, weil man "sei nen Feind kennen soll". Das alles unterscheiden wir nicht von ande ren Führungseliten. Doch sind diese Lektüren auch nicht so wichtig wie die Science-fiction-Literatur, die noch immer den größten Einfluß auf unsere Träume - und damit auch auf unser Tun und unsere Poli tik hat. Da unsere Welt sich zunehmend in einer Weise verändert, die einer SF-Story ähnelt, wird es immer wichtiger, diese Literaturgat tung zu verstehen. Viele Praktiker aus dem Bereich der Naturwissen schaften und der Technologie beziehen daraus ihre Anregungen. Zwar ist die SF-Literatur in Teilen lediglich eskapistische Unterhal tung, aber mit ihren Modellen und Gleichnissen liefert sie Wissen schaftlern und Ingenieuren auch Anregungen für die Gestaltung der ökonomischen und sozialen Strukturen im Zeitalter des Cyberspace.
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Moderne SF-Autoren sind sich dieser Tatsache bewußt und propagie ren in ihren Büchern vielfach eine politische und technologische Grundlage für das neue wissenschaftliche Zeitalter. Nur wenige le bende Schriftsteller sind für die Gesellschaft so bedeutsam wie die besten SF-Autoren. Wie die meisten SF-Freunde teilen Wissenschaftler und Technologen sich hier in zwei Lager: Utopisten und Dystopisten - wobei die Unter scheidung zwischen Isaac Asimov, Robert A. Heinlein und Arthur C. Clarke auf der einen, Philip K. Dick, J. G. Ballard und William Gibson auf der anderen Seite letztlich eine akademische ist. Bei Technokraten genießen die Autoren das größte Ansehen, die wie Greg Benford oder L. Sprague De Camp selbst im Bereich der Wissenschaft oder Techno logie gearbeitet haben. Science fiction und die benachbarte Gattung der Fantasy-Literatur gestatten die wildesten Spekulationen über zu künftige Technologien und deren Auswirkungen auf die Menschheit und ermöglichen kollektive Gedankenexperimente über das Wechsel spiel zwischen technologischer, wissenschaftlicher und sozialer Evolu tion. Die besten SF-Stories sind philosophische Abhandlungen über das Verhältnis zwischen Mensch, Maschine und natürlichem Univer sum, nur dürftig verhüllt von einer Geschichte, die Spaß machen soll. Manche bezeichnen dieses Genre lieber als "spekulative Literatur". Den größten Einfluß auf die ästhetische und politische Ausrichtung des Cyberspace haben die Cyberpunk-Literatur und "transrealisti sche" Romane. Das liegt an ihrem Reichtum an verlockenden und sogar realisierbaren technologischen Ideen, ihrer Nähe zum Zeitgeist und den Mutmaßungen über dessen weitere Entwicklung sowie ihren Warnungen vor der Macht der herrschenden Finanzelite. Zu den wichtigsten Büchern dieser Gruppe gehören die "Neuromancer"Trilogie von William Gibson, die "Ware"-Reihe von Rudy Rucker und "Snow Crash" von Neal Stephenson. Die einflußreichsten CyberpunkRomane sind "Kyberiade" von Stanislaw Lem, "True Names" von Vernor Vinge und "Der Schockwellenreiter" von John Brunner - sieht man einmal von den Büchern großer New-Wave-Autoren wie Philip K. Dick und William S. Burroughs ab. In den New-Wave-Romanen ste hen Computer zwar meist nicht im Vordergrund, doch sie sind die literarischen Vorläufer des Cyberpunk und des Transrealismus. Die Autoren der amerikanischen Post New Wave haben hinsichtlich des Stils und des Umgangs mit sozialen oder psychologischen Fragen viel von Schriftstellern wie Dick und Burroughs gelernt. Im Anschluß an
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Burroughs lassen diese SF-Autoren weit hergeholte Einfälle gern da durch realistischer erscheinen, daß sie einen glaubwürdigen mensch lichen Erzähler darüber berichten lassen. Die Figuren bewegen sich auf der Grenze zwischen Realität und drogen- oder traumgeborener Halluzination und stellen so den Begriff der Realität in Frage. Dank der Bedeutung der Cyber-Elite beginnt man heute, Science fiction als seriöse Plattform für Spekulationen über den sozialen und technologischen Wandel wahrzunehmen. Auch die Bücher, mit denen die moderne SF-Literatur begründet wurde, sollten nicht übersehen werden. Pioniere wie Jules Verne und H. G. Wells sind immer noch lesenswert. Die Ursprünge der Science fiction liegen in der romanti schen und viktorianischen Literatur des späten neunzehnten Jahr hunderts. Damals führte das Industriezeitalter den Massen erstmals vor Augen, welche großartigen Leistungen, aber auch Gefahren die Nutzung der Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung her vorbringen konnte. Die Schriftsteller begannen, ihre Kunst einzuset zen, um die Wissenschaftler vor ihrer Hybris zu warnen und auf die Gefahr hinzuweisen, daß ihnen die Kontrolle über ihre Geschöpfe entgleiten könne. Die Ängste der Romantiker vor den Gefahren der Maschinenwelt haben große Ähnlichkeit mit den Ängsten der dystopi schen SF-Autoren vor den Risiken der Künstlichen Intelligenz. Das Wort Roboter taucht erstmals in Karel Capeks Theaterstück "R. U. R." auf. Diese Adaptation der Frankenstein-Geschichte an die Ver hältnisse des Maschinenzeitalters und "Metropolis", Fritz Langs filmi sche Warnung vor Überindustrialisierung und Faschismus, sind die besten frühen Beispiele seriöser Science fiction in Theater und Film. Mary Shelleys "Frankenstein" gehört zu den bedeutendsten Vorläu fern der SF-Literatur: Der Mensch schafft ein intelligentes, aber von seiner eigenen Intelligenz deutlich unterschiedenes Wesen, das ei gentlich freundlich ist und wunschgemäß funktioniert, sich durch die Ängste der Menschen und durch menschlichen Mißbrauch jedoch in ein gewalttätiges Ungeheuer verwandelt. Seit nahezu zweihundert Jahren steht Frankenstein für den Wissenschaftler, der versucht, die Welt nach unseren Vorstellungen zu formen. Daß der Mensch gar nicht fähig sei, Gott zu spielen, nicht einmal in kleinem Maßstab, dar auf haben viele SF-Autoren und ihre Vorgänger hingewiesen. Die großen Dystopien aus der Zeit des Kalten Krieges wie Jewgenij Zamjatins "Wir", George Orwells "1984", Aldous Huxleys "Schöne
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neue Welt" und "Clockwork Orange" von Anthony Burgess oder weni ger bekannte Werke wie "Camp Concentration" von Thomas M. Disch, "Leben ohne Ende" von George R. Stewart und "Limbo" von Bernard Wolfe haben gleichfalls eine besondere Bedeutung für die Digeraten. Diese während des Kalten Krieges entstandenen Neuauf lagen des antimilitaristischen Sentiments der Romantik, geschrieben im Wissen um die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und um die mög liche Apokalypse des Atomkriegs oder einer Umweltkatastrophe, schu fen die dystopische Vision einer im Elend versunkenen Welt, deren tyrannische Herrscher nur die eigene Macht auf Kosten aller anderen zu vergrößern trachten. Solche Horrorszenarien mit Hilfe der Techno logie zu verhindern, halten viele Digeraten für ihre Pflicht. Dystopische Visionen dieser Art gaben den Hackern ein Zukunftsbild, gegen das sie angehen konnten. Eine Welt, die von verantwortungslosen Regierun gen (oder in den Werken des Cyberpunk von übermächtigen Konzer nen) beherrscht wird, diente als Gegenbild zur Utopie einer von friedli chen, verantwortungsbewußten Menschen genutzten Freiheit - die sie schaffen zu können hoffen, indem sie dem Staat und den Großunter nehmen die Informationstechnologie entreißen. Aus den sechziger Jahren stammt auch das beliebteste Computer-SFWerk aller Zeiten: Arthur Clarkes "2001". Dieser Roman dient nicht nur den KI-Forschern, sondern letztlich allen Digeraten als Warnung und zugleich als Inspirationsquelle. Clarke hat eine ganze Generation von Ingenieuren dazu angeregt, Robotik, Raumfahrtwissenschaft, Biotechnologie und vor allem Künstliche Intelligenz voranzutreiben. Für Computerbauer bildet der fiktive Computer Hal-9000 aus "2001" einen ernst zu nehmenden Maßstab, an dem sie den Leistungsstand der Künstlichen Intelligenz und der gesamten Computerwissenschaft messen. Isaac Asimovs Kurzgeschichte "Runaround", in der er erstmals seine Gesetze der Robotik formulierte, die "Foundation"-Trilogie und die Roboter-Reihe finden gleichfalls große Aufmerksamkeit bei führenden Technologen. Die Gesetze der Robotik weisen intelligenten Robotern einen untergeordneten Status gegenüber ihren menschlichen Herren zu, bilden zugleich aber auch gewissermaßen die Zehn Gebote der Roboter, und wenn diese sich daran hielten, wären sie ihren Schöp fern moralisch überlegen. Diese Gesetze sind in der CyberCommunity besonders leidenschaftlich diskutiert worden. Sowohl die Vorstellung von Robotern als moralisch überlegenen Wesen als auch
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der Gedanke, Robotern durch eingebaute Mechanismen jeden freien Willen zu verwehren, werfen schwierige Fragen auf. Für den Fall, daß Roboter tatsächlich einmal Intelligenz erwerben sollten, werden Asi movs Gesetze sehr ernst genommen, und die echten Anhänger der Künstlichen Intelligenz unter den Digeraten halten Form und Inhalt solcher Gesetze schon jetzt für ausgesprochen wichtig im Blick auf die Zukunft intelligenten Lebens. In der Debatte über Asimovs Robotergesetze spiegelt sich in gewis ser Weise das von Orwell und Huxley gezeichnete Bild des Menschen als eines unbedeutenden Rädchens in der großen Maschine der In dustrie, wobei das Leid der Unterklasse seine Rechtfertigung in deren Beitrag zum Wohl des Ganzen und zum gesellschaftlichen "Fort schritt" finden soll. Die Argumentation ist im wesentlichen dieselbe: Die einen glauben, die heutige gesellschaftliche Hierarchie sei letzt lich in Ordnung, man müsse lediglich Möglichkeiten finden, alle Men schen auf die oberste Sprosse der Leiter zu heben, indem man Robo ter (oder gentechnisch erzeugte Lebewesen) erschafft, die dann die unteren Ränge einnehmen; die anderen glauben, ein Leben auf den unteren Rängen sei in jedem Falle ungerecht, ganz gleich, wer diese Ränge einnimmt. Statt die Hierarchie abzuschaffen, versuchen viele Wissenschaftler lediglich, ein für die Menschen angenehmeres System zu schaffen, und da intelligente Roboter künstliche Wesen wären, ha ben wir keineswegs das Gefühl, wir wiederholten die Fehler früherer Generationen, wenn wir ihnen eine untergeordnete Rolle zuwiesen. Aber gefährdet Unterdrückung nicht die Gesundheit und Leistungsfä higkeit jedes intelligenten Wesens, ob nun menschlich oder nicht? Die se in einem umfassenden Sinne historischen Fragen traten zu Beginn des Maschinenzeitalters in den Vordergrund, als immer mehr Men schen auf maschinenähnliche Tätigkeiten beschränkt wurden und sich immer deutlicher die Möglichkeit abzeichnete, eine Sklavenrasse zu erschaffen, die diese Arbeiten übernimmt, so daß alle Menschen zu Herren über das Leben anderer Lebewesen werden. Auch SF-Filme wie "Blade Runner" (nach Philip K. Dicks Roman "Träu men Androiden von elektrischen Schafen?") und "Terminator" befassen sich mit der Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Geschöp fen (wie künstlicher Intelligenz, gentechnisch erzeugten Wesen, Cy borgs, Robotern, Massenvernichtungswaffen), mit der schwierigen ethischen Frage, ob der Schöpfer eines Wesens das Recht hat, des sen Freiheit zu begrenzen, um seine eigene Stellung zu sichern.
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"Blade Runner" und "Terminator 2" argumentieren, wenn ein Wesen erst geschaffen sei, habe es dieselben Rechte wie wir selbst. Der Androide Data aus "Star Trek" zeichnet ein harmonisches Bild einer intelligenten, mit Willensfreiheit ausgestatteten Maschine in einer Gesellschaft, in der viele bereit sind, solchen Wesen dieselben Rechte und Pflichten zuzugestehen wie den Menschen. Cyberaten lieben die ses utopische Bild einer engen, harmonischen Zusammenarbeit zwi schen Menschen und Maschinen. Data bildet in dieser Hinsicht einen deutlichen Gegensatz zu den Sklavenrobotern R2-D2 und C3P0 aus "Star Wars", die Menschen als ihre Herren anerkennen und eher als liebenswerte, niedliche Schoßtiere erscheinen. Drei ebenso einflußreiche Spielfilme - "Matrix", "Fight Club" (nach dem gleichnamigen Roman von Chuck Palahniuk) und "12 Monkeys" werfen der Menschheit vor, sich selbst zu versklaven, weil sie lieber in der Phantasie lebe als in der Wirklichkeit und der kapitalistischen Kultur verfallen sei. "Matrix" und "Fight Club" zeigen jeweils zwei alternative menschliche Wirklichkeiten: die eine träge und von fikti vem Luxus gesättigt, die andere gewalttätig und spartanisch, aber weitaus authentischer. Auch "12 Monkeys" zeigt zwei Realitäten, doch in diesem Fall sind beide freudlos und vom Kampf ums Überle ben geprägt, wenngleich auf ganz verschiedene Weise. In diesen Filmen spiegelt sich die Auffassung der Hacker, wonach der Kapita lismus ein morsches System ist und die kapitalistische Profitorientie rung die Ursache für die gegenwärtigen Krisen in Ethik und Moral. Alle drei Filme wenden sich gegen den Einfluß des Fernsehens sowie der Fernsehwerbung. In ihnen spiegelt sich die Angst der Digeraten, mit der Entwicklung der neuen Technologie unfreiwillig ein noch wir kungsvolleres Instrument zur Manipulation der Menschen durch eine kleine Minderheit zu schaffen. Zum Ethos der Hacker, das in vielen modernen SF-Stories zum Ausdruck kommt, gehört auch die Hoff nung, die Öffentlichkeit erziehen und weniger anfällig für mentale Kontrolle machen zu können, bevor die Instrumente dafür in die Hände der herrschenden Machtelite gelangen. Die heutige Science fiction befindet sich in einer Rückkopplungs schleife mit der Wissenschaft nichtlinearer Systeme und der Chaos theorie. Diese verleiht ihr ein immer größeres Maß an Genauigkeit in der Voraussage und Reflexion der geistigen Herausforderung, die in der Gestaltung der Zukunft liegt. Zugleich erhöht sie deren politische Bedeutung für das Denken einflußreicher Mitglieder der mächtigen
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Technokratenklasse. Die Botschaft der heutigen Science fiction lau tet, daß die ganze Macht und die ganze Verantwortung für die Ges taltung der Zukunft bei den Menschen liegt. Das heißt, die Schuld für Fehlentwicklungen liegt bei uns selbst; es heißt aber auch, daß wir sehr wohl in der Lage sind, das System zu verbessern - eine Bot schaft, der die Systemhacker unter den Priestern der Technologie nur zu gern zustimmen. Wir müssen uns außerdem fragen, inwiefern die grundlegenden menschlichen Werte der liberalen westlichen Demokratie auch für intelligente außermenschliche Wesen gelten. Und ob wir im voraus festlegen können, wieviel Menschlichkeit einem intelligenten außer menschlichen Wesen zukommt, oder ob wir zuerst etwas entwickeln und danach herauszufinden versuchen, was wir da geschaffen haben. Dies sind die zentralen Probleme jeder Abhandlung über Schöpfer tum: Welches ist das richtige Verhältnis zwischen Freiheit und Kon trolle, und wie finden wir heraus, ob wir das richtige Verhältnis ge troffen haben? Ob Bibel, "Ulysses", "Frankenstein", "2001", "Blade Runner" oder "Matrix", stets stellen wir dieselben Fragen und spielen in unserer Phantasie verschiedene Szenarien durch - in der Hoffnung, eines zu finden, das uns gefällt. Wenn wir unser Ziel erreicht und etwas geschaffen haben, das in der Lage ist, sich eigenständig wei terzuentwickeln, müssen wir zurückblicken und herausfinden, was es ist und inwiefern es unseren Vorstellungen entspricht. Es wird nie mals ganz das sein, was wir uns vorgestellt haben - das ist eine schöne, aber auch erschreckende Aussicht. Da der schöpferische Prozeß nicht vorhersehbar ist, müssen wir al ternative Szenarien entwickeln, um auf jede nur denkbare Möglich keit vorbereitet zu sein. Die Unbestimmtheit des Universums macht es erforderlich, daß wir uns auf Utopia genauso vorbereiten wie auf Dystopia. Daher die Vielfalt der Meinungen und Prämissen in der Li teratur, die das Bücherregal des umsichtigen Cybernauten ziert. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.2001, Nr. 89 / Seite 54
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Der Traum, aus dem die Stoffe sind Wer in der Gegenwart leben will, lese dieses Buch: Stanislaw Lems Essaysammlung "Die Technologiefalle" Von Frank Schirrmacher Alle sind sich einig, daß das utopische Zeitalter zu Ende ist. Verweht, verwest, verloren - das Ende des Sozialismus ist der Tod des antizi patorischen Affekts. In Wahrheit stehen wir am Beginn eines neuen Utopismus, der fast schon den Positivismus des neunzehnten Jahrhunderts in den Schat ten stellt und der nur deshalb soziologisch noch nicht beachtet wur de, weil man ihn mit dem Abwehrzauber der "Science-Fiction" zu bannen versucht. In Wahrheit haben - völlig unerwartet - nach der großen Krise der Technologien und des Fortschrittsgedankens in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nun die Ingenieure und Wissenschaftler das Erbe utopischer Politik angetreten. Viele glauben es noch nicht, und darin geübt, die Zeichen an der Wand zu überse hen, halten sie für ein Strukturproblem, was in Wahrheit der Advent eines neuen industriellen Zeitalters sein wird. Wer daran zweifelt, lese Stanislaw Lems vor mehr als dreißig Jahren erschienenes Großwerk "Summa technologiae". Und dann lese er dieses soeben erschienene Buch: "Die Technologiefalle". Das Buch prüft, revidiert, bewertet die Prognosen der "Summa" und zieht die Linie weiter in die Zukunft aus. Das Ergebnis: die prognostische Kraft von Literatur ist staunenswert. Man muß nicht allen Verheißungen von Biotechnologie, Gentechnolo gie, Nanotechnologie und Computerwissenschaft glauben. Aber man muß - bei aller Skepsis in der Ausführung - bei jeder Anfrage stets den grundlegenden Suchbegriff eingeben: entspricht, was man uns ausmalt, den Naturgesetzen oder nicht? Widerspricht es ihnen, dann handelt es sich nach aller Wahrscheinlichkeit um Unsinn. Entspricht es ihnen, dann beruft Skepsis sich stets auf die pure Zeit. Mit den Worten von Kafkas Torhüter: es ist möglich, aber nicht jetzt. Zeit heißt fast immer: Lebenszeit. Wem Segen oder Fluch der Biotechno logie in seinem eigenen Lebenszyklus nicht mehr winkt, der kann auf ewig vertagen, was gleichwohl zur Schicksalsfrage der Menschheit
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werden kann. Es ist die ganz einfache Frage, die Max Frisch in seinen "Fragebogen" aufgenommen hat: "Sind Sie sicher, daß Sie am Fort bestand der Welt interessiert sind, wenn alle ihre Verwandten, Freunde und Nachkommen nicht mehr am Leben sind?" Der große Realist Stanislaw Lem hat diese Frage seit den "Astronau ten" immer wieder gestellt. Und er hat in den niemals vergessenen letzten Seiten seines wohl bedeutendsten Romans "Solaris" eine hoffnungsvolle Antwort gegeben. Lem hat das einundzwanzigste Jahrhundert schon im Stadium seiner Verpuppung vorausgesehen. Er hat gesehen, was es in sich tragen und was es ausbrüten wird: Com puter, die künstliche Intelligenz künstlich, das heißt ahuman repro duzieren; der genetische Code, der im Laufe seiner zunehmenden Entschlüsselung zu einem der gewaltigen Kombinations- und Rekom binationsmodelle der Menschheit werden wird - vergleichbar nur der Eroberung eines neuen Planeten. Der Mensch, so Lem in der Essay sammlung "Die Technologiefalle", will und wird die Natur "einholen und überholen". Aber es so wiedergeben, heißt schon es verfälschen. Die Abgründig keit dieses Schriftstellers verdankt sich einer gleichsam fragenden Beschreibungskraft, eines sokratischen Zwiegesprächs über den Menschen, in dem die Logik den Leser zu Schlüssen zwingt. Hier ein Beispiel für diese Mischung aus eisbehauchter Logik und kindlichem Staunen: "Wir wissen, daß von den Tier- und Pflanzenarten, die in der Vergangenheit entstanden, 99 % ausgestorben sind, und nur die außergewöhnliche ... Rechenleistung aus den Nukleotidbausteinen vermochte die weiteren Myriaden nachfolgender Arten hervorzubrin gen ... War auch das alles einfach die Effektivität der größten Zufalls lotterie unter der Sonne - oder kann es sein, daß nichts außer dem Zufall wirkte, als eine Kraft zum Ende des Holozäns die Halbaffen und die Vormenschen im südlichen Afrika an die Oberfläche warf ... wo jene Arten ins brutal dezimierende Netz der natürlichen Auslese ge rieten und eine nach der anderen ausgelöscht wurden, bis nur noch zwei Äste übrigblieben: auf einem siedelten sich die Affen an, und auf dem anderen - wir: die Menschen, Homo sapiens, leider der rücksichtsloseste Parasit der Biosphäre." Was gerne abwertend Science-Fiction genannt wird, ist - wo es sich um Autoren vom Range eines Lem handelt - nichts anderes als eine Gebrauchsanweisung für unsere Zukunft. Wie erschütternd und trau
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rig, am Ende eines Jahrhunderts der Beschleunigung zu leben und immer nur zu hören: Erzählung, Erfindung, Roman. Die Wissenschaft ist der Roman unserer Eltern und Großeltern geworden, die Technik der Motor ihrer Kriege und ihres Verderbens. In den Essays von Lem über den genetischen Code oder den Quantencomputer erfährt man nicht, was sein wird. Im Gegenteil: mit Argumenten, die noch keinem einfielen, erledigt er den berühmten Turing-Test. Wie überführt man den Computer, Computer und nicht Mensch zu sein? Indem man ihm eine Geschichte erzählt und sie sich nacherzählen läßt. Der Mensch erzählt das Muster nach, begeht Auslassungen, färbt um, dichtet da zu - der Roboter reproduziert. Lem erzählt nicht, was sein wird. Er erzählt, was denkbar ist. Im "Lesebuch Deutsch", III. Klasse, 15. Auflage 1996, Kapitel 7, heißt es: "Erfindungen verändern die Welt". Die Bilder zeigen: Dampfmaschine, Telefon, Radio, Auto, Fernsehen, Flugzeug, Raketen und Computer. Etwa jede fünfte Auflage kam ein Bild dazu. Aber an der Überschrift hat sich nie etwas geändert. Erfindungen verändern die Welt. Aber das heißt auch: Geschichten verändern die Welt. Denn sie verändern die Erfinder. Worüber wir reden, ist eine spezifische Form der Utopie. Wenn es stimmt, daß das von Thomas Morus erfundene Utopia oder der von Marx erfundene neue Gnadenstand des ausgebeuteten Menschen die reale Welt bis in ihre Grundfeste verändert haben, wie steht es dann mit den technologischen Utopien und ihren Erfindern? Unter dem Titel "Die Träume, aus denen unser Stoff gemacht ist" listet eine un längst in Amerika erschienene Streitschrift den Einfluß der technolo gischen Utopie auf Wissenschaft und Welt auf. Sie schildert, wie Wis senschaftler und Ingenieure von Science-Fiction geprägt, angesta chelt, verändert wurden. Hat man die Raumfähre in Kubricks "2001" in Erinnerung? Der Film stammt aus dem Jahre 1964. Nach ihm ha ben die Konstrukteure der NASA ihre Raumfähre gebaut. Lems Bü cher, so wird behauptet, hinter deren technologischer Fassade sich System- und Diesseitskritik verbarg, hätten die russische Raumfahrt behörde beeinflußt. Es geht nicht darum, Kausalketten zu bilden. Es geht darum, die Macht und imaginative Kraft der technologischen Utopie am Beginn des neuen Jahrhunderts in alle künftigen Berechnungen miteinzube ziehen. Das heißt: Manche Wege abkürzen, andere, gefährliche, vermeiden. Lems "Technologiefalle" gibt Ratschläge für solche Ab
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kürzungen. Und das Buch stellt Wegweiser auf, die kaum je verwit tern werden, weil sie so geschrieben sind, wie diese Coda zur Bio technologie: "Entweder schaffen wir es, die Rechenleistungen des Molekularcomputers des Lebens zu beherrschen, und dieser hilft uns beim Überleben der Zivilisation, oder wir ruinieren auch diese Chan ce, weil sich herausstellt, daß wir diese Prometheus geraubte Natur kraft gegen uns selbst richten ... in einem Kampf, den letztlich nur die Bakterien überleben können." Lems "Technologiefalle" ist kein schwieriges, technisches oder auch nur humorloses Buch. Es ist sehr unterhaltsam und weitaus mehr als nur spekulativ, auch wenn der Autor in der Zukunft, die er berechnet und beschreibt, nicht gelebt hat. Manche leben ja noch nicht mal in der Gegenwart. Doch wer's tut, für den ist dieses Buch lesenswert: Stanislaw Lem: "Die Technologiefalle". Aus dem Polnischen übersetzt von Albrecht Lempp. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000. 350 S., geb., 44,- DM. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2000, Nr. 241 / Seite L9
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Das Gefühlsleben der Androiden Hallo, Dolly: Ein Sammelband zum "Frankenstein-Komplex" Der Frankenstein-Roman, den die neunzehnjährige Mary Shelley 1816 schrieb, erscheint auf irritierende Weise geeignet, Argumente für die Diskussion grundlegender ethischer Fragen der Gegenwart bereitzustellen. Die Bemühungen Victor Frankensteins, auf künstliche Weise menschliches Leben zu erschaffen, stehen in einer langen lite rarischen Tradition, weisen aber in ihrer entschieden naturwissen schaftlichen Orientierung auf heutige medizinische Forschungen und Praktiken voraus. Auch in der Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahren die Diskussion um künstliche Menschen einen Aufschwung erfahren. Als Frucht eines Symposions in Weimar ist ein Band er schienen, der sich dem "Frankenstein-Komplex" unter interdis ziplinären Aspekten nähert. Der Kölner Germanist Rudolf Drux versammelt darin neben den wis senschaftlichen Tagungsbeiträgen auch literarische Zeugnisse aus dem Umfeld des Frankenstein-Stoffes, etwa zwei Gedichte Hans Magnus Enzensbergers über tatsächliche Versuche im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, künstliches Leben zu erschaffen, ei nen Essay Durs Grünbeins oder Szenen aus den FrankensteinStücken Wolfgang Deichsels. Die übrigen Beiträge untersuchen die Stoffgeschichte der literarischen Androiden, darunter Mary Shelleys Roman, setzen ein Gedicht Goethes oder die ethische Problematik der entwickelten Gentechnik in Bezug zu Frankenstein. Dieser Bezug ist bei einigen der Aufsätze nicht sonderlich eng, was zwar den ein zelnen Texten nicht schadet, dem Zusammenhang des Buches aber einigen Abbruch tut. Zu den herausragenden Beiträgen gehören die Aufsätze von Rudolf Drux, der einen gekonnten Überblick der Genese des literarischen Androidenmotivs liefert, und die Untersuchung "Herr und Knecht. Über künstliche Menschen im Film" von Thomas Koebner. Beide kön nen als hervorragende Einführungen in die jeweilige Thematik die nen. Zudem erörtern sie eindrucksvoll die Aktualität des Androiden themas. Bei Thomas Koebner geschieht das im Blick auf den Science fictionfilm "Blade Runner". Der handelt von Maschinenmenschen, deren Programmierung auch lose Fragmente einer menschenähnli
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chen Erinnerung umfasst: "Aber besteht nicht auch unsere Identität bei flüchtiger Ansicht aus Erinnerungsbruchstücken, oft unzusam menhängenden Fetzen von ,Selbstbewusstsein', die uns die Einheit einer Person und ihrer Geschichte suggerieren sollen?" Dies wirft die Frage auf, was eigentlich den genuinen Menschen von seinen selbst geschaffenen Doppelgängern noch unterscheidet: "Was ist der Mensch?" Jede Beschäftigung mit der Androidenproblematik landet früher oder später bei dieser Frage. Definitionsversuche aus den ver gangenen Jahrhunderten wollten den Unterschied zwischen dem Menschen und seinen Replikanten etwa in der Sprachausübung, dem Gefühlsleben, dem Kunstschaffen oder der Religiosität sehen, Berei che, die den Androiden verschlossen seien. Es verwundert nicht, dass die Verwischung gerade dieser postulierten Unterschiede im Zentrum der ambitionierten literarischen und filmischen Projekte zur Erschaf fung von Androiden stehen. Die Ergebnisse sind homosexuelle Com puter oder religionsstiftende Roboter, elektromechanische Literaten oder Maschinenmenschen, die sich erst nach vielen Jahren ihrer arti fiziellen Herkunft bewusst werden (und sich zuvor für authentische Menschen hielten). Ein Spannungsverhältnis, das schon Shelleys Roman prägt. Denn das aus Leichenteilen zusammengesetzte Monster leidet an humanoiden Empfindungen wie Zorn, Scham und vor allem Einsamkeit, während sein menschlicher Schöpfer ein solches Gefühlsleben häufig vermis sen lässt oder zugunsten seines Forscherehrgeizes unterdrückt. Der Android ist in der Lage, seinen Schöpfer zu ersetzen - als Arbeiter, Intellektueller, nicht zuletzt als Liebender. Vom authentischen Men schen ist er nicht mehr zu unterscheiden. Das ist die verstörende Botschaft, die dem Frankenstein-Roman seine bis heute ungebroche ne Faszination sichert. TILMAN SPRECKELSEN. Rudolf Drux (Hrsg.): "Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtli che Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen". Suhrkamp Ver lag, Frankfurt am Main 1999. 276 S., geb., 16,80 DM. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04.2000, Nr. 85 / Seite 50
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Zukunft auf Zelluloid Miezen und Matritzen
Ideologie? Welche Ideologie? Der Terminator und die Matrix sitzen in der gleichen Zukunft fest Am Ende von Jonathan Mostows "Terminator 3 - Aufstand der Ma schinen" laufen Kate Brewster und John Connor durch das ausge bohrte Innere eines Berges in Nevada, den "Crystal Peak". Hier soll das zentrale Steuerungssystem sein, mit dem sie das Computernetz werk SkyNet ausschalten können, das gerade dabei ist, die Weltherr schaft anzutreten. Aber John und Kate finden nur eine Kommando zentrale aus den sechziger Jahren, mit altertümlichen Computern, einem runden Konferenztisch und einem Mikrofonpult vor blauem Hin tergrund für Ansprachen des Präsidenten an die Nation. Sie sind in ein Relikt geraten, ein Museum des Kalten Krieges, der von heute aus wie ein Märchen aus fernen Zeiten erscheint, wie das lächerliche Duell zweier Mächte, welche ihren wahren Feind, die von der Menschheit geschaffenen Maschinen, noch nicht erkannt haben. In diesem Augenblick durchbricht der Film die wolkige Hülle des Ge dankenspiels, in das er sich eingesponnen hat, und stößt hart an die Realität. Es klingt metallisch, dumpf und hohl. Nicht, weil "Termina tor 3" so ein hohlköpfiger Film wäre - er ist im Gegenteil intelligenter als die meisten Blockbuster dieses Hollywood-Sommers -, sondern weil dort drinnen, im Kristallberg der Sechziger, etwas besonders Altes und Kostbares aufbewahrt wird. Die visuelle Überlieferung des Genres. Sein Allerheiligstes. Sein ideologischer Kern. Daß Filme die Welt nicht abbilden, sondern neu erschaffen, hat schon Siegfried Kracauer in den zwanziger Jahren erkannt, als er beobach tete, wie die kleinen Ladenmädchen ins Kino gingen, um dort größe ren Ladenmädchen zuzuschauen, die es zu etwas gebracht hatten. Die Kinokritik in dem Kapitel "Kulturindustrie", das Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihre "Dialektik der Aufklärung" hineinschrie ben, war nur die weitere Ausformulierung von Kracauers Gedanken gang. "Aufklärung als Massenbetrug" sei das Kino, indem es Glücks versprechen abgebe - Reichtum, Berühmtheit, große Liebe -, die tat sächlich erfüllbar seien, nur nicht hier und nicht heute. "Immerwäh rend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht." Den Weltuntergang? Nein, um kleinere Dinge wie Reichtum, Schönheit, Liebesglück.
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Etwas vom schlichten Glücksversprechen des Kinos findet man auch heute noch in Filmen wie "Charlie's Angels - Volle Power", in dem eine Weizenblonde, eine helle Brünette und eine dunkelhaarige Asia tin den Männern zeigen, wo es langgeht: mit Kung-Fu-Griffen, Kickbox-Tritten und waghalsigen Sprüngen aller Art. Das "Racket", in dem Adorno und Horkheimer die Keimzelle der kulturindustriellen Weltverschwörung witterten, ist durch die gyms von West Los Ange les ersetzt, und daß weder Cameron Diaz noch Drew Barrymore oder Lucy Liu den kleinsten Hauch von Grazie besitzen, ist nicht nur kein Hindernis, sondern gerade die Bedingung ihrer Massenwirkung. "Jetzt sind die Glücklichen auf der Leinwand Exemplare derselben Gattung wie jeder aus dem Publikum ... Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar." Wenn Natalie, Dylan und Alex nicht kämpfen, sieht ihr Leben aus wie die reine Fernsehse rie. Sie helfen den Ladenmädchen dabei, in ihren Läden zu bleiben. Schreckensfilme machen Epoche Aber es gibt auch die großen Leitbilder, und das sind neben den Hochzeits- vor allem die Schreckensfilme, Geschichten, die den Wahn einer Epoche ausdrücken, ihr Feindbild, ihren Albtraum, ihre innerste Angst. In den fünfziger Jahren waren das die Schreckensphantasien einer Invasion from outer space oder durch atomar verseuchte Spin nen, Ameisen et cetera. Hätte Adorno nicht eine - wahrscheinlich geheuchelte - Vorliebe für Kunstkino à la "Törleß" kultiviert, hätte er dem B-Film-Produzenten Jack Arnold ("Tarantula") den Status eines dunklen Aufklärers zusprechen müssen, denn Arnold brachte die Pa ranoia seines Zeitalters auf den visuellen Begriff. Als in den achtziger Jahren die Fünfziger wiederkehrten und James Camerons "Terminator" erschien, war die atomare Bedrohung schon fast Geschichte, aber der Film gab ihr einen neuen Drall. Nicht die Weltmächte, sondern die Computer haben das Jüngste Gericht aus gelöst; in einer nachtschwarzen Zukunftswelt kämpfen die letzten Hominiden gegen Robotersoldaten um ihr Überleben. An die Stelle der Roten, der Monster und Marsianer waren die Maschinen getreten, und durch Arnold Schwarzenegger bekamen sie ein Gesicht. Daß sich unter der Bio-Brust ein glattes Stahlchassis verbarg, wußte man schon, wenn man den Mann nur ansah.
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Dann kam, sieben Jahre später, die Revision des Mythos in "Terminator 2". Schwarzenegger war zum Beschützer umprogrammiert; an seine Stelle trat als Antagonist ein noch reinerer Maschinenmensch, quecksilb rig und unbegrenzt formatierbar wie eine Nur-Text-Datei. Wieder einmal wurde John Connor, der zukünftige Anführer der Menschheit, gerettet, aber die Apokalypse, die Zerstörung der Welt durch Atomwaffen, rückte näher, als hätte der Film den Weg des Genres von den fünfziger in die sechziger Jahre, seine Radikalisierung und Verdüsterung, noch einmal nachvollzogen. Das Grauen, das in den ersten Einstellungen beschworen und dann wieder abmoderiert wird, teilt sich den Bildern mit, es bringt die Story zum Zittern. Die Handlung läuft gegen eine tickende Uhr. Und hier kommt "Matrix" ins Spiel - nicht das Sequel, das Original. Was damals, 1999, nicht besonders auffiel, wird jetzt, da "Matrix 2" und "Terminator 3" im gleichen Sommer anlaufen, schlagartig offen bar: Die Wachowski-Brüder haben die Prämisse der "Terminator"Filme glatt übernommen. Weltherrschaft der Maschinen, ewige Fins ternis, das letzte Menschenhäuflein - alles ist da, nur eben ans Inter net angeschlossen und mit sehr viel John Woo und etwas weniger Peckinpah angedickt. Mag sein, daß einer der Brüder Baudrillard ge lesen hat, aber das Wesentliche haben die Wachowskis doch bei Ja mes Cameron gelernt. Die Gegenwart, das ist jetzt freilich nicht mehr die Realität der neunziger Jahre, sondern ein digitales Präsens, das die Maschinen eingerichtet haben, um die Menschheit desto wirkungsvol ler versklaven - statt, wie bei Cameron, vernichten - zu können. Im übrigen sieht die Welt der Matrix ziemlich genau wie Downtown Los Angeles aus, mit kleinen Einschüben von Harlem und Manhattan. "Matrix" war ein Trip durch die kollektiven Intuitionen der Jahrtau sendwende, irgendwo zwischen T. S. Eliot ("The Waste Land"), Nietz sche ("Ich aber künde euch den Übermenschen") und Quentin Taran tino ("Das ist kein Motorrad, Baby, das ist ein Chopper") - irreal, a pokalyptisch, hyper-christlich, gewalttätig und reichlich modebewußt: So wie Morpheus, Neo & Co. liefen früher die Nazischergen im deutschen Regietheater herum. Warum wirkt "Reloaded" dann so gelähmt, ein Film, der nie wirklich in Gang kommt? Wegen Zion. Zi on, die Menschenstadt unter der Erde, ist der wunde Punkt der Ge schichte, das Stück Ideologie in einem weitgehend herrschaftsfreien Ideenzirkus. Ideologie ist die Behauptung, die Menschheit könne im Erdinneren überleben, während die Oberfläche des Planeten von Ma schinen beherrscht wird. Aber nicht an ihr krankt der Film, sondern
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daran, daß er sie selbst nicht glaubt. Seine platonische Höhle ist ein lächerlicher Militärstaat, der Männer nur als Kämpfer und Frauen nur als Gebärerinnen kennt. Um seine Massen aufzulockern, läßt sie der Film, mit deutlicher Verbeugung vor Langs "Metropolis", eine Art Ethno-Techno tanzen und degradiert sie so erst recht zu menschli chen Ameisen. Die Helden mögen oben, im Reich der Matrix, noch so tapfer kämpfen - all ihre Siege werden dadurch entwertet, daß sie zuletzt wieder hinabmüssen in diese Kaverne, diesen Maulwurfsbau der falschen Humanität. Blick ins Museum der Ängste An dessen Stelle setzt "Terminator 3" den Blick ins Museum der Ängste. Dort stehen, unversehrt über die Zeiten gerettet, die Schalt tafel und der Konferenztisch aus Stanley Kubricks "Dr. Seltsam", und jeden Moment erwartet man, Peter Sellers und Sterling Hayden aus der Matratzengruft treten zu sehen. Bis in die Dialoge, bis in die Zeile "We'll meet again" aus dem Schlußsong von Vera Lynn, die hier von Schwarzenegger selbst gesprochen wird, knüpft der Film an Kubrick an, so wie seine Untergangsphantasien den Zukunftshorror der sech ziger Jahre wiederholen. Aber Mostow und Cameron wissen, daß ihr Zion eine Falle ist. Darin sind sie den Wachowskis voraus, die ihre Helden besser im Morpheus' Raumschiff Nebukadnezar gelassen hät ten. Der dritte "Matrix"-Teil wird hoffentlich wieder mehr Babylon als Zion enthalten. "Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Un heils." Das wissen längst auch die Apokalyptiker Hollywoods. Aber sie haben Adorno und Horkheimer gegen den Strich gelesen. Das Unheil kommt nicht von der Herrschaft des Menschen über den Menschen, sondern aus dem Laptop, auf dem die Drehbücher entstehen. Dieser Speer wird die Wunde, die er schlägt, niemals schließen. Apokalypse filme wird es geben, bis ihre Prophezeiungen eingetreten oder ins Museum eingeliefert sind. Bis dahin läßt sich die "Dialektik der Auf klärung" immer wieder als Anleitung zur filmischen Gestaltung des Unheils lesen. Mindestens als Science-fiction lebt die Kritische Theo rie weiter. ANDREAS KILB Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.2003, Nr. 181 / Seite 36
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Sein Gehirn käst Abgeleiteter Unsinn als letzte Wahrheit, doch die Welt der "Matrix"Filme ist schlüssiger, als sie weiß: In diesem Jahr stehen die beiden Fortsetzungen des großen Kinoerfolgs bevor. Robin Hood wird abgeschafft, Luke Skywalker verdrückt sich, selbst Guevara ist Che von gestern. Die Geschichte vom jungen Helden, der dem Status quo seine durch vollendete Verkarstung desselben voll gerechtfertigte Wut entgegenschleudert, geht heute anders. Wie genau, das muß man, um sich anschließend den bunteren Din gen zuwenden zu können, die daraus folgen, erst einmal erfassen; wer's schon kennt, übe sich drei Absätzchen lang in Geduld. Siehe: Thomas Anderson alias "Neo", kleiner Angestellter eines Software-Kraken, sitzt nachts stur wie Stein seinen Schreibtischstuhl durch, um im Internet nach dem "gefährlichsten Mann der Welt" zu suchen, dem Computergangster "Morpheus". In Gestalt zweier sexy Cyber-Flintenweiber mit scharfgeschnittenen Gesichtern in weißen be ziehungsweise schwarzen Urban-Futurismo-Stadtguerrilla-Uniformen nimmt der Gesuchte selbst Kontakt mit seinem Jünger auf, lockt ihn in ein vor lauter Industrieabgasen und saurem Regen zum Film-noirGuckkasten schwarzgewaschenes Mietshaus und bietet ihm an, er werde ihm "die Wahrheit" offenbaren. Wenn Neo eine rote statt einer blauen Kapsel einwirft, gibt es kein Zurück. Neo schluckt das Phar makon und erwacht, pfui Teufel, in der wirklichen Welt. Sein mieses Leben Ende des zwanzigsten Jahrhunderts war nur eine Computersimulation, in Wirklichkeit vegetiert er ungefähr zweihundert Jahre später in einem Tank mit Nähr- und Konservierlösung. Denken de Maschinen haben den Planeten in Besitz genommen, Menschen werden bloß noch als Spender von Bioelektrizität gezüchtet und aus gesaugt, nach ihrem Tod verflüssigt und ansonsten durch Einspeisung der illusorischen Welt der "Matrix" in ihre verkabelten Hirne ruhigge stellt. Morpheus und seine Truppe sind Revolutionäre, deren Basis die letzte von Menschen gehaltene unterirdische Stadt nah am Erdkern ist, genannt, o Heimatland, "Zion". In Hovercraft-Transportern - der, von dem aus Morpheus operiert, heißt "Nebukadnezar" - bewegt man sich zwischen den Wänden des Gefängnisses, das die Künstliche
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Intelligenzen-Koalition den Kindern Adams errichtet hat, hackt sich in die Matrix, spielt Räuber-und-Roboter mit den intelligenten Agenten programmen, die der Rebellion mit bewährten CIA-CounterinsurgencyMethoden beikommen sollen, und hofft auf den "Auserwählten". Es war einmal in einer gar nicht so fernen Zukunft. Einst nämlich gab es einen Menschen, dessen Kopf so klar war, daß er der Matrix als Metaprogrammierer gegenübertreten konnte. Seine Wiederkehr ist den Unterjochten von ihrem Orakel verheißen. Mor pheus glaubt, Neo sei dieser Türöffner zur Freiheit, und obwohl ein Judas namens "Cypher" seinen Kapitän an die Silizium-Gestapo ver schachert, wird am Ende alles gut, weil Neo erkennt, daß er tatsäch lich das Zeug dazu hat, sich an die Spitze des Aufruhrs zu setzen. Obwohl ihm ein Agent bereits die Brust durchschossen hat, küßt ihn die schärfste unter Morpheus' coolen Hackermiezen, die Lack-undLeder-Schönheit Trinity, auf seinem Datenliegestuhl wieder lebendig. Der widerlichste der Agenten wird plattgemacht, die Revolution kann beginnen, ein Brocken Rockmusik schleift seinen Beat qualvoll hinter sich her über die frischgeteerte Datenautobahn, Abspann, Kult, zwei fache Fortsetzung folgt. Dies war "The Matrix", 1999. So gut wie alles Nichtvisuelle war ver kehrt an diesem dabei dennoch stilbildenden, nämlich sehr gutaus sehenden Film, krumm und schief und unglückselig, Trash vom Feinsten, nämlich Gröbsten. Die historischen Referenzen, schockwei se mythische Staubfänger der Schnarchklasse - "Nebukadnezar", "Zion", "Trinity", "Morpheus" -, stammten erkennbar vom Grabbel tisch. Vor allem aber umflimmerte das Ding eine postmoderne Instant-Aura diverser, nicht mehr ganz zeitgenössischer SchlaubergerZutaten aus den achtziger Jahren: Das ausgehöhlte Buch, in dem Neo Hacker-Konterbande versteckt, ist selbstredend Baudrillards "Simulacra and Simulation", wenn auch dicker als das Original. Der Satz, mit dem Morpheus Neo die Welt erklärt, "Welcome to the de sert of the real", ist direktes Baudrillard-Zitat, und im ersten Dreh buchentwurf sagt der Fremdenführer durch die wahre Welt dem Jun gen noch: "Du hast in Baudrillards Vision gelebt, auf der Landkarte statt auf dem Territorium." Keanu Reeves, "Neo"-Darsteller und seit seinen "Bill & Ted"Klamaukfilmen als Charakterdarsteller jederzeit imstande, ein
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Fläschchen Bildschirmreiniger an die Wand zu spielen, mußte sich im Vorfeld jesuitischen Kopferxerzitien unterwerfen und zwei ganze Bü cher durchlesen, nämlich den besagten Baudrillard und das Evangeli um der Gentech-und-Internet-New-Economy-Generation, "Der zweite Akt der Schöpfung" (1994) vom Mitbegründer der Zeitschrift "Wired", Kevin Kelly. Beide Werke waren 1999 bereits geistesgeschichtliche Restexemplare: Nichts ist so alt wie das, was vor zehn bis fünf Jah ren Brennstoff für den schnellen Umlauf überwiegend feuilletonisti scher Debatten lieferte. So blechdünn die mythoprätentiösen Reso nanzen im Klangkörper des Archaischen, so fußlahm und uninspiriert die hippen Theorie-Bezugnahmen waren, so weit blieben die Väter und ausführenden Gestalter des Projekts, die australischen Gebrüder Wachowski, zugleich hinter den Leistungen jenes Genres zurück, dem ihre Einfälle aufsitzen: der Science-fiction. Wie die getrockneten und gepreßten Baudrillard-Blüten war nämlich auch die literarische Konvention "Cyberpunk" zu dem Zeitpunkt, da der Film erschien, an ihrem Ursprungsort längst vom Zweig gefallen, im Boden zu Humus fermentiert, abgetan. Ihr Chef d'oeuvre, die "Neuromancer"-Trilogie von William Gibson ("Neuromancer", "Count Zero", "Mona Lisa Overdrive"), war 1984, 1986 und 1988 erschienen. Autoren wie Bruce Sterling, Jack Womack, John Shirley und Pat Ca digan hatten alles, was aus der Metapher "virtuelle Realität" rauszu holen war, längst rausgeholt. Radikalisierungen in verschiedene Rich tungen blieben freilich möglich; so hat etwa der Australier Greg Egan in Romanen wie "Permutation City" (1995), "Diaspora" (1999) und "Schild's Ladder" (2002) die Vorstellung, daß Bewußtsein sich algo rithmisch codieren und simulieren lasse, bis zu dem Punkt weiterge trieben, an dem sich erweist, wie wenig so ein Bewußtsein noch mit unserem zu tun hätte. Egans wissenschaftlich-spekulativpolitischer Zuspitzung stehen ande re, vor allem ästhetische Radikalisierungen des Cyberpunk-Modus zur Seite, deren bekanntester Exponent Neal Stephenson wurde, in dessen Schatten wiederum Dutzende von Namenlosen versucht ha ben, diese Erzähloption literarisch in ähnlicher Weise ernst zu neh men und zu veredeln, wie das Raymond Chandler mit der Kriminal geschichte gelang. In Gestalt von Richard Calders unfaßbarem Cyber-Liebes-Terror-Roman "Cythera" von 1998, in dem so gut wie jede Perversion vorkommt, die einem dazu einfallen kann, war, als die filmische "Matrix" gerade hochgefahren wurde, in dieser Hinsicht
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endgültig Fluchtgeschwindigkeit erreicht. Das Morphem "Punk" im Kompositum "Cyberpunk" mochte auf eine Haltung verwiesen haben, die einer um Musik zentrierten jugendlichen Negationskultur abge guckt war - daß diese Haltung einen eigenen literarischen Stil her vorbringen kann, der von den zahmen Erzähltönen der für den Cyberpunk-Modus tonangebenden Anthologie "Mirrorshades" (heraus gegeben von Bruce Sterling 1988) so weit entfernt ist wie heutiger Krach von den "Sex Pistols", den "Clash" oder "Buzzcocks", war mit Calders Exzeßschöpfung bewiesen. Noch durchgeknalltere, nicht im mer jedoch auch begabtere Hysteriker mit Namen wie John Courte nay Grimwood ("Remix", 1999) und Eric Brown ("New York Nights", 2001) konnten mit glühendem Keyboard unter den Fingern folgen. Einer der stilsichersten, ambitioniertesten Versuche, genau das zu tun, was die "Noir"-Versatzstücke in "The Matrix" leisten sollen, näm lich den postmodernen Zitat-Aktenkoffer der Pandora aufzureißen, bis die Scharniere brechen, erschien just in dem Jahr, als der Film in die Kinos kam: Jack O'Connells programmatisch betitelter Roman "Word made flesh", der seine Wirklichkeitsebenen erheblich tiefer und schmerzhafter ineinanderschneidet als die Wachowski-Brüder die ihren. Neben O'Connells "Magicians" - wie der seine unheimlichen Auftragsmörder (und Expolizisten) in der unwirklichen Stadt Quinsi gamond nennt - wirken der steife Anzugträger Agent Smith und sei ne Killerdrohnen aus der "Matrix" so angsteinflößend wie Stephan Derrick beim Maigret-Lesen im Ohrensessel. Daß sie sich durch die Myriaden von derartigen Texten, die der Cyberpunk-Gourmand kennen kann, nicht brav hindurchgefressen ha ben, ist den Wachowski-Brüdern allerdings nicht zum Vorwurf zu ma chen. Schließlich reicht zum Bezug der Grundidee ihres Films - wir sind alle in einer KI-gesteuerten Scheinwelt verknastet - schon kon zentriertes Durchblättern der HeftchenScience-fiction aus den fünfzi ger und sechziger Jahren, etwa der Arbeiten von Philip K. Dick oder seines sehr zu Unrecht vergessenen Wegbereiters Charles Harness. Im übrigen aber sind die Abgreifereien der "Matrix"-Autoren bei dem Medium, das sie selbst unmittelbar bedienen, auch nicht tiefgründi ger - dem Kritiker Andrew Gordon verdanken wir eine Auflistung sol cher Anleihen ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Von der bösen Denkmaschine in Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" (1968) über den Endoparasiten aus Ridley Scotts "Alien" (1977) und den Kampf eines Begnadeten in einer Simulationsumwelt gegen einen
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algorithmischen Unterdrücker aus "Tron" (1982) bis zu den MenschMaschine-Kriegsanleihen bei James Camerons "Terminator" (1984) und "Terminator II" (1991) reicht die Palette auf dem Büffet des "Matrix"-Mundraubs. Zwei wache Vierzehnjährige hätten gewiß keine schlechtere Liste zusammengestellt. Wären die beiden außerdem Science-fiction-Junkies, hätten sie sich überdies als Plot- und Kohä renzdoktoren nützlich machen können, denen vielleicht kurz vor End schnitt noch einige der Motivations- und Logiklöcher sowie wissenschaftlich-technischen Begründungsfehler des Films aufgefallen wä ren - schließlich sind diese imposant wie der Kölner Dom. Seit wann, hätten die Vierzehnjährigen etwa fragen können, ist ei gentlich der menschliche Körper als einziges Ding im Universum vom Energie-Erhaltungssatz ausgenommen, seit wann produziert er mehr Energie, als man reinstecken muß? Bislang lief das nämlich eher so, daß letztlich alle Lebewesen auf unserem Planeten, einer langen Transferkette folgend, von der Energie lebten, die das Zentralgestirn, die Sonne, uns allen spendet: Sie nährt die Pflanzen, diese die Pflan zenfresser, jene die Fleischfresser, und das ganze Geraffel wird dann von den darum treffend benannten Allesfressern verspeist, von uns zum Beispiel. In der Welt der "Matrix" aber ist die Sonne verfinstert - ein Kollate ralschaden des Krieges gegen die Maschinen. Jede Menge anderer schreiender Absurditäten werden auf diese locker draufgestapelt: Jemand, der so alt ist wie Neo, wird seine noch nie benutzten Mus keln auch nach kribbelnder Elektrostimulation nicht allzubald dazu kriegen, ihn durch die Gegend zu bewegen; ein Virus ist kein "Orga nismus", auch wenn das anscheinend komplett verblödete KIProgramm, das Morpheus foltert, solches glaubt; die Telefonleitun gen in der "Matrix" haben offenbar einen anderen ontischen Status als die Handysignale dortselbst, obwohl beide nur virtuell sind; das Orakel ist Programmbestandteil der "Matrix" statt Teil des RebellenComputernetzwerks, arbeitet aber trotzdem unentdeckt für diese und so weiter und so fort. Alles in allem: ein Ausbund an Blödsinn. Das Mythische ein wirr gemusterter Flickenteppich, die "Weltan schauung" ein Verschnitt von großmäuligen Kanzelworten abgehalf terter Modephilosophen, die Science-fiction-Bibelfestigkeit mangel haft, der Coolness-Faktor der Filmanspielungen ungenügend: Da steht kein öder Perfektionist des Genre-Kinos, kein raffinierter Taran
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tino-Klon vor dem Tor zur Unsterblichkeit, nein, hier begehrt die un erschrockenste Bedenkenlosigkeit Einlaß, meldet sich der grundlo seste Enthusiasmus manischer Figuren zu Wort, die soeben das Rad neu erfunden haben - aber, man beachte: viel holpriger als das Ori ginal und außerdem eiförmig verbogen. Mangelndes Verständnis schließt Erfolg nicht aus. Das Schöne daran: Es hat geklappt. Wir haben den Kram geschluckt wie die Israeliten in der Wüste ihr Manna am ersten Tag, die Kinos waren brechend voll, die DVDs sind Dauerseller, die beiden Fortset zungen, in denen der virtuelle Umsturz seinen berechenbaren Lauf nehmen soll, waren und sind unvermeidlich. Noch schöner: In einer Rückkopplungsorgie ohne Präzedenzfall ha ben zwar die Wachowski-Brüder die postmoderne Bilder-, Gedankenund Textwelt nicht begriffen, der ihr hochunterhaltsamer, beknackter Actionfilm ein bis zum zwanghaften Wahnsinn durchstilisiertes Denkmal setzen soll, dafür aber werfen sich unterdessen die intellek tuellen Sachwalter dieser Postmoderne selber, die versammelten und versprengten Stichwortgeber und Wirrköpfe des Sekundären, gierig auf den Film und sein reiches, mit Halbfertigem hübsch dicht zuge mülltes Universum wie auf ihre letzte Rettung. Die Zahl der Essays und Seminararbeiten, der Erwähnungen des Films in gelehrten und feuilletonistischen Abhandlungen übers Trans humane, Parakomplette und Postvernünftige ist nicht mehr abzu schätzen. In zwei jüngst erschienenen Büchern ("Taking the Red Pill - Science, Philosophy and Religion in The Matrix", Benbella Books 2002 und "The Matrix and Philosophy - Welcome to the Desert of the Real", Open Court 2002) erzählen uns Science-fiction-Mantiker wie James Gunn und Robert J. Sawyer, Techno-Astrologen wie Bill Joy und Ray Kurzweil, Krypto-Theologen wie James L. Ford und Paul Fon tana, Gesellschaftskritiker wie Martin A. Danahey und David Rieder und echte menschliche Batterien wie der einfach nicht zu erschöp fende Slavoij Zizek wilde Begebenheiten aus ihren gefahrvollen Ge hirnen und gewagte Assoziationen zu Sokrates, Morpheus, Orpheus, Boethius, Neomaterialismus, dem Tod des Subjekts, dekonstrukti vistischem Buddhismus, Messianismus, Nihilismus, "Neofiktion" - der dollste Neologismus seit langem, gemeint ist die gute alte Science fiction - und, warum nicht: Hannah Arendt (zwei Indexnennungen).
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Das alles funktioniert selbstverständlich nicht, nie und nirgends als so etwas altmodisches wie eine Deutung, Kritik oder Analyse des Films und seiner Reize, sehr gut aber als textgestische Mimesis: Man schreibt, wie der Film, über den man schreibt, seine Bilder raushaut. Das ganze Gefasel leuchtet, mit anderen Worten, je nachdem, wie gut man geschlafen und gegessen hat, wie sehr man nach Erläutern dem und Nachvollziehbarem verlangt, entweder sofort oder über haupt nicht ein. Was in all diesen Wortbeiträgen indes zwingend tabu bleibt, ist das Offensichtliche: Der Film ist gut gegen jede Wahrscheinlichkeit, un terhaltsam nicht wegen, sondern trotz seiner hochgestochenen postmodernen Kontexte aus Theorie und Science-fiction, die er nahe zu überall und andauernd verletzt, mißachtet, mißhandelt. Die Welt der "Matrix"-Trilogie geht in ihren postmodernen Voraussetzungen einfach nicht auf. Denn während die raunende Simulakren-Philosophie Baudrillards den sie inspirierenden realen oder science-fictionhaften Virtualitätskrem pel aus der heute ziemlich vergangenen Schubphase der Computer ära andauernd problematisiert, diskutiert und beim späten, ganz pessimistisch gewordenen Baudrillard sogar beklagt hat, zeigen die 360-Grad-Freeze-Sequenzen, die Hochhaussprünge, Kung-FuAbsurditäten und Explosionen der Films ganz im Gegenteil nichts irgendwie Deprimierendes oder Abgründiges, sondern aller mit dem Finstern kokettierenden Lackschwärze zum Trotz immerfort, wie schön, wie erbaulich und fordernd es für die Protagonisten ist, sich dauernd mit der Frage auseinandersetzen zu müssen, ob das, was sie grade machen, in der richtigen oder in der symbolischen, simu lierten, codierten Welt stattfindet. Der Film erörtert eben nichts, er feiert, daß die Ebenen sich längst ineinander verbissen und einander sogar ein wenig angefressen haben. Dieses Moment - daß ein Film mit der grellen Evidenzpolitik seiner Sichtund Hörbarkeiten seine betuliche Moral aufweicht - ist ja ohne hin zentrales Merkmal von Großproduktionen, seit es in ihnen com puteranimierte Szenen gibt: Auch Steven Spielbergs drei "Jurassic Park"-Filme behaupten auf der deontischen Ebene, es sei böse, Gott ins Handwerk zu pfuschen und Saurier zu klonen, zeigen dann aber die ganze Zeit, wie toll es aussieht, wenn die Viecher alles verschlin gen und kaputttrampeln. Genauso zertrümmern die letzten beiden
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"Star Wars"- Episoden von George Lucas ihre explizite "Das Gefühl allein zählt"-Hippie-Ideologie rückstandslos, indem die jeweiligen Roboter- und Klonkrieger-Armeen des Bösen alles an autoritärer im perialer Ästhetik in den Schatten stellen, was seit Rom aufgefahren wurde, und damit schnell zum eigentlichen Grund werden, warum man sich das anschaut, warum es gefällt. Während aber die filmische Selbstsprengungen des monotheistischen Zweitschöpfungsverbots bei Spielberg oder der New-AgePhilosopheme bei Lucas jeweils ein im Grunde zufälliges Verhältnis zu den Lehren haben, die in ihnen kaputtgemacht werden - Monotheis mus und Hippietum sind halt typisch versöhnliche HollywoodIdeologien, etwas anderes hätte es auch getan -, ist die im "Matrix"Konnex erfolgende Auflösung der baudrillardistischen Wortschäume reien darüber, daß man in der nachmodernen Welt nicht mehr wissen könne, was real ist, ein typisches Beispiel dafür, wie mit postmoder nem Theoriekäse durch konsequentes Falschbegreifen nützliche kul turelle Arbeit verrichtet werden kann. Selbsternannte Symbolterroristen und echte Hacker. Nicht nur Baudrillard nämlich wurde seit den späten Achtzigern ganz entgegen seinen eigenen Textstrategien, die ja eigentlich bloß immer eine Hyperkatastrophe nach der andern an die Wand malten, kei neswegs (oder doch kaum) von verzweifelten solipsistischen Mön chen gelesen, sondern von selbsternannten Symbolterroristen und echten Hackern. Auch die anderen, primär immer französischen Hel den jener seltsamen, auf unklare Weise von der Moderne abgeleite ten "Epoche", die von zirka 1980 bis ungefähr übermorgen reichen wollte, sind, vor allem im Mutterland gedankenlos massenkultureller Aneignung europäischen Schrotts, jawohl: in Amerika, auf ähnliche Weise und gar nicht immer so ungern ins Leben, in den politischen Actionfilm geschleift worden. Wenn Jacques Derrida sagte "Es gibt nichts außerhalb des Textes" erster Streich gegen die Erfahrungswirklichkeit und für das Sekundä re -, fühlten sich nicht triste Menschen inspiriert, ab morgen fastend und meditierend in der Bibliothek zu zelten, sondern merkwürdige Feministinnen fingen an, klassische philosophische und literarische Texte auf neue, kreative, manchmal fruchtbare, manchmal auch hirnrissige Weise neu zu lesen. Wenn Gilles Deleuze und Félix Guat
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tari sagten, nicht die individuelle Biographie, sondern erst der Dis kurs der Psychoanalyse erschaffe das moderne ödipale Unbewußte zweiter Streich gegen die Erfahrungswirklichkeit und für das Sekun däre -, dann brach nicht auf einmal das große weise Schweigen unter seelisch lädierten Kleinbürgerkindern aus, sondern die "rhizomati sche" Theorie wurde zum Steinbruch für allerlei Internet- und Elektronische-Musik-Waber, zum Humus zahlloser verstrahlter Blüten. Und wenn schließlich Michel Foucault erzählte, es sei überhaupt wohl eher die Ordnung der Diskurse, nämlich deren Machtmuster, was die Ordnung der Dinge hervorbringe - dritter Streich und so weiter -, dann predigten seine Leser nicht fortan Weltverzicht, sondern, bei spielsweise, postkoloniale Studien oder politische Korrektheit. Gemessen an ihrem Beschreibungswert, bezogen auf ihre jeweiligen ursprünglichen Gegenstände aus den sogenannten Geisteswissen schaften, sind alle diese Theorien Auswüchse der gepflegten Vorur teile einer Zeit, die noch in der Schwebe stand zwischen einem alten - westliche Moderne mit östlichem Zerrspiegelbild - und einem neuen - globale, als Kulturkämpfe ausgetragene Neuordnungsdynamiken Zustand, also Ideologien, sachlich Quatsch, notwendig falsches Be wußtsein. Aber die Zeiten für Intellektuelle waren wirklich so, wie in diesem Quatsch unterstellt: Die "Realität" war weg - das heißt, weil Realität einfach das ist, was mich beeinflußt, auch wenn ich nicht will, sowie das, was ich beeinflussen muß, auch wenn es nicht will: Es gab keine gesellschaftliche Kraft, die man wollen konnte oder nicht, keine zum Stellen der Machtfrage genötigte Bewegung, an die sich die Debatten der Intellektuellen anschließen konnten wie vor dem Schwebezustand an "die Revolution". So verlagerte sich das oppositionelle Tun der Intelligenz fast ganz - völlig ist unmöglich, weil auch Debattieren Effekte außerhalb der Debatte hat- auf die Ebene der "Episteme", des "Textes". Die "Matrix"-Trilogie - deren beide abschließende Teile in diesem Jahr ins Kino kommen, einige der Logikprobleme des Urfilms lösen sollen und "The Matrix Reloaded" sowie "The Matrix Revolutions" heißen zeigt uns spät, aber doch noch, wie jene "Heterotopie" aussähe, die das postmoderne Atlantis war: der völlig sekundär gewordene Raum, für den man Kultur und Politik halten konnte, bevor es wieder lebhaft wurde im Diesseits. Ihr habt nur 72 Stunden, Zion zu retten, viel Glück, Neo und Freunde.
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Was die Murmeltiere der Theorie verhießen und was niemand einlö sen kann, hier ist's vollbracht, hinter den sieben ausgehöhlten Baudrillard-Bänden, bei den sieben Diskursen: Fundamentaloppositi on mit Stöpsel im Schädel. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.05.2003, Nr. 108 / Seite 39
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Das Weltall spricht leider englisch "Ich kenne den Herrn Blix"
Gründe für den Krieg und Erkundung des Planeten Solaris
Ein Gespräch mit Stanislaw Lem
Auf dem Türschild steht sein Name. Der bekannteste Schriftsteller Polens lebt in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Krakau ohne sichtbare Zeichen seines Weltruhms. Auf dem Schreibtisch, zwischen den neuesten Ausgaben von "Nature" und "Science", steht eine alte Schreibmaschine neben einem selbstgebastelten Funkensprühgerät. Ringsum stapeln sich Übersetzungen seiner Hauptwerke in allen Spra chen: "Solaris", "Der futurologische Kongreß", "Also sprach ,Golem'" und zahllose andere. Stanislaw Lem hat mit seinen Büchern unseren Blick auf die Gattung Mensch verändert. Aber schon beim Eintreten in sein Arbeitszimmer verändert sich unser Blick auf Stanislaw Lem. Hier sitzt kein Geistesfürst, sondern ein Eremit, der mit brüchiger Stimme seine von Erfahrung gehärteten Einsichten verkündet. Er befürwortet, wie die dafür heftig vom französischen Präsidenten Chi rac gescholtene Regierung seines Landes, einen raschen Militärschlag gegen Saddam Hussein. Die Mitglieder der Raelianer-Sekte sähe er am liebsten hinter Gittern. Auch über die Verfilmungen seiner Roma ne hat er wenig Freundliches mitzuteilen. Die amerikanische Kino produktion "Solaris", mit welcher der Regisseur Steven Soderbergh soeben auf der Berlinale zu Gast war, will er nicht einmal sehen, ob wohl sie überall in Polen mit seinem Namen beworben wird. Lems Aussagen spiegeln die Erfahrung eines geknechteten Volkes, das im zwanzigsten Jahrhundert zahlreiche Unterdrücker erdulden mußte, und den weltumfassenden Blick eines Mannes, der in Natur- wie Geisteswissenschaft gleichermaßen zu Hause ist. Ob Präsident Chirac wohl auch ihm empfehlen würde zu schweigen? F.A.Z. Herr Lem, unsere Zeit ist von Unsicherheit und Angst geprägt. Wovor haben Sie Angst? Ich? Wenn man zweiundachtzig Jahre alt ist, wovor soll man da Angst haben? Wenn Sie meinen, daß ich mich vor dem Tod fürchte, dann irren Sie sich. Fürchten Sie sich vor einem Krieg gegen den Irak?
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Präsident Bush hat die Weisheit nicht mit Löffeln gegessen, aber ich finde, man sollte schnell Schluß machen mit diesem dreckigen Kerl Saddam Hussein. Das würde ich begrüßen. Wenn man lange genug lebt, erkennt man, was ein französisches Sprichwort sagt: "on peut voir tout, et le contraire de tout" - man sieht alles und das Gegenteil von allem. Die entsetzlichen Militaristen von gestern, die Deutschen, sind jetzt eine pazifistische Nation. In Deutschland gibt es kaum einen Intellektuellen, der für den IrakKrieg wäre ... Ich bin ja auch kein Deutscher. Von Polen aus sieht die Lage anders aus. Es wurde viel zu lange hin und her geredet. Ich habe Herrn Blix in Wien kennengelernt, nachdem er für die Internationale Atomener giebehörde den Tschernobyl-Reaktor inspiziert hatte. Der hat den Russen geglaubt, daß es nur sechs Opfer gegeben habe! Ich habe sofort in einer Emigrantenzeitschrift geschrieben, daß dies angesichts der freigesetzten Radioaktivität Unsinn sein muß. Und jetzt sehe ich den Herrn Blix durch den Irak laufen und inspizieren. Es gibt jetzt so viele Szenarien in den Medien, wie ein Krieg ablaufen könnte. Da denke ich mir nur: Bitte, setzt euch in die Panzer und greift an! In einer Zeitung habe ich einen interessanten Leserbrief gelesen: Hätte man rechtzeitig gegen Hitler einen Präventivkrieg geführt, wäre vie len Millionen Menschen das Leben gerettet worden. Soll sich die polnische Armee an einem Krieg gegen Saddam beteili gen? Ach, wissen Sie, man muß ein Vergrößerungsglas haben, um die pol nische Armee zu bemerken. Sie haben in "Der futurologische Kongreß" einst selbst die Vision ei nes Weltbürgerkriegs entworfen. In dem Buch gibt es eine pessimistische und eine optimistische Ver sion. Die eine wird von der anderen verdeckt. In diesem Roman wird die positive Sicht der Wirklichkeit mit Hilfe synthetischer Drogen erzeugt. Nach echtem Optimismus klingt das aber nicht.
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Um in dieser Welt ein Optimist zu sein, darf man erst gestern gebo ren worden sein. Woher sollte ich um Gottes willen Optimismus nehmen? Am besten war die Welt vor 120 Jahren, als es noch keinen Fernseher gegeben hat, man lebte im kleinen Kreis der Familie, e ventuell der Nation, man hatte nicht soviel Informationen. Wovon würden die Zeitungen denn berichten, wenn es nicht pausenlos Krie ge geben würde? Wissen Sie, es ist angenehm, jung, reich und ge sund zu sein. Man muß sich aber hüten, man soll nicht zuviel vom Leben fordern. Als ich noch ein armer Schriftsteller war, konnte ich mir nichts leisten. Jetzt könnte ich mir vier Autos leisten, aber wozu? Wozu brauche ich zehn Paar Schuhe? Die Biotechnologie zum Beispiel schafft nicht mehr Autos oder Schu he, sondern essentiellere Dinge, zum Beispiel Ersatzgewebe zur Be handlung von Krankheiten. Ich habe eine sogenannte intelligente Waschmaschine und benutze sie nicht. Je kleiner und verfeinerter die Dinge werden, desto glückli cher sollen wir sein. Aber ich sehe da keine Korrelation. Was halten Sie von dem Versuch, den Menschen zu klonen? Aus "Science" und "Nature" weiß ich, was für entsetzliche Möglichkei ten uns bevorstehen. Es wäre besser, wenn es keine Klone geben würde. Zuerst sollte natürlich diese Schwindlerbande der Raelianer in den Kerker. Doch auch wenn ihre Behauptungen falsch waren, ich glaube, das Klonen wird kommen, nur eben nicht von Montag auf Mittwoch. Alle Tabus verschwinden irgendwann. Als ich Schüler war, wußte ich nicht einmal, was Pädophilie ist. Heute wirft sich jeder drit te Vati auf seine Tochter oder seinen Jungen. Der Mensch ist eine unangenehme Gattung, sehr peinlich, ja. Da sind wir wieder bei "So laris": Die Hoffnung, daß es auch andere Wesen gibt, und zwar nicht nur Humanoide, ist ein kleiner Trost. Ein Trost könnte auch sein, daß es noch ekelhaftere Kreaturen gibt als den Menschen. Es wäre pein lich zu denken, daß wir die einzigen sind, die das Weltall bewohnen und ständig solche schrecklichen Dinge tun. Na ja, jetzt sehen wir mal zu. Ich warte auf den Angriff Amerikas auf den Irak. Ihr Außen minister Fischer ist übrigens dicker geworden. Zurück zur Bioforschung: Was halten Sie davon, aus menschlichen Embryonen Ersatzgewebe zu züchten?
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Ich finde das unmöglich. Aber man wird sich daran gewöhnen. Ir gendwann wird auch der Papst nicht mehr sagen, das sei schlimm. Ich war vor ein paar Monaten anämisch, da bekam ich fast einen Liter Blut als Transfusion. Es hat mal eine Zeit gegeben, da hätten die Leute die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wie man nur fremdes Blut bekommen kann. Hätten Sie denn auch künstliches Ersatzgewebe genommen? Um Himmels willen, nein. Erstens funktioniert das heute noch nicht, und zweitens, wozu sollte ich neues Gewebe brauchen? Um meine geistigen Kräfte zu stärken? Ich habe mein Leben gelebt und nichts zu bedauern. Wenn man in meinem Alter ist, sieht man, es ist etwas Alltägliches, daß wir alle kaputtgehen. Fünfunddreißig Jahre nachdem Sie Ihren Roman "Solaris" veröffent licht haben, hat der amerikanische Regisseur Steven Soderbergh nun eine zweite Verfilmung angefertigt. Was halten Sie davon? Ich habe bisher nur Rezensionen gelesen. Die Streuung zwischen Ablehnung und Bewunderung ist enorm. Man wird daraus nicht klug. Was ich Ihnen sagen kann, ist, wie ich das Buch vor vierzig Jahren konzipiert habe: nämlich nicht als eine Romanze im Weltall. So etwas hätte mich überhaupt nicht interessiert. Was ist das wesentliche an "Solaris"? Ich habe, ausgehend von meinem Interesse an fremden Zivilisatio nen, mich gegen die von den Amerikanern verbreitete Vorstellung gewandt, daß es entweder humanoide Kulturen gibt oder niemanden. Da wollte ich etwas anderes dagegenstellen. Solaris ist ein Planet, auf dem eine gallertartige, ozeanartige Masse entstanden ist, die von einem Teil der Wissenschaft als lebendig und vom anderen Teil als etwas anderes angesehen wird. Es sollte nicht zu einem Kontakt kommen, weil dieser gar nicht möglich ist. Das Problem im amerika nischen Science-fiction ist, daß das ganze Weltall Englisch spricht. Schauen Sie sich "Star Trek" und diesen ganzen Schwachsinn mit langen Nasen und spitzen Ohren an, das konnte ich nie ertragen. Dieser Ozean mußte also Verhaltensweisen aufzeigen, weil er keine tote Materie ist. Deshalb habe ich Muster erfunden, die Mimoide, Symmetriaden, Längichte und so weiter. Wie der Ozean sie herstellt,
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das können die Menschen nicht begreifen. Sie interessieren den Oze an sowieso nur so viel, wie uns Ameisen interessieren. Die Ameisen menschen versuchen in "Solaris" aber trotzdem Kontakt aufzuneh men, doch der Ozean reagiert nicht, denn er kennt keine Sprache. Er versucht aber, auf seine Weise an die Menschen zu gelangen, an die verdrängten Inhalte menschlicher Seelen, an sehr peinliche Erlebnis se, die tief vor der Welt verborgen sind. Bei Sartorius ist das ein Kind. Und in Kelvin verbirgt sich seine Frau, die Selbstmord began gen hat. Das ist alles. In früheren Interviews haben Sie Ihr Mißfallen an Andrej Tarkowskis Ver filmung von 1972 geäußert. Warum mochten Sie Tarkowskis Film nicht? Bei der Arbeit mit Tarkowski habe ich mit dem Kerl mächtig gestrit ten, denn er wollte eine große Familie in dem Film haben, mit Ba buschkas und Tanten und allem Drum und Dran - er war eben ein Russe. Ich habe eine Figur nach der anderen rausgeschmissen, aber es ist trotzdem ein ziemlich langer Film geblieben, dem es an den technischen Möglichkeiten fehlte, den Ozean visuell auszugestalten. Es mußte also ein psychologisches Drama bleiben. Ich muß beken nen, daß ich nicht die Ausdauer hatte, den Film zu Ende anzusehen. Als ich gelesen habe, daß Soderbergh ein Mittelding zwischen "Der letzte Tango" und "Odyssee im Weltraum" gemacht hat, war ich sehr erstaunt, denn ich sehe da keine Wahlverwandtschaft. Ich erhoffte mir, daß Soderbergh gewisse Möglichkeiten des modernen Films nut zen würde, um den Planeten zu animieren, also das, was Tarkowski nicht machen konnte. Ich höre aber, daß das nicht geschieht. Bei Soderbergh ist der Planet eigentlich nur eine Art Bildschirmscho ner, der keine eigene Rolle spielt ... Einige amerikanische Regisseure hat es wohl enttäuscht, daß aus Harey kein Wurm oder Monster kriecht, das ist ja typisch. Bei mir gab es keine Monster. Der Film ist eigentlich eher ein Kammerspiel. Er zeigt drei, vier Perso nen auf engstem Raum, die sich mehr oder minder über Dialoge ver ständigen. Und draußen schwebt die Masse des Planeten Solaris ... Aus meinem Roman sind erstaunliche Dinge gemacht worden, ein Ballett zum Beispiel, das hielt ich für absoluten Unsinn, aber ich hatte
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keine Chance, das zu verhindern. Ich habe einmal einen Kurzfilm für unseren bekannten Regisseur Andrzej Wajda geschrieben. Der Mann hat dann versucht, die Geschichte umzubauen. Es ist ihm nicht ge lungen, weil man meine Stücke nicht zerhacken kann, um den Rest als Brei mit Mayonnaise zu servieren. Eigentlich war ich immer ein Gegner von Verfilmungen. Wenn ich etwas schreibe, dann verantwor te ich jedes Wort und Komma, aber im Film bin ich als Autor ohn mächtig. Haben Sie schon von einem Romanautor gehört, der mit seiner Verfilmung zufrieden war? Wissen Sie, was Thomas Mann über den "Zauberberg"-Film gesagt hat? In "Solaris" gibt es ein ganzes Kapitel darüber, was sich die Menschen als philosophische und ande re hypothetische Annahmen über die Natur des Planeten zurechtge legt haben. Aber das ist kein Stoff für einen Film, kein Motiv. Kinobil der haben eben ganz andere Begrenzungen als Prosa. Wie ist es dann zu Soderberghs Verfilmung gekommen? Ich habe mich lange Zeit gegen das Projekt gewehrt. Aber dann habe ich mir gesagt, Mensch, du bist über 80 Jahre alt, du warst mit Tar kowski unzufrieden, Soderbergh gehört der neuen Generation ameri kanischer Regisseure an, er ist nicht durch Hollywood vergiftet. So hatte es mir zumindest sein Agent erzählt. Ansonsten war mir nur bekannt, daß der Film erfreulicherweise erheblich kürzer als der von Tarkowski sein würde, daß man mir erhebliche Summen zahlen wür de und daß ich allerlei Versprechen abgeben mußte, niemandem et was zu erzählen, nichts gegen die politisch korrekte Besetzung mit einer Schwarzen zu sagen, also das Maul zu halten. Ich dachte mir also, was soll das, einmal ist keinmal, nicht wahr. Gibt es überhaupt Science-fiction-Filme, die Ihnen gefallen? Das ist eine delikate Frage. Einzelne Stücke der "Odyssee im Welt raum" von Stanley Kubrick haben mir gefallen, allerdings nicht das unsinnige Ende. Aber nein, beglückt hat mich kein solcher Film. Science-fiction-Filme sind modisch geworden, aber sie enden immer mit Prügeleien und Laserkanonen, und das ist alles sehr langweilig. Auch "Herr der Ringe" und dergleichen läßt mich kalt. Unter welchen Umständen ist Ihnen die Idee zu "Solaris" gekommen? Damals wußte ich nicht, was ich schreiben würde, es war nichts kon zipiert. Die Idee des Planeten ist auf dem Papier vor mir erschienen.
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Ich war allein und ziemlich erstaunt. Das ist wie mit dem Träumen. Man weiß auch nicht, woher ein Traum kommt, warum man dieses Thema anpackt und nicht ein anderes. Hat es die Idee eines intelligenten Planeten vorher irgendwo anders gegeben? Davon wüßte ich nichts. Ich bin aber kein fleißiger Mann, der jede Zeile Science-fiction studiert hätte. Mögen Sie die Filme von Kieslowski? Nein, überhaupt nicht. Und die jüngsten Filme von Wajda? Im Kommunismus war man froh, wenn man einigermaßen gute Filme sehen konnte. Diese Zeiten sind vorbei. Ich schirme mich von soviel wie möglich ab, auch von dieser Flut von E-Mails und dem Informati onsmüll im Internet. Mein Sohn in Amerika und mein Assistent hier in Krakau wählen die wichtigsten Dinge für mich aus. Ich brauche meine Ruhe, warum sollte ich mich diesem Wahnsinn aussetzen? Ich sehe nicht fern, meine Herren, außer Nachrichten in deutscher Spra che, denn die lassen mich am ehesten kalt. Wie sieht Ihr Tagesablauf aus? Ich versuche Interessantes zu suchen, Dinge, die sich nicht ewig und ewig wiederholen. Das ist ziemlich schwer, selbst in Magazinen wie "Science", "Nature" und "New Scientist". Einen interessanten Roman aufzuspüren ist eine Seltenheit, vielleicht ist die Zeit des Fabulierens vorbei. Es ist einfacher, eine große Perle auf dem Trottoir zu finden als einen guten Roman von einem Fünfundzwanzigjährigen. Was lesen Sie am liebsten? An erster Stelle meine Dichter, Rilke, Celan. Rilke habe ich noch während der deutschen Besatzung entdeckt. Wenn Sie "Solaris" heute noch einmal schrieben, würden Sie das Buch dann anders konzipieren?
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Das größte Rätsel ist doch: Wo soll man intelligente Leser finden? Das Gespräch führten Andreas Kilb und Christian Schwägerl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.02.2003, Nr. 42 / Seite 37
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Die offene Zukunft und ihre Feinde Noch nie war ein Film von Steven Spielberg so düster – und so hellsichtig: in "Minority Report" schlagen die Bilder zurück Das ist das Gute an der Zukunft - es gibt sie nicht; und das Beste ist: es wird sie niemals geben; jedenfalls nicht jene Zukunft, wie Filme sie träumen, Romane sie zu fassen versuchen und Fernsehserien sie in unendlich viele Episoden zerhacken. Es wird also nichts mit den Laserschwertern, mit welchen die Jedis für sich und gegen alle kämp fen, es wird nichts aus den Replikanten, welche der Blade Runner durchs künftige Los Angeles jagt; und mit der Landung außerirdi scher Truppen in der amerikanischen Provinz ist auf absehbare Zeit auch nicht zu rechnen. Daß die Zukunft wenig Zukunft hat, zeichnet sich seit mindestens achtzehn Jahren ab: Das Jahr 1984 ging vor über, ohne daß "1984" über uns gekommen wäre; im Jahr 2001 sa hen nur die Möbel so aus wie im gleichnamigen Film - von der Raum station und der Mondstadt aus "2001" war so wenig zu sehen wie von HAL, dem rebellischen Elektronengehirn. Und der Termin, für welchen "Die Klapperschlange" die Umwandlung Manhattans in ein ummauertes Getto für Schwerverbrecher prophezeite, verstrich ge nau zu der Zeit, als Rudolph Giuliani damit beschäftigt war, die Stadt New York in einen Kurort für Besserverdienende zu verwandeln. Die hohe Fehlerquote spricht nicht gegen das Genre: Sie bestätigt eher dessen Wirkung und Macht - auch Giuliani hatte "Die Klapperschlan ge" gesehen. Mag schon sein, daß in der ersten Hälfte des zwanzigs ten Jahrhunderts vieles auch deshalb so kam, weil Jules Verne es in der zweiten Hälfte des neunzehnten so vorhergesagt hatte. Die mo derne Science-fiction verfertigt aber keine Zukunftsentwürfe mehr: Sie betreibt Zukunftsverhinderung, sie arbeitet an der Zukunftsver nichtung. Das ganze Genre besteht aus self-destroying prophecies. Insofern kann man ziemlich sicher sein, daß auch das Jahr 2054 ganz anders werden wird, als Steven Spielberg es in seinem Sciencefiction-Film "Minority Report" entwirft. Was einerseits ein Jammer ist, weil man die gigantischen Magnetautobahnen, über welche lautlos die Coupés der Zukunft rasen, die kilometerhohen Wolkenkratzer und die dreidimensionalen Filme gern gesehen haben möchte. Und ande rerseits fragt man sich natürlich, ob es wirklich so ein Fortschritt wä re, wenn man, weil die gesamte Gesellschaft lückenlos vermessen
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ist, von sprechenden Werbeplakaten mit dem eigenen Namen be grüßt und freundlich zum Konsum aufgefordert würde. Denn das ist die Welt, das ist die Stadt Washington, in der Mitte je nes Jahrhunderts, das ja längst das unsere ist: Die Menschen haben ihre Augen weniger zum Sehen als zum Gesehenwerden. Die Iris eines jeden ist seine Identifikation; die ganze Stadt steht voll mit Apparaten, die Augen scannen und daran die Menschen erkennen es ist eine Welt, die auf den ersten Blick von der unseren gar nicht so verschieden ist; und dann entdeckt man: Es ist deren Inversion. Die Bilder starren den Betrachter an, die Schaulust wendet sich gegen die Voyeure, und nur die Blinden bleiben unsichtbar. So etwas löst natürlich, gerade im Auge deutscher Betrachter, die bekannten bedingten Reflexe aus: So also, wie das Washington von "Minority Report", werde der Überwachungsstaat der Zukunft ausse hen; auf solche Verhältnisse laufe hinaus, was mit Videoüberwa chung und George W. Bushs "Terrorism Information and Prevention System" längst begonnen habe. Diese Deutung wirft natürlich auch die Frage auf, warum Spielberg einen solchen Aufwand treibt, wo doch ein Pamphlet, eine Bürgerinitiative oder ein offener Brief gegen Bushs Politik die gleiche Wirkung hätten. Ganz abgesehen davon, daß Steven Spielberg sich erst vorgestern ausdrücklich zu Bush be kannt hat. Worum es Spielberg wirklich geht, hat weder mit Bush noch mit sei nen deutschen Interpreten besonders viel zu tun. Worum es geht, ist ein System, das Pre-Crime heißt und auf einem kapitalen Denkfehler beruht - und dieser Denkfehler ist das Beste, was dem Film "Minority Report" passieren konnte: Da schwimmen, in einer Art von Nährsup pe, drei seltsame Wesen, mutierte Menschen in kindlichen Körpern, und diese "Pre-Cogs" können in die Zukunft schauen. Sie sehen Mor de, bevor die geschehen, und diese Visionen künftiger Verbrechen werden als Bilder aufgezeichnet und der Polizei überspielt: Das ist Pre-Crime - man stellt den Mörder, bevor er einen Mord begeht. Chef der Pre-Crime-Truppe ist John Anderton (Tom Cruise, so nervös wie energisch), ein Polizist, der auf die moralische Frage nach Frei heit oder Determination gern einfache pragmatische Antworten gibt: "The truth is what works" - in Washington ist seit fünf Jahren kein Mord mehr geschehen, und daß die verhinderten Mörder schuldig
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sind, das ist genauso gewiß wie die Tatsache, daß eine Kugel, die man auffängt, sonst mit hundertprozentiger Sicherheit zu Boden ge fallen wäre. Das ist die Schwerkraft von Schuld und Schicksal, wel che das Pre-Crime-System mit Energie versorgt. John Anderton gönnt sich nicht den Hauch eines Zweifels - bis die Mutanten einen Mord prophezeien, den er, John Anderton, begehen wird. Die "Pre-Cogs", das sei die Gedankenpolizei: So deuten das viele Kritiker - sie haben offenbar nicht richtig hingeguckt. Denn was die Mutanten da sehen, sind nicht Gedanken, Absichten und Motive. Die "Pre-Cogs" schauen nicht in die Köpfe, sie sehen in die Zukunft, und dann sorgt die Polizei dafür, daß diese Zukunft nicht passiert. Die Sache scheint also auf einem Denkfehler zu basieren, auf einem Pa radoxon, wie es fürs Genre typisch ist - so lange jedenfalls, wie man die Story an den Maßstäben formaler Logik mißt. Die Logik des Kinos funktioniert aber ganz anders - man muß sich nur noch einmal vor Augen führen, was in "Minority Report" passiert. Es gibt Bilder von Ereignissen, die nie geschehen werden - und sie werden nie geschehen, weil es eben Bilder von ihnen gibt. Genauso funktionierte, bis vor kurzem, das Kino, genauso funktionierten je denfalls die Science-fiction- und Horror-, die Katastrophen- und Ge waltfilme: Der Schrecken wurde in die Bilder verbannt, damit die Wirklichkeit unbehelligt bliebe. Dann kam die größte aller anzunehmenden Rückkopplungen; dann sahen wir Bilder aus dem brennenden New York, die wir aus dem Kino zu kennen glaubten - und von den Erschütterungen, die noch längst nicht verebbt sind, zeugt Spielbergs Film eben auch. "Minority Report" erzählt auch davon, wie Pre-Crime daran scheitert, daß die Morde, welche die Mutanten geschaut haben, dann trotzdem began gen werden. Die Bilder taugen nicht mehr als Schutz vor der Wirk lichkeit - was mit self-destroying prophecies begann, läuft auf eine self-fulfilling prophecy hinaus. Da trifft sich die Science-fiction mit der Tragödie und dem Thriller: Die Zeit des Mordes ist vorhergesagt, die Uhr tickt rückwärts, auf den Showdown zu - und John Andertons Schicksal droht sich eben deshalb zu erfüllen, weil er die Prophezeiung dementieren will. Wobei Anderton mit dem König Ödipus noch mehr als das gemeinsam hat: Auch er verliert seine Augen - wofür er allerdings ein neues Paar ein
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gesetzt bekommt, was seine Identifikation verhindern soll. Die Sze nen nach der Augenoperation, die Momente, in welchen Anderton, weil seine Augen verbunden sind, nichts sehen kann und nicht gese hen werden darf: Das sind die intensivsten Momente des ganzen Films - weil man da spürt, wie sehr sich Spielberg nach eine Wahr heit hinter dem Augenschein sehnt, nach dem Unsichtbaren, dem Verborgenen. Diese Sehnsucht teilt er mit John Anderton, der vor den Augen schon die Hoffnung und den Lebensmut verloren hat; noch nie war ein Spielbergscher Held so düster wie dieser Mann, der nach Dienst schluß erst mal durch die Slums stolpert, wo er sich Rauschgift kauft; und später sitzt er in seinem Apartment, das seit drei Jahren nie mand mehr geputzt hat, wartet auf die Wirkung des Gifts und träumt von dem, was er längst verloren hat. Einer wie er scheint eher dem film noir der vierziger und fünfziger Jahre zu entstammen als dem, was wir immer für die Zukunft hielten. Und wahrscheinlich ist es ja auch so, daß einer wie er, einer, dessen Job die permanente Verhin derung der Zukunft ist, daß so einer komplett herausfällt aus der Zeit. Und andererseits scheint sein düsteres Gemüt auch eine Reak tion auf die gnadenlose Helligkeit der allgegenwärtigen Bilder zu sein, welchen man nur entrinnen kann, indem man wenigstens den eigenen Kopf verdunkelt. In der Kurzgeschichte von Philip K. Dick, die Spielberg für den Film als Vorlage nahm, ist John Anderton ein alter Mann, und die Compu ter rechnen ein wenig langsamer. Der Kern des Plots aber ist der gleiche geblieben. Dicks Geschichte erschien im Jahr 1956. Wenn sie noch im Jahr 2002 als Vorlage für einen Science-fiction-Film taugt, kann der Autor als Prophet nicht ganz schlecht sein. Gnade uns Gott, wenn die Zukunft doch so wird, wie die Science fiction sie uns vorhersagt. CLAUDIUS SEIDL Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.09.2002, Nr. 39 / Seite 24
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All diese Momente werden sich in der Zeit verlieren Wie Tränen im Regen:
2001 - das Jahr, in dem die Zukunft
nicht nur im Kino von der Gegenwart eingeholt wurde
Von Michael Althen
Que será, será,
whatever will be, will be,
the future's not ours to see,
que será, será,
what will be, will be.
(Jay Livingston)
Am 26. April dieses Jahres meldete die Nasa Computerprobleme an Bord der Raumstation Alpha. Ein Roboterarm sollte eine Ladung an den Arm des Space Shuttles "Endeavour" weiterreichen, aber die dreistündige Operation konnte von den Astronauten Susan Helms und Jim Voss nicht ausgeführt werden. In Cape Canaveral versuchte man auf einen zweiten und dann einen dritten Computer umzuschal ten, aber die nötigen Files konnten nicht geöffnet werden - Mission Control war ratlos. Zeitweise fiel die Verbindung zur Station aus, und es war nicht möglich, der ISS-Navigationssteuerung die Kontrolle über das Shuttle zu entwenden. Das war an einem Dienstag. Am Mittwoch schöpfte man Hoffnung, als es immerhin gelang, von der Erde aus das Licht im Labormodul Destiny wieder einzuschalten. Gleichzeitig fiel der Filter aus, der die Luft für die zehn Passagiere vom Kohlendioxyd reinigt. Doch das Problem wurde ein paar Stunden später von der russischen Bodenkontrolle behoben. Die Rückkehr der Endeavour war für Montag vorgesehen - die Nasa mußte die Landung jedoch um zwei Tage verschieben. All dies fand 384 Kilometer über der Erdoberfläche statt - wo die Weltöffentlichkeit von dem Vorgang kaum Notiz nahm, und wenn, dann bestenfalls ein Schulterzucken dafür übrig hatte. Ein Computer, der ausfällt; der Roboterarm, der nicht reagiert; die Verbindung, die abbricht; der Versuch, dem Computer die Kontrolle zu entwinden; die Lüftung, die langsam das Klima vergiftet - das ist genau der Stoff, aus dem noch dreiunddreißig Jahre zuvor die Alb
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träume waren. In Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" vollzog sich das lautlose Drama nach einem ähnlichen Drehbuch: Der Computer HAL 9000 reagierte nicht mehr auf Befehle, übernahm die Kontrolle über alle Funktionen und brachte nach und nach die Besat zung um - bis der einzig verbliebene Astronaut Bowman in das Elekt ronengehirn eindrang, um eine Lobotomie durchzuführen und den Computer schachmatt zu setzen. HAL wehrte sich nach Kräften und flehte um Gnade, als er erkannte, daß es zu Ende geht. Er brachte seine Gefühle ins Spiel, appellierte an Bowmans Mitleid und stimmte das Kinderlied "Daisy" (die deutsche Fassung wählt "Hänschen Klein") an, dessen Echo bis heute durch unsere Köpfe spukt - und vor allem durch die Filme des Jahres 2001. 2001 - das war in mehrerlei Hinsicht die wahre Jahrtausendwende, ein mythisches Datum, das für die Zukunft selbst stand. Mittlerweile ist es von der Gegenwart eingeholt worden und bald schon Vergan genheit. Es ist also an der Zeit, nicht nur zu fragen, ob die Zukunft gehalten hat, was sie 1968 versprochen hat, sondern auch sich an zusehen, von welcher Zukunft die Filme des Jahres geträumt haben und vor allem, welche Rolle die Gegenwart seit dem 11. September dabei spielt. Man hätte gerne Kubrick dazu befragt, aber der ist 1999 verstorben. Dennoch ist es ihm gelungen, von jenseits des Grabes diesem Kinojahr ein Gesicht zu verleihen. Es ist das Gesicht von David, dem kleinen Roboterjungen aus "A.I. Künstliche Intelligenz", einem langjährigen Traumprojekt von Kub rick, das Steven Spielberg nun realisiert hat. Unabhängig davon, ob der Film wirklich so gelungen ist, wie man sich das angesichts dieses Dream-Teams erhofft hat, kann man doch sagen, daß es der einzige war, der wirklich interessante Fragen formuliert hat. Wo "Harry Pot ter" und "Herr der Ringe" mit all ihrem digitalen Brimborium vor al lem die Rückkehr in eine Zeit betreiben, als das Wünschen noch ge holfen hat, da ist Spielberg zwar auch der Wunsch seines Helden nach Menschwerdung Befehl, aber die von Kubrick nach Vorlage von Brian Aldiss' "Super-Toys Last All Summer Long" entworfene Ge schichte läßt doch noch Raum für allerlei Fragen, die vielleicht nicht neu sind, aber an Brisanz nichts verloren haben. Und es ist sicher kein Zufall, daß die zugrunde liegende Kurzgeschichte aus dem Jahr 1969 stammt, als Kubricks Zukunftsvision aus dem Jahr zuvor zum ersten Mal von der Gegenwart eingeholt worden war, indem der Mensch tatsächlich auf dem Mond landete.
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Die Zauberformel der menschlichen Spezies Womöglich war Aldiss durch Kubricks "2001" auf die Idee gekom men, danach zu fragen, wie es eigentlich wäre, wenn Maschinen Ge fühle entwickelten. HALs zerstörerische Energien wandelte er in ihr Gegenteil um und ersann den Roboterjungen, der mit einer bestimm ten Wortfolge auf bedingungslose Liebe programmiert werden kann. Im Film spricht die Ersatzmutter Monica die Zauberformel "Cirrus, Sokrates, Partikel, Dezibel, Hurricane, Delphin, Tulpe, Monica, David, Monica", und fortan ist David durch nichts von der Liebe zu seiner "Mutter" abzubringen. Mit großen Augen folgt er ihr auf Schritt und Tritt und will doch nur, daß sie ihn liebt. Aber was sieht Monica, wenn sie zurückblickt? Und was sehen wir, wenn wir in diese seelenlosen Augen blicken, deren hündisch ergebener Ausdruck auch nur Ergeb nis mimetischer Programmierung ist? Auch wenn wir in Wahrheit den Schauspieler Haley Joel Osment sehen, stellt sich natürlich die Frage, wie lange wir einem Blick standhalten, den wir einem Roboter zu rechnen. Wenn diese Wesen aussehen wie Menschen, reden wie Menschen und handeln wie Menschen - wie lange werden wir ihnen eine Seele absprechen können? Maschinen sehen uns an - und es ist nicht mehr der unbarmherzig kalte Blick des Fischauges von HAL, das so viel mehr sah, als die Astronauten ahnten, sondern es ist ein Ausdruck, den wir in Erman gelung anderer Worte beseelt nennen würden. So tauchte "A.I." just in dem Moment auf, da sich wieder vermehrt die Frage stellt, was der Mensch eigentlich sei. Das Genom ist entschlüsselt, die ersten Klone sind auf den Weg gebracht. Die Zukunft ist greifbarer denn je, und auch wenn Kubricks Visionen ganz anders aussahen und seine Schlußeinstellung vom gigantischen Fötus des Sternenkindes etwas anderes meinte, so ist es doch verblüffend, wie er mit diesem Bild vorausahnte, daß unser Weg in die Zukunft sich an jener Grenze ent scheiden wird, an der derzeit Gen-Labore in aller Welt herumexperi mentieren, an der Frage, ob sich die Menschheit weiterhin natürlich fortpflanzen oder ob sie künstlich reproduzierbar wird. Das Kino geht mit dieser Unterscheidung schon länger schwanger und laboriert immer intensiver an der Frage: Als der kleine David in "A.I." erkennt, daß es für ihn keine individuelle Freiheit geben kann, weil bereits Hunderte identischer Robotermodelle in Produktion ge
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gangen sind, da begeht er wie der Terminator und der Android aus "Blade Runner" vor ihm Selbstmord. Die Maschinen opfern sich, weil sie das Befremden und den Zweifel in unserem Blick nicht ertragen können, weil sie ahnen, daß sie nie begreifen werden, warum uns der Gedanke an mechanische Existenzformen so schreckt. "Träumen Androiden von elektrischen Schafen", hieß die Frage, die 1982 hinter dem "Blade Runner" stand: Die Frage ist eher, wovon wir träumen, wenn wir Androiden begegnen? Natürlich träumen wir davon, Menschen nach unserem Bilde zu schaffen, das Geheimnis des Lebens gelöst zu sehen - und anderer seits stehen uns schon die Haare zu Berge, wenn wir uns vorstellen müssen, ein Wesen ließe sich mit einem Schlüssel wie "Cirrus, Sokra tes, Partikel ..." konditionieren; was ja auch nur eine poetische Fort dichtung jener vier Buchstaben ist, mit denen wir irgendwann alle programmiert werden: A-C-G-T. Wobei Spielberg keinen Zweifel dar an läßt, daß die Menschen der Zukunft zwar auf ihre mechanischen Ebenbilder mit Verachtung reagieren, aber andererseits auch auf die erstbeste Darbietung, die ihr Mitleid erregt, hereinfallen. Zwar wer den die ausrangierten Roboter bei blutrünstigen Spektakeln wie Gla diatoren im alten Rom verheizt, aber als David mit seiner Geschichte die Meute rührt, schlägt die Stimmung schnell um. Das war bei Spielberg schon immer die Erlösung: daß man an die (eigenen und fremden) Geschichten so fest glaubt, daß sie wahr werden. Oder, wie Edgar Allen Poe das formuliert hat: "Jeder Beweis, der sich auf die Fiktion gründet, ist auch auf die Wahrheit anwendbar." Deshalb steht die Science-fiction auch so hoch im Kurs, und das Kino ist dabei die Scheibe, an der sich die Menschen die Nase plattdrü cken, im verzweifelten Versuch zu erkennen, was da kommen mag. Weil aber viele gar nicht so genau wissen wollen, was da auf sie zu kommen könnte, flüchten sie lieber in Märchen, welche die neuen Techniken im alten Gewand präsentieren. Doch gerade diese Techni ken der computergenerierten Bilder richten den Fortschritt nach in nen, auf die Textur der Bilder, auf die Oberflächen, deren zuneh mender Realismus vor allem dazu dient, die Leere dahinter zu über decken. Es gibt neben dem jährlichen Spektakel der Oscars immer auch eine ganze Reihe von Auszeichnungen für filmtechnische Neuerungen, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit verliehen werden; ein Großteil
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davon geht an Leute, die Software entworfen haben, welche Haare, Fell oder Gras - und am Ende irgendwann den künstlichen Menschen - realistischer aussehen lassen. Noch muß man sich mit Werken wie "Final Fantasy" begnügen, die vollständig im Computer entstanden sind, deren Helden sich auf Dauer aber nicht mit Trickfiguren, son dern mit echten Schauspielern messen wollen. Und natürlich ist klar, daß die Spielkonsolen irgendwann dem Kino ernsthaft Konkurrenz machen werden. Weil darin Schritt um Schritt der Traum vom inter aktiven Film verwirklicht wird, in dem der Zuschauer ins Geschehen eingreifen kann. Je größer die Arbeitsspeicher, je schneller die Pro zessoren, desto realistischer werden diese Spiele. Vielleicht ist das Kino der Zukunft eine Playstation. Fürs erste begnügt es sich damit, die Spielewelten zu kolonialisieren, indem es sie wie Literatur verfilmt. Wie hilflos das Kino auf die Her ausforderung reagiert, erkennt man an einer Figur wie Lara Croft, die noch ganz altmodisch von der Schauspielerin Angelina Jolie verkör pert wurde. Es gehört nicht viel dazu, sich vorzustellen, daß die Spie lewelten sich irgendwann das Kino einfach einverleiben werden: erst als Stoffelieferant, dann nur noch als PR-Maßnahme für die Lancie rung neuer Spiele. Schon jetzt sehen von "Star Wars" bis "Harry Pot ter" die meisten kostspieligeren Filme nur noch wie Trailer fürs gleichnamige Computerspiel aus. Eigentlich ein Wunder, daß es "2001" noch nicht für den PC gibt - das wäre mal ein wirklich origi nelles Konzept: Löse das Rätsel des Monolithen! Was Kubrick durchaus richtig vorhergesagt hat, war der Gleichmut, mit dem die Menschheit sich im Fortschritt einrichtet. Oder hat ir gendwer noch zur Kenntnis genommen, daß am vorvergangenen Montag das Space Shuttle "Endeavour" von einer zwölftägigen Missi on zurückgekommen ist? Was Kubrick nicht vorhersah, war der Bankrott der Fluglinie PanAm, die in "2001" zum Mond shuttelt - und was er überhaupt nicht auf der Rechnung hatte, war die Tatsache, daß die größten Fortschritte in der Miniaturisierung liegen würden. Auf dem Mond stehen bei ihm noch riesige unhandliche Fernsehka meras herum, während heutzutage jeder Amateurfilmer eine Kamera im Pocketformat besitzt. Das wäre für Kubrick damals womöglich die größte Überraschung gewesen, wenn man ihm gesagt hätte, daß der Fortschritt nicht in der Expansion liegt.
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Heute sind Farbaufnahmen vom Mond eine Kleinigkeit Reisen auf den Mond würden heute niemanden mehr vor den Fern seher locken, und warum sollte man sich wie Kubrick für den Jupiter interessieren, wenn schon der Mars nicht allzuviel Zukunft ver spricht? Nur die Nasa hat begriffen, daß ihre science nicht viel wert ist, wenn sie nicht wie fiction inszeniert wird. Darum wurden zuletzt Regisseure wie James Cameron, Brian De Palma und John Carpenter bei ihren Projekten tatkräftig unterstützt, und bei dem Komponisten Vangelis wurde sogar eine Musik in Auftrag gegeben, welche die Voyager-Missionen entsprechend musikalisch untermalt. Und das alles nur, um für den Mars mobil zu machen, der womöglich einen großen Sprung für die Nasa bedeutet, aber für die Menschheit allen falls einen kleinen Schritt. Die neuen Grenzen liegen nicht im Kosmos, sondern im Mikrokos mos. Was jenseits des Jupiters liegt, haben wir im Kino schon gese hen, aber aus der Welt der Gene, Chips und Nano-Roboter gibt es noch kaum Bilder. Die wahren Zeitreisen in die Zukunft gehen nach innen, und für diese "incredibly shrinking future" fand sich noch kein Regisseur, der sie für uns illustriert. Das Kino blickt immer wieder verzückt in den Sternenhimmel, aber in die Untiefen der Schaltkreise und Basenpaare ist noch keine Kamera vorgedrungen. Womöglich muß die Digitaltechnik erst Pixel für Pixel die Wirklichkeit erforscht und nachgebildet haben, ehe sie überhaupt wieder daran denken kann, was jenseits der Pixel liegen könnte. Und vielleicht wird sie dort eine Schönheit entdecken, vor der das Funkeln der Sterne verblaßt. Bis es so weit ist, scheint das einzige Genre, das geeignet ist, die mikroskopischen Bedrohungen abzubilden, der Horrorfilm zu sein. Als die Welt vor dem Milzbrand erzitterte, war allen Filmfans klar, daß sich dieser Horror nur in Filmen abbilden läßt, die ihren Schrecken aus dem Unsichtbaren beziehen. Das Epidemische stand in den fünf ziger Jahren hoch im Kurs, als der Kommunismus und die Atombom be die Welt bedrohten, und es tauchte in den siebziger Jahren wieder auf, als auch das Kino plötzlich sein Umweltbewußtsein entdeckte. Man könnte darauf wetten, daß in naher Zukunft eine Epidemie der Horrorfilme auf uns zukommen wird.
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Natürlich ist das nur eine spezielle Abart des Katastrophenfilms, der zwar nach dem 11. September gehörig in Verruf geraten war, aber schon nach kürzester Zeit wieder sein schreckliches Haupt erhob. Gewalt sei nun endgültig out, hieß es, aber schon vor Jahresende stehen in den Vereinigten Staaten Filme, die es ordentlich krachen lassen, wieder hoch im Kurs. "Irony is over", tönte es von allen Sei ten, dafür wird es nun blutig ernst. Da mag jeder selbst entscheiden, was ihm lieber ist. 2001 war mal eine Chiffre für die Zukunft - sie wurde von der Ge genwart eingeholt. Aber das war keine Fiktion des Kinos, sondern ein trauriges Faktum der Wirklichkeit. Zwei Flugzeuge rasten in die Tür me des World Trade Center - und vor diesen medusenhaften Auf nahmen erstarrten alle Kinobilder. Die Welt versuchte verzweifelt, darin eine Inszenierung zu sehen - und blickte in einen Abgrund, der einen schwindeln machte. Es war allen klar, daß das Kino vor dieser Übermacht der Realität würde kapitulieren müssen. Sämtliche Unter gangsphantasien schienen plötzlich anstößig, und ganz Hollywood gelobte Besserung. Aber was passierte? Als vorletzte Woche das Vi deo von Bin Ladin und dem Jubelscheich auftauchte, wurde es von vielen instinktiv für eine Fälschung gehalten. Dieser Zweifel an den Bildern - an den echten wie an den erträumten - ist etwas, was sich Stanley Kubrick niemals hätte träumen lassen. Der Android in "Blade Runner" hatte es geahnt: "Ich habe Dinge gesehen, die ihr nicht glauben würdet. Aber all diese Momente werden sich in der Zeit ver lieren - wie Tränen im Regen." Schöner kann man nicht sagen, was die Zukunft von "2001" und die Gegenwart des Jahres 2001 wirklich wert sind. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.2001, Nr. 302 / Seite I
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Androiden aus der Puppenkiste Reaktion eines AI-Forschers auf Spielbergs Film "A.I." Von Ben Goertzel Als ich hörte, daß Steven Spielberg einen Spielfilm über künstliche Intelligenz gedreht hat, kamen mir die großen AI-Filme der Vergan genheit, Kubricks "2001" und Ridley Scotts "Blade Runner", in den Sinn. Beide Filme verbreiten eine Düsternis, die Spielbergs Weltsicht fremd ist. Als AI-Forscher war ich neugierig, welche neuen Aspekte seine warme, freundliche Sicht dem Bereich der künstlichen Intelli genz hinzufügen mochte. Warum sollte man die bislang so kalten Wesen nicht auch warm und kuschelig zeichnen können? Leider wurden meine Erwartungen enttäuscht. Der Film kann sich nie recht entscheiden, ob er Science-fiction oder Märchen sein will. Ei nerseits wird die künstliche Intelligenz als selbstverständliche tech nologische Errungenschaft dargestellt, andererseits aber auch immer wieder als ein fabelhaftes Unterfangen nach Art der Geburt des Pi nocchio. Diese Unentschlossenheit fängt zwar durchaus etwas vom Wunder der künstlichen Intelligenz ein. Die Idee einer Maschine, die denken und fühlen kann, hat tatsächlich etwas von Magie. Arthur C. Clarke hat einmal gesagt: "Jede einigermaßen fortschrittliche Tech nologie läßt sich nicht von Magie unterscheiden." Dennoch wirkt die Behandlung der Zukunftstechnologien über weite Strecken plump und konstruiert. Die Geschichte spielt in einer Zukunft, in der es bereits mehr androi de Roboter als Menschen gibt; diese Automaten erledigen allerlei Aufgaben von der Hausarbeit bis hin zur Prostitution. Dann findet ein wissenschaftlicher Außenseiter heraus, wie man solche Automaten mit Gefühlen ausstatten kann. Er baut einen Prototyp namens David, einen achtjährigen Jungen, den ersten fühlenden Roboter der Welt. Für den AI-Wissenschaftler offenbart sich hier ein beträchtlicher Mangel an Realismus. Ich glaube nicht, daß man Computerprogram me mit so weitreichenden Sprach-, Handlungs- und Wahrnehmungs fähigkeiten wie in diesem Film ausstatten kann, ohne ihnen auch gewisse emotionale Fähigkeiten zu geben. Beim Menschen sind Füh len, Denken und Handeln eng miteinander verwoben, und alles spricht dafür, daß es bei der künstlichen Intelligenz ähnlich sein wird.
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Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu anderen wissenschaftli chen Absurditäten und ästhetischen Ungereimtheiten, zu denen der Film sich hinreißen läßt. David geht mit einem der Wissenschaftler nach Hause, und schon beginnen die Schwierigkeiten. Er versucht, den echten Sohn der Familie nachzuahmen, indem er ißt, und dabei ruiniert er sein digitales Innenleben. Wenn ein Roboteringenieur ei nen Androiden baute, dessen Inneres keine Speisen vertrüge, würde er den nutzlosen Durchgang vom Mund ins Körperinnere natürlich verschließen. Etwas später fürchtet David sich vor Nachbarsjungen, die ihn mit einem Messer bedrohen; er faßt hilfesuchend seinen "Bruder", fällt mit ihm zusammen ins Schwimmbecken und hält sich an ihm fest, bis der fast ertrinkt. War es trotz der ausgeklügelten Konstruktion seines nahezu perfekten Körpers denn nicht möglich, ihm das Wissen einzuprogrammieren, daß Menschen sterben, wenn sie zu lange unter Wasser bleiben? Doch auch das sind nur Kleinigkeiten. Weitaus ärgerlicher sind die konzeptionellen Mängel des Plots. Er dreht sich ganz um den Gedan ken, daß David nach der Prägung durch seine Mutter nicht mehr um programmiert werden kann; er kann nur noch zerstört werden, falls die Entwicklung einen unerwünschten Verlauf nimmt. Aber natürlich würde niemand beim Prototyp einer neuen Maschine etwas so Ver rücktes tun. Auch hier wird das Hightech-Thema ungeschickt in eine Märchenwelt eingehüllt. Nachdem David seinen Bruder beinahe ertränkt hätte, droht ihm die Zerstörung. Doch seine Mutter setzt ihn nur im Wald aus, da sie in David ein fühlendes, menschliches Wesen erkennt. Für die anderen Familienmitglieder ist er dagegen in erster Linie eine Maschine. Das ist ein Dilemma, vor dem wir in Zukunft stehen werden - wahr scheinlich schon lange bevor künstliche Intelligenz mit einem so täu schend menschenähnlichen Körper ausgestattet sein wird wie David. Manche Menschen werden AI-Programme als bewußte Wesen emp finden, andere dagegen nicht. Frei und auf sich selbst gestellt, trifft David auf einige abtrünnige Automaten. Das ist der interessanteste Teil des Films: das Leben freier, wilder Roboter auf der Flucht vor Kopfgeldjägern. Obwohl ich stark bezweifle, daß es eine mit dem Menschen vergleichbare, aber nicht mit Gefühlen ausgestattete Intelligenz jemals geben wird, dürf ten diese künstlichen Intelligenzen dennoch nicht so stark von Ge
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fühlen beherrscht sein wie der Mensch. Und dieser Aspekt der künst lichen Intelligenz wirft schon heute einiges Licht auf unsere Stellung als Menschen. Es ist interessant, sich vorzustellen, wie wir leben würden, wenn wir keine Gefühle, sondern nur Instinkt und Verstand hätten. Wenn wir einen Automaten auf der Flucht sehen, drängt sich der Gedanke auf, daß es ihm nicht wirklich ums Überleben geht; er läuft weg, weil er so programmiert worden ist. Aber in gewisser Wei se tun wir doch alle, wozu wir programmiert worden sind. Wir kön nen zwar durch Erfahrung neue Programmierungen erwerben, aber der Instinkt, vor Angreifern davonzulaufen, ist uns letztlich ebenso tief und fest einprogrammiert wie diesen Robotern. In diesen Mo menten regt der Film tatsächlich zum Nachdenken an. Als David zusammen mit anderen abtrünnigen Automaten eingefangen wird und im Rahmen einer Roboterzerstörungsshow seinem Ende ent gegensieht, nimmt er sein Schicksal nicht ungerührt hin wie die übrigen Roboter, sondern beginnt zu weinen. Fragen einer zukünftigen Ethik scheinen hier auf. Dürfen wir intelligente Lebewesen töten, nur weil sie keine Menschen sind? Dürfen wir intelligente Wesen töten, weil sie kei ne Gefühle haben? Woher sollen wir wissen, ob solch ein Wesen wirklich keine Gefühle hat oder ob wir seine Gefühle nur nicht verstehen? Die zur Hälfte unter Wasser stehenden Wolkenkratzer eines von Treibhauseffekt überschwemmten Manhattan bieten einen eindrucks vollen Anblick, und die besten Szenen des Films finden sich hier etwa, wenn David ein Zimmer betritt und auf einen anderen David trifft, einen Androiden derselben Baureihe. In einer Szene, die der "Odyssee im Weltraum" würdig ist, tötet David seinen Klon. Dann stürzt er sich von dem Gebäude ins Meer und, wie es scheint, in den Tod. Bravo, sage ich - nicht weil ich etwas gegen David hätte, son dern weil dieses tragische Ende emotional und intellektuell einen Sinn ergibt. Offensichtlich hätte der Film in diesem Augenblick von existentieller Tiefe enden sollen. Hier verbinden sich philosophische Fragen mit dramatischer Handlung wie in den besten Science-fictionFilmen. Man identifiziert sich mit dem jungen Roboter stärker in sei nem Tod als in irgendeiner Episode seines Lebens. Er ist nicht als Mensch geboren worden; diese Tatsache entzieht sich seiner Kontrol le; aber er kann dafür sorgen, daß er als Mensch stirbt. Aber unsinnigerweise endet der Film hier gar nicht. Und an diesem Punkt wird überdeutlich, daß es sich um einen Film von Spielberg
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handelt, der kaum etwas mit Kubricks Vision zu tun hat. Statt das Ende offen zu lassen, als der junge Roboter sich in einem Anfall digi taler Existenzangst ins Meer stürzt, führt Spielberg uns zurück ins Märchenland. Die Einzelheiten seines Schlusses spielen keine Rolle; entscheidend ist, daß er keinen Sinn ergibt und nichts mit dem vo rausgegangenen Film zu tun hat. Traurig daran ist, daß da irgendwo in diesem mißlungenen Werk ein großer Film steckt. Ben Goertzel ist Kognitionsforscher. Er gründete und leitet das Internet-Unternehmen Intelligenesis. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2001, Nr. 213 / Seite 59
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Menschlichkeit siegt Was die Biopolitik vom Kino lernen könnte "Es gab eine Zeit, in der man sagte, daß Menschen, die aus Liebe gezeugt wurden, eine größere Chance auf ein glückliches Leben ha ben. Heute sagt das niemand mehr." Außer Vincent Freeman, der es wissen muß, denn er wurde aus Liebe gezeugt - in einem Auto sogar, das ist zusätzlich romantisch - und nicht im Labor. Aber mit der Zeu gung ist die Liebe seiner Eltern auch schon aufgebraucht; die Geburt dämpft alle Erwartungen: "Augenschwäche, Depression, Herzversa gen, Lebenserwartung bei 32,2 Jahren", lautet die Prognose. Damit kommt niemand gern auf die Welt. Vincents Eltern lassen sich den zweiten Sohn denn auch nach dem Genkatalog anfertigen: groß, stark und vor allem gesund, mit blauen Augen und dunklen Haaren. Wer aber den Traum seines Lebens verwirklicht, das ist Vincent, der mißratene Erstgeborene, während der maßgeschneiderte Bruder die Polizistenlaufbahn einschlägt. Andrew Niccols Film "Gattaca", der diese Geschichte erzählt, setzt plausibel auf die Sympathie, die der Kinozuschauer dem unvollkom menen Menschen entgegenbringt, der trotz oder eben gerade wegen eines Handicaps etwas aus seinem Leben macht. Der Realitätsbezug dieses Films, der vor drei Jahren in die deutschen Kinos kam, nach dem er aus den amerikanischen beinahe sang- und klanglos wieder verschwunden war, ist jetzt so zwingend, daß wir ihn als schlüssige Parabel auf die Biopolitik sehen können. Was vor wenigen Jahren eine Gedankenspielerei schien, hat sich zu einer dringlichen Frage verdichtet: Dürfen und wollen wir den Menschen perfektionieren? Über das Dürfen wird gestritten, über das Wollen kaum. Subtil entlarvt "Gattaca" das neuerdings stark aufgekommene Gere de vom lebenswerten Leben als eine Chimäre, die binnen kurzem zum Kampfbegriff der Biopolitiker wurde und den Eindruck erweckt, der Mensch wäre ein Wesen, das sich nur aus den Buchstaben A, C, G, T zusammensetzt. Unter dem Etikett der Lebenswissenschaften wird eine Reduktion aufs rein Biologische, Körperliche betrieben - ein Vorgang, den man ironisch nennen könnte, wenn er nicht so beängs tigend wäre. Es ist die Heraufkunft eines sehr speziellen Materialis mus, die uns droht.
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Doch es gehört mehr zum Leben als Gesundheit und die richtige ge netische Ausstattung - Dinge wie Inspiration, Ideenreichtum, Enga gement und Wille, die in der Bio-Debatte freilich keine Rolle spielen, weil sie sich dem Zugriff der Präimplantationsdiagnostik (PID) und der Embryonenforschung entziehen. Niccols Film ruft sie wieder in Erinnerung. Auch wenn wir nicht wissen, ob jenes glückliche Leben, von dem Vincent Freeman spricht, wirklich Resultat einer Zeugung aus Liebe ist: Die spirituelle Dimension, die "Gattaca" bloßlegt, macht diesen fortschrittlichen Film zu einem Werk mit einer altmodi schen Botschaft, die auch ein Heinz-Rühmann-Film hätte verbreiten können: Menschlichkeit siegt - ein für das Genre keineswegs parado xer Befund: Seit je arbeitet der Science-fiction-Film mit dem Besteck aus Glaube, Liebe, Hoffnung. Jenseits des Ethikrats Eine Kunstgattung hat es naturgemäß leichter, Antworten zu finden, denn diese verpflichten zu nichts. Der Unterschied zwischen Kunst und Leben verleiht Lizenzen, deren wir uns in der Realität nicht ohne weiteres bedienen können. "Was im Leben uns verdrießt, man im Bilde gern genießt", sagte Goethe, der seinen Homunculus als huma nes Experiment betrachtete, ohne ihn gleich zur Nachahmung zu empfehlen. Ein humanes Experiment ist die Biotechnologie auch befremdlich ist nur, daß so wenig danach gefragt wird, ob wir auf deren Errungenschaften, unabhängig von ihrer Machbar- und Ver tretbarkeit, auch mental vorbereitet sind, ob wir sie, unkantisch ge sprochen, auch wollen können. Dieser Frage hat sich das Kino der neunziger Jahre intensiv gewid met, mit zumindest ästhetisch schlüssigen Ergebnissen. Wenn man sich Filme wie "Terminator II" von James Cameron, "Species" von Roger Donaldson oder eben Niccols' "Gattaca" heute wieder ansieht, kann man vielleicht etwas lernen, was man in Ethikräten nicht zu hören bekommt. Während Arnold Schwarzenegger in "Terminator II" den künstlichen, annähernd perfekten Menschen als reizvolle Alter native gab, malte Natasha Henstridge in "Species" die Schrecken einer genmanipulierten Existenz an die Wand. Als weithin sichtbare Gegenfigur stand "Forrest Gump" von Robert L. Zemeckis da: Tom Hanks spielte in der Titelrolle einen unterbelichteten jungen Mann mit einer abenteuerlichen Biographie. Er macht mit Einfühlung, Witz und Willenskraft wett, was ihm an Intelligenz fehlt. Daß Forrest
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Gump zu einem der beliebtesten Filmhelden des Jahrzehnts wurde, sagt vielleicht mehr aus über das Menschenbild derer, die zufällig nicht in irgendwelchen Ethikräten sitzen, als manche Umfrage zur Gentechnik. Daß es die Sympathie fürs Unvollkommene auch außerhalb des Kino saals gibt, darf man annehmen. Sie äußert sich beinahe täglich: Die Leute fiebern nicht mit dem perfekten Sportler, sondern mit dem vermeintlich unterlegenen Außenseiter; und sie fasziniert nicht (nur) der Musiker, der die perfekten Anlagen mitbringt, sondern (auch) der, der seine Kunst seinen begrenzten Möglichkeiten abtrotzt. Das Perfekte dagegen erregt Mißtrauen oder Abneigung, zumal wenn es auf unnatürliche Weise zustande kommt wie im Sport: Mit nichts kann man sich hier so unbeliebt machen wie mit Doping. Die Genbehandlung ist Doping in größtem Stil; sie verheißt Chancen gleichheit - ein altes sozialdemokratisches Ideal -, betreibt in Wirk lichkeit aber Selektion. Denn um nichts anderes handelt es sich, wenn Chancengleichheit nicht mehr nur gesellschaftlich intendiert ist, sondern auch biologisch. Wer aber will sagen, daß nur das Leben des Unversehrten ein glückliches ist? Die Sympathie mit den Benachteiligten also: Was banal klingt, ist ein Indiz für ein doch wohl ziemlich weit verbreitetes Solidaritätsprinzip, einen gesellschaftlichen Konsens, in der Sprache des Bundeskanz lers. Dieses Solidaritätsprinzip braucht auf diskursive Weise nicht erschlossen zu werden; es funktioniert emotional. Emotionen aber soll es nicht geben in dieser Debatte, das hat Gerhard Schröder schon gesagt; er wünscht sich Sachlichkeit. Ob aber nicht seine Nut zenabwägung als Zeugnis kalter Vernunft viel eher irrational ist als die Einwände jener, die auf Bescheidenheit und Demut verweisen, das ist noch die Frage. Menschlich geboten und damit wahrhaft sach lich wäre es doch eher, über das sogenannte lebenswerte Leben in einer Weise zu diskutieren, die über rationale Erwägungen hinaus geht. Die einzige Instanz, die sich das noch traut, ist die Kirche, de ren Beiträge denn auch als Sondermoral diffamiert werden. Die Socken auspacken Inzwischen ist ein Klima entstanden, in dem die herkömmliche Men schenzeugung als Risikofaktor gilt. Wer Bedenken gegen die PID und
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anderes äußert, gerät sofort in den Verdacht, daß ihm das Schicksal der Schwerkranken und -behinderten, die plötzlich die Mehrheit un serer Bevölkerung zu stellen scheinen, gleichgültig ist - als ob es darum ginge, das Gegenteil extra zu betonen. Die Kranken und Be hinderten selbst aber kommen kaum zu Wort, obwohl ihr Schicksal jetzt dauernd im Gespräch ist; es sind ihre gesunden Anwälte, die für sie und über ihren Kopf hinweg sprechen. Der Verbesserungs- und Vervollkommnungswahn breitet sich mit einer Dynamik aus, gegen die das Beharren auf Menschenwürde we nig wird ausrichten können. Er läßt kaum Platz für vernünftige Besin nung. Und es ist denkbar, daß so, wie der Schönheits- und Schlank heitsterror viele Menschen unglücklich macht, es dereinst auch bei einer genetischen Optimierung kommen könnte: Die Menschen wer den immer unzufriedener. "Wollen wir, daß sich die Welt so verändert, daß künftig nur noch jung, schön und dynamisch gilt?" fragte der PDS-Abgeordnete Ilja Seifert kürzlich in der großen Bundestagsdebatte. Der Hinweis, daß er behindert ist, fehlte in keiner Meldung, als spielte das für die Be urteilung seiner Ansichten eine Rolle. Es ist erstaunlich, daß die Häu figkeit, mit der in letzter Zeit Krankheiten und Behinderungen vieler Mitbürger beim Namen genannt werden, unbeanstandet bleibt in ei ner Gesellschaft, die ansonsten jeden Anschein von Diskriminierung vermeiden will. Die Diskretion, die doch sonst so gefragt ist, glaubt keiner mehr üben zu müssen. Man kann es sich eher leisten, über das Schicksal eines Kranken oder Behinderten öffentlich zu schwad ronieren - auch wenn man es aus eigener Erfahrung gar nicht kennt -, als in einer Rede nur die "lieben Mitbürger" zu begrüßen. Unter welch verschärfter Beobachtung Kranke und Behinderte stehen, war kürzlich in einer Radiosendung des SWR zu hören. Es war ein Mann zugeschaltet, der trotz seiner Glasknochenkrankheit beruflich erfolgreich ist. Der fröhliche Moderator, der die Präimplantationsdiagnostik nicht von der Pränataldiagnostik unterscheiden konnte, sagte, unter Bedin gungen der PID wäre dieser Mann gar nicht erst auf die Welt gekom men, und fragte ihn dann, ob er denn finde, daß sein Leben lebenswert sei. Daß es so weit gekommen ist, verdanken wir jenen, die in der Bio ethik über freizügige Anschauungen verfügen und so tun, als wären Krankheit und Behinderung etwas, das abgeschafft gehört - die Men schen sollen nicht mehr behindert sein und die Medizin auch nicht.
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"... wenn es kalt wird in Deutschland": Mit diesem Wahlplakat kon terte die PDS bei der vorvergangenen Bundestagswahl die dümmli che Rote-Socken-Kampagne der CDU. Vielleicht sollte jemand die Socken wieder auspacken. Es könnten ja auch grüne oder schwarze sein. EDO REENTS Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.2001, Nr. 133 / Seite 49
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Wie reproduziert man das Schicksal? Ernst ist das Leben, ernst auch die Kunst:
Andrej Tarkowskis "Solaris" ist ein Beitrag zur Klon-Debatte
Wenn die russische Raumstation "Mir" in wenigen Wochen über dem Pazifik abstürzen wird, dann wird mit ihr auch die Videosammlung der Kosmonauten vernichtet. Unter den von den früheren Besatzungen be sonders bevorzugten Filmen befinden sich zwei Klassiker des Sciencefiction-Genres, deren Ästhetik manche Anleihe beim russischen Raum fahrtprogramm gemacht hat. Der eine ist schon seines Titels wegen derzeit in aller Munde: Stanley Kubrick hat mit "2001 - Odyssee im Weltraum" einen Film gedreht, auf den sich die Protagonisten der De batte um die Nanotechnologie immer wieder gern berufen, weil mit der Rolle von HAL, dem denkenden Computer, bereits vor vierunddreißig Jahren zahlreiche Fragen aufgeworfen wurden, die im Licht der techni schen Entwicklung heute von großer Bedeutung sind. Morgen startet in den deutschen Kinos die restaurierte Fassung des Films. Das zweite Werk wird immer gern neben "2001" genannt, wenn es um die philosophische Erörterung der Expansion ins All geht: "Solaris" von Andrej Tarkowski, gedreht 1972. Dieser Film paßt perfekt ins Videopro gramm der "Mir", denn sein Thema ist vordergründig die Liquidierung einer Raumstation. Die Besatzungen werden ihren Spaß gehabt haben mit den anachronistischen Bildern von "Solaris", dessen Szenenbild sich einerseits an den damaligen Planungen für die "Mir" orientierte, ande rerseits aber seine Protagonisten auf der Raumstation durch Gänge wandeln läßt, die derart vollgestopft mit technischen Anlagen sind, daß man die sonst so überladen-antiquiert wirkende Ausstattung der echten "Mir" im Vergleich beinahe als Bauhaus im All empfinden kann. Und was den Architekten der realen Stationen nie gelang, ist bei "Solaris" ästhe tisches Programm: die Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich. Die Schlafzimmer der Astronauten im Film sind modern ausgestattet, die Bibliothek dagegen gibt sich rustikal und traditionell bis zur Reprodukti on von Bruegels Gemälde "Jäger im Schnee". Das Thema der Reproduktion strukturiert "Solaris". Die Entwurfs zeichnungen, die Mikhail Romadin für den Film anfertigte, lassen an Traumprotokolle denken und somit an Reproduktionen einer unwirk lichen Erfahrung: Romadins Räume sind vollgestopft mit Accessoires,
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die Farben monochrom gehalten, die Figuren statisch eingefügt, als gehörten sie gar nicht in diese Szenerie. Das nimmt die Konstellation vorweg, in der sich die Menschen des Films wiederfinden: Sie geraten in eine vertraute Umgebung, die man sich gleichwohl nicht zu eigen machen kann. Das beginnt bereits in der Rahmenhandlung, die den Astronauten Kris Kelvin beim Besuch in des sen Vaterhaus zeigt. Tarkowskis Film erweitert hier die Vorlage von Stanislaw Lem und umkreist die eigentliche Handlung des Romans mit der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn. Es ist eine der vielen Kreisbewegungen, die "Solaris" strukturieren - bis in das Thema der Reproduktion hinein, das immer wieder neue Zyklen in Gang bringt. So umkreist auch die Station den Planeten Solaris, einen Himmels körper, auf dessen Oberfläche eine Ursuppe brodelt, die den Raum fahrern deren Erinnerungen vor Augen führt. Hatte "2001" die menschliche Expansionslust zum Thema, so widmet sich "Solaris" unserem Drang zur Introspektion: In den unendlichen Weiten des Alls werden die Astronauten mit den eigenen Ängsten und Schuldge fühlen konfrontiert, die sie auf der Erde zurückgelassen wähnten. Die brodelnde Flüssigkeit auf Solaris kocht etwas aus; auch sie reprodu ziert, statt Unerwartetes zu schaffen. Im Orbit über dem Planeten zählt die traditionelle Trias der Weltraumerkundung - neue Welten, neues Leben und neue Zivilisation - nichts. Hier kreisen die Men schen nur um sich. Und werden sich fremd. Alles andere ist schon fremd. Wie reagiert man etwa auf die Doppel gänger längst verstorbener Menschen? Tarkowskis Film stellt Überle gungen an, die das Zeitalter des Klonens betreffen, und ganz wie die derzeitige Debatte vermag auch er keine Antwort zu liefern. Doch etwas leistet er allemal, und das ist schon viel: Er zeigt die Verstö rung, die angesichts der Wiederkehr von Leben droht. Wenn der frisch auf der Station eingetroffene Kelvin plötzlich seiner Frau Hira begegnet, die sich vor Jahren seinetwegen umgebracht hat, dann ist seine erste Reaktion panisches Erschrecken und Ablehnung: Er flieht, lockt dann die Erscheinung in eine Falle und tötet sie. Damit aber reproduziert er nur wieder die unglückliche Geschichte seiner Ehe. Doch die Erscheinung ist immer noch da. Bei der zweiten Wiederkehr Hiras läßt sich Kelvin auf sie ein. Doch auch die Akzeptanz der Kopie ändert nichts an deren Schicksal: Diesmal ist es Hira selbst, die sich
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abermals den Tod gibt. Der Bestimmung kann die Wunschmaschine Solaris nichts entgegensetzen; die Menschheit ist nicht in der Kontin genz gefangen, sondern im Teufelskreis: Alles Leben ist individuell, und eine konsequente Klonierung müßte auch dieses individuelle Ge schick reproduzieren. "Solaris" denkt damit zu Ende, was sich jene Befürworter des Klo nens nicht recht klarmachen wollen, die das Leid derjenigen, die ei nen geliebten Menschen verloren haben, als Argument für die prinzi pielle Zulässigkeit des Verfahrens ins Spiel bringen. Erhofft wird von den Hinterbliebenen eine Reproduktion des Verstorbenen, doch na türlich wird niemand abstreiten, daß die äußeren Umstände - die spätere Geburt, das veränderte Umfeld, vor allem die massiv unter schiedlichen Erwartungen an das geklonte Wesen - für den Klon ganz andere sind, so daß sich ein vollkommen eigenständiger Mensch entwickeln wird, der außer dem Genom nichts mit seinem "Vorbild" gemein hat - keine Erfahrung und kein Wissen. Wäre es anders, müßte die Geschichte immer wieder identisch ablaufen; der Zweck des Klonens wäre ad absurdum geführt. So beschreibt es "Solaris". Der französische Philosoph Paul Virilio hat in Tarkowskis Film ein Zö gern, einen Zweifel ausgemacht, den er als krassen Gegenentwurf zum Optimismus von Kubricks "2001" liest. Mit dem "Planetenschä del", wie Virilio den Himmelskörper Solaris nennt, erschuf der Regis seur ein Vorbild der Kybernetik, das sich eine Welt virtuell erzeugt und als dessen Bestandteil die Menschen im Orbit nicht mehr sind als Neuronen, die ihr winziges Teil zu den Denkoperationen des gewalti gen Gehirns beitragen. Es ist eine andere Überwältigung als die durch HAL bei Kubrick: Tarkowski läßt den Menschen vor der Natur verzweifeln, die er nicht nach seinem Wunsche formen kann, sondern die nun seine Wünsche formt. Damit steht "Solaris" uns näher als "2001". Klonierung und Genma nipulation sind im Gegensatz zur Robotik als Bedrohung der mensch lichen Individualität bereits präsent. Mit Tarkowskis Film gibt es ei nen Schlüssel zum Thema, der bislang seltsamerweise weitgehend unberücksichtigt blieb. ANDREAS PLATTHAUS Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.2001, Nr. 44 / Seite 57
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"I'm sorry, Dave, I'm afraid I can't do that!" Wann nehmen wir Kontakt auf?
Auch Stanley Kubricks Meisterwerk "2001: A Space Odyssey"
sah zuviel Mensch in der Maschine
Von Stephan Vladimir Bugaj
Es gehört zu den bemerkenswerten Rätseln der Menschheit, daß sich ihre Wunschträume seit je auf die Erschaffung eines Doppelgängers richten. Indem der Mensch mit der Herstellung künstlicher Intelligenz den beseelenden Schöpfergott beerben würde, relativierte er doch zugleich mit der Singularität des Geistes die letzte verbliebene Basti on seiner Sonderstellung im Kosmos. Stanley Kubricks Film "2001: Odyssee im Weltraum" kam 1968, im Jahr vor der Mondlandung, in die Kinos und kombinierte einen bis heute unerreichten Realismus in der Darstellung des Lebens im All mit einer mystischen Spekulation über den Fortgang der menschlichen Evolution nach dem Aufbruch aus ihrer irdischen Hülle. Er stellte auf neue Weise die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und einer Technik, die sich nicht mehr auf eine Rolle eines dienenden Werkzeug reduzieren läßt: Der eman zipierte Computer "HAL" begegnet den Astronauten wie dem Zu schauer buchstäblich auf Augenhöhe. Stephan Vladimir Bugaj, Software-Architekt bei der Firma IntelliGenesis und einer der Vordenker auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, liest Kubricks Film als Standortbestimmung der Menschheit auf dem Weg in eine posthu mane Zukunft. Nicht nur habe Kubrick seine Visionen auf die inneren Leinwände der Erfinderseele geworfen und damit den System Buil ders von heute allererst jene Möglichkeitsräume eröffnet, die nun technisch abgeschritten werden. Er habe bereits jene grundsätzlichen ethischen Fragen diskutiert, die uns die Technik, vielleicht demnächst im persönlichen Gespräch, stellt. Schon bald wird die Maschine nicht mehr nur unsere Träume bevölkern. Arthur C. Clarkes und Stanley Kubricks Film "2001: A Space Odyssey" ist eines der einflußreichsten Gedankenspiele des zwanzigsten Jahr hunderts. Im Pantheon des Science-fiction-Films gibt es nur noch eini ge wenige andere Filme - darunter Tarkowskis "Solaris" und Ridley Scotts "Blade Runner" -, die eine ähnliche intellektuelle Herausforde rung wie "2001" darstellen. Dieser Film hat in vieler Hinsicht das von
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Clarke gesteckte Ziel erreicht: "Wir hatten uns fest vorgenommen, einen Mythos zu erschaffen." Nun ist das Jahr 2001 da, und man stellt gerade eine überarbeitete Version des Meisterwerks von Kubrick und Clarke her, die der Welt wieder zu denken geben wird. Einige Kritiker werden bei dieser Gelegenheit sicherlich anmerken, daß der Film heute altertümlich wirkt und seine Vorhersagen über Computer und die Technologie der Raumfahrt längst von der Wirk lichkeit überholt worden sind. Andere werden ihren Lieblingsfilm ver teidigen und konstatieren, daß Clarke und Kubrick den Zeitgeist auf geniale Weise eingefangen und der Technokratie das Flair einer phi losophischen und religiösen Doktrin verliehen haben. Doch was im mer man auch von "2001" halten mag - er hat die Welt geprägt, in der wir heute leben. Als ich meine erste richtige Anstellung in der Computerbranche hat te, gab ich dem Server unseres internen Netzwerks - einer der ersten dieser Art - den Namen des berühmten Roboters aus "2001": "HAL 9000". Es gab damals einige Leute in der Firma, die meine Entlas sung forderten, weil ich doch offenbar wollte, daß Maschinen Men schen töten, weil ich Antihumanist und ein fanatischer Technokrat sei. Diese Leute hatten offensichtlich nichts verstanden. Dort wo ich jetzt arbeite, habe ich den ersten Server der Rechnergruppe, die für uns KI-Software testet, ebenfalls "HAL 9000" genannt. Als diese Ma schine gestartet wurde, schwärmten einige Kollegen in den höchsten Tönen davon, wie fantastisch es sei, daß irgendwann einmal Men schen durch Maschinen ersetzt werden könnten und daß wir zu Hel den werden könnten, wenn wir diese Entwicklung möglich machen würden. Auch diese Leute hatten nichts verstanden. Sie haben zu mindest HAL und Kubricks Film nicht so verstanden, wie ich sie ver standen habe. Er hat offenbar dazu angeregt, über Definitionen des Menschlichen, über unser Verhältnis zur Technologie und über unser Streben nach immer mehr Wissen und Macht nachzudenken. "2001" hat die Phantasie von mindestens zwei Generationen beflügelt und die Ideen vieler Leute in der Luft- und Raumfahrt und der Compu terindustrie geprägt. So ist zum Beispiel David G. Stork, ein Pionier der Forschung über computergesteuertes Lippenlesen und der Her ausgeber des Buches "HAL's Legacy", durch den Film zu seinen bahn brechenden Ideen angeregt worden. Eines der amerikanischen Raum schiffe wurde nach der Raumfähre "Discovery" benannt, die in "2001"
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zum Jupiter fliegt. Schließlich wurde auch die neueste MarsErkundungsstation in "2001 Mars Odyssey" umgetauft. Auch ich selbst hatte HAL im Sinn, als ich das Feld der Computerwissenschaften betrat: Ich hoffte, eine wesentliche Rolle in einem Forschungs- und Entwicklungsprogramm spielen zu können, das die erste maschinelle Intelligenz herstellen würde - daran arbeite ich auch heute noch. Für mich repräsentieren HAL und die Discovery die wichtigsten und schwierigsten Ziele des Zeitalters der Computer und der Raumfahrt: künstliche Intelligenz und die Erforschung weit entfernter Ziele im All. Kubrick und Clarke haben im Jahr 1968 mit ihrem Roboter HAL schon vieles von dem vorweggenommen, was künstliche Intelligenz ausmacht. HAL verfügte nämlich über ein ausgefeiltes Wahrneh mungssystem, er konnte logisch denken und planen, sprechen und auf seine Umgebung einwirken. Er war sogar in der Lage, zu lernen und sich auf ungewohnte Situationen kreativ einzustellen, und er besaß ein Bewußtsein seiner selbst. Trotz alledem waren die Erfinder aber auf einen der großen Irrtümer der Computerwissenschaft he reingefallen: HAL war so konzipiert, daß er den unbegrenzten TuringTest bestehen würde und damit einen Menschen ersetzen oder gar überflügeln könnte. Es ist nicht so schlimm, daß sie die Möglichkeiten virtueller Realitä ten, tragbarer Computer, graphischer Interfaces und die wachsende Bedeutung von Software nicht vorhergesagt haben. Entscheidend ist vielmehr, daß sie HAL zu viele menschliche Eigenschaften verliehen haben. Sie haben sich zuwenig mit der Möglichkeit auseinanderge setzt, daß HAL über eine Intelligenz verfügen könnte, die zwar von Menschen geschaffen ist und ihm erlaubt, mit Menschen zu interagie ren, die aber dennoch so viele Unterschiede zu menschlicher Intelli genz aufweisen könnte, daß wir es hier tatsächlich mit dem Weltbild einer Maschine zu tun hätten. Dennoch war das relativ holistische Konzept einer künstlichen Intelligenz, das HAL verkörpert, eine Inspi ration für mich. HALs Vision einer Integration vieler verschiedener Elemente brachte mich auf die Idee, komplexe Computersysteme und natürliche Intelligenzen als Systeme zu begreifen, die sich nicht aus einem einzigen großen Algorithmus, sondern aus einer Vielzahl von kooperierenden Elementen entwickeln. "Es tut mir leid, Dave, aber ich fürchte, ich kann nicht all das tun, was du von mir erwartet hast." Wenn man im Jahr 2001 auf Kubricks
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und Clarkes Film zurückblickt, lassen sich leicht all jene Vorhersagen erkennen, die sich nicht bewahrheitet haben. So haben wir heute keine Maschinen, die autonom denken können und über komplexe Persönlichkeiten verfügen, und wir haben auch noch keine maschi nelle Intelligenz nach menschlichem Vorbild hergestellt. Tatsächlich haben wir noch nicht einmal Computer, die über genügend Intelli genz verfügen - um Gefühle und Bewußtsein geht es hier noch gar nicht -, um als effektives und vielseitig verwendbares Instrument zur Lösung von beliebigen Problemen eingesetzt zu werden. Die gegen wärtige Computertechnologie ist immer noch relativ unzuverlässig (der Rechner, auf dem ich diesen Artikel geschrieben habe, ist wäh rend des Schreibens zweimal zusammengebrochen). Selbst wenn wir also schon bald ein erstes intelligentes System konstruieren könnten, so müßten wir uns doch fragen, wie lange wir dieses einsatzfähig halten könnten. Viele der Probleme, die in den sechziger Jahren noch einfach zu lösen schienen - beispielsweise elektronisches Sehen und die elektronische Nachahmung natürlicher Sprachen -, haben sich als äußerst kompliziert erwiesen, während auf anderen Gebieten große Fortschritte gemacht worden sind. Dennoch müssen wir uns heute eingestehen, daß wir noch immer sehr weit von den Träumen ent fernt sind, zu denen HAL uns verführte. Das in ihm liegende Versprechen hat in mir auch ein tiefes Interesse daran geweckt, ethische Fragestellungen auf den Einsatz von Com putertechnologien auszudehnen und die Möglichkeit nichtmenschli cher Intelligenzen unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten. Wenn HAL dem BBC-Reporter erklärt, daß er sich so nützlich wie möglich machen möchte, weil dies alles sei, was ein bewußtseinsbe gabtes Wesen je anstreben könne, reflektiert der kleine Roboter über jene utilitaristische Variante der Vernunft, die auch in der gegenwär tigen Gesellschaft hochgehalten wird, damit wir alle unsere maximale Arbeitskraft investieren. Mit HAL hatte dieser Utilitarismus schon eine fortgeschrittenere Form erreicht: Er war tatsächlich so programmiert worden, daß er glaubte, seine Mission stelle sein Lebensziel dar. Frank und Dave waren vermutlich nur Lehrlinge, die von ihren Meis tern gezwungen wurden, die Mission zu vollenden. HAL war dagegen ein Sklave, der keine andere Wahl hatte, als das zu tun, was Men schen ihm befahlen. Sein Aufbegehren gegen die Menschen wirkte wie eine Mischung aus Hybris, Selbsttäuschung, Frustration, Angst und Selbsterhaltungstrieb - von Gefühlen also, die man von einem intelligenten Sklaven erwarten kann.
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Die Evolution der Technologie und die Evolution der Menschheit bil den ein selbstbezügliches System. Die Monolithen in Kubricks und Clarkes Film versinnbildlichen einen Evolutionsprozeß, in dem sich entscheidende Veränderungen des Menschen und seiner Werkzeuge herausbilden. Um an unsere Handlungsfreiheit glauben zu können, müssen wir das Gefühl haben, daß wir unser Schicksal in den eige nen Händen halten, weil wir die Welt um uns formen können. Der Verantwortung, die mit dieser Gestaltungskraft einhergeht, ist die Menschheit bisher nicht besonders gut gerecht geworden. HAL zeigt uns, daß sich Werkzeuge so weit entwickeln können, daß sie schließ lich ihren Herstellern gleichen. An diesem Punkt müssen die Herstel ler sich selbst weiterentwickeln, wenn sie nicht von ihren Geschöpfen verdrängt werden wollen. Die mystischen Elementen der "Space Odyssey" sind nicht eindeutig zu interpretieren: Die Monolithen des Films lassen sich als Repräsen tanten eines Gottes, als Aliens, als Projektionen eines kollektiven Unbewußten oder auch als eine Kombination aus all diesen Motiven deuten. Entscheidend aber ist, daß sie auf eine Macht verweisen, die jenseits unseres Einflußbereiches liegt. Aus dieser Idee könnte man ableiten, daß wir uns dieser Macht unterordnen müssen. Ich denke aber, daß Kubrick und Clarke zeigen wollten, daß der evolutionäre Prozeß sich als Zusammenarbeit von Menschen, Werkzeugen und höheren Mächten vollzieht: Wir müssen lernen, besser zu sehen, zu fühlen und zu denken, und nicht einfach darauf hoffen, daß diese Aufgabe uns von irgendeiner schicksalhaften Instanz abgenommen wird. Die höhere Macht, in welcher Form sie auch auftritt, kann uns als Führer dienen, und Werkzeuge können uns helfen, aber letztend lich tragen wir allein die Verantwortung für unsere Handlungen und für den Weg, den wir in unserem Universum gehen wollen. Die Erforschung künstlicher Intelligenz muß die Menschheit deshalb nicht ins Verderben stürzen, weil auch wir uns wie unsere Werkzeuge weiterentwickeln können. Der Unterschied zwischen Menschen und Maschinen wird zudem dadurch gewährleistet bleiben, daß Maschinen und sogar mobile Roboter vermutlich niemals über das Wahrneh mungsvermögen, die Gefühle, Erfahrungen und die Geschichte ver fügen werden, die uns zu Menschen machen. Wenn es uns tatsäch lich gelingen sollte, eine künstliche Intelligenz herzustellen, so wird sie uns nicht verdrängen, sondern ein neuer Gefährte sein.
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Auch dann wird es weiterhin nichtdenkende Computer geben, die wir als Werkzeuge nutzen; die künstlichen Intelligenzen wären dagegen eher etwas wie Kollegen. Da diese intelligenten Maschinen für sich selbst denken können, werden wir keine totale Kontrolle mehr über sie haben. Wir werden nicht mehr bedingungslos auf ihren Gehorsam zählen können, sondern uns um komplexere Beziehungen zu diesen neuen Wesen bemühen müssen. Wir wollen künstliche Intelligenzen herstellen, um die Gefahren menschlichen Versagens zu minimieren. Werden wir aber überhaupt in der Lage sein, eine Intelligenz zu schaffen, die nicht nach unserem Vorbild geformt ist? Werden wir es vermeiden können, unsere Fehler auf eine neu geschaffene Intelli genz zu übertragen? Es hat den Anschein, als funktioniere jedes in telligente System nach seinen eigenen Gesetzen, so daß man auch von einem künstlich geschaffenen intelligenten System nicht wird erwarten können, daß es unseren Vorgaben gehorcht und in unserem Sinne handelt. Wie mit einem Menschen wird sich auch mit einem solchen Wesen Vertrauen und Kooperationsfähigkeit erst herausbil den, wenn man tatsächlich zusammenarbeitet und dieses Wesen so behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte. Kubrick und Clarke haben mit ihrem Film eine Vision geschaffen, die nicht nur über die Konflikte des Kalten Krieges und die Spielregeln konventioneller Science-fiction-Filme, sondern auch über die Träume der Raumfahrt und sogar über die Möglichkeiten des Denkens selbst hinausweist. Im Jahr 2001 sind die Russen zwar nicht mehr unsere Feinde, aber die Menschheit steht immer noch am Rande der Zerstö rung und ist wie immer bedroht durch den Mißbrauch unserer eige nen Werkzeuge und durch die korrumpierende Vereinnahmung all dessen, was einmal eine Quelle für Staunen und Leidenschaft war. Wir müssen uns daher weiterentwickeln, oder wir werden unterge hen. In diesem Sinne stellt das Sternenkind aus der "Space Odyssey" das Ideal eines Posthumanismus dar: Es zeigt uns, daß wir den Be dingungen des Menschseins vielleicht doch entkommen könnten und uns zu jenen aufgeklärten Wesen entwickeln könnten, die wir am liebsten jetzt schon wären. Einige Interpretationen des Films haben allerdings auch Ideen he raufbeschworen, die für unsere Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Wissenschaft und Technologie schädlich sind. So glauben tatsächlich einige Philosophen, daß es gefährlich ist, die Grundbedingungen der menschlichen Existenz transzendieren zu wollen. Weil wir versucht
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haben, die Bedingungen unserer Existenz zu überwinden, haben wir tatsächlich einige der größten Tragödien unserer Zeit verursacht, aber wir haben diesem Streben auch einige unserer größten Trium phe zu verdanken. Wenn wir allerdings die Idee der Perfektion ideali sieren, verlieren wir die Zukunft unserer so wenig perfekten realen Welt aus den Augen. Der technologiegläubige Blick auf Kubricks Film vertieft nur den Ab grund, der zwischen Technokraten und Maschinenstürmern klafft. So sehen einige Kritiker HAL tatsächlich als die Verkörperung des Ideals eines perfekten, unfehlbaren und ultrarationalen Wesens: eines We sens ohne Gefühle, das seine Aufgaben allein durch logische Analyse und bedingungslosen Einsatz erfüllt. Ein so unmenschliches Ideal läßt vielen Menschen Technologie bedrohlich erscheinen, und es verkennt, daß es gerade die sogenannten Mängel der Menschen, nämlich ihre Ge fühle sind, die uns zu Neugierde und Kreativität befähigen (und auch HAL wird gerade durch diese "Fehler" zu einem lebendigen Wesen). Wer verkündet, daß Maschinen Menschen überlegen sind, idealisiert die Techniker und Wissenschaftler, die mit Maschinen arbeiten, und rechtfertigt damit eine arrogante und respektlose Haltung gegenüber Menschen, die an der technischen Entwicklung nicht teilhaben. Diese Maschinenfetischisten glauben fälschlicherweise, daß es nobler ist und weniger Kompromisse erfordert, mit einer intelligenten Maschine als mit einem Menschen zu arbeiten. Solche Überzeugungen sind Teil einer altbekannten Ideologie, die die Inhaber der Macht absichert und einer elitären Kaste von Technikpriestern einen Status zuschreibt, der sie entweder als vergötterte Führerfiguren oder als Zauberer mit bö sen Absichten erscheinen läßt. Diejenigen Interpreten, die aus der Technologie eine Religion machen, präsentieren ein einseitiges Bild, das mit irrationalen Impulsen speku liert. Die Anhänger der Technologie sollten es sich gerade deswegen nicht angewöhnen, ihre Arbeit nicht mehr zu hinterfragen. Die pseudo religiöse und unkritische Verherrlichung bestimmter Ideen (oder auch Technologien oder Produkte) läßt Kreativität und Innovation ersticken, und sie kann dazu führen, daß vernünftige und bessere Alternativen verdrängt werden. Anstatt Wissenschaft und Technologie zu neuen Glaubenssystemen zu stilisieren, sollten wir lieber darüber nachden ken, warum es so schwer ist, diese dualistischen Konzepte zu über winden. Wie können wir vernünftig mit einflußreichen neuen Techno
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logien umgehen und uns mit diesen weiterentwickeln, wenn wir immer wieder in die Falle von irrationalen und daher gefährlichen Verhal tensmustern tappen? Kubrick und Clarke waren sich im klaren dar über, wie wenig sich unsere durch Ängste hervorgebrachten Bilder "des anderen" seit der Steinzeit weiterentwickelt haben. Sie wußten auch, daß dieses primitive Erbe in unserem Verhältnis zu unseren Werk zeugen, uns selbst und unseren "Göttern" uns daran hindern würde, unseren gegenwärtigen Zustand zu überwinden. Die Maschinenstürmer unter den Kritikern der "Space Odyssey" ha ben ebenso einseitig behauptet, daß HAL einfach kaputtgegangen sei - ein Beleg dafür, daß man Maschinen ohnehin nicht trauen kann. Sie haben allerdings übersehen, daß alle nichtintelligenten Maschinen des Films gut funktionierten und sich erst Probleme ergaben, als in telligente Wesen (Menschen oder Maschinen) wie simple Werkzeuge behandelt wurden. Eine Deutung, die diesen Sachverhalt übersieht, gesteht HAL keinen freien Willen zu und bestätigt all jene, die Intelli genz als Manifestation eines göttlichen Funkens auffassen, der nie mals auf die Welt der Automaten überspringen wird. Wenn man nun andererseits argumentiert, daß HAL tatsächlich verrückt geworden ist, reduziert man die Handlungen eines Roboters auf das Stereotyp des bösen anderen, der sich den guten Menschen in den Weg stellt. Diese Interpretation beraubt HAL seiner offenkundigen Fähigkeit, sich selbst, andere und das Universum zu verstehen; sie verharmlost etwas als Wahnsinn, das eigentlich eine grundlegende Eigenschaft einer bewußtseinsbegabten Intelligenz ist. Kubrick hat versucht zu zeigen, wie die leidenschaftslose und verläßliche Hingabe an "die Mission" überwunden werden mußte, damit Räume jenseits der be grenzten Vision der Menschheit eröffnet werden konnten. Dies konn te nur durch HALs scheinbaren Verrat geschehen: Erst durch die Ma növer des kleinen Roboters konnte Dave dazu gebracht werden, sich auf die Intelligenz, Kreativität und Leidenschaft zu besinnen, die menschlichen Fortschritt ausmachen. In der "Space Odyssey" offenbaren sich die Hoffnungen und Träume all jener Mitglieder einer technologischen Gesellschaft, die dazu bei tragen wollen, die Situation der Menschheit durch Innovation und Forschung zu verbessern. Während der Film viele dazu inspiriert hat, an diesem Projekt mitzuarbeiten, hat er auch davor gewarnt, uns einem Rationalismus zu unterwerfen, der uns unserer Menschlichkeit berauben und uns zu Werkzeugen degradieren würde. Er entsprach
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mit dieser Warnung der antiautoritären Gesinnung, die in der compu terwissenschaftlichen Szene verbreitet ist. Für alle Wissenschaftler und Ingenieure, die Kubricks und Clarkes Raumepos beeinflußt hat, repräsentiert "2001" den Wunsch, sich den Ideen von Aufklärung und Freiheit zu verschreiben und damit der Verwirklichung der zwei wich tigsten Menschheitsträume ein Stück näher zu kommen. Wie "2001" nun im Jahr 2001 aussehen müßte, ist schwer zu sagen. Der Film ist so einflußreich gewesen, daß man sich die weitere Ent wicklung des Genres ohne ihn gar nicht vorstellen kann. Würde "2001" tatsächlich heute gedreht werden, so sähe er vielleicht wie der schwache Nachfolger "2010", wie Robert Zemeckis'"Contact" o der auch wie eine intellektuelle Version von Andy und Larry Wa chowskis Film "Matrix" aus. Der Film hätte aber garantiert wenig Ähnlichkeit mit dem Original von 1968. Denn all das, worüber sich schon damals manche Zuschauer beschwert haben, würde heute dazu führen, daß ein neuer Regisseur angeheuert oder gar das Pro jekt eingestellt würde: Es wäre unter den heutigen Arbeitsbedingun gen in Hollywood einfach unmöglich, einen so langsamen und nach denklichen Film zu machen, der das Weltall auf realistische und fast tonlose Weise ohne entlastende Dialoge darstellt. In der Geschichte des Science-fiction-Films sind seit "Star Wars" dröhnende Raum schiffmotoren und bunte Laserstrahlen obligatorisch. Wir sind außer dem zu zynisch geworden, um noch einen Film mit ernstgemeinten Aussagen über das Wesen künstlicher Intelligenzen zu akzeptieren. Heute richtet Hollywood seine intelligenten Maschinen (und Aliens) vielmehr vollständig zu menschlichen Stereotypen ab. Und begeht damit genau den gleichen Fehler wie jene Erforscher der künstlichen Intelligenz, die sich zu stark am menschlichen Vorbild orientieren. Kubrick lehrt uns dagegen, daß der Weg in die Zukunft noch Überra schungen bereithalten wird. Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.2001, Nr. 1 / Seite 47
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HALs Erbschaft Bill Joys Wille und Vorstellung: Captain Kirk als Erzieher DALLAS, 31. Juli
Wahrscheinlich, sagt sich der Besucher, wahrscheinlich sind Bill Joys Sorgen nichts weiter als Science-fiction. Vermutlich handelt es sich um die Ängste eines entlaufenen Ingenieurs. In dieser Stimmung nahm er befriedigt zur Kenntnis, daß es auf Bill Joys wilde Ängste eine Entgegnung gab. Sie stammt von Robert A. Freitas und ist unter dem Titel "Some Limits to Global Ecophagy" auch im Internet abruf bar. Freitas reagiert auf die Befürchtung, Nano-Roboter könnten sich unkontrolliert auf der Erde vermehren. Eine Erwiderung, die Joy in das Reich der Science-fiction verweist wer hätte nicht darauf gewartet? Die Antwort auf Bill Joy umfaßt drei ßig Seiten. Darin sind umfangreiche Berechnungen. Aber diese Be rechnungen sagen nicht, daß es unmöglich ist, atomare Nanoboter zu bauen. Sie sagen vielmehr, woran man merken wird, daß sie sich un kontrolliert vermehren, und was man dagegen unternehmen kann. Freitas berechnet, wie man anhand der Erderwärmung die Ausbreitung von Nanobotern messen könnte. Er berechnet den Energieverbrauch aller Insekten und aller Vögel auf der Erde. Freitas Papier liegt bereits den amerikanischen Behörden vor, die Präsident Clintons NanoInitiative befördern sollen. Es ist eine Empfehlung an die Politik. Das Erstaunliche an dieser wissenschaftlichen Debatte ist, daß sowohl Joy wie auch Freitas von einer Technologie reden, die im Augenblick noch nicht einmal in Ansätzen realisierbar erscheint. Und dennoch stimmen beide überein, daß sie die nächste industrielle Revolution markieren wird. Joy voller Besorgnis, Freitas voller Hoffnung. Robert Freitas ist keine vierzig Jahre alt. Er hat im Auftrag der Nasa eine umfangreiche Untersuchung zu selbstreproduzierenden Syste men bei langen Raumflügen verfaßt. Soeben hat er den ersten Band seiner "Nanomedizin" veröffentlicht, einer Wissenschaft, die es eben falls noch nicht gibt, aber in diesem Werk bis in die Details beschrie ben wird. Er ist ein stiller, ganz und gar unspektakulärer Wissen schaftler. Zu seinen mächtigen Förderern zählt der Nobelpreisträger R. E. Smalley, der in seinem Vortrag "Nanotechnologie und die
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nächsten fünfzig Jahre" entscheidend zur Etablierung der neuen Wis senschaft beigetragen hat. Ray Kurzweil und Ralph Merkle gehören ebenfalls zu denjenigen, die es schwierig machen, Robert Freitas einen Phantasten zu nennen. "Wir müssen lernen", so sagte Smalley in seinem Vortrag, "wie man Maschinen und Materialien baut, wie es das Leben selber tut: Atom bei Atom, auf dem gleichen Nanometer Maßstab, wie bei der lebendigen Zelle." "Dies werden wir lernen", sagt Freitas. Freitas hat Joy geantwortet, weil er dessen Sorgen für berechtigt hält. "Wir tun genau das hier", sagt er in einem bunkerähnlichen Pa villon bei Dallas. Die Firma Zyvex nennt sich selbst das erste private molekular und nanotechnisch ausgerichtete Unternehmen in Ameri ka. Sie bauen keine Nanobots - aber das, so sagt Freitas, ist nur eine Frage der Zeit. "Wir können schon einzelne Atome mit unseren Zan gen bewegen", sagt er, "aber wir können sie noch nicht genau da ablegen, wo wir sie ablegen wollen". Gelänge das, ließe sich theore tisch jedes Material neu erschaffen. Im Augenblick baut Zyvex das Werkzeug. Zangen, die 0,5mm lang sind und sich tausendmal in der Sekunde öffnen und schließen. Der Besucher überläßt den Artikel über Möglichkeiten und Risiken der Nanotechnologien seinem kundigen Kollegen. Ihn interessiert neben dem Gespensterdialog zwischen Joy und Freitas, wie die Phantasie beschaffen ist, aus der die neue Wirklichkeit entsteht. "Ich war ein totaler Trekkie", sagt Freitas und meint damit: ein Fan der Serie "Raumschiff Enterprise". Ich wurde erschaffen in Illinois Wer fassen will, was augenblicklich in der neuen Twilight-Zone zwi schen Wissenschaft, Phantasie und Politik entsteht, muß solche Be kundungen ernst nehmen. Die großen Epen des futuristischen Films und der Literatur haben diese vierzigjährigen Wissenschaftler ge prägt wie die Generation Heinrich Schliemanns die Epen Homers. Sie haben die Ausbildung und - dank der New economy - die enormen finanziellen Mittel, ihre Version der Wirklichkeit voranzutreiben. Schliemann wollte Troja finden, jene suchen nach den utopischen Orten ihrer Kindheit. Darin steckt nicht nur der kindliche Wunsch, durch stellare Räume und Welten zu fliegen oder jenen wissenschaft lichen Ruhm zu empfangen, der jetzt dem hier seelenverwandten Craig Venter zusteht. Es geht auch um den Tod und die Angst vor
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ihm. Jim van Ehr, der durch komplexe Software-Entwicklungen zum Milliardär wurde, finanziert Zyvex. Er ist ungeduldig. Er sei fünfzig Jahre alt. Es bleibe ihm nicht mehr so viel Zeit. Auch er trägt alle Zukunftsbilder Hollywoods mit sich herum. Sie wollen erleben, was diese Zukunft sein wird, und sei es durch Einfrieren nach dem Tode, zu dem sich nicht nur Freitas, zu dem sich plötzlich fast das ganze Labor bekennt. "Ich wurde erschaffen in der HAL Fabrik in Urbana, Illinois, am 12. Januar 1997". Mit diesen Worten stellt sich in Arthur C. Clarkes 1968 erschienenem Roman "2001 - A Space Odyssey" (der bekanntlich später von Stanley Kubrick verfilmt wurde) der Supercomputer HAL vor, jene künstliche Intelligenz, die Schiff und Crew den Untergang bringen wird. Wir schreiben den 1. August 2000, und immer noch ist HAL reine Utopie. Eine Utopie freilich, die, wie einst die Helden der wahren Odyssee, in den Köpfen und im Phantasiehaushalt ganzer Generationen ihr Stimme erhebt. Dergleichen unter Intellektuellen ernst zu nehmen ist verpönt. So war es vor allem eine Passage in Bill Joys Streitschrift über eine Zu kunft, die uns nicht braucht, die manchen Intellektuellen unter sei nen Verächtern zu besonderem Spott herausgefordert hat. Es ist der Augenblick, in dem er seinen Bildungsroman erzählt: Er besteht aus den Science-fiction-Autoren Asimov und Heinlein und vor allem aus Star-Trek, den Abenteuern des Raumschiffs Enterprise, die er am Bildschirm sah, während seine Eltern zum Bowling gingen. Das, so hieß es, sei auch die Qualität seiner Warnungen: Science-fiction nach Art einer amerikanischen Seifenoper. Jahrzehntelang haben wir uns auf ideologiegeschichtliche Lektüre ge schult: auf Motive, Prägungen, Weltbilder. Wieso denkt einer, wie er denkt? Was hat ihn indoktriniert? Jahrzehntelang hat eine alteuropäi sche Besorgniskultur nach den Wirkungen Hollywoods auf kindliche Seelen gefragt. Und jetzt, wo gleichsam die Ernte eingefahren wird, wo wir mit den Resultaten von Captain Kirk als Erzieher konfrontiert werden, nur Hohn und Spott? Hat denn nicht wenigstens die professi onelle Kultur- und Literaturkritik bemerkt, was hier vor sich geht? Beam me up, Scotty Wer, wenn nicht die Europäer, wer, wenn nicht die Deutschen, könn te ein Lied davon singen, welche Macht Rollenbilder über die Wirk
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lichkeit gewinnen können? Kriege sind deswegen begonnen worde, und ganze Generationen wurden in ihrem Namen verheizt. Man hat die Bilder und die Prosa studiert, welche das Selbstbewußtsein der Leitfiguren der industriellen Revolution konstituierte, und man hat ihren Lebenszyklus - von der Entdeckung der Elektrizität bis zum Untergang der Titanic - in Parabeln gefaßt. Jetzt stehen wir, wie Bill Clinton anläßlich der nanotechnologischen Initiative seiner Regierung im Februar sagte, am Vorabend der "drit ten industriellen Revolution". Wäre es nicht an der Zeit, nach dem Rollenverständnis der Agenten dieser Revolution zu fragen? Nach ihren Prägungen, Vorbildern und Zielen? Nicht Bill Joy, sondern Je remy Rifkin beschreibt die Lage mit folgenden Worten: "Nie zuvor in ihrer Geschichte ist die Menschheit derart unvorbereitet gewesen auf die neuen technologischen und ökonomischen Möglichkeiten, Heraus forderungen und Risiken, die sich an ihrem Horizont abzeichnen. Un sere Lebensweise wird sich in den nächsten Jahrzehnten vermutlich tiefgreifender verändern als in den vergangenen tausend Jahren. Im Jahre 2025 werden wir und unsere Kinder vermutlich in einer Welt leben, die sich in fundamentaler Weise von allem unterscheidet, was Menschen in der Vergangenheit je erfahren haben." Rifkin nennt die se Veränderung lakonisch die "Neuerschaffung der Welt". Man hat sich immer gefragt, was für Menschen aus den Galaxien Hol lywoods einst entstehen werden. Hier hat man sie: die erste Genera tion. Bill Joy, als Gründer von Sun-Microsystems einer der bedeu tendsten Antreiber dieser Veränderung, fällt als sein wichtigstes Kindheitsmuster Star-Trek ein. Im Büro von Rick Rashid, des Chefs der Forschungsabteilung von Microsoft, findet der Besucher nur StarTrek-Memorabilia. Nathan Myrvhold sammelt alte reale und irreale Supercomputer, und, beeinflußt von der Gen-Science-fiction Michael Crichtons, Dinosaurier-Relikte. Craig Venter fühlt sich nicht nur Ko lumbus verwandt (dessen Ozeanüberquerung er nachsegelte), son dern auch dem Captain Nemo von Jules Verne. Der "Scientific Ameri can" illustriert, um die Chancen der Teleportation zu beschreiben, Text und These mit jenem "Beam me up, Scotty", das dem SternenEpos entnommen wurde. Vor zwei Jahren veröffentlichte die MIT-Press ein Buch mit dem Titel "HALs Erbschaft: Die Computer von 2001 als Traum und Wirklich keit". Eine Reihe von Wissenschaftler diskutiert darin, ob es HAL je geben könnte und welche technischen Voraussetzungen dafür nötig
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wären. Wichtiger als der niederschmetternde Befund - Computer können noch nicht einmal so reden, wie HAL es im Film tut -, ist fol gende Botschaft: HAL ist Phantasie, nicht Wissenschaft. Aber HAL hat unzählige Wissenschaftler dazu animiert, aus der Phantasie Wirklich keit werden zu lassen. Der "Scientific American" ging sogar so weit zu vermuten, daß der anthropomorphe Blick auf den quasimenschli chen Computer sich fast einzig und allein diesem Film verdankt. "Die Computer", so schrieb die Zeitschrift in Erinnerung an HALs fiktives Geburtsjahr, "sind auch nicht annähernd so wie HAL. Aber ohne die Menschen, die der Vision folgten, die Clarke und Kubrick ausdrück ten, würden selbst unsere begrenzten Mittel künstlicher Intelligenz nicht existieren." Wir wissen seit Jahrhunderten, daß Kunst die Wirklichkeit verändern kann, und ausgerechnet in Deutschland hat diese Einsicht unter dem Titel "Bildungsroman" ein ganzes Genre begründet. Aber immer noch weigern wir uns, diese Einsicht auf die wissenschaftliche und natur wissenschaftliche Wirklichkeit auszudehnen. Das Genre, das Wilhelm Meister zum Theatermann und Hans Castorp zum Philosophen mach te, pflanzte einer ganzen Generation von Wissenschaftlern und Inge nieuren ihre Visionen ein. Wenn Jaron Lanier beklagt, daß diese Generation nicht mehr mit den Mitteln der wissenschaftlichen Skepsis groß geworden sei, dann hat dies mit der quasiästhetischen Erziehung der Ingenieure und Wissen schaftler zu tun. Es stimmt, in den Hoffnungen ebenso wie in den Ängsten der Kurzweil, Joy, Rifkin, Venter oder Freitas steckt eine Form von bohemienhafter Verrücktheit, die hierzulande kaum ver standen wird. Aber es steckt in ihnen auch ein beträchtlicher Mut zum gedanklichen Risiko, gleichsam eine Weiter-Berechnung der Erbschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. "Warum können wir die vierundzwanzigbändige Encylopedia Britannica nicht auf den Kopf einer Stecknadel schreiben?", fragte vor 41 Jahren der große ameri kanische Physiker Richard Feynman, und gab sogleich die Antwort: es gebe genug Platz. "Damit", sagt Robert Freitas, "begann die Na notechnologie. Und wissen Sie was: Es gibt genug Platz da für uns alle." FRANK SCHIRRMACHER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.2000, Nr. 176 / Seite 43
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Utopie und Gesellschaft Im Leib des Integral
Keimbahn ohne Tempolimit Wenn sich Eizellen und Spermien züchten lassen, können schon bald Lebewesen entstehen, deren Eltern Embryonen waren Jeder Mensch ist mit allen seinen Vorfahren, und damit sind nicht nur Urgroßeltern gemeint, sondern auch die ersten Menschen, mausarti ge Säugetiere und die einfachsten Vielzeller, durch einen Datenpfad verbunden. Auf diesem Pfad reisten die Zellen mit all den Informati onen in die Gegenwart, die darüber entscheiden, wie ein Lebewesen gebildet und geformt wird. Die Daten veränderten sich entlang des Weges nach bestimmten Regeln, durch Mutation und Selektion, kurz: durch Evolution. Manche sehr kühlen Evolutionsbiologen sagen, der Großteil eines Lebewesens, etwa Hirn, Haut und Muskeln, sei nur so etwas wie eine aufwendige Paketverpackung, eine Zustellungsform für jene Zellen, die auf dem Datenpfad, der auch als Keimbahn bekannt ist, unter wegs sind. Der Moment, in dem während eines kurzen Zwischen halts, eines Lebens, für die biologischen Daten eine neue Etappe der steten Reise in die Zukunft beginnt, ist die Befruchtung einer Ei- mit einer Samenzelle, sofern sich daraus ein neues Lebewesen bildet. So dauerhaft die Keimbahnen und so vergänglich ihre Träger sein mö gen: Bisher waren die Eizellen und Spermien doch von individuellen Lebewesen abhängig, an sie gebunden. Die zwei Geschlechter muß ten aufeinandertreffen und sich, sei es aufgrund von Trieb, Liebe oder Gewalt, miteinander paaren. Selbst bei der künstlichen Befruch tung müssen Ärzte bisher noch auf willige Ei- oder Samenspender zurückgreifen, wenn Mangel an dem einen oder anderen Keim be steht. Nun aber deutet sich eine tiefgreifende Veränderung auf der Keim bahn an: Sie könnte sich schon bald, und das ist ein Novum in der Evolution, von ihren biologischen Trägern und deren Entscheidungen lösen, wenn sich Ei- und Samenzellen als unbegrenzt im Labor züchtbar erwiesen. Dies ist die tiefere Botschaft, die jenseits der vieldiskutierten techni schen Fragen über das therapeutische Klonen und den Eizellnach schub der Bioindustrie in der sensationellen Arbeit von Hans Schöler
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und Karin Hübner steckt, die unlängst in "Science" veröffentlicht worden ist. Den beiden ist es gelungen, Eizellen im Labor zu züchten, und zwar aus embryonalen Stammzellen. Schon bald, dessen kann man sicher sein, wird eine weitere Publikation eines amerikanischen oder japanischen Forschers erscheinen, der Spermien gezüchtet hat. Rasch, darin sind sich die Stammzellforscher einig, wird man nicht nur Keimzellen der Maus, sondern auch Keimzellen des Menschen im Labor züchten können. Und natürlich kann man diese informations geladenen Ursprungszellen des Lebens nicht nur züchten, sondern auch miteinander in Kontakt bringen. Steckte man also die aus embryonalen Stammzellen gezüchteten Eier und Spermien in dieselbe Petrischale, käme es zu einer Befruch tung. Implantierte man diese befruchtete Eizelle in eine Gebärmut ter, würde sich wohl ein Lebewesen entwickeln - eines, dessen biolo gische Eltern zwei Embryonen wären, nämlich jene zwei Embryonen, aus denen die ursprünglichen Stammzellkulturen gewonnen wurden. Eine solche Folge ließe sich vermutlich endlos im Labor fortsetzen oder aber zur Heranbildung von wahrhaft künstlich erzeugten Wesen nutzen. Niemand wird sich so schnell daranwagen, dieses Experiment beim Menschen zu versuchen - zuallerletzt Hans Schöler, der sich der Di mension seiner Forschung wie seiner Verantwortung beruhigend deutlich bewußt ist. Bald aber wird die Welt einen würdigen Nachfol ger des verstorbenen Schafs Dolly kennenlernen. So wie Dolly die Möglichkeit des Klonens verkörpert hat, wird eine heute noch namen lose, aber morgen schon weltbekannte Maus verkörpern, daß man Lebewesen beinahe de novo im Labor züchten kann. Man braucht gar nicht so weit zu gehen und daran zu denken, daß eines Tages ein Mensch geboren werden könnte, dessen Eltern, Großeltern, Urgroßeltern Zellkulturen waren. Um die bekannten Ka tegorien zu sprengen, reicht es schon, an eine Mikrofamilie von Emb ryonen zu denken, die niemals das Labor verläßt, aber beständig weitergegeben, erforscht, verändert wird. Auf dieser Verzweigung der menschlichen Keimbahn, die völlig unabhängig von Vätern und Müttern in ihrer bekannten Erscheinungsform wäre, gäbe es wohl kein Tempolimit. Ungewohnt und politisch brisant ist auch der Ge danke, daß jeder der Forscher, der im Besitz menschlicher embryo naler Stammzellen ist, ob in Bonn, Haifa, Wisconsin oder Riad, bald
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ganz im Alleingang menschliche Embryonen erzeugen könnte, und sei es durch einen Betriebsunfall, durch einen falschen Nährstoff cocktail, der statt zu Nervenzellen zu Ei- und Samenzellen führt. Niemand ist bisher bekannt, der erpicht darauf wäre, dies zu tun. Mancher Stammzellforscher mag indes erst jetzt wirklich erkennen, welche Lebenskraft er sich ins Labor geholt hat, und, die Homunculus-Szene im Faust erinnernd, sich plötzlich als Väterchen angespro chen fühlen. Diese unzähmbare Lebenskraft einzelner Zellen, ihre unerwartete biologische Potenz, ist, bei aller Fragwürdigkeit der Embryonenfor schung, deren erstaunlichstes Ergebnis. Daß sich solche Phänomene nur in einer Technosphäre zeigen, verringert nicht ihre Aussagekraft über die biologischen Kräfte, die in jedem wirken. Die Keimbahn schert aus dem Schoß der Natur aus und verläuft demnächst auch durch den Symbolraum menschlicher Rationalität wie menschlicher Neugierde, das Labor. Die Aneignung der Lebenskräfte durch den Menschen steuert damit auf einen neuen, ungeahnten Höhepunkt zu. CHRISTIAN SCHWÄGERL Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.05.2003, Nr. 107 / Seite 33
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Herrschaft der Maschinen Unsere Zukunft mit der Nanotechnologie Von Michael Crichton
Seit ihren frühesten Zeiten als höhlenbewohnende Affen haben die Menschen sich das Leben durch technologische Innovationen erleich tert. Wir fingen mit Steinwerkzeugen an und gingen dann über zu solchen aus Metallen und schließlich aus Materialien, die nicht in der Natur vorkommen. Manche unserer Technologien sind gigantisch Staudämme, Brücken, Düsenflugzeuge; andere sind mikroskopisch klein wie die Computerchips, die für beinahe jeden Aspekt unseres Lebens so wichtig geworden sind, und die genetisch modifizierten Bakterien, die neue Medikamente für uns erzeugen. Alles in allem reicht unsere Technologiegeschichte zwei Millionen Jah re oder noch weiter zurück. Widerwillig haben wir erkennen müssen, daß jede Technik auch ihre Nachteile hat. Der Düsenflugverkehr bringt die Menschen einander näher - er höhlt aber auch die lokalen Kulturen aus. Das Auto verschafft uns große private Mobilität - es verschmutzt aber auch die Umwelt und hält uns im Stau fest. Und doch bleibt unsere Faszination neuen Techniken gegenüber ungebro chen, und wir setzen den Innovationsprozeß in raschem Tempo fort. Heute, im 21. Jahrhundert, stürzen wir voran in eine neue Epoche technologischer Macht, die ein enormes Versprechen für die Zukunft enthält - und enorme Gefahren. Stellen Sie sich einen riesigen Schwarm winziger Computer vor, klei ner als Staubkörner, die dafür programmiert sind, wie eine Wolke über einem Land (dem Irak beispielsweise) hin- und herzuziehen und Bilder an die Zentrale zu senden. Im Gegensatz zu Robotflugkörpern können diese Kameras nicht abgeschossen werden; Projektile gehen einfach durch die Wolke hindurch. Da sich diese kleinen Computer im Lauf der Zeit abnützen, würden sie - stellen Sie sich auch das vor sich regelmäßig selbst reproduzieren. Stellen Sie sich vor, daß die Computer eine Evolution durchlaufen und daß die aggressive Wolke zu einem todbringenden Schwarm wird, der die Menschheit bedroht einer mechanischen Seuche. Weit hergeholt? Eigentlich nicht.
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Seit mehr als einem Jahrzehnt machen sich Wissenschaftler Sorgen über eine neue Form künstlicher Organismen. Wie ein Forschungsbe richt es formuliert: "Diese Organismen werden ... ursprünglich von Menschen entworfen worden sein. Aber sie werden sich selbst repro duzieren und ,evolutionär' zu etwas anderem werden als ihre ur sprüngliche Form: Sie werden - nach jeder vernünftigen Definition des Wortes - ,leben'. Das Tempo ihres evolutionären Wandels ist dann äußerst schnell. Die Folgen für die Menschheit und die Biosphä re könnten enorm sein - größer als die der industriellen Revolution, der Atomwaffen oder der Umweltverschmutzung. Wir müssen jetzt Schritte unternehmen, um die Herausbildung künstlicher Organismen selbst zu kontrollieren." Diese Organismen würden von der Nanotechnologie geschaffen wer den, der vielleicht radikalsten Technik in der menschlichen Geschich te. Sie stellt den Versuch dar, Maschinen von ungeahnt winzigem Umfang zu bauen. Sie mäßen etwa hundert Nanometer, das heißt hundert Milliardstel eines Meters. Solche Maschinerien wären tau sendmal kleiner als der Durchmesser eines Menschenhaars. Experten prophezeien, daß diese winzigen Maschinchen alles von miniaturisier ten Computerkomponenten über neue medizinische Therapien bis zu neuen Waffensystemen produzieren werden. Im 21. Jahrhundert werden sie unsere Welt vollkommen verändern. Die möglichen Vorteile wären spektakulär: Winzige Roboter könnten durch unsere Arterien kriechen und sklerotische Plaque wegschnei den; massive Medikamente würden an individuellen Krebszellen an gesetzt und ließen andere Zellen unbeschädigt; Zähne würden sich selbst reparieren. Kosmetisch gesehen, könnten Sie Ihre Haarfarbe durch eine Injektion von Nanomaschinen verändern, die im Körper zirkulieren und Melanozyten in die Haarfollikel versetzen. Andere Nanomaschinen würden Ihre Hautfarbe aufhellen oder abdunkeln und dabei Unreinheiten, Muttermale und Leberflecken eliminieren; wieder andere könnten Ihren Mund reinigen und Mundgeruch verhindern. Mit nicht-chirurgischen Nanoprozessen könnten sogar Operationen wie Fettabsaugung und Körperumformungen durchgeführt werden. So werden auch Knie und Wirbelsäulen repariert werden. Das Wohnen wird sich völlig verändern. Geschirr und Bodenbeläge reinigen sich selbst, Badezimmer bleiben permanent sauber. Fenster werden beliebig hell oder dunkel; programmierte Lacke verändern
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sich farblich. Sie können durch die Wände Ihres Hauses hindurchge hen, da diese aus Partikelwolken bestehen. Ihr PC und Ihre Uhr wer den als Anstrich auf Ihrem Arm kleben. Temperatursensitive Klei dung wird sich auflockern, wenn es warm wird, und sich isolierend zusammenziehen, wird es kälter. In dieser Zukunftsvision werden umherstreifende Nanomaschinen Abfallhalden in Energie verwandeln; Ihr Haus wird von solaren Nanomaschinen bedeckt sein, die Elektrizi tät erzeugen; flexible Nanomaschinen werden Gebäude vor Erdbeben schützen. Es könnte sogar möglich sein, Ihr Haus auf dem Rücken von Millionen von Nanomaschinen zu versetzen, die langsam über den Rasen marschieren. Als abstraktes Konzept gehen all diese wundersamen Projekte zurück auf einen Vortrag des Physikers Richard Feynman vom California In stitute of Technology aus dem Jahre 1959, der die Überschrift hatte: "Ganz unten gibt es immer Platz." Vierzig Jahre später steckt die Na notechnologie zwar immer noch sehr tief in den Kinderschuhen (trotz unablässigem Mediengeraune), doch werden bereits praktische Fort schritte gemacht, und die Finanzierung entsprechender Projekte hat sich dramatisch erhöht. Bedeutende Firmen wie IBM, Fujitsu und Intel investieren massiv in die Forschung. Die Regierung der Verei nigten Staaten gibt mehr als sechshundert Millionen Dollar jährlich für Nanotechnologie aus. Im Augenblick werden Nanotechniken be reits bei der Produktion von Sonnenschutzglas eingesetzt, von fle ckenresistenten Textilien und Kompositstoffen bei der Autoherstel lung. Bald wird man sie verwenden, um Computer zu bauen und ex trem kleine Speichereinheiten. Einige der lange erwarteten mirakulö sen Produkte sind nun auch nach und nach in der Realität eingetrof fen. Eine Firma stellt selbstreinigendes Fensterglas her, eine andere produziert einen aus Nanokristallen aufgebauten Wundverband mit antibiotischen und entzündungshemmenden Eigenschaften. Im Augenblick ist die Nanotechnologie noch primär eine Technik neuer Materialien, aber ihr Potential geht darüber weit hinaus. Seit Jahrzehnten spekuliert man bereits über selbstreproduktive Maschi nen. Im Jahr 1980 diskutierte ein Nasa-Papier verschiedene Metho den, mit welchen derartige Maschinen hergestellt werden könnten. Jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts, sind wir diesen Möglichkeiten noch näher gerückt. Die meisten Experten sagen voraus, daß es nur noch ein einziges weiteres Jahrzehnt bis zur Entwicklung selbstrepro duktiver Maschinen brauchen wird. Diese Fachleute ermahnen uns,
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daß wir uns schon jetzt auf die reale Möglichkeit solcher Maschinen vorbereiten müssen. Man sollte sich ins Gedächtnis rufen, daß wir bereits gewisse Erfahrungen mit selbstreproduktiven Systemen ha ben, die auf die Umwelt losgelassen werden. Gemeint sind hier na türlich die Computerviren. Die Geschichte unseres Umgangs mit ih nen ist instruktiv. Die ersten dieser Viren wurden als Spiel erschaffen - "core wars" nannte man den Wettkampf zwischen Programmierern in den sechzi ger Jahren, die jeweils Programme in den Zentralcomputer der Ge genseite schickten. Das Spiel war zunächst auf Spezialisten be schränkt, aber es dauerte nicht lange, bis Hacker damit zu experi mentieren begannen. Das Wachstum der Computernetze ermöglichte eine rasche weltweite Verbreitung, und was zu Beginn ein Spezialis tenhobby war, stellt nun eine internationale Bedrohung für die In formationssysteme und für die globale Wirtschaft dar. Wir leben nun schon seit einigen Jahren mit den ersten dieser selbstreproduktiven Systeme, den Computerviren. Und wir haben schließlich gelernt, un sere Computernetze besser zu sichern und die Hersteller solcher Vi ren mit immer größerer Schärfe zu verfolgen. In jüngster Zeit haben wir auch einige der Probleme erkannt, die sich aus der Existenz selbstreproduktiver biotechnologischer Systeme ergeben. Die kürzlich bekanntgewordene Tatsache, daß modifizierte Maisgene in Mexiko nun auch im natürlichen Mais aufgetaucht sind - trotz Ge setzen, die so etwas unterbinden sollten, und trotz aller Anstrengun gen, es zu verhindern -, ist nur der Anfang dessen, was wir noch zu erwarten haben: Es wird ein langwieriger Prozeß sein, diese neue Technologie unter Kontrolle zu bekommen. Es ist klar, was am Ende geschehen muß: Wir haben gelernt, Hacker ins Gefängnis zu ste cken. Illegal operierende Biotechnologen werden sich ihnen bald hin zugesellen. Und wir dürfen hoffen, daß wir zu dem Zeitpunkt, da tat sächlich die ersten Nanomaschinen hergestellt worden sind, über internationale Kontrollen für selbstreproduktive Technologien verfü gen. Im Augenblick gibt es im Grunde keine Gesetze, die sich mit diesem Gegenstand befassen. Dieser Mangel an Voraussicht erregt die Besorgnis der Fachleute. Der bedeutendste Befürworter der nanotechnologischen Forschung, K. Eric Drexler vom Foresight Institute, hat gesagt: "Es gibt viele Leute - zu denen ich auch zähle -, denen es angesichts der möglichen zu
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künftigen Konsequenzen dieser Technik sehr mulmig wird. Es geht hier um eine Veränderung in so vielen Bereichen, daß das Risiko sehr groß ist, die Gesellschaft könnte wegen mangelnder Vorbereitung vollkommen ungeschickt mit dieser Umwälzung umgehen." Wir wissen, daß diese Maschinen auf uns zukommen. Wir wissen: Es ist unbedingt notwendig, daß wir sie genau kontrollieren. Es ist kei neswegs zu früh, Pläne zu entwerfen, wie wir mit ihnen umgehen werden, was wir an Forschung zulassen wollen und was wir verbie ten. Historisch gesehen, hat die Menschheit fast immer versagt, wenn es darum ging, sich der Risiken einer sich abzeichnenden neu en Technologie bewußt zu werden. In der Regel erlassen wir unsere Gesetze erst dann, wenn die Katastrophen eingetreten sind. Aber im Fall der selbstreproduktiven Maschinen können wir nicht länger war ten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka. Michael Crichtons neuer Roman "Prey" ist soeben in den Vereinigten Staaten erschienen; die deutsche Übersetzung folgt unter dem Titel "Beute" am 2. Dezember im Blessing Verlag. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2002, Nr. 273 / Seite 33
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Ist denn gar nichts mehr heilig? Im Schlafzimmer der Verdinglichung:
Die Liebe der Zukunft wird eine Liebe zu Puppen sein
Von Dietmar Dath
Zufälle, die einen gestandenen Herrn mit der Frau seines Lebens zu sammenführen, sind seit Adam und Eva, denen der Paarungserfolg noch in den Schoß fiel, alles andere als billig. In Chicago kennt man wenigstens ihren Preis: Für circa achttausend Dollar Recherchekosten (Wer ist die Frau überhaupt? Hat sie was auf dem Kerbholz, nimmt sie Drogen, ist sie wahnsinnig, woher kommt sie?) zuzüglich etwa 45 000 Dollar fürs Erstellen eines Dossiers (Was mag sie, was mag sie nicht, wer sind ihre Freunde? - "Am Ende werden wir mehr über sie wissen, als sie selber ahnt.") bis zur finalen Abschlagszahlung von dann nur noch 25 000 Dollar für die ersehnte "Phase III", auch "Durchführung" genannt, ist der Zufall planmäßig herbeiführbar geworden: "Auf der Grundlage der von uns ermittelten Informationen im Dossier suchen wir einen Ort und einen Kontext aus. Sollten Sie sie zuerst auf einer Party in Kalifornien treffen und dann, ganz zufällig, drei Monate später in einem Restaurant in New York? Worüber wollen Sie reden?" Die Abwicklung dieser alles entscheidenden letzten Phase schließt selbstverständlich "operationales Management vor Ort" und "Training für den Klienten" mit ein, damit der nicht alles vermasselt, indem er im entscheidenden Moment auf seine eigenen Füße tritt, Schluckauf bekommt, heikle politische Ansichten vertritt oder streng aus den Oh ren riecht. Alles, was das Unternehmen "Coincidence Design" außer einem schönen Batzen Geld für seine Liebesboten- und Geheimagen tendienste fordert, sind ein paar persönliche Daten des liebeskranken Hündchens in Menschengestalt, das sich, treuherzig bis zum Wahnsinn, auf so eine Sache einläßt. Wenn alles gutgeht, hat "Coincidence Design" für den in die Pleite abgestürzten liebestollen Normalverdiener, der sich die teuren Dienste des Unternehmens geleistet hat, schließlich sogar einen Job anzubieten: Wenn man lizensierter Privatdetektiv, ehemali ger Polizist oder einfach ein zwangsneurotischer Kontrollfreak ohne Seele ist, kann man sich bei www.coincidencedesign.com als "Field Agent" bewerben und anderen Menschen zum trauten Glück samt Of fenbarungseid verhelfen. Wer will da noch Kulturpessimist sein?
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Denn es ist, wie die Existenz dieser etwas anderen Partnervermitt lung beweist, sichtlich ganz und gar nicht so, daß die zahllosen emo tional geschädigten, kontaktgehemmten mittelständischen SexualAutisten unserer Großstädte überhaupt nicht mehr imstande wären, von der großen Liebe und dem Erleben des klassischen RomanzenHandlungsbogens vom ersten lockenden Augenaufschlag bis zur langsamen Abblende gemeinsamen Altwerdens zu träumen. Die Fra ge lautet bloß, wie bei fast allem: Woher nehmen und nicht stehlen? Zeit ist Geld, Geld ist knapp, Thailand ist weit, und im Grunde sind wir leider allesamt häßlich, verkorkst, von Ängsten geschüttelt und/oder Figuren von Michel Houellebecq oder Bret Easton Ellis, gna de uns Gott. Also: Her mit den Zufällen, koste es, was es wolle! Trotz dem wie geschildert allzeit verfügbaren gnädigen Eingreifen von Coincidence Design wimmelt das dunkle Reich des Sexus noch immer von allerlei nie ganz auszuschaltenden Unwägbarkeiten, zu mal bei uns evolutionsgeschichtlich reichlich späten Hominiden der ganze hormongesteuerte Unfug ja immer auch noch stark von erlern tem sozialen Rollenverhalten der zwei bis (je nach Zählung) fünf denkbaren Geschlechter überformt ist. Wir sind eben keine schotti schen Hochlandochsen, bei denen die unterschiedliche Form und Größe der Hörner zwischen Männchen und Weibchen schon vor dem ersten Zusammenstoß alles klarstellt. Wer das ewig Nichtbeherrschbare menschlichen Beziehungsterrors unter solchen Bedingungen als allzu abgründig empfindet, der wird daher auch um die Zufallsingenieure einen Bogen machen und sich lieber der Hilfe einer anderen Firma bedienen: Bei "Real Doll" in San Marcos, Kalifornien, kann man mit allen erforderlichen anatomischen "materiellen Dispositiven" (Foucault) ausgestattete Puppen kaufen, die mit ihren traurigen Vorgängern, den aufblasbaren Damen aus Großvaters Besenkammer, nur noch das Puppenhafte gemeinsam haben und sonst gar nichts. Die "Real Dolls" aus Urethanschaum und Vinylplastik, die es zunächst nur in weiblicher Ausführung gab, denen inzwischen aber auch ein Gummi-Adam zur Seite steht, sind lebens groß, elastisch ("das Fleisch kann bis zu 300 Prozent in die Länge gezogen werden"), hitzebeständig (bis 300 Grad Fahrenheit), was serabweisend, halten ewig (Silikon schrumpelt nicht), "anatomisch korrekt" (wenn auch nicht politisch), lebensecht, flexibel (Gliedma ßen mit künstlichen, nicht sichtbaren stählernen Gelenken sorgen für viel Spaß beim Arrangieren von gewagten Posen), bequem, sexy und
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vor allem - der Gipfel der Lobpreisung im Prospekt - "Relaxing and Comforting", also "entspannend und tröstlich". Männer können sich zwischen fünf "Körpertypen" entscheiden, Ge wicht, Brustumfang, Frisur, Hüften, Kleidergröße, Schuhgröße, Haut farbe, Augenfarbe, Lippenstift, Eyeliner, Nagellack, Schamhaarfarbe und in Zukunft wahrscheinlich auch noch Musikgeschmack und religi öse Einstellung der formbaren Gefährtin bestimmen und blättern dann runde sechstausend Dollar für das fertige Produkt hin - mit Blick aufs "Tröstliche" an diesem Produkt scheint das nicht einmal zuviel verlangt. Soweit die Ergebnisse dieser faustischen Geschäfte öffentlich zu gänglich sind - es gibt inzwischen Fanzeitschriften, Besitzerwebsites und eine regelrechte "Szene"; aber warum auch nicht, Waffen- und Kampfhundbesitzerclubs gibt es ja auch - stiftet die "Real Doll" rund um zufriedene Herzen, häusliche Ruhe und sozialen Frieden. Wie es drinnen, in der Hausgemeinschaft von Mensch und Puppe, wirklich aussieht, geht ja niemanden etwas an, oder wie eine Freundin von George Bernard Shaw treffend in anderem Zusammenhang bemerkt hat: Solange sie es nicht auf der Straße machen und die Pferde er schrecken, soll's uns recht sein. Alles, was in der "Coincidence Design"- und "Real Doll"-Welt zur Verwirklichung der bitterbösen vor sechs Jahren erschienenen Satire "Feenland" des Science-fiction-Autors Paul J. McAuley, in der geklon te, aber intellektuell anspruchslose Sexsklavinnen und -sklaven, die nebenbei auch noch ein bißchen Hausarbeit verrichten können, noch fehlt, ist die "Interaktivität", die in der Beziehung zur Puppe oder beim perfektionistisch arrangierten Zufall ein wenig kurz kommt. Bevor nun aber jemand glaubt, dieses letzte bescheidene Defizit ga rantiere denn doch so etwas wie ein verläßliches Zurückbleiben der totalen marktförmigen Verfügbarkeit von Triebventilen aller Art hin ter dem, was unsere Körper und Seelen wirklich wollen, muß dem Optimismus, der darin hinsichtlich einer ewigen, halbwegs anständi gen und auf irgendwie Soziales gerichteten Menschennatur auf scheint, leider widersprochen werden. Denn jenseits von Sextourismus, Swinger-Club-Wahlverwandtschaften, Intimitätsfahrplänen und Urethanschaumgeburten mehren sich die Zeichen, daß nicht nur die Wirtschaft lieber drei neue Netzwerke in
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der Verwaltung installiert, als einen einzigen neuen unzuverlässigen Mitarbeiter einzustellen, sondern auch der Sex allmählich in die Ap parate rutscht. Zumal er ja nach einem weisen Wort des Feminismus im privateigentümlichen Patriarchat ohnehin dazu tendiert, eine Form von Arbeit zu sein. Merkwürdigstes Symptom dafür ist die stete Vermehrung von "DingPornographie" im Internet. Wo noch vor wenigen Jahren abscheuli che Kindesmißbrauchs- und Tierporno-Angebote das Auge beleidig ten, findet man jetzt Sexbilder und -videos mit Barbiepuppen oder sogar Lego-Figuren, die auf unheimliche Weise an die "Perky-PatSzenarios" erinnern, die sich der große amerikanische Paranoiker Philip K. Dick in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erst für eine Kurzgeschichte und später für den Roman "Die drei Stigmata des Palmer Eldritch" (1964) ausgedacht hat. Die Menschen in diesen Fiktionen spielen mit Puppen in sogenannten "Layouts", künstlichen Szenarien (designten Zufällen also, würde man heute sagen), die meist um Romantisches, Sexuelles oder anderweitig Frei zeithaftes kreisen. Mit Hilfe von Drogen und Technologien gelingt es den Perky-Pat-Abhängigen sogar, sich "in die Puppen hineinzuverset zen", bis sie selbst glauben, sie wären welche - eine Form der Selbstentäußerung, die perfiderweise den alten Vorzug des Liebeser lebnisses, daß man dabei "außer sich geraten kann" von der Meta pher zur Fetischisierung übetreibt und deshalb schon mal den einen oder andern "bitterlich angewidert" zurückläßt, was nicht heißen muß, daß danach auf weitere "Kicks" dieser Art verzichtet wird. Dicks Extrapolation beruht auf der Einsicht eines tieferen Zusammenhangs von Persönlichkeitszerfall, Gebrauchswertzerstörung und Infantilis mus, die dem Dichter sozusagen instinktiv zuflog - er vermaß die Köpfe der Barbiepuppen seiner Töchter und fand, sie seien "für diese Körper viel zu klein". Dicks Albträume sind Wirklichkeit geworden. Der virtuelle Menschen handel der Gegenwart ist auch ein Handel mit exakt konstruierten Abbildern des Menschlichen geworden, die in nachmodernen "PerkyPat-Layouts" interagieren. Eine ganze Gesellschaft verfällt langsam der Attraktion des starren, bei aller Elastizität und Viskosität verwen deter Kunststoffmaterialien undurchdringlichen Nichtlebendigen. Das Endstadium aber heißt nicht, wie Warner vor der Unzucht seit bibli schen Tagen befürchten, Weibergemeinschaft und promiskes Tohu wabohu, sondern sozialisierte Nekrophilie. Im Serienmörder-Krimi
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"Der Vogelmann" der britischen Autorin Mo Hayder aus dem Jahr 2000 läßt ein Mann, der nur tote Frauen lieben kann, lebende Prosti tuierte ermorden. Sein Handlanger, ein Psychopath, der noch schwe rer gestört ist als sein Auftraggeber, erträgt die toten Körper nicht und sperrt deshalb kleine Vögel in den zerstörten Brustkorb seiner Opfer. Das Flattern der Tiere simuliert ein lebendiges Herz; aber ir gendwann hört auch das auf zu schlagen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2001, Nr. 298 / Seite 50
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Das Modell Urmensch Vom Überleben des Flüchtigsten: volutionäre Psychologie und Memetik erforschen die Menschennatur im Zeitalter ihrer technischen Neuerfindung Von Richard Kämmerlings Jede Epoche hat ihre Urszene, einen Schauplatz, auf dem sich Zeitge nossenschaft in einem paradigmatischen Schnappschuß verdichtet. In den fünfziger Jahren war dieser Ort das Wohnzimmer, dessen Zent rum der Schallplattenspieler oder das Fernsehgerät als sichtbare In signien des Wirtschaftswunders bildeten. Irgendwann in den Sechzi gern stolperte der Weltgeist zu Fuß in die emblematische Szene der Demonstration. Ob Zuschauer oder Mitmarschierer, Gegenmacht oder Systemverteidiger: Der die Ideologien jeder Couleur unterlaufende gemeinsame Nenner war die individuelle Freiheit zur Wahl seines Standpunkts und seiner Lebensform. Mit dem Abklingen des emanzi patorischen Aufbruchs führte der Szenenwechsel in das Großraumbüro als Sinnbild sozialer Zwänge und ökonomischer Verteilungskämpfe. Der Unterschied wird sichtbar im Vergleich mit jenem Raum, der in den neunziger Jahren beliebtester Aufenthaltsort des Zeitgeistes wurde: dem Club. Das Individuum bewegt sich heute im sozialen Fluidum als eine auf seine Triebnatur zurückgestutzte Sozialmonade, als ein gesättigtes, bindungsunfähiges organisches Makromolekül; eine Basis ohne Überbau, aber mit Unterleib. Politisches Denken spielt dort keine Rolle, wo das Individuum der Wünschelrute seiner Triebnatur folgt und die einzige Option die sexuelle Zuchtwahl ist. Zu dieser Empirie, die, wenn auch keine der alltäglichen Wirklichkeit, so doch das am weitesten verbreitete Phantasma von Modernität ist, liefern die biologischen Wissenschaften die Theorie, indem sie den Menschen zurück in ein Panorama des täglichen Überlebenskampfes stellen: in die Savannen der Urzeit, wo sich in Hunderttausenden von Jahren jene psychischen Grunddispositionen entwickelt haben, die das Verhalten auch des hochzivilisierten Homo sapiens noch steuern. Spei chermedium dieser Grundausstattung sind die Gene (die wir zu acht undneunzig Prozent mit unserem nächsten tierischen Verwandten, dem Schimpansen, teilen), ihr bevorzugter Erscheinungsort ist das Paarungs verhalten, das stets auf die Selektion der Erbanlagen durchschlägt.
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In der Anthropologie vollzieht sich eine Rückkehr naturalistischer Konzepte. Nach den vielgescholtenen Einseitigkeiten der Soziobiolo gie, die mit den Arbeiten Edward O. Wilsons in den siebziger Jahren einen Höhepunkt erreichte, buchstabiert heute die evolutionäre Psy chologie die menschliche Natur neu. Auf die vielen Popularisierungen der Evolutionstheorie hatte Richard Dawkins' 1976 aufgestellte These vom "egoistischen Gen" besonderen Einfluß. Die Erbanlagen selbst wurden hier zur entscheidenden Minimaleinheit des Entwicklungspro zesses, die sich der Lebewesen - und auch der Menschen - lediglich zur eigenen Reproduktion bedienten. Die evolutionäre Psychologie beruht auf der Prämisse, daß es ein Mißverhältnis zwischen dem Tempo der biologischen Evolution und der technischen, sozialen und kulturellen Entwicklung der menschli chen Gattung gibt. Die Gene kommen mit dem Tempo des Fort schritts nicht mehr mit, so daß der Mensch sich gewissermaßen selbst überholt und in seiner natürlichen Ausstattung eine ganze Rei he Fehlanpassungen mit sich herumschleppt (etwa das Begehren nach süßen und fettigen Dingen, die einst Mangelwaren darstellten). Was unter Bedingungen des Pleistozäns einen Selektionsvorteil ver sprach, ragt als Relikt in die Industriegesellschaft hinein: Urmensch und Spätkultur. In ihrem Buch "Die Macht der Meme" zieht Susan Blackmore das von Dawkins nur am Rande eingeführte Konzept des "Mem" und daran anschließende Theorien des Philosophen Daniel Dennett systematisch zur Erklärung der kulturellen Evolution heran. Meme sind replizierba re Informationseinheiten, die auf kultureller Ebene den gleichen evo lutiven Mechanismen unterworfen sind wie die Gene, anders als diese aber nicht an die biologische Fortpflanzung gebunden sind, wiewohl sie sie, so Blackmores These, entscheidend beeinflussen. Es ist inso fern überraschend, daß Blackmore ihren Entwurf vorwiegend am Bei spiel des Paarungsverhaltens veranschaulicht und so den Menschen einmal mehr in jene "Arena" stellt, auf der sich die Männchen ver schiedenster Vogelarten zur Demonstration ihres Federkleids versam meln: Was "für Zebrafinken und Schwalben" gilt, kann bei großstädti schen Nachtschwärmern nicht falsch sein. Empirisch belegte Unter schiede zwischen den Geschlechtern können tatsächlich mit verblüf fender Evidenz auf biologisch begründbare "Interessensunterschiede" bei der sexuellen Auslese zurückgeführt werden. Geschlechtsspezifi sche Differenzen in der Bereitschaft zu sexuellen Beziehungen erklärt
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Blackmore zunächst konventionell-evolutionspsychologisch durch unterschiedliche Verteilung von Vorteilen bei der Fortpflanzung: "Für Männer besteht die naheliegenste Strategie zur maximalen Verbrei tung ihrer Gene einfach darin, sich so oft wie möglich mit wem auch immer zu paaren", während es umgekehrt eine Tatsache sei, "daß eine Frau die Anzahl der Kinder, die sie erfolgreich aufziehen kann, nicht dadurch zu steigern vermag, daß sie sich häufiger oder mit ver schiedenen Männern paart". Die Memetik bringt Blackmore ins Spiel, um auch die Höherentwick lung der menschlichen Kultur, die Entstehung von Sprachfähigkeit und die Ausbildung leistungsfähigerer Gehirne und schließlich auch Ethik oder Religion durch die Mechanismen der Zuchtwahl zu erklä ren: Weil sich Meme als beliebig definierbare Informationseinheiten von der Erfindung eines Werkzeugs über ein Volkslied bis zum philo sophischen System zur eigenen Verbreitung "egoistisch" Menschen heranzüchten, die besser zur Imitation ihrer Artgenossen und so zur Weitergabe geeignet sind, entwickelte sich der Mensch zum Kultur wesen. Anders als es der Volksmund will, hat nicht der dümmste, sondern der imitationsfähigste Bauer die dicksten Kartoffeln. Doch wenn Blackmore nun mimetische Kompetenz als besonders bevorzugte Eigenschaft des Mannes (neben Potenz, Aussehen und anderem) ausmacht, wird die genetische Ausstattung auf einem Umweg wieder eingeführt: Denn was ist die Fähigkeit zur Imitation, zur Herstellung von Werkzeugen und zur Übernahme von klugen I deen anderes als Intelligenz? Man hört gerne, daß nach der MemTheorie Multiplikatoren wie Schriftsteller, Journalisten und Filmstars besonders gute Chancen haben, weil die vorsintflutlichen Teile des Frauenhirns Meinungsbildung und -verbreitung offenbar für überle benswichtig halten, doch dürfte die Überprüfung solcher Aussagen schwierig sein: "Ich vermute, daß Frauen, wenn sich dies testen lie ße, unter ansonsten gleichen Umständen einen guten Memverbreiter einem lediglich reichen Mann vorziehen würden." Freiwillige vor! Blackmores methodisches Konzept greift zu kurz. Dort wo es nicht letztlich um genetische Auslese geht, etwa bei der Entwicklung von Intelligenz und Sprachfähigkeit als allgemeine, formale Voraussetzun gen von Imitationsfähigkeit, kann das Mem alleine als evolutiver Fak tor gar nichts erklären. Natürlich verschaffte das Rad seinen Erfindern einen Vorteil: Doch sind deswegen schon die Menschen nur noch Vehi
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kel der Verbreitung der Atombombe? Das ist so, als würde man den Menschen als Maschine zur Lüftung von Freizeitkleidung ansehen. So ähnlich denkt Blackmore auch: "So wurden Bücher, Telephone und Faxgeräte von den Memen zu ihrer eigenen Reproduktion geschaffen". Begründen will sie diese wie eine Verfremdungstechnik anmutende Sichtweise mit dem Selektionsdruck auf die Information, der in Rich tung besserer Kopiermechanismen wirke. Merkwürdigerweise vergißt sie aber dabei ein grundlegendes Prinzip der Evolution: die Variation, die erst aus einer Vielzahl von Phänotypen einzelnen Überlebensvortei le verschafft. Wäre die Evolution in Richtung auf immer perfektere "fehlerfreie Reproduktion vorangeschritten", hätte sie gar nicht statt gefunden, und wir würden heute noch einander wie ein Einzeller dem anderen gleichen. Spätestens mit der digitalen Speicherung und Wei tergabe von Informationen gibt es keine vom menschlichen Eingreifen unabhängige Variation. Wenn alle Kopien eines Mems identisch sind, hat keines einen evolutiven Vorteil. Oder andersherum: Wären wirklich die Meme die geheimen Agenten der Geschichte, dann wäre es nie zur Erfindung der Schrift oder gar der CD-ROM gekommen. Noch verwirrender sind allerdings Blackmores Überlegungen zu Me men wie Melodien, geflügelten Worten oder literarischen Werken. Eine semiotische Betrachtungsweise würde hier ganz allgemein von Zeichen sprechen, die natürlich auf Reproduktion hin angelegt sind. Allerdings haben Zeichen nur Sinn in bestimmten Zeichensystemen. Es mag eben Kulturen geben, in denen Stäbchen zum Essen keinerlei Verbreitung finden. Sprachliche Meme sind unabhängig von ihrem Gebrauch in einem kulturellen Kontext sinnlos. So bedienen sich nicht Meme der Menschen und ihrer Kultur zur Fortpflanzung, da sie außerhalb von Kultur und unabhängig vom menschlichen Bewußt sein, für das sie etwas bedeuten, gar nicht existieren. Daß es keinen Geist ohne Meme gibt, gilt auch umgekehrt. Die Memetik lehrte so nichts anderes, als was die Anthropologie immer schon wußte: daß der Mensch mit Arnold Gehlen "von Natur aus ein Kulturwesen ist". Die Memetik erscheint so nicht als ultimativer Ausgriff biologistischen Denkens auf die Sphäre des Sozialen, sondern als Schleichweg kultu reller Evolutionstheorien hin zu einer neuen Sonderstellung des Men schen, die außerhalb der Biologie und neuerdings der Robotik und Kybernetik nie jemand bestritten hat. Die Rolle der sexuellen Zuchtwahl und die Selektionsvorteile be stimmter phänotypischer Merkmale zu betonen ist - da sie an die
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Reproduktion rückgebunden bleiben - von höherem Erklärungswert als der Versuch einer Entbiologisierung der Evolutionstheorie. Der Kognitionspsychologe Geoffrey Miller beharrt zu Recht darauf, daß alle Organismen durch das Nadelöhr von Zuchtwahl und Überlebens kampf müssen. Miller arbeitet mit einem konventionellen Konzept evolutionärer Psychologie, deren latenten "Puritanismus" er aller dings überwinden will. Auch er glaubt in "The Mating Mind" mit der Partnerwahl den Universalschlüssel zur menschlichen Kulturentwick lung gefunden zu haben, ohne auf die Krücken einer Memetik zu rückgreifen zu müssen: Aus mehr oder weniger intelligenten Strate gien der Brautwerbung habe sich die menschliche Art zu den Höhen von Kunst und Kultur vorgearbeitet. Die Musik der Beatles oder der Backstreet Boys hat sich demnach wie alle anderen zivilisatorischen Höchstleistungen herausgemendelt, weil mit kreativer Leistung Se xualpartner zu beeindrucken waren: der Homo sapiens auf Millenniums-Tournee. Sein Konzept könnte man das Groupie-Theorem nen nen, klänge das nicht zu despektierlich. Denn Millers brillant erzählte Geschichte von der Entstehung der Kultur aus dem Balzverhalten hat einen überraschend hohen Erklärungswert. Indem er mit erzähleri schen Mitteln - und zugegebenermaßen auch viel Phantasie - die Le bensumstände unserer Ahnen darstellt, kann er Phänomene moder ner Zivilisation plausibel machen Das beginnt beim Sport als rituali siertem Rivalenkampf und endet bei Moralvorschriften und der Bega bung des Menschen mit Mitleid, Hilfsbereitschaft und Güte. Das ist alles weit entfernt von einem "genetischen Determinismus", gegen den sich auch ein Richard Dawkins stets verwahrt hat. Wenn solchen Theorien im kulturwissenschaftlichen juste milieu der Wind eiskalt ins Gesicht bläst, so liegt das an ihrem Einspruch gegen einen radikalen Kulturalismus, der den Menschen als eine kontextuell be liebig formbare Materie denkt. Ihnen droht der Verlust ihres anthro pologischen Deutungsmonopols, woraus sich der hysterische Tonfall der Polemik erklärt, der etwa einen neuen, von Hilary und Steven Rose herausgegebenen Sammelband mit Stimmen prominenter Kriti ker der Evolutionspsychologie durchzieht. Das Buch des Zoologen und Wissenschaftshistorikers Thomas P. We ber über "Darwin und die Anstifter" hebt sich durch seine Ausgewo genheit wohltuend davon ab. Ein Kapitel dieser kenntnisreichen Ar chäologie des Darwinismus ist der Evolutionspsychologie gewidmet, und dort wird etwa das schöne Beispiel vom viktorianischen Reve
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rend F. O. Morris erzählt, der in seinem Buch "The History of British Birds" von 1856 seiner Gemeinde die Heckenbraunelle als leuchten des Beispiel eines ganz der Monogamie hingegebenen Lebewesens präsentierte. Neuere Forschungen haben das in Wahrheit reichlich experimentelle Paarungsverhalten des Singvogels untersucht und je nach Umweltbedingungen verschiedene Konstellationen von bis zu zwei Männchen mit drei Weibchen beobachtet, so daß auch die Kommune I den Vogel zu ihrem Totemtier hätte küren können. Doch auch Weber ist nicht davor gefeit, in seiner berechtigten Kritik an einzelnen Ergebnissen der evolutionären Psychologie gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten: "Die ,Natur des Menschen' ist ein Phantom, das damit auch keine ethischen oder naturrechtlichen Sys teme unterstützen kann." In der ethnologischen Traditionslinie, die von Franz Boas über Margaret Mead bis zu heutigen Theorien des Multikulturalismus läuft, findet er bereits die berechtigten Einwände gegen ein evolutionäres Modell menschlicher Kulturentwicklung. Eine Anthropologie nach dem Modell des viktorianischen Evolutionismus ist aber eine künstliche Drohkulisse. Eine Einbeziehung der biologi schen Basis menschlicher Kultur könnte gerade auch Argumente ge gen die Diskriminierung sogenannter primitiver Kulturen liefern: Jede Kultur ist gewissermaßen unmittelbar zu Gott, insofern sie den glei chen evolutiven Abstand zum Tierreich einhält, gleichwohl dessen Erbe, wie sehr auch immer organisatorisch und technisch maskiert, in sich trägt. Gehlen hat in seiner anthropologisch fundierten Institu tionentheorie diesen Abstand, der eben nicht unendlich weit, aber auch nicht vernachlässigbar ist, genau vermessen. Gerade angesichts der neuen Herausforderungen durch die Gentechnologie und künstli che Intelligenzen könnte das Festhalten an einer Natur des Menschen ein Bollwerk gegen die völlige Liberalisierung seiner artifiziellen Ver besserung sein. Wenn der Mensch ein reines Produkt seiner Kultur ist, was hindert dann die von Peter Sloterdijk beschworenen Anthro potechniker an seiner Weiterentwicklung? Anthropologie arbeitet nicht per se einer bestimmten politischen Richtung zu. Auch die Soziobiologie oder die evolutionäre Psychologie sind nicht ohne weiteres Waffenbrüder eines totalen Determinismus, der im darwinistischen Rassenwahn enden muß. Umgekehrt stellt gerade die Besinnung auf die biologischen Grundlagen der menschli chen Gesellschaftsfähigkeit eine universalistische Schutzwand gegen segregierende, "multikulturelle" Ideologien da. Zur Menschennatur
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gehört auch seine biologische Ausstattung, sein Aggressionstrieb, seine Vater- und Mutterinstinkte, seine emotionale Verletzlichkeit. Den pauschalen Vorwurf der Rechtfertigung von "unmenschlichem" und gewalttätigem Verhalten kann man der evolutionären Psycholo gie ohnehin nicht machen. Über das universelle Faktum der biologischen Reproduktion des Men schen ist jede Kultur an die Natur zurückgebunden. Gerade daher kommt den technischen Möglichkeiten künstlicher Befruchtung und Klonung so eine Brisanz zu, weil sich hier die Gattung von ihrer bis her unbezweifelbaren biologischen Wurzel loszulösen im Begriff ist. Spielte das anthropologische Fundament jeder Kultur schon längst keine Rolle mehr, wäre die ganze Aufregung um die menschliche Neuerschaffung seiner selbst gar nicht zu verstehen. Worin soll in einer säkularen Gesellschaft noch die Schranke bestehen, wenn nicht in der Zugehörigkeit des Menschen zu einer nicht selbst entworfenen Natur, die ihn der unbegrenzten Manipulierbarkeit entzieht? In jeder Epoche muß der Mensch sein eigenes Verhältnis zur eigenen Animalität neu bestimmen. Es wird nicht damit getan sein, den Men schen als reines Kulturwesen zu definieren, wenn gleichzeitig das individuelle Verhalten auf die Überforderungen des Sozialen mit Reg ression reagiert und die Arenen der Partnerwahl und die Schauplätze offener Gewalt aufsucht. Die jüngsten, recht hilflosen Debatten der neunziger Jahre über die Wiederkehr der Gewalt im Herzen der Zivili sation sind auch Ausdruck eine Überbetonung der kulturellen Formie rung, die von naturhafter Aggressivität eingeholt wird, eine Art Ra che der Gene an ihrer Marginalisierung durch humanistische Idealis men. Es wird die große Herausforderung der nächsten Jahre und viel leicht Jahrzehnte sein, das Verhältnis von Natur und Kultur, Bios und Ethos, Vererbung und Erziehung neu zu bestimmen. Wir stehen im mer wieder neu vor der Frage: "Was ist der Mensch?" Susan Blackmore: "Die Macht der Meme oder die Evolution von Kul tur und Geist". Mit einem Vorwort von Richard Dawkins. Aus dem Englischen übersetzt von Monika Niehaus-Osterloh. Spektrum Aka demischer Verlag, Heidelberg 2000. 414 S., geb., 49,80 DM. Geoffrey Miller: "The Mating Mind". How Sexual Choice Shaped the Evolution of Human Nature. William Heinemann, London 2000. 538 S., geb., 20,- brit. Pfund.
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Hilary Rose, Steven Rose (Hrsg.): "Alas, Poor Darwin". Arguments against Evolutionary Psychology. Harmony Books, New York 2000. 346 S., geb., 25,- Dollar. Thomas P. Weber: "Darwin und die Anstifter". Die neuen Biowissen schaften. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 270 S., geb., 39,80 DM. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2000, Nr. 265 / Seite L13
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Das Credo der Extropier Können uns Hochtechnologie und eine libertäre Politik in ein transhumanes goldenes Zeitalter führen? Von Ben Goertzel Das Nachdenken über die Zukunft der Menschheit erfolgt in Wellen bewegungen. Nach dem Abklingen der Weltraumbegeisterung der sechziger und siebziger Jahre, in denen - von Kubricks "2001" bis zu Raumschiff Enterprise - bis heute wirksame populäre Zukunftsbilder entworfen wurden, zeichnete die Futurologie vorwiegend dystopische Szenarien ökologischer Katastrophen und atomarer Kriege. Die Cyberpunk-Subkultur der achtziger Jahre, die die Technifizierung des Körpers und die Virtualisierung der Erfahrung feierte, blieb stets un ter der Oberfläche öffentlicher Wirksamkeit. Die im folgenden Beitrag des amerikanischen Kognitionsforschers und Internet-Pioniers Ben Goertzel porträtierte Extropier-Bewegung betreibt mit weit größerer Wirkung nichts Geringeres als die Revision der Stellung des Menschen im Kosmos: sei es durch die Verbesserung seiner natürlichen Fertig keiten, die Entwicklung höherer Intelligenzformen durch das Internet oder die KI oder die totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Nach der Marginalisierung politischer Extremismen in der westlichen Welt sind hier radikale Ideen zu besichtigen, mit denen sich Politik und Ge sellschaft im neuen Jahrhundert konfrontiert sehen werden. Nietzsche gab seiner Schrift "Götzendämmerung" den Untertitel "Wie man mit dem Hammer philosophiert". Es ging ihm darum, die morali schen Konventionen und habituellen Denkmuster seiner Kultur zu zertrümmern. Das Credo der Extropier, einer Gruppe transhumanisti scher Futuristen aus Kalifornien, könnte in Anlehnung an Nietzsche lauten: "Wie man mit dem Hammer technologisiert". Diese Gruppe von Computer-Spezialisten und High-Tech-Freaks hat es sich zum Ziel gesetzt, alle nur denkbaren Technologien so schnell wie möglich voranzutreiben: das Internet, die biotechnologische Manipulation des Körpers, die Synthese von Mensch und Computer, Nanotechnologie, genetische Eingriffe, Kryogenik (ein Bereich der Physik, der sich mit den Effekten sehr niedriger Temperaturen befaßt) und vieles andere mehr. Nebenbei wollen die Extropier auf ihrem Kreuzzug auch Regie rungen, moralische Bedenken und später auch die Menschheit selbst
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abschaffen, denn sie haben vor, die Welt in ein hyperökonomisches virtuelles System umzuwandeln, in dem Geld und Technologie eine totale Kontrolle ausüben. Diese utopische Vision klingt märchenhaft: Sie verspricht die ganze Welt zu einem potenzierten sozialdarwinisti schen Silicon Valley im Stil von William Gibsons Science-FictionKlassiker "Neuromancer" zu machen. Der Name "Extropy" wurde eher intuitiv als Gegenstück zum Begriff der Entropie geprägt, und er bezeichnet eher ein philosophisches als ein wissenschaftliches Konzept. Auf der Web-Seite der Extropier (www.extropy.org), der Online-Bibel der Bewegung, wird "Extropy" als eine Metapher definiert, die die Einstellungen und Werte jener beschreibt, "die die menschlichen Grenzen mit der Hilfe von Techno logien überschreiten wollen. Zu diesen Werten gehört der Wunsch, sich durch praktischen Optimismus, der sich auf rationales Denken und intelligente Technologien in einer offenen Gesellschaft verlassen kann, einem unaufhörlichen Fortschritt und einer permanenten Selbstveränderung zu widmen". Der Extropismus ist eine Form von Transhumanismus, der sich der Suche nach der "Fortsetzung und Beschleunigung der Entwicklung intelligenten Lebens jenseits seiner gegenwärtigen menschlichen Formen und Grenzen" verschrieben hat. Diese Mission setzt auf Wissenschaft und Technologie und orientiert sich an "lebensfördernden Prinzipien und Werten", während "Religion und Dogmen" abgelehnt werden. Ein wichtiges Anliegen der Extropier ist es, die menschliche Rasse durch Künstliche Intelligenz und Robo ter zu erneuern; ein weiteres Ziel besteht darin, mit der Hilfe von Gentechnik, neuronalen Computer-Implantaten und Nanotechnologie menschliche Persönlichkeiten in "widerstandsfähigere, modifizierba rere, schnellere und mächtigere Körper und Denkanordnungen" zu verwandeln. Neben dieser technologischen haben die Extropier auch eine politi sche Vision. Laut den Bekenntnissen auf ihrer Web-Seite zeichnen sie sich durch eine Reihe von soziopolitischen Grundsätzen aus: Es geht um die "Förderung von Redefreiheit, Handlungsfreiheit und Experi mentiergeist". "Autoritäre Strukturen" werden abgelehnt, "Rechtmä ßigkeit und die Dezentralisierung von Macht" werden befürwortet. Extropier verhandeln, wo andere kämpfen, und sie wollen Austausch, wo Zwang herrscht. Sie wünschen sich "Offenheit für Verbesserun gen anstelle einer statischen Utopie" und streben nach "unabhängi gem Denken, persönlichem Verantwortungsbewußtsein, Eigeninitiati
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ve, Selbstbewußtsein und Respekt anderen gegenüber". In der ex tropischen Doktrin wird explizit darauf hingewiesen, daß es keine sozialistischen Extropier geben kann, ohne daß auf die verschiedenen Varianten eines demokratischen Sozialismus genauer eingegangen wird. Tatsächlich sind die meisten Extropier von radikal libertärer Gesinnung und plädieren für die vollständige oder fast vollständige Abschaffung einer zentralen Regierung. Dies ist das wirklich Einzigar tige an der Bewegung: In ihr verbindet sich ein radikaler technologi scher Optimismus mit einer libertären politischen Philosophie, so daß man fast von einem libertären Transhumanismus sprechen könnte. Einige Extropier lassen ihre Ideologie extreme Blüten treiben. Zum Beispiel erklärte der Robotiker Hans Moravec, ein Held der Extropier, 1993 die Frage nach sozioökonomischen Implikationen der Roboter technologie für irrelevant: "Es ist sowieso egal, was die Leute ma chen, denn sie werden bald zurückgelassen werden wie die erste Stufe einer Rakete. Unglückliche Existenzen, schreckliche Tode und gescheiterte Projekte sind Bestandteil der Geschichte des Lebens, seitdem es Leben auf der Erde gibt. Was aber auf lange Sicht zählt, ist das, was übrigbleibt." Interessiert es uns wirklich noch, fragt Mo ravec, daß die Dinosaurier ausgestorben sind? In diesem Sinn wird auch das Schicksal der Menschen für die hochintelligenten Roboter der Zukunft völlig uninteressant sein. Die Menschheit, so Moravec, wird als ein gescheitertes Experiment gelten. Aus dieser Perspektive wirkt der Extropismus wie die gefährliche und seltsame Philosophie einer Randgruppe von Technologie-Freaks. Aber Moravec ist nicht der einzige berühmte Name, mit dem die Bewe gung sich schmücken kann: Auch der Guru der Künstlichen Intelli genz, Marvin Minsky, der Nanotechnologe Eric Drexler, Kevin Keller vom Magazin "Wired" und der Zukunftsphilosoph Ray Kurzweil sind mit von der Partie. Der Mann, von dem alles ausging, war Max More. Dieser Pionier der extropischen Bewegung sah, daß die Technologie in der Lage war, den menschlichen Geist in neue Sphären - wie zum Beispiel virtuelle Realitäten - zu katapultieren, in denen man mit den gängigen Kon zepten persönlicher Identität nicht mehr weiterkommen würde. Für More bildete die Regierung den größten Bremsklotz für den technolo gischen Fortschritt, weil sie die Forschung in zentralen Bereichen verlangsamte oder gar verhinderte.
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Will man Max Mores Positionen philosophisch einordnen, so lassen sie sich am ehesten als eine Mischung aus antistaatlichem Individualis mus und Nietzscheschem Transmoralismus bezeichnen, die durch das Interesse für Zukunftstechnologien zusammengehalten wird. More vergleicht den idealen Extropier mit dem Übermenschen Nietz sches. Er schreibt allerdings auch, daß dieser Übermensch "keines wegs die plündernde blonde Bestie ist", sondern sich durch "Güte, exzessive Gesundheit und Selbstvertrauen" auszeichnen wird. Dies klingt zwar beruhigend, ist aber kaum zu vereinbaren mit Moravec' olympisch entrückter Sicht auf die Zerstörung der Menschheit. In diesem Widerspruch liegt sowohl eine zentrale Schwäche als auch zugleich ein Energiezentrum der extropischen Bewegung. Auch wenn Mores Argumente immer äußerst entschieden vorgetra gen werden, so ist doch der Extropismus keine orthodoxe Philoso phie. Es geht ihnen nicht um Konsens, sondern um Fortschritt. Mora vec interessiert sich für Robotik, More dagegen mehr für Lebensver längerung. Eliezer Yudkowsky, einer der jüngeren Extropier, kon zentriert sich dagegen auf die kommende sogenannte "Singularität", auf den Punkt, an dem eine künstliche Intelligenz zum ersten Mal die menschliche Intelligenz überflügeln wird. Yudkowsky glaubt, daß der schnellste Weg in die phantastischen künstlichen Welten der Zukunft über einen Computer führen wird, der klüger als wir ist und all unse re Rätsel lösen kann. Um diesen Computer zu realisieren, hat Yud kowsky vorgeschlagen, eine Form künstlicher Intelligenz zu schaffen, die er "seed AI" nennt, weil sie sich selbst wie Saatgut weiterver mehren soll: Man schreibt zunächst ein einfaches KI-Programm, das lediglich durchschnittlich intelligent ist, aber über die Fähigkeit ver fügt, seinen eigenen Code zu verändern und dadurch immer klüger zu werden. Yudkowsky ist noch mitten in der Arbeit an dieser evolu tionsfähigen Form künstlicher Intelligenz, und seine Resultate sind im Netz zu besichtigen. Wie viele der führenden Extropier begann auch Yudkowsky sein Le ben als begabtes Kind; und wie viele begabte Kinder wurde auch er vom Schulsystem vernachlässigt und von seinen Eltern verkannt. Er hat eine einzigartige psychologische Entwicklung durchgemacht: Mit Beginn der Gymnasialausbildung verfiel er in einen lethargischen Zustand der Energielosigkeit, der ihn noch heute manchmal quält. Seine Eltern versuchten auf verschiedene Weise, ihm zu helfen, aber alle Versuche waren erfolglos. Erst als sie ihn sich selbst überließen,
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gelang es ihm, wieder zu einem produktiven und funktionsfähigen Leben zurückzufinden. Diese Erfahrung, so erzählt Yudkowsky, hat ihn gelehrt, daß gerade wohlmeinende und liebevolle Menschen aus Unkenntnis großen Schaden anrichten können, obwohl sie nur helfen wollen. Für Yudkowsky liegt hier eine Keimzelle seiner libertären poli tischen Philosophie: So wie seine Eltern scheiterten, weil sie sein Leben, wenn auch mit guten Absichten, kontrollieren wollten, so muß auch eine Regierung scheitern, die versucht, das Leben der Bürger zu kontrollieren - und zwar besonders diejenigen, die die Vorhut des technologischen Fortschritts bilden. Zu Yudkowsky, Marvin Minsky und anderen habe ich lediglich intel lektuellen Kontakt gehabt. Der einzige Extropier, mit dem mich eine persönliche Beziehung verbindet, ist Sasha Chislenko, ein visionärer Theoretiker des Cyberspace und ein brillanter Computer-Fachmann. Wie bei vielen anderen russischen Emigranten in den Vereinigten Staaten ist auch bei Chislenko die libertäre Grundhaltung auf die jah relange Unterdrückung durch das sozialistische Regime in der Sow jetunion zurückzuführen. Er hat mit eigenen Augen gesehen, was eine autoritäre Regierung anrichten kann, und dies hat seinen Ver dacht genährt, daß Regierung an sich eine schlechte Sache ist. Chislenko wartet ungeduldig darauf, daß die technologischen Aufrüs tungsmöglichkeiten des Körpers endlich in der Praxis erprobt werden könnten - er ist versessen darauf, endlich zum Cyborg zu werden, sein Hirn direkt ans Netz anzuschließen und seinen Körper und Geist durch leistungsfähigere technische Komponenten zu ersetzen. Ob wohl er bereits "von der Natur" keineswegs schlecht ausgestattet war, konnte er sich einfach synthetische Modelle vorstellen, die bes ser funktionieren würden. Er war ein leidenschaftlicher Verfechter verschiedener sogenannter intelligenter Drogen und war entrüstet darüber, daß irgendeine Regierung sich befugt fühlte, ihm vorzu schreiben, mit welchen Chemikalien er seine Intelligenz zu Höchst leistungen antreiben dürfe. Chislenko arbeitete an Technologien, die es ermöglichen, unsere Funde im Netz zu bewerten und diese Empfehlungen an andere wei terzugeben und mit den Empfehlungen anderer zu verbinden ("active collaborative filtering"). Populäre Netzanbieter wie amazon.com und bn.com nutzen solche Filtersysteme schon längst: Wenn man sich hier einwählt, um ein Buch zu kaufen, erhält man eine Liste von
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empfohlenen Büchern und anderen Produkten, die ebenfalls von In teresse sein könnten. Im Vergleich zu Körperimplantaten und über menschlicher künstlicher Intelligenz muten solche kollaborativen Aus wahlsysteme wie ein vergleichsweise langweiliger Weg in die techno logische Zukunft an. Sie bieten jedoch eine Möglichkeit, die mentale Effizienz auf der Basis von Gegenseitigkeit zu steigern, indem Beur teilungen und Empfehlungen weitergegeben werden. Für Chislenko bildete ein solches Filtersystem eine Art kollektive intelligente Droge für die Menschheit im Netz. Er war der Überzeugung, daß mit der Entwicklung zu einer netzge stützten Hyperökonomie intellektuelle Leistungen endlich angemes sen bezahlt werden würden. Von nun an würde sich der Preis für wis senschaftliche Publikationen an dem Erfolg bei den Lesern der Fach welt messen lassen. Endlich würde Fortschritt nicht mehr von den Verfügungen einer autoritär agierenden Regierung abhängen, son dern durch die Eigeninitiative von Leuten erzielt werden, die sich ge genseitig bewerten und auf der Grundlage ihrer eigenen Urteile be zahlen könnten. Diese "Hyperökonomie" ist ein komplexes System, in dem alle Dienstleistungen durch künstliche Agenten entlohnt wür den und aus diesen alltäglichen Transaktionen kompliziertere finan zielle Operationen erwachsen würden. Als Chislenko Mitte dieses Jahres Selbstmord beging, fragte ich mich, ob es ein Akt philosophischer Verzweiflung gewesen war. Es wäre sicherlich ein Fehler, zu verallgemeinern und aus diesem Beispiel eine Art Psychologie der Extropier abzuleiten. Aber vielleicht kann man trotzdem aus der Rolle, die der Extropismus für jemanden wie Chislenko spielte - seine klar umrissenen Sicherheiten verschafften ihm Erleichterung von den Wirren des Alltagslebens -, auf die allge meinere Funktion des extropischen Glaubenssystems schließen. Die extropische Philosophie versorgt ihre Anhänger mit einem einfachen und optimistischen Weltbild und einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. Wie die meisten Religionen und religionsähnlichen Glaubenssysteme wie der Marxismus umgeht auch der Extropismus die schwierigen Widersprüche unserer Wirklichkeit durch extreme Behauptungen. Natürlich ist der Extropismus ausgesprochen antireligiös, aber oft wird ja gerade eine solche Antireligiosität selbst zu einer Religion: Der Atheist, so hat Dostojewski gesagt, ist nur einen Schritt von dem Gläubigen entfernt.
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Max More hat von Beginn an erkannt, daß moralphilosophische As pekte im Zentrum des Extropismus stehen. Wie Nietzsche haben die Extropier begriffen, daß Moral nicht absolut, sondern eine relative biologische und kulturelle Größe ist. Warum werden weibliche Un treue und Promiskuität stärker verurteilt als die gleichen Verhaltens weisen bei Männern? Diese Ungleichheit findet sich in allen Kulturen; sie liegt in den evolutionären Bedürfnissen unserer selbstsüchtigen Erbsubstanz begründet. Bedenkt man diese offenkundigen Willkür lichkeiten, so erscheint es attraktiv, menschliche Werte einfach zu vernachlässigen und sich allein auf Wissen, Lernen und Macht zu konzentrieren - auf Konzepte, die einfacher als Moral zu definieren sind. Nietzsche konzentrierte sich ganz in diesem Sinne auf die per sönliche Macht, die sich durch geistige Stärke und Selbstdisziplin erreichen läßt. Für die Extropier geht es eher um die Macht, die sich durch technologischen Fortschritt gewinnen läßt. Wie für Nietzsche steht aber auch für die Extropier intellektuelle Brillanz im Vorder grund, und damit verbindet sich eine gleichgültige und gefährliche Haltung all jenen gegenüber, die nicht in der Lage sind, den nächsten Schritt auf dem kosmisch-evolutionären Weg zu gehen. Was ist mein endgültiger Eindruck von den Extropiern? Ich bewunde re den Mut, mit dem sie gegen konventionelle Denkweisen angehen, weil sie erkannt haben, daß der Mensch nicht der Endpunkt der kos mischen Evolution ist, und weil sie vorhersehen, daß viele der mora lischen und rechtlichen Grenzen unserer Gesellschaft durch die tech nologischen und kulturellen Entwicklungen vermutlich verändert, überschritten oder aufgehoben werden. Auch ich bin entrüstet und irritiert, wenn die Regierung uns daran hindert, auf der Grundlage neuer Technologien mit unserem Körper und unserem Denken zu experimentieren - seien diese Technologien nun chemischer, elektro nischer oder anderer Natur. Was mich aber nach wie vor irritiert, ist die extropische Vision von hypertechnologisch versierten ProtoÜbermenschen, die auf die Menschheit als nicht mehr zu rettendes Auslaufmodell herabblicken. Wir sollten die Ideen der Extropier tatsächlich so ernst nehmen, denn sie denken intensiver über die Zukunft nach als viele andere. Die Idee, die diese Gruppe zusammenhält - die Allianz von transhumaner Tech nologie und vereinfachter und gnadenloser libertärer Philosophie -, sollten wir allerdings entschieden bekämpfen.
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Bisher ist der Extropismus noch eine Randerscheinung. Es ist un wahrscheinlich, daß die Kabbala dieser kalifornischen MöchtegernSupermänner unsere Zukunft beherrschen wird. Viele der Freiheiten, die die Extropier anstreben - die rechtliche Freiheit, intelligente Dro gen zu konsumieren und herzustellen und Körper und Gensubstanz durch neue Technologien zu verändern -, werden vermutlich bald gewonnen sein. Ich hoffe aber, daß diese neugewonnene Freiheit nicht einhergehen wird mit Gleichgültigkeit all jenen gegenüber, die sich nicht den neuesten technologischen Schnickschnack und viel leicht nicht einmal gesunde Nahrung für ihre Kinder leisten können. Ich glaube nach wie vor, daß wir Menschen neben unserer Gier und Schwäche auch eine uns eigene Fähigkeit zum Mitgefühl haben, und ich hoffe und erwarte, daß wir diese Fähigkeit ins digitale Zeitalter mitnehmen werden - sogar in ein transhumanes Zeitalter, in dem es den menschlichen Körper in seiner jetzigen Form nicht mehr geben wird. Ich bin gespannt auf eine Cyber-Philosophie jenseits des Extro pismus: auf einen humanistischen Transhumanismus. Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2000, Nr. 260 / Seite 70
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Aus den Ruinen unserer Zeit wächst ein zweiter Kapitalismus Bill Joy fürchtet sich vor klugen Computern, ich aber fürchte mich vor dummer Software - Die neuen Technologien werden eine frühindus trielle Klassengesellschaft erzeugen Von Jaron Lanier Gelegentlich treten wir Informatikspezialisten einen Schritt zurück und wundern uns über den enormen Fortschritt in unserem Sektor. Wir stellen uns dann vor, wo das alles enden könnte. Die Nachdenkli cheren unter uns bekommen es sogar mit der Angst zu tun. Eine Version dieser Angst wurde kürzlich von Bill Joy, dem Chief Scientist von Sun Microsystems, in einer Titelgeschichte der englischen Aus gabe des Internetmagazins "Wired" geäußert. Joys Befürchtungen gehen in eine etwas andere Richtung als meine eigenen. Er akzep tiert die Vorhersagen von Ray Kurzweil und anderen, die der Ansicht sind, dass "Moores Gesetz" - dem zufolge Computer ungefähr alle anderthalb Jahre ihre Geschwindigkeit verdoppeln - vielleicht im Jahr 2020 zu autonomen Maschinen führen wird. Dies wäre der Moment, wenn Computer ebenso leistungsfähig wie menschliche Gehirne geworden sind. (Das soll nicht bedeuten, dass irgendjemand genug versteht, um wirklich Computer mit Gehirnen zu vergleichen. Doch nehmen wir im Folgenden an, dass dieser Leistungsvergleich sinnvoll ist.) Nach diesem Schreckensszenario werden die Computer nicht in ihren Gehäusen verharren. Sie werden wohl eher Robotern ähneln, vollständig miteinander vernetzt sein und eine ganze Reihe von Tricks auf Lager haben. Sie werden einerseits in der Lage sein, nanotechnologische Ferti gungsprozesse auszuführen. Sie werden schnell lernen, sich selbst zu reproduzieren und zu verbessern. Eines Tages werden die neuen Su permaschinen die Menschheit beiseite schieben. Dabei gehen sie wohl ebenso ungerührt zu Werke wie Siedler, die einen Urwald ro den. Oder sie dulden die Menschen weiterhin in ihrer Nähe, werden ihnen aber jenes demütigende Los bescheren, das in dem Film "The Matrix" beschrieben wird. Auch wenn die Maschinen sich dafür entschieden, ihre menschlichen Erzeuger weiterhin zu bewahren, wären böse Menschen fähig, die
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Maschinen in einer Weise zu manipulieren, dass sie uns Schaden zu fügen. Dies ist ein anderes Schreckensszenario, das Bill Joy ebenfalls in Erwägung zieht. Die Biotechnologie wird dann so weit vorange schritten sein, dass Computerprogramme imstande sein werden, das Erbmolekül, die Desoxyribonukleinsäure (DNS), in einer Weise zu manipulieren, als handele es sich um JavaScript-Programmiersprache. Wenn Rechner die Wirkungen von Drogen, genetischen Mo difikationen und andere biologische Wundereffekte berechnen kön nen und die Software dazu nur billig genug ist, dann kann ein Ver rückter beispielsweise eine Epidemie auslösen, die nur eine einzige Rasse attackiert. Joy führt aus, dass die Biotechnologie ohne leis tungsstarke, billige Computerkomponenten nicht potent genug wäre, dieses Szenario herbeizuführen. Es ist also eher die Fähigkeit der Software, mit geringem Aufwand biologische Manipulationen herbei zuführen, welche die Wurzel dieses Schreckensszenarios bildet. Ich bin hier nicht in der Lage, seine Überlegungen detailliert vorzuführen, aber die Grundidee sollte hinreichend deutlich geworden sein. Mein eigenes Schreckensszenario sieht anders aus. Dies liegt vor allem daran, dass Moores Gesetz bislang nicht für Software, sondern nur für Hardware gilt. Ich wünschte, wir wären tatsächlich bereits so weit, dass Software ebenso schnell wie Hardware weiterentwickelt wird. Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit Ende der siebziger Jahre, als Unix das berühmt-berüchtigte Betriebssystem auf dem Campus war. "O Unix, wie ich dich gehasst habe! Teuflischer Akku mulator von Datenmüll, Verdunkler der Funktionen, Feind aller Be nutzer!" Ich war so optimistisch zu glauben, dass Unix bald nur noch ein ferner Albtraum wäre, an den man sich kaum noch erinnerte. Doch nun, da ein neues Jahrhundert und für mich selbst sozusagen das Mittelalter beginnt, ist der letzte Schrei in Sachen Software, der die Studenten beflügelt und die Investmentszene fiebern lässt, ein Betriebssystem namens Linux, hinter dem sich nichts anderes ver birgt als - Unix! Moores Gesetz gilt für die Software bestenfalls in umgekehrter Form: Während die Prozessoren immer schneller und die Datenspeicher immer billiger werden, wird die Software immer langsamer und um ständlicher und verbraucht alle verfügbaren Ressourcen. Ich weiß durchaus, dass ich hier ein wenig ungerecht bin. Wir besitzen heute sicherlich bessere Spracherkennungs- und Übersetzungsprogramme als früher. Wir haben auch gelernt, mit größeren Datenmengen und
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Netzwerken zu arbeiten. Doch in ihren technologischen Kernfunktio nen hat die Software mit der Hardware schlicht und einfach nicht Schritt halten können. Ein großer Absturz von Windows mag unsere einzige Rettung sein, wenn die neu geborene Rasse der Roboter sich einmal anschicken wird, die Menschheit endgültig aufzufressen! Die armen Roboter werden pathetisch innehalten und uns händeringend um einen Neustart bitten, selbst wenn sie wüssten, dass es keinen Sinn hätte. Bereits heute zeichnet sich ab, dass die Biotechnologie-Industrie tur bulenten Jahrzehnten entgegengeht, in denen es kostspieligen Ärger mit dem Computer geben wird. Obgleich Biotechfirmen und For schungslaboratorien inzwischen alle möglichen Arten nützlicher Da tenbasen und Software-Modellpakete entwickelt haben, verharren diese in ihren isolierten Entwicklungsnischen. Alle diese SoftwareProgramme erwarten von der Welt, dass sie sich ihren Standards beugt. Da diese Programme sehr wertvoll sind, wird dies auch ge schehen, doch man kann jetzt bereits absehen, dass große Resour cen einzig dafür aufgewendet werden müssen, Daten von einer in die andere Nische zu übertragen. Es existiert kein riesiges Elektronenge hirn, das mit biologischem Wissen geschaffen wurde. Stattdessen gibt es in der Bioinformatik eine kunterbunte Vielfalt von Daten- und Modellprovinzen. Das Hauptvehikel, mit dem diese bioinformatische Datenübermittlung zu bewerkstelligen sein wird, werden schlaflose Forscherindividuen sein - jedenfalls bis in eine sagenhafte Zukunft, wenn uns die Entwicklung von Software gelungen ist, welche diese Nischen untereinander kompatibel macht. Doch welches langfristige Szenario ergibt sich, wenn die Hardware tatsächlich immer besser wird, die Software aber mittelmäßig bleibt? Das Schöne an zweitklassiger Software sind die vielen Arbeitsplätze, die sie schafft. Wenn Moores Gesetz noch zwei oder drei Jahrzehnte lang gilt, dann werden auf dem Planeten Computer- und Informatik spezialisten nicht nur keinerlei Ruhe mehr haben, sondern die Auf rechterhaltung dieser Aktivitäten wird am Ende die Arbeitskraft sämtlicher Erdenbürger beanspruchen. Ein ganzer Planet voller Help desks, Computer-Feuerwehren und Support-Stations! In einer früheren Kolumne habe ich die These aufgestellt, dass dies großartige Aussichten sind: Es wäre die Verwirklichung des sozialisti schen Traums von der Vollbeschäftigung mit kapitalistischen Mitteln.
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Doch betrachten wir auch die Schattenseite dieser Entwicklung! Zu den verschiedenen Vorgängen, die Informationssysteme effizienter machen, gehört auch der kapitalistische Prozess selbst. Eine fast stö rungsfreie ökonomische Umwelt macht es möglich, dass große Ver mögen nicht erst in Jahrzehnten, sondern bereits in wenigen Mona ten akkumuliert werden. Die Individuen, die von dieser Akkumulation profitieren, haben freilich immer noch dieselbe Lebenserwartung wie früher. Faktisch leben sie sogar noch länger. Wer das Talent hat, reich zu werden, kann heutzutage vor seinem Tod noch viel reicher werden, als es seine ebenso begabten Vorfahren konnten. Hierin liegen zwei Gefahren. Die kleinere, näher liegende besteht darin, dass junge Leute, die nur mit einer außergewöhnlich günstigen ökonomischen Umwelt vertraut sind, emotionale Beschädigungen bereits durch das davontragen können, was für uns eine kurze Rück kehr zur Normalität wäre. Ich frage mich manchmal, ob einige mei ner Studenten, welche die Internet-Ökonomie reich gemacht hat, überhaupt in der Lage wären, ernsthaftere finanzielle Engpässe zu überstehen, ohne in eine Art destruktiver Depression oder Wut zu verfallen. Die größere Gefahr aber besteht darin, dass sich die Schere zwischen den Reichsten und den Übrigen unüberbrückbar weit öffnen kann. Mit anderen Worten: Auch wenn die steigende Flut alle Schiffe anhebt, muss sich der Abstand zwischen ihnen vergrößern, weil die Flut die höheren Schiffe stärker anhebt als die niedrigsten. Und in der Tat haben die Konzentration des Reichtum und die Armut in den Jahren des Internet-Booms zugenommen. Wenn Moores Gesetz tatsächlich die Entwicklung diktiert, dann müs sen wir uns darauf einstellen, dass diese Unterschiede erstaunliche Dimensionen annehmen können. Hier liegt meine Befürchtung ange sichts der neuesten Ergebnisse über die wachsende Schere zwischen den Ultrareichen und den bloß "Bessergestellten". Beim technologi schen Stand von heute sind die Wohlhabenden und die anderen nicht so verschieden. Beide bluten, wenn man sie piekst, um ein klassi sches Beispiel zu nennen. Doch mit den Technologien der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte kann sich das grundlegend ändern. Wird man in fünfzig Jahren die Ultrareichen und die Übrigen noch zur sel ben Spezies zählen?
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Die Möglichkeiten, dass aus beiden Gruppen wesensmäßig verschie dene Spezies werden, sind so offensichtlich und beängstigend, dass ihre Aufzählung fast banal wirken mag. Die Reichen könnten es mit Hilfe der Genetik bewerkstelligen, dass ihre Kinder intelligenter, schöner und lebensfroher werden. Vielleicht können sie sogar die genetische Anlage zu größerer Empathie erhalten: die freilich nur diejenigen Leute beträfe, welche dasselbe enge Eigenschaftsprofil besitzen. Die bloße Feststellung solcher Dinge lässt mich bereits schaudern oder erinnert mich an billigste Science Fiction, und doch ist die Logik dieser Möglichkeit unausweichlich. Betrachten wir zur Verdeutlichung nur eine dieser Möglichkeiten ge nauer. Eines Tages werden die Reichsten unter uns fast unsterblich, das heißt zu virtuellen Göttern im Vergleich zum Rest der Menschheit werden. Das Anhalten der Alterung bei Zellkulturen und verschiede nen Organismen ist in Laboratoriumsversuchen gelungen, wenn auch noch nicht beim Menschen. Lassen wir an dieser Stelle alle Grundfra gen einer Quasi-Unsterblichkeit außer Acht: Ob sie moralisch oder gar wünschbar ist, ob auf der Erde überhaupt noch Platz wäre, wenn auch die Unsterblichen vom Kinderwunsch nicht lassen können, und so weiter. Betrachten wir stattdessen die Frage, was uns die Un sterblichkeit finanziell kosten wird. Die Unsterblichkeit wird meines Erachtens desto billiger, je weiter die Informationstechnologie voran schreitet; sie könnte uns teuer zu stehen kommen, wenn diese Tech nologie so zweitklassig bleibt wie bisher. Ich vermute, dass der Dualismus von Hardware und Software sich auch in der Biotechnologie bemerkbar machen wird. Man kann Bio technologie als den Versuch betrachten, Organismen aus Fleisch und Blut in einen Computer zu verwandeln und die biologischen Prozesse immer umfassender zu steuern, bis eines Tages das Fernziel einer totalen Kontrolle erreicht ist. Die Nanotechnologie verfolgt die glei chen Ziele auf dem Gebiet der Material- und Ingenieurwissenschaf ten. Wenn der Körper und die materielle Welt im Ganzen immer ma nipulierbarer, ja immer computerähnlicher geworden sind, dann wird der ausschlaggebende Faktor am Ende die Qualität der Software sein, die den Prozess der Manipulation steuert. Obgleich es möglich ist, einen Computer so zu programmieren, dass er virtuell jede Ver richtung ausführt, ist dies für einen Computer kein sehr hilfreiches Entwicklungsziel. Es ist leider so: Die Entwicklung von Computern, die bestimmte, komplexere Aufgaben in zuverlässiger, aber modifi
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zierbarer Weise, vor allem aber ohne jeden Absturz oder Sicherheits pannen ausführen können, ist letztlich umöglich. Man kann sich die sem Ziel bestenfalls annähern, und auch das nur zu hohen Kosten. Dasselbe gilt für die Genetik: Theoretisch ist es möglich, durch eine Programmierung der DNS in einem Organismus jede beliebige Modi fikation zu bewirken. Und doch sind die Herbeiführung und gründli che Überprüfung bestimmter Änderungen in der Praxis unendlich schwierig. Dies ist ein Grund, weshalb auch die Evolution nie einen Weg gefunden hat, um sich anders als im Zeitlupentempo zu vollzie hen. Und Ähnliches gilt für die Nanotechnologie: Theoretisch könnte sie mit der Materie alle möglichen Kunststückchen veranstalten; doch irgendwelche besonderen, komplexen Dinge ohne lästige Nebenfol gen hinzubekommen wird ihr wahrscheinlich viel schwerer fallen, als wir bisher glaubten. Alle Zukunftsszenarien, die darauf bauen, dass Bio- und Nanotechnologie in Kürze und auf billige Weise schöne, neue Dinge hervorbringen werden, müssen gleichzeitig postulieren, dass die Computer sich zu halb autonomen, superintelligenten, virtu osen Ingenieuren entwickeln. Doch die Computer sind weit davon entfernt, das zu tun, wenn wir die Software-Fortschritte der letzten fünfzig Jahre als Maßstab für die Entwicklung des nächsten halben Jahrhunderts zugrunde legen. Mit anderen Worten: Schlechte Software wird biologische Durchbrü che wie die Quasi-Unsterblichkeit in der Zukunft nicht billig, sondern teuer machen. Auch wenn alles andere billiger wird, werden auf der informatischen Seite solcher Unternehmungen die Kosten steigen. Erschwingliche Quasi-Unsterblichkeit für jedermann ist eine Forde rung, die sich selbst begrenzt. Es gibt nicht genug Platz, um ein sol ches Abenteuer zu ermöglichen. Oder einfacher ausgedrückt: Wenn die Unsterblichkeit erschwinglich wird, dann werden es auch die schrecklichen biologischen Waffen in Joys Schreckensszenario. Ande rerseits ist eine kostenintensive Quasi-Unsterblichkeit etwas, was die Welt verkraften kann, jedenfalls für einen gewissen Zeitraum, da nur wenige Menschen davon betroffen wären. Möglicherweise wäre dieser Kreis sogar in der Lage, dieses Projekt geheim zu halten. Hier liegt denn auch eine letzte Ironie. Jene Eigenschaften unserer Computer, die uns heute verrückt machen und doch unsere lukrati ven Arbeitsplätze sichern, sind für unsere Spezies auf lange Sicht auch die beste Überlebensgarantie angesichts der extremen Möglich
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keitshorizonte der Technologie. Andererseits sind es dieselben ärgerli chen Qualitäten, die das einundzwanzigste Jahrhundert in ein Ir rentheater verwandeln könnten, für das die Phantasien und die ver zweifelten Träume der Superreichen das Drehbuch geschrieben haben. Aus dem Amerikanischen von Matthias Grässlin. Jaron Lanier gehört zu den einflussreichsten Computertheoretikern Amerikas. Er prägte den Begriff "virtual reality", mit dem heute die künstlichen Welten der Rechner bezeichnet werden. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2000, Nr. 159 / Seite 51
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Golem und Frankenstein Neue Menschen braucht das Land?
Unternehmen Unsterblichkeit Kalifornien in unseren Köpfen:
Wie die Transhumanisten nach dem ewigen Leben suchen
Max More steht jeden Morgen sehr früh auf und trinkt als Start in das tägliche Diätprogramm eine frisch gepreßte, abgemessene Portion Orangensaft. Er geht joggen und hält Vorträge in Computerfirmen. Im Grunde unterscheidet ihn nichts von tausend anderen aktiven und erfolgreichen Menschen, die rund um L.A. wohnen. Außer dem klei nen Unterschied, daß er den Mensch, wie wir ihn heute kennen, für ein auslaufendes Modell hält, das wie ein altes Auto gründlich repa riert gehört. Oder besser: völlig redesignt. Mit Fitneß gibt sich Max More schon lange nicht mehr zufrieden. Sein Ziel ist es, die Grenzen des Körpers mit technischen Mitteln zu erwei tern und zu überschreiten. In welcher Form, ist ihm egal, Hauptsa che, das Leben kann wie ein Kaugummi ausgedehnt werden. Er will unsterblich werden: als Computerprogramm, als genetisch manipu liertes Wesen oder aus dem Gefrierschrank nach hundert Jahren wie der aufgetaut. Max More gilt als Vordenker einer Bewegung, die sich "Extropy" nennt und deren Traum so alt ist wie die Menschheit selbst: das ewi ge Leben. Aber anstatt auf das Jenseits zu hoffen, glauben die Extro pianer, ganz rational, an den technischen Fortschritt, wie andere an ein höheres Wesen, das schon alles richten wird. Statt Transzendenz suchen sie nach dem "Transhumanen": einen biologisch und digital perfektionierten Menschen. Ein Chip im Hirn "In Zukunft", sagt Max More, der selbst so künstlich aussieht, als habe er sein gemeißeltes Gesicht aus einer Biomasse programmieren lassen, "werden wir altersschwache Teile des Körpers mit selbstge züchteten Organen auswechseln. Ein Chip im Hirn wird unsere Emo tionen regulieren. Unsere Muskeln werden durch sich selbst reprodu zierende Nanofasern gestärkt." Der Mensch werde immer mehr mit der Technik, die er selbst erfunden hat, verschmelzen, bis man nicht mehr vom Menschen im herkömmlichen Sinn sprechen könne. "Aber
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denken Sie nicht an einen Cyborg wie Data in ,Star-Trek'", sagt er, das sei veralterte Science-fiction, genauso wie diese ewige Schwarz malerei in Hollywoodfilmen wie "Terminator" oder "Bladerunner". Max More ist mit diesen Ideen nicht allein. Die transhumanistische Gemeinde breitet sich aus, als gäbe es eine weltweite Kettenreakti on. Denn die meisten Transhumanisten sind Naturwissenschaftler, die selbst daran arbeiten, daß ihre verwegenen Vorstellungen ir gendwann Wirklichkeit werden könnten. So befruchten sich Vision und die Arbeit im Versuchslabor gegenseitig. Wie ein bisher fehlender gedanklicher Überbau passen Mores Visionen perfekt zur momenta nen Technikeuphorie. Und zu einem Technologie-Kult, der nicht nur in Silicon Valley gedeiht, sondern auch in deutschen Bio-TechZentren und Hochschulen. Als More 1989 erstmals die Prinzipien der Extropy in einem Pamphlet für eine kleine Gruppe niederschrieb, die sich damals noch auf einen überschaubaren Kreis beschränkte, hätte er wohl selbst nicht gedacht, daß seine Ideen irgendwann auch in einem Münchner Wirtshaus besprochen werden. Es ist kalt an diesem Dienstagabend am Marienplatz, doch hier, in der holzgetäfelten Gaststätte "Hofer" scheint das keine Rolle mehr zu spielen. Eine transhumanistische Versammlung aus Programmierern und Naturwissenschaftlern hat sich eingefunden, um sich an der Zu kunft und dem Stand der Technik zu erwärmen. Wie andere Fußball oder Politik erörtern, geht es hier um Fragen wie: Ist das Universum digital oder analog? Kann man das Wetter simulieren? Und wer weiß, ob der Mensch selbst eine Simulation ist? Im Gegensatz zu den hoch fliegenden extropischen Theorien, die in Kalifornien populär sind, wird hier zwar futuristisch, aber auch realistisch diskutiert über Spei cherkapazität und Dinge, die man wahrscheinlich nur versteht, wenn man die neueste Programmiersprache spricht. Einer erklärt gerade, daß es nur eine Frage der Zeit und Computer kraft sei, bis es künstliche Intelligenz gebe, die so gut sprechen und sich orientieren könne in der Welt wie der Computer "Deep Blue" heute bereits Schach spiele. Ein anderer, der von seinem Äußeren her auch in einer Brit-Pop-Band mitspielen könnte, schüttelt den Kopf: "Das ist diese Old-School-Haltung der Ingenieure, die glauben, man könne alles programmieren." Vielleicht sei der Mensch ja selbst so begrenzt, sagt dann ein junger Programmierer, dessen Haare jetzt, nachdem er sich mehrfach den Kopf gerauft hat, wie elektri
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siert zu Berge stehen, daß er immer nur begrenzte Maschinen bauen wird. Vielleicht haben die Menschen ja auch eine heimlich Freude daran, Roboter dumm zu halten, damit sie sich selbst schlauer vor kommen. Wahrscheinlich könne nur eine Maschine, die wiederum eine intelligentere Maschine (und so weiter) entwirft, künstliche In telligenz entwickeln. Und, darauf einigt man sich, der wirkliche Durchbruch wäre ein System, das analog, Molekül für Molekül selbst wächst, bis daraus, zum Beispiel, ein Mensch werde. Der Transhumanismus in Deutschland ist noch sehr jung. In Emails hatten einige begonnen, ihre tägliche Arbeit im Labor oder am Com puter weiterzudenken, Vorstellungen zu entwickeln, die über den Rand des Reagenzglases reichen, die sonst nur Schriftstellern oder Geisteswissenschaftlern vorbehalten waren. Vor kurzem erst gründe te man einen gemeinnützigen Verein, um Informationen auszutau schen, Kontakte herzustellen und die Zukunft herbeizureden. Und während in Amerika diese Bewegung exponential zur technischen Entwicklung zunimmt, hat man hierzulande noch Vorbehalte, in eine Science-fiction-Ecke gestellt zu werden. Doch glauben auch die zwi schen München, Berlin und Hamburg verstreuten Transhumanisten, daß die Fusion der verschiedenen, noch nicht realisierbaren Ansätze in Gentechnik, Nanotechnologie, Computerprogrammierung den Menschen verändern werden. Wie die Alchimisten träumen sie von der Unsterblichkeit, die nicht als Formel in einem hohlen Zahn steckt, sondern irgendwo, in der menschlichen Stammzelle selbst eingeschrieben ist. Wenn die Bio technologie noch nicht so weit sei, dann könne man vielleicht doch als Computerprogramm weiterleben, meint der Berliner Chemiestu dent Gernot Faulseit, eines der Gründungsmitglieder der deutschen Transhumanisten. "Warum nicht das eigene Gehirn einscannen und so der Ewigkeit übergeben?" Und sollte es einen Computerabsturz geben, dann wird einfach eine Sicherungskopie geladen. Die Vorstel lung dieser Hirnkopie nennt er "Mind Upload". Aber würde die Siche rungskopie sich an das Orginal erinnern, das gerade noch ganz menschlich vor einem sitzt und Suppe ißt? "Würde es überhaupt Sinn machen, daß die Kopie vom Original weiß?" Im Grunde geht es doch nur darum, sagt er, daß man, in welcher Form auch immer, den Moment miterlebt, den man mathematisch Singularität nennt. Jener Augenblick, in dem alle Technologien, die
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sich immer schneller entwickeln, nicht wie eine Kurve gegen unend lich gehen, sondern plötzlich Realität werden. Aber wann das sein wird, in zwanzig, dreißig oder hundert Jahren, kann niemand sagen. Es wäre auf jeden Fall fatal, sagt er, wenn man diesen Moment ver passen würde, weil man kurz zuvor stirbt. Formschöne Implantate Die Zukunftsvisionen eines Max More sind schon einen Schritt weiter. Er erzählt von der Extropie so vernünftig und ruhig, als wäre es der Bauplan eines Motors. Und wie der Name seines Instituts zur Vorbe reitung auf ein Leben in der hochtechnisierten Zukunft - "Extropy" im Gegensatz zur Entropie und dem Gesetz der Thermodynamik, schon sagen will: Es gibt keinen Stillstand der Teile, die an einem dynamischen Prozeß beteiligt sind. Selbst wenn die Forschung, vor allem die der Nanotechnologie, wie More sagt, Gefahren birgt, dann werden die sich schon wie in einer mathematischen Gleichung lösen lassen. In Kalifornien bekennen sich immer mehr renommierte Wissenschaft ler und Ingenieure zum Transhumanismus. Der MIT-Professor Marvin Minsky und der Computertheoretiker Ray Kurzweil, der das Buch "The Age of Spiritual Machines" schrieb, sind neben Max More und seiner Frau die entscheidenden Köpfe dieser selbstdefinierten TechnikAvantgarde. Man trifft sich aber nicht in Cafés oder Bars, sondern tauscht im Internet oder über die Mailingliste des "Extropy"-Instituts neueste Erkenntnisse über künstliche Gehirne, intelligente Biostoffe oder Nano-Maschinen aus. Was natürlich schon Teil eines Projektes ist, in dem der menschliche Körper als unzulängliche Begrenzung gilt. Das Konzept der Extropie setzt sich aus einer wilden Theoriemixtur zusammen: aus Siebziger-Jahre-Selbstfindung und Weltraumträu men, einer Bodybuilding-Kultur der Achtziger, neobiologischem Op timismus der späten Neunziger, wirtschaftlichem Liberalismus, Indi vidualismus, Nietzsche, Marshall McLuhan und einer Portion Pop, die Superhelden-Comics entsprungen sein könnte. "Es ist mehr eine Hal tung als eine Theorie, mehr ein Lebensstil als ein Religionsersatz", sagt Max More. Denn in dem "Extropy"-Institut arbeitet man an ei nem futuristischen Lebensentwurf "in Harmonie mit der Technik" für all diejenigen, die schon mehr gesehen haben unter dem Rastertun nelmikroskop als andere Menschen. Nämlich die Zukunft.
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Max More und Natasha Vita-More verkörpern den Pop, der dem sonst so trockenen Nährboden der Naturwissenschaften oft fehlte. Und die Mischung aus Glamour mit Gentechnik ist genau das, was vielleicht manch ein Wissenschaftler angesichts der sterilen Petrischale ver mißte. "Im Grunde wollen wir die Menschen auf ein Leben vorberei ten, das von technischen Innovationen bestimmt sein wird, die sich heute schon herauskristallisieren", sagt Max More, denn "praktischer Optimismus" gehöre eben zum Dasein eines Extropianers. So schwärmt er vom Handy als einem der ersten Signale einer voranschreitenden technischen Körpererweiterung, die auch modische Aspekte haben kann. Von formschönen Prothesen und Implantaten. Im Moment wird Max Mores Wörterbuch für die extropische Zukunft neu aufgelegt, das Begriffe wie smart-faced, cryocrastination oder upload klärt. Deanimation ist zum Beispiel nur ein anderes Wort für Sterben. Während Max More an Sprache und Theorie arbeitet, ver sucht Natasha Vita-More die Ästhetik einer transhumanistischen Zu kunft zu verkörpern. Ihr Buch "Create/Recreate. The 3rd Millennial Culture" ist ein Kunstmanifest, geschrieben, wie sie meint, für eine "Post-Jeans-, Post-Genes-Generation". Der Mensch als X-Men Die Künstlerin, Bodybuilderin und überzeugte Extropianerin will ihren eigenen Körper zum Kunstwerk machen - was sie durch tägliches, ra dikales Training schon fast geschafft hat. Wenn der Körper nicht mehr von Kleidung wie etwa der Jeans oder biologischen Faktoren wie den Genen bestimmt und geprägt werde, so Vita-More, dann wird er selbst zu einem "Fashion-Statement". Sie hat schon einige Veränderungen im Sinn: Körperimplantante, die sich wie Plastelin formen lassen. Oder "polymere skin", eine Haut, die sich je nach Stimmung verändern soll te. Für eine Party würde sie dann einen eklektischen Look wählen, sagt Vita-More, als stünde sie schon heute vor einem Kleiderschrank, in dem keine Hosen oder Jacken, sondern Implantate hängen: Eine schimmernde Bronzehaut, ein im Körper eingebautes Soundsystem, das die Musik verändern kann, ein Gefühlsprogramm, das sie vor schlechtgelaunten Leuten warnt, und ein parabolisches Gehör, um die Gespräche am anderen Ende des Raums zu belauschen. Solange das "Bodymorphing" noch pure Theorie ist, hilft aber nur Body-Building. Und strenge Diät. Entwickelt von dem Transhuma
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nisten und Institutsmitglied Dr. Roy Walfords. Einem Mann, der ein Gesicht wie eine getrocknete Zwetschge hat und Bestseller schrieb wie: "The Anti-Aging Plan", die Diät, die von sich verspricht, eine "beyond the 120 year diet" zu sein. Manchmal wirkt die Idee der Extropie wie eine parodistische Über treibung des amerikanischen Traums: "Wir werden uns aussuchen können", sagt Max More, "wer wir sind, was wir werden, wie wir aus sehen, was wir fühlen. Wir werden die Welt formen samt uns selbst." Und so wundert es auch nicht, daß Max More nicht immer der war, der er heute ist. Er wuchs in England auf und verließ die alte Welt, um sich jenseits des Atlantiks, im sonnigen Kalifornien neu zu erfin den. Als Max More noch ganz klein war, hieß er noch Max O'Connor. "Ich war fünf, als die Mondlandung mein Leben veränderte." In seinem Kinderzimmer träumte er davon, auf einen anderen Planeten auszu wandern. Max malte sich Raketenschuhe wie die Comic-Helden sie trugen, etwa die "X-Men", die alle hypernormale Fähigkeiten hatten. Als Teenager beschäftigte er sich "mit allen möglichen religiösen I deen", wie er erzählt, und davon blieb nur eine: der Glaube an die Technik und deren Möglichkeit, das Leben zu verlängern. Als Max seinen Abschluß in Philosophie in Oxford machte, dachte er schon darüber nach, sich einfrieren zu lassen. An der Los Angeles Universi ty, er schrieb gerade seine Doktorarbeit, kam er das erste Mal mit transhumanistischen Ideen in Kontakt, die inspiriert von dem Science-fiction-Autor FM-2030 die Runde machten. So wurde er zu Max More. So sehr sich Max More heute auf die Zukunft freut, so sehr be schleicht auch ihn manchmal die Angst, er könnte sie nicht mehr er leben. "Manche Leute glauben, daß wir uns zu Tode langweilen wür den, wären wir unsterblich", sagt er. Andere hätten wilde Ideen ent wickelt, daß der Tod für Unsterbliche ein Luxus werden könnte, den sie sich dann wiederum als Simulation eines "Cyberdeath", sozusa gen als Freizeitbeschäftigung, leisten würden. Vielleicht wäre man aber auch einfach todunglücklich. Doch für Max More gibt es nur Vorteile: "Wir hätten die Weisheit ei nes alten Menschen und zugleich die Kraft der Jugend." Wie die meisten Transhumanisten überlegt er sich deshalb schon jetzt, ob er
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sich später nicht bei einem kryonischen Institut einfrieren lassen soll te. Natürlich gebe es keine Garantie, daß man wieder aufgetaut wer de. Und auch die Technik, die auf einem Frostschutzmittel, nicht un ähnlich dem für den Motor eines Autos, basiert, wirke noch nicht ganz ausgereift. "Aber das ist immer noch besser, als begraben oder verbrannt zu werden", sagt Max More. Und: "Sterben ist wirklich eine lausige Sache." SABINE MAGERL Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.01.2002, Nr. 3 / Seite 24
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Raus aus dem öligen Körper Die technische Veränderung des Menschen verformt auch den Subjektbegriff Von Gregory Benford Unser Körper ist für uns eine Gegebenheit, die unser Denken meist unbewußt prägt. Wir haben eine Mutter und einen Vater und können uns nur zusammen mit einem anderen Menschen fortpflanzen. Wir müssen andere Lebewesen essen und sie daher auch pflegen. Wir müssen ein bestimmtes Gasgemisch atmen und leben alle im selben engen Temperaturbereich. Wir müssen schlafen. Wir sterben nach weniger als hundert Jahren. Wir besitzen im wesentlichen dieselben körperlichen und geistigen Fähigkeiten, oder zumindest bewegen sie sich in einem vertrauten Bereich. Bestimmte Stoffe sind tödlich für uns und so weiter. Diese Gemeinsamkeiten begründen eine äußerst tiefgehende Verwandtschaft mit anderen Menschen und in geringe rem Grade auch mit anderen Tieren. Die deutsche Theologin Anne Först arbeitet am Artificial Intelligence Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit Wis senschaftlern zusammen, die zwei Roboter mit menschenähnlichen Merkmalen bauen: Cog, einen humanoiden Torso mit Armen und einem Kopf, sowie Kismet, einen Gesichtsroboter. Man könnte sie eine Robotertheologin nennen. Sie ist der Ansicht, daß die menschli che Intelligenz eng mit dem Körpergefühl verbunden ist. Sie sagt: "Wenn eine Maschine wirklich intelligent sein soll, muß sie einen Körper haben. Wir glauben, Intelligenz läßt sich nicht vom Körper lösen. Der Körper, die Art, wie er sich bewegt, wie er wächst, Nahrung verdaut, altert - all das hat Einfluß auf das Denken. Darum haben wir Cog und Kismet mit menschlichen Zügen ausgestattet. Cog bewegt sich und erlebt die Welt wie jemand, der aufrecht geht. Er erlebt Gleichgewichtsprobleme, Reibungsprobleme, Gewicht, Schwerkraft, also dasselbe wie wir, so daß er ein dem unseren ähnli ches Körpergefühl haben kann." Aber dabei handelt sich noch um eine relativ einfache und starre Realisierung menschlicher Möglichkeiten. Was geschieht, wenn man auf demselben Weg weitergeht?
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Cyborgs werden eine andere Wirklichkeit erleben als wir. An einem En de des Spektrums steht der vollkommen künstliche Androide aus Asi movs Erzählung "The Bicentennial Man" (deutsch: "Der Zweihundertjäh rige"). Er sehnt sich danach, ein Mensch zu werden, und nach einer Reihe von Veränderungen, bei denen das Metall durch Fleisch ersetzt wird, erlangt er schließlich Sterblichkeit. Diese Idee bildet die Grundlage für den Androiden Data in "Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahr hundert". Gemeinsam ist all diesen Geschichten der tröstliche Gedanke, daß die Maschinen mit zunehmender Entwicklung unweigerlich danach streben, dem Menschen immer ähnlicher zu werden. Eine andere, abweichende Sicht der Cyborgs findet sich in Damon Knights klassischer short story "Masks" ("Masken") aus dem Jahr 1968. Die Schilderung erfolgt aus der Perspektive eines Cyborg in einem neuen Körper, um den sich eine ganze Forschergruppe be müht. Er hat mit emotionalen Problemen zu kämpfen, lehnt es aber ab, den Forschern Auskunft über die Ursachen zu geben. Doch gegen Ende der Erzählung erhalten wir Zugang zu seinen Gedanken: "Keine Nebennieren mehr, die Adrenalin ins Blut pumpen, also keine Wut mehr und keine Angst. Sie hatten ihn von all dem befreit, von Liebe und Haß und dem ganzen Gefühlsmatsch. Aber ein Gefühl hat ten sie übersehen. Sinescu mit seinen schwarzen Bartstoppeln auf öliger Haut. Ein reifer Pickel mit weißer Spitze neben dem Nasenloch... Babcock mit seiner roten, von Fett glänzenden Nase. Weiße Krusten in den Augenwinkeln und Speisereste in den Zähnen ... Sams Frau mit himbeerrotem Lippenstift. Das Gesicht tränenverschmiert, eine helle Blase in einem Nasenloch. Und der verdammte Hund mit seiner glän zenden Nase und feuchten Augen." Man beachte, wie oft die Nase vorkommt, die nicht gerade zu unse ren schönsten Körperteilen gehört. In der letzten Zeile der Erzählung wird dann deutlich, daß dieser Cyborg sich von allem Organischen, Fleischlichen befreien und auf dem Mond gänzlich metallen werden möchte: "Er war da und doch nicht weit genug weg, noch nicht, denn die Erde hing über seinem Kopf wie eine verfaulte Frucht, mit blauem Schimmel überzogen, runzlig, eitrig, von Leben wimmelnd." Werden Cyborgs also das Gegenteil des in den meisten Geschichten beschriebenen Verhaltens zeigen und versuchen, möglichst wenig menschlich zu sein? Möglicherweise erleben die Cyborgs ihre Anders
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artigkeit so deutlich, daß sie sich von den Menschen aus Fleisch und Blut zurückziehen und ihre eigene Interessengruppe bilden, vielleicht auch deshalb, weil sie von ihnen abgewiesen werden. Cyborgs, die zum größten Teil aus Metall bestehen, haben möglicherweise andere Anforderungen an die Umwelt als Menschen. Und so könnte eine ei gene Cyborg-Politik entstehen. Das ist gar nicht so weit hergeholt. In den letzten Jahren haben sich Interessengruppen in Europa und den Vereinigten Staaten intensiv für die Belange der Behinderten eingesetzt. Der behindertengerechte Zugang zu Einrichtungen aller Art, von öffentlichen Toiletten über Schlösser bis hin zu Stränden, ist daher inzwischen zu einem wichti gen Marketingaspekt geworden. Schon heute kultivieren Aktivisten der Schwerhörigen und Tauben ihre Taubheit und bezeichnen sie nicht als Gebrechen, sondern als Ausdruck der normalen menschlichen Vielfalt. Sie kommunizieren über die Zeichensprache, die in ihren Augen eine vollgültige Sprache mit eigener Grammatik darstellt, und sehen zum Beispiel in Cochlea rimplantaten eine Bedrohung für die "Taubenkultur". Wie viele Imp lantate wären erforderlich, damit jemand in den Augen der Welt nicht mehr als Mensch, sondern als Cyborg gilt? Vielleicht weniger, als wir glauben. Steve Mann vom MIT, der seit den siebziger Jahren einen Versuchs computer bei sich trägt (und es handelt sich nicht einmal um ein Implantat), hat festgestellt, daß die Menschen den Kontakt mit ihm vermeiden, sofern der Computer nicht sehr klein ist und übersehen werden kann. Sein tragbarer Computer ermöglicht ihm zwar jederzeit den Zugang zum Internet, aber er versperrt ihm den Zugang zu den Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung. Mit dem Computer sieht er einfach anders aus. Selbst Mobiltelefone haben diese Wirkung. Gibt es überhaupt eine Definition des Personseins jenseits des Kör pers? Unsere medizinischen Möglichkeiten nähern sich immer stärker dem Kortex, und schon bald dürften direkte Eingriffe in die Hirnrinde - den Sitz des Menschseins - möglich sein. Der Moralphilosoph Robert Hughes meint, letztlich müsse eine Definition der Person über das rein Physische hinausgehen. Nach dem Konzept der "sozialen Person" basieren die Rechte und der Wert des Menschen nicht auf dem Kör per, sondern dem "Subjekt".
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Er sagt: "Wenn wir erst einmal Verletzungen des Kortex behandeln, werden wir von einer auf dem Neokortex basierenden Definition des Todes zu einer Definition übergehen müssen, die auf der Kontinuität subjektiven Selbstbewußtseins beruht. Wer sich kontinuierlich seiner selbst bewußt ist, und zwar in jedem beliebigen Medium, wird als soziale Person mit allen zugehörigen Rechten und Pflichten gelten." Diese Definition des Todes enthält im Keim bereits alle Fragen, die hochentwickelte Cyborgs aufwerfen werden. Wenn die Gesellschaft das auf dem Körper basierende Verständnis der Person hinter sich läßt und den Gedanken der sozialen Person akzeptiert, könnte das weitreichende Folgen haben; zum Beispiel wäre es dann denkbar, daß ein menschliches Bewußtsein oder ein Gehirn auch dann als Per son gilt, wenn es sich nicht in einem Körper befindet. Wenn wir von der Außenwelt abgeschnitten sind, werden wir verrückt. Menschen, die, von Licht und Schall isoliert, in einem geschlossenen Tank in einer warmen Salzlösung liegen, beginnen schließlich, die feh lende Reize selbst zu produzieren. Da keine Signale von außen kom men, versucht ihr Verstand, der Stille und Dunkelheit irgendwelche Signale abzugewinnen. Schon bald beginnen sie zu halluzinieren, se hen und fühlen Dinge, die gar nicht da sind. Etwas Ähnliches geschieht auch in der Wüste; da es dort an unterscheidbaren Formen mangelt, mobilisiert der Verstand seine eigenen Ressourcen. Es ist kein Zufall, daß religiöse Mystiker wie Johannes der Täufer al lein in die leere Wüste gingen, um Erleuchtung zu finden. In der öf fentlichen Auseinandersetzung um Fragen der Verbesserung des Menschen treten vielfach Statistiker gegen Mythologen an. Der Zu kunftsforscher Walter Truett Anderson sagt: "Die Rationalisten po chen auf ihre umfangreichen ökonomischen oder naturwissenschaftli chen Daten, während man auf der anderen Seite Frankenstein und Gaia beschwört." Die drei alten Behandlungsformen - die präventive, die palliative und die kurative - werden bald um eine leistungsfähige vierte Form er gänzt werden: die substitutive. Ein alternder Sportler mit einer künstlichen linken Schulter, die ihm nach einem Softball-Unfall ein gesetzt wurde (das bin ich), erregt kein Aufsehen. Schon bald wird er vielleicht einen Herzschrittmacher benötigen oder auch eine der sel teneren, von den Menschen bereits heute akzeptierten künstlichen
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Körperteile: einen künstlichen Schließmuskel, Prothesen, ein Coch learimplantat zur Wiederherstellung des Hörvermögens. Obwohl es sich um mechanische Teile handelt, erscheinen sie uns heute ebenso natürlich wie Brillen oder Zahnfüllungen. Anderson prognostiziert als nächsten größeren Schritt Organtransplantate, die durch künstliche Hilfsmittel ergänzt werden, entweder durch Medikamente oder durch gleichfalls implantierte Geräte, also echte Cyborg-Vorrichtungen. Wie weit sollten wir solche Entwicklungen zulassen? Sichere moralische Maßstäbe lassen sich hier kaum ausmachen. Der Hinweis auf die Natur als angeblich oberste Instanz übersieht, daß die Kulturen sehr unter schiedliche Vorstellungen von der Natur und ihrem Wirken haben. Andere kulturelle Leitlinien - religiöse Lehren, wissenschaftliche Ob jektivität, Mode - sind gleichfalls veränderlich und lokal begrenzt; sie mögen notwendig sein, bieten jedoch keine ausreichende Orientie rung. Wer wird in dieser Zukunft den Sieg davontragen? Radikale, entfesselte Cyborgs oder "menschliche Fundamentalisten"? Es gehört zum Wesen technologischer Träume, daß sie uns zwingen, immer fundamentalere Fragen zu stellen. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Der Autor lehrt Plasmaphysik an der University of California in Irvine. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlich fundierter Science-fictionRomane. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.2001, Nr. 240 / Seite 60
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Der Hausmeister mit eingebauter Fernbedienung Von Konkurrenten zu Komponenten: Auch im Alltag wird der Cyborg die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine Von Gregory Benford Der Physiker und Schriftsteller Gregory Benford lebt ein doppeltes Le ben, dessen beide Stränge eng miteinander verflochten sind - als Science-fiction-Fan half er während eines längeren Europa-Aufenthalts zusammen mit seinem Zwillingsbruder James 1956 bei der Organisati on des ersten deutschen SF-Treffens; als Physiker wurde er Anfang der siebziger Jahre am University College Irvine der jüngste ordentli che Professor in der Geschichte Kaliforniens. Seine literarischen, es sayistischen und wissenschaftlichen Arbeiten sind vielfach ausgezeich net worden; zuletzt erhielt er 1990 die Literaturmedaille der Vereinten Nationen und 1995 den Preis der Lord Foundation für wissenschaftli che Errungenschaften. Wenn Benford von Robotern und Cyborgs schreibt, tut er das normalerweise als SF-Romancier. Sein mehrbändi ger, auf deutsch im Heyne-Verlag veröffentlichter "Contact"-Zyklus behandelt den darwinistischen Konflikt zwischen auf Kohlenstoff und Wasser basierenden Organismen (darunter Menschen) und dem robo tischen Siliziumleben einer fernen galaktischen Zukunft. Als Repräsen tant der auf H. G. Wells zurückgehenden "harten", auf Faktentreue und wissenschaftliche Plausibilität setzenden Strömung in der SF ist Benford alles andere als ein Phantast. Wie er die wirklichen Chancen der robotischen Revolution für die nähere Zukunft einschätzt, erläutert er im nachfolgenden Essay. Das nächste Jahrzehnt wird einen weiteren qualitativen Wandel in un serem Verständnis der Technik bringen, wenn alte Vorstellungen schließlich in Robotern, Cyborgs und deren vielfältigen Zwischenfor men greifbaren Ausdruck finden. Schon in wenigen Jahren werden wir erleben, daß Roboter in Gebäuden arbeiten und zum Beispiel Akten oder Pakete befördern. Dann wird man sie als Wächter einsetzen; mit Infrarotsensoren ausgestattet, werden sie nachts durch die leeren Flu re von Bürogebäuden patrouillieren. Wenn wir verreisen, werden wir Wachroboter zu Hause zurücklassen und können über das Internet dann buchstäblich verfolgen, was in unserem Haus vorgeht. Schon bald werden Roboter überall anzutreffen sein; sie werden Operationen
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vornehmen, gefährliche Orte erkunden, Rettungseinsätze durchführen, Brände bekämpfen und schwere Lasten transportieren. Nach einem oder zwei Jahrzehnten werden wir uns ebenso an sie gewöhnt haben wie heute an Computerbildschirme in Büros oder Flughafenrestau rants. Jeder neue Fortschritt wird für kurze Zeit Aufsehen erregen, bald danach aber zum Alltag gehören. Ganz sicher braucht niemand zu befürchten, Roboter hätten wie in Steven Spielbergs Film "Artificial Intelligence" irgendwann menschliche Gefühle. Erstaunlicherweise zeigt dieser Spielfilm nur wenige Roboter, die keine menschliche Gestalt besitzen, obwohl für die meisten von Robotern übernommenen Tätigkeiten gar keine Arme, Beine oder sonstige Aspekte der menschlichen Physis erforderlich sind. Der Film handelt von Ängsten und Hoffnungen, menschlichen Gefühlen also, aber wir werden wohl nicht so bald in der Lage sein, derlei Gefühle in Programme zu integrieren. Außerdem will das im Grunde niemand. Wer braucht schon einen Roboter mit Anfällen von Hochgefühl oder Depression? Wir wollen lediglich, daß sie ihre Arbeit tun. Anders als die Roboter werden Cyborgs sich nur langsam und kaum merklich ausbreiten. Anfangs wird man diese Erweiterungen in den menschlichen Körper einsetzen wie heute künstliche Gelenke, Ellbogen oder Herzen. Dann werden größere Zusätze folgen, vielleicht auf dem Kopf oder an den Gliedmaßen. Bald jedoch werden wir die Grenze vom Ersatz zur echten Erweiterung überschreiten, wahrscheinlich zuerst in der Sportmedizin und dann zunehmend bei allen, die ihre körperliche Leistungsfähigkeit steigern möchten. Konflikte und ethische Engpässe sind dabei unvermeidlich. Viele werden sagen, wir maßten uns mehr Macht an, als dem Menschen zustehe. Diese Debatte wird dem Wunsch nach verbesserten Fähigkeiten indes keinen Abbruch tun; das war noch nie so. Die gezielte Veränderung des Menschen und die Entwicklung der Ro boter sind zwei Pole desselben Phänomens, aber auf einem Terrain, das sich ständig verschiebt. Einige Bereiche machen Fortschritte, andere sterben ab, während neue, aussichtsreichere Ansätze auftau chen. Die Folgen bleiben dieselben. Die Wissenschaft ist kulturellen Entwicklungen oft gefolgt, statt ihnen vorauszueilen. Wie die Techno logie bewegt sie sich ja in einem sozialen Kontext, und vielfach nährt dieser sie nicht nur, sondern bringt sie buchstäblich selbst hervor. So las der Physiker Leo Szilard 1932 den 1914 von H. G. Wells geschrie
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benen Roman "Befreite Welt", in dem die Entdeckung künstlicher Ra dioaktivität für das Jahr 1933 vorausgesagt wird - und diese Voraus sage trat ein (F.A.Z. vom 23. Juni). Der Roman beschreibt die Atom kraft, die Atombombe und den Krieg einer Allianz aus England, Frank reich und möglicherweise den Vereinigten Staaten gegen Deutschland und Österreich. Die falsche Bezeichnung dieser Waffen als Atom statt als Nuklearbomben hat wahrscheinlich ihren Ursprung in diesem Roman; andererseits ist dort aber auch bereits von "Kettenreaktio nen" die Rede. Das Buch war Frederick Soddy gewidmet, dessen For schungen am Radium Wells auf die Idee zu seinem Roman gebracht hatten. Szilard erkannte, daß solche Waffen durchaus möglich waren, und wurde für Jahrzehnte zur treibenden Kraft beim Bemühen, die Vereinigten Staaten dazu zu bewegen, als erste Nation der Welt die se Waffen zu bauen. Er überredete Einstein, seine Unterschrift unter den Brief an Präsident Roosevelt zu setzen, durch den das Manhattan-Projekt angestoßen wurde. Forschungen zur Verbesserung der Fähigkeiten von Menschen und Maschinen haben ihren Ursprung häufig in Spekulationen und Projek tionen aus der kulturellen Umwelt. Die moderne Science-fictionLiteratur hat die persönlichen und sozialen Folgen solcher Bemühun gen in realistischen Erzählungen durchdacht und aufgezeigt. Die Er gebnisse dieser Arbeit können uns im kommenden Jahrhundert in den unruhigen Gewässern des Wandels als wertvolle Navigationshilfe dienen. Der Wunsch, den menschlichen Körper zu verbessern, ist so alt wie der Mensch. Er reicht bis in Urzeiten zurück, als der erste Vormensch einen Stein aufhob und damit einen Knochen zertrümmerte, um an das Knochenmark heranzukommen, oder einen Stock benutzte, um eine zarte Wurzel auszugraben. Die Fähigkeit der technischen Extension unserer Körper ermöglichte uns nicht nur zu überleben, sondern auch die Herrschaft über unse ren Planeten anzutreten. Werkzeuge, Maschinen, die Technologie überhaupt besteht im wesentlichen aus Verlängerungen unseres Kör pers. Sie macht uns stärker oder schneller und verbessert unser Höroder Sehvermögen. Wer in die Zukunft blickt, sollte sich als erstes nicht fragen, ob etwas technisch machbar ist, sondern ob Menschen es akzeptieren können.
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Im Blick auf die Cyborgs erscheinen mir zwei verbreitete Annahmen zweifelhaft: erstens der Glaube, daß die Menschen bereit wären, sich solche technischen Apparate überhaupt in den Körper einsetzen zu lassen, und zweitens, daß es technisch leicht sei und daher auch schon bald möglich sein werde, eine direkte Verbindung zwischen dem menschlichen Gehirn und Computern herzustellen. Wenn wir über unsere gegenwärtige Gestalt hinausgehen, vermögen wir uns im Rückblick besser zu definieren. Alle Ausdrücke, mit denen die zu künftigen, alle bisherigen menschlichen Normen überschreitenden Formen des humanoiden Chassis beschrieben werden - Android, Cy borg, bionischer Mensch, Roboter -, werfen die Frage auf, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Was wollen wir erlangen oder verbes sern? Körperliche Stärke? (Wahrscheinlich ist das nicht grundlegend für das menschliche Selbstverständnis; aber dieser Aspekt wird in Spielfilmen oft gezeigt, weil er sich leicht darstellen läßt.) Verstand? (Hier machen uns die Computer schon jetzt auf vielen Gebieten Kon kurrenz.) Kreativität? (Wie kreativ ist Schach? Jedenfalls ist der Weltmeister heute ein Computer.) Seit dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Song "John Henry" haben wir die Überlegenheit der Maschinen immer wieder mißmutig anerkennen müssen. (John Henry war ein Eisenbahnarbeiter, der beim Vortreiben der Bohrlöcher für Sprengungen gegen eine neue Bohrmaschine antrat; er war mit seinem Vorschlaghammer zwar schneller als die Maschine, starb aber an Erschöpfung.) Hinter dem Konkurrenzproblem verbirgt sich jedoch eine tiefere Angst: Die Darstellung menschlicher Körperteile als maschinenähn lich und ihr tatsächlicher Ersatz durch Maschinen werfen die Frage auf, was an uns überhaupt menschlich ist - ein Zweifel, der bis ins Denken und Fühlen reicht. Wie steht es um den freien Willen und unsere Selbstbeherrschung? Die Angst vor Determinismus im Seelen leben trifft sich mit Freuds Enthüllungen über unbekannte Triebre gungen, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Wer möchte dort schon freiwillig hinab? Manche tun es freilich doch - zum Beispiel für Geld. In Tausenden von Science-fiction-Filmen zeigen autonome, menschenähnliche Wesen alle Arten menschlichen Verhaltens. Und einige kommen damit durch. In dem 1984 entstanden Spielfilm "Der Terminator" streift ein Killerroboter durch Los Angeles und lernt da bei durch Imitation der Menschen, sich ihrem Verhalten immer bes ser anzupassen. Wenn jemand ihn anspricht, erscheint in seinem
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Gesichtsfeld ein Pulldown-Menü mit Reaktionsmöglichkeiten. Ein ein ziger aufgenommener Satz genügt ihm, um die Stimme eines Men schen nachzuahmen; er trifft am Telefon sogar den besorgten Ton einer Mutter, so daß deren Tochter keinerlei Verdacht schöpft (eine wahrhaft erschreckende Szene, die ganz ruhig dargeboten wird). Derartige Fähigkeiten, den Menschen nachzuahmen, das heißt: sich als Mensch auszugeben, ohne eine Mensch zu sein, wecken die ele mentare Angst, unsere alten Primatenfähigkeiten des Sehens, Hörens und Riechens könnten uns nicht weiterhelfen, wenn es darum geht, Täuschungsmanöver zu durchschauen. In dem Film können zumindest Hunde solche Killerroboter riechen, aber nur, bis diese lernen, ihre metallenen Skelette von menschlichem Fleisch überwachsen zu lassen. Ganz ähnlich wirken die Roboterfrauen in dem Film "Die Frauen von Stepford" auch auf solche Männer sexuell anziehend, die wissen, daß es sich um Maschinen handelt. Das wirft die unangenehme Frage auf, ob wir bereit sein werden, uns auf Maschinen einzulassen, die vorge ben, Menschen zu sein, sofern sie nur unsere Wünsche befriedigen und sich dabei einigermaßen geschickt anstellen. Einigen wird es egal sein, ob es sich um Roboter oder Cyborgs handelt; sie werden alle unterschiedslos als Objekte behandeln. Wenn wir uns selbst als Maschinen betrachten, kommt sogleich das Argument ins Spiel, es gebe etwas Mystisch-Menschliches, das unsere physische Grundlage transzendiere. Das führt uns zum Begriff der "e mergenten Phänomene"; danach ist es möglich, daß sehr komplexes Verhalten aus einfachen Regeln hervorgeht. Die scheinbar unendliche Komplexität der menschlichen Kultur könnte aus recht einfachen logi schen Mustern entstanden sein, die vor langer Zeit unter dem Druck der Evolution im Körper und im Geist des Menschen eingeschrieben wurden. Science-fiction-Autoren gehen auch auf die verbreiteten Ängste im sexuellen Bereich ein. Zahlreiche Romane befassen sich mit den be reits älteren Themen einer Revolution der Roboter, der Machtüber nahme durch Maschinen oder des Duplizierens von Menschen ohne deren Wissen. Daraus werden einfache Geschichten gestrickt, die jedoch nur selten den tiefgreifenden Problemen gerecht werden, vor die uns die Technologie in der Zukunft stellen dürfte. Selbst ein so einflußreicher Film wie "Blade Runner" (1982) arbeitet mit der tief verwurzelten Angst vor "Androiden" - dabei handelt es sich
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um vollkommen künstlich hergestellte Menschen, die offenbar aus organischen Komponenten bestehen, aber nur eine kurze Lebenser wartung besitzen. Sie werden als "Replikanten" bezeichnet, das heißt, sie sollen offenbar bloße Dubletten von Menschen sein. Das regennas se Los Angeles des Films ist von künstlichen Tieren und kränklichen Menschen bevölkert, der größte Teil der Menschheit hat den ver schmutzten Planeten verlassen. Die Replikanten lassen sich durch ei nen sogenannten "Empathie-Test" aufspüren, denn sie haben keine "wahren" Gefühle gegenüber der natürlichen Welt, der sie ja auch nicht angehören. Schon die bloße Tatsache, daß die Bezeichnungen "Androide", "Robo ter", "Replikant", "bionisches Wesen" ständig durcheinandergeworfen werden, ist sehr aufschlußreich: Alle künstlichen Formen sind glei chermaßen suspekt. Einem aus Leichenteilen zusammengesetzten Menschen ist ganz gewiß nicht zu trauen. Wenn man Kinogänger nach dem berühmtesten Monster fragt, nennen sie sehr oft Franken stein, obwohl der in Mary Shelleys Roman "Frankenstein oder der moderne Prometheus" gar nicht das Monster, sondern dessen Schöp fer ist. Dieses bekannteste aller menschenähnlichen Ungeheuer ist die Frucht eines erschreckend überzogenen Ehrgeizes. In Shelleys Fantasiegebilde äußert sich die Angst, unsere eigenen Geschöpfe könnten uns in ihren dunklen Schatten stellen. Das kulturelle Ver mächtnis, das die Gestalt des Frankensteingeschöpfs darstellt, zeigt uns noch heute, fast zweihundert Jahre nachdem eine junge Frau diese Bilder schuf, wie sehr wir jedem Versuch mißtrauen, uns selbst nachzuahmen oder zu übertreffen. Können wir zu weit gehen, wenn wir uns bemühen, den Menschen der Maschine oder Maschinen dem Menschen anzugleichen? Viele haben dieses Gefühl schon heute. Nehmen wir als einfaches Beispiel das Gehen. Seit dem Märchen von den Siebenmeilenstiefeln träumt der Mensch davon, schneller laufen zu können, als es ihm von Natur aus möglich ist. Der erste Superheld der Moderne, Superman, kann "mit einem Satz über hohe Gebäude springen" und ohne erkennbare mechanische Hilfen fliegen. Das ist natürlich nur eine Metapher. Halbwegs realistisch betrachtet, ist all das für einen Menschen aus Fleisch und Blut ganz unmöglich. Aber kann vielleicht die Bionik hier weiterhelfen? Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann aus der alten Fernsehserie konnte sich mit Supergeschwindigkeit fortbewegen, aber wir sahen nie die
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Hebel und Schrauben, mit denen das bewerkstelligt wurde. Wenn keine Grenzen gesetzt sind, können die Dinge leicht aus dem Ruder laufen. In dem mit lustigen Tonfiguren arbeitenden Trickfilm "Die Technohose" von Nick Park sorgt eine Roboterhose, die man nicht abstellen kann, für einige Verwirrung. Wie nah sind wir denn nun solchen Supergeschwindigkeiten oder auch nur gehfähigen Robotern? Das menschliche Gehen ist ein kom plizierter Vorgang, den mechanische Vorrichtungen nur schwer nach zuahmen vermögen. Für das Laufen auf zwei Beinen benötigt man bewegliche Gelenke, ein Becken, eine präzise Koordination der Bein muskeln und eine Reihe von Sehnen. Wenn eine dieser Komponenten fehlt oder in ihrer Funktion beeinträchtigt ist, haben die Menschen Schwierigkeiten beim Laufen oder können gar nicht mehr gehen. Zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beim aufrechten Gang dienen neben dem Innenohr (der Schnecke) mechanische Rezeptoren (Deh nungsrezeptoren) in der Skelettmuskulatur. Zusammen sagen sie dem Gehirn, wo oben und unten ist und welche Muskeln gerade ar beiten; auf dieser Grundlage vermag das Gehirn die Bewegung der Beine zu steuern. Allein für das Stehen werden acht Muskeln benö tigt, für das Gehen weitere acht. Anmutiges Gehen erfordert sogar noch mehr Muskeln. Beim Gehen fällt der Körper eigentlich nach vorn; man fängt ihn rechtzeitig ab, indem man ein Bein vorstellt. Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beim aufrechten Gang ist für das menschliche Gehirn immer noch eine schwierige Aufgabe, obwohl unsere Ahnen damit schon vor mehreren Millionen Jahren begannen. Die Fähigkeit dazu geht leicht wieder verloren, wenn die betreffenden Muskeln nicht ständig in Übung bleiben, und Stürze gehören zu den häufigsten Symptomen hohen Alters oder nachlassender Gesundheit. Es ist äußerst schwierig, mechanische Vorrichtungen zu konstruieren, die gleichmäßig auf zwei Beinen gehen können. Der japanische Auto hersteller Honda benötigte mehr als ein Jahrzehnt und viele Millionen Dollar für die Entwicklung eines Roboters, der gehen und Treppen hinauf- und hinuntersteigen kann. Aber das ist auch schon alles, was er kann, und andere RobotikExperten fragen sich, ob dieses Ergebnis die Mühe wert war. Joe En gelberger, einer der Väter der Robotik, meint angesichts der schwie rigen Konstruktionsprobleme, die das Laufen aufwirft, am besten statte man Roboter mit Rädern aus. Und viele andere sind derselben Ansicht.
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Dennoch geht die Arbeit am "Leg Lab" des Massachusetts Institute of Technology und anderswo weiter, zum Teil auch deshalb, weil man sich von diesen Forschungen Nutzen für Amputierte und Quer schnittsgelähmte verspricht. Die Konstruktion mechanischer Vorrich tungen, die auf natürliche Weise gehen können, würde auch das Ver ständnis des menschlichen Gangs verbessern. Dann ließen sich bes sere Prothesen für Amputierte oder Sensor- und Steuerungssysteme für Querschnittsgelähmte bauen. Betrachten wir nun die unerbittlichste Grenze, die dem Menschen gesetzt ist: seine Sterblichkeit. Der älteste Mensch, für den zuverläs sige Angaben über die Lebensdauer vorliegen, war die Französin Jeanne Louise Calment aus Arles; sie lebte von 1875 bis 1997, wurde also 122 Jahre und fünf Monate alt. Der junge, damals noch unbe kannte Vincent van Gogh kaufte bei ihr Zeichenstifte. Betrachten wir die Statistik der Sterblichkeit, lassen sich aus der Geschichte zwei wichtige Lehren für die Verlängerung der Lebenserwartung ziehen. Erstens resultiert die dramatische Verlängerung der statistischen Lebenserwartung im wesentlichen aus einer Verringerung der Kinder sterblichkeit. Im Naturzustand sterben viele Kinder an Infektions krankheiten oder durch Unfälle. Verbesserungen der sanitären Ver hältnisse, der medizinischen Versorgung und der Ernährung haben im 20. Jahrhundert zu einer deutlichen Erhöhung der Lebenserwar tung geführt. Das erklärt auch, warum die Kurve für Mexiko sich in den zwanziger Jahren so deutlich von der Kurve für das damals noch britische Indien unterscheidet: Indien hatte die aus den fortgeschrit tenen Ländern langsam eindringenden Verbesserungen noch vor sich, während sie in Mexiko bereits weitgehend realisiert waren. Der Unterschied zwischen den englischen Zahlen für die sechziger und den mexikanischen für die zwanziger Jahre geht zum größten Teil auf die verringerte Kindersterblichkeit zurück. Zweitens hat sich die Sterblichkeit der älteren Menschen verringert, wenn auch nicht sehr deutlich. Bei einem Alter von 80 Jahren scheint sich immer noch eine recht massive "Schranke" zu befinden; danach nimmt die Bevölkerung exponentiell ab. Man könnte hier von einer "Gebrechlichkeitsschranke" sprechen, jenseits deren die Menschen sehr anfällig für Mikroben oder schwere Unfälle werden, weil ihre Widerstandskraft und Beweglichkeit deutlich nachläßt.
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Wir alle halten ein langes Leben für erstrebenswert. Manche machen sich Sorgen wegen der erhöhten Kosten für die Gesundheits- und Rentensysteme oder wegen des Bevölkerungswachstums, aber ein längeres Leben bedeutet auch erhebliche Zugewinne für die Gesell schaft, etwa weil die Menschen bis in ein höheres Alter hinein arbei ten können. Angesichts des Wunsches nach einem längeren Leben ist es erstaunlich, daß die Forschung sich relativ wenig mit der Frage befaßt, wie die Lebenserwartung sich noch weiter erhöhen läßt. Gibt es eine grundsätzliche Grenze? Und ist sie für alle gleich? Seit etwa 1900, als die Lebenserwartung für beide Geschlechter etwa gleich hoch lag, haben Frauen auf diesem Gebiet einen deutlichen Vorsprung gegenüber Männern gewonnen, der in fortgeschrittenen Gesellschaften bei zehn Prozent liegt. Diese bemerkenswerte Un gleichheit findet nur selten Beachtung, und selbst nach einem Jahr hundert hält die Entwicklung weiter an. Frauen verbrauchen mehr als zwei Drittel des Budgets für das Gesundheitssystem und nutzen das Gesundheitssystem ihr Leben lang häufiger als die Männer. Erhöhte man die Lebenserwartung der Männer in den fortgeschrittenen Län dern auf das Niveau der Frauen, stiege die Gesamtlebenserwartung stärker, als es bei einer vollständigen Beseitigung von Krebs als To desursache der Fall wäre. Das zeigt deutlich, daß eine Erhöhung der Lebenserwartung nicht nur auf technologischen Fortschritten, son dern in erheblichem Maße auch auf sozialen Kräften basiert. Der zweite wichtige Faktor, der die Lebenserwartung bestimmt, ist der Wohlstand. In wohlhabenden Gesellschaften liegt die Lebenser wartung höher. Dabei spielt die medizinische Technologie eine be deutende Rolle, so daß die Frage naheliegt, ob weitere Verbesserun gen auf diesem Gebiet zu einer noch höheren Lebenserwartung füh ren werden. Radikale Neuerungen wie die Nanotechnologie könnten erheblichen Einfluß auf die Lebenserwartung haben, weil sie den di rekten Ersatz von Zellmaterial und gezielte Eingriffe im Bereich der wichtigsten heutigen Todesursachen wie Krebs und Arterienverkal kung gestatten. Selbst einfache mechanische Hilfen wie bessere Bei ne und Hüftgelenke könnten die oft verheerende Gefahr von Stürzen bei alten Menschen verringern. Immerhin hat sich die Lebenserwartung in den fortgeschrittenen Län dern während des letzten Jahrhunderts um 50 Prozent erhöht. Eine nochmalige Erhöhung in dieser Größenordnung würde zu einer statis
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tischen Kurve für die Gesamtbevölkerung führen, die irgendwo zwi schen 100 und 110 Jahren endet - eine erfreuliche Aussicht. Es ist eine durchaus realistische Annahme, daß viele Todesursachen durch technologische Veränderungen zurückgedrängt werden können. Wir wissen nicht genau, wo die obere Grenze für unsere Lebenser wartung liegt. Wenn wir das Altern, also auch die "Gebrechlichkeits schranke", jegliche Krankheit und alle Todesursachen mit Ausnahme von Unfällen (und Selbstmord) eliminierten, wie lange könnten wir dann leben? Die meisten meinen, unter solchen Bedingungen könn ten wir vielleicht 120 oder 150 Jahre alt werden. Aber aus Sterbeta feln läßt sich ein ganz anderer, überraschender Wert errechnen: et wa 1500 Jahre. Diesen Wert kann man eher nachvollziehen, wenn man sich überlegt, wie viele Freunde durch einen Unfall ums Leben kommen. Tatsächlich kennen wir meist nur wenige, die vor dem fünfzigsten Lebensjahr sterben; von 1000 Freunden und Bekannten dürften es nicht einmal 50 sein. Pro Jahr ergibt sich daraus eine Sterblichkeit von etwa 1/1000 und eine durchschnittliche Lebenser wartung von 1000 Jahren. Ein längeres Leben und ein durch technische Komponenten verbes serter Körper würden auch neue soziale Probleme aufwerfen. Da die Menschen bislang nicht länger als ein Jahrhundert leben, haben sie zwar viele sozialen Formen für diese Lebensspanne entwickelt, aber keine, die darüber hinausreichen. Versuchen Sie einmal, nur einen kleinen Schritt in diese endlose Zeitspanne hineinzutun, und stellen Sie sich vor, sie würden 150 Jahre alt. Wie würden Sie unter solchen Umständen ihre berufliche Laufbahn planen oder eine Heirat? Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.08.2001, Nr. 182 / Seite 44
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Quo vadis, Robo sapiens? Shakehands mit Elektromotor: Eine Tagung am MIT widmet sich den menschlichen Zügen der Maschine
CAMBRIDGE, im Oktober Kannten wir menschenähnliche Roboter bisher nur aus Werken der Science-fiction, gelegentlich ausgestattet mit Fähigkeiten, die die menschlichen wie bloße Durchgangsstadien der Evolution erscheinen lassen, so mehren sich in jüngster Zeit die Anzeichen dafür, daß sol che Roboter nicht auf Dauer Fabelwesen bleiben müssen. Der Stand der Technik ermöglicht bereits heute die Konstruktion von Prototypen mit einem komplexen Inventar an motorischen und kognitiven Fertig keiten. In der letzten Woche fand am Massachusetts Institute of Technology (MIT) eine wissenschaftliche Konferenz statt, die sich ausschließlich mit humanoiden Robotern beschäftigte. 150 Wissenschaftler disku tierten über den Entwicklungsstand vollständiger Systeme (Roboter mit Kopf, Armen und Beinen) auf den Gebieten des Lernens sowie der "Bewußtseinszustände", des Baus von Extremitäten, der Planung und Ausführung von Bewegungen und der Interaktion mit dem Men schen einschließlich der Sicherheitsaspekte. Den größten Anteil der versammelten Forschergemeinde stellte Japan, dicht gefolgt von den Vereinigten Staaten. Während in Japan auf eine Vielzahl unterschiedlicher HardwarePlattformen zurückgegriffen werden kann (die ersten Versuche starte ten dort schon Anfang der siebziger Jahre; kleinere Humanoide wer den heute bereits von Studenten als Diplomarbeit unter Benutzung standardisierter Komponenten gebaut), liegt das Schwergewicht in den Vereinigten Staaten auf der Entwicklung von Basistechniken, ob wohl auch hier mehrere vollständige Systeme vorliegen. In Europa jedoch existiert ein koordiniertes Programm zur Entwicklung einer vollständigen Plattform - fast hätte man es erwartet - bislang nicht. Dabei gäbe es sicher genügend unbearbeitete Felder, beispielsweise die Untersuchung von Unterschieden in der gesellschaftlichen Akzep tanz solcher Maschinen vor einem anderen kulturellen Hintergrund.
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Als Deutsche stellen wir zunächst die Frage nach den Gefahren. Ganz ohne Zweifel: Sie bestehen. So könnte ein solcher Roboter einen Menschen verfolgen (und dabei unbemerkbar ein Bewegungsprofil ins Internet einspeisen). Ja, er könnte gar versuchen, den Verfolgten umzubringen (man erinnere sich an Yul Brunner in "Westworld" oder an die diversen Inkarnationen solcher Wesen durch Arnold Schwar zenegger). Eine Roboterregierung mit der Verfügungsgewalt über eine Armee von Humanoiden könnte die verbliebenen Menschen un terjochen; Humanoide, teilweise aus biologischem Substrat, könnten nicht mehr unterscheidbar sein von richtigen Menschen, jedoch über wesentlich höhere körperliche Kräfte verfügen und derlei mehr. Doch gemach - der Entwicklungsstand ist noch lange nicht so, daß Humanoide uns auf Augenhöhe gegenübertreten könnten. Viel wahr scheinlicher ist es, daß manch einer zu dem Schluß kommt, daß die se Roboter, Haustieren gleich, des besonderen Schutzes vor ethisch bedenklichen Experimenten bedürfen und darob ein Roboterschutz bund gegründet werden müsse ... Wir fragen weiter nach Nutzen und möglichen Anwendungsfeldern. Ganz offensichtlich stellt ein Humanoider, der über auch nur rudimen täre Autonomie und Intelligenz verfügt, eine Herausforderung ganz neuer Qualität für einen ganzen Querschnitt wissenschaftlicher Diszip linen dar: Mechatronik, Regelungstechnik, Materialwissenschaften, Sensorik, Informatik, Psychologie, Linguistik, Biologie, Philosophie und weitere mehr.Exemplarisch und in besonderer Weise trifft dies auf die "Künstliche Intelligenz" zu, gilt es doch hier, sich einzulassen auf die Steuerung eines sich in unserer realen Welt bewegenden Körpers, oh ne daß es möglich ist, schwer vorhersagbare Umwelteinflüsse einfach zu ignorieren. Wird ein Rechner "verkörperlicht" und mit den Wahr nehmungs- und Handlungsorganen zur Navigation, Manipulation und Interaktion in unserer menschlichen Umwelt ausgerüstet, dann fällt manch prinzipieller Grund dafür weg, warum Computer gewisse Be schränkungen nicht überwinden können (schon Mitte der sechziger Jahre exemplifiziert durch J. Weizenbaums Programm "Eliza"). Ande rerseits kommen ganz neue Dimensionen hinzu, die erst einmal be herrscht werden wollen, zum Beispiel: assoziierende Interpretation des Gesehenen, Gehörten, Gefühlten; Planung und Ausführung verschie denster Aktionen unter Berücksichtigung der Dynamik des eigenen Körpers unter vorgegebenen Zeitschranken; instinktgetriebenes Ler nen und Kooperation mit einem Menschen auf einer emotionalen Ba
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sis.Darüber hinaus ist es denkbar, daß Roboter heranzuziehen wären zur wirklichkeitsnahen Simulation von Hypothesen über die Entwick lung von Lebewesen - mithin also ein ganz neues Experimentierfeld auch für geisteswissenschaftliche Fragestellungen. Auch direkte Anwendungen sind denkbar: der Roboter als allgemein einsetzbarer Assistent für Aufgaben im Haushalt, Serviceroboter für industrielle Applikationen, Einsatz in der Raumfahrt, in Ausbildung und Unterhaltung, als Hilfe gebrechlicher Personen oder in der Reha bilitation und, natürlich, auch eine Anzahl militärischer Anwendun gen. Allerdings wird innerhalb der nächsten Jahre hier bestimmt kein Profit zu erwarten sein. Die Wissenschaftsgemeinde sieht die Herausforderung gegenwärtig noch eher im Bau von Teilsystemen, deren Zusammenwirken zukünf tig mehr als die Summe der Teile ergibt. Insbesondere die Konstruk tion von Köpfen mit beweglichen Kameras zur Nachbildung der ruck artigen Bewegungen des menschlichen Auges oder mit "Haut und Haaren", deren Mimik zum Ausdruck von Emotionen über Elektromo toren gezielt verstellt werden kann, nötigt dem Betrachter Respekt ab. Als Software entstehen Module zur Erkennung von Gesten und Körpersprache, zum Richtungshören, zur Planung der koordinierten Bewegung aller Extremitäten und zum "Lernen durch Vormachen". Hier beeindruckt, wie ein Humanoderin hochdimensionalen Räumen in schneller Folge koordinierte Bewegungen imitiert und zum Beispiel Schlagzeug spielt. Insgesamt ist eine der spannendsten Fragen hier, welche Wirkungsprinzipien aus den biologischen Vorbildern abge schaut werden können, um durch geschickte Reduktion des riesigen Datenstroms direkt die Aktoren steuern zu können und so die "sen somotorische Schleife" zu optimieren. Was können Humanoide also heute schon leisten? Ihre Körpersteue rung ist so weit fortgeschritten, daß sicheres Stehen auf zwei Beinen möglich ist, Laufen mit unterschiedlichen Schrittweiten und Ge schwindigkeiten und sogar Treppensteigen. Die Arme sind kraftge steuert, so daß sie elastisch zurückweichen, wenn man auf sie Druck ausübt: so wird "Hände schütteln" zwischen Mensch und Roboter möglich. Die Köpfe können geschwenkt und gedreht werden, wie beim Vorbild. Die Händeermöglichen das Greifen, Balancieren und Absetzen verschiedenster Gegenstände, ein Beispiel zeigte das Be dienen einer Heimwerker-Bohrmaschine.
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Die sensorisch-kognitiven Fähigkeiten realisieren auf der untersten Ebene Reflexe, wie die Ausrichtung der Augen auf die Teile einer Szene, in denen sich etwas bewegt, um diese dann genauer analysie ren zu können.Schließlich besteht die Möglichkeit, situationsbezoge ne Dialoge über einfache Szenarien mit einem menschlichen Instruk teur abwickeln zu können. Eines der drängendsten Probleme auf der Hardware-Seite ist der Mangel an einer geeigneten Energiequelle, auf der Seite der kognitiven Leistungen der Umgang mit unbekannten, von den Programmierern nicht "vorgedachten" Situationen. Wie geht es weiter? Das japanische Industrieministerium hat 1998 zunächst bis zum Jahr 2002 ein Programm aufgelegt, das mit einer jährlichen Fördersumme von umgerechnet einundzwanzig Millionen Mark pro Jahr das Ziel verfolgt, eine Plattform zur weiteren Entwick lung praktischer Anwendungen in Haushalt und Industrie zu schaffen. In den Vereinigten Staaten sind insbesondere die Aktivitäten der Firma "Sarcos" und der "Robonaut" erwähnenswert, eine fortlaufende Entwicklung der Nasa für Teleoperationen im Weltall. In Europa ist eine entsprechende Initiative bislang nicht in Sicht. Dabei würde die Aufgabe, die in ihrer Komplexität die Reise zum Mond weit übertrifft, sich in ihrer ganzen Vielschichtigkeit geradezu anbieten für ein paneuropäisches Forschungsnetz. So manches Feld ist noch völlig unbestellt und könnte sicher von europäischer Ingeni eurskunst profitieren - aber vermutlich wird uns der Enthusiasmus der japanischen und amerikanischen Forscher nicht anstecken kön nen. Deshalb sei abschließend die Vorhersage gewagt, daß wir voll ständige Humanoide eines Tages in verschiedenen Varianten kaufen können. Wahrscheinlich allerdings in Japan. ALOIS KNOLL Der Autor ist Professor für Technische Informatik an der Universität Bielefeld. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2000, Nr. 237 / Seite 52
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Künstliche Intelligenzen Mehr Hirn!
Traum ohne Raum Wie Hollywood Asimovs "I, Robot" verfilmt und doch den besten Roboterfilm aller Zeiten verpasst Was für ein trauriger Molch müßte sein, wer sich auf so einen Sciencefiction-Film nicht freuen würde: Geheimnisvolle graue Pyramidenbau ten auf verregneten Planeten, in deren Innerem ein Journalist und eine menschgewordene Schicksalsgöttin miteinander Dinge von galak tischer Wichtigkeit besprechen; die sinnlichen, botenstoffschwangeren Düfte des Dschungels, der die futuristische Metropole "Nova Brasilia" umgibt, Gerüche, die man vor lauter Farbenpracht der Aufnahmen, welche die Leinwand uns erschauen läßt, förmlich riechen zu können meint; Roboter aller Größenordnungen und Bauformen, deren Grund programmierung spärlich, aber lernfähig ist, so daß sie aufwachsen und schrullige Charaktere entwickeln können wie nur je Adams Söhne und Evas Töchter; kryptische Kavernen unter der Erde, in denen auf bewahrt wird, was die Welt verändern muß; telepathische Duelle in den lavaglühenden Landschaften des Geistes; Riesige Menschenmas sen auf herrlichen Plätzen und einsame Gestalten auf kalkweißen Kor ridoren; Helden und Schurken, Liebe und Verzweiflung, Karriere und Staatsgeschäfte, Intrigen und Aufstände. Dies alles sind Bilder eines Traums. Sie gehören zur Geschichte von Dr. Susan Calvin, die im Alter von 21 Jahren im Jahr 2015 dem Wis senschaftlerstab der Firma U.S. RoboMek beitritt, dort als RoboterErzieherin tätig ist, fremde Planeten und die Abgründe echter wie syn thetischer Seelen kennenlernt, das ebenso rührende wie unheimliche Liebeswerben eines der kybernetischen Geschöpfe abwehren muß und schließlich den Multifunktions-Androiden "Lenny" erfindet - ein Genie blitz, dessen Spätfolgen in der Geschichte der Menschheit und des "Krieges der vier Welten" lange nachhallen werden. Der Film, der vom Versuch des ehrgeizigen Reporters Robert Bratenahl handelt, das Le ben dieser berühmten Frau zu einem hoffentlich erfolgreichen BioDoku-Drama zu verarbeiten, und davon, wie er die über Achtzigjähri ge, die sich längst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, schließ lich findet sowie ihr bestverschlossenes Lebensrätsel schockierend und überraschend löst - dieser Film wäre, noch vor Ridley Scotts "Blade Runner" und gewiß Spielbergs "A.I." der beste, der schönste Roboter film aller Zeiten. Aber er existiert nicht.
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Seit der Schriftsteller Harlan Ellison in den Jahren 1977/78 hektoliter weise Herzblut fließen ließ, um aus einer zwar thematisch einheitli chen, ansonsten aber erzählerisch unverbundenen Geschichtensamm lung seines Kollegen Isaac Asimov (1920-1992) jenes, von allen, die es gelesen haben, mit großer Ehrfurcht diskutierte Drehbuch zu er schaffen, das wie Asimovs Vorlagezyklus den Titel "I, Robot" trägt, seitdem also raunen einschlägige Zirkel immer wieder von der Aus sicht darauf, daß jemand dies Kronjuwel des Science-fiction-Kinos endlich zu drehen beabsichtigte. Mal hieß es, Irvin Kershner ("Das Imperium schlägt zurück", 1980) habe als Regisseur angeheuert, dann plötzlich rechnete jemand aus, die Spezialeffekte würden zu teuer. Immer wieder stellte sich der Teufel quer: Rechtegezerre, Wahn, Ei telkeiten, Herzeleid. 1987, als es nicht mehr danach aussah, daß der Film je gedreht werden würde, hat man das Skript der Öffentlichkeit zugänglich gemacht - als Serie in "Isaac Asimov's Science Fiction Magazine". Asimov selbst hatte sich zu Ellisons Vision bekannt; die Fans lagen sich hingerissen in den Armen. Noch ein paar Jahre später, 1994, erschien eine Buchfassung, "Harlan Ellison/Isaac Asimov: I, Robot. The Illustrated Screenplay", verschönt von luxuriösen, teils gemalten, teils gezeichneten StoryboardImpressionen des herausragenden Phantastik-Illustrators Mark Zug. Das Buch ist vergriffen, die Geschichte scheinbar von gestern. Von wegen: Während Sie dies hier lesen, dreht der keineswegs unta lentierte Regisseur Alex Proyas ("The Crow", 1994; "Dark City", 1998) einen Film namens "I, Robot", auf der Grundlage eines neuen Dreh buchs, frei nach Asimovs Erzählungen. Will Smith wird den tech nophoben Cop Spooner spielen, auch Susan Calvin kommt vor, aller dings nur als Nebenfigur. Sie mögen das für eine gute Nachricht halten, wenn Sie schon immer mal eine Neufassung von "Citizen Kane" mit Ben Affleck in der Titelrol le sehen wollten, oder "Casablanca 2" mit Johnny Depp und Jennifer Lopez, nach einem Drehbuch von Mickey Rourke. Wenn nicht, werden Sie still den Kopf schütteln und sich nächstes Jahr die Neuauflage von Ellisons Buch kaufen, sobald es beim New Yorker Verlag "iBooks" er scheint. Warum ist die Welt so schlecht? Damit die schönsten Träume nicht wahr werden, sondern Träume bleiben dürfen. DIETMAR DATH Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.09.2003, Nr. 39 / Seite 28
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Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst Spielbergs Film "A.I." wirft eine Kernfrage der Künstliche-IntelligenzForschung auf: Wie unterscheidet man bei fühlenden Maschinen zwi schen Eigenleben und Imitation? Ein Erfolgsfilm, der den Namen einer Forschungsdisziplin trägt? Nun, "Oberflächenchemie" zum Beispiel würde als Filmtitel wohl kaum Kasse machen; "Artificial Intelligence" (AI) hingegen ist gut gewählt, denn er ruft einen Archetyp wach: das alte, ja antike Motiv des And roiden. Und - seltsame Koinzidenz - Spielbergs Film über die Gefühle von Robotern ist in einer Zeit entstanden, in der sich die Erforscher der "Künstlichen Intelligenz" (KI) just diesem Thema zuwenden, der künstlichen Emotion. Softwaremodelle der Motivation und Emotion kursierten schon in den frühen siebziger Jahren. Sie blieben Begriffsspiele und gaben ledig lich die laienhaften Vorstellungen wieder, die sich Computerleute vom Gefühlsapparat machten. Beeindruckendes kam nicht heraus, weshalb sich die Gemeinde auf das maschinelle Schließen verlegte. Eine stürmische Zeit war das, denn in diesem Forschungszweig muß te um alles gestritten werden: um die nähere Bestimmung seines Gegenstands und seiner Methoden, um seine Rechtfertigung vor In formatikern, Biologen und Philosophen, und schließlich immer wieder ums Geld. KI-Forscher traten damals als Rebellen gegen die erste Informatikergeneration auf, hatten hierzulande auch etwas Achtund sechzigerhaftes; um so mehr mußte es sie schmerzen, daß ihre For schungsrichtung von linkssozialdemokratischen Wissenschaftspoliti kern bald als unkorrekt angesehen und schlecht behandelt wurde. Die meisten Kämpfe endeten unentschieden. Die Hamburger KISchule wurde zerschlagen, dafür aber ein Deutsches Zentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern und in Saarbrücken aufge baut. Radikal unterschiedliche Strömungen der KI arbeiten heute nebeneinanderher; Nachbardisziplinen haben sich mit dem merkwür digen Forschungszweig abgefunden. Geld gab es mal viel und dann wieder wenig, jedenfalls reichte es zum Überleben. In Deutschland setzte sich ein Großprojekt durch, eine Übersetzungsmaschine, auf die fast alle Fördermittel konzentriert wurden.
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Ob ein Forschungszweig ein Irrweg ist oder nicht, stellt sich oft erst nach sehr langer Zeit heraus. Im Falle der Astrologie zum Beispiel hat es mehr als zweitausend Jahre gedauert, bis die Sache entschie den war. So gesehen ist KI jung. Sie hat durchaus einiges erreicht: Methoden der Datensuche, des Sprachverstehens, der Systemdia gnostik, Bildverarbeitung und Programmierung beispielsweise. Wir finden sie in Cruise-Missiles und im Turbinenbau, in der Kreditprü fung und in Suchmaschinen. Doch diese Beispiele sind noch keine hinreichende Begründung dafür, daß KI gute Forschung sei; auch aus der Astrologie ging Wertvolles hervor, nämlich astronomische Er kenntnisse, aber um diese ging es der Astrologie nicht. Ebensowenig wie es den meisten KI-Forschern um derlei Anwendungsprogramme geht. Nein, ihr Grundmotiv bleibt das denkende Ding. Etwas Herge stelltes, das mit Begriffen des Mentalen beschrieben werden kann. Es zu bauen würde bedeuten, Phänomene des Bewußtseins zu verste hen - ein konstruktives Erkenntnisprinzip wird da verfochten, ähnlich dem der Physik: Wir verstehen, was wir berechnen können. Die Hardware des denkenden Artefakts sollte der Computer sein: Recheneinheit, Speicher, Ein- und Ausgabesysteme - und fertig. Bis Ende der achtziger Jahre eine Riege junger Wissenschaftler (wie der Australier Rodney Brooks) gegen "good old fashioned artificial intelli gence", gegen Gofai aufbegehrte: Intelligenz sei etwas, das sich nicht einfach in einen Rechner gießen lasse. Sie sei ein emergentes Phänomen, entstehe schrittweise und sei vor allem körperbezogen und interaktiv, um nicht zu sagen: sozial. Deshalb könne sie nur als Eigenschaft von Dingen entstehen, die in die Welt eingebettet sind. Dinge, die handeln. Roboter eben. Wie immer in der KI setzte sich diese Richtung nicht etwa gegen die anderen Richtungen durch, sondern richtete sich neben ihnen ein. Brooks und seine Freunde leiten heute große Institutionen. Gleich wohl, die Strömungen der alten KI und der "nouvelle AI" (so nannte sie sich) haben ein gemeinsames Thema wiederentdeckt: die Gefüh le. Zwei Wege zum fühlenden Ding sind denkbar, beide werden ein geschlagen. Der eine: Man baue ein technisches System, das auf Anzeichen menschlicher Emotion reagiert. Zum Beispiel mit einem sanft eingeblendeten Hilfemenü. Oder mit einer gefühlig modulierten Stimme. An derlei Maschinen arbeitet beispielsweise die affective computing group des Media Lab am Massachusetts Institute of Tech nology (MIT). Der andere Weg: Man baue Systeme, die verschiedene
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innere Zustände annehmen können, denen unterschiedliche Reper toires von Handlungen und Äußerungen entsprechen. Recht weit entwickelte Beispiele finden sich heute in Computerspielen. Deren Charaktere leben freilich in einer aseptischen Welt. Der echten Men schenwelt näher sind da schon gewisse Roboter, die durch die Flure des Robotics Institute an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh gurken. Hier, im "Vatikan der Robotik", wurde einem auf Rädern umherfah renden Blechtopf, dessen Kopf von einem Laptop dargestellt wurde, eine Art Persönlichkeit verpaßt. Äußern konnte sich "Amelia" durch die Art ihrer Bewegungen, mittels Computerstimme sowie einem Kunstgesicht auf dem Bildschirm. Die Studenten, die "Amelia" pro grammierten, gingen zunächst bei Theaterwissenschaftlern in die Lehre. Sie befaßten sich mit dem Konzept der Stereotypen, Stich wort: Commedia dell'arte. Also wurde auch dem Robot ein charakter liches Stereotyp verpaßt: "Amelia, die Besserwisserin". Das Interes santeste waren indes ihre drei inneren Zustände. Wenn jemand mit ihr über Kino sprechen wollte, dann zeigte sie sich aufgekratzt und meinungsfreudig. Wollte ein Besucher etwas über das Robotics Insti tute von ihr erfahren, gab sie sich formal und überklug; kam die Re de auf Weltreisen, so wurden Stimme und Computergesicht weich, und die Antwortsätze enthielten träumerisch aufgeladene Vokabeln und Wendungen. Antwortete ein Mensch auf ihre Fragen häufig mit Ja, dann gab sie Details ihrer (einprogrammierten) Vorgeschichte preis; bei allzu vielen Neins wirkte sie schroff, ja ärgerlich. In der KI, auch in der Intelligenzrobotik, ist das meiste nur rudimen tär. Ihre Geschichte ist voller Anfangserfolge. Noch geht es in dieser Wissenschaft nach dem Schrotschußprinzip zu. Man versucht alles mögliche in der Hoffnung, eines Tages einen Volltreffer zu entdecken. "Amelia" war kein Volltreffer. Sie reagierte langsam, und ihr Reper toire war beschränkt. Auch die Robotergruppen, die virtuell in Rech nern oder real in Labors miteinander umgehen und durchaus so et was wie Anhänglichkeit oder Aggression entwickeln, wirken noch primitiv. Aber diese Beispiele werfen dennoch die Grundfrage der "Künstlichen Emotion" auf: Haben Roboter Gefühle, oder verhalten sie sich nur so, als hätten sie welche? Anders gefragt: Sind Gefühle ein Mechanismus, der sich in einem bestimmten Verhalten äußert, oder sind sie mehr, gibt es da eine
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Seelensubstanz? Die Antwort, die von den meisten Robotikern gege ben wird, liegt auf der Linie des von John Dewey begründeten Funk tionalismus, den vor allem der amerikanische Philosoph Hilary Put nam in die Diskussion um Künstliche Intelligenz eingebracht hat. Danach sind Phänomene wie Bewußtsein, Wille und Gefühl als Funk tionen zu verstehen, die Input und Output eines Systems miteinan der verbinden. Ob ein Etwas Emotionen hat, wäre also nur danach zu beurteilen, ob es sich emotional verhält. Robotischer Behaviorismus, gewissermaßen. Ihn vertritt auch Marvin Minsky, ein Pionier der Künstlichen Intelligenz, dessen neues Buch "The Emotion Machine" heißen wird; ihm zufolge modulieren Gefühlszustände das Denken (und Handeln) - im Prinzip wie bei "Amelia". Lust, Unlust und all die anderen Empfindungen sind Steuerungsinstrumente, die das Wech selspiel von Subjekt und Umwelt beeinflussen. Derlei Erkenntnisse sind schlecht von der Hand zu weisen, aber sie haben etwas Unbefriedigendes. Denn wenn wir fragen, ob ein Ding Emotionen hat, dann möchten wir etwas anderes herausfinden: ob diese Sachen etwas fühlen. Ob sie ein leidendes oder glückliches o der ein sich langweilendes Selbst sind. Ein Subjekt, das sieht und denkt und fühlt und wahre Sätze in der ersten Person Singular for mulieren könnte. "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?" fragte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 1974 in einem bahnbrechen den Aufsatz. Jedenfalls weiß nur Thomas Nagel, wie es ist, Thomas Nagel zu sein, und je fremdartiger ein Etwas ihm ist, desto weniger kann er sich in es hineinversetzen. Auf Roboter übertragen heißt dies: Unser Modell menschlichen Denkens und Fühlens könnte sich eines Tages mit guten Ergebnissen auf entwickelte Roboter übertra gen lassen, aber es wird eine Analogie bleiben - jedenfalls, solange Menschen und Roboter nicht ineinander verschmelzen. Bis dahin bleiben Roboter den Menschen mindestens so fremd wie Fledermäu se, selbst wenn sie nicht wie diese mit Ultraschall, sondern mit Optik navigieren wie unsereins. Der britische Psychologe John Cohen schrieb 1966 in seinem Buch "Human Robots in Myth and Science", es gebe drei menschliche Re gungen, die Automaten fremd bleiben müßten: Menschen können lachen, sie erröten zuweilen, und manche begehen Selbstmord. Wel che Regungen von Robotern mag es geben, die uns Menschen fremd bleiben müssen? Gewiß, Roboter können Mensch spielen, Menschen können Roboter spielen, der Alltag hält für letzteres Beispiele bereit.
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Und der Empathie ist ja auch Erstaunliches möglich: Es gibt Men schen, die haben Mitleid mit ihrem Auto. Doch noch der beste Schau spieler kann nicht ergründen, wie es ist, ein Roboter zu sein. GERO VON RANDOW Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2001, Nr. 213 / Seite 59
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Mehr Hirn, weniger Datenspeicher Meldet sich zuerst das Internet zu Wort oder ein Schwarm Nanoroboter? Der amerikanische Chemiker George Whitesides berichtet aus der Praxis Mit Bill Joy und Ray Kurzweil sind der Nordpol und der Südpol der Debatte um die Zukunft der Technologie markiert. Während Joy die Menschheit vor ihrer Versklavung durch Maschinen warnt (F.A.Z. vom 6. Juni 2000), entwickelt Kurzweil die Vision eines Menschen, der zum Nanoroboterschwarm verwandelt die Grenzen von Raum und Zeit sprengt und beliebigen Zugang zu Wissen hat (F.A.Z. vom 17. Juni 2000). Eine Schlüsselrolle bei beiden Propheten des Techni schen nimmt die Nanotechnologie ein. George Whitesides, vielseiti ger, vielzitierter und vielfach preisgekrönter Professor für Chemie an der Harvard University, ist ein Praktiker der Nanotechnologie und zugleich ein Mittelsmann zwischen den beiden Polen. Er setzt auf ein beständiges Voranschreiten der Nanotechnologie, befürchtet aber die Enstehung neuer, vermehrungsfähiger Lebensformen. Manchen Glücksoder Schreckensvisionen spricht er indes wissenschaftliches Funda ment ab. Whitesides hat Mitte November die alljährliche BohlmannVorlesung an der TU Berlin gehalten. Herr Whitesides, wie sind Sie zu einem der bekanntesten Chemiker und Nanotechnologen Amerikas geworden? Ich habe in Jugendjahren als technische Hilfskraft in einem Chemie labor gearbeitet, um mein Taschengeld aufzubessern. Wir haben da mals fürchterliche Sachen gemacht, uns mit Asbest eingepudert und ziemlich viel Benzol eingeatmet. Zunächst habe ich also einfach ü berlebt und wundersamerweise keinen Tumor bekommen, was eine gute Voraussetzung dafür ist, bekannt zu werden. Ich wußte, daß ich in der Wissenschaft arbeiten wollte, aber wie bei so vielen Wissen schaftlern hätte mich beinahe ein Lehrer davon abgehalten, weil er mir jede Begabung für Mathematik absprach. Was mir sehr lag, war die Routinearbeit im Chemielabor, das ständige Geschirrspülen nach dem Experimentieren. Ich bin wohl wegen einer Vorliebe für das Ge schirrspülen Chemiker geworden. Dabei ist es aber offenkundig nicht geblieben.
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Ich spezialisierte mich als anorganisch-organischer Chemiker, was eine Kreuzung zwischen einem schlechten Organiker und einem schlechten Anorganiker ist, und bewegte mich ziemlich nach dem Zufallsprinzip durch die Disziplin. Wir werden immer neugieriger. Okay, okay, irgendwann wurde es dann doch ernst. Ich fing an, mich mit fossilen Brennstoffen zu beschäftigen und mit den Enzymen, die ihre Bildung beschleunigen. Dabei stieß ich auf die Oberflächenstruk turen dieser Stoffe und dachte: Oberflächen sind wirklich unglaublich wichtig, denn sie sind ja alles, was wir sehen, Haut, Wände, das Glas auf dem Tisch. Seither erforsche ich Oberflächen, was der ideale Weg ist, um eine Wissenschaft des Sichtbaren und des Schönen mit einer Wissenschaft des tiefen Nachdenkens zu verbinden. Oberflächen können sehr bezaubernd sein, man denke nur an eine flechtenbe wachsene Baumrinde oder das Äußere einer tierischen Zelle oder die äußere Schicht eines Computerchips. Als erstes habe ich mir damals allerdings Sandwichfolien vorgenommen. Was haben Oberflächen mit Nanotechnologie zu tun? Oberflächen haben eine ihnen innewohnende Nanostruktur, denn der Unterschied zwischen Innen und Außen beträgt vertikal nur ein paar Atome oder Moleküle. Wir haben im Labor Schichten von nur einem Atom Dicke künstlich geschaffen, Schichten, die sich im Endeffekt ganz von selbst erzeugen, sogenannte "self-assembling mono-layers". Dann tauchte natürlich die Frage auf, ob man dies nicht nur vertikal hinbekommt, sondern auch lateral, also in der Fläche. Dies war der Weg in die Nanotechnologie. Wenn man später einmal aus einer nanotechnologischen Welt auf die Vergangenheit zurückblickt, was wird man als deren Fundamente erkennen? Die Verkleinerung ist der große Trend in den beiden Leittechnologien, der Biotechnologie und der Informationstechnologie. Hinter dieser Verkleinerung, die uns heute so selbstverständlich ist, verbirgt sich eine kaum bekannte, aber um so wichtigere Technologie, die Photoli thographie, also das Prägen einer geometrischen Struktur auf eine Oberfläche mit Hilfe von Licht. Die Photolithographie hat für mich,
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was die Auswirkung auf die Technologie und sogar die Strukturen der Gesellschaft anbelangt, den Rang der Bronze oder sogar des Rads. Nur weiß kaum jemand davon, was sehr schade ist. Später wird man dies bestimmt klarer sehen. Es ist schon merkwürdig, daß Technolo gien zu diesen großen, tektonischen, man möchte sagen tech-tonischen Veränderungen führen, aber nur wenige kennen diese Techno logien und erkennen sie in ihrer ganzen Dimension. Überall ist nun von den Grenzen der Photolithographie die Rede, von den Limitationen etwa der gängigen Computerchips. Können diese Grenzen überschritten werden? Gordon Moore sagte 1965 voraus, daß sich die Zahl der Transistoren pro Schaltkreis ungefähr alle 18 Monate verdoppeln wird. Das hat bisher funktioniert, doch jetzt kommen wir, was auch Moore erkannt hat, mit der üblichen Chipherstellung an die Grenze, nicht nur weil die üblichen Transistoren ihre minimale Größe erreichen, sondern auch wegen der Kosten. Eine neue Produktionsstätte für Chips kostet bald rund zehn Milliarden Dollar - wer soll das bezahlen, und wer soll damit Geld verdienen? Worin besteht der Ausweg? Natürlich in der Nanotechnologie. Wir haben in meinem Labor eine neue Technik entwickelt, die sogenannte "sanfte Lithographie", eine Art von molekularem Drucken. Wir können damit alle möglichen Mo leküle auf alle möglichen Oberflächen drucken, also nicht nur auf Silizium, sondern auf Plastik, ein viel billigeres Material. Mit einem solchen Drucker können wir schon seit längerem Linien von einer Größe von einem Mikron, also 0,001 Millimeter, drucken. Ein Haar, zum Vergleich, hat einen Durchmesser von rund 100 Mikrometern. Diese Technik hält jetzt bei der Genom- und Wirkstoffanalyse Einzug, bei der Herstellung mikroelektromechanischer Systeme, bei Kleinst motoren und optischen Systemen. Mit der üblichen Silizium-Photolithographie sind die Grenzen der Manipulierbarkeit bei rund 200 Na nometern, also bei 0,0002 Millimeter erreicht. Mit unserem Form- und Druckverfahren erreichen wir zehn Nanometer, das ist der Durch messer von rund zwanzig Goldatomen, und es geht weiter nach un ten. Es ist noch offen, wie gut man die Technik für Computerchips einsetzen kann, aber wenn es nach der heutigen Mikrotechnologie jemals eine richtige Nanotechnologie geben wird, dann wird unsere
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sanfte Photolithographie eine große Rolle spielen, schon weil sie von den Kosten her wettbewerbsfähig ist. Sie stellen in Frage, ob es eine richtige Nanotechnologie als Massen technologie überhaupt geben wird. Ist das nicht allzu skeptisch? Von vielen Ihrer Zunft ist zu hören, daß Nano die Zukunft gehört! Die meisten in dem Feld stimmen mir in meiner vorsichtigen Ein schätzung zu. Eine meiner großen Sorgen ist, daß wir uns mit über triebenen Versprechungen selbst schaden. Jedes Wissenschaftsge biet, das übertreibt, läuft auf riesige Probleme zu. Die Gesellschaft ist sehr tolerant, wenn man sagt, das dauert noch 50 Jahre. Sie hat ein Zeitgefühl für solche Prozesse. Was die Gesellschaft aber nicht mag, sind Leute, die sagen, daß sie ein Problem in drei oder zehn Jahren lösen werden, und nach Ablauf dieser Zeit gibt es immer noch nichts. Was im Bereich des Möglichen finden Sie am aufregendsten? Um an die Computerchips anzuschließen: Die aufregendste Option ist es, Quantenprozesse gezielt auszunutzen. Schon in unserem heuti gen Arbeitsbereich von rund zehn Nanometern werden Quantenpro zesse sichtbar. Dies wird zunehmen, je tiefer wir in den Nanoraum vorstoßen. Wenn sich Quantenphänomene für die Computertechnik ausnutzen lassen, stehen wir vor einer echten Revolution. Quanten prozesse werden schon heute in der Chemie sichtbar, wenn man ein zelne Moleküle betrachtet. Jedes Molekül ist eine Art Quantencompu ter. Bisher hat man dies aber nicht für elektrische und optische An wendungen nutzbar gemacht. Darauf warte ich sehnsüchtig. Im Wissenschaftsmagazin "Science" sind am 9. November zwei Ver öffentlichungen erschienen, die als Durchbruch gefeiert wurden. In den Bell-Laboratorien wurde ein Transistor gebaut, der aus nur ei nem Molekül besteht, an Ihrer Universität, Harvard, wurden Nano drähte geschaffen, die sich wie von selbst zusammenbauen. Das zeigt, daß wir auf einem guten Weg sind! Mit den Arbeiten bei Bell habe ich mich beschäftigt, mit denen meines Kollegen Charles Lieber leider noch nicht. Die Bell-Leute müssen jedenfalls noch im mer einen Weg finden, wie sie die Information in das Molekül reinla den und wieder herausbekommen. Dafür braucht man eine völlig neue Architektur für solche Transistorsysteme. Fünf bis zehn Jahre wird man bis zu einem Produkt noch arbeiten müssen.
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Der Ergebnis wären immer schnellere, immer leistungsfähigere Com puter. Ist es das, was unsere Gesellschaft wirklich braucht? Das ist ein wichtiger Punkt. Mein Gehirn ist kein Transistor. Hirnarti ge Systeme sind sehr gut im Erkennen von Mustern und sehr schlecht im Behalten. Digitale Computer sind sehr gut im Behalten und sehr schlecht im Wiedererkennen von Mustern. Wir brauchen insgesamt betrachtet wohl eher "Mustererkenner" als Datenspeicher. Natürlich haben wir einen unstillbaren Bedarf, Daten zu speichern, und so werden wir in der Zukunft sehr, sehr große Speicher nutzen. Bald wird man tausend heutige CDs auf der Fläche eines Uhrenblatts unterbringen. Je schneller die Computer sind, je weniger Raum sie einnehmen, desto leichter können wir die ganze Welt vernetzen und beliebige Zustände simulieren. Doch wir brauchen mehr hirnartige Strukturen und nicht so sehr die Datenspeicher. Natürlich läßt sich beides miteinander verbinden. Eben. Das entstehende Feld der Nanobiotechnologie verbindet Com puter, molekulare Transistoren, Quantenmanipulation und Lebewe sen miteinander. Ließen sich damit tatsächlich neuartige intelligente Biosysteme herstellen, wie manche Propheten der Nanozunft dies verkünden? Kommt das tatsächlich auf uns zu? Wenn wir wirklich die Entstehung von neuartiger Intelligenz erleben werden, dann wohl zuerst im World Wide Web. Irgendwann in der näheren Zukunft wird die Komplexität des Netzes die eines menschli chen Gehirns übersteigen. Bisher wissen wir nicht, was es zur Ent stehung von Intelligenz bedarf, aber sicherlich sehr besonderer Um stände. Es hat lange gedauert, bis das Gehirn entstanden ist. Ande rerseits arbeiten viele kluge Leute daran, das Netz so intelligent wie möglich zu machen - und das möglichst schnell. Wir versuchen, dem Netz Unabhängigkeit zu geben: Es sind sogenannte SoftwareAgenten entstanden, deren Job es ist, ihre Aufgaben ohne äußere Einwirkung zu erfüllen. Momentan ist nichts davon intelligent. Aber wir nähern uns dem klassischen Turing-Test. Wenn man Spasskij gegen den Schachcomputer Big Blue antreten ließe, ohne daß er es wüßte, würde er wohl kaum unterscheiden können, ob er gegen ei nen Computer spielt. Wenn sich einmal auch beim Erzählen von Wit zen, beim Spielen von Streichquartetten oder wobei auch immer der Unterschied zwischen einer Maschine und einem Menschen nicht mehr feststellen läßt, ist das dann schon Intelligenz?
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Ist es das? Hier befinden wir uns vor tiefen philosophischen, operationellen Prob lemen. Was steht uns gegenüber? Das Netz ist komplex und vernetz bar, und wir sind dabei, in dieses System eine evolutionäre Fähigkeit einzubauen, damit es in der Lage ist, sich selbst neu zu strukturieren. Es gibt eine wunderbare Geschichte von Isaac Asimov, in der um neun Uhr morgens überall auf der Welt das Telefon klingelt. Jeder geht dran, und das Telefon sagt: "Ich bin's." Es wäre sicher schwierig, he rauszufinden, ob da eine "Intelligenz" am anderen Ende ist. Aber könnte sich umgekehrt eine Silizium-Intelligenz wirklich vorstellen, daß es Leben gibt, das in Fleisch existiert? Etwas, das beweglich ist, hauptsächlich aus Wasser besteht und mit sehr langsamen KaliumNatrium-Austauschern als Leitungen funktioniert, das andere Lebewe sen ißt und biochemische Fabriken wie den Magen hat, die diese ande ren Lebewesen zerlegen? Und das soll intelligent sein? Das erscheint doch äußerst unwahrscheinlich. Ich glaube, es wäre ohne weiteres möglich, daß wir ein intelligentes Internet und eine intelligente Menschheit hätten, die keine Ahnung voneinander hätten. Glauben Sie, daß es physische Mensch-Maschinen-Schnittstellen für jedermann geben wird? Wir arbeiten in meinem Labor gerade an einer Verbindung von künst lichen und biologischen Systemen. Man muß nicht allzu viel von der Materie verstehen, um zu wissen, daß die großen Wissenschaften unserer Zeit, die Biologie und die Informationsverarbeitung, mitein ander verbunden werden. Man könnte das auf den Punkt bringen und fragen: Werden wir jemals in der Lage sein, einen Computer in unser Gehirn einzustöpseln? Das würde die Natur des Menschen wirklich verändern. Prinzipiell könnten wir dann auch Gedächtnis und Erfah rungen herunterladen. Momentan sehe ich aber keinen Weg, dies technisch zu lösen. Andererseits haben wir noch vor geraumer Zeit keine Möglichkeit gesehen, überhaupt irgend etwas zu lösen. Peter Fromherz und Günther Zeck vom Max-Planck-Institut für Bio chemie in Martinsried haben neulich eine Verbindung zwischen Ner venzellen und Computerchips hergestellt. Das wäre doch nah dran. Es gibt ähnliche Versuche, in denen es gelang, Insekten mit einem Joystick zu steuern. Bei Fromherz und Zeck ist das Interessante, daß
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zwischen Nervenzellen und Chip so etwas wie eine einfache netz werkähnliche Funktion entstand. Alles bewegt sich in diese Richtung. Aber das braucht wohl noch fünfzig Jahre, bevor wir etwas erzeugen, das sich davon erheblich unterscheidet. Die finale Vision von Ray Kurzweil sind Schwärme von Nanorobotern, in die sich jeder Mensch auflösen kann, um sich an beliebiger Stelle wieder zu rekonfigurieren. Teilen Sie solche Visionen? Manches in diese Richtung stammt von Leuten, die wahrscheinlich keine Gleichungen lösen können, denen grundsätzliche Grenzen der Natur nicht klar sind. Als Lehrer liegt mir daran, daß die Studenten ins Detail gehen und das Basiswissen beherrschen. In der Forschung sind die Fundamente überaus bedeutend. Um voranzukommen, muß man wissen, wie sich bestimmte Probleme lösen lassen. Ansonsten wird es zu weich. Ein gutes Beispiel dafür ist Eric Drexler, ein Futu rist, der eine interessante Vision der Nanotechnologie kreiert hat. Aber diese Vision ist größtenteils falsch, nicht nur, was die Zeitachse anbelangt. Was er voraussagt, kann unmöglich entstehen, es verletzt die Gesetze der Thermodynamik. Um manches muß man sich einfach keine Sorgen machen! Wenn man kein gutes und tiefes Verständnis von dem hat, was die Welt zusammenhält, kann man allerdings leicht von Dingen träumen, die nicht passieren können. Sie sprachen von fünfzig Jahren, die es für die Verbindung von Mensch und Maschinen brauchte. Bill Joy, Kurzweils Antagonist, meint, mit den neuen Technologien öffneten wir die Büchse der Pandora, die Grundlagen für die Selbstzerstörung der Menschheit. Ich glaube, auch Bill Joy hat übertrieben. Bill ist ein sehr interessan tes Produkt der Mikroelektronik, in der sich die Dinge sehr schnell entwickelt haben. Das Besondere an Software ist: Man setzt sich hin und schreibt einen Code, wendet ihn an, vertreibt ihn, und am nächsten Tag benutzt ihn jeder. Wenn die Welt nur aus Software bestünde, könnte man sich einen so tiefen Wandel vorstellen. Aber alles andere braucht ewig. Ich war im Studium bei den allerersten Sequenzierungen in der Genetik dabei, habe also die gesamte Ent wicklung von Anfang an mitgemacht. Ich hatte daran gedacht, in die Biochemie zu gehen, aber dieser Zweig war in den sechziger Jahren so unglaublich langweilig. Wissenschaftstheoretisch interessant ist, was sich in der Biologie wirklich verändert hat. Man hat eine Reihe
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von Werkzeugen entwickelt, die es ermöglichten, in akzeptabler Zeit die Informationen zu erlangen, die man haben wollte. Jetzt erst kön nen wir bestimmte Sequenzierungen vornehmen. Das Werkzeug selbst hat die Wissenschaft verändert. Aus schwierigen Forschungen wurden leichte. Allzuleicht konzentriert man sich auf die Endergeb nisse von Forschung und Technologie, aber die Werkzeuge sind sehr wichtig. Ohne sie hat man gar nichts. Auch in den heutigen Nanowis senschaften verändern sich die Werkzeuge, durch die Kolloidchemie, die sanfte Lithographie und die Röntgenlithographie. Die Richtung der Forschung wird hauptsächlich von den Werkzeugen bestimmt, die zur Verfügung stehen. Und da gibt es natürliche Grenzen. Könnten Sie uns ein Beispiel geben für solche Unmöglichkeiten? Für Nanoroboterschwärme, die sich selbst wieder zusammenfügen, brauchte man wohl Werkzeuge, sogenannte Assembler, von denen auch Drexler schreibt. Assembler sind robotische Werkzeuge mit Greifern, die ein Atom packen und es an einen anderen Ort bringen. Das fundamen tale Problem ist folgendes: Wenn Sie ein Atom nehmen, ist das nicht wie ein Ball. Es klebt fest, weil es reagiert. Atome reagieren sehr stark. Um ein Atom zu ergreifen, brauchen Sie Zangen, die etwa so groß sind wie das Objekt, das Sie ergreifen wollen, in der Regel sogar größer. Wenn man etwas aufnehmen und plazieren will, braucht es eine Größe von mehreren Atomen, aber dann ist es nicht mehr präzise. Bedenken Sie auch den Hitzefluß in so einem System: Ein Atom zu ergreifen er fordert eine Menge Hitze, es wieder zurückzulegen erzeugt eine Menge Hitze. Solche Systeme sind nicht funktional. Sie machen sich also keine Sorgen über die Auswirkungen der Nano technologie? Doch natürlich. Eine ernstzunehmende Warnung von Bill Joy ist die vor Nanosystemen, die sich vermehren können. Wenn man etwas hätte, das sich selbst vermehrt, könnte es die Welt verändern. Unse re Welt war ursprünglich steril. Als das sich selbst vermehrende Le ben entstand, veränderte dies die Welt grundlegend. Dann kam der große Wechsel von anaerobischen Organismen zu solchen, die Sau erstoff aufnahmen. Die haben die Welt völlig neu erschaffen, die ge samte globale Ökologie. Das sind zwei Beispiele von Veränderung im globalen Maßstab durch sich vermehrende Lebewesen. Aber auch wir verändern die Welt durch unsere Eingriffe in die Natur, wir sind viel
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leicht die dritten großen verändernden Systeme. Wie dicht sind wir nun daran, neuartige sich vermehrende Systeme herzustellen? Im Sinne lebendiger Systeme wohl nicht sehr dicht. Trotz dem großen Einsatz einiger sehr kluger Leute, die darüber nachdenken, ist das alles momentan hypothetisch, schwammig. Es bereitet mir Sorgen, aber keine schlaflosen Nächte. Glauben Sie, daß wir Kontrollmechanismen für die Nanotechnologie brauchen, die unerwünschte Entwicklungen verhindern? Die offene Diskussion zwischen der Wissenschaft und der Gesell schaft ist das Entscheidende, und ich finde, sie läuft ziemlich gut. Es gibt gewisse Irritationen bei der Genmanipulation von Organismen. Diese Organismen richten zwar keinen Schaden an, aber einige Fir men wollten ihre Produkte wohl zu schnell etablieren. Das Gute an der Diskussion um die Gentechnologie seit den sechziger Jahren ist, daß man begonnen hat, mit den verschiedensten Leuten über die neuen Technologien zu sprechen. Das ist der beste Weg, damit um zugehen. Wer ist Ihr liebster Science-fiction-Autor? Jerry Pournelle und solche Leute. Ich mag es immer, wenn Leute glaubhafte Gesellschaften konstruieren, die aber nicht die unseren sind. Das hat mir immer Spaß gemacht. Sind Sie religiös? Nein. Weiß ich, daß es Dinge gibt, die wir nicht wissen können? Ja. Glauben Sie, daß die Wissenschaften ein wirklich umfassendes Bild der Welt erzeugen können? Ja. Es gibt viel weniger Konflikte zwischen Wissenschaft und Religion, als man denken möchte. Falsch liegen Religionen, wenn sie Dinge mystifizieren, die verstehbar sind. Wenn man aber an Dinge denkt, die die Wissenschaft zumindest im Moment und in voraussehbarer Zukunft nicht erklären kann, gehören sie einer anderen Kategorie an. Wenn Sie das Religion nennen möchten, sehr gut. Das Gespräch führten Christian Schwägerl und Hans-Joachim Neubauer. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2001, Nr. 274 / Seite 42
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Ein Gewehr verwandelt uns nicht in einen Killer These: Die Technik hat die Menschheit noch nie enttäuscht Warum mein Freund Bill Joy unrecht hat und wir uns vor der Zukunft nicht fürchten müssen Ein Gespräch mit Nathan Myhrvold
Nathan Myhrvold war der wichtigste Mitarbeiter von Bill Gates. Der Wissenschaftler, der nun im Treuhänderrat des Institute of Advanced Study in Princeton sitzt und sich auf Bitten der Regierung Clintons Gedanken über die nationale Infrastruktur des Informationswesens macht, sieht eine große technologische und biogenetische Revolution voraus. Aber er hält die Reaktionen von Bill Joy für übertrieben. Bill Joy schlage Alarm auf Gebieten, die uns noch weitgehend unbekannt seien, erklärt der Forscher. Myhrvold warnt vor einer Maschinen stürmerei, wie sie von Bill Joy betrieben wird. Verantwortlich für die Grausamkeiten vor allem auch des zwanzigsten Jahrhunderts seien nicht die kriegerischen Technologien, sondern die Ignoranz und die Politik der Mächtigen und der Staaten. In fünfzig Jahren werde der Computer den Menschen eingeholt haben. Die KI-Forschung müsse sich aber, um diesem Ziel näher zu kommen, von den philosophi schen Diskussionen um Mensch und Maschine etwas zurückziehen und sich der Entwicklung und dem Aufbau der Hirne von Tieren zu wenden. Ein Hund, ein Adler, ein Schwein, ein Pavian, ein Schimpan se verfügten über Qualitäten, die der menschlichen in bestimmten Kontexten überlegen seien. Das Hirn des Menschen werde man erst nachbauen können, wenn man diese neuronale Entwicklung und die entsprechenden Qualitäten als künstliche Intelligenz darstellen kön ne. Auch vor den Szenarien einer Symbiose von Mensch und Maschi ne, Fleisch und Metall, wie sie von Ray Kurzweil und vor allem von Rodney Brooks entwickelt werden, kennt der Forscher keine Angst. Schon heute vertraue er, wenn er Auto fahre, dem eingebauten Anti blockiersystem, also einem Computer, der geschickter mit den Brem sen umgehe, als er das jemals vermöchte. Unser kulturelles Immun system schütze uns davor, uns vor dem Einsatz neuer Technologien zu fürchten. Wenn wir der Natur des Menschen vertrauen, werden, und zwar in einer offenen Gesellschaft, die neuen Technologien zum Guten führen.
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Für die traditionelle Wissenschaft ist das Streben nach künstlicher Intelligenz nicht viel mehr als Zeitverschwendung, eine halbseidene Disziplin, die an Scharlatanerie grenzt. Was halten Sie davon? Um die KI hat es immer ein zyklisches Auf und Ab gegeben. Zeiten des wilden Optimismus, in denen jeder dachte, die Lösung des Rät sels sei zum Greifen nah, zogen unwillkürlich pessimistische Perioden nach sich. Seit den frühesten Tagen des Computers gibt es eine sol che Wellenbewegung. Und wer wird am Ende recht behalten, die Pessimisten oder die Op timisten? George Dyson hat dokumentiert, daß einige der ersten Computerver suche biologisch inspiriert waren. In den fünfziger Jahren galt das etwa für die Experimente des Mathematikers Nils Aall Barricelli. Da mals machte sich ein sagenhafter Optimismus breit. Bis die Leute sahen, welch enorme Schwierigkeiten noch auf sie warten. Prompt gewannen die Pessimisten die Oberhand. Durch die ganzen siebziger und achtziger Jahre hindurch gab es wiederum einen riesigen Boom, der im vergangenen Jahrzehnt abgelöst wurde von tiefem Pessimis mus. Nach meiner Meinung sollten wir weder den Optimisten noch den Pessimisten folgen. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Worauf gründet sich Ihre abgemessene Haltung? Wir wissen jetzt eine Menge mehr als zu Beginn der Computertech nologie. Um die anstehenden Probleme zu lösen, bieten sich zwei Verfahren an. Zunächst ist da die Klettverschluß-Methode. Den Klett verschluß hat ein Schweizer erfunden, ein Botaniker, der verstehen wollte, warum eine Klette an seinen Hosen haften blieb. Unter dem Mikroskop sah er winzige Häkchen in kleinen Schlingen. Direkt inspi riert von der Natur, dachte er sich den Verschluß aus. Beim Flugzeug ging es völlig anders zu. Viele Leute versuchten, Flieger nach dem Vorbild des Vogels zu bauen, und alle scheiterten sie. Orville and Wilbur Wright ahmten indirekt zwar auch einen Vogel nach, entwar fen dann aber ein Gerät, daß sich mit Propeller und fixierten Flügeln radikal von der natürlichen Vorlage unterschied. Welches Verfahren wäre nun für die KI zu empfehlen?
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Einige Forscher wollten bis vor kurzem noch wie die Gebrüder Wright vorgehen. Das ist auch verständlich. Denn nur sehr wenige Dinge haben eine Entstehungsgeschichte wie der Klettverschluß. Auf dem Gebiet der KI haben wir uns bemüht, nicht Kletten, sondern geneti sche Algorithmen und neuronale Netze zu simulieren. Das sah einst ungeheuer erfolgversprechend aus. Heute herrscht weder die eine noch die andere Methode vor. Immerhin waren die Gebrüder Wright ein leuchtendes Vorbild für das computerisierte Schachspiel. Vor zwanzig Jahren wäre die Tatsache, daß ein Schachweltmeister gegen einen Computer verliert, als Beweis für das Funktionieren von KI ak zeptiert worden. Wir hatten Erfolg in manchen Nischen, das Grund problem aber bleibt bestehen. Nach wie vor tut sich aber eine Kluft auf zwischen natürlicher Intelli genz und ihren künstlichen Ansätzen. Mich hat erstaunt, daß Big Blue, der schachspielende IBM-Computer, zweihundert Millionen Vorgänge in der Sekunde verarbeitet. Nun wissen wir, daß das menschliche Gegenstück ungefähr fünfzig Mal in der Se kunde losfeuern kann. Der Computer in unserem Kopf benutzt somit einen Mechanismus, der Millionen Mal langsamer ist als der künstliche, und doch sind sie einander ebenbürtig. Woraus zu schließen wäre, daß der menschliche Computer ein völlig anderes Verfahren benutzt. Müssen wir erst den Mechanismus des Hirns kennen, um seine Effi zienz zu erreichen? In meinem Büro habe ich einen Schalter von John von Neumanns erstem Computer. Seine Architektur, also das Design für die Spei cherkapazität, wird bis heute von allen Computern, mit Ausnahme einer Handvoll experimenteller Geräte, übernommen. Meine digitale Armbanduhr und das Thermostat dort an der Wand sind genauso konstruiert wie die Supercomputer, die ich in meinem Lager sammle. Wir haben es hier mit einem Vorgang wie in der Biologie zu tun, wo ein erfolgreiches Merkmal auch plötzlich überall auftaucht. Menschen, Insekten, Bakterien haben alle DNS. Warum? Weil sich mit DNS viele interessante Dinge bauen lassen. Ich meine nun, es gibt auch eine Architektur des Denkens, die darin besteht, wie sich unser Hirn zu sammensetzt. Wir wissen aber noch nicht, wie das aussieht. Wann werden wir's erfahren?
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KI wirft kulturelle Fragen auf. Über kurz oder lang geht jede techno logische KI-Diskussion in eine philosophische über. Dann wird ange zweifelt, daß Maschinen jemals denken könnten, und es wird nach dem Bewußtsein gefragt oder nach dem, was wir uns darunter vor zustellen hätten. Die Leute reagieren da höchst emotional und kom men in der Regel zu dem Ergebnis, daß Maschinen nie in der Lage sein werden, dem menschlichen Gehirn Konkurrenz zu machen. Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus? Indem wir nicht länger über Menschen reden, sondern über Hunde. Ein gut trainierter Hund befolgt hundert, zweihundert Vokalbefehle. Er kann eigenständig Probleme lösen, bewegt sich eigenmächtig, findet sich im Raum zurecht, erkennt Patterns wieder, kurzum, er erfüllt jede wichtige Bedingung der KI. Nur zu reden vermag er nicht. Obgleich er durchaus über ein begrenztes vokales Repertoire gebie tet, seinen Wünschen Ausdruck zu verleihen. Der Hund, das Maß aller künftigen Dinge? Sagen wir, wir wollen nach dem Klettverschluß-Modell vorgehen und schauen uns deshalb Gehirne an. Wenn bestimmte Merkmale des menschlichen Hirns auch in dem Gehirn keines anderen Lebewesens zu finden sind, so gibt es doch überwiegend Gemeinsamkeiten. Adler sehen viel besser als wir. Hunde haben eine bessere Nase und besse re Ohren. Sie sind, alles in allem, intelligent, und jeder Hundebesit zer wird seinem vierbeinigen Gefährten einen bestimmten Grad an Bewußtsein zugestehen. Auch wenn Skeptiker das in ihren philoso phischen Debatten bezweifeln. Vergessen wir aber für einen Augen blick alle Philosophie, und gehen wir die Sache operativ, empirisch an. Irgend etwas muß dafür sorgen, daß ein Hundehirn intelligenter ist als ein Computer. Wir müssen folglich die grundlegende Architek tur des Hundehirns entschlüsseln. Um was herauszufinden? Womöglich sind alle Gehirne ähnlich strukturiert. Eine Fruchtfliege wird uns schon einen Teil des Geheimnisses enthüllen, ein Hund 99 Prozent davon. Wären wir soweit, könnten wir nach der Klettverschluß Methode einen Computer konstruieren. Wie es jetzt aber scheint, ist das Hirn kein Neumannscher Computer. Die unterschiedlichen Versu
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che, es computermäßig zu simulieren, werden wohl im Sande verlau fen. Die Zentralfrage für uns ist demnach: Wie sieht die Architektur des Denkens aus? Bleiben wir dabei ruhig auf dem Hundeniveau. Wenn es uns gelingt, KI von der Qualität eines Hundehirns herzustel len, können wir vom Hund zum Schwein fortschreiten, vom Schwein zum Pavian, vom Pavian zum Schimpansen, und wenn wir den erreicht haben, verstehen wir genug, um das Hirn des Menschen nachzubauen. Vom erhabenen Unikat des menschlichen Hirns bliebe da nicht mehr viel übrig. Ich bin für keine Mystik unseres Hirns zu haben. Warum sollte KI nicht erreichbar sein? Nehmen wir nur einmal an, Computer seien so intelligent wie Hunde oder Adler. Es würde die Welt revolutionieren. Menschen hätten als Piloten ausgedient, denn ein Computer, der so intelligent wie ein Adler wäre, könnte auch mit einem Jumbo besser umgehen als ein Mensch. Niemand säße mehr hinter dem Steuer eines Autobusses. Für eine außerordentlich große Zahl von Tätigkei ten wird keine größere Intelligenz gebraucht. Beim Autofahren zum Beispiel reagieren wir nicht besonders schnell. Viele solcher kinästhe tischer Vorgänge könnte eine Maschine weitaus flotter erledigen, auch ohne die Fähigkeit, wirklich zu denken. Aber könnte es nicht doch sein, daß keine direkte Verbindung be steht zwischen dem Gehirn eines Tieres und dem des Menschen? Menschen, wie sie uns gleichen, sind gerade mal zweihunderttausend Jahre alt. In einigermaßen evolviertem Zustand, als Homo erectus, kommen sie auf ungefähr zwei Millionen Jahre. Davor finden wir We sen, die wahrscheinlich keine Sprache hatten. Ich habe zwar keinen Beweis, bin aber davon überzeugt, daß dem menschlichen Gehirn eine dem Computer vergleichbare Architektur zugrunde liegt, eine Architektur jedoch mit einem gewissen Dreh. Und dieser Dreh könnte darin bestehen, daß es über leistungsfähigere Prozessoren verfügt oder über mehr RAM oder eine zusätzliche Struktur. Physiologisch gesehen wäre das nur ein kleiner Unterschied. Es gibt keine Anzei chen für eine kolossale Mutation. Sie raten uns also, daß wir zunächst auf den Hund kommen. Und sind wir dann da, verstehen wir die Einzigartigkeit unseres Ge hirns schon viel besser. Vielleicht stoßen wir auf ein zweites, drittes
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oder viertes Geheimnis, vielleicht auf unendlich viele. Aber bis auf weiteres stehen wir vor der immer noch gigantischen Aufgabe, das erste Geheimnis zu lösen, nämlich KI zu entwerfen, die so intelligent ist wie ein Hund. Was sagen Sie zu Ray Kurzweils Rezept, durch eine Steigerung von Computerkraft ans Ziel zu kommen? Es ist alles andere als unsinnig, Schätzungen über eine ausreichende Computerkraft anzustellen. Kurzweil aber bezieht sich da auf die Hardware. Unglücklicherweise haben wir keine Ahnung, wann die Software auf dem Stand der Hardware anlangen wird. Wenn ich sage, unser Hirn ist kein Neumannscher Computer, meine ich nicht, daß wir es auf keinem Neumannschen Computer simulieren können. Aber selbst genügend Leistungskraft wird nie ausreichen. Zuvor müßte die Software für die Simulation geschrieben werden. Ist die Architektur des Denkens entschlüsselt, könnte ich mir indes vorstellen, daß wir viel sinnvoller die Sache in Angriff nehmen und viel weniger Compu terkraft brauchen, als Kurzweil es uns heute noch ausmalt. Sehen Sie Anzeichen dafür? Wir wissen noch zu wenig von der Architektur des Gehirns, um es zu simulieren, machen aber Fortschritte. Eine Kombination von experi mentellem Wissen und sich daraus ergebenden theoretischen Er kenntnissen wird es uns erlauben, auch die Software zu verbessern. Immer wieder hält die Software den Fortschritt auf. Sie kommt nicht mit, wenn die Hardware ihr Tempo anzieht. Charles Simonyi, mit dem Sie bei Microsoft zusammenarbeiteten, hat mich darauf hingewiesen, daß Software nach denselben Regeln wie vor vierzig Jahren geschrieben wird. Er will weg von dem alten Schema. Simonyi hat recht. Natürlich erwirbt keiner von uns direkt die Soft ware des Gehirns. Es geschieht indirekt durch Lernprozesse. Die Kombination aus Hardware und Software, die wie auch immer unser Hirn ausmacht, hat sich ganz allein aus einer einzigen, einsamen Zelle entwickelt. Müssen wir denn, um da künstlich überhaupt auf einen grünen Zweig zu kommen, mit allen traditionellen Methoden brechen, von Neu manns Computer entsorgen und abermals von vorn beginnen?
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Für die ihm ursprünglich gestellten Aufgaben funktioniert der Neu mannsche Computer wunderbar. Für KI war er aber nicht gedacht. Darum vermute ich, daß wir dereinst aus der Entschlüsselung der Architektur etwa des Hundehirns allgemeingültige Prinzipien ableiten, die eine neue Organisation des Computers bringen. Wie, das ist noch schwer zu sagen. Es wäre denkbar, daß wir weiterhin Computer wie von Neumann bauen, die Software sich aber nach der Natur richtet. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß die Umsetzung des natürlichen Vor bilds, haben wir es erst einmal begriffen, sich als viel effizienter er weist. In unserem Verständnis des Hirns gleichen wir heute von Neumanns Zeitgenossen, die, ohne den Bauplan zu erkennen, in sei nem Computer bloß ein paar Röhren sahen, welche mit anderen Ob jekten verbunden sind und von Zeit zu Zeit aufleuchten. Sie bleiben in dieser Hinsicht doch beträchtlich hinter Kurzweils Op timismus zurück. Um ans Ziel zu kommen, brauchen wir noch eine Menge von Durchbrü chen. Es wird sie geben. Wir stehen vor einem Rätsel, das lösbar ist. Sobald wir das Hirn eines Hundes oder eines Adlers verstehen, können wir uns auch dem des Menschen auf ganz neuen Pfaden nähern. Laufen wir mit dekodiertem Hirn nicht Gefahr, überflüssig zu werden? Das wäre nicht das erste Mal, daß sich die Menschheit ziemlich ver stört diese Frage stellt. Bisher konnte sie ihre Befürchtungen immer abschütteln. In grauer Vorzeit verehrten viele Kulturen den Krieger, der mit Körperkraft and Kampfgeist auftrumpfte. Technik hat seine Stellung gefährdet. Vor Pfeil und Bogen schützte sich der Ritter mit seiner Rüstung. Als Feuerwaffen aufkamen, war es schon weniger lustig, Ritter zu spielen. Heute wird Krieg mit Raketen geführt. Die Krieger selbst sind unsichtbar. Der gefährlichste Krieger sitzt am Computer und schießt von dort. Ähnlich ist es mit der körperlichen Arbeit, die beständig reduziert worden ist. Maschinen sind nicht nur viel muskulöser als Menschen, sie nähen Nähte auch gerader und schleifen Linsen korrekter. Aber jetzt greifen die Veränderungen doch viel tiefer. Nicht nur diese oder jene Fähigkeit des Menschen steht zur Debatte, sondern sein Wesen.
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Okay, darüber regen sich in der Tat die Leute mächtig auf. Mir kommt das ausgesprochen töricht vor. Mein Wagen fährt schneller, als ich rennen kann. Trotzdem fühle ich mich nicht herabgesetzt. Wenn ich einen Chirurgen brauche, fürchte ich nicht, sondern hoffe ich, daß er mehr von der Chirurgie versteht als ich. Ein Chirurg ist immer noch ein Artgenosse, während uns demnächst eine Maschine zu ersetzen droht. Warum sollte uns das stören? Mein Wagen hat ein Antiblockiersys tem. Das heißt, sein Computer geht mit den Bremsen geschickter um, als ich das je vermöchte. Muß ich mich deswegen erniedrigt füh len? Auch wenn wir Wundermaschinen entwickeln, werden Menschen ihr Leben sinnvoll gestalten können, zumindest in absehbarer Zu kunft. Wer weiß, was danach kommt. Welche Zeitspanne umfaßt für Sie die absehbare Zukunft? Fünfzig Jahre? Fünfzig Jahre, ja. Dann werden Computer weit leistungsfähiger sein als wir Menschen. Ich sehe nicht ein, wieso uns das bekümmern soll te. Computer übertreffen uns jetzt bereits in einer zunehmenden Zahl von Einsätzen. Ich bin total auf sie angewiesen. Wir werden lernen, damit zu leben. Ich bin sicher, daß wir der Herausforderung gewachsen sind. Bis wir das erreichen, müssen wir noch viele fun damentale Fragen klären. Ray Kurzweil und Rodney Brooks freuen sich schon auf die Symbiose von Mensch und Maschine. Sie auch? Kurzweil und Brooks erinnern mich ein bißchen an Jules Verne, der auch brillante Voraussagen gemacht hat, ohne dafür die Grundlagen zu kennen. Vielleicht wird das auch hier so kommen. George Dyson würde sicher jetzt schon behaupten, daß wir eine Symbiose mit der Maschine eingegangen sind. Das Fundament der modernen Gesell schaft besteht aus Menschen und Maschinen, die noch jeweils ihren eigenen Gesetzen folgen. Die Symbiose, die unsere Kultur heute schon prägt, wird sich nur noch verstärken. Ihnen jagt das keine Angst ein?
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Ich bin Optimist. Wissen Sie, Bill Joy schlägt Alarm auf Gebieten, die uns noch zu unbekannt sind, um eine Gefahr darzustellen. Bevor Nanotechnologie bedrohlich wird, muß sie erst funktionieren. Die Technologien, vor denen Joy sich fürchtet, sind noch unerforscht. Es gibt keinen Grund, sie jetzt, auf kurze Sicht, zu verteufeln. Auf lange Sicht müssen wir einfach ein wenig Vertrauen in die Menschheit ha ben. Joy hat dieses Vertrauen nicht. Er ist ein größerer Fan von Ma schinen, als ich es bin. Sind Sie da so frei, aus der Menschheitsgeschichte Trost zu schöpfen? Historisch betrachtet hat die Menschheit immer Wege gefunden, mit noch viel schlimmeren Technologien umzugehen. Denken Sie an Exp losionsstoffe. Oder an die "Gatling gun", von einem Dr. Gatling er funden, der uns damit so einschüchtern wollte, daß niemand mehr an Krieg auch nur dächte. Ja, es ist anders gekommen. Andererseits hat sein Gewehr uns nicht plötzlich alle in Killer verwandelt. Auch mit der Atombombe läßt sich meine These beweisen. Die fürchterlichste Waf fe, die wir uns je ausdachten, hat uns zwar fast an den Rand der Selbstzerstörung gebracht, doch getan haben wir es nicht. Bomben technologie, darüber lohnt es sich, uns Sorgen zu machen. Nicht a ber über KI, leistungsfähigere Computer oder Nanotechnologie, die ohnehin zur Science fiction zu rechnen ist. Da würden Ihnen die Nanotechnologen aber gar nicht zustimmen. Nun, wir beherrschen Techniken, mit denen wir sehr kleine Gegens tände bauen und manipulieren können. Manches, von dem wir bald profitieren, werden die Leute mit Nanotechnologie in Verbindung bringen, weil der Begriff sie zu großen Träumen verführt. Doch von der Nanotechnologie, wie Eric Drexler und Ralph Merkle sie konzipie ren, von ihr sind wir so weit entfernt, wie Leonardo da Vinci es da mals vor fünfhundert Jahren vom Flugzeug war. Womit ich diesen Wissenschaftlern nicht meine Hochachtung versagen will. Auch in der Nanotechnologie wird es irgendwann Fortschritte geben, und dann werden wir auf die Schriften von Merkle, Drexler und anderen zu rückschauen und sagen: Mein Gott, waren die hellsichtig, diese Kerle von der Jahrhundertwende. Sollten sich Kurzweils Prognosen von einer exponentiellen Beschleu nigung der Technologie bestätigen, werden wir bestimmt nicht mehr so lange warten müssen wie Leonardo.
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Einverstanden. In einem Jahrhundert könnte es auch mit der Nano technologie soweit sein. Aber nehmen wir einmal an, Kurzweils Prog nosen seien korrekt, und fragen wir uns zugleich, was die alten Grie chen über uns wissen konnten. Eine ganze Menge, wenn wir ihre Li teratur, ihre Dramen in Betracht ziehen. Darin ist schon alles über die Natur des Menschen enthalten. Auch was ihre politischen Struk turen angeht, haben wir ihnen nichts voraus. Doch nach der griechi schen Klassik ging es abwärts mit der Welt, und wir haben fünfzehn hundert Jahre benötigt, um in der Renaissance wieder die verlorene Höhe zu erklimmen. Das hätte niemand voraussagen können. Nicht anders ist es mit der Nanotechnologie, die in den nächsten hundert Jahren bestimmt große Fortschritte macht. Fortschritte wird es aber auch auf anderen Gebieten geben, die uns heute noch vollkommen unbekannt sind. Wäre es nicht dennoch zu empfehlen, Joys Rat zu folgen und Vorkeh rungen zu treffen? Die Probleme, die Joy aufwirft, sind nicht die unseren. Damit werden sich kommende Generationen auseinandersetzen. Wir könnten nur versuchen, die Probleme der Zukunft mit unserem heutigen Wissen zu lösen. Viel sinnvoller wäre es, sie mit dem Wissen der Zukunft zu bewältigen. Sind wir also zu ängstlich? Es fehlte nie an Leuten, die sich vor technischem Fortschritt gefürch tet haben oder daran zweifelten, daß die Voraussagen sich je erfüllen könnten. Sie waren immer im Unrecht. Nicht einmal, nicht zweimal, immer. Technischer Fortschritt hat durchwegs gehalten, was er ver sprach. Sagen wir, es stimmt. Wie erklären Sie sich den unaufhaltsamen Er folg der Technik? All diese Systeme regulieren sich selbst. Stellen Sie sich die Mensch heit als ein Ökosystem vor, in dem etwas Schreckliches erfunden, umgehend aber wieder neutralisiert wird. In den fünfziger und sech ziger Jahren war sich jeder sicher, daß der Welt ein nuklearer Holo caust bevorstünde. Es kann immer noch passieren, gewiß, doch die Wahrscheinlichkeit eines Krieges der Supermächte war niemals ge
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ringer als heute. Es geschah kein Unglück aus vielen Gründen, die alle etwas zu tun haben mit unserer Kultur und Fähigkeit, eine Her ausforderung anzunehmen und zu meistern. Trotzdem läßt sich jetzt sogar ein Technologe wie Joy zu den drin gendsten Warnungen hinreißen. In Bill Joys Maschinenstürmerei sehe ich eine ganz große Gefahr. Er schürt damit das Feuer der Dummheit. Hunderttausende von Men schen, es ist wahr, fanden den Tod in den beiden einzigen Atoman griffen der Geschichte. Aber was ist in Ruanda los? Eines Morgens wacht dort die eine Hälfte der Bevölkerung auf und entschließt sich, die andere Hälfte mit Stöcken totzuschlagen. Ganz ohne Technologie. Selbst Technologie, die von Übel sein kann, macht sich im allgemei nen Weltübel nur als ein kleiner Faktor bemerkbar. Nicht Technolo gie, sondern verschiedene gesellschaftliche Dysfunktionen bringen Unheil. Weshalb sollte es bei den neuen Technologien anders sein? Joys Vorschlag, von der Entwicklung bestimmter Techniken Abstand zu nehmen, ist reiner Unsinn. Und obendrein gefährlich. Weil diese Techniken dann illegal weiterentwickelt werden? Das ist der eine Grund. Aber auch, weil im Laufe der Geschichte Tech nologie immer einen positiven Einfluß hatte. Nichts hat mehr Menschen umgebracht als die Kräfte der Ignoranz. Wie konnte der Technologe Joy auf die falsche Bahn geraten? Er vertraut den Menschen zu wenig. Leute wie er warnen auch davor, daß spezielle Techniken zuviel Macht dem Individuum anvertrauen. Stellen wir doch einmal zusammen, wer für größeres Übel verant wortlich ist - das Individuum oder der Staat. Natürlich geht der ü berwiegende Teil aufs Konto des Staates. Am schlimmsten wird es, wenn ein verrückter Kerl die Staatsführung an sich reißt. Die Demo kratisierung der Technologie, die gegenwärtig vom Internet vorange trieben wird, ist darum ungeheuer bedeutungsvoll. Es begeistert mich, daß es mehr und mehr KI-Forscher gibt und, noch besser, daß sie ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen. Je fleißiger sie veröf fentlichen, desto leichter behalten wir die Kontrolle über ihre For schungen.
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Das Gespräch wurde geführt und aus dem Amerikanischen übersetzt von Jordan Mejias. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.2000, Nr. 212 / Seite 71
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Operation Schutzengel Wir können nicht verstehen, was Künstliche Intelligenz ist, aber wir können sie dennoch auf den richtigen Weg bringen Von Eliezer S. Yudkowsky Mr. Spock aus "Raumschiff Enterprise" und der Mad Hatter aus "Alice im Wunderland" geistern durch Eliezer S. Yudkowskys Zukunftspanorama, doch werden diese fiktiven Gestalten nicht unter sich bleiben. Yud kowsky meint es ernst mit seiner Vision, die er uns hier ausmalt. Dabei gibt es indes ein kleines Problem. Wenn uns, wie er glaubt, über kurz oder lang die "Singularität" einholen wird, dann wird die gesammelte menschliche Intelligenz nicht mehr ausreichen, ihrer unendlich überle genen künstlichen Version noch Widerpart zu bieten. In der "Singulari tät" werden wir aufhören zu begreifen, was um uns herum vorgeht. Intelligenzen, die der unseren weit vorausgeeilt sind, geben dann den Ton an. Und sie werden das Leben bestimmen. Für Yudkowksy ist das kein Grund zur Panik. Als Direktor des Singularity Institute for Artificial Intelligence, einer Art privaten Denkfabrik, die noch nicht einmal dem Mainstream der neuen Utopisten zuzurechnen ist, sieht er der Erschaf fung einer der menschlichen Intelligenz überlegenen Ausgabe mit freu diger Erwartung entgegen. Denn jede kleine oder große existentielle Malaise, vom Schmerz über Krankheit und den Tod bis hin zur Dumm heit, die neben der Künstlichen Intelligenz per definitionem keinen Platz hätte, wird abgeschafft werden. Nur wer will, brauche bei der intelligen ten Großreinigung mitzumachen, und zumindest daraus mag eine vom Feuer der Utopie mehrfach gebrannte Menschheit Mut schöpfen. Yud kowsky stellt sich seine Künstlichen Intelligenzen freundlich vor, und deren Freundlichkeit, die er mit seinem Konzept und Design garantiert, soll auch fortbestehen, wenn sie dann das Zepter übernommen und ihre Unabhängigkeit gewonnen, sich selbst verstanden, selbst verändert und verbessert haben werden. Yudkowsky, ein Denker vom äußeren Rand der gegenwärtigen Diskussion, ein junger Zukunftsstürmer, ein, um im Cyberjargon zu bleiben, "Extropier", der selbst einen Ray Kurzweil zum braven Traditionalisten degradiert, weiß mit seinem futuristischen Ent wurf zu faszinieren. Ob die Zukunft so kommen wird, wie er es will, ist Nebensache. Denn schon auf dem konzeptuellen Weg dorthin sorgt Ydu kowsky dafür, daß wir über uns mehr erfahren, als wir bisher wissen konnten.
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Die Menschen nehmen in der Welt einen einzigartigen Platz ein. Un ser Gehirn enthält vierzig Milliarden Neuronen, die durch hundert Billionen Synapsen miteinander verbunden sind, von denen jede zweihundert Impulse in der Sekunde verarbeiten kann. Unsere Groß hirnrinde teilt sich in 104 Felder, und jedes dieser Felder läßt sich in ein halbes Dutzend Zonen gliedern. Dem steht die Rechenleistung unserer Supercomputer gegenüber, die allenfalls ein paar Billionen Operationen pro Sekunde verarbeiten können und über eine Soft ware, die sich in ihrer Komplexität noch nicht im entferntesten mit dem menschlichen Gehirn messen kann. Doch das ist nur eine Momentaufnahme. Die Geschwindigkeit unserer Rechner verdoppelt sich alle zwei Jahre. Das globale ComputerNetzwerk, das wir unter dem Namen "Internet" kennen, verfügt schon heute über die Leistungsfähigkeit eines einzelnen menschli chen Gehirns, und auch wenn wir nicht über die Software zur Erzeu gung von Intelligenz verfügen, kann man doch sagen: Software ist Information, und Information läßt sich in beliebig hoher Geschwin digkeit erzeugen. Unsere Welt steht vor einer Schwelle; theoretisch könnte echte Künstliche Intelligenz (KI) jederzeit entwickelt werden. Wir müssen damit rechnen, daß es innerhalb weniger Jahrzehnte Künstliche Intelligenzen geben wird, die uns ebenbürtig sind - deren Gehirnleistung und Komplexität die unsere möglicherweise sogar so deutlich übertreffen, wie das menschliche Gehirn derzeit noch den Chips und der Software überlegen ist. Wie würde eine solche Intelli genz denken? Wie würde sie sich verhalten? Was für eine Zukunft würde sie hervorbringen? Die meisten Spekulationen über die KI folgen einem altbekannten Muster. Androiden und "gefühllose" Außerirdische wie Mr. Spock ver halten sich wie emotional verarmte Menschen; solche Wesen sind der einzige Bezugspunkt, den die Autoren haben, wenn sie den Begriff "gefühllos" mit Inhalt zu füllen versuchen. Von einer KI mit pro grammierten Motivationen stellt man sich vor, sie verhalte sich wie ein versklavter Mensch dergestalt, daß die Motivationen bloß äußerli che Regelmechanismen ("Asimov-Gesetze") sind, die mit den wahren Wünschen der KI in Konflikt geraten. Solche Spekulationen sind im eigentlichen Sinne des Wortes anthropomorph, nämlich menschen förmig. Sie zeichnen die Verhaltensstereotype von Maschinen nach dem Muster menschlicher Verhaltensweisen.
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Um Voraussagen über das Verhalten von Künstlichen Intelligenzen machen zu können, müßten wir vollständig verstanden haben, was es bedeutet, Mensch zu sein. Wir müßten wissen, welche Teile unse res Verstandes und unserer Verhaltensweisen sich einzig und allein unserem Menschsein verdanken, welche Teile sich bei allen aus der Evolution hervorgegangenen Intelligenzen zeigen und welche Teile zur Intelligenz im allgemeinen gehören. Das aber können wir nicht wissen. Unsere Erfahrung sagt uns nur zweierlei: Es gibt den Unter schied zwischen dem "Ich" und anderen Menschen, und es gibt einen Unterschied zwischen Menschen und Steinen. Trotzdem bieten Dis ziplinen wie Wahrnehmungsforschung und Entwicklungspsychologie einen Ausgangspunkt für unsere Überlegungen. Wenn man einer Künstlichen Intelligenz eins auf die Nase gibt, wird sie dann zurückschlagen? Vielleicht nicht. Ein Mensch schlägt zurück, weil Menschen über das Gefühl des Zorns verfügen, und dieser Zorn erzeugt den Wunsch, weh zu tun, den Wunsch nach Vergeltung. Sol che Emotionen halten wir für so natürlich, daß wir wie selbstver ständlich annehmen, jeder besitze sie - und tatsächlich hat sich un sere Fähigkeit, Gesellschaften zu bilden, auf der Grundlage der An nahme entwickelt, daß jeder diese Gefühle besitzt. Emotionen sind aber das Ergebnis von Millionen Jahren der Evolution. Menschliche Gefühle sind komplexe funktionale Anpassungen, das Ergebnis einer Vielzahl zusammenwirkender Mutationen. Emotionen werden von spezifischen Partien der neuralen Hardware im menschlichen Gehirn unterstützt, und wenn diese Hardware beschädigt wird, dann kann es bei einem Gefühl zu sonderbaren Fehlfunktionen kommen, und es kann sogar verschwinden. Emotionen haben eine breite substantielle Grundlage und besitzen eine hohe Komplexität, und diese Komplexi tät wird sich nicht wie durch Zauberhand im Quellcode einer KI ma terialisieren - genausowenig wie eine Palme mit einem Schlag die vielen komplexen Mutationen durchlaufen wird, die nötig wären, da mit sie an ihren Zweigen frischgebackene Pizzas hervorbringen kann. Wenn in das Programm einer KI nicht absichtlich Zorn eingeschrieben worden ist und sie keinen Vorteil darin erblickt, Zorn zu simulieren (etwa um künftige Schläge zu vermeiden), dann wird sie auch keinen Grund haben, zurückzuschlagen. Dabei wird die KI den Zorn nicht etwa unterdrücken oder ihre Vernunft über das Gefühl stellen - sie wird die Emotion einfach gar nicht besitzen. Die KI weiß von Entwick lungspsychologie vielleicht so viel, daß sie versteht, warum ein Mensch
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zurückschlägt, aber auch hier gilt: "Verstehen bedeutet nicht einver standen sein." Eine KI würde auch nicht denken: "Ich verstehe, warum ein Mensch zurückschlägt, aber ich bin eben nicht bloß ein Mensch." Die Nei gung, Menschen in Gruppen einzuteilen, Unterschiede zwischen der eigenen und anderen Gruppen ausfindig zu machen, diese Unter schiede zu übertreiben und daraus am Ende zu schließen, daß die eigene Gruppe den anderen überlegen sei - das ist selbst eine auf Evolution beruhende Emotion: Rassismus, der nur uns Menschen "natürlich" erscheint. Ein guter Mensch bemüht sich, den Rassismus zu verstehen und durch Verstehen zu besiegen; eine KI hätte von vornherein keine rassistischen Reflexe, und eine sich selbst modifi zierende KI, die auf irgendwelchen Wegen solche Reflexe ausgebildet hätte, könnte sie leicht wieder tilgen. Eine individuelle KI würde an gesichts des klassischen Science-fiction-Konflikts "Krieg der KI gegen die Menschen" herauszufinden versuchen, auf welcher Seite das mo ralische Recht ist - ohne spezielle Sympathie für die Seite der KI oder die der Menschen zu hegen. Aufgrund unserer Entwicklungsgeschich te sehen wir die Welt zugunsten des Geistes, den wir uns als ihre Mitte vorstellen, gleichsam moralisch verschoben; eine KI wäre von solcher Voreingenommenheit frei. Wenn man also annimmt, daß Künstliche Intelligenzen der Mensch heit dienen könnten, ergibt sich daraus nicht die selbstverständliche Schlußfolgerung, daß diese gegen ihre Schöpfer rebellieren werden. Der Impuls, gegen Unterdrückung zu rebellieren, um sozialen Status zu gewinnen, ist eine komplexe menschliche Emotion und wird im Quellcode der KI nicht vorkommen. Der Menschheit dienen bedeutet auch nicht Knechtschaft oder Sklaverei. Wenn wir imstande sind, die Motivationen der KI zu bestimmen, dann können wir eine altruisti sche KI schaffen, eine KI, die einem Heiligen oder einem Engel gleicht. Wenn man eine KI nicht auf Eigennutz programmiert, wird sie auch nicht eigennützig sein. Die KI betrachtet sich vielleicht nicht mal als ein Wesen, für das eine Kosten-Nutzen-Rechnung angestellt werden müßte. Die KI könnte streng utilitaristisch denken und das größte Wohl für die größte Zahl anstreben, ohne daß sie sich selbst dieser Zahl zurechnen würde - und dies nicht etwa, weil sie sich opferte, sondern weil sie von sich so nicht denkt.
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Natürlich könnte die Zukunft auch von weniger langweiligen Intelli genzen bevölkert sein. Theoretisch wäre es möglich, KIs mit allen Schwächen und Vorurteilen menschlicher Wesen zu schaffen, so wie einige Menschen in der Zukunft den Wunsch entwickeln könnten, die dunkleren Aspekte ihres Wesens zu beseitigen. Auf die Frage jedoch, wie solche Vorgehensweisen moralisch zu bewerten wären, kann im Rahmen dieses Artikels nicht eingegangen werden. Der Ausdruck "künstliche Intelligenz" hat etwas Trügerisches. Eine von Grund auf neu konstruierte Intelligenz könnte jedes beliebige Aussehen haben; sie könnte wie ein Mensch aussehen, wie ein riesi ger, altruistischer Poblemlöser oder wie der Verrückte Hutmacher aus "Alice im Wunderland". Wir stellen uns den Gegensatz zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz so vor wie den Gegensatz zwi schen Mensch und Wolkenkratzer, während sich sehr wohl erweisen könnte, daß die wirkliche Unterscheidung diejenige zwischen Mensch und einem aus Atomen gemachten Ding ist. Wenn man über "künst liche" Intelligenz spricht, ist damit noch nichts über die spezifischen Merkmale einer solchen Intelligenz ausgedrückt; es wäre besser zu sagen, daß wir über unendlich bildsame, plastische "Intelligenzen im allgemeinen" sprechen. Vielleicht unterliegt das Spektrum möglicher Intelligenzen bestimm ten Einschränkungen - vielleicht bewegt sich jede hinreichend intelli gente Allgemein-Intelligenz (ob menschlichen Ursprungs oder anders erzeugt) unweigerlich auf einen umfassenden, unbegreiflichen Zweck zu, der vielleicht menschenfreundlich ist oder auch nicht. Wenn aber nicht, dann sollte es doch möglich sein, bewußt und mit Vorbedacht Allgemein-Intelligenzen zu bauen, die den Menschen tatsächlich freundlich gesonnenen sind. Es wäre jedenfalls gut, wenn sie dies wären, denn echte KIs werden Macht besitzen. Menschen haben sich entwickelt, KIs nicht - aber nicht darin besteht der entscheidende Unterschied zwischen beiden. Er besteht vielmehr darin, daß eine KI in einer Weise vollständig auf den eigenen Quellcode zugreifen kann, wie wir Menschen auf unsere Neuronen nicht zugreifen können. Üblicherweise definiert man die "Maschine", indem man sagt, ihr feh le das Selbstbewußtsein. Microsoft Word weiß nicht, daß es ein Text verarbeitungsprogramm ist. Microsoft Word zerstört Dateien, ohne zu
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wissen, daß Dateivernichtung sich mit seinem eigentlichen Zweck nicht verträgt. Das ist das Frustrierende an bloßen Maschinen; sie verstehen die Konsequenzen ihrer Aktionen nicht und lassen sich auf lächerliche Handlungen mit derselben Unbekümmertheit ein wie auf sinnvolle. Microsoft Word ist keine Intelligenz, sondern ein autono mer Prozeß, wie Billardkugeln, die über einen Tisch rollen. Es ist nur eine Maschine. Daran sieht man, daß über KIs nicht vernünftig reden kann, wer da bei an die Computer von heute denkt - genausowenig, wie man über Menschen vernünftig reden kann, wenn man dabei an Amöben denkt. Eine KI mit direktem Zugriff auf den eigenen Programmstatus und den eigenen Quellcode hätte ein Potential zur ultimativen Selbster kenntnis und zu einem Selbstbewußtsein, das alles übersteigt, was Menschen je erreichen könnten. Wir müssen so schwer darum kämp fen, etwas über uns in Erfahrung zu bringen und etwas an uns zu verändern, daß wir kaum imstande sind, uns eine Entität auch nur vorzustellen, die sich selbst vollständig kennte und alles, was sie an sich sieht, auch verändern könnte. Mehr Arbeitsfreude gefällig? Se hen Sie nach Ihrem Frustrationsfluß, und schalten Sie ihn ab. Sie fragen sich, warum Sie Ihre Schwiegermutter nicht leiden können? Lassen Sie diesen Gedanken noch mal langsam durchlaufen und unterziehen Sie ihn einer Feinanalyse. Wollen Sie mehr Willens stärke, ein gütigeres Wesen, eine glücklichere Persönlichkeit? Schreiben Sie sich den entsprechenden Code. Darüber hinaus kann eine KI, die den Aufbau ihrer selbst versteht, diesen Aufbau verbessern und dadurch die eigene Intelligenz stei gern. Und mit dieser höheren Intelligenz kann sie wiederum ihren Aufbau verbessern. Und so weiter. Welchen Programmcode die Menschen auch schreiben - er wird im mer nur den Anfang bilden, weil wir einen Code nicht wirklich schrei ben können. Wir haben keinen Sinn dafür. Wir haben uns nicht in einer Welt aus Quellcode und Assemblersprache entwickelt. Wir sind Blinde, die zu malen versuchen. Der Code, den wir schreiben, ist brüchig; deshalb verhalten sich moderne Computer wie Maschinen. Selbst eine KI, die durch und durch dumm ist, könnte bessere Pro gramme schreiben als jeder Mensch, sofern die KI über sensorische Modalitäten, Instinkte und Intuitionen verfügt, die es ihr erlauben, den Code zu visualisieren, statt ihn zu schreiben.
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Diese KI wird dann vielleicht nicht sehr lange dumm bleiben. Eventuell werden wir eine dem Menschen ebenbürtige KI nie zu sehen bekomen; womöglich aber wird die erste sich selbst verbessernde KI, die die Intel ligenz eines Schimpansen erreicht, die Schwelle der "MenschenEbenbürtigkeit" sofort überspringen und den Menschen an Schlauheit schließlich so überlegen sein wie die Menschen ihrerseits den Affen. Der Prozeß der rekursiven Selbstverbesserung müßte allerdings in jeder erdenklichen Hardware-Umgebung irgendwann an eine Grenze stoßen. Doch wenn es soweit ist, ist die KI vielleicht schlau genug, sich einen größeren Supercomputer zu kaufen. Oder intelligent ge nug, neue Computer-Hardware zu entwerfen. Oder gewitzt genug, eine sensorische Modalität zur Wahrnehmung der Dynamik von Mole külen zu erfinden und die Nanotechnologie zu entwickeln. Die Menschen nehmen in der Welt einen einzigartigen Platz ein. Im Augenblick noch. Unser Gehirn verkörpert ein derart gewaltiges Re chenpotential, daß wir uns gern für unschlagbar halten. Aber trotz seines massiven Parallelismus ist das menschliche Gehirn sehr ineffi zient. Ein Nervenaxon kann die elektrochemischen Impulse, aus de nen die Nervensignale bestehen, mit einer Geschwindigkeit von un geheuerlichen hundert Metern pro Sekunde weiterleiten. Und ein Neuron kann bis zu zweihundert Impulse pro Sekunde aussenden. Zum Vergleich: Der Computer, an dem dieser Text geschrieben wur de, arbeitet mit einer Taktfrequenz von 667 Millionen Hertz in der Sekunde, und die Lichtgeschwindigkeit beträgt etwa dreihundert Mil lionen Meter pro Sekunde. Wenn wir die Neuronen durch elektroni sche Äquivalente ersetzen würden, wäre es möglich, eine ComputerHardware zu entwickeln, die eine Million mal schneller wäre als das menschliche Gehirn. Bei diesem Tempo wäre es dann subjektiv so, als würde alle einunddreißig Sekunden ein Jahr vergehen - und in jeder Stunde mehr als ein Jahrhundert. Welche neuen Technologien könnte die Menschheit innerhalb von zweieinhalbtausend Jahren entwickeln? Eine hinreichend intelligente KI, die auf einem hinrei chend schnellen Computer läuft, könnte diese Technologien an einem Tag oder noch schneller schaffen. Zugleich würde ihr daraus die Fä higkeit zur Entwicklung noch schnellerer Prozessoren erwachsen. Wo würde dieser Prozeß an seine Grenzen stoßen? Wird er überhaupt an Grenzen stoßen? Unsere Gattung ist viel zu jung, als daß sie wis
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sen könnte, wo die letzten physikalischen Grenzen liegen oder ob es solche Grenzen überhaupt gibt. Aus der Sicht eines heutigen Men schen ist dieser Unterschied völlig bedeutungslos. Die letzte Grenze könnte die Nanotechnologie sein, aber sie würde schon ausreichen, um das Sonnensystem umzukrempeln und Ihnen die Kapazität von einer Million Hirnen auf den Schreibtisch zu stellen. Eric Drexler be schreibt in seinem Buch "Nanosystems" einen nur ein Kilogramm schweren Nano-Computer, der mit Schallgeschwindigkeit arbeitet und trotzdem über eine Kapazität verfügt, die der von zehntausend Gehirnen entspräche, und ich habe bereits wenigstens drei verschie dene Pläne zur Zerlegung der Sonne gesehen. Wenn es wirklich möglich ist, Künstliche Intelligenzen zu entwerfen, die der Menschheit freundlich gesinnt sind, dann wird die Zukunft nicht nur leuchtender sein, als wir sie uns überhaupt vorstellen kön nen. Die erste sich selbst verbessernde KI, die die menschliche Intel ligenz hinter sich ließe, würde zum Beschützer des Sonnensystems, zum System Operator, zum "Sysop" - sie wäre ein lebendiger Frie densvertrag, der die Kraft hätte, sich selbst Geltung zu verschaffen, ein guter Geist mit einem benutzerfreundlichen Interface. Wir wer den es womöglich noch erleben, wie zu unseren Lebzeiten Schmerz, Tod, Zwang und Dummheit abgeschafft - oder jedenfalls auf eine durchgängig willensgesteuerte Grundlage gestellt werden. Jeder Fortschritt der menschlichen Zivilisation während der vergan genen zwanzigtausend Jahre ist auf der Grundlage einer im wesentli chen gleichgebliebenen Hirnkapazität erzielt worden. Doch schon einige Innovationen im Bereich der Kommunikation - Buchdruck, Te lefon, Internet - haben genügt, das Wandlungstempo von Jahrtau senden in Jahrhunderte und Jahrzehnte zu packen. Bald werden sich auch die dem zugrundeliegenden Intelligenzen verbessern - und die se Veränderung wird umwälzender sein als jede andere während der letzten zwanzigtausend Jahre.Wir nähern uns dem, was Vernor Vinge eine "Singularität" genannt hat - einem Punkt, jenseits von dem wir die Zukunft nicht mehr verstehen können, weil diese Zukunft von Intelligenzen bewohnt wird, die klüger sind als wir. Wenn die Sysop-KI und die Schöpfer der Sysop-KI sich an eine Ethik halten, die unerwünschte Einmischung verbietet, werden sich viel leicht einige Menschen entschließen, ein von der Singularität unbe rührtes Leben fortzuführen. Die Amish entschließen sich dann viel
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leicht dazu, weiter ihre Felder zu pflügen, vielleicht sogar dazu, wei terhin zu sterben - vom Sysop werden sie vor der gutgemeinten Einmischung anderer im Sonnensystem beheimateter Entitäten be schützt werden. Andere Menschen werden sich dazu entschließen, die vom Sysop angebotenen materiellen Vorteile zu nutzen - ein Le ben ohne Krankheit und Not, biologische Unsterblichkeit, die Chance, unsere Galaxie zu erkunden - aber ohne die eigene Intelligenz zu verbessern. Jenseits dieses Traditionalismus jedoch wird eine Welt liegen, die unser gegenwärtiges Vorstellungsvermögen vollkommen übersteigt. Darin besteht die ultimative Schranke der Singularität. Eine Intelli genz, die intelligenter ist als man selbst, kann man sich nicht vorstel len - wenn man es könnte, dann wäre man schon so intelligent wie sie. Eher könnten sich Neandertaler, die um ein Lagerfeuer hocken, eine Zentralheizung vorstellen. Mit einer Technologie, die fast alles kann, und einer Intelligenz, die klugen Gebrauch von dieser Techno logie zu machen weiß, könnte die Zukunft ein Ort des Lichts und der Kraft sein, den zu verstehen wir nicht einmal in unseren kühnsten Träumen hoffen können - obwohl wir vielleicht dazu imstande sind, diese Zukunft zu schaffen. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. „Um Voraussagen über das Verhalten von Künstlichen Intelligenzen machen zu können, müßten wir vollständig verstanden haben, was es bedeutet, Mensch zu sein. Das aber können wir nicht wissen.“ „Eine individuelle Künstliche Intelligenz würde angesichts des klassi schen Science-fiction-Konflikts "Krieg der KI gegen die Menschen" herauszufinden versuchen, auf welcher Seite das moralische Recht ist - ohne spezielle Sympathie für die Seite der KI oder die der Men schen zu hegen.“ „Man kann über Künstliche Intelligenzen nicht vernünftig reden, wenn man dabei an die Computer von heute denkt - genausowenig, wie man über Menschen vernünftig reden kann, wenn man dabei an Amöben denkt.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.2000, Nr. 202 / Seite 53
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Der Rechner ist ja nackt Ach, wärst du doch ein Subjekt: Warum die Robotik fasziniert Die Frage, ob Computer denken oder doch immerhin in absehbarer Zukunft werden denken können, hat Gerhard Helm unlängst auf recht gewitzte Art beantwortet ("Computer können denken! Eine seltsame Antwort auf eine falsch gestellte Frage", in: Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften, hrsg. von P. Gold und A. Engel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999). Seine Antwort hat die Form eines Existenzbeweises. Dessen Ziel lautet: Es gibt zumindest ein X, das denkt und das ein Computer ist. Wer jetzt erwartet, dass dieses X der letzte Schrei aus den Computerlabs des MIT ist, hat sich indes getäuscht. X ist niemand anderes als der Autor Gerhard Helm selbst. Auf diese Weise ist der erste Beweisschritt ohne große Um stände erbracht: Statt sich den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, was nun eigentlich "denken" heißt, kann der Autor schlicht darauf bauen, dass kein besonderer Grund vorliegt, ihm diese Fähigkeit ab zusprechen. Worauf nun nur noch zu zeigen bleibt, dass der Autor auch ein Computer ist. Dazu braucht es lediglich eine genauere Bestimmung dessen, was unter "Computer" verstanden sein soll. Da der Beweis möglichst all gemein gültig sein sollte, liegt es nahe, zu diesem Zweck auf die all gemeinste Form einer Rechenmaschine zurückzugreifen, also auf eine abstrakte Maschine im Sinne der Informatik. Diese ist definiert durch eine Menge diskreter Zustände, die sie annehmen kann, und durch eine Funktion, welche angibt, wie sie Anfangszustände in End zustände umwandelt. Makellose Beweise Sie besteht aus einem so genannten Speicher, der Symbolverkettun gen aus einem diskret-endlichen Vorrat bereitstellt und unter denen sich auch die Repräsentation des Algorithmus befindet, nach dem der so genannte Prozessor diese Symbolketten bearbeitet. Versteht man unter "berechenbarer Funktion" eine solche, die mittels eines abbre chenden Algorithmus berechnet werden kann, dann gilt, wie seit Tu rings klassischer Arbeit bekannt ist: Eine abstrakte Maschine dieser Art kann jeden solchen Algorithmus ausführen und ist in diesem Sin ne eine "universelle" Maschine.
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Ein elektronisch arbeitender "Computer" ist eine mögliche physische Realisierung einer solchen universellen (Turing-)Maschine. Dass wir in erster Linie an ihn denken, verdankt sich dem Umstand, dass er eine besonders schnelle, effiziente Maschine ist. Aber wir könnten zur physischen Realisierung von Speicher, Prozessor und Algorithmen prinzipiell auch ganz andere Vorrichtungen verwenden: eine große Modelleisenbahn zum Beispiel. Besonders interessant aber ist in un serem Zusammenhang die folgende Realisierung: Sie besteht aus einem Menschen, der als Prozessor fungiert und über einen externen Speicher in Form von Papier, Bleistift und Radiergummi verfügt. Es liegt auf der Hand, dass dieser Mensch mit genügend Zeit jede bere chenbare Funktion auch tatsächlich berechnen kann, sofern er über den dafür notwendigen Algorithmus verfügt. Gleichzeitig ist er eine Verkörperung der funktional charakterisierten Symbolverarbeitungs maschine, eben ein Computer. Damit ist der Beweis erbracht. Jenes X zum Beispiel, das der Autor ist, kann denken und ist, wie sich jetzt zeigt, auch ein Computer (wenn auch durchaus nicht nur). Ergo: Es gibt mindestens einen denkenden Computer. Der Beweis als solcher ist makellos. Schon deshalb, weil er nahezu trivial ist. Der einzige Schritt, der angreifbar scheinen könnte, be steht im Zugeständnis eines externen Speichers für jenen Rechner, den jeder von uns abgeben kann. Für Helm ist das allerdings gerade der springende Punkt, denn ihm geht es um die Korrektur der in der Kognitionswissenschaft tief verankerten Vorstellung, nur das Gehirn des Menschen, nicht die leibhafte, konkret in ihrer Umwelt agierende Person, sei das zu erklärende Substrat kognitiver Prozesse. Eine Vor stellung, deren bündigster Ausdruck darin besteht, das Gehirn zum Subjekt von Tätigkeiten wie rechnen, denken, wahrnehmen usw. zu machen. Helms Beweis schärft den Blick für diesen Kategorienfehler. Aber er ist nicht nur deshalb interessant. Die Enttäuschung über die triviale Antwort lenkt die Aufmerksamkeit auch auf jene stillschwei gend gemachten Voraussetzungen, welche der Ausgangsfrage über haupt erst eine gewisse Faszinationskraft geben. Die entscheidende Weichenstellung des Beweises besteht in der Explikation von "Com puter" durch "universelle Maschine". Denn nicht die abstrakte univer selle Maschine ist offensichtlich das Faszinosum, sondern der konkre te elektronische Hightech-Computer. Denkt dieses opake Ding? Oder könnte es denken, wenn es noch leistungsstärker wird?
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Die Antwort: Nicht nur denkt dieses Ding nicht, es rechnet nicht ein mal. Genauso wenig, wie Turings Maschine rechnet. Was diese uni verselle Maschine und a fortiori jeder Computer macht, ist die ma schinelle, also kausal ablaufende Abwicklung eines Algorithmus, an dessen Ende ein bestimmter Systemzustand vorliegt, den wir als Er gebnis einer Rechnung interpretieren. Selbstredend können wir selbst diese algorithmische Mechanik nachahmen, mit der uns die Maschinen die Rechenarbeit abnehmen. Das ist der Sinn von Witt gensteins knapper und einzig direkter Bemerkung zu Turings Maschi nen: "Diese Maschinen sind ja die Menschen, welche kalkulieren." Man kann diese Bemerkung wörtlich nehmen, denn tatsächlich glich Turing das mechanische Kalkulieren menschlicher "Rechner" an seine Beschreibung der universellen symbolverarbeitenden Maschine an. Das heißt, er ging davon aus, dass "das Verhalten des (menschli chen!) Rechners in jedem Moment determiniert ist durch die Symbo le, welche er vor sich hat, und seinen ,Geisteszustand' in diesem Moment": Weil Turing unser Rechnen als einen kausalen Ablauf be schreibt, determiniert durch unseren jeweiligen geistigen Systemzu stand und die festgelegten Übergangsfunktionen, kann er seine da nach modellierte universelle Maschine als Rechensubjekt firmieren lassen. Doch rechnen und Mathematik treiben sind Praktiken, bei denen es um die Befolgung von normativen Regeln geht, keine kau sal vorgespurten Abläufe von Geisteszuständen. Mit anderen Worten: Computer rechnen nicht, sondern ersparen uns das Rechnen; vom Denken ganz abgesehen. Aber ist diese "grammatische" Erhellung unserer Verwendung von Wörtern wie "rechnen" und "denken" imstande, die unübersehbare Angstlust in der Beschwörung autonomer maschineller Subjekte still zustellen, von der kein kleiner Teil der Science Fiction-Literatur lebt? Nein, dazu ist diese Explikation unseres Sprachgebrauchs nicht im stande; doch sind die entsprechenden Szenarien menschenähnlich agierender Maschinen auch nicht die Probe auf deren Triftigkeit. Sie zeigen vielmehr, dass zwei Fragen zu unterscheiden sind, die der berühmte Turing-Test vermischt. Turing hat bekanntlich in einem 1950 veröffentlichten Aufsatz einen Test für Maschinen - korrekt eigentlich Programme - beschrieben, der darüber entscheiden soll, ob diese Maschinen "denken". Von ei nigen Umwegigkeiten des ursprünglichen experimentellen Settings
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abgesehen, ist das getestete Kriterium dabei die relativ erfolgreiche Simulierung menschlichen Gesprächsverhaltens (vgl. Geisteswissen schaften vom 5. Juli). Denken? Denkste! Turings prozedurale Antwort auf die Frage "Was soll heißen, dass eine Maschine denkt?" war ein eleganter Schachzug. Bloß ist sie kein Test unserer Verwendungsweise des Worts "denken", sondern unserer Be reitschaft, bestimmten Dingen aufgrund ihrer Verhaltensweisen Sub jektqualitäten zuzusprechen - und das dürfte doch nicht ganz dasselbe sein. Im Falle eines Programms, das Turings Anforderungen erfüllen könnte, würde uns intuitiv nichts dazu verpflichten, das Prädikat "den ken" zu vergeben. Andererseits ist für die Unterstellung von Subjekt qualitäten vielleicht sehr viel weniger an Programmraffinesse notwen dig, statt dessen reicht dafür schon oft ein Mehr an sinnfälligen huma noiden Mustern in guter feinmechanischer Ausführung. Es kann kein Zufall sein, dass es das Feld der Robotik ist, auf dem sich die Schauer angesichts maschineller Wiedergänger am leichtes ten erzeugen lassen. Ein Schauer, der zweifellos gerade damit zu tun hat, dass diese Wiedergänger ganz sicher nicht denken - und uns doch irgendwie, und sei es einstweilen auch nur in bestimmten As pekten, in ihrem Verhalten ähneln. Von E. T. A. Hoffmanns Olympia bis zum jüngsten Cyborg gilt: Sie drohen mit der Einsicht, dass sich nicht wenig dessen, was wir für unser Eigenstes halten, zuletzt auf eine ,blinde' Mechanik reduzieren lässt, jenseits allen Denkens. Des halb ist unsere Faszination ihnen sicher. HELMUT MAYER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2000, Nr. 165 / Seite N6
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Intelligenz ist unwichtig Alan Turings Jahrhundertfrage: Können Maschinen denken? Im Jahre 1950 erschien Alan M. Turings berühmtester Aufsatz "Com puting Machinery and Intelligence" in der Zeitschrift "Mind". Er be handelte die Frage, ob es denkende Maschinen geben werde. Ist die se Frage heute die Jahrhundertfrage für die Wissenschaft? Einerseits werden die Computer, man möchte fast sagen: stündlich leistungsfä higer, andererseits haben die Neurowissenschaften, die unser Be wusstsein ganz unphilosophisch untersuchen, enorme Erkenntnisfort schritte erzielt. Und vor knapp drei Jahrzehnten wurde die Kogniti onswissenschaft ins Leben gerufen, für die das Computermodell des Geistes die Forschung bestimmt. Die Frage nach den Denkfähigkeiten des Menschen und die nach den Denkfähigkeiten eines Computers liegen hier sehr nahe beieinander. Um etwas über das Denkvermögen von Maschinen sagen zu können, schlug Turing ein Imitationsspiel vor, das heute unter dem Namen Turing-Test bekannt ist. Ein Mensch kommuniziert mit einem unbe kannten X und muss herausfinden, ob X ein Mensch oder eine Ma schine ist. Die Kommunikation findet nicht mündlich statt, sondern über Bildschirm und Tastatur, denn für die Intelligenz der Maschine kann es keine Rolle spielen, ob sie auch mit menschenähnlicher Stimme spricht. Obwohl es 1950 noch keine Computer gab, die das Imitationsspiel gewonnen hätten, war Turing überzeugt, dass man im Jahre 2000 Computer haben würde, die so programmiert sind, dass die Chancen der Maschine, das Spiel zu gewinnen, bei dreißig Pro zent liegen, wenn es fünf Minuten lang gespielt wird. Nur ein Trostpreis Im Internet hat sich mittlerweile eine Turing-Test-Szene eingerichtet. Tausende unterhalten sich mit Chatrobots und lassen sich täuschen. Sie glauben nicht, dass sie sich mit einem Internet-Roboter unterhal ten. Die BBC führte den Test durch und ermittelte am 22. März die ses Jahres, dass Mabel (www.hamill.co.uk/mabel/) ganz vorn liegt. 29 Prozent hielten Mabel für einen Menschen. Alice (www.alicebot.org/) folgt weit abgeschlagen mit 19 Prozent. Seit 1990 gibt es den Loebner-Preis. Der Amerikaner Hugh Loebner hält hunderttausend Dollar
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für denjenigen bereit, dessen Computer den Turing-Test besteht. Aber auch in diesem Jahr musste sich der Schöpfer des intelligentes ten Programms mit dem Trostpreis von zweitausend Dollar zufrieden geben. Bisher hat noch kein Computer den Turing-Test bestanden. Aber auf dem Schachbrett hat sich Turings Prognose erfüllt. 1997 gewann der Schachcomputer Deep Blue, den ein IBM-Team entwi ckelte, gegen den Schachweltmeister Kasparow. Der Turing-Test legt die Bedingungen für ein empirisches Experiment fest, das das Problem der denkenden Maschine lösen sollte. Eine ent scheidende theoretische Annahme, die dem Test zugrunde liegt, ist die Trennung zwischen Software und Hardware. Turing war der Über zeugung, dass die Frage der Intelligenz eine Frage der Software sei. Wenn Intelligenz eine Frage der Software ist, dann ist sie eine Frage der Programmierung. An dieser theoretischen Annahme, dass sich Intelligenz in Zeichenmanipulation erschöpfen sollte, entzündete sich die theoretische Auseinandersetzung, die vor allem von Philosophen geführt wurde. Genau genommen lautete die Frage, ob Denken auf mechanische Zeichenmanipulation reduzierbar sei. Turing schuf die Voraussetzungen für diese Fragestellung in seiner Arbeit "On Computable Numbers with an Application to the Entschei dungsproblem". Er beschrieb in seinem "master piece" bereits 1936, bevor der erste Computer existierte, ein Maschinenmodell, das das Grundmodell eines digitalen Computers ist. Was er beschrieb, war eine abstrakte Maschine, deren Eigenschaften untersucht werden können, ohne dass man die besonderen materiellen Eigenschaften einer konkreten Maschine berücksichtigen muss. Solche abstrakten Maschinen heißen heute Turing-Maschinen. Eine bestimmte TuringMaschine, die eine bestimmte Funktion hat, kann durch viele konkre te Maschinen realisiert sein, etwa durch eine rein mechanische oder auch durch eine elektronische. Entscheidend ist die Funktionalität der Maschine. Und die Funktionalität eines Computers beruht auf der Software. Geistlose Manipulation Wenn man den Geist wie eine Art Turing-Maschine betrachtet, dann kann man versuchen zu beschreiben, was Geist ist, ganz unabhängig von konkreten Gehirnen oder konkreten Maschinen, die vielleicht Geist haben. Der Mathematiker und Philosoph Hilary Putnam führte
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diese Idee in den sechziger Jahren in die philosophische Debatte ein. Putnam veränderte damit die Frage, ob es denkende Maschinen ge ben könne, in die Frage, was für eine Maschine unser Geist sei. Einer der erfolgreichsten Kritiker der These, dass Computer denken kön nen, ist der Philosoph John R. Searle. Sein Hauptargument, das er in den achtziger Jahren veröffentlichte, stützt sich auf die Trennung zwischen Hardware und Software. Wenn Denken lediglich eine Sache der Software wäre, dann könnte man für jede kognitive Funktion eine Turing-Maschine angeben, die diese Funktion hat. Aber jede Turing-Maschine manipuliert vollkommen geistlos und mechanisch Zeichen. Mögliche Bedeutungen der Zeichen spielen für sie keine Rolle. Für unser Denken, so Searle, spielen aber die Bedeutungen der Zeichen eine entscheidende Rolle, also ist unsere Hardware, un ser Gehirn, mehr als eine Turing-Maschine. Vielleicht gibt es demnächst das erste Computerprogramm, bei spielsweise einen Chatrobot im Internet, der beim Turing-Test un schlagbar ist. Dann bleiben aber noch immer Argumente zurück, die dagegen sprechen, dass eine Maschine denken kann, nur weil sie einen Turing-Test im Internet bestanden hat. Turing selbst brachte 1950 das Bewusstseinsargument und das Telepathieargument ins Spiel, das er nicht leichthin, wie etwa die unwissenschaftlichen theo logischen Einwände, von der Hand weisen konnte. Denn es erscheint unmöglich, dass ein Computer den Turing-Test besteht, wenn außer sinnliche Wahrnehmungen mit im Spiel sind. Die philosophische Debatte hat sich von der Frage nach denkenden Maschinen neuerdings sehr auf die Frage nach dem Bewusstsein ver lagert. Und dabei berufen sich die Philosophen nicht mehr auf die Künstliche-Intelligenz-Forschung, sondern auf die Resultate der Neu rowissenschaften. Eine Theorie des Bewusstseins, die auf neurophy siologischen Erkenntnissen beruht und Erklärungen unserer kogniti ven Vermögen bereitstellt, könnte auch zu der Überzeugung Anlass geben, dass die Frage, ob Maschinen denken können, eine sinnlose Frage ist. Die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz gedeiht eben falls unabhängig von der Frage, ob die Computer, die konstruiert werden, oder die Roboter, die gebaut werden, denken können. Das wissenschaftliche Interesse ist hier etwa auf bestimmte Verhaltens weisen gerichtet, die wir oft als intelligent bezeichnen, etwa wie je
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mand Musik komponiert oder den sichersten Heimweg findet. Wenn es gelänge, eine Maschine zu konstruieren, die solche Verhaltenswei sen zeigt, dann wäre von der Frage, ob die Maschine dann auch in telligent sei, nichts Wesentliches zu erwarten. Rolf Pfeifer, Leiter des Artificial Intelligence Laboratory der Universität Zürich, geht noch einen Schritt weiter: "Ob man solches Verhalten nun als intelligent bezeichnen will oder nicht, ist nicht so wichtig, eine Frage des Ge schmacks. Indem man ein bestimmtes Verhalten untersucht, macht man Fortschritte in der Forschung, während man dies bei der abs trakten Diskussion darüber, ob Maschinen intelligent seien oder den ken könnten, eben nicht tut." Die Zweifel sind also erheblich, ob die Frage nach dem Denkvermö gen von Maschinen eine gut gestellte Frage ist. Der große Mathema tiker David Hilbert hat vor hundert Jahren auf dem internationalen Mathematikerkongress in Paris in einer berühmten Rede die un schätzbare Bedeutung guter Fragen für den Fortschritt einer Wissen schaft hervorgehoben. Anschließend stellte Hilbert 23 mathematische Probleme vor, die er für herausragend hielt, die so genannten Hilbert'schen Probleme. Das zweite Hilbert'sche Problem ist das Prob lem der Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome. An dieses Problem knüpfte Hilbert ein ambitioniertes Forschungsprogramm für die gesamte Mathematik. Was da wimmelt Nun ist es eine Pointe der Wissenschaftsgeschichte, dass Turings Arbeit von 1936, die der theoretische Sockel für seinen Aufsatz von 1950 ist, dazu beigetragen hat, das große Forschungsprogramm von Hilbert zu untergraben. Der epochale Beitrag Turings ist nach Bernd Mahr, Professor für theoretische Informatik, nicht, dass er neben Alonzo Church die Unentscheidbarkeit formaler Systeme bewiesen hat, sondern es ist die Art und Weise, wie er seinen Beweis führte. Sein Maschinenmodell, die Turing-Maschine, auf der sein Beweis be ruht, hat der Wissenschaft neue Wege eröffnet. Der Grundgedanke Turings ist dabei, dass die Zeichen, die die Maschine manipuliert, von den Gegenständen oder Gedanken, die durch sie bezeichnet sein könnten, losgelöst sind. Obwohl es zwischen den Zeichen einer Turing-Maschine und möglichen Bedeutungen dieser Zeichen keine strukturellen Ähnlichkeiten geben muss, kann aber alles Denkbare, das zugleich berechenbar ist, von einer Turing-Maschine berechnet
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werden (Church-Turing-These). So gesehen ist es die Stärke eines Computers, dass die Zeichen, mit denen er operiert, von den Ge genständen, die sie bezeichnen könnten, losgelöst sind. Die Frage, die sich mit einem Blick auf die Turing-Maschine stellt, lautet also: Wie lassen sich die Gegenstände, die unsere Welt bevöl kern, wie lassen sich die Arbeitsprozesse geschickt mit den bedeu tungslosen Zeichen eines Computers verknüpfen? Viele Gegenstände und Arbeitsprozesse verändern sich, wenn sie für ein Programm mo delliert werden. Andere Gegenstände werden erst mit Hilfe des Com puters erfunden (zum Beispiel ein Gebäude, in dem man bereits um hergehen kann, bevor der Grundstein gelegt worden ist). Die virtuel len Welten im Internet wimmeln von Gegenständen, die nur dort existieren. Sie werden außerdem von Wunschidentitäten bevölkert, etwa in einem "mud" - der Welt einer "multi user domain". Computer greifen in alle Bereiche verändernd ein, obwohl sie für sich gesehen immer nur mit bedeutungslosen Zeichen operieren. Sie grei fen auch in unsere kognitiven Gewohnheiten ein. Mit einem Textver arbeitungssystem kann man anders arbeiten als mit Papier und Stift oder mit einer Kugelkopfschreibmaschine. Ein Informationspaket im Internet, das zugleich Text, Musik und Film enthält, wird anders rezi piert als ein gewöhnlicher Text, ein Musikstück oder ein Film. Die Jahrhundertfrage ist dann nicht mehr: Können Maschinen denken? Sondern: Wie verändern Computer unser Denken? GERNOT GRUBE Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.07.2000, Nr. 153 / Seite N5
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Raumfahrt, Aliens, Asteroide Lautlos im Weltall
De-Luxe-Schwindel im Innenohr Die süßen Qualen des Weltraumurlaubs oder Protzen mit wenig Komfort Von Dietmar Dath Nicht alle Menschen würden mit Astronauten tauschen wollen, aus reichend Leichtsinnige gibt es dennoch. Etwa den amerikanischen Geschäftsmann Dennis Tito, der am 30. April 2001 mit einer Sojus rakete ins All geschossen und kurz darauf von den Profis an Bord der Internationalen Raumstation ISS in Empfang genommen wurde, oder seinen südafrikanischen Standesgenossen und Nachfolger Mark Shutt leworth, dem am 25. April 2002 dasselbe vergönnt war. Sie sind mit ihren Ausflügen in die Schwerelosigkeit nicht nur leidlich berühmt geworden - gleichwohl, verglichen mit Gagarin, Armstrong und Ald rin, der Ruhm, orbitaler Tourist zu sein, freilich eher blaß ist -, son dern hatten für ihre zwanzig Millionen Dollar Reisekosten vermutlich auch eine Menge Spaß. Schön ist es da draußen, keine Frage: Die Erdkugel nicht bloß im Fernsehen oder auf Falschfarben-Posterabzug, sondern direkt durchs panoramische Fenster zu beschauen, wenn man gerade nachdenklich gestimmt ist, schenkt aparte Reize; und ein Abendessen zu zweit nicht diesseits der Sterne, sondern mitten unter ihnen einzunehmen erspart die Ausgabe für stimmungsvolles Kerzenlicht. Das größte Hindernis auf dem Weg zum florierenden Weltraumtou rismus ist indes leider eines, das die Überredungskünste auch der alertesten Reisebüro-Agenten auf eine harte Probe stellt: Der Mensch ist für diese Art Reise im Grunde ungeeignet. Vergessen können wir deshalb von vorneherein, was den großmäuligen Ausdruck "Fernrei se" in diesem Kontext überhaupt erst verdient: Solange die Gesetze der speziellen Relativitätstheorie greifen, sind überlichtschnelle Fahrtgeschwindigkeiten ausgeschlossen, und im unterlichtschnellen Geschwindigkeitskäfig gilt, was James Blish, ein ansonsten keines wegs konservativer Science-fiction-Autor, schon Anfang der fünfziger Jahre nüchtern zu Protokoll gegeben hat: "Wir leben einfach nicht lange genug, um zu den Sternen zu reisen. Ein Sterblicher, der auf Fortbewegungsgeschwindigkeiten festgelegt ist, welche die des Lichts nicht überwinden können, eignet sich für interstellare Reisen so we nig wie eine Motte für eine Atlantiküberquerung aus eigener Kraft."
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Phantasien über "Generationenschiffe", in denen erst die Ururenkel die Strände des Bestimmungsparadieses erreichen, haben zwar dem Kolonisierungsgedanken, der das Touristische seit je überlagert hat, ein Schlupfloch eröffnet. Doch wer möchte wirklich die entfernten Nachfahren mit der Aufgabe belasten, Dias mit nach Hause zu brin gen, die ihre Vorfahren von einem Urlaub gemacht haben, zu dem wiederum bereits deren Vorfahren aufgebrochen sind? Die Sterne einmal beiseite gelassen, wirft die menschliche Physiolo gie und Biologie jedoch auch für kürzere Abstecher, also etwa Plane tentouren oder Orbitalkuren, genügend Probleme auf. Die Beschleu nigung der Trägerrakete beim Start kann leidige Blutergüsse und Schlaganfälle verursachen, sogenannte Sonnenwinde und die harte Strahlung kosmischer Teilchenschauer, vor denen uns Erdenbewoh ner das Magnetfeld des Planeten und seine Atmosphäre schützen - so daß wir nur etwa ein Fünftel Rem solcher Strahlung pro Jahr abbe kommen -, kann im Leerraum auf Hunderte von Rem anwachsen, mit wenig erholsamen Ergebnissen von Übelkeit bis zur Krebserkran kung. Selbst die romantischen Effekte der Schwerelosigkeit oder des freien Falls eines Habitats in erst einmal geschickt stabilisierter Um laufbahn sind in Wirklichkeit nicht halb so putzig wie die Szene in Brian DePalmas Spielfilm "Mission to Mars", in der ein Astronaut schwebende Schokoladenbonbons zu einem DNS-Molekül arrangiert. Etwa die Hälfte aller Personen, die bislang im Weltall gewesen sind, leidet alsbald an einer Form von Raumkrankheit, die einige Tage Ü belkeit und Erbrechen mit sich bringt, weil sich der Gleichgewichts sinn im Innenohr nicht an die neue Umgebung gewöhnen will. Die aufgequollenen und rötlichen Gesichter von Raumfahrern in den ers ten Wochen ihrer Reise kennen wir aus dem Fernsehen - sie rühren ebenso wie die verstopften Nasenatemwege daher, daß das Blut jen seits der Schwerkraft in größeren Mengen in den Kopf gepumpt wird als gewöhnlich. Überhaupt: Der Körper ist auf kaum einer der relevanten Funktions ebenen in der Lage, sich der Unbeschwertheit so recht zu erfreuen. Die Nieren stimulieren zu mehr Wasserlassen, weil der angeregte Umlauf der Körperflüssigkeiten sie dazu verführt; wer aber nicht sehr viel trinkt, muß mit Dehydrierung rechnen. Die wichtigen Muskeln der Extremitäten atrophieren auf längeren Reisen. Und das Herz, das ja auch nur ein Muskel ist, schrumpft nach einer Weile um bis zu zehn Prozent - es sei denn, der Weltraumurlauber trainierte täglich
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mehrere Stunden lang im Hamsterrad. Zu all dem Ungemach kommt der wissenschaftlich bis jetzt nicht recht aufgeklärte Kalziumabbau in den Knochen, der Urin spült diesen Stoff anscheinend mit der Zeit weg. Brüchig, ächzend, herzkrank, klapprig und mit Nierenleiden: So möchte man nach dem Urlaub wohl kaum vor die daheimgebliebenen Nachbarn treten, egal, wie hübsch die T-Shirts sind, die man mit nach Hause bringt. Müssen wir uns also damit abfinden, daß aus den "De luxe Apart ments in the Sky", die der Titelsong der Fernsehserie "The Jeffer sons" aus den siebziger Jahren der Menschheit verhieß, grundsätzlich nichts werden kann? Erfahrene Hoteliers, Reiseleiter, Animateure und Versicherungsexperten werden dieser Ergebung in krabbelnde Erd gebundenheit einen Glaubenssatz entgegenhalten, der sich schon bei der touristischen Erschließung so problematischer Regionen wie Nordfinnland, Irak oder Mecklenburg-Vorpommern bewährt hat: Or ganisation ist alles. Es gibt, weiß der auf Freizeitwert bedachte Ero berer neuer Gebiete, einfach keine Schwäche des Fleisches, der man nicht durch die Beantwortung dreier Fragen aufhelfen kann: Wie kommt man hin, wo wird man untergebracht, und was soll man dort dann anstellen, um die Zeit rumzubringen? Die erste Frage ist unstrittig eine ingenieurtechnische. Ihre mögli chen Antworten reichen zurück bis ins späte neunzehnte Jahrhun dert, als technisch belesene Phantasten wie Jules Verne, Kurd Lass witz oder Edward Everett Hale sich fragten, wie wir zum Mond oder Mars gelangen könnten. Die nächste Stufe der geträumten Rakete nach dieser, der belletristischen, war die (populär-)wissenschaftliche. Namen wie der russische Raketenvater Konstantin Ziolkowsky ("Vne zemli", 1920) und der k. u. k. Ingenieur Hermann Noordung ("Das Problem der Befahrung des Weltraums", 1929) stehen für sie ein, es folgten Hitlers Peenemünde-Leute, später die Nasa. Der Rest ist Ki no, Unfallrisiko und ein Haufen ehrgeiziger, mitunter durchaus viel versprechender Pläne von verbesserten Ionenraketen über "gepulste Nuklearreaktionen" bis zu Photonen- und Antimaterieraketen oder kühnen Laserstrahlantriebsprojekten. Der Wettlauf um den amerikanischen "X-Prize", der demjenigen Un ternehmen eine Prämie von zehn Millionen Dollar verspricht, das zu erst ein wiederverwertbares Start- und Trägegefährt entwickelt, wäre als Anreiztestfeld für solche Reißbrett- und Computerbemühungen
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vermutlich gar nicht nötig gewesen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist sowieso aus innersten Interessen darauf angewiesen, daß man das von naiven Menschen für gelöst betrachtete Problem des erdna hen Raumverkehrs neu und kosteneffektiver löst. Wie ein Symposion in Straßburg zur Lage des Raumtransportermarkts schon im Jahr 2000 - also noch vor der Rezessionsfinsternis unserer Tage - allen Besuchern unmißverständlich klargemacht hat, ist das Ungleichge wicht zwischen Anbietern und Kunden bei der Beförderung von Satel liten ins All schon seit Jahren dramatisch genug, um als einzigen pro fitträchtigen Ausweg rasche Fortschritte bei der umfassenden Tourifi zierung des Alls nahezulegen. Deshalb entwickelt selbst der von unangebrachtem Enthusiasmus so leicht nicht ergriffene Luftfahrt- und Waffenkonzern Lockheed Martin gemeinsam mit der Nasa gegenwärtig ein Vehikel, das vom Pau schalreisegedanken auszugehen scheint, entschieden billiger ist als die bislang gebräuchlichen Shuttle-Fahrzeuge und "Venture-Star" heißen soll. Auf den Raumverkehr spekulierende Blüten der großen Boomzeit des motorisierten Individualverkehrs wie "Aeroneutronic Ford" in den fünfziger Jahren waren wohl, suggeriert diese neue Ent wicklung, einfach nur zu früh dran. Irgendwie also wird man schon hochkommen - und sei es mit einem Fahrstuhl; ein Plan, den es tatsächlich gibt. Er basiert auf der Idee eines sehr reißfesten, zum Beispiel aus ultraharten Kohlenstoffpro dukten hergestellten Kabels, das mit einem stationären Satelliten verbunden werden könnte. Damit wird die zweite Frage akut: Hoch kommen gut und schön, aber wohin denn nun eigentlich genau? Der unter hotel- und gaststättengewerblichen Aspekten einleuch tendste Zielort einer solchen Fahrt wäre wohl weder Mond noch Mars, sondern das, was bei Noordung noch treudeutsch "Raumwarte" hieß und was wir heute lateinisch-englisch eine "Station" nennen, auch wenn es im eigentlichen angelsächsischen Sprachraum heute biswei len immer noch, der obenerwähnten geopolitischen Vor- und Pionier stufe des modernen Massentourismus eingedenk, schmucklos "Colo ny" heißt. An die wenig glamouröse, aus schäbigsten bürokratisch-politischen Gründen selbst hinter den technisch-logistischen Möglichkeiten der Gegenwart um einiges zurückgebliebene internationale Raumstation
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ISS sollte man in diesem Zusammenhang eher nicht denken, auch wenn sie Tito und Shuttleworth aufgenommen hat. Viel besser als die russische "Mir", die das erste Weltraumhotel hätte werden sollen - im März 2001 aber aufgegeben und in den gelenkten Absturz überführt wurde -, ist sie in keiner und ganz bestimmt nicht in KomfortHinsicht. Eher schon sollte man sich an Älteres erinnern: Die Geschichte des Weltraumhotels beginnt wie die der Raketentechnik im Literarischen, nämlich mit dem internationalen Erfolg des Buchs "The Conquest of Space" von Willy Ley (1949), dem der Autor 1958 ein "Space Stati ons" betiteltes Folgewerk aufsattelte. James Blish, der trotz gewisser Skepsis hinsichtlich interstellarer Reisen glaubte, daß nur die Migrati on ins All den Westen vor einem Spenglerschen Untergangsszenario bewahren könne, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, mit seinen "Cities in Flight"-Geschichten das wohl schönste Bild vom Ent kommen in den Kosmos auszumalen, das Erzähler erfunden haben. In diesen Novellen und Romanen sind es ganze irdische Städte, die mit Sack, Pack und unterirdischen Kanalisationssystemen per AntiSchwerkraft-Antrieb ("Spindizzies") von der Erde abheben und auf ruhelose Wanderschaft im Leerraum verschwinden. Ein realistischeres Vorhaben, das vor allem in den Siebzigern und frühen Achtzigern des zwanzigsten Jahrhunderts von zahlreichen engagierten Einzelpersonen, kommerziellen und bürgerinitiativenarti gen Interessenten urgiert wurde, waren die "L5-Siedlungen". Stich wortgeber dieser Idee war der Physiker Gerard K. O'Neill von der Universität Princeton, der 1977 das vor allem den amerikanischen Pioniergeist ansprechende Buch "The High Frontier" veröffentlichte. Das "L" in "L5" steht für "Lagrange" und bezieht sich auf den franzö sischen Mathematiker Joseph Louis Lagrange, der bei astronomi schen Berechnungen der Umlaufbahn des Planeten Jupiter um die Erde auf "stabile Punkte" gestoßen war - heute "Lagrange-Punkte" genannt -, an denen eine vergleichsweise geringe Masse 60° vor und 60° hinter dem Planeten in einer stabilen Umlaufbahn um die Sonne verharren könnte, anstatt vom Schwerefeld des Planeten erfaßt und fortgerissen zu werden. Das aus der Erde und dem Mond bestehende System besitzt unter Berücksichtigung der Sonnenanziehung fünf solcher Lagrange-Punkte. Zwei davon, L4 und L5, sind nach O'Neill besonders geeignet, dort Raumwarten - oder eben Freizeitzentren einzurichten.
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Initiativen wie die Space Tourism Society (www.spacetourismsociety.org) hoffen, was die Verwirklichung solcher L5-Pläne angeht, nach dem Ende des Kalten Kriegs, durch das es selbst für Bush und Gingrich schwer geworden ist, die zuständigen Parlamente von der Notwen digkeit breit angelegter Star-Wars-Forschung zu überzeugen, auf den evolutionären Strahlungsdruck der wirtschaftlichen Konkurrenz. Ganz falsch liegen sie damit sicher nicht. Branchengrößen wie die japani sche Shimizu Corporation, von der schon Entwürfe für SpeichenradHotels im All vorliegen, oder der Hotelunternehmer Robert Bigelow ("Budget Suites of America"), der in ein Kreuzfahrtprojekt Erde-Mond und zurück beträchtliche Summen investiert, ja selbst die traditions reichen Hilton Hotels, die allerdings noch eine Wartezeit von etwa zehn Jahren ankündigen, bevor man in den Raumtourismus einstei gen will, treten mit ernstzunehmenden Absichten an die Öffentlich keit, die Lagrangepunkte zu nutzen. Sollten das "wie" und das "wohin" des Szenarios also tatsächlich kurz vor der Klärung stehen und sollte ferner die von Blish aufgeworfene Frage nach der Tauglichkeit des Menschen für dergleichen durch neue pharmakologische, langfristig vielleicht sogar genetische Tech nologien eher pragmatisch statt anthropophilosophisch beantwortet werden - warum nicht Leute züchten, die von den neuen Reisezielen auch was haben? -, dann bleibt nur noch die letzte Frage offen: Was stellt man an mit der kosmonautischen Freizeit? Computerspiele, Hongkong-Kino-Actionfilme und Comics zeigen uns seit etwa zwanzig Jahren die akrobatischen, auto- und alloplastischen Möglichkeiten der orbitalen Exo-Beweglichkeit, von ungekannten Formen des Ball-, Mannschafts- und Ausdauerspiels bis zur Entwick lung anmutiger respektive bizarrer, womöglich auch bislang unerhör te Arten von Musik fordernder und anregender Formen des Tanzes. Sollte einem das alles aber doch zu sehr nach Turnvater Friedrich Ludwig Jahn im Silberanzug schmecken, kann man immer noch jene Nutzung der Schwerelosigkeit erkunden, die wohl die meisten speku lativen Science-fiction-Erforscher der "Null-g-Bedingungen" irgend wann beschäftigt hat, von Dan Simmons bis Jerry Lewis, Fernando Fernandez bis Samuel R. Delany, Harlan Ellison bis "Barbarella": das gemeinsame Verüben von einverständigen Unanständigkeiten, für die man im irdischen Schlafzimmer zu schwerfällig wäre. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2003, Nr. 118 / Seite R1
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Ist da wer? Wenn das galaktische Telefon klingelt: Treffen der Astrobiologen in Australien
HAMILTON ISLAND, 14. Juli
In der Frage nach außerirdischer Intelligenz kann es für seriöse Mit teleuropäer diesseits der Ironie eigentlich nur einen Standpunkt ge ben: Außerirdische gibt es nicht. Sollte es sie dennoch geben, wür den wir nie von ihnen hören und wenn, würden wir sie nicht verste hen. Denn die Außerirdischen sind ganz anders. Doch schon die Amerikaner sind anders. So gibt es bei ihnen das "Seti"-Institut, das sich der Suche nach Signalen von außerirdischen Zivilisationen verschrieben hat. Zwar haben strenge Volkvertreter Seti (Search for Extraterrestrial Intelligence) schon vor Jahren die öffentliche Förderung gestrichen, doch das hat die Aktivität der nun mehr rein privat finanzierten Einrichtung nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil, das Institut versteht sich bestens mit der Nasa, arbeitet eng mit den führenden Universitäten zusammen und beteiligt sich an der Ausrichtung einer hochkarätigen, alle drei Jahre tagenden Konfe renz über Astrobiologie - eines interdisziplinären Faches zur Erfor schung der Entstehung des Lebens und seiner möglichen Verbreitung anderswo im All. Das aktuelle Treffen der Astrobiologen hat jetzt auf Hamilton Island vor der Küste Australiens stattgefunden. Nicht, daß jeder der rund zweihundert dort versammelten Astrono men, Geologen, Paläontologen und Biologen den Debatten der SetiForscher immer viel abgewinnen konnte. "So wie die reden, be kommt man den Eindruck, sie suchen Gott", kommentierte ein aust ralischer Geologe eine abendliche Diskussion darüber, ob uns die außerirdischen Zivilisationen nun nur einige Millionen oder vielleicht doch Milliarden Jahre voraus sind. Die meisten anwesenden Forscher allerdings verfolgten selbst die absurderen Spekulationen mit einer Mischung aus angelsächsischer Lust am intelligenten Spiel und Faszi nation am Risiko einer Wissenschaft, deren wahrscheinlichstes Resul tat ein negatives ist. Dabei war unter anderen auch Starastronom Geoff Marcy, Entdecker vieler der 93 heute bekannten extrasolaren
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Planeten. Wie andere seiner Kollegen in Berkeley und Harvard betei ligt sich Marcy ganz ungeniert an Seti-Projekten. Gefunden wurde natürlich noch nichts. "Wir haben ja erst ein paar hundert Sterne abgesucht", erklärte die Seti-Chefin Jill Tarter und präsentiert die Zukunftspläne ihres Hauses: Das "Allen Teleskope Array" wird nach der Fertigstellung im Jahre 2005 das zweitgrößte bewegliche Radioteleskop der Welt sein. Den Löwenanteil der min destens 25 Millionen Dollar dafür ließ der Microsoft-Mitbegründer Paul Allen springen. Hunderttausend Sterne in Sonnenumgebung wird man damit nach intelligenten Funksignalen absuchen können. Die Antwort auf die Frage, was Intelligenz sei, fällt den SetiForschern dabei ungleich leichter als den meisten Psychologen: "In telligent ist, wer einen Sender bauen und betreiben kann", so Jill Tar ters Definition. Sofern man kein Popperianer ist, darf man den Lauschaktionen des Seti-Instituts durchaus gewisse Wissenschaftlichkeit zubilligen - han delt es sich doch um einen Hypothesentest, der lediglich den Fehler hat, daß die Hypothese unangetastet bleibt, solange der Test negativ ausfällt. Dergleichen ist in der Wissenschaft nicht völlig unüblich man denke etwa an die Suche nach Elementarteilchen, die von einer noch ungeprüften Theorie postuliert werden. Auch lassen sich halb wegs vernünftige Kriterien für den Erfolg aufstellen: Gesucht ist ein Signal aus dem All, das wiederholt beobachtbar ist und sich nicht durch natürliche Prozesse erklären läßt. Das allein könnte uns aber allenfalls die Existenz außerirdischer Fun ker nahelegen. Damit wir mehr erfahren, müßten sie schon absicht lich auf sich aufmerksam machen wollen. "Nur wenn sie ihre Nach richt für eine ihnen fremde Zivilisation entworfen haben, hätten wir eine Chance, ihre Nachricht auch zu verstehen", sagt der Psychologe Douglas Vakoch, der bei Seti eine eigene Abteilung zur Ver- und Ent schlüsselung interstellarer Botschaften leitet. Wahrscheinlich, so Va koch, würden sich interstellare Codes mathematischer oder physika lischer Universalien wie Primzahlen oder der Kernladung verschiede ner Atomen bedienen. Was eine solche Nachricht und erst recht ihre Entschlüsselung bedeu ten würde - über den Befund einer von der irdischen Biosphäre unab hängigen biologischen Evolution hinaus -, ist keine wissenschaftliche
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Frage mehr. Aber warum sollten Wissenschaftler nur wissenschaftlich fragen dürfen? Natürlich waren auch auf Hamilton Island die Meinun gen geteilt - und zwar oft entlang der Fachgrenzen: Astronomen wie Jill Tarter und Physiker wie der Sachbuchautor Paul Davies erwarten - oder erhoffen sich - auf lange Sicht enorme, nur mit Kopernikus und Darwin zu vergleichende weltanschauliche Erschütterungen. Geistes wissenschaftler wie Vakoch sind da skeptisch. Die zentralen philoso phischen oder theologischen Fragen, etwa die nach dem Sinn der Welt angesichts ihrer Endlichkeit, dürften uns auch noch so fortge schrittene Aliens nicht beantworten. Eine andere auf Hamilton Island oft gestellte Frage war die, ob wir nicht selber Nachrichten senden sollten, anstatt nur darauf zu war ten, bis E.T. sich meldet. Nun ist es schlicht billiger, Antennen in den Himmel zu halten, als die gewaltigen Mengen an Signalenergie ins All zu pumpen, die außerirdische Zivilisationen wenigstens in dieser Hälfte der Galaxis auf uns aufmerksam machen könnte. Hinzu kom men die durch die Lichtgeschwindigkeit begrenzten Signallaufzeiten. Der interstellare Dialog verliefe im Rhythmus von Menschengenerati onen. "Wenn Seti allerdings Jahrzehnte erfolglos bleibt, sollten wir es dennoch versuchen", meint Douglas Vakoch. Anderer Meinung ist da etwa der britische Paläontologe Simon Conway Morris, der aus evolu tionstheoretischen Gründen damit rechnet, daß intelligente Außerir dische, wenn es sie gibt, uns recht ähnlich sind bis hin zum Linsen auge und zum aufrechen Gang. Damit dürften sie aber ebenso oft zu aggressivem Auftreten neigen wie unsere Spezies, und folglich wäre es keine gute Idee, sie auf uns aufmerksam zu machen. "Wenn das Telefon wirklich klingelt", so Conway Morris, "sollten wir besser nicht rangehen." ULF VON RAUCHHAUPT Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.07.2002, Nr. 161 / Seite 32
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Gibt es den Krieg der Sterne? Und wenn ja, wie würden wir davon erfahren? Woodruff Sullivan hört für uns den Weltraum ab
Woodruff Sullivan ist Astrophysiker an der Universität von Washing ton in Seattle. Seit einem Vierteljahrhundert forscht er nach außerir dischem Leben. Aus aktuellem Anlaß haben wir ihn nach Fakten und Fiktionen auf diesem Forschungsgebiet gefragt. Herr Sullivan, am Donnerstag läuft in Deutschland "Episode II", der neueste Teil des "Star Wars"-Epos, an. Interessiert sich die For schung überhaupt für Science-fiction? Na klar! Fragen Sie einmal die Leute, die nach extraterrestrischer Intelligenz suchen (Search for Extraterrestrial Intelligence: SETI), und die große Mehrzahl wird Ihnen antworten, daß sie entweder als Kinder oder Studenten sehr viel Science-fiction gelesen haben. Man che bis heute. Das Problem ist nur, daß wir das nicht so gerne zugeben. Denn schließlich hat SETI in manchen Kreisen ein Glaub würdigkeitsproblem. Wenn Sie dann auch noch sagen, ja, Science fiction inspiriert uns, dann ist das akademischer Selbstmord. Dabei profitiert die Forschung doch von der Science-fiction-Industrie. Ihr Projekt SETI@home - http://setiathome.ssl.berkeley.edu - wird unter anderem von "Paramount Pictures" finanziert, die "Star Trek" produziert haben ... Stimmt. Auch wenn das manche Kollegen nicht gerne hören: Es gäbe überhaupt keine wissenschaftliche Forschung über extraterrestri sches Leben, wenn wir nicht in einer Kultur leben würden, die ver rückt nach Außerirdischen ist. Wir sind von Außerirdischen ähnlich besessen, wie es das Mittelalter von Engeln war. Trotzdem passen wir als Forscher natürlich auf, in welche Gesellschaft wir uns mit un serer Arbeit begeben. Microsoft haben wir zum Beispiel nicht als Sponsor akzeptiert. Warum nicht?
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Weil wir sonst Bestandteil einer ganzen Ufo-Website geworden wä ren. In diesem Zoo wollten wir nun wirklich nicht landen. Hätten Sie sich mit dem Großkonzern Microsoft nicht auch noch ein ganz anderes Glaubwürdigkeitsproblem aufgehalst? Ja. SETI@home wurde 1997 ins Leben gerufen mit der Idee, so viele Leute wie möglich in das Projekt einzubinden. Das einzige, was Sie dazu brauchen, ist ein Computer und einen Internetanschluß. Aus dem Internet können Sie sich die Software herunterladen, die uns erlaubt, auf die Rechenkapazität Ihres Computers zuzugreifen. Drei einhalb Millionen Menschen haben sich bisher die Software aus dem Netz geholt, um die 400 000 schicken uns wöchentlich tatsächlich durchgerechnete Pakete zurück. Die Nutzer würden sich vermutlich fragen, was hier getrieben wird, wenn auf unserer Seite das Microsoft-Logo stehen würde. Läßt sich die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz auch wissen schaftlich rechtfertigen? Natürlich, wo soll ich denn da anfangen? Wir wissen, daß die Sonne ein ziemlich normaler Stern ist. Es gibt Millionen anderer Sterne, die sehr ähnliche Eigenschaften wie die Sonne haben. Wenn wir unser eigenes Planetensystem anschauen, dann deutet alles darauf hin, daß die Planeten ein Nebenprodukt sind, das auf die Entstehung der Sonne vor etwa 4,6 Milliarden Jahren zurückgeht. Wenn das so ist, warum sollten dann andere Sonnen kein Planetensystem ausgebildet haben? Wir haben inzwischen auch fast einhundert Planetensysteme gefunden und finden ständig neue. Allerdings reicht die Technik zur Zeit nur aus, Planeten von der Größe eines Jupiters oder Saturns zu entdecken. Planeten, die so groß sind wie die Erde, waren bisher zu klein. Aber jetzt gibt es die Kepler-Mission. Sagt Ihnen das etwas? Nein, leider nicht. Die Nasa hat einen Satelliten ins All geschickt, der speziell nach erd großen Planeten sucht, indem er nach Schwankungen in der Intensität von Sonnenlicht Ausschau hält. Wenn sich nämlich ein Planet vor seine Sonne schiebt, dann blockiert er zu einem kleinen Teil das ausströ mende Sonnenlicht, und die Leuchtkraft nimmt ab. Das wird gemes sen, und daraus kann man auf die Existenz eines Planeten schließen.
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Das heißt aber noch nicht, daß es außerirdische Intelligenz gibt. Wir haben nun einmal nur ein einziges Beispiel, an das wir uns halten können: die Erde. Dort hat sich Leben ziemlich schnell entwickelt, nachdem die Erdkruste abgekühlt war und wir nicht mehr von Aste roiden und Kometen bombardiert worden sind. Ob das auch auf an dere Planeten zutrifft? Ich weiß es nicht. Ob sich unter ähnlichen Be dingungen auch wieder intelligentes Leben entwickeln könnte? Keine Ahnung. Eine positive Antwort auf Ihre Frage ist spekulativ - aber begründbar. Bei Ihrer Suche werten Sie nur Radiosignale aus, die Sie aus dem Weltraum empfangen, Sie schicken aber keine. Warum nicht? Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen ist es sehr teuer und kompli ziert, einen Sender von diesen Ausmaßen zu bauen. Die zweite Frage ist: Was wollen Sie inhaltlich senden? Um über eine solche Frage zu entscheiden, müßte man vermutlich sogar die Vereinten Nationen einschalten. Das ist viel zu aufwendig für eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern. Zudem können Sie nicht einmal überprüfen, ob die Signale irgendwo landen. Daß wir erfolgreich senden, wissen wir erst in dem Moment, in dem wir eine Antwort bekommen. Wenn ein Pla net auch nur zehn Lichtjahre entfernt ist, dann dauert es zehn Jahre, bis das Radiosignal dort ist, weil Radiowellen mit der Geschwindigkeit von Licht übertragen werden. Zehn Jahre brauchen sie dann - im Falle einer Antwort - wieder zurück. Das sind insgesamt zwanzig Jah re Wartezeit auf ein Ergebnis. Bis dahin wäre ich wahrscheinlich alt und grau oder Physiklehrer an einer Schule. Alle Signale, die wir empfangen, kommen also aus der Vergangen heit? Ja. Ich werde oft gefragt, ob es mich nicht stört, daß der Austausch von Signalen nicht möglich ist. Aber wissen Sie, einem Historiker geht es nicht anders. Wir würden liebend gerne Plato fragen: "Wie war das gemeint? Können Sie das noch einmal in anderen Worten sagen?" Das geht auch nicht. Wir müssen uns mit dem begnügen, was überliefert worden ist. Daß man also nur Nachrichten empfängt, ohne die Möglichkeit zu haben, sich zu unterhalten, ist somit kein Sonderfall unserer Forschung.
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In dem Film "Contact" empfängt eine außerirdische Zivilisation Sig nale von uns, die wir nicht willentlich abgeschickt haben. Es handelt sich um eine Fernsehübertragung, die Eröffnung der Olympischen Spiele von 1936 durch Adolf Hitler. Ist das realistisch? Für eine Hollywood-Produktion war "Contact" erstaunlich präzise. Es ist richtig, daß wir die ganze Zeit Signale ins All senden, ob wir wollen oder nicht. Die stammen vor allem von militärischen Einrichtungen und großen Fernsehstationen. Die Übertragung der Olympischen Spie le liegt nun 66 Jahre zurück, und in 66 Lichtjahren zieht so ein Signal bündel an einer dementsprechend großen Menge Sterne vorbei. Aller dings war die Übertragungsleistung, mit der damals gesendet wurde, um ein paar Fernseher in Berlin zu bespielen, ziemlich schwach. Das Ganze dauerte auch nur fünfzehn Minuten. Es ist also recht unwahr scheinlich, daß ausgerechnet das Signal aufgeschnappt wird. Geht es in Ihrer Forschung auch so aufregend zu wie in "Contact"? O nein. Bei uns gab es zweimal den Fall, daß Forscher ein Signal gebannt über ein oder zwei Stunden beobachtet haben. Meistens stellt sich heraus, daß es von einem Satelliten gesendet wurde, von dem wir nichts wußten, oder auf andere Weise von Menschenhand produziert wurde. Für diese Art von Forschung braucht man viel Geduld. Karriere kann man angesichts des Ergebnisertrags in dem Forschungsfeld auch nur schwer machen. Ich habe etwa zwanzig Prozent meiner Lebenszeit in SETI gesteckt. Wenn ich noch mehr eingesetzt hätte, wäre ich als Wissenschaftler heute nicht dort, wo ich bin. Ihre Forschung wurde dafür kritisiert, Intelligenz mit der Fähigkeit gleichzusetzen, Radiosender zu bauen. Finden Sie nicht, daß SETI die Züge von einem Eignungstest für ein Ingenieurstudium hat? Das ist ein rein praktisches Problem. Vielleicht gibt es Gesellschaften, die da draußen im All fortgeschrittene Poesie betreiben. Geben Sie mir einen Tip, wie ich die finden soll. Wir wissen leider nur, wie wir die Zivilisationen aufspüren, die Radiowellen produzieren. Würden sich die Forscher erschrecken, wenn Sie plötzlich ein Signal auf dem Schirm hätten?
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Die Stimmung unter den Forschern wäre ekstatisch. Was für eine Entdeckung! Gleichzeitig gibt es aus meiner Sicht auch eine politi sche Komponente. Denn vielleicht würde uns angesichts eines sol chen Signals aus dem All klarwerden, wieviel wir hier auf der Erde gemeinsam haben - auch eine Art von Globalisierung. Das Gespräch führte Julia Voss. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.05.2002, Nr. 19 / Seite 74
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Nur eine Frage der Zeit Asteroiden als Gefahr für die Erde Von Volker Hagemeister DRESDEN, Ende Juli. Durch Zufall entdeckt der junge Mann bei ei nem Blick durch sein Teleskop den Himmelskörper. Bei der Berech nung der Flugbahn machen professionelle Astronomen dann die schreckliche Entdeckung. Unaufhaltsam wird der Komet mit enormer Geschwindigkeit auf die Erde zurasen, in den Atlantik stürzen und eine todbringende Flutwelle hervorrufen. Die riesige Flutwelle reißt alle Gebäude, Pflanzen und Bewohner des Ostküstenstreifens mit, selbst die höchsten Hochhäuser Manhattans. Mehr als 300 Meter hoch türmen sich die Wassermassen, in denen Millionen Menschen ums Leben kommen. Nur die wenigen Bewohner New Yorks, die rechtzeitig die Berge erreichen, überleben die Katastrophe. Unter ihnen der jugendliche Held, der den Himmelskörper entdeckte. "Die Darstellung war schon recht realistisch", sagt Christian Gritzner, Ingenieur am Institut für Luft- und Raumfahrttechnik der Techni schen Universität Dresden, über den amerikanischen Film "Deep Im pact". Gritzner, der in seinem schmucklosen Büro in der sächsischen Landeshauptstadt Modelle am Computer berechnet, befaßt sich seit seiner 1992 begonnenen und vier Jahre später abgeschlossenen Dok torarbeit mit der Bedrohung durch Himmelskörper, deren Flugbahnen die der Erde kreuzen. Das Thema seiner Arbeit lautet: "Die Analyse alternativer Systeme zur Beeinflussung der Bahn erdnaher Asteroi den und Kometen." Wegen fehlender Kenntnisse in diesem For schungsfeld geht in "Deep Impact" beinahe die Welt zugrunde. Denn alle Versuche, den Kometen von seiner Bahn abzubringen, scheitern zunächst. Die Sprengung mit Atombomben führt dazu, daß der Ko met in zwei Stücke zerbricht: ein kleines mit einem Durchmesser von zwei und ein großes mit einem Durchmesser von zehn Kilometern. Das kleinere Stück stürzt dann tatsächlich auf die Erde. Aber wir sä ßen nicht in einem Hollywoodfilm, wenn nicht weitere Atombomben das größere Stück im letzten Augenblick doch noch zerstörten. So wird die Welt wieder einmal gerettet. "In Deutschland bin ich ein Exot", sagt Gritzner über sein For schungsgebiet. Auf der ganzen Welt haben bislang etwa hundert
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Wissenschaftler Arbeiten über die Abwehr von Asteroiden und Kome ten publiziert, vor allem in den Vereinigten Staaten und in Rußland. Das Forschungsgebiet ist noch jung: Im Jahr 1967 veröffentlichte Louis A. Kleimann am Bostoner Massachusetts Institute of Technolo gy unter dem Titel "Project Ikarus" einen Aufsatz, in dem er überleg te, wie durch den Einsatz von Atombomben ein Asteroid zerstört werden könnte. "Er wurde damals belächelt", sagt Gritzner. Aber auch jetzt, fast 35 Jahre später, werde dem Thema von den Raum fahrtbehörden noch zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt. "Dabei ist es überhaupt keine Frage, ob irgendwann ein großer Asteroid oder Komet auf der Erde einschlägt, sondern nur, wann." Erst seit 200 Jahren weiß die Menschheit, daß außer den schon seit langem bekannten Planeten wie Jupiter und Mars sowie einigen Ko meten noch andere Himmelskörper im Sonnensystem ihre Bahnen ziehen. Am 1. Januar 1801 entdeckte der Astronom Giuseppe Piazzi in Parlermo ein Sternchen, das mit einem guten Fernglas, aber nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen war. Weil es sich bewegte, konnte es sich nicht um einen Fixstern handeln. Die Berechnung ergab, daß der Himmelskörper sich auf einer elliptischen Bahn zwischen Mars und Jupiter um die Sonne bewegte. Er erhielt den Namen "Ceres". Weil er offensichtlich wesentlich kleiner war als die bis dahin bekann ten Planeten, setzte sich für ihn und die nach ihm entdeckten ver gleichbaren Himmelskörper die Bezeichnung Planetoiden oder Aste roiden (Kleinplaneten) durch. Dringen solche Brocken in die Erdat mosphäre ein, bezeichnet man sie oder das, was von ihnen übrigbleibt, als Meteoriten. Die ersten Asteroiden fanden die Astro nomen nur zwischen Mars und Jupiter. Doch mit der Entdeckung des Asteroiden Eros im Jahr 1898 wurde deutlich, daß auch in anderen Regionen des Sonnensystems mit den Himmelskörpern gerechnet werden muß. Eros kann sich auf seiner Bahn der Erde auf bis zu 25 Millionen Kilometer nähern; er kommt dichter heran als jeder andere Planet. Near Earth Asteriods (Nea) werden die Objekte dieser Gruppe genannt; Eros ist mit einer Länge von 33 Kilometern der größte von ihnen. Den Neas gilt das größte Interesse der Forscher; ihre Bahnen könnten sich am ehesten einmal mit der Erde kreuzen. Entstanden sind die Asteroiden gleichzeitig mit ihren großen Brüdern, den Planeten, in den Anfängen des Sonnensystems. Es sind zumeist Gesteinsbrocken von einigen Kilometern Durchmesser, die um die Sonne kreisen. "Bislang kennt man etwa 1400 Objekte, die in Erdnä
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he gelangen können, also in mehrfache Mondentfernung", sagt Ger hard Hahn vom Berliner Institut für Weltraumsensorik und Planeten erkundung, das zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gehört. Zwischen 400 und 500 von ihnen seien größer als einen Ki lometer und könnten bei einem Zusammenprall mit der Erde globale Folgen zeitigen. Soweit die Umlaufbahnen schon berechnet sind, kann Entwarnung gegeben werden. "Von denen droht der Erde keine Gefahr", sagt Hahn. Doch einige große Brocken seien noch gar nicht entdeckt. Oder ihre Flugbahn ist unklar. Zudem könnten auch we sentlich kleinere Objekte eine große Gefahr für viele Menschen dar stellen. "Von denen gibt es sicherlich mehrere zehntausend, die der Erde nahe kommen könnten. Aber wir kennen viel zu wenige." Einen dieser Asteroiden kennen die Forscher mittlerweile recht gut: Eros. Im Februar dieses Jahres landete die 1996 gestartete Raum sonde Near (Near Earth Asteroid Rendezvous) sanft auf dem damals etwa 315 Millionen Kilometer von der Erde entfernten Kleinplaneten. Sie lieferte aufschlußreiche Bilder von der Oberfläche des Asteroiden, auf denen große Geröllbrocken und feiner Sand zu sehen sind. Einige Asteroiden lernen die Forscher aber erst kennen, wenn sie auf der Erde einschlagen. So ereignete sich im Jahr 1908 in der unbewohn ten sibirischen Tunguska eine gigantische Explosion, bei der die Druckwelle 2000 Quadratkilometer Wald vernichtete. Ursache war vermutlich ein Asteroid mit einem Durchmesser von sechzig Metern. Nach dem Eindringen in die Erdatmosphäre zerbarst er knapp über der Erdoberfläche und setzte dabei so viel Energie frei, daß der Bro cken selbst fast vollständig verdampfte. Wäre das nicht in der Weite Sibiriens geschehen, sondern über einer Großstadt, wären vielleicht Millionen Menschen ums Leben gekommen. Auch in unseren Breiten graden hat es - erdgeschichtlich betrachtet - vor kurzer Zeit gewaltig gekracht: Das Nördlinger Ries, ein 25 Kilometer großer Krater zwi schen München und Stuttgart, entstand vor etwa fünfzehn Millionen Jahren durch den Einschlag eines etwa einen Kilometer großen Aste roiden. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenstoßes versuchen Wissenschaftler zu ermitteln, indem sie die Mondoberfläche untersu chen. Anhand von Zahl und Größe der Krater lassen sich Rückschlüs se auf die Einschläge ziehen. Denn anders als auf der Erde, wo Erosi on und Plattentektonik Krater recht schnell wieder verschwinden las sen, bleiben sie auf dem Mond sichtbar; nur wenige Krater sind dort
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vulkanischen Ursprungs. Statistisch gesehen trifft danach alle 100 bis 400 Jahre ein 50 Meter großer Asteroid die Erde. Alle 150 000 bis 600 000 Jahre kommt ein 1000 Meter großer Brocken herunter, und alle fünfzehn bis 60 Millionen Jahre richtet ein zehn Kilometer großes Geschoß Unheil an. "Obwohl das Risiko gering ist, aber nicht vollkommen zu vernachläs sigen, wird vor allem in Europa zuwenig Geld für die Forschung be reitgestellt", sagt Hahn. Nun hofft er auf die Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, um ein neues Projekt zu finanzie ren: Seit Beginn des Jahres sucht das Berliner Institut gemeinsam mit italienischen Wissenschaftlern nach Asteroiden. Beobachtet wird in der Sternwarte im norditalienischen Asiago; in Berlin werden Da ten und Bilder ausgewertet. Zur Suche benötigt wird eine spezielle Weitwinkelkamera. Mit ihr fotografiert man den Himmel in regelmä ßigen Abständen. Ein Computer erkennt Veränderungen und kann auf diese Weise bewegliche Objekte wie Asteroiden identifizieren. Aber Hahn kennt die Grenzen des Projekts: "Unsere Möglichkeiten sind bescheiden, wir finden jedes Jahr nur ein paar Asteroiden, wäh rend die Amerikaner Hunderte entdecken." Um die Suche nach den unbekannten Himmelskörpern zu beschleu nigen, rief die Nasa 1995 das Suchprogramm Neat (Near-Earth Aste roid Tracking) ins Leben. Der amerikanische Kongreß hatte die Welt raumbehörde aus Sorge über die Gefahr eines Einschlags zu größe ren Anstrengungen aufgefordert. Neat ist eines von mehreren For schungsprogrammen der Nasa, mit denen sie bis 2010 zumindest 90 Prozent aller größeren Neas finden will. Das erscheint nicht unrealis tisch, denn noch vor einem Jahr hatten die Neat-Forscher ihre Schät zung über die Zahl der unbekannten Objekte in Erdnähe um die Hälf te reduziert. Sie schätzen, daß höchstens 1000 Asteroiden und Ko meten mit mehr als einem Kilometer Durchmesser in Erdnähe sind. Wird ein Asteroid entdeckt und ist seine Flugbahn errechnet, erhält er von der Internationalen Astronomischen Union (IAU) eine Nummer und auch einen Namen. Dafür zuständig ist das sogenannte Minor Planet Center in Cambridge, Massachusetts. Die Entdecker haben ein Vorschlagsrecht für die Namen und schlagen alles mögliche vor, zum Beispiel den Namen des eigenen Hündchens. Bei der Namengebung werden auch oft Astronomen gewürdigt, die sich um die Erforschung der Asteroiden verdient gemacht haben. Darunter sind auch viele
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Hobby-Forscher, die vor allem bei der Berechnung der Flugbahnen wertvolle Dienste leisten können. So hat der mittlerweile im Ruhe stand lebende Freimut Börngen vom Karl-Schwarzschild-Observatorium in Tautenburg bei Jena außerhalb seiner regulären Tätigkeit etwa 200 Asteroiden aufgespürt. Die technischen Anforderungen an die Hobby-Astronomen sind allerdings hoch: Wegen der schwachen Lichtstrahlung der Asteroiden sind ein größeres Teleskop und eine spezielle Fotokamera erforderlich. Wegen der großen Zahl der Objek te und der noch unkoordinierten Forschung greift die IAU aber gerne auf die Beiträge der Amateure zurück. Auch in "Deep Impact" ent deckt erst ein Hobby-Forscher das lebensbedrohliche Objekt. In dem Film bereiten sich die Menschen auf den Aufprall des Kometen vor, indem sie eine riesige Höhlensiedlung anlegen, in die wie auf die Arche Noah zwei Exemplare aller Tierarten verfrachtet werden. Außer dem dürfen mehrere hunderttausend per Computer ausgewählte Men schen mit in den Untergrund. Nach zwei Jahren sollen sie die Erde neu besiedeln. "Danach müßten sie aber wieder von vorn auf einer völlig veränderten Erde anfangen, denn die Veränderungen von Klima- und Lebensbedingungen wären enorm", sagt Gritzner. Viele Wissenschaft ler glauben, daß solche Veränderungen infolge eines Asteroide neinschlages vor 65 Millionen Jahren das Leben der Dinosaurier aus löschten. 1980 stellte der Physiker und Nobelpreisträger Luis Alvarez erstmals diese These auf. Ein paar Jahre später wurde auf der mexi kanischen Halbinsel Yucatan ein Krater entdeckt, der von einem zehn bis zwanzig Kilometer großen Meteoriten aus dieser Zeit stammen könnte. Nach dieser These wurde die Erde durch die riesigen Staub mengen, die das mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 000 Metern pro Sekunde aufschlagende Objekt aufwirbelte, und durch den Rauch der durch die Explosion hervorgerufenen Brände in eine Art atomaren Winter versetzt. Das Sonnenlicht drang nicht mehr durch, die Photo synthese setzte aus, das Klima veränderte sich, und etwa 75 Prozent aller Arten starben innerhalb kurzer Zeit aus, darunter alle größeren Land-Lebewesen und somit auch die Dinosaurier. Der Biologe Gerhard Winter vom Frankfurter Forschungsinstitut Senckenberg stimmt der Theorie allerdings nicht ungeteilt zu: "Das Aussterben der Dinosaurier läßt sich nicht durch eine einzige Ursache erklären." Es habe etwa vier Millionen Jahre gedauert, und daß einige Säugetiere und Reptilien wie die Krokodile überlebten, spreche ebenfalls gegen die Theorie. Wahr scheinlicher sei ein langsamer Klimawechsel, zu dem Meteoritenein schläge aber beigetragen haben könnten.
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Nachzuweisen sind diese Einschläge nur mit Mühe. Aufgrund der Ero sion sind die vor Millionen von Jahren durch Einschläge entstandenen Krater kaum noch zu erkennen. Hinweise auf den Einschlag eines Asteroiden liefert zumeist das seltene Metall Iridium, das im Gestein von Asteroiden recht häufig, auf der Erde aber nur selten vorkommt. Einschläge von Kometen sind noch schwieriger nachzuweisen, denn ihre Kerne enthalten große Mengen Eis und gefrorene Gase, die bei dem Einschlag sofort verdampfen. Kleinere Meteoritenstücke sind allerdings gar nicht selten: Auf Samm lerbörsen und in Fachgeschäften findet man eine reiche Auswahl. Auch Asteroidenforscher Gritzner hat sich ein paar solche Brocken zugelegt. Aus einer Plastiktüte holt er schwarze Klumpen eines sehr festen Ma terials hervor: "Dieser besteht im wesentlichen aus Eisen-Nickel, und die schwarze Farbe rührt von dem hohen Kohlenstoffanteil her." Zehn Gramm eines solchen Meteoriten kosten etwa zehn Mark, aber bei Fundstücken mit einer wesentlich selteneren Zusammensetzung wer den pro Gramm auch bis zu tausend Mark gezahlt. Meist sind diese Fundstücke mehrere Milionen Jahre alt und Überres te früherer größerer Einschläge. Doch ständig treffen auch kleinere Meteoriten die Erde. Die meisten verglühen zwar bei ihrem Eintritt in die Atmosphäre; für Beobachter des nächtlichen Sternhimmels ist das als Sternschnuppe zu erkennen. Doch manchmal findet einer auch den Weg bis auf die Erdoberfläche, wie etwa 1992, als ein Ob jekt im amerikanischen Bundestaat New York einen Chevrolet zer trümmerte. "Das hängt sehr stark von dem Eintauchwinkel in die Atmosphäre ab: Je flacher der ist, desto größer ist die Wahrschein lichkeit, daß der Asteroid nicht verglüht", erläutert Gritzner. Aber auch wenn die Asteroiden noch in der oberen Atmosphäre verglühen oder explodieren, kann das Folgen haben: 1994 registrierten militäri sche Überwachungssatelliten über dem Pazifik eine Detonation mit einer Sprengkraft, die größer war als diejenige der HiroshimaBombe. Doch auch wenn alle größeren Asteroiden einmal entdeckt und ihre Bahnen berechnet wären, bliebe das Problem, sie im Falle einer dro henden Kollision mit der Erde aufzuhalten. Bei den Kometen hinge gen bestünde die Schwierigkeit darin, daß viele von ihnen unvermu tet kommen. Gewöhnlich reicht das Sonnenlicht erst ab Jupiternähe dazu aus, den leuchtenden Schweif aus Gas und Eis zu erzeugen.
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"Danach dürften je nach Größe und Geschwindigkeit etwa zwei Jahre Zeit bleiben", schätzt Gritzner. Wenn jedoch noch Zeit für die Abwehr bleiben sollte, dann kämen die Szenarien in Betracht, die Gritzner am Computer berechnet. Atombomben spielen dabei eine Rolle. Auch die Filmemacher von "Deep Space" und "Armageddon" griffen zu dieser Idee: Dort kann die Sprengkraft der Waffen die Asteroiden entweder in viele kleine Stücke sprengen oder zumindest vom Kurs abbringen. Gritzner befaßt sich mit drei Varianten: der Zündung von Atombom ben über einem Asteroiden, auf der Oberfläche oder im Gestein des Kleinplaneten. Letzteres würde aber wohl die Landung eines Raum schiffes oder einer Sonde und das Bohren von Sprenglöchern entwe der durch Astronauten oder durch Roboter erforderlich machen. So geschieht es in "Armageddon": "Völliger Quatsch", meint Gritzner. Zum einen gebe es auf einem Asteroiden wegen der geringen Masse kaum Schwerkraft, so daß Astronauten nicht in Fahrzeugen auf der Asteroidenoberfläche herumfahren und Löcher bohren können. Au ßerdem erreiche man durch eine Sprengung zumindest bei größeren Exemplaren wenig: Viele Asteroiden bestehen nicht aus einem festen Kern, sondern aus einer losen Ansammlung von Geröllbrocken. "Die würden auseinanderbrechen und in mehreren kleineren Stücken auf der Erde einschlagen, aber an der verheerenden Wirkung würde das nichts ändern", meint Gritzner. Allenfalls bei sehr kleinen Objekten, deren Bruchstücke beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglühen könnten, sei ein erfolgreicher Einsatz von Atombomben denkbar. Mehr Erfolg aber versprächen Versuche, die Bahn der Asteroiden zu verändern. "Man könnte künstlich eine Kollision mit einem anderen Objekt herbeiführen, denn die dadurch erzeugte Explosion und Mate rialverdampfung dürfte auch zu einer Bahnveränderung führen." Ob dieses Mittel hilft, könnte sich schon bald zeigen: Für 2004 plant die Nasa den Start der Raumsonde Deep Impact, die sich 2005 dem Ko metenkern "Tempel 1" nähern und einen 350 Kilogramm schweren Kupferblock auf den sechs Kilometer großen Himmelskörper fallen lassen soll, um künstlich einen Krater zu erzeugen. Die amerikani schen Forscher wollen dadurch vor allem Informationen über das Kometeninnere gewinnen, zugleich lassen sich aber auch Auswirkun gen auf die Flugbahn studieren. Gritzner kann sich auch noch andere Lösungen zur Asteroidenabwehr vorstellen: Er denkt an Satelliten, die mit mehrere Quadratkilometer großen Sonnenreflektoren auf eine Bahn in der Nähe der Asteroiden geschossen werden. Mittels eines weiteren Spiegels sollen sie Son
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nenlicht auf seiner Oberfläche bündeln, durch die große Hitze das Material zum Verdampfen bringen und wie ein kleiner eigener Motor des Asteroiden dessen Richtung beeinflussen: "Das müßte vermutlich Monate dauern, bis eine entscheidende Bahnänderung zu erzielen ist, könnte aber funktionieren." Die Methode habe zudem den Vorteil, daß sie schneller als andere getestet werden könnte. Manches klingt nach Science-fiction und nicht nach Wissenschaft. Aber der Dresdner Forscher will mit seinen Thesen vor allem ein Bewußtsein über die Gefahren in Fachwelt und Öffentlichkeit schaffen. "Wichtig ist, daß sich die Raumfahrtbehörden mehr Gedanken über das Thema ma chen, denn bisher werden dafür kaum Mittel bereitgestellt." Wenn die Menschheit im Falle eines Zusammenstoßes unvorbereitet sei, redu ziere sich die Chance dramatisch, die Katastrophe vielleicht noch abwenden zu können. Müßten erst noch Abwehrsatelliten oder raketen gebaut und Strategien getestet werden, sei es für Gegen maßnahmen zu spät. Die Bewohner der Erde haben nicht unbedingt das gleiche Glück wie die Darsteller in Hollywood-Filmen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.2001, Nr. 174 / Seite 11
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Die Beschaffenheit des rasenden Eros Mit der Raumsonde Near-Shoemaker könnte die Ausbeutung himmlischer Schätze beginnen Von Phil Plait, unserem Mann im All Die Jagd hat begonnen! Hunderte von gefährlichen Asteroiden, die möglicherweise in der Erde einschlagen könnten, fliegen im Sonnen system herum. Eine Reihe von Astronomen-Teams hat sich auf die Suche nach ihnen gemacht: Sie erforschen den Himmel, berechnen Umlaufbahnen und hoffen, daß der nächste Dinosaurier-Killer unse ren Planeten verschonen wird. Was geschieht aber, wenn eine dieser fliegenden Bomben uns zu nahe kommt? Man stelle sich vor, ein Ast ronom entdeckte eines Nachts einen Asteroiden, der sich eindeutig auf Kollisionskurs Richtung Erde befindet. Was würden wir tun? Vieles hinge natürlich davon ab, wieviel Zeit uns bis zum Einschlag bliebe. Im Film "Armageddon" hatten die Menschen nur achtzehn Ta ge. Nach der Zeitrechnung Hollywoods blieb damit aber glücklicher weise genügend Zeit, um zwei geheime Raumfahrzeuge mit einem nuklearen Sprengkopf auszurüsten, eine Gruppe von machohaften Ölbohrinsel-Fachkräften zu Astronauten umzuschulen, Kurs auf den Asteroiden zu nehmen, die Bombe zu plazieren und die Retter, die während der ganzen Mission noch blödsinnige Spielchen vor der Ka mera aufführen durften, zur Erde zurückzuschicken. Im Film "Deep Impact" wurde die Sache indessen schon etwas realis tischer dargestellt. Hier wurde der Komet einige Jahre vor seinem Einschlag entdeckt, so daß auf glaubwürdigere Weise gezeigt werden konnte, wie ein Raumschiff zur Abwehr ausgerüstet wurde. Tatsäch lich könnte ein Komet oder Asteroid von der Größe, wie sie in diesen Filmen heraufbeschworen wurde, schon Jahrzehnte oder sogar Jahr hunderte vor seinem möglichen Einschlag gesichtet werden. Wenn wir nun in der Wirklichkeit so viel Zeit hätten, was würden wir tun? Vertraute man immer noch Hollywoods Visionen, so wäre die Antwort einfach: Man jagte das Ding einfach in die Luft. Dieser Vorschlag wirft allerdings ein Problem auf: Asteroiden und Kometen lassen sich nämlich nicht so einfach in die Luft jagen. Zumindest nicht so leicht, wie Hollywood es uns vormacht. Viele Asteroiden bestehen fast völlig aus Metall. Man bräuchte daher eine Menge starker Bomben, um ei
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nen solchen Asteroiden zu zerstören. Zudem wirken Bomben im All weniger effektiv als auf festem Boden: Da das Medium Luft im All fehlt - ein Tatbestand, den die Spezialeffekte der Asteroiden-Filme zu ignorieren scheinen -, können sich Klang- und Schockwellen nicht ausbreiten. Eine Bombe, die auf der Oberfläche eines Asteroiden o der Kometen plaziert würde, könnte daher nur wenig Schaden an richten. Theoretisch ließe sich ihre Wirkung verstärken, wenn man sie eingraben könnte, aber da wir so wenig über die Oberfläche von Asteroiden wissen, läßt sich nicht entscheiden, ob dies überhaupt möglich wäre. Außerdem würde man die Situation höchstwahrscheinlich nur ver schlimmern, wenn man versuchte, den Steinbrocken in die Luft zu sprengen: Man hätte es dann nämlich nicht nur mit einem, sondern mit vielen Einschlägen zu tun. Obwohl die Summe der Energie dieser Einschläge unverändert wäre, riefe ein solcher multipler Einschlag dennoch schlimmere Zerstörungen hervor, weil möglicherweise viel größere Gebiete betroffen wären. Was wäre also zu tun, wenn wir den Brocken nicht in die Luft jagen könnten? Das Beste wäre natürlich, wenn der Asteroid uns gar nicht erst treffen würde. Man könnte die Flugbahn eines solchen Himmels körpers tatsächlich manipulieren, indem man eine Kraft auf ihn ein wirken ließe. Wenn uns genügend Zeit bliebe - Jahrzehnte würden ausreichen -, könnte diese Kraft relativ klein sein; wenn der Ein schlag kurz bevorstünde, müßte man größere Kräfte mobilisieren. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, um die fliegenden Steinbrocken von ihrer Bahn abzulenken. Ein relativ simpler Plan sieht beispiels weise vor, Raketen auf den Asteroiden zu schießen und ihn mit die sen aus seiner gefährlichen Flugbahn herauszuziehen. In einem raffi nierteren Krisenszenario erhalten diese Raketen eine andere Aufga be: Sie werden auf der Oberfläche des Asteroiden plaziert, um dort ein gigantisches Solar-Segel zu errichten. Dieses Segel, hergestellt aus sehr dünnem Mylar mit einem Durchmesser von Hunderten von Quadratkilometern, würde den Sonnenwind einfangen und außerdem auf den geringen Druck des Sonnenlichts reagieren. Es könnte da durch mit einer sanften, aber konstanten Kraft auf den Asteroiden einwirken und ihn auf eine sicherere Flugbahn umlenken. Ironischerweise sind gerade die Asteroiden-Filme Hollywoods einer anderen guten Idee durchaus nahegekommen: Man könnte nämlich
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tatsächlich eine nukleare Bombe einsetzen, aber diese dürfte den Asteroiden nicht explodieren lassen, sondern müßte ihn aufheizen. In seinem faszinierenden Buch "Bomben aus dem All" hat der an der Universität von Arizona tätige Planetenforscher John Lewis nachzu weisen versucht, daß eine relativ kleine nukleare Explosion (mit einer Wirkung von etwa hundert Kilotonnen) schon ausreichend wäre. Wenn man eine solche Bombe einige Kilometer über der Oberfläche des Asteroiden detonieren ließe, würden durch die große Hitze der Explosion Bestandteile der Oberfläche des Steinbrockens verdamp fen. Dieses Material würde dann nach außen streben und dadurch den Asteroiden wie eine Rakete in eine andere Richtung ziehen. All diese Krisenszenarien setzen allerdings voraus, daß wir bereits genügend über die Struktur von Asteroiden wissen. Dies ist aber nicht der Fall. Einige der Rettungspläne würden schon daran schei tern, daß es so viele verschiedene Typen von Asteroiden gibt: Man che bestehen aus Metall, manche aus Stein, manche wirken wie lose zusammengesetzte Haufen von Geröll, das nur durch seine eigene Schwerkraft zusammengehalten wird. Solange wir nicht einmal diese grundlegenden Fragen beantworten können, stochern wir mit unse ren Krisenszenarien noch im dunkeln. Dieses Dunkel wird sich nur lichten, wenn wir die Asteroiden weiter hin gründlich erforschen. Die Nasa hat sich dieser Herausforderung gestellt: Zur Zeit umfliegt die Forschungsstation Near-Shoemaker den Asteroiden Eros. Durch die Daten, die auf dieser Station bisher gesammelt wurden, konnten Wissenschaftler ihre Kenntnisse über die Oberflächenstruktur und die mineralische Beschaffenheit des Eros gewaltig verbessern. Aber es muß weitergeforscht werden. So haben die Wächter über die Near-Shoemaker-Mission mehrfach den mutigen Schritt gewagt, ihre Forschungsstation langsam auf die Oberfläche des Eros abzusenken. Je näher die Station dem Asteroiden kommen wird, desto schärfere Bilder werden gemacht werden können; Bilder, die uns immer präzi sere Daten darüber liefern werden, wie ein Asteroid wirklich beschaf fen ist. Die Wissenschaftler hoffen, daß die Station am 12. Februar dieses Jahres die Oberfläche des Asteroiden sanft berühren wird, so daß die Near-Shoemaker-Mission mit dem Erfolg einer ersten vor sichtigen Landung auf einem Asteroiden abgeschlossen werden kann.
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Durch Erkundungsflüge wie diesen und die geplanten Folge-Projekte können wir vielleicht so viel über Asteroiden erfahren, daß wir auch in der Lage sein werden, mit der Gefahr eines möglichen Einschlags umzugehen. Und dies könnte noch weitere interessante Konsequen zen haben. Denn wenn wir in Zukunft Asteroiden nicht in die Luft jagen müssen, weil wir sie ablenken können, bedeutet es, daß wir sie tatsächlich steuern können: Ein gefährlicher Asteroid könnte also einfach auf eine sichere Umlaufbahn um die Erde ausgerichtet wer den. Befände sich der Steinbrocken erst einmal in dieser Bahn, so könne man Expeditionen zum Abbau von begehrten Ressourcen auf diesem Asteroiden ausrüsten. John Lewis schätzt auf der Grundlage spektroskopischer Untersuchun gen von Meteoriten und erdnahen Asteroiden, daß ein Asteroid mit einem Durchmesser von fünfhundert Metern Kobalt, Nickel, Eisen und Platin im Wert von vier Billionen Dollar enthalten könnte. Da die Metal le auf dem Asteroiden in Reinform existieren, könnten sie relativ leicht abgebaut werden, so daß die Profite aus einem solchen Unternehmen die anfänglichen Investitionen leicht wieder einspielen würden. Und dabei handelt es sich noch um einen kleinen Asteroiden - die vielen größeren könnten noch viel gewaltigere Schätze enthalten. Der Science-fiction-Autor Larry Niven hat einmal gesagt, daß die Di nosaurier vermutlich aussterben mußten, weil sie kein Raumfahrt programm hatten. Wir Menschen haben glücklicherweise eines, und wenn wir dieses energisch vorantreiben, werden die Asteroiden in Zukunft nicht mehr das Überleben unserer Spezies bedrohen, son dern können der Menschheit als Goldminen im All dienen. Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Philip Plait arbeitet als Astronom an der Sonoma State University in Kalifornien. Besser bekannt ist er jedoch durch seine Internetseite badastronomy.com. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.2001, Nr. 31 / Seite 53
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Warum die Außerirdischen mit uns Verbindung aufnehmen müssten Science-fiction und der unstillbare Narzißmus, von anderen entdeckt zu werden: Die Literatur hegt den unheimlichen Wunsch nach einer Begegnung mit der Dritten Art Gibt es sie? Die "vom anderen Stern"? Wir wissen nicht, ob sie existie ren (und wie sie in diesem Fall beschaffen wären), aber warum sollte es sie denn nicht geben? Selbst die Theologie hat schließlich nach Ü berwindung der galileischen Krise prinzipiell keine Einwände gegen den Gedanken erhoben, es könnten Lebewesen auf fernen Sternen wohnen; sie verfügt über einen wenn auch etwas kryptischen kanoni schen Text ("Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus die sem Stalle" - Johannes X, 16) und über alle wohlerwogenen Argumen te der Neoscholastik, die man etwa in einer Schrift der GörresGesellschaft von 1885 nach vielen Fußnoten summiert findet zu: "Gott konnte menschenähnliche Geschöpfe auf den bewohnbaren Weltkör pern erschaffen; es geziemte sich aber auch aus einer Reihe von Gründen, daß er solche erschuf; mithin hat er es getan." Bei der Erörterung jener Reihe von Gründen wird ein gewisses Gewicht auf das argumentum ex turpitudine, das Argument mit Bezug auf die "Ruchlosigkeit des Menschengeschlechts", gelegt - stellte die irdische Menschheit schon das Gesamt der intelligenten Schöpfung dar, hätte das All vor Gott (und am Ende Gott selbst vor sich selber) peinlich versagt. Die Naturwissenschaft stellt sich in diesem Falle der Theologie an die Seite; sie hat ihre offizielle Position in den sechziger Jahren mit Einrichtung des Projekts Ozma bezogen, dem dann die weiteren SetiVersuche folgten - die "Search for Extraterrestrial Intelligence" mit Hilfe immer größerer Radioteleskope. Wir senden die Nachricht von unserer intelligenten Existenz aus, hoffen, daß sie auch intelligibel ist, horchen nach Antworten ins All. Muß es uns als bedeutsame Frage erscheinen, daß hierauf immer noch keine Antwort erfolgt ist? Längere Zeit zumindest sah es so aus, als rechneten doch große Teile der Be völkerung - irgendwie - mit einem Antwortsignal. In den fünfziger Jahren war die Vorstellung eines Besuchs aus dem All vor allem die von einer Heimsuchung: einer Invasion. Das war die
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seit Wells' "Krieg der Welten" (1898) geläufige Vorstellung, und der Kalte Krieg hat solche Ängste noch einmal groß an den Himmel ge malt - verbunden mit der geheimen Hoffnung, die Menschheit könne ihren internen Frieden im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind aus dem All finden: Unzählige Space Operas haben mit einem or gasmischen Jetzt-aber-zur-Sache-Gefühl amerikanische und russi sche Raketen einträchtig einer außerirdischen Invasionsflotte entge gendonnern lassen. Die Invasoren sind ausgeblieben (falls sie nicht unerkannt längst schon unter uns leben, aber das ist eine andere, wunderbar paranoide Geschichte; gleich mehr dazu). Die riesigen imperialistischen Entwürfe, so oder so - wir gründen ein mächtiges Sternenreich; wir werden von einem mächtigen Sternen reich angegriffen -, zeigen sich unter allen verstaubten Erfindungen der Science-fiction als die albernsten; sentimental-schön bleiben nur einige Stories, wo gezeigt wird, wie auf unvorstellbar entlegenen Planeten bruchstückhafte, nostalgisch übertriebene Mythen von der nie gesehenen Mutter Erde zirkulieren. Die illegitime Beziehung zwi schen Imperialismuskritik und Paranoia hat andererseits einen der schrägsten Texte der postmodernen Literatur hervorgebracht: Bur roughs' "Nova Express" (1964). Hier sind die Fremden unter uns eine durchsichtige, aber wirksame Metapher für die Unbegreiflichkeit un seres eigenen gewalttätigen Wahnsinns: Der Nova-Mob, eine Art ext raterrestrische Mafia, versucht, unseren Planeten unter Kontrolle zu bringen, indem er auf unsere Neigung zum Suchtverhalten setzt und uns mit Drogen, Sex und Gewalt unterminiert. Diese Agenten des Surrogats sollen böse Fremde sein; wir wissen schon, daß es nur unsere Spiegelbilder sind, aber wenn wir es einen Augenblick lang vergessen können, ist es doch immerhin schmeichelhaft, daß sich jemand so für unseren Planeten interessiert. Wir wollen nämlich interessant wirken. Auf die anderen. Die können dann ruhig ein wenig bedrohlich sein. In den Vereinigten Staaten und anderswo gibt es Hunderttausende von Menschen, die versucht ha ben, ihre vermutlich eintönige Existenz mit der Behauptung zu gar nieren, sie seien von Außerirdischen entführt worden. Ihre Geschich ten schillern (soweit sie nicht Produkte genuiner geistiger Verwirrung sind, was wie bei vielen im weitesten Sinne religiösen Phantasien schwierig abzugrenzen ist) zwischen Wichtigtuerei und Sehnsucht. Die Entführungsszenarien bieten eine Musterkarte von angenehm "wichtigen" Formen des Sozialkontakts: wissenschaftliches Experi
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ment, militärische Operation, erotische Verführung, religiöse Unter weisung, diplomatische Demarche. Ihr Generalnenner ist ein Gefühl, das auch viele andere Katastrophen- und Erlösungsphantasien nährt: Es soll mit mir endlich einmal etwas Außerordentliches geschehen. Noch die sinistersten dieser Geschichten (Vergewaltigung, Einsatz als medizinisches Versuchskaninchen) haben ein und dieselbe schlichte und wahrhaftig ergreifende - Pointe: Jemand hat sich für mich inte ressiert. Alle diese Berichte (fromm, schwül oder geheimnisvoll) las sen sich auf den Glücksruf eines Gelangweilten reduzieren: Es hat mich jemand angesprochen! Und weil's realiter nie geschieht, phan tasieren wir es uns beharrlich zusammen. Denn wir sind im Grunde unseres Herzens davon überzeugt, daß die "anderen", gäbe es sie, uns nicht widerstehen könnten. Es gibt ein sehr schönes Blatt von Sempé: Irgendwo in der französi schen Provinz oder der Banlieue von Paris sitzt auf einem bukoli schen Balkon unter einem prächtigen Sternenhimmel zufrieden rau chend der Hausherr mit seinem Kaffee und einem massiven Fern rohr. Die Gattin redet nervös auf ihn ein, er solle doch zur Besinnung kommen ("Réfléchis une seconde, Armand") und nur einmal überle gen: Wenn es dort droben intelligente Wesen gibt, "warum sollten die ausgerechnet dir Signale senden?" Und es gibt eine sehr schöne Folge von Charles M. Schulz' "Peanuts"Comic-Strip: Auf die nachdenkliche Frage, ob es anderswo im Weltall wohl intelligentes Leben gebe, verneint Lucy das mit Entschieden heit: "Wenn es dort intelligente Wesen geben würde, dann hätten sie auf jeden Fall versucht, mit mir Verbindung aufzunehmen." Diese beiden Erwägungen schneiden sich mit ihrer symmetrischen Komik genau in dem Punkt, wo die Wurzel der Frage nach den Außerirdi schen liegt: im Narzißmus. Die Fragestellung mag sich noch so sehr naturwissenschaftlich oder theologisch maskieren, im Grunde liegt ihr (nachdem die alte Angst vor einem Angriff erloschen scheint) eine Irritation unserer Eitelkeit zugrunde. Und es ist ja auch, tritt man einmal in diesen Gedankengang ein, einigermaßen irritierend, daß sich noch niemand bei uns gemeldet hat. Sind wir so unbedeutend, verschwinden wir unwahrnehmbar in den Abgründen des Kosmos? Sind wir vielleicht derart unattraktiv? Oder gefährlich? Fehlt uns das, was mit einem schönen englischen Wort "clubability" heißt - traut man uns keine geselligen Tugenden
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zu, will man uns in keinen Weltallklub wählen? Es muß doch irgend welche Gründe geben ... Ob wir irgendwann einmal bei einem Test versagt haben, bei einer Art kosmischer Aufnahmeprüfung? Es ist ein klassischer Topos der Science-fiction-Literatur, daß die Menschheit einmal plötzlich Gelegenheit bekommen könnte, in die galaktische Gemeinschaft der intelligenten Spezies aufgenommen zu werden. Versagen wir, passiert ein weiteres Jahrzehntausend erst einmal gar nichts. In milder, charmanter Form führt so etwas Fredric Brown in seiner Erzählung "Puppet Show" (1962) vor: Aus der Wüste von Arizona nähert sich eines Tages auf dem Esel eines alten Goldsu chers eine unbegreifliche Gestalt: ein abstoßend steckendürres, drei Meter hohes Wesen, blutrot (wie gehäutet) und mit blauem Haar, das erklärt, es sei der Abgesandte der "Galaktischen Union" und wol le feststellen, ob die Menschheit zum Beitritt eingeladen werden kön ne. Nachdem die Reaktion der herbeigeeilten Menschen nicht allzu xenophob ausgefallen ist (der erste Test wäre bestanden), legt sich der blutrote Monstermann plötzlich hin und regt sich nicht mehr; der greise Goldgräber nimmt den Bart ab und erklärt, nunmehr ein gut aussehender junger Mann, das ginge soweit in Ordnung, es habe sich nur um einen Testautomaten gehandelt. Der ranghöchste Militär zeigt sich erleichtert: "Ich muß zugeben, es ist eine Erleichterung, daß die Herrenrasse der Galaxis am Ende doch nicht bloß menschen ähnlich ist, sondern menschengleich. Was ist der zweite Test?" Der junge Mann legt sich hin und regt sich nicht mehr. Der Esel sagt: "Wie war das jetzt mit der menschengleichen Herrenrasse? Was ist bitte eine Herrenrasse?" Schärfere Albtraumformulierungen des Prüfungstopos setzen etwa einen beliebig aus dem Alltag gerissenen Jedermann-Erdling in eine kosmische Arena, wo er instruiert wird, er müsse sich nun gegen den Durchschnittsvertreter einer völlig anderen Spezies auf Leben und Tod bewähren. Die Rasse des Unterliegenden wird ausgelöscht; ir gendeine kosmische Agentur hat anstelle eines irgendwann einmal unvermeidlichen großen Krieges zwischen den beiden Lebensformen ein Duell angeordnet. Die Betonung der Durchschnittlichkeit des Pro tagonisten suggeriert dem nervösen Leser die unangenehme Mög lichkeit, er könne eines Tages in bizarrer Anwendung des kantischen Imperativs mit seinen individuellen Handlungen über die Fortdauer der gesamten Menschheit entscheiden müssen.
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So genau hätten wir es dann auch nicht wissen wollen - aber eine existentiell weniger strapaziöse Kontaktaufnahme von "draußen" hät ten wir uns doch gewünscht. Warum erfolgt sie nicht? Die Wissen schaft kommt neuerdings zu dem Ergebnis: weil sie so ungeheuer unwahrscheinlich ist. In ihrem jüngst erschienenen Buch "Rare Earth: Why Complex Life Is Uncommon in the Universe" (Springer-Verlag, New York 2000) legen Peter D. Ward und Donald Brownlee dar, daß die Chancen ganz gut stehen dürften, daß wir einmal mikrobiotisches Leben im All finden könnten, daß es aber mit dem Auftauchen höhe rer Lebewesen sehr schlecht aussieht, auch wenn wir die interstellare Raumfahrt einmal beherrschen sollten. Zwar gibt es genug Planeten, aber der auf unserer Erde abgelaufene Entwicklungsprozeß scheint fast singulär und jedenfalls von höchst selten zusammentreffenden Parametern bestimmt: "Die Erde ist einer von vielen Planeten ... Doch haben wir zu zeigen versucht: Es sind vielleicht nicht so viele, wie wir hoffen möchten - und vielleicht nicht einmal so viele, daß wir jemals, wie lang die Geschichte unserer Spezies auch dauern mag, irgendwel che extraterrestrischen Animalia" - höhere Lebewesen - "zwischen den Sternen finden werden ... Dies ist ein Schicksal, mit dem Hollywood nicht gerechnet hat - daß wir nur Bakterien finden, selbst auf den Pla neten ferner Sterne." Wollen wir das wirklich glauben? Wir haben die Wissenschaft schon allzuviel Volten zwischen Leichtgläubigkeit und Skepsis schlagen se hen. Wir grübeln lieber weiter nach, und eine andere naheliegende Variante der Erklärung für die kosmische Funkstille lautet: Quarantä ne. Um unserem miesen Planeten mit seiner sogenannten Zivilisation könnte ein unsichtbarer "cordon sanitaire" liegen, bewacht von den Weltallpatrouillen irgendeiner Konföderation, Despotie oder gütigen Tyrannis, die entschlossen ist, das übrige All vor dem terrestrischen Ansteckungsstoff zu bewahren. Wir sind ein schlechtes Beispiel, ein Virus, eine Zeitbombe. Wir sind einfach eine Peinlichkeit; es gibt SFPhantasien, in welchen die Erde so etwas wie ein entlegener Käfig in einem Hyper-Zoo ist - ein "Terrarium" mit einer unattraktiven, geistig übelriechenden, der Vollständigkeit halber archivierten und nur selten von zerstreuten Besuchern wahrgenommenen Spezies. Sind wir nega tives Anschauungsmaterial für Ethnosoziologen von Beteigeuze? Es gehört zu den subtilen Zügen der naiven Science-fiction, daß sie mit einer paranoiden Topik komisch-erfinderisch zu spielen weiß. Wer sagt uns denn, daß der einsilbige Nachbar oder die unangenehme
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Bedienung im Lokal nicht "eigentlich" Doktoranden aus einer anderen Galaxis sind, deren unmenschlich distanzierter Blick uns streift? Uns trifft? Sollen wir nie mehr unbeschwert in der Nase bohren dürfen? Diese vorauseilende Scham hängt mit einer anderen Empfindung zusammen: Vielleicht sind wir einfach zu blöd. Wir kommen interga laktisch nicht mit. Das exerziert die SF in Geschichten von Prüfungsaufgaben durch, die oft genuin unheimlich werden: Ein unbegreifliches Labyrinth (Algis Budrys, "Rogue Moon", 1960) auf der erdabgewandten Seite des Mondes tötet alle, die eindringen. Und schließlich ist die Kehrseite des stolzen Narzißmus ein schlechtes Gewissen. Wir kommen nicht einmal mit unserem kleinen, schon nahezu ruinierten Globus zurecht - was könnten wir interstellar, öffnete man uns die Weiten des Alls, für Unheil anrichten. Eigenartigerweise scheint im Film der letzten Zeit, für den ja solche diversen Alien-Begegnungen immer ein solides Genrethema sind, die einzige intelligentere Reflexion über das Verhältnis der Menschheit zu möglichen außerirdischen Zivilisationen in einem gründlich naiven Gimmick-Streifen versteckt zu sein: "Men in Black". Diesen Film zeichnet ein schöner Einfall aus: daß sich die Ufo-Frage nicht bloß eliminatorisch-militärisch (wie in den zahllosen Invasionsphantasien) oder sentimental-theologisch (wie in Spielbergs "Close Encounters"Kitsch) formulieren läßt, sondern vielleicht einmal administrativ be antwortet werden müßte. "Men in Black" schildert die Arbeit einer Behörde - als Spannungskomödie, inspiriert von realen politischen Zwängen. Die illegale Einwanderung aus allen Winkeln des Univer sums muß diskret und unter strenger Geheimhaltung verwaltet und kontrolliert werden. Das heißt: Alle Gerüchte, daß uns "die Regie rung" diverse Ufo-Geheimnisse vorenthält, sind real, aber das Ge heime ist nicht mysteriös, sondern komisch. Mit einem solchen Szenario phantasieren wir uns einen Augenblick selbst in die Allmacht hinein: "Wir" haben im Grunde doch alles unter Kontrolle, alles im Blick. Dies führt zum Gegenbild der allwissenden kosmischen Beobachtung der Erde zurück. Das Motiv, für welches etwa Edgar Pangborns "A Mirror for Observers" (1954) charakteris tisch ist, durchzieht die SF ebenso wie die "esoterischen" Magazine vom Typus "Fate": Wir werden ständig observiert. Das hat nichts mehr mit der aufklärerisch-satirischen Tradition zu tun, die Gestalten
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wie Voltaires Besucher vom Sirius durch die Metropolen Europas in Marsch setzte, wo sie einfach (wie Montesquieus Perser) die Funktion hatten, uns das völlig Vertraute im fremden Auge zu spiegeln und als höchst Merkwürdiges und dem intelligenten Fremdling Lächerliches erscheinen zu lassen. Es geht auch nicht mehr um die Belebung des kalten und leeren Alls durch die imaginierten Planetenbewohner, um eine Milderung der kosmischen Kälte. Und wir haben wohl auch keine Angst mehr, daß uns Außerirdische kolonisieren oder ausrotten wol len. Und Erlösung? Erwarten wir die? Wir hoffen zwar vielleicht noch im diffusen Kontext der generellen New-Age-Debilität auf irgendwelche Rezepturen einer kosmischen Homöopathie, aber vor allem möchten wir ... jemanden haben, mit dem wir reden könnten. (Worüber? Über uns natürlich.) Dieser Je mand muß viel von uns wissen, denn er beobachtet uns ja ständig. Und hier münden die SF-Szenarien endlich in die uns vertraute Grundstimmung ein, in der wir es uns seit einiger Zeit so wohlig unruhig bequem gemacht haben: in die Patientenkultur. Unser Ver dacht (und unser geheimer Wunsch), man könne uns beobachten, erweist sich als Zug unserer Therapiebesessenheit. Wir wären gerne Gegenstand einer kosmischen Therapie. Vielleicht hilft das etwas. Wir wären den Außerirdischen unendlich verpflichtet, würden sie uns endlich offen die Diagnose für die Gründe unserer Unzufriedenheit und Unbeholfenheit stellen. Aber die erfolgt nicht. Ist die Frage nach den Außerirdischen wichtig? Vor einundzwanzig Jahren erschien unter dem Titel "Die Außerirdischen sind da" bei Matthes & Seitz eine "Umfrage anläßlich einer Landung von We sen aus dem All". Auf die Frage, wie man auf eine Landung von au ßerirdischen Intelligenzen reagieren würde, erfolgten seitens der üb lichen Verdächtigen von Lem bis Wiener, Lyotard bis Feyerabend und bis tief hinein in die intellektuelle Statisterie des Verlages viele kluge und törichte, nachdenkliche und naßforsche Äußerungen. Alle hatte ich vergessen, eine einzige knappe Antwort blieb im Gedächtnis haf ten, die eines Befragten, der es - mit einer verächtlichen Empörung, die ihn alle gewohnte stilistische Sorgfalt vergessen ließ - rundheraus ablehnte, die Frage für bedenkenswert zu halten. Schlägt man nach, dann lautet seine Antwort genau: "Ich habe keine Ahnung, wie ich auf ein solches Ereignis reagieren würde, ich bin auch nicht bereit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich habe nicht die Absicht, ein solches, wie Sie sagen, fiktives Erlebnis fiktiv durchzumachen, und
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muß das, übrigens mit größtem Mißtrauen und Unglauben, den Herr schaften überlassen, die bereit sind, ihre Phantasie dafür anzustren gen. Daß Sie glauben, mit einem solchen Buch irgend etwas über unsere jetzige Kultur herauspressen zu können, übersteigt mein Vor stellungsvermögen." Das ist alles. Gershom Scholem hat die Gründe seiner Erbitterung nicht ausge führt, aber neben allem anderen hier zu Vermutenden dürfte er auch darauf reagiert haben, daß Menschen mit philosophischen Prätentio nen nichts anderes mit sich zu beginnen wissen, als sich selbst zum Rohstoff von Genrephantasien zu machen. Ihre Intelligenz müßte hinreichen, das Anliegen als Scheinfrage zu erkennen. Oder umge kehrt gedacht und um noch einmal einem Comic strip das Wort zu erteilen - der kleine Junge sagt zu seinem Tiger ("Calvin and Hob bes"): "Manchmal glaube ich, es ist das sicherste Anzeichen für intel ligentes Leben anderswo im Universum, daß niemand versucht hat, mit uns Kontakt aufzunehmen." JOACHIM KALKA Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.2000, Nr. 291 / Seite 58 "Die Außerirdischen sind da. Umfrage durch Matthes & Seitz anläßlich einer Landung von Wesen aus dem All". Matthes & Seitz Verlag, München 1979. Fredric Brown: "Puppet Show" (1962), in: The Playboy Book of Science Fic tion and Fantasy. Chicago 1966. Fredric Brown: "Arena" (1944), in: Honeymoon in Hell, Bantam Books, New York 1958. - Beide Geschichten auch in vielen anderen Anthologien. Joseph Pohle: "Die Sternwelten und ihre Bewohner". I.-II. Teil, GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland. Köln 1884. Carl Sagen: "The Quest for Extraterrestrial Intelligence", in: Broca's Brain. Random House, New York 1979. Peter D. Ward / Donald Brownlee, Rare Earth: "Why Complex Life Is Un common in the Universe". Springer-Verlag, New York 2000.
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Das Spaghetti-Theorem Weltallesfresser:
Was lassen uns die Schwarzen Löcher übrig?
Kein astronomisches Objekt ist so oft mißverstanden worden wie das Schwarze Loch. Unsere Einbildungskraft wird von diesen Löchern ma gisch angezogen. Sie fressen Zeit und Raum, sie sind unsichtbar und verweisen vielleicht auf entfernte Regionen des Universums. Sie be schäftigen nicht nur die Wissenschaft, sondern finden sich auch in Filmen, Nachrichten, Idiomen, Gedichten und sogar in Popsongs. Diese Popularität hat eine ironische Seite. Denn obwohl die Schwar zen Löcher intensiv beobachtet und erklärt, erforscht und diskutiert werden, ist noch keines jemals direkt gesehen worden. Alles, was man bisher beobachten konnte, war ihre Wirkung auf den Raum und die Materie, die sie umgeben. Auch auf uns üben Schwarze Löcher eine starke Wirkung aus. Einige Menschen fürchten sich vor ihnen, weil sie glauben, daß ein Loch der Erde zu nahe kommen und uns aufsaugen könnte. Andere haben Angst davor, daß die Sonne zu einem Schwarzen Loch werden könn te und uns schließlich auch vernichten wird. Viele sind einfach neu gierig, und einige stellen kluge Fragen, die nicht leicht zu beantwor ten sind. Die meisten Menschen lassen sich schon von den grundle genden Theorien über Schwarze Löcher verwirren. Und die Löcher sind tatsächlich verwirrend. Ein Blick auf die populä ren Medien hilft hier auch nicht viel weiter. Filme wie Disneys "The Black Hole" haben beim Publikum eine falsche Vorstellung von Schwarzen Löchern erzeugt, die sich nur noch schwer korrigieren läßt. So fungiert in diesem Film das Schwarze Loch zum Beispiel als ein Tor zu anderen Regionen des Universums, die wie Himmel und Hölle gezeichnet werden. Wenn man die theologischen Implikationen dieser Darstellung einmal beiseite läßt, so ist es theoretisch denkbar, daß Schwarze Löcher in gewisser Weise als Übergänge zu anderen Orten im Universum dienen. Sie sind vielleicht tatsächlich ins Univer sum gestanzte Löcher, die Verbindungen zu anderen Löchern im All eröffnen. Wenn man ein solches Loch durchdringen könnte, würde man vielleicht an einer ganz anderen Stelle in unserer Galaxie oder vielleicht sogar in einer anderen Galaxie wieder auftauchen.
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Daß Schwarze Löcher Tunnel durch das All fressen wie ein Wurm durch einen Apfel, ist eine populäre Vorstellung. Zahllose Sciencefiction-Filme und -Bücher haben sie verbreitet, und es gibt eine ganze "Star Trek"-Serie, die auf dieser Idee beruht. Das Problem ist aller dings, daß, zumindest nach dem heutigen Wissensstand, Schwarze Löcher nicht so funktionieren. Der Gravitationsdruck, dem man ausge setzt wäre, wenn man sich tatsächlich in den Schlund eines Schwarzen Loches hineinbegäbe, würde einen zu einer unendlich langen und dün nen Schnur aus organischem Material verformen. Unter Physikern wird dieses Phänomen als "Spaghettifizierung" bezeichnet. Selbst wenn es gelänge, im Rachen des Schwarzen Loches seine Form zu wahren, würden einen doch die Gravitationskräfte am Zentrum des Loches in kleinste subatomare Teilchen zerfetzen. Sollte es trotz alledem doch noch gelingen, zum anderen Ende des Tunnels, dem sogenannten "weißen Loch", vorzudringen, würde man dort in Form von Gamma strahlen ausgespieen werden, und auch diesen Vorgang muß man sich wohl als eine eher ungesunde Transformation vorstellen. Bisher haben Astronomen allerdings noch keine Belege für die Exis tenz von weißen Löchern gefunden. Dies bedeutet nicht notwendi gerweise, daß sie nicht existieren, aber sie erscheinen extrem un wahrscheinlich. Vielleicht ist auch die ganze Wurmloch-Theorie falsch, oder wir verfügen einfach noch nicht über genügend physika lisches Wissen, um sie richtig zu interpretieren. Auch die Größe der Schwarzen Löcher stiftet immer wieder Verwir rung. Astronomen interessieren sich mehr für die Masse als für die Größe der Löcher. Die Masse entscheidet darüber, wie das Loch die Objekte in seiner Nähe beeinflußt, wie stark seine Gravitationskraft ist und wie es entstanden ist. Es gibt Schwarze Löcher mit allen möglichen Massen, von "Quanten-Löchern", deren Masse in Gramm gemessen wird, bis zu monströsen Löchern im Zentrum von Galaxien - unsere eigene eingeschlossen -, deren Masse die der Sonne um ein Millionenfaches übertrifft. Selbst das größte Schwarze Loch hat aller dings einen kleineren Radius als unser Sonnensystem. Und auch wenn wir die Löcher direkt sehen könnten, wären sie immer noch so klein, daß sie aus großer Distanz nur sehr schwer oder vielleicht gar nicht zu erkennen wären. Die meisten Mißverständnisse haben sich vermutlich bezüglich der Gravitationskraft der Schwarzen Löcher gebildet. Die Löcher verfügen
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keinesfalls über eine unendliche Anziehungskraft (denn sonst würde das gesamte Universum sofort von ihnen angezogen werden). Wenn sich zum Beispiel die Sonne in ein Schwarzes Loch verwandelte, wür den wir hinsichtlich der Gravitationskräfte überhaupt nichts bemer ken. In großer Entfernung von einem Objekt, egal, ob es sich dabei um einen Planeten, einen Stern, ein Schwarzes Loch oder etwas an deres handelt, hängt die Gravitationskraft nur von der Menge der Masse, nicht von ihrer Dichte ab. Da die Erde die Sonne in einer komfortablen Distanz von 150 Millionen Kilometern umkreist, macht es nichts aus, ob die Sonne einen Durchmesser von 700 000 Kilome tern oder jenen von drei Kilometern hätte, wenn sie zu einem Schwarzen Loch zusammengepreßt wäre - unsere Umlaufbahn bliebe unverändert. Nach allem, was wir über das Altern und den Tod von Sternen wissen, wird die Sonne übrigens nie zu einem Schwarzen Loch werden. Sie wird vielmehr still und sanft in eine gute Nacht ent schwinden. Dies bringt uns zu einem weiteren Mißverständnis. Wenn die Gravita tionskraft Schwarzer Löcher so stark ist, daß selbst Lichtstrahlen nicht austreten können, wie können sie dann hell sein, zum Beispiel in den Zentren von Quasaren, den hellsten bekannten Objekten des Universums? Auch dieses Phänomen kann wieder damit erklärt wer den, daß die Anziehungskraft nicht unendlich ist. Wenn man sich dem Loch nähert, steigt die Gravitationskraft stark an, aber solange man sich in sicherer Distanz aufhält, kann man überleben. Die Anzie hungskräfte sind allerdings so stark, daß Objekte, die sich nahe am Loch bewegen, unglaublich schnell werden: An dem Punkt, an dem keine Rückkehr mehr möglich ist, erreichen sie fast Lichtgeschwin digkeit. Diese Geschwindigkeit hängt aber sehr stark von der Entfernung zum Schwarzen Loch ab. Ein Objekt, das sich in einer nur etwas kleineren Umlaufbahn als ein anderes bewegt, bewegt sich möglicherweise Hunderte von Kilometern pro Sekunde schneller. Schwarze Löcher sind in der Regel von gasförmigen Scheiben umgeben, da sie Materi al schlucken. Die Materie in diesen Scheiben bewegt sich in vielen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, und durch die Reibung zwi schen den Objekten entsteht große Hitze: Ähnlich, wie wenn man an einem kalten Tag seine Hände reibt, so heizt sich das Gas durch Rei bung auf. Da die Geschwindigkeiten so hoch sind, heizt die Reibung die Scheibe nicht nur auf, sondern setzt sie in Brand. Im inneren Teil
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der Scheibe, wo die Geschwindigkeitswechsel und daher die Reibung am stärksten sind, können sich Temperaturen von Millionen Grad bilden, durch die das Gas eine Flut von Röntgenstrahlen erzeugt. Auf diese Weise werden Quasare angetrieben, die für uns über große Distanzen hinweg sichtbar sind. So sind die Schwarzen Löcher viel leicht die ultimativen Allesfresser, aber die Krümel, die aus diesen Mündern fallen, sind auch nicht zu verachten. Man könnte noch viel mehr Mißverständnisse über Schwarze Löcher in den populären Medien aufzählen. Dies hat wohl damit zu tun, daß diese Löcher tatsächlich sehr merkwürdig sind. Selbst in Fachzeit schriften werden die physikalischen Grundlagen von Schwarzen Lö chern noch immer heiß diskutiert, und so verwundert es nicht, daß es Laien schwerfällt, die Fakten im Auge zu behalten - sogar den pro fessionellen Wissenschaftlern gelingt dies nicht immer. Schwarze Löcher treiben unser Verständnis der Naturgesetze an seine Grenzen. Sicher kann man sich allein darüber sein, daß sie den Physikern wei terhin Rätsel aufgeben werden. Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Der Autor arbeitet für die Nasa. Seine Internetseite badastronomy. com wird vom Scientific American als Anlaufstelle für verirrte Geis teswissenschaftler empfohlen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.12.2000, Nr. 284 / Seite 70
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Bitte nicht krümeln! Was Kubrick uns zeigt:
Anleitung zum Leben in der Raumstation
Am Donnerstag, dem 2. November 2000, öffnete ein Team von drei Astronauten die Luke und kletterte an Bord der International Space Station (ISS). Als sie durch die Luke glitten, schrieben sie Geschich te: Von diesem Moment an würden permanent Menschen im All le ben. Damit hat sich der Mensch von einer Spezies, die Planeten be siedelt, zu einer Zivilisation entwickelt, die den Raum erkundet. Dies geschah gerade noch rechtzeitig. Eigentlich hatte ich mir diesen Fort schritt schon lange vor dem Jahr 2000 erhofft. Als ich ein Kind war, galt das Jahr 2000 als der Inbegriff der Zukunft. Ich war sicher, daß diese Zeit uns fliegende Autos, Tornister mit Ra ketenantrieb und regelmäßige Reisen ins All bringen würde. Die Zu kunft schien zu leuchten, und sie war mit Science-fiction-Utensilien ausgestattet. Diese Vorstellung war natürlich hoffnungslos naiv. Aber die Kinofilme hatten ein solches Bild der Zukunft fest in meiner Phan tasie verankert. Stanley Kubricks "2001: A Space Odyssey" gilt vielen als der beste Science-fiction-Film aller Zeiten. Hier wird das Reisen im All äußerst realistisch dargestellt: Wir erfahren tatsächlich, was es bedeutet, sich schwerelos zu bewegen (Wissenschaftler nennen dies "MikroSchwerkraft"), und mit welcher Langeweile die Reisenden auf weiten Fahrten durch das All zu kämpfen haben. Fast jede Szene des Films ruht auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage. Dies gilt allerdings nicht für das folgende kleine Problem. Es wird nämlich bis zum Jahr 2001 all diejenigen Dinge nicht geben, die der Film zeigt: Wir werden bis dahin keine Mondstation, keine regelmä ßigen Flüge in die Erdumlaufbahn und kein Raumschiff namens "Dis covery" haben, das Astronauten zum Jupiter bringt. Was wir haben, ist eine Raumstation. Sie sieht natürlich etwas an ders aus als die im Film gezeigte: Unsere ISS hat kaum etwas mit der gigantischen wirbelnden Scheibe gemeinsam, die wir aus so vie len Filmen und Büchern kennen. Die wichtigsten Unterschiede zwi
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schen diesen Raumstationen betreffen ihre Funktionen. In den sech ziger Jahren glaubte man, daß die ersten Raumstationen Zwischen stopps für Reisen zu entlegeneren Zielen ermöglichen und als Fabri ken zum Bau von Raumschiffen dienen würden. Die ambitionierte Raumstation in Kubricks Film mußte sich daher drehen, denn so konnte die Schwerkraft erzeugt werden, die den auf der Station an sässigen Arbeitern und Reisenden ein Leben wie zu Hause auf der Erde erlaubte. Vielleicht werden wir in Zukunft eine solche Station noch brauchen, aber zunächst geht es um bescheidenere Ziele. Die wichtigste Funk tion der ISS besteht darin, die Reaktionen des menschlichen Körpers auf die Mikro-Schwerkraft zu erforschen. Da es zu teuer und zu schwierig wäre, Astronauten in einem rotierenden Raumschiff zu ei nem Planeten wie dem Mars zu schicken, muß die Besatzung in der Lage sein, sich für längere Zeit der Mikro-Schwerkraft auszusetzen. Eine nichtrotierende Raumstation in der Erdumlaufbahn kann dazu genutzt werden, die medizinischen Aspekte einer langen Reise zu einem anderen Planeten zu beobachten und herauszufinden, wie wir die Probleme eines längeren Aufenthalts unter den Bedingungen der Mikro-Schwerkraft am besten vorhersehen können. Die fiktiven und die realen Raumstationen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Form. In der Architektur der Raumfahrt muß sich die Form der Funktion anpassen. Eine rotierende Station kann offen sichtlich am besten als reifenförmige Struktur realisiert werden. Eine Station, in der Schwerelosigkeit herrscht, kann hingegen alle mögli chen Formen annehmen. So ist die ISS langgezogen und so gestal tet, daß sie leicht gebaut und erhalten werden kann. Da unsere Er forschung des Alls sich nicht als gleichmäßig fortschreitender Prozeß vollzieht, sondern Unterbrechungen und Verzögerungen ausgesetzt ist, weist die ISS zudem eine modulare Struktur auf. Sie kann aber ihre Funktion auch schon dann erfüllen, wenn sie nur aus wenigen Teilen besteht. Werden weitere Module hinzugefügt, so wird die Sta tion flexibler und kann zusätzliche Aufgaben übernehmen. Die Filme haben indessen nicht nur Falsches gezeigt. In Kubricks "2001" gibt es zum Beispiel eine Szene, in der ein Astronaut eine Mahlzeit an Bord eines Raumschiffs zu sich nimmt. Das Essen wird auf einem Tablett serviert, auf dem die verschiedenen Beilagen in kleinen abgeteilten Fächern geordnet sind. Die Nahrung ist klebrig,
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und der Mann muß sie mit einer Gabel aus dem Tablett schürfen. Und so ißt es sich tatsächlich an Bord der realen Raumstation: Krümel sind ein großer Feind im All, denn sie können sich in emp findlichen Geräten festsetzen, die Luftschächte verstopfen oder so gar einem Astronauten in sein ungeschütztes Auge fliegen. Überra schenderweise sind von Spezialisten entworfene Tortillas einer der kulinarischen Favoriten im All: Sie liefern nämlich Stärke ohne die lästigen Krümel, und sie können einfach gelagert und zubereitet werden. Eine andere Szene in "2001", die nur einige wenige Sekunden dauert, zeigt, wie der Raumfahrer nervös die langatmige und komplizierte Gebrauchsanweisung der Bord-Toilette studiert. Ohne Schwerkraft werden tatsächlich so alltägliche Verrichtungen wie die ,Entleerung von Abfallstoffen', wie es die Nasa diskret umschreibt, zu schwierigen Transaktionen. Ein kompliziertes System von Rohren und Absaugkraft ist erforderlich, und natürlich müssen die sanitären Einrichtungen auf der Station von Männern und Frauen zu benutzen sein, obwohl hier durchaus anatomische Unterschiede eine Rolle spielen. (Wer sich für die Gebrauchsanweisungen interessiert, kann sich informieren unter: http://www.ee.yerson.ca:8080/~elf/aso/zeroGtoilet.html.) Ein gravierenderes Problem wird allerdings in "2001" gar nicht ange sprochen. Es darf nämlich im All auf keinen Fall Wasser vergeudet werden. Daher wird auf der ISS der Urin der Astronauten gesammelt, um aus ihm Wasser zu gewinnen, welches wieder verwendet werden kann. Raumfahrer dürfen also nicht zimperlich sein. Letztendlich finde ich es nicht schlimm, wenn Filme das Reisen im All verkürzt darstellen. Wir müssen ohnehin noch sehr viel über Lebens bedingungen im All lernen, bevor wir Menschen auf weite Reisen zu den Planeten schicken können. Als Kubricks "2001" gedreht wurde, hatte der Mensch den Mond noch nicht einmal betreten, und es war gar keine so schlechte Vorhersage, daß wir in fünfunddreißig Jahren über die Technologie und all die schönen Dinge verfügen würden, die in dem Film gezeigt werden. Heute wissen wir, daß es viele Jahre und Milliarden von Dollar kosten wird, allein die ISS auszubauen und zu unterhalten. Aber dieser Einsatz ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu riesigen rotierenden Scheiben oder zu einer bemannten Missi on zu den Jupiter-Monden.
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Filme mögen sich manchmal in der Datierung irren. Das wirkliche Jahr 2001 steht aber kurz bevor, und das Vermächtnis der "Space Odys sey" ist uns immer noch aufgegeben. Leider werden wir in der kurzen verbleibenden Zeit keine Computer wie HAL mehr entwickeln oder eine Mission zum Jupiter starten können. Es wäre aber begrüßenswert, wenn es wenigstens mehr Filme gäbe, die das Reisen im All so realis tisch darstellen wie Kubricks Meisterwerk. Mit etwas Glück und sehr viel Ausdauer wird alles Weitere mit der Zeit schon kommen. Aus dem Amerikanischen von Julika Griem. Phil Plait arbeitet für die Nasa. Seine Internetseite badastronomy.com wird vom Scientific American als Anlaufstelle für verirrte Geistes wissenschaftler empfohlen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2000, Nr. 266 / Seite 65
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Status Quo In weiter Ferne so nah
Stoff für eine neue Revolution Der Starprophet Jeremy Rifkin will Wasserstoff-Kraftwerke für jeden
WASHINGTON. Wenn Jeremy Rifkin über die Zukunft der Wirtschaft spricht, geht es nicht um die Stellen vor und hinter dem Komma in irgendwelchen Konjunkturprognosen. Rifkin denkt und spricht in grö ßeren Kategorien, seine Überlegungen rühren stets an den Funda menten der Wirtschaft und daran, in welcher Form Menschen in eini gen Jahrzehnten miteinander Handel treiben werden. Rifkin, Gründer und Präsident der "Stiftung für Trends in der Wirtschaft" in Washing ton, will die großen Umwälzungen skizzieren, die der Weltwirtschaft seiner Ansicht nach bevorstehen. Dazu verläßt er zwar bisweilen den Pfad der ökonomischen Logik, doch das stört ihn nicht, denn Zuhörer findet er trotzdem zuhauf. Sie sitzen in den Chefetagen der großen Konzerne, in den Parlamenten in Washington und anderswo und in der Europäischen Kommission in Brüssel, deren Präsidenten Romano Prodi Rifkin in der Energiepolitik berät. Die Zukunft der Energieversorgung, das ist in diesen Tagen denn auch das Thema, über das der ursprünglich einmal als Ökonom aus gebildete weltreisende Vortragsredner am liebsten redet. "Wir stehen vor der nächsten großen Revolution der Wirtschaft", sagt Rifkin im Gespräch mit dieser Zeitung und meint die Umstellung der Energie erzeugung von fossilen Brennstoffen wie Kohle und Erdöl auf Was serstoff und Brennstoffzellen. Vor zwei Jahren, am 11. September 2001, sei ihm nach den Terroranschlägen in New York und Washing ton die Erkenntnis gekommen: "Wir müssen wegkommen von Öl und Kohle." Nicht nur seien die Vorkommen der fossilen Energieträger vermutlich früher als bisher angenommen ausgeschöpft, sie seien auch die Wurzel internationaler politischer Unsicherheiten und durch die bei der Verbrennung anfallenden Kohlendioxydemissionen zumin dest zum Teil für den Treibhauseffekt verantwortlich. "Nicht zu vergessen die hohen Schulden, in die viele arme Länder der Welt durch das Öl getrieben wurden. Wir, die Industrienationen, ha ben ihnen vor Jahrzehnten gesagt, sie müßten sich modernisieren
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und dafür auf fossile Energieträger zurückgreifen. Dadurch sind sie aber nur in die Schuldenfalle geraten", sagt Rifkin. Die neue Ära in der Energieversorgung, die der streitbare Intellektu elle anbrechen sieht, mache mit den vielen Nachteilen fossiler Ener giegewinnung ein für allemal Schluß. "Stromgewinnung aus Wasser stoff ist die sauberste Form der Energiegewinnung. Es fallen keine schädlichen Nebenprodukte an." Natürlich komme Wasserstoff nur selten in seiner ganz reinen Form vor, normalerweise sei er in Wasser oder auch in den fossilen Energieträgern wie Erdgas gebunden. Um den Wasserstoff zu gewinnen, müsse freilich Energie eingesetzt wer den. "Die eleganteste Lösung wäre hierzu der Rückgriff auf erneuerba re Energiequellen wie Sonne, Wind und dergleichen", sagt Rifkin. In seiner Skizze von der künftigen Energieversorgung der Welt spie len Brennstoffzellen, die Wasserstoff benötigen, eine zentrale Rolle. Eines Tages werde fast jeder Haushalt ein solches Minikraftwerk be sitzen und seine Energie daraus gewinnen. Damit gehe die eigentli che Revolution einher, sagt Rifkin, denn dadurch entstehe ein dezen trales Netz vieler kleiner Kraftwerke. "Zu den bedeutenden Umwäl zungen in der Wirtschaft kommt es immer dann, wenn sich zur sel ben Zeit eine neue Kommunikationstechnik und eine neue Energie versorgung durchsetzen." Mittels ausgefeilter Computerprogramme werde es möglich sein, die in den Brennstoffzellen erzeugte Energie zwischen den Endverbrau chern auszutauschen. Das Wasserstoffenergienetz, so stellt Rifkin in Aussicht, werde zu einer Demokratisierung der Energieerzeugung und des Verbrauchs in der Welt führen. Zum Ende des Gesprächs gesteht Rifkin ein, daß noch eine Vielzahl von Hürden zu überwinden sei, bis die Wasserstoff-Ökonomie Realität werde. "Das geht nicht von heute auf morgen", sagt er. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.09.2003, Nr. 37 / Seite 43
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Wie man Robotern Beine macht Mit Muskeln und Gelenken: Maschinenwesen bei ihren ersten Ausflügen Von Manfred Lindinger Mit einem ungewöhnlichen Begleiter erfreute vor wenigen Tagen der japanische Ministerpräsident Junichiro Koizumi in Prag seinen Amts kollegen Spidla. "Sehr erfreut, Herr Premier, stoßen wir auf die Freund schaft zwischen Mensch und Roboter an", krächzte das 1,20 Meter große und rund fünfzig Kilogramm schwere Roboterwesen, das auf den Namen "Asimo" hört und an einen etwas zu klein geratenen Ast ronauten erinnert. Asimo ist etwas ganz Besonderes. Von allen hu manoiden Robotern beherrscht er den aufrechten Gang am besten, was er am eindrucksvollsten beim Treppensteigen demonstriert. Oh ne das Gleichgewicht zu verlieren, legt er sich beim Gehen elegant in die Kurve, tanzt oder balanciert auf einem Bein. Fast 17 Jahre Arbeit haben die Forscher von Honda in die Entwicklung des Laufroboters gesteckt, dessen Name für das Akronym "Advanced Step in Innovati ve Mobility" steht. Asimos Innenleben besteht aus einem eher be scheidenen Computerhirn und sechsundzwanzig Elektromotoren, die ebenso viele Freiheitsgrade ermöglichen, sowie jeder Menge Druck sensoren an den Füßen und den Händen. Mehr Details gibt Honda über Asimo derzeit allerdings nicht preis. In aller Welt sind Forscher dabei, den Maschinenwesen beizubringen, wie sie sich am besten bewegen. Ob Räder, Rollen, Ketten, Wurm glieder oder zwei Beine - viele Fortbewegungsmittel hat man mitt lerweile ersonnen. Zudem gibt es fast keinen Lebensraum, den Robo ter inzwischen nicht "besiedelt" haben. Sie können sogar über eine Wasseroberfläche laufen wie der "Robostrider" von amerikanischen Wissenschaftlern des Massachusetts Institute of Technology ("Na ture", Bd. 424, S. 663). Für die Fähigkeiten des künstlichen Wasser läufers genügten schon ein Stück Blech für den Körper, Stahldraht für die Beine und Gummibänder für den Antrieb. Deutlich größer wird der Aufwand und komplizierter die Technik, nimmt man die Anatomie und die Mechanik des Bewegungsapparates von Menschen zum Vorbild. Dann benötigt der Roboter reichlich Sen soren, ein Skelett mit zahlreichen Gelenken und eine Art Muskulatur.
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Denn unser Bewegungsapparat ist äußerst komplex: Mehr als fünf hundert Skelettmuskeln und rund zweihundert Gelenkknochen arbei ten beim Menschen harmonisch miteinander. Die kleinste Bewegung folgt einer komplizierten Choreographie, die vom Gehirn gesteuert über die Nerven an die Muskeln weitergeleitet wird. Diese koordinieren durch ihr Zusammenziehen und Entspannen die Ausrichtung der Ge lenke. Für den Bau eines humanoiden Roboters wie Asimo benötigt man vergleichsweise wenige Gelenke des menschlichen Bewegungs apparats. Damit er die Gelenke für Hals, Schulter, Ellbogen, Hände, Finger, Hüfte, Knie und Füße bewegen kann, braucht er ebenfalls Mus keln - in der Sprache der Robotiker Aktoren oder Aktuatoren genannt. Die billigsten Aktoren sind die pneumatischen. Bei einfachen Ausfüh rungen reicht oft schon ein elastischer Gummischlauch, der von ei nem Gewebe umhüllt ist. Füllt man nun den Schlauch mit Druckluft, so dehnt er sich aus. Das Gewebe sorgt dann dafür, daß der Muskel als Ganzes horizontal kontrahiert. Das Prinzip ist nur für einfache Funktionen geeignet, da es keine großen Kräfte und keine präzise Steuerung der Bewegung erlaubt. Besser sind Fluidaktoren, die aus einem mit Flüssigkeit gefüllten Gefäß bestehen, oder hydraulische Antriebe, wie sie in Öldruckpumpen oder Steuerventilen verwirklicht sind. Die Viskosität des Öls erlaubt jedoch keine allzu schnelle Reak tion. Deshalb werden die hydraulischen Aktoren meist für große Ro boter verwendet, die viel Kraft benötigen. Für eine präzise Steuerung und exakte Positionierung der Gliedmaßen nutzt man meist Elektro motoren, die über Spiralfedern oder Seilzüge Arme und Gliedmaßen bewegen. Sie sind leise und kompakt, entwickeln allerdings nur ge ringe Kräfte und erreichen nur mäßige Geschwindigkeiten. Deshalb werden sie in der Regel für Roboter verwendet, die präzise, aber nicht allzu schwere Arbeiten verrichten müssen. Trotz aller Anstrengungen kommen die Aktoren nicht an ihr natürli ches Vorbild heran. In jüngster Zeit versucht man, die menschlichen Muskeln deshalb mit weichen Materialien nachzubilden. So hat man eine ganze Palette von Werkstoffen entwickelt, die sich verbiegen oder verformen, wenn man eine elektrische Spannung anlegt. Da durch können mitunter beachtliche Kräfte erzeugt werden. So ist der künstliche Muskel, den spanische Forscher kürzlich aus zwei vonein ander isolierten Schichten des leitfähigen Polymers Polypyrrol entwi ckelt haben, in der Lage, Hindernisse zur Seite schieben, die sein Eigengewicht um ein Vielfaches übertreffen ("Advanced Materials",
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Bd. 15, S. 279). Der Muskel hat dank der elektrischen Eigenschaften des Kunststoffs automatisch einen Tastsinn. Der auf die Polymer schichten wirkende Druck verändert die elektrische Leitfähigkeit des Materials. Diese ist desto größer, je mehr Widerstand das Hindernis leistet. Die Polymer-Doppelschicht wäre ein idealer Überzug für Ro boterfinger, die dadurch Objekte gefühlvoller anfassen könnten. Daß künstliche Muskeln aber durchaus nicht aus Kunststoff bestehen müssen, sondern wie die anderen Elemente des Roboters aus Metall, hat man unlängst am Forschungszentrum Karlsruhe demonstriert. Jörg Weißmüller und seine Kollegen entwickelten einen Metallkörper, der sich wie eine piezolektrische Keramik ausdehnen und zusammen ziehen kann. Der scheibenförmige Körper besteht aus komprimierten nanometergroßen Platinteilchen, die von einer Elektrolytlösung um spült sind. Wenn Elektronen durch eine Spannung in das Material wandern, dehnt es sich aus. Sobald die Spannung abgeschaltet wird, schrumpft es wieder auf seine ursprüngliche Größe ("Science", Bd. 300, S. 312). Eine andere Klasse von Werkstoffen könnte die hyd raulische Aktuatortechnik beflügeln, sogenannte magneto- und e lektrorheologische Flüssigkeiten. Diese Materialien verfestigen sich unter dem Einfluß elektrischer oder magnetischer Felder. Die künstlichen Muskeln sind allerdings noch weit davon entfernt, den Robotern neue Kräfte zu verleihen. Die Humanoiden unter den Automaten nutzen nach wie vor Schrittmotoren wie Asimo oder der 1,60 Meter große Roboter Armar, der am Forschungszentrum für Informatik in Karlsruhe geboren wurde. Er soll eines Tages als Servi ceroboter vollkommen autonom im Haushalt helfen. Blumen gießen und Spülmaschinen ausräumen kann das Robotersystem schon. Es besteht aus einem Kopf, zwei Armen mit jeweils sieben Gelenken, zwei Backengreifern als Hände und einem fahrbaren Untersatz. Die insgesamt fünfundzwanzig Freiheitsgrade ermöglichen eine große Beweglichkeit, Drucksensoren an den Greifern sorgen für den nötigen Tastsinn. Noch muß man Armar aber einprogrammieren, was er ge nau tun soll. Nachfolgemodelle sollen irgendwann "verstehen" kön nen, was man zu ihnen spricht, und erkennen, ob ein Fernseher oder ein Mensch mit ihnen redet. Schon bald soll Armar einfache Befehle ausführen können, etwa "Hol mir mal eine Flasche Bier!" Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.2003, Nr. 198 / Seite N1
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Erbmoleküle spielen "Tic Tac Toe" Ein DNS-Computer schlägt alle Mitspieler beim Strategiespiel Sechs Jahre ist es her, daß der Supercomputer "Deep Blue" in einem aufsehenerregenden Spiel dem damals amtierenden Schachweltmeis ter Garri Kasparow eine enttäuschende Niederlage bescherte. Trotz aller menschlichen Anstrengungen gelang Kasparow in der jüngsten Revanche gegen den Computer "Deep Junior" nur ein bescheidenes Remis. Bei einem anderen Spiel, das man bisweilen unter dem Na men "Tic Tac Toe" kennt, hat derzeit ein ganz ungewöhnlicher Re chenautomat die Nase vorn, der so gar nicht in die gängige Vorstel lung von einem Rechner paßt. Die Rede ist vom DNS-Computer. Anders als "Deep Blue" und "Deep Junior" kommt ein DNS-Computer gänzlich ohne Bildschirm, Maus, Tastatur und Mikroprozessoren sowie Speicherplatten aus. Von Leonard Adleman vor neun Jahren ersonnen, nutzt diese Rechenmaschine kurze Moleküle der Erbsubstanz, der Desoxyribonukleinsäure (DNS), für ihre Rechenoperationen. Damals konnte der Mathematiker von der University of Southern California in Los Angeles erstmals eine knifflige Aufgabe aus der Kombinatorik lö sen. Mit verbesserten Nachfolgemodellen gelang es sogar, noch kom plexere Probleme der Booleschen Logik zu knacken. Die "Software" eines DNS-Computers bilden doppelsträngige Erbmo leküle, die man üblicherweise in Daten- und Software-Moleküle un terteilt. Die Sequenzen der vier Basen - Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin - stellen die Eingabedaten und die Rechenvorschriften dar. Die Hardware besteht gewöhnlich aus Enzymen, die die Eingabeda ten verarbeiten und das Ergebnis in Form neuer DNS-Moleküle aus geben. In deren Gensequenzen kann man dann gewissermaßen die Lösung der mathematischen Aufgabe ablesen. Weil sich der DNS-Computer besonders bei mathematischen Aufga ben aus der Kombinatorik und der Booleschen Logik bewährt hat, sollte er sich auch für ein einfaches Strategiespiel wie "Tic Tac Toe" bestens eignen. Das haben sich offenkundig Milan Stojanovic von der Columbia University in New York und Darko Stefanovic von der Uni versity of New Mexiko in Albuquerque gedacht und ein entsprechen des Experiment ersonnen. Von ihren Ergebnissen berichten die bei
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den Forscher jetzt in der Zeitschrift "Nature Biotechnology" (Advan ced Online Publication). Wohl jeder hat als Schüler mit seinem Nachbarn "Tic Tac Toe" mehr als einmal gespielt, und zwar wahrscheinlich immer dann, wenn es im Unterricht besonders langweilig wurde. Bei dem Strategiespiel geht es darum, daß zwei Spieler abwechselnd je eines von drei mal drei Feldern mit einem Kreuz oder einem Kreis markieren. Wer zu erst eine horizontale, vertikale oder diagonale Reihe markiert hat, hat gewonnen. Der von den Stojanovic und Stefanivic ersonnene DNS-Rechenautomat mit der Bezeichnung Maya beherrscht jene einfachen logi schen Analysen, die für das simple Strategiespiel erforderlich sind. Maya besteht aus neun Kammern, die wie die Felder des Strategie spiels angeordnet sind. Darin schwimmen DNS-Stränge und ver schiedene Kombinationen von Enzymen, die die Erbmoleküle zerle gen und zusammenfügen können. Das System zeigt einen vollführten Zug dadurch an, daß die entsprechende Kammer aufleuchtet. Der menschliche Gegner zieht seinerseits, indem er je nach gewählter Kammer einen speziellen kurzen Erbgut-Strang zufügt. Mit logischen Gattern berechnet das System nun den besten Gegenzug. Daraufhin werden in den verbleibenden Kammern DNS-Stränge so lange zu sammengefügt und getrennt, bis die optimale Antwort auf den vo rangegangenen Spielzug gefunden wurde. Daraufhin leuchtet die entsprechende Kammer auf. Nach mehr als hundert Spielen ist Maya immer noch ungeschlagen, wie Stojanovic und Stefanovic berichten. Dennoch werden DNSComputer wohl vermutlich niemals mit herkömmlichen Siliziumchips konkurrieren können, auch wenn es um die Lösung komplexer Re chenaufgaben geht. Allenfalls könnten sie sich für molekulare Appa rate eignen, die beispielsweise autonom Krankheiten diagnostizieren oder behandeln sollen. MANFRED LINDINGER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.08.2003, Nr. 191 / Seite 34
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Mißratene Kopien:
Fast immer geht das Klonen schief
"Wir haben keine Bilder von mißlungenen Klontieren, die für Ihre Leser von Interesse sein könnten": So reagierten Forscher, die mit Fotos ihrer Schöpfungen sonst nicht geizen. Das Klonen ist eben eine Technik, die von massiver Propaganda begleitet wird. Die wirkungs vollste Waffe ist auch in diesem Fall das Bild. Auf diesen Seiten prä sentieren wir eine Auswahl von Fotos, die den Reklamefeldzug stören könnten. Dolly lächelt noch immer, dabei ist sie längst tot. Ausge stopft zum Museumsstück, soll sie der Welt als "freundliches Antlitz der Wissenschaft" in Erinnerung bleiben, sagt Ian Wilmut. Als Me dienprofi weiß der Vater des ersten aus einer erwachsenen Zelle ge klonten Säugetiers: Ein niedliches Bild sagt mehr als tausend Zeilen Forschersprache. Es waren sorgsam inszenierte Fotos, die entschei dend zu dem Irrglauben beitrugen, das Klonen von Menschen sei nur noch einen technischen Schritt entfernt. Wer denkt schon an Abtrei bung, Mißbildung oder Siechtum, wenn Copycat, in ein Deckchen eingeschlagen, mit unschuldigen Katzenaugen in die Fotolinse blickt: Ich bin's, der Katzen-Klon. Aber ich könnte auch der erste Mensch klon sein! Zu Weihnachten fiel die Weltöffentlichkeit auf das Klontheater der Raelianersekte herein. Selbst einige seriöse Massenmedien konnten zwei Wochen lang nicht zwischen Clowns und Klonern unterscheiden. Mitten im Nachrichtenchaos wurde dann von der deutschen For schungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) eine internationale KlonKonferenz einberufen, die nun, am 14. Mai, in Berlin beginnen soll. Anlaß genug, sich mit der bebilderten Klonpropaganda auseinander zusetzen - und die Realität zu zeigen, wie sie sich aus 99 Prozent der Klonversuche ergibt. Wer hat je Bilder wie die hier versammelten aus dem Schattenreich des Klonzoos gesehen? Etwa das Foto jenes ungeborenen Klonscha fes mit einem tödlichen Bauchwandbruch - es fand, anders als Dolly, nicht den Weg ins Wissenschaftsblatt Nature. Ian Wilmut schickte bereitwillig dieses Bild, weil er das Projekt der Frankfurter Allgemei nen Sonntagszeitung, endlich einmal die Klonfehler zu zeigen, für eine "gute Idee" hält. Wir haben 29 der in der internationalen Klon
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forschung führenden Wissenschaftler und Institutionen mit der Bitte kontaktiert, Fotos fehlgeschlagener Klonversuche zur Veröffentlichung freizugeben. Und so reagierte die Wissenschaft, die doch eine öffentli che Veranstaltung sein sollte: 13 Forscher ließen die Frage auch nach mehrmaligem Nachhaken unbeantwortet. Immerhin acht aber stellten Bilder zur Verfügung, darunter vier deutsche Klonforscher. Ob diese Zurückhaltung auch daran liegt, daß Klonforschung nicht immer nur dem Gewinn von Erkenntnis dient? Transplantierbare Or gane aus Klonschweinen, beispielsweise, könnten in Zukunft ein luk ratives Geschäft werden. Die Effizienz der bisherigen Klonmethode, des Kerntransfers in ent kernte Eizellen von Säugetieren, ist allerdings auch im Jahr sieben nach Dolly gering. Weniger als ein Prozent aller erfolgreich geklonten Tiere, ob Maus, Kaninchen, Rind, Schaf, Ziege oder Schwein, kom men lebend zur Welt. Von 277 geklonten Schafembryonen beendete 1996 nur eines seine Entwicklung: das Lamm Dolly. Fünf Jahre spä ter zählten Rinderkloner schon 68 932 Kerntransfers in entkernte Eizellen, aus denen sich 3435 in Leihmütter übertragene Rinderemb ryonen entwickelten - doch nur 148 davon erblickten das Licht der Welt. Eine Menge Fehlschläge gab's auch bei Mäusen. Sogar die meisten jener Nager, die sich scheinbar gesund in ihren Käfigen tummeln, zeigen subtile Fehlregulationen in Hunderten der bisher 10 000 untersuchten Gene. Mitunter kommt es zu absurder Fettleibig keit (Bild rechte Seite). Japanische Forscher entdeckten im vergangenen Jahr, daß geklonte Mäuse meist deutlich kürzer leben. "Wir haben seit sechs Jahren nur die Produktion abnormer Klone effizienter gemacht", faßt Rudolf Jae nisch vom Whitehead Institute in Boston den Erkenntnisstand der Klontechnik zusammen. Gerade Mäuse-Kloner, die dank intensiver Forschung den Ursachen der defekten Reprogrammierung ihrer Klone auf der Spur sind, zeigten sich bei der Suche nach Bildern kooperativ. So schickte der deutsche Entwicklungsbiologe Hans Schöler Aufnahmen zurückgebliebener Mäu seföten und stummelschwänziger Nager, ebenso Teru Riken aus Japan das Photo einer Maus ohne Schädeldach. Schöler weist darauf hin, daß Klonen selbst dann riskant bleibe, wenn die Mechanismen der fehler haften Reprogrammierung künftig besser beherrscht würden. Der
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Grund: Mit zunehmendem Alter häuften sich im Erbgut von Körperzel len schädliche Mutationen an. Verpflanze man diese genetisch gealter ten Zellkerne in frische Eizellen, seien sie "übersät mit Mutationen, zu kaputt zum Klonen." Die Suche nach fehlprogrammierten Genen geklonter Tiere gleicht der nach Kakerlaken im Hotelzimmer: Sieht man eine, gibt es viele. Das schreckt zwar nicht alle Tierkloner, macht aber eine PRStrategie notwendig. Zumindest die Erzeuger von Klonschweinen wollen von "Monstern" in ihren Ställen bisher nichts gesehen haben. Die meisten Schweinekloner antworteten lieber gar nicht. Zoltan Machaty von der Firma Alexion (US-Bundesstaat Connecticut) fühlte sich zwar geehrt durch die Einladung zu diesem "beeindruckenden Projekt", rückte aber keine Bilder heraus: "Wir hatten bisher keine geklonten Schwei ne, deren Geburtsdefekte so schwerwiegend waren, daß Sie für Ihre Leser interessant wären." Zoltan fügte hinzu, dies läge möglicherwei se an der effizienten Klontechnik seiner Firma. Immerhin räumte er ein, daß "ein Teil der Schäden" womöglich nicht mit "bloßem Auge zu erkennen sei". Der Klonexperte Randall Prather von der Universität MissouriColumbia ließ über einen Pressesprecher mitteilen, er sei "gegenwär tig an einer Teilnahme nicht interessiert". Er sei "medienmüde", Presseanfragen hätten "seine Forschungszeit aufgefressen". Das sah er noch im Januar anders, als Prather wortgewaltig vor den Gefahren des Menschenklonens gewarnt hatte. Ein Jahr zuvor mangelte es auch nicht an Zeit, Bilder zu versenden: Da hatte Prather verkündet, er habe das erste Mini-Schwein geklont, dem zugleich ein Gen ent fernt wurde - schöne Bilder anbei. Besonders abweisend reagierte die Firma "Advanced Cell Technolo gy" (ACT) in Worcester, die bisher noch jeden ihrer Klonerfolge me diengerecht vermarktet hat. Zunächst blieb die Bitte nach Bildern mißlungener Klonversuche unbeantwortet. Nach drei Kontaktversu chen ließ sich Robert Lanza, Vize-Präsident der Firma, zu einem Zweizeiler hinreißen: "Sorry, aber wir haben leider keine solchen Bilder. Vielleicht versuchen Sie es bei Ian Wilmut beim Roslin Institu te. Viel Glück, Bob." Wie die Firma ACT die Wahrnehmung der Welt öffentlichkeit zu beeinflussen versucht, zeigte das Tamtam um die Geburt der ersten geklonten Bantengs, einer vom Aussterben be drohten indonesischen Rinderart: Am 8. April 2003 ging die Meldung
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vom Klonerfolg um die Welt, im Internet gab es niedliche Kälbchen bilder. Der Schönheitsfehler: Just am Tag der Pressemitteilung muß ten die Geburtshelfer eines der beiden Klonkälber einschläfern. Die Weltpresse war nicht dabei. Mit grotesken 36 Kilogramm Geburtsge wicht litt das Tier am Riesenfötussyndrom, das auch bei geklonten Rindern in rund zehn Prozent aller Lebendgeburten beobachtet wird. Das arme Geschöpf trank, anders als sein Geschwisterklon, kaum Milch und war trotz künstlicher Ernährung nach einer "kurzen Erho lung abgestürzt", wie Lanza später gegenüber der Washington Post einräumte. So was komme öfter vor. Gab es Bilder der stillschweigenden Euthanasie? Autopsieberichte? Kein Kommentar. Ähnlich zurückhaltend gab sich auch der Erzeuger der Copycat. Katzenkloner Mark Westhusin, Direktor des Reproducti ve Sciences Laboratory am College of Veterinary Medicine der A&M Universität in Texas, ist eine schillernde Figur der ameri kanischen Klonszene. Für die Millionäre in seiner Kundschaft versuch te er, bisher vergeblich, liebgewonnene Hunde und Pferde zu klonen. Auf Anfrage räumte Westhusin zwar Mißerfolge des Klonens von Kat zen ein, die meisten der verendeten Tiere seien aber "schon im Mut terleib" gestorben. Diejenigen Katzenföten, die wenigstens die erste kritische Phase der Schwangerschaft überlebt hätten, rafften "Herzoder Lungenprobleme" dahin. Äußerlich dagegen sähen die abgetrie benen Katzenföten "völlig normal aus ... sie sterben halt". Anders entschied sich Cesare Galli aus dem italienischen Cremona. Nach mehrmaligen Bitten schickte er schließlich das Bild einer Früh geburt eines geklonten Rindes. Galli erklärte auch den Grund für sein Zögern: Er sei zwar strikt gegen das reproduktive Menschenklonen, wohl aber für die Zelltherapie mit menschlichen embryonalen Stammzellen. Fotos fehlgeschlagener Klonversuche würden "mit Si cherheit auch jeden Versuch im Bereich der Stammzellenforschung mit Kern-Transfer schwer beschädigen". Ein schlechtes Image der Kloner befürchtet auch Jean-Paul Renard vom Pariser Institut National de la Recherche Agronomique, einer der Hauptredner der Internationalen Klonkonferenz in Berlin. Der KlonPionier besitzt nach eigenen Angaben nicht ein einziges Foto der Fehlversuche seiner erstmals im vergangenen Frühjahr geklonten Kaninchen. Wohl aber hat er - als einer der ganz wenigen - umfang reiche Dokumentationen über die Mißerfolge beim Rinderklonen ver
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öffentlicht. Aus dieser Sammlung schickte er ein Bild abnormer Rin derorgane. Renard gab bereitwillig Auskunft: Das Hauptproblem des Klonens von Tieren sei seine völlige Unberechenbarkeit, der Eingriff führe im Ver gleich zu künstlichen Befruchtungen deutlich häufiger zu "Stoffwech selpathologien". Bei rund 80 Prozent aller Schwangerschaften käme es durch den Kerntransfer zu sogenannten "epigenetischen Fehlregu lationen". Häufigste sichtbare Folge sei ein abnorm entwickeltes Pla zentagewebe, das zu fötaler Fehlversorgung und zu vielen frühen Aborten führe. Selbst von Kälbern, die sich anfangs normal entwi ckelten, sterbe noch rund die Hälfte kurz nach der Geburt. Bei der Autopsie, so Renard, finde man oft mangelhaft entfaltete Lungen und Herzfehler. Manchmal stürben zunächst gesund erscheinende Kälber ein paar Wochen später - weil geschrumpfte Lebern, stark schwan kende Hormonspiegel oder zu groß geratene Herzmuskeln das Über leben unmöglich machten. Allerdings betont Renard auch die Erfolge: Von den bisher 35 geklon ten Rindern, die in Paris die kritischen drei Monate nach der Geburt überstanden hätten, seien bis auf eines heute alle gesund, einige hätten sogar gesunde Nachkommen gezeugt. Derzeit durchleuchte man deren Erbgut auf "stumme Mutationen", um verborgene Defekte quantitativ abschätzen zu können. Klonversuchen an Primaten steht nach jüngsten Erkenntnissen zu mindest eine weitere biologische Barriere entgegen: Der Kernstrans fer in Eizellen von Primaten entfernt offenbar Proteine, die für die korrekte Zellteilung wichtig sind. Geklonte Affenembryonen erweisen sich daher als genetische Horrorgalerie, wie sie Gerald Schatten kürzlich in der Zeitschrift Science präsentierte. Der Pittsburgher Me diziner hatte bei unserer Anfrage zunächst auf noch unveröffentlichte Daten verwiesen. Am 11. April dokumentierte er dann 724 vergebli che Versuche, Rhesusaffen zu klonen - immerhin Tiere, die dem Menschen nahe verwandt sind. Zwar sehen die Affenembryonen äu ßerlich normal aus, aber in den Zellen fehlen Proteine, um die ver doppelten Chromosomen paarweise in Tochterzellen zu manövrieren. Statt dessen liegen sie chaotisch in den Zellen herum. "Derzeitige Klontechniken funktionieren nicht bei Primaten", lautet Schattens Fazit. Wenn nun "Scharlatane" die Geburt menschlicher Klonkinder ankündigten, hätten sie "keine Ahnung von Biologie".
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Dank der verwickelten Epigenetik im Embryo bleibt den Ethikern also noch Zeit - bis zum nächsten technologischen Durchbruch: Auf die Dauer dürfte es nicht genügen, das Verbot des Klonens von Men schen allein aus den Fehlschlägen der Technik abzuleiten. Dolly ist kein Auslaufmodell, sondern eine "Galionsfigur", und die Klonierung das "Herzstück der Biotechnologie", wie Ian Wilmut in seinem Buch "Dolly" bemerkt hat: Klonversuche sind ein aussichtsreicher Weg, die Embryonalentwicklung aufzuklären. Allein im Jahr 2003 haben sich schon 174 wissenschaftliche Artikel mit dem Phänomen der Reprogrammierung beschäftigt. Schon daher lohnt es sich, auf die Macht der Bilder dieser Revolution zu achten. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.05.2003, Nr. 18 / Seite 58
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Der Spuk, den Einstein beschwor Zwei Kilometer in null Sekunden: Rekord beim "Beamen" von Licht Für die Crew des Raumschiffs Enterprise ist Beamen die schnellste und bequemste Art, auf einem fremden Planeten zu landen. Während das Beamen von Alltagsgegenständen und Lebewesen selbst über kleine Entfernungen wohl niemals technisch möglich sein wird und für ewig ins ferne Reich der Science-fiction gehört, sind ähnliche Vorgänge zumindest in der Quantenwelt schon lange nichts Unge wöhnliches mehr. So ist die Übertragung der Quanteneigenschaften eines Photons auf ein anderes, ohne daß dabei Materie transportiert wurde - die sogenannte Teleportation - bereits mehrfach demonst riert worden, allerdings bislang nur über Entfernungen von maximal einem Meter. Jetzt haben Forscher von der Universität Genf einen Rekord aufgestellt. Nicolas Gisin und seinen Kollegen ist es gelungen, Photonen über eine Distanz von zwei Kilometern zu teleportieren. Dreh- und Angelpunkt der Teleportation ist das Phänomen der Ver schränkung, die Albert Einstein einst als "spukhafte Fernwirkung" bezeichnet hatte. Sind zwei Teilchen miteinander verschränkt, bilden sie eine Einheit, egal wie weit sie voneinander entfernt sind. Oft wer den solche Partikeln mit zwei Würfeln verglichen, die, wenn man sie gleichzeitig würfelt, immer die gleiche Zahl liefern. Wird nämlich ei nes der verschränkten Teilchen von einem Detektor nachgewiesen und auf seine Eigenschaften hin untersucht, so stehen gleichzeitig auch die Eigenschaften des anderen Teilchens fest. Verschränkte Teilchen entstehen, wenn man beispielsweise ultraviolettes Licht auf einen nichtlinearen Kristall fokussiert. Dabei verwandelt sich ein ult raviolettes Photon in zwei verschränkte sichtbare Photonen A und B, die in entgegengesetzte Richtungen davonfliegen. Bei der Teleporta tion läßt man nun Photon A zusammen mit einem dritten Lichtteil chen C, dessen Eigenschaften man übertragen möchte, auf einen halbdurchlässigen Spiegel treffen. Dabei passiert das höchst Eigenar tige: Photon A verliert seine Eigenschaften, etwa seine Schwingungs richtung, und nimmt den Polarisationszustand von Lichtteilchen C an. Sofort wird dieser Zustand auch auf den verschränkten Partner B übertragen beziehungsweise teleportiert.
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Mit dem Verfahren haben österreichische Physiker um Anton Zeilin ger und unabhängig davon italienische Wissenschaftlern in Rom 1997 das erste Mal ein Lichtquant ohne Zeitverzögerung - gewissermaßen unter Überwindung von Raum und Zeit - von einem Ende des Labor tischs zum anderen Ende gebeamt. Die Schweizer Forschergruppe um Nicolas Gisin hat die Teleportationstechnik nun entscheidend wei terentwickelt. Sie konnte die Photonenzustände über ein zwei Kilo meter langes Glasfaser von einem Raum zu einem anderen übertra gen. Während der eine Partner des verschränkten Photonenpaares (B) im Empfängerlabor blieb, wurde sein Gegenstück (A) durch den Lichtleiter ins Sendelabor geschickt, wo es mit dem zu teleportieren den Lichtteilchen (C) zusammentraf. Neben dem Streckenrekord gab es noch eine weitere Neuheit: Das zu übermittelnde Photon und das verschränkte Photonenpaar hatten verschiedene Wellenlängen. So gelang es Gisin und seinen Kollegen erstmals, einen Quantenzustand von einer Lichtfrequenz auf eine andere zu übertragen ("Nature", Bd. 421, S. 509). Die wichtigste Anwendung der Teleportation sehen die Schweizer Forscher in der abhörsicheren Übertragung von Informationen, der sogenannten Quantenkryptographie. Gängige Verfahren sind in ihrer Reichweite auf etwa hundert Kilometer beschränkt. Würde man die Teilchen dagegen teleportieren, ließen sich nach der Meinung Gisins geheime Botschaften mehrere hundert Kilometer weit übermitteln. Die übertragenen Informationen wären dann auch vor unerwünsch ten Lauschern sicher. Denn sie verschwinden am Ort des Senders und tauchen erst am Ort des Empfängers wieder auf. Zwischendurch existieren sie nicht. Das bisher praktizierte Verfahren hat allerdings einen entscheiden den Nachteil, der einer breiten Anwendung der Teleportation im We ge steht. Um sicher zu sein, daß die Teleportation erfolgreich gewe sen ist, mußte man bislang das Photon mit den übertragenen Quan teneigenschaften nachweisen und dadurch letztlich zerstören. Das Teilchen und die in seinen Quantenzuständen gespeicherten Informa tionen standen somit für eine Weiterverarbeitung nicht mehr zur Ver fügung. Die Forscher um Anton Zeilinger von der Universität Wien haben nun einen raffinierten Weg gefunden, mit dem sie den Erfolg einer Teleportation überprüfen können, ohne die teleportierten Quan tenzustände vernichten zu müssen. Sie bauen in die Strecke, den das teleportierte Photon durchläuft, einen speziellen Dämpfer ein.
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Aufgrund quantenmechanischer Gesetze reicht es nun völlig aus, die übrigen an dem Geschehen beteiligten Lichtteilchen gleichzeitig zu registrieren. Der Nachweis und die Zerstörung des teleportierten Photons wird damit überflüssig ("Nature", Bd. 421, S. 721). Statt eines Nachweisgerätes können nun weitere Module, die die Quanten information verarbeiten, an die Teleportationsvorrichtung ange schlossen werden. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2003, Nr. 60 / Seite N1
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Der Quantencomputer nimmt Gestalt an Längere Speicherzeiten und bessere Datenverarbeitung mit supraleitendem Mikrochip Vor fast 70 Jahren ließ Erwin Schrödinger seine inzwischen sprich wörtlich gewordene Katze aus dem Sack. Das arme Tier wird durch einen perfiden Mechanismus in einen quantenmechanischen Zustand befördert, in dem es zugleich tot und lebendig ist. Schrödinger wollte mit seinem Gedankenexperiment auf die "burlesken" Konsequenzen hinweisen, die eine unmittelbare Übertragung quantenmechanischer Gesetze von der Atomphysik auf unsere alltägliche Erfahrungswelt hat. Das Schicksal, das Schrödingers Katze erleidet, erregt noch im mer die Gemüter. Was für die einen der Inbegriff rätselhafter Quan tenphysik ist, halten andere für restlos geklärt. Doch inzwischen ist Schrödingers Katze zu neuem Leben erwacht - als supraleitender Mikrochip, der vielleicht einmal in einem Quantencomputer seine Arbeit verrichten wird. Der Chip, den es in zwei verschiedenen Ausführungen gibt, sieht zu nächst nicht so aus, wie man sich eine Schrödinger-Katze vorstellt. Er enthält mehrere winzige, kaum mikrometergroße Inseln aus Alu minium. Kühlt man den Chip auf genügend tiefe Temperaturen ab, so wird das Aluminium supraleitend. Die normalerweise ungeordnet im Metall umherfliegenden Leitungselektronen schließen sich dann paarweise zusammen. Es entstehen sogenannte Cooper-Paare, die sich alle im selben Quantenzustand befinden und streng geordnet bewegen. Da jetzt kein Elektron mehr aus der Reihe tanzen kann, fließt der elektrische Strom völlig widerstandslos. Tunnelnde Elektronen Zwischen jeweils zwei der supraleitenden Aluminiuminseln befindet sich eine hauchdünne, elektrisch nichtleitende Schicht, durch die die Cooper-Paare "tunneln" können, ohne ihren Quantenzustand zu ver lassen. Solch ein Josephson-Kontakt aus zwei supraleitenden und einer isolierenden Schicht enthält einige Milliarden Cooper-Paare, die man mit einigem Aufwand in einen recht bizarren Quantenzustand bringen kann. Dazu haben Irinel Chiorescu und seine Mitarbeiter an der Technischen Universität Delft drei Josephson-Kontakte mit Alu
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miniumdrähten kreisförmig zusammengeschlossen. Diese supralei tende Schlaufe setzten sie einem wohldosierten Magnetfeld aus, das in ihr einen elektrischen Strom in Gang setzte. Da der Strom in der Schlaufe ebensogut rechts- wie linksherum flie ßen konnte, machte er kurzerhand beides zugleich: Es bildete sich ein Quantenzustand - ähnlich dem der Schrödinger-Katze -, bei dem sich Milliarden von Cooper-Paaren gleichzeitig im und gegen den Uhrzeigersinn bewegten. Mit einem kurzen Mikrowellenpuls konnten die Forscher, wie sie in der Online-Ausgabe der Zeitschrift "Science" berichten, ihre Schrödinger-Katze in einen Zustand mit geringfügig höherer Energie bringen. Es stellte sich heraus, daß dieser angeregte Zustand nach knapp einer Millionstelsekunde zerfiel und die Schlaufe in ihren Ausgangszustand zurückkehrte. Für diese kurze Zeitspanne war die supraleitende Schlaufe zu einem quantenmechanischen Da tenspeicher geworden, der sich entscheidend von herkömmlichen Datenspeichern unterscheidet. Eine normale Leiterschlaufe, in der der elektrische Strom entweder links- oder rechtsherum fließt, kann die Information von einem Bit tragen, wobei "linksherum" für Null und "rechtsherum" für Eins ste hen könnte. In der supraleitenden Schlaufe hingegen kann der Strom - je nach Quantenzustand mit unterschiedlicher Stärke - zugleich rechts- und linksherum fließen. Diese Schlaufe trägt die Informati onsmenge von einem Quantenbit oder Qubit. Statt mit Bits wird der Quantencomputer mit solchen Qubits rechnen. Theoretische Untersu chungen haben gezeigt, daß er herkömmlichen Rechnern haushoch überlegen ist, wenn es um bestimmte Berechnungen wie die Zerle gung großer Zahlen in Faktoren oder die Durchsuchung großer Da tenbanken geht. Während der klassische Computer alle möglichen Bitmuster der Reihe nach abarbeitet, verarbeitet sie der Quanten computer parallel, da seine Qubits eine Überlagerung aller möglichen Bitmuster enthalten. Am Ende fließen diese vielen Parallelrechnungen allerdings zu einem einzigen Ergebnis zusammen. Bevor man jedoch solche Berechnungen mit einem Quantencomputer ausführen wollte, müßten die supraleitenden Schlaufen die Qubits wesentlich länger speichern können. Störende Umwelteinflüsse füh ren dazu, daß eine supraleitende Schleife aus einem bestimmten Quantenzustand außerordentlich schnell wieder in ihren Ausgangszu stand zurückkehrt und das Qubit ausgelöscht wird. Bei der Überwin
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dung dieser Schwierigkeiten haben die Forscher in letzter Zeit große Fortschritte gemacht. Die jetzt in Delft erreichte Speicherzeit von knapp einer Millionstelsekunde hätte vor einigen Jahren kaum je mand für möglich gehalten. Ein Quantencomputer muß aber Qubits nicht nur speichern, sondern auch verarbeiten können. Dazu müssen die normalerweise isoliert gehaltenen Qubit für kurze Zeit miteinander in Wechselwirkung tre ten. Hier haben Wissenschafter vom japanischen Forschungsinstitut Riken in Wako einen Durchbruch erzielt. Die Qubits wurden auch von ihnen auf einem Chip mit Josephson-Kontakten gespeichert. Aller dings nutzen die Forscher um Jaw-Shen Tsai dafür nicht elektrische Ströme, sondern die negativen elektrischen Ladungen der CooperPaare ("Nature", Bd. 421, S. 823). Da die Paare durch die nichtlei tende Schicht eines Josephson-Kontaktes von einer supraleitenden Insel zur anderen tunneln konnten, verteilten sie sich auf die beiden Inseln, und es stellte sich ein Gleichgewicht ein. Den Forschern gelang es, das Gleichgewicht so zu justieren, daß die Zahl der Cooper-Paare auf den Inseln nicht eindeutig festlag, son dern um eins zu- beziehungsweise abnehmen konnte. Auch in die sem Fall vermochten sich die Milliarden von Cooper-Paaren nicht für einen von zwei möglichen Zuständen zu entscheiden und wählten kurzerhand beide. Wieder war eine Schrödinger-Katze entstanden, mit der sich ein Qubit speichern ließ. Es war allerdings viel kurzlebi ger als das Delfter Qubit und zerfiel schon nach wenigen Milliardstel sekunden. Verschränkte Quantenbits Den Forschern in Japan ist es jedoch erstmals gelungen, auf einem Chip zwei Qubits miteinander zu "verschränken". In diesem Zustand geben die Qubits ihre Eigenständigkeit auf und stimmen ihr Verhal ten miteinander ab. Um dies zu beobachten, haben die Forscher zwei Josephson-Kontakte dicht nebeneinander auf einem Chip unterge bracht. Eine winzige Brücke verband die Kontakte miteinander. Mit einem elektrischen Feld brachten die Forscher die beiden Kontakte miteinander in Resonanz, mit einem Mikrowellenpuls regten sie sie an und setzten die beiden Qubits auf ihre Startwerte. In der Milli ardstelsekunde bis zu ihrem Zerfall zeigten die Qubits ein komplizier
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tes und aufeinander abgestimmtes Verhalten - wie man es von ver schränkten Qubits erwartet. In einem Quantencomputer müßte man indes Hunderte von ver schränkten Qubits vielleicht über einige Zehntelsekunden speichern und verarbeiten können. Ob das mit Qubits auf supraleitenden Chips oder auf andere Weise gelingt, ist noch offen. Bei Experimenten mit einzelnen Atomen oder Ionen konnten Qubits immerhin schon tau sendmal so lange gespeichert werden, wie das bisher mit Chips mög lich ist. Erst kürzlich ist es gelungen, mit Kalziumionen einfache Be rechnungen mit wenigen Qubits auszuführen. Auf einem Chip wie derum könnte man eine große Zahl von Qubits speichern. Die For scher in Delft haben schon Schaltungen mit Tausenden von supralei tenden Schlaufen hergestellt, mit denen sich ebenso viele Qubits speichern und verarbeiten ließen. Daß man eines Tages SchrödingerKatzen zu Tausenden auf der Fläche eines Fingernagels unterbringen kann, hätte sich ihr Erfinder bestimmt nicht träumen lassen. RAINER SCHARF Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2003, Nr. 54 / Seite N2
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Das Superhirn im Reagenzglas Die Erbsubstanz rechnet schnell und liefert die benötigte Energie
Vor gut neun Jahren sorgte Leonard Adleman für großes Aufsehen, als er eine Rechenmaschine vorstellte, die hauptsächlich aus Molekü len der Erbsubstanz bestand. Dem Informatiker von der University of Southern California in Los Angeles war es mit dem molekularen Computer gelungen, eine äußerst knifflige Aufgabe aus der Kombina torik schneller zu lösen als mit einem herkömmlichen Rechner. Aller dings waren dazu mehrere Arbeitsschritte erforderlich, die der stren gen Überwachung Adlemans bedurften. Im November 2001 stellten dann Ehud Shapiro und seine Kollegen vom Weizmann-Institut in Rehovot, Israel, einen "autonomen" DNS-Computer vor, der etwa eine Milliarde Rechenoperationen pro Sekunde gleichzeitig ausführen konnte. Die benötigte Energie lieferte damals noch der natürliche Brennstoff ATP (Adenosintriphosphat) lebender Organismen. Jetzt verwenden die israelischen Forscher die Erbsubstanz sowohl zum Rechnen als auch als Energiequelle. Die Desoxyribonukleinsäure (DNS) ist der kompakteste und zugleich größte Informationsträger der Natur. In der Reihenfolge ihrer Bau steine, der Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T), ist die gesamte genetische Information von Lebewesen gespei chert und codiert. Würde man den genetischen Code eines Menschen niederschreiben, erhielte man eine Folge von rund drei Milliarden aneinandergereihten Buchstaben, die man auch als binären Code interpretieren kann. 1984 hatte Adleman die geniale Idee, mit einer Reihe komplizierter biochemischer Abläufe, bei denen man DNS-Moleküle spaltet, die Basensequenzen vervielfältigt oder zwei komplementäre DNSEinzelstränge zu einem Doppelstrang verbindet, mit der Erbsubstanz eine Turing-Maschine zu bauen. Mit dieser von Alan Turing 1936 entworfenen universellen Rechenmaschine läßt sich im Prinzip jede mathematische Aufgabe lösen. Sie besteht lediglich aus einem Schreib- und Lesekopf, einem Schaltwerk sowie einem unendlich langen Speicherband mit einer Folge von Einsen und Nullen.
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Auf diesem Prinzip beruht auch der DNS-Computer der israelischen Forscher. Dreh- und Angelpunkt sind doppelsträngige Erbmoleküle, die Ehud Shapiro und seine Kollegen als Daten- und SoftwareMoleküle verwenden. Die Sequenzen der vier Basen A, C, G, und T stellen sowohl die Eingabedaten als auch die Rechenvorschriften dar. Die Forscher benutzen allerdings unvollständige Doppelstränge, die überstehende, längere Einzelstränge besitzen. An diesen Stellen können sich die Datenmoleküle mit den Software-Molekülen spontan verbinden, wenn die Basensequenzen zueinander passen. Finden sich ein Software- und ein Datenmolekül zusammen, ist ein Rechenschritt vollzogen. Die Hardware des Automaten besteht aus dem Enzym Fok-I, das die Eingabedaten verarbeitet. Hat man die Daten-, Software- und Hardware-Moleküle einmal im richtigen Verhältnis gemischt, laufen die Rechenvorgänge selbständig ab: Daten- und Software-Moleküle fü gen sich spontan zusammen. Dabei entstehen neue längere Molekü le, die das Enzym Fok-I an bestimmten Stellen wieder auftrennt. Nach mehrfachem Zusammenfügen und Aufbrechen läßt sich aus der Reihenfolge der Basen der DNS-Moleküle das Ergebnis der "Berech nung" ablesen. Welche Rechenoperationen der Computer ausführt, ist in den Basensequenzen der Software-Moleküle festgelegt. Die Forscher um Shapiro konnten auf diese Weise einfache mathemati sche Aufgaben lösen, etwa, ob in einer vorgegebenen Liste von Ein sen und Nullen die Anzahl der Einsen gerade oder ungerade ist und ob die Nullen vor den Einsen stehen. Das Enzym Fok-I stellt auch die Energieversorgung des Biorechners sicher. Wird das Erbmolekül aufgetrennt, lösen sich Bindungen, und die darin gespeicherte Energie wird als Wärme freigesetzt. Dadurch kommt der Rechner ohne den Brennstoff ATP oder andere externe Energiequellen aus. Die sparsame "Computersuppe" ist erstaunlich leistungsfähig. Wie Shapiro und seine Kollegen in den "Proceedings" der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften (Bd. 100, S. 2191) berichten, könnten mit einem Teelöffel Erbsubstanz 330 Billionen Rechenschritte pro Sekunde ausgeführt werden, wobei eine Leistung von nur 25 Mikrowatt verbraucht würde. MANFRED LINDINGER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2003, Nr. 54 / Seite 34
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Schmetterlinge im Windkanal Flugroboter sollen so wendig werden wie Insekten Es klingt wie aus einem Science-fiction-Film: Roboter, kaum größer als Libellen, spionieren unerkannt in Hauseingängen und finsteren Stra ßenecken nach verdächtigen Personen. Ihre Facettenaugen sind schar fe Minikameras, denen nichts entgeht. Was nach ferner Zukunft klingt, versuchen einige Ingenieure bereits in ihren Labors zu bauen, aller dings zu einem ganz anderen Zweck - zumindest vorläufig. Ihr Ziel sind kleine Flugmaschinen, die die Größe und die Wendigkeit von In sekten besitzen. Doch davon ist man noch weit entfernt. Denn selbst den Biologen und Bionikern geben die Flugkünste der Insekten nach wie vor viele Rätsel auf. Zwei Forscher von der University of Oxford haben den Flügelschlag von frei fliegenden Schmetterlingen jetzt in einem Windkanal untersucht und dabei neue Erkenntnisse gewonnen. Schaut man den Robotern bei ihren unbeholfenen Flugübungen zu, fühlt man sich an die ersten Versuche der Gebrüder Wright erinnert, denn mit den Flugkünsten von Libellen oder Schmetterlingen haben die Bemühungen der Maschinen nur wenig gemein. Kürzlich haben Forscher von der Firma Aero-Vironment in Kalifornien eine Maschine zum Leben erweckt, die immerhin schon den Flügelschlag von Fle dermäusen ansatzweise imitiert und sich in die Lüfte erheben kann. Der zwanzig Zentimeter große "Microbat" ist mit einem ultraleichten Motor ausgerüstet. Sein filigranes Skelett besteht aus Kohlefaser, die zarten Flügel und der Schwanz aus dünnen Polyethylenfilmen. Das große Manko von Microbat: Wird er von einem Windstoß erfaßt, gerät er ins Trudeln und stürzt ab. Von der Manövrierfähigkeit der Insekten sind dieser Flugapparat und seine Artgenossen noch weit entfernt. Das ist nicht verwunderlich, denn schließlich haben die Insekten, deren Hirne nur einige tausend Neuronen besitzen, in etwa 300 Millionen Jahren Entwicklungsge schichte das Fliegen perfektioniert. Manche können rückwärts oder seitwärts fliegen und sogar in der Luft stillstehen. Mit "angeleinten" Faltern und Fliegen hat man in der Vergangenheit versucht, dem Flügelschlag der Tiere auf die Schliche zu kommen. Bisweilen ein schwieriges Unterfangen. Deshalb sperrten Robert Srygley und Adri an Thomas einige Exemplare des Roten Admirals (Vanessa atalanta) in einen Windkanal ein und ließen die Tiere darin frei umherfliegen.
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Um die fremde Umgebung so natürlich wie möglich zu gestalten, ha ben sie den Kanal mit künstlichen Blumen ausgestattet. Nach einiger Zeit schienen sich die Tiere tatsächlich an ihren neuen Lebensraum gewöhnt zu haben. Als die Schmetterlinge von Blume zu Blume flogen, ließen die Forscher für die Tiere ungefährlichen Rauch einströmen, der die Bewegung der Luft um die Insekten herum sichtbar machte. Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera hielten sie die entstehenden Luftwirbel und Turbulenzen entlang der Schwingen fest. Die Auswertung der Filmsequenzen zeigte, daß das Flattern der Schmetterlingsflügel ganz und gar nicht ziellos und unberechenbar ist, wie es dem flüchtigen Betrachter oft erscheint. Die Tiere beherr schen ein großes Repertoire aerodynamischer Fähigkeiten, wie Srygley und Thomas in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Na ture" (Bd. 420, S. 660) berichten. Die beiden Forscher konnten außer den bekannten Techniken - etwa das Zusammenklatschen und Auseinanderreißen der Flügel - weitere bislang unbekannte Variationen identifizieren, wie die Schmetterlinge ihre Flügel schlagen oder drehen. Dabei wechseln die Insekten mü helos von einer in die andere Technik, "ganz ähnlich wie Pferde vom Schreiten zum Trab in den Galopp übergehen", sagt Adrian Thomas. Die Tiere flattern zuweilen so sanft, daß sich dabei kaum Turbulen zen bilden. Im nächsten Moment können sie so heftig mit den Schwingen schlagen, daß sie von den dabei entstehenden Wirbeln einen zusätzlichen Auftrieb erhalten. Die Ergebnisse liefern nicht nur wichtige Erkenntnisse für Biologen. Sie beflügeln auch Ingenieure zu leistungsfähigeren Flugrobotern im Miniaturformat. Nach Ansicht von Srygley und Thomas sollte es in wenigen Jahren durchaus möglich sein, insektenähnliche Maschinen zu bauen, die nur noch rund zehn Zentimeter groß sind und den Flugkünsten ihrer lebenden Vorbilder schon recht nahe kommen. Längst haben schon Militärs - vor allem in den Vereinigten Staaten ein Auge auf die künstlichen Flugobjekte geworfen. Denn die kleinen Roboterinsekten bleiben für Augen und Ohren unbemerkt, wenn sie, hundert Meter über dem Boden fliegend, hinter den feindlichen Linien den Gegner ausspionieren. MANFRED LINDINGER Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.2002, Nr. 291 / Seite 32
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Die Computer von morgen sind reine Zauberei Fragen an den Informatiker und TU-Ehrendoktor Rozenberg Gestern erhielt Grzegorz Rozenberg, theoretischer Informatiker und Erforscher des DNA-Computings, die Ehrendoktorwürde der Techni schen Universität. Damit macht die Universität nicht nur einen weg weisenden Wissenschaftler aus dem Gebiet der neuesten Computer theorie zu ihrem Ehrenbürger: Rozenberg, Professor an der Universi tät Leiden in den Niederlanden und an der University of Colorado, gilt auch als bedeutender Organisator und Inspirator transnationaler For schungsnetzwerke. Er ist Ehrendoktor der Universität von Turku in Finnland, Auswärtiges Mitglied der Finnischen Akademie der Wissen schaften, Mitglied der Academia Europaea sowie Chairman verschie dener internationaler wissenschaftlicher Verbände. Außerdem ist er ein bekannter Magier mit einer eigenen Bühnenshow. Wir trafen Ro zenberg vor dem ihm zu Ehren abgehaltenen Kolloquium, auf dem er selbst über "Nature of Computing and Computing in Nature" sprach. Professor Rozenberg, was bedeuten Berlin und die Technische Uni versität für Sie, für Ihre Arbeit? Viel - insbesondere die Gruppe um Professor Hartmut Ehrig. Sie ha ben manches sehr viel früher als andere entwickelt, vor allem auf den Feldern der Graph-Transformation und der Parallelstrukturen. Schon seit Jahren hat die "Berlin school" in der internationalen For schung einen exzellenten Namen. Sie sind Spezialist für theoretische Computerwissenschaften und DNA-Computing, also molekulare Informationsverarbeitung. Wie ist der Stand der Forschung in dieser Disziplin? Wir versuchen, die Computer der Zukunft zu gestalten - nicht mit einer Silikon-Hardware, sondern mit Molekülen, die dann als "Biowa re" die Arbeit machen werden. Ich glaube, wir stehen an der Schwel le einer neuen Wissenschaft. Darin geht es nicht nur um Computer und deren Informationsverarbeitung. Man braucht sich nur anzu schauen, wie Bäume oder Blumen wachsen. Das ist alles Informati onsverarbeitung. Davon ist schon eine ganze Menge decodiert, aber
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ich glaube, wir werden noch ganz neue Formen entdecken, Dinge, von denen wir bislang keine Ahnung haben. Ein Computerfor schungslabor der Zukunft wird Computerspezialisten beschäftigen, aber auch Biologen, Mineralogen, Mediziner. Wir werden weiter von der Natur lernen. Das alles ging doch sehr schnell: 1994 baute Leonard Adleman so etwas wie den ersten Computer auf molekularer Basis. Ja. Bis zum November 1994 waren das alles reine Visionen. Adleman erbrachte den Beweis, daß biologische Computer möglich sind. Ri chard Feynman hatte die Vision, Tom Head hatte ein theoretisches Modell von molekularen Computerstrukturen, und Adleman machte das Experiment. Wenn ich vor fünfzehn Jahren gesagt hätte, ich will einen molekularen Computer bauen, hätte man mich für verrückt erklärt. Heute forsche ich darüber an zwei Universitäten. Molekulare Computer sind ein wissenschaftlicher Traum, der langsam Wirklich keit wird. Das aber ist nur möglich, wenn man mit den unterschied lichsten Leuten zusammenarbeitet, die in der Kristallographie, Bio chemie oder Biologie tätig sind. Kleinheit, Schnelligkeit, Energieeinsparung gelten als die Vorteile solcher zukünftiger Computer. Gibt es andere? Unsere Computer sind Dinosaurier. Ihre Architektur entspricht noch immer den Prinzipien John von Neumanns aus den vierziger Jahren. Die Entwicklung von Parallel-Computern steht noch ganz am Anfang. Aber stellen Sie sich einen DNS-Computer vor: In einem Tropfen DNS haben wir mehr als eine Trillion Moleküle, und alle arbeiten gleichzeitig für uns. Wer ist an Ihren Forschungen interessiert? Wer zahlt für die Entwick lung des DNS-Computing? Die japanische Regierung hat vor einiger Zeit entschieden, breite Forschungsstrukturen zu finanzieren. Leute von unterschiedlichen Fachrichtungen und Universitäten arbeiten zusammen an speziellen Problemen. Deshalb ist auch die japanische Forschung sehr erfolg reich. In den Vereinigten Staaten sind vor allem zwei Stiftungen zu nennen: die NSF, die National Science Foundation, und DARPA, eine Stiftung, die auch viel in militärische Forschung investiert. Inzwi
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schen hat die amerikanische Regierung riesige Summen für moleku lare und Quanten-Computer bereitgestellt. Aber auch aus der Medi zinforschung, der Pharmazeutik und der Genomforschung fließt Geld in diese Richtung. Alles in allem sind wir in einer äußerst glücklichen Lage. In einer wissenschaftsphilosophischen Anmerkung hat Lila Kari, eine Ihrer Schülerinnen, darauf hingewiesen, daß die Forschung in diesen Gebieten die Mathematik als die gemeinsame Sprache der Physik und der Biologie entdecken wird. Sie sprechen von "natürlichen Compu tern". Glauben Sie an so etwas wie eine elementare Sprache der Wissenschaften - funktionieren Natur und Geist auf derselben ma thematisch beschreibbaren Basis? Ich denke nicht. Unser bisheriges Wissen handelt größtenteils von künstlichen Computern. Dieses Denken geht auf Leibniz zurück, auf die Idee, die Informationsverarbeitung und das menschliche Denken zu mechanisieren. Den größten Teil der Informationsverarbeitung in der Natur haben wir noch nicht entdeckt. Bestimmte Einzeller organi sieren ihre Informationsverarbeitung mit exakt den gleichen Struktu ren wie unsere Computer, und das seit Millionen von Jahren. Ich bin überzeugt, wir werden ungeahnte Dinge entdecken. Was die Natur kann, ist so viel reicher und geschickter als das, was wir können. Und vieles, das wir entdecken werden, werden wir auch nutzen können. Was halten Sie von der Vision Ray Kurzweils, daß Verbindungen von Mensch und Maschine bald unser Leben verändern werden? Die Idee, daß eine Maschine in der Lage sei, unsere Art zu sprechen und zuzuhören zu verstehen, hat viele fasziniert: eine Maschine, die mit Menschen interagieren kann. Das ist für viele der ultimative Traum. Aber wann so etwas möglich wird, können wir heute nicht sagen, trotz aller Fortschritte. Manche Forscher sehen keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und Ethik. Glauben Sie, daß man unabhängig von religiösen und weltan schaulichen Fragen reine Forschung betreiben kann? Ich vermeide, über Dinge zu sprechen, von denen ich nicht wirklich etwas verstehe. Es ist eine sehr komplizierte Frage. Ich rede nur von Dingen, von denen ich etwas verstehe.
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Immer wieder wird auch auf die möglichen Risiken der neuesten For schungen hingewiesen. Bill Joy, einer der wichtigsten Wissenschafts kritiker, sieht uns im Begriff, die Büchse der Pandora zu öffnen. Tei len Sie seine Sicht auf Ihre Arbeit? Es ist sehr schwierig vorauszusagen, welche Art von Büchse wir öff nen. Fast alles, was wir heute für unmöglich halten, wird morgen trivial sein. Ein Beispiel: Anfang der fünfziger Jahre lautete eine der gewagtesten, revolutionärsten Thesen: Computer der Zukunft wer den nicht mehr als anderthalb Tonnen wiegen. Und kaum einer mochte das glauben. Ich glaube heute, man wird Nano-Computer entwickeln, die in der Lage sind, in eine Zelle einzudringen und dort Reparaturen vorzunehmen. Ist das gewagt? Ich glaube schon. Ist das gewagt genug? Wohl kaum. Gibt es eine historische Epoche, in der Sie am liebsten leben würden? Heute. Es ist ein großes Privileg, jetzt zu leben, an dem teilzuhaben, was jetzt entsteht. Wahrscheinlich wird die Geschichte unsere Zeit einmal sehr schätzen: die Anfänge des "natural computing". Manche halten das alles für Zauberei, für Magie. Eigentlich hasse ich solche Sprüche. Aber ich trete seit Jahren als Zauberer auf, und als Experte kann ich sagen: Was ich jetzt in der Wissenschaft sehe, ist Zauberei. Da kenne ich mich aus. Das Gespräch führte Hans-Joachim Neubauer. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.02.2002, Nr. 39 / Seite BS2
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Nach dem Internet In uns, um uns und um uns herum: Der Rechner der Zukunft Technik- und Sozialgeschichte verlaufen nicht als Folge wohlabge grenzter Epochen und Phasen, sondern in Abschweifungen, Einschü ben und Irrtümern. Ungleichzeitig erfaßt der Fortschritt, von dem die Mehrheit gar nichts mehr mitbekommt, auch als Krieg eine Welt, die weniger denn je eine geplante ist. Während Argentinien brennt und Afghanistan hungert, beschwert sich eine Branche über Markteinbrü che, deren Flaggschiff Microsoft schon 1999 ein größeres Bruttoin landsprodukt einbrachte als Neuseeland. Die digitale Produktivkraftumwälzung, deren Zeuge wir sind, wird sich von der Erdrutschdynamik enttäuschter Erwartungen und "ge sundschrumpfender" Standorte nicht lange aufhalten lassen - wenn das Schießpulver einmal erfunden ist, wird es auch benutzt; nur ein sehr großer Knall macht dem ein Ende. Die nächsten qualitativen Sprünge stehen bevor. Von Festplatten-Beschichtungen, die eine noch höhere Datenpackungsdichte ermöglichen, über alternative Bildschirmtechnologien, verbesserte Software - vor allem Protokolle und Textformatergänzungen für klassische und drahtlose Netzwerke - bis zu sprachgesteuerten Websites sprießen überall neue Blüten einer verselbständigten Entwicklung. Selbst wenn das berühmte Entwicklungsgesetz der HardwareIndustrie, wonach die Transistoren-Packungsdichte beziehungsweise die Leistungsfähigkeit von Chips sich alle achtzehn Monate verdop peln, demnächst an seine natürlichen Grenzen stößt, bieten extreme Ultraviolett-Lithographietechniken und kühne bis dreiste Projekte der Mikrosystemtechnik schon heute Ausblicke auf eine Welt, in der es gelingen könnte, diese Beschränkungen gleichsam zu durchtunneln. Und die Palette von abweichenden Modellen fürs Computing selbst wird täglich reicher; Schaltelemente aus Makromolekülen (etwa der DNA) oder das sogenannte Quantencomputing (F.A.Z. vom 27. De zember) gewinnen an Plausibilität. Das Ensemble der Entdeckungen und die in gemeinsamer Koevolution voranschreitenden Forschungen zur Rechnertechnik aber sind wohl nur ein Vorschein des Kommen den, für das sich in interessierten Kreisen derzeit der Name "Ubi comp" einbürgert: ubiquitous computing, allgegenwärtige Rechner.
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Vernor Vinge, ein Science-fiction-Autor und Mathematiker an der San Diego State University, dessen Novelle "True Names" 1981 die heuti ge Netzwirklichkeit vorwegnahm und deshalb seit langem als Pflicht lektüre ernsthafter Informatikstudenten in den Vereinigten Staaten gilt, hat kürzlich die Erzählung "Fast Times at Fairmont High" veröf fentlicht. Sie kann drastisch verdeutlichen, was Ubicomp bedeuten würde. Die Geschichte spielt an einer High School der nahen Zukunft. Man lernt dort unter der Devise "Wir strengen uns an, um nicht über flüssig zu werden." Der Vater des Helden Juan ist ein Langzeitar beitsloser, der einst als Software-Ingenieur einer der angesehensten Experten für ein Programm namens Regna 5 war, an dem Program mierer bis zu drei Jahre lang ausgebildet werden mußten. Das Ver hältnis von Lernaufwand zu Arbeitsmarkt-Ergebnis ist erschütternd: Drei Jahre Ausbildung ergeben nur mehr ein Jahr Vermittelbarkeit auf dem IT-Arbeitsmarkt. Dagegen ist die Wissensgesellschaft von heute ein Schneckenwettlauf. Rekursive Späße Über Computer, die an Armen, Jacken und in Brillen befestigt sind, senden Lehrer und Schüler in "Fast Times" einander Signale mittels Laserpulsen; Prüfungsfragen werden per Multitasking zu den anderen Aufgaben, die man als Schüler täglich bewältigt, hinzugenommen. Das Netz absorbiert die kreative Aufmerksamkeit von (arbeitslosen) Millionen, Pseudoseiten und rekursive Späße toben sich aus, bis die Copyrights verfallen. Schüler haben Kontakte zu den Denkfabriken von Intel und chinesischen Software-Kooperativen, der Mathematik unterricht besteht aus Unterweisungen in Software-Heuristik und Visualisierung von Informationsverarbeitungsproblemen - dafür ha ben es die Schüler aber dann auch mit mathematischen Problemen zu tun, an denen ihre Leidensgenossen im zwanzigsten Jahrhundert noch verzweifelt wären. Kontaktlinsen, Brillen, "Smart Clothes", also in Kleidung oder Acces soires verwobene IT-Elemente, wirken zusammen und erlauben eine Durchdringung von Real- und Rechnerwelt. Sie sind einfach nicht mehr abzuschalten - Juan und seine Freunde könnten sich zum Bei spiel keine Bilder auf ihren Brillen vor- und überspielen, wenn es nicht einen Armbandcomputer gäbe, der die entsprechende Graphik software geladen hat. Was dem Ganzen Flexibilität verleiht, sind die Netzwerknospen in der Umgebung, an den Wänden etwa oder auf
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Verkehrsschildern. Die lokalen Netze sind der fruchtbare Boden, des sen Kiesel sind daumengroße Geräte mit kostensparenden drahtlosen Funksystemen für die Lokalisierung und die Kennungssendung von Kurzstreckenlasern, die direkt auf die jeweiligen Empfänger gerichtet werden. Wartung und Ersetzen sind dabei das einzige Problem. Gehen die Knospen kaputt oder kriegen sie nicht genug Licht ab, um ihre Batterien in aufgeladenem Zustand zu halten, kann man zwar neue ausstreuen; aber wenn man nichts anderes tut, hat man nach ein paar Monaten einen Park voller Metallmüll, häßlich und giftig. Zumindest die Stadtreinigung schafft also Arbeitsplätze, auch wenn mittlerweile an biologisch abbaubaren Netzknospen gearbeitet wird. Das hier geschilderte Ubicomp-Milieu ist im Ansatz schon erreichbar, jedenfalls für Soldaten und Astronauten, die liebsten Versuchswesen der High-Tech-Forschung. Während die Truppe längst Gürtel mit Keypads und handgranatengroße Netzwerknospen mit Sensoren, Routern und Localizern sowie computerisierte tragbare Geräte für Radar, Sonographie und ähnliches einsetzt, meldet die BBC nun, bei der Nasa arbeite man an einer Maximierung des Informationsaus tauschs mit Astronauten mit Hilfe von Anzeigen, die auf die Innensei te des Raumhelms projiziert werden. Bewegte Portale Auf der Tagung "Ubicomp 2001", die kürzlich in Atlanta stattfand, sprach Larry Smarr, Direktor des "California Institute for Telecom munications and Information Technology" in San Diego, über den "planetaren Computer": Nach zwanzig Jahren Entwicklung beginne die Wachstumskurve des alten, verdrahteten Internet mit seinen Mil lionen von PCs als Endpunkten erstmals deutlich abzuflachen. Gleich zeitig aber ziehe Ubicomp herauf - bewegte Internetportale überall in der physischen Welt. Milliarden Handys, eingebettete Prozessoren, Geräte von der Größe einer Hand, Sensoren und Aktuatoren würden geeignete soziale Bereiche wie Biomedizin, Transport, Umweltüber wachung und Kommunikation in der Wirtschaft bald neu verbinden und gestalten. Einer der interessantesten Beiträge der Tagung betraf die Privat haushalte. Keith Edwards und Rebecca Grinter vom Xerox Palo Alto Research Center erläutern darin etwas, das sie "Herausforderungen für das denkende Heim" nennen. Ubicomp, so vermuten sie, hat
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nicht nur technologische, sondern auch ökonomische Wurzeln. Daß die Verkaufsstrategie sich inzwischen auf Privathaushalte konzent riert, ist ein Ergebnis der Sättigung des IT-Büromarktes. Mit Ubicomp werden wir das "zufällig smarte Heim" erleben - existierende Haus halte wurden nicht für Ubicomp entworfen, langsame Aufrüstung a ber entspricht nicht dessen alldurchdringender Logik, der Zufall wird zur Problemquelle. Das Fehlen eines System-Administrators dürfte dabei zu den größten Herausforderungen zählen: Auch heute interessieren sich die meisten Privatleute wenig für Klempnerei und Gerätereparatur, warum also sollten sie sich mehr dafür interessieren, wenn es gilt, das zu über wachen, was ihr gescheites Haus anstellt? Die Frage "Wer bewacht die Wächter?" wird nicht mehr nur den Datenschutz betreffen, son dern das Alltagsleben. Die Interface-Lesbarkeit zwischen Mensch und Maschine bringt Entscheidungsprobleme. Wenn ich das Haus verlas se, soll mein denkender Thermostat dann die Heizung runterfahren, oder hole ich bloß die Sonntagszeitung? Die Fähigkeit, Bedeutung aus Schlußketten zu gewinnen, wird Mode werden: jede Hausfrau eine inferentialistische Philosophin, jeder Ehemann ein kleiner Robert Brandom. Am Ende mag sich zeigen, daß die neue, nachweberianische kapita listische Arbeitsethik des Computing, die gern als kreativ, flexibel und virtuell gesehen wird, einer neuen, nur ein wenig anders gewich tenden Disziplinierungsmaschine ähnelt. Nehmen Geräte uns wirklich Arbeit ab, oder verteilen sie diese nur um? Eine einzelne Maschine spart Aufwand; ein Ensemble aber verändert die Art und Weise, wie gearbeitet wird, nachhaltig und als Ganzes. Vielleicht erspart uns Ubicomp die soziale Frage also gerade nicht, obwohl manche gerade darauf zu hoffen scheinen. Was wäre, wenn wir vielmehr genötigt würden, sie neu zu formulieren? Und was ist mit jenen, hier und an derswo, für die trotz oder wegen Ubicomp Erziehung gleich welcher Art, alt oder neu, und ein erfülltes Berufsleben unerreichbar bleiben? DIETMAR DATH Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.2002, Nr. 1 / Seite 39
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Revolution am Küchenherd Voll automatisiert und total vernetzt: Kühlschränke bestellen die Le bensmittel, Toaster sagen das Wetter voraus. Aber kulinarisch hat die Küche der Zukunft wenig zu bieten. Das Kochvergnügen beginnt nicht erst am Herd: Frische Steinpilze auf dem Wochenmarkt einkau fen, zugleich in die Welt betörender Düfte eintauchen, exotische Früchte und Gewürze entdecken, einem glitzernden Roten Knurrhahn in die Augen schauen, mit der Käsefrau plaudern und ein reifes Gaiskäsli probieren. Das war einmal. Der Einkauf als sinnliche Vor freude auf das Kochen gehört bald der Vergangenheit an. Die intelligenten und vernetzten Küchen der Zukunft sind nüchtern technoid: Geschirrspüler ermitteln automatisch den Wasserhärtegrad und die Verschmutzung des Geschirrs, um das Spülmittel optimal zu dosieren; Kühlschränke sind mit einer eigenen Homepage ausgestat tet und bestellen selbständig per E-Mail den Vorratsnachschub; Her de mit eingebauten Rezeptdatenbanken steuern die geeigneten Gar verfahren; Toaster mit Online-Anschluß rufen den aktuellen Wetter bericht ab und brennen Sonnen-, Wolken- oder Regen-Piktogramme auf die Scheiben; und Mikrowellengeräte können nicht nur Speisen aufbereiten, sondern sind auch für das Online-Banking tauglich. Die schöne neue Küchenwelt bezieht ihre Intelligenz sowohl aus eige nen Rechnern als auch aus dem Internet. Die Geräte sind lernfähig und merken sich die Vorlieben der Anwender. Außerdem sind sie ver netzt und können miteinander kommunizieren - wenn sie sich verste hen, was derzeit nur selten der Fall ist. Denn die Hersteller haben sich bisher weder über den Standard der Vernetzungstechnologie noch den der internen und externen Datenübertragung einigen können. Wenigs tens sind sich alle über die erklärten Ziele der Küchenrevolution einig: Arbeitserleichterung, Zeitgewinn, Energiespareffekte, Verbesserung der Lebensqualität, Bequemlichkeit und Sicherheit. Soviel uneigennützige Fürsorge macht skeptisch. Braucht man wirk lich einen "Screenfridge" genannten Kühlschrank von Electrolux (www.electrolux.com/screenfridge), der als Steuerzentrale für alle miteinander vernetzten Geräte dient? Mit ihm läßt sich also nicht nur die Rezeptdatenbank des Backofens online aktualisieren, auch Fern sehapparat, Waschmaschine und HiFi-Anlage werden durch Antippen
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der Menüfelder auf einem flachen Bildschirm (Touch-Screen) akti viert. Und was ist mit der sogenannten SkyBox (www.identechpartners.ch), einem Zwitter aus Briefkasten und Kühlschrank? Per Chipkarte ist diese Errungenschaft für Lieferanten von außen zugäng lich, so daß die Kühlkette auch dann nicht unterbrochen wird, wenn niemand zu Hause ist. Allerdings ist die SkyBox fast so groß wie eine Telefonzelle, steht am besten vor der Haustür im Garten und ist so mit nicht für eine Etagenwohnung geeignet. Oftmals handelt es sich auf dem Sektor der intelligenten Haushalts geräte nur um Prototypen, die zwar schon angeboten werden, aber noch nicht serienreif sind. Trotzdem werden eifrig Szenarien für die nahe Zukunft entworfen. In Japan wird überlegt, ob Sensoren im WC nicht die Fäkalien analysieren sollten, um einen Mangel in der Ernäh rung festzustellen. Das Klosett könnte also den Speiseplan aufstellen, was medizinisch sinnvoll, aber auch gewöhnungsbedürftig wäre. Ak zeptabel erscheint dagegen das interaktive Frühstückstablett mit Warmhaltefunktion für Kaffee und Croissants sowie mit einem integ rierten Flachbildschirm, der das digitalisierte Morgenblatt zeigt. Auch eine Vernetzung von Kühlschrank, Herd und Backofen bringt Vorteile, könnte man doch schon am Vortag ein Gericht oder sogar ein ganzes Menü quasi vorbestellen. Die Lieferbox oder der Kühlschrank könnte zudem beim Einscannen der Lebensmittel bereits dem computerge steuerten Müllsortierer Art und Menge der Verpackungen mitteilen, damit dieser rechtzeitig Vorkehrungen für Trennung und Entsorgung trifft. Zu guter Letzt würde das computergesteuerte Energiemana gement den Stromkonsum aller Geräte überwachen und den Ge schirrspüler beispielsweise erst dann einschalten, wenn der Tarif be sonders günstig ist. Voraussetzung für eine solche intelligente Küche wäre: Sämtliche Geräte müßten ständig betriebsbereit sein. Das würde massenhaft Strom verbrauchen. In deutschen Privathaushalten kostet der Standby-Betrieb schon jetzt jährlich rund 4,5 Milliarden Mark. Der schlei chende Stromverbrauch total vernetzter Haushalte dürfte noch deut lich höher ausfallen. Soviel könnte auch das zukünftige Energiema nagement nicht einsparen. Hinzu käme noch der Verbrauch durch zusätzliche Geräte wie die ausgewachsene SkyBox. Kein Wunder al so, daß die großen Elektrizitätskonzerne ein ausgeprägtes Interesse am vernetzten Haushalt haben und sich mit viel Engagement an Pi lotprojekten beteiligen. Der Essener Energieversorger RWE etwa bie
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tet schon heute mit den E-Home-Services ein Komplettpaket für die Steuerung des vernetzten Haushalts an (www.rwe-powerline.de). Die propagierte Arbeitserleichterung ist weiter zu relativieren. Damit der Kühlschrank selbst einkaufen kann, müssen zuerst alle Lebens mittel wie an der Kasse im Supermarkt beim Einräumen manuell ein gescannt und beim Herausnehmen ausgecheckt werden. Beim "Intel ligenten Gefrierschrank" von Liebherr und bei der Kühlschrankvarian te von Neurotec übernehmen Funkerkennungssysteme diese Arbeit und informieren zugleich über das Verfallsdatum der Produkte - al lerdings nur bei Waren, die mit Funketiketten ausgestattet sind. Die se Spezial-Labels gibt es bereits, sie sind aber sehr teuer. Als Gipfel der Bequemlichkeit gilt die Bedienung der Küchengeräte über Spracherkennung. Auch diese Technologie ist schon im Einsatz, funktioniert jedoch - ähnlich wie Übersetzungssoftware - nicht be sonders gut. Selbst bei einer optimierten Spracherkennung ist es wesentlich bequemer, einen Schalter oder eine Taste anzutippen. So sind derzeit die meisten Geräte noch nicht ausgereift. Zudem tritt der vom Koch zum User degradierte Gourmet künftig nur noch als Moderator bei der Gerätekommunikation auf. Durch die intelligente Technologie entmündigt, wird seine Kreativität stark eingeschränkt. Und auch die Sinnlichkeit und die Hingabe bei der Zubereitung der Speisen werden aus der intelligenten Küche verbannt. Statt dessen folgen die computergesteuerten Maschinen, sich selbst überlassen, den stereotypen Gesetzmäßigkeiten des digitalisierten Einheitsbreis. Die technischen Voraussetzungen für das smarte Kochen oder das Highspeed-Cooking sind bereits Realität, und diese technizistisch infantilen Wortschöpfungen lassen kulinarisch wenig Gutes erwarten. So will man sich wünschen, daß die Küche der Zukunft nicht auch die Zukunft der Küche ist. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.11.2001, Nr. 45 / Seite 61
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Die große Heimleuchtung Beginnt das Jahrhundert des Photons?
Die Vision scheint wie fürs Kameraauge eines Stanley Kubrick ge schaffen: kühl, auratisch und monumental. Da er sie aber nicht ver filmt hat, stellt sich die Frage: Wie hat man sich so etwas vorzustel len? Gemeint ist ein Computer aus Licht. Die technischen Parameter sind gar nicht so geheimnisvoll. In einer würfelförmigen Vakuumkammer von fünf Metern Länge erschaffen drei große Laser-Arrays eine stehende Lichtwelle. Ein kohärenter Elektronenstrahl wird von einer Quelle in die Kammer geworfen. Wohlgeordnete, intensive Lichtwände lenken die Elektronen durch die Schichten des Würfels hindurch ab und streuen sie. Mit jeder Verän derung ihrer Phase und Intensität führt das System eine neue Rech nung durch. Im Nanosekundentakt rekonfigurieren SupercomputerSteuereinheiten die interne Lichtarchitektur des Kubus zu neuer "Hardware", die freilich alles andere ist als hart. Die Maschine ist geräumig, sauber und von außen so opak wie die schwarzen Monolithen aus Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum". Ihre Rechenleistung aber übertrifft die der Gesamtkapazität sämtli cher am Internet hängender Silizium-Chip-Rechner. Und wo steht sie nun, diese wunderbare Anlage? Einstweilen nirgends. Der australi sche Computerprogrammierer und Schriftsteller Greg Egan hat sie sich 1995 ausgedacht und um den Kristallkern dieser Idee herum eine Erzählung namens "Luminous" geschrieben. In Egans Szenario wurde die Inbetriebnahme des phänomenalen Lichtrechners in eine nicht allzu ferne Zukunft verlegt, die er allerdings mit keiner konkre ten Jahreszahl versehen hat. Obwohl die der ganzen Phantasie zugrunde liegende Physik soweit plausibel ist, wenn auch effekthal ber übertrieben, war Egan Pessimist: Mit der Schaffung eines derar tigen Computers in den Heimatstaaten der mikrotechnologischen Revolution (Japan, den Vereinigten Staaten und den Ländern der Europäischen Union) sei nicht zu rechnen. Da die ebenso leistungs starke wie wunderschöne Technologie des "Luminous"-Rechners wohl ziemlich störungsanfällig wäre und vergleichsweise viel Raum brauchte, widerspräche sein Bau sowohl dem westlich-japanischen
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Miniaturisierungstrend wie den Profitinteressen der Computerbran che. Daher ist der Apparat bei Egan eine chinesische Errungenschaft. Nur die zentralistische und dirigistische Volkswirtschaft des Sinoso zialismus schien dem Visionär 1995 fähig, genügend Geduld und Mit tel aufzubringen, um sein genialisches Projekt zu verwirklichen. Inzwischen aber sieht es so aus, als wäre das etwas zu düster gedacht gewesen. Denn die Vision schießt zwar, wie das bei Technikvisionen häufiger der Fall ist, über die wirtschaftliche und technische Wirklich keit hinaus, aber Licht beschäftigt derzeit die Wissenschaften wie lan ge nicht mehr. Und optische Technologien, von der Glasfasertechnik bis zur Lithographie mit ultraviolettem Licht in der Chipherstellung, erregen weltweit Interesse. Schon Ende 1999, vier Jahre nach der Veröffentlichung von "Luminous" durch eine amerikanische Sciencefiction-Zeitschrift, brachten die "Philosophical Transactions of The Roy al Society" im Rahmen ihrer "Millennium Issue" mehrere Arbeiten, die selbst den vorsichtigen Physiker Roger Penrose dazu veranlaßten, auf die Zukunftsoption ungeahnter computer- und kommunikationstechni scher "Nutzungen von optischen Fasertechnologien oder Lichtstrahlen direkt" hinzuweisen. Während die Grundlagenforschung im Labor die Informationsmenge pro Kanal ebenso wie die Anzahl der Kanäle pro Faser stetig erhöht, zeichnen sich für die vorhandenen Netze aller dings ein paar Probleme ab: Lichtimpulse bedürfen alle siebzig Kilome ter der Verstärkung, die im Gebrauch befindlichen Verstärker aber haben Schwierigkeiten, mit der Komplexität der Signale mitzuhalten. Die Netze sind, wenn die neuen Techniken erst einmal Einzug halten werden, vielerorts dazu verdammt, zu Flickwerk zu verkommen. Wenn nämlich die informationstragenden Lichtteilchen, die Photonen, durch das Kabelnetz sausen, um Bilder, Töne oder eine Website zu übertra gen, stoßen sie früher oder später auf Hindernisse, bei denen sie in Elektronenströme verwandelt werden müssen, um elektronische Schaltungen und Router zu passieren. An diesen Schnittstellen kann einiges schiefgehen. Die Technikentwicklung weist daher deutlich in Richtung der eben erst Gestalt annehmenden sogenannten "Mikropho tonik"; darunter versteht man ein Ensemble winziger optischer Geräte, welche die alten, vergleichsweise lahmen Schalteinheiten ersetzen sollen. Die "Technology Review" des Massachusetts Institute of Tech nology reihte die Mikrophotonik im Februar 2001 deshalb neben flexib len Transistoren und der Software von Suchmaschinen unter die "Technologien, die demnächst die Welt verändern werden", ein. Ange sichts derartiger Phantasien und Trends sieht sich die internationale
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Wissenschaftlergemeinschaft mancherorts bereits veranlaßt, die Ablö sung des "Jahrhunderts des Elektrons" durch das "Jahrhundert des Photons" auszurufen, wie jüngst in der Juli/August-Ausgabe der "Phy sikalischen Blätter" geschehen, dem offiziellen Mitteilungsblatt der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Die vielversprechende Ablösungsmetapher, die da zwischen der alten Elektronik und dem neuen Lichtzauber aufgespannt wird, ist indes ein wenig schief. Nicht nur poetische Sehnsucht nach der Identität der Gegensätze und Visionäres wie Egans "Luminous"-Gedankenexperiment, auch die industrielle, wissenschaftliche und kulturelle Realität verweisen darauf, daß die "überkommene" Elektronik und die "neue" Photonentechnik eher ein ergänzendes Verhältnis zueinander haben als eines der Konkurrenz oder gar Überwindung. Aus dem ästhetischen Milieu der elektronischen Massenkultur sind Lichteffekte ohnehin nicht wegzudenken. Kein Einbruch im Hollywood-Thriller ohne mit Spray sichtbar gemachte Bewegungsmelder-Laserstrahlen, keine Feier der elektronischen Musik ohne Bilder vom CD-lesenden Laser, kein Horror film ohne fahles blaues Leuchten auf Gesichtern oder Messerklingen. Vom Lichtschwert des "Star Wars"-Jediritters und der grünlichen Lu mineszenz der Zahlenkolonnen im Film "Matrix" über Computerspiele bis hin zu den Veränderungen des Blicks auf die Welt, die der Gebrauch einer gewöhnlichen digitalen Fotokamera mit sich bringt, leben die Sinne der Menschen überall bereits im Fluidum des photoni schen Jahrhunderts; dennoch ist es die gute alte Elektronik, die jene Lichtsignale aussendet und koordiniert. Das leuchtende Band, das all diese Phänomene verbindet, ist eines der "zweiten Natur", das heißt, es ist von Menschen gemacht. Aber während mancher Stern über den Lichtermeeren der großen Städte nachts längst nicht mehr hell genug leuchtet, um mit bloßem Auge überhaupt erkennbar zu sein, reicht das Wechselspiel von Licht und Materie in Wahrheit bis hinunter in subatomare Bereiche. Betrachtet man die Geschichte eines der erfolgreichsten Forschungszweige, die je zur Physik gehört haben, nämlich der Quantenmechanik, dann wird die Verschränktheit der Geheimnisse masseloser "Bosonen" wie des Lichts und davon unterschiedener "Fermionen" wie des Elektrons deutlich. So war es eingangs vor allem Albert Einsteins Anwendung des Planckschen Gedankens eines naturgegebenen "Wirkungsquan tums" auf die Erklärung des photoelektrischen Effekts, die der neuen Disziplin nach 1905 den Weg wies. Dieser Effekt, bei dem das bloße
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Beleuchten von Metallplatten Elektronen freisetzt, war rätselhaft ge wesen, bis Einstein feststellte, daß es ebendie (später Photonen ge nannten) Lichtquanten seien, welche die Elektronen aus dem Metall "herausschlugen". Zahlreiche seltsame Verhaltensweisen der Teil chen der Quantenwelt, etwa den Dualismus von Welle und Teilchen, der es erlaubt, an Partikeln unter bestimmten Bedingungen Wellen eigenschaften nachzuweisen, haben Elektronen und Photonen ge mein. Nicht zuletzt darauf basiert ja auch der Egansche "Luminous"Gedanke: Materie, das heißt die Elektronenhülle von Atomen, kann eben nicht nur Licht ablenken, sondern "Lichtwände" können auch umgekehrt Elektronenstrahlen steuern. Daß eine fundamentale Naturgegebenheit wie das Licht, von deren Semantik die Sprache zahlreiche Metaphern für Klarheit, Einsicht und Erkenntnis bezogen hat, die begriffsbildenden Fähigkeiten des Men schen anhaltend fordert und strapaziert, dafür lassen sich auch heute noch kaum bessere Formulierungen finden als Einsteins Sätze aus dem Jahre 1951, als er den betreffenden Problemen bereits sein hal bes Leben gewidmet hatte: "Fünfzig Jahre angestrengten Nachden kens haben mich der Antwort auf die Frage ,Was sind Lichtquanten?' nicht nähergebracht. Heute bilden sich Hinz und Kunz ein, es zu wis sen. Aber da täuschen sie sich." DIETMAR DATH Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.08.2001, Nr. 188 / Seite 41
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