ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 7 von Murray Leinster Eric Frank Russell T. H. Mathieu Frank Belknap Long James ...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 7 von Murray Leinster Eric Frank Russell T. H. Mathieu Frank Belknap Long James Causey
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2833 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt
Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1971 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1971 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02833 0
Um auf Xosa II landen zu können, mußte das Landegerät repariert werden. Aber wie sollte man an die benötigten Ersatzteile herankommen, wenn das Schiff, das sie brachte, den Planeten umkreiste und nicht landen konnte, weil das Landegerät ausgefallen war? IM TEUFELSKREIS von Murray Leinster Die Sonne verlöscht, der Planet erkaltet, alles Leben wird vergehen, aber bis zuletzt gehen die Impulse von der Erde hinaus in die endlosen Weiten des Alls. ABENDDÄMMERUNG DER MENSCHHEIT von Eric Frank Russell Es sah so harmlos aus, aber sein Biß war tödlich. Hamilton mußte das mausähnliche Biest wieder einfangen, bevor sie auf der Erde landeten, denn sie hatten den TOD AN BORD von T. H. Mathieu Ein Schritt genügte, und sie befanden sich in einem Alptraum, der schreckliche, tödliche Wirklichkeit geworden war. STURZ VON DER MAUER von Frank Belknap Long Je grausamer das Spiel, desto höher die Zuschauerbeteiligung. Und die überzeugendste Rolle spielte der Tod. LACHE, BAJAZZO von James Causey
Murray Leinster IM TEUFELSKREIS
Als die unangenehmen Vibrationen der Raketentriebwerke das Schiff erzittern ließen, wußte Bordman, daß etwas nicht stimmte. Die Benutzung der Triebwerke war seit einiger Zeit nur für den äußersten Notfall vorgesehen, so daß offensichtlich etwas Unvorhergesehenes eingetreten sein mußte. Er blieb still sitzen. Er hatte im Passagierraum der WARLOCK gelesen – einem recht kleinen Aufenthaltsraum –, aber als erfahrener Kolonialinspektor im Offiziersrang war er weitgereist genug, um zu merken, wenn etwas nicht in Ordnung war. Abwartend blickte er vom Leseschirm auf, aber niemand kam, um ihm dieses regelwidrige Einschalten der Triebwerke zu erklären. Auf einem Linienschiff hätte er nicht lange auf eine solche Ansage warten müssen, aber die Warlock war praktisch ein Trampschiff. Auf dieser Reise hatte sie sogar nur zwei Passagiere an Bord. Der Planet, den sie ansteuerte, war noch nicht für den Passagierverkehr zugelassen. Er konnte auch erst dafür in Betracht gezogen werden, wenn Bordman den Bericht abgefaßt hatte, der Zweck seiner Reise war. Im Augenblick jedenfalls arbeiteten die Triebwerke mit voller Kraft, dann schwiegen sie plötzlich, um gleich darauf wieder loszudröhnen. Kein Zweifel – da stimmte etwas nicht. Der einzige andere Passagier – eine ungewöhnlich attraktive Indianerin – kam aus ihrer Kabine und sah sich überrascht um. Sie hieß Aletha Redfeather. Das Mädchen war ungewöhnlich genügsam auf dieser langweiligen Raumreise, und Bordman mochte sie. Sie besuchte Xosa II als Vertreterin der
Gesellschaft für Indianische Geschichte, hatte aber eigene Lesebänder und eine komplizierte Handarbeit mitgebracht, mit der sie sich beschäftigte. Sie war ihm ganz und gar nicht auf die Nerven gefallen. Jetzt legte sie den Kopf schief und blickte Bordman fragend an. »Ich weiß auch nicht«, sagte er, als im gleichen Augenblick ein besonders starker und nachhaltiger Raketenstoß seine Stuhlbeine auf dem Boden rattern ließ. Es folgte ein langes Schweigen, dann kam ein noch kräftigerer, aber kürzerer Raketenstoß, dann ein noch kürzerer – und schließlich eine Erschütterung von kaum einer halben Sekunde, die nur aus einer einzigen Raketendüse stammen konnte, weil sie kaum noch spürbar war. Dann blieb es still. Bordman runzelte die Stirn. Er hatte damit gerechnet, daß das Schiff in wenigen Stunden landen würde, und hatte gerade noch einmal seine Richtlinien durchgearbeitet und sich mit der Arbeit vertraut gemacht, die er auf Xosa II inspizieren sollte. Es handelte sich um eine völlig normale Anlage auf einem Mineralien-Planeten, und er hatte damit gerechnet, eine VEKlassifizierung erteilen zu können – voll erschlossen. Außerdem wären wahrscheinlich die Kennziffern TE und NQ in Frage gekommen, wonach eine Touristenerlaubnis gegeben werden konnte und eine Quarantäne nicht erforderlich war. In Anbetracht der Trockenheit des Planeten war mit bakteriologischen Gefahren nicht zu rechnen, und wenn sich Touristen für die gewaltigen Wüsten und teuflischen Windskulpturen interessierten – nun, dann waren sie herzlich willkommen. Aber das Schiff hatte in unmittelbarer Nähe des Planeten seinen Raketenantrieb eingeschaltet – ein Notfall war eingetreten. Und das war lächerlich auf einer derartigen Routinereise, deren Zweck es war, schwere Maschinen – insbesondere eine Schmelzanlage – nach Xosa II zu transportieren – und einen Kolonialinspektor, der die
Fortschritte der ersten Aufbaustufe begutachten sollte. Aletha schien auf weitere Raketenschübe zu warten. Dann lächelte sie. »Wenn das in einem Abenteuerfilm geschähe«, sagte sie fröhlich, »würden die Lautsprecher gleich verkünden, daß sich das Schiff in eine Kreisbahn um den fremden, unerschlossenen Planeten begeben hat, den wir vor drei Tagen gesichtet haben, und daß noch Freiwillige für die Bootslandung benötigt werden.« Bordman erwiderte ungeduldig: »Verschwenden Sie Ihre Zeit, indem Sie Abenteuerfilme ansehen? Das ist doch nur Unsinn! Eine reine Zeitverschwendung!« Wieder lächelte Aletha. »Meine Vorfahren«, erzählte sie, »veranstalteten Stammestänze und machten Medizin und rühmten sich ihrer vielen Skalps und der Art und Weise, in der sie sie errangen. Es entsprach einem inneren Bedürfnis und wirkte erzieherisch auf die Jungen. Die Aufwachsenden wurden mit dem vertraut gemacht, was wir heutzutage ›Abenteuer‹ nennen, und wenn es dann soweit war, waren sie wenigstens darauf vorbereitet. Ich kann mir vorstellen, daß sich Ihre Vorfahren Geschichten über die Mammutjagd oder ähnliches erzählt haben. Ich würde es jedenfalls ganz lustig finden zu hören, daß wir in einer Kreisbahn sind und daß eine Bootslandung bevorsteht.« Bordman brummte. Abenteuer waren ein Ding der Vergangenheit. Das Universum war besiedelt, zivilisiert. Natürlich gab es noch unerschlossene Grenzplaneten – Xosa II zum Beispiel –, aber das Leben der Pioniere war kein Abenteuer – es war nur beschwerlich. In diesem Augenblick knackte der Schiffslautsprecher, und eine Stimme sagte kurz: »Achtung. Wir haben Xosa II erreicht und sind in eine Kreisbahn eingeschwenkt. Es wird eine Bootslandung stattfinden.«
Bordman sank die Kinnlade herunter. »Was zum Teufel soll das?« fragte er. »Vielleicht ein Abenteuer«, sagte Aletha. Beim Lächeln erschienen reizende Grübchen in ihren Augenwinkeln. Sie trug moderne Indianerkleidung – ein Zeichen des Stolzes auf ihre Rasse, die jetzt in so verschiedenen Unternehmungen wie interstellare Stahlkonstruktion, Landwirtschaft und die Kolonisierung von Llano-Planeten tätig war. »Wenn sich das wirklich zu einem Abenteuer entwickelt, müßte ich als einziges Mädchen natürlich zu der Landegruppe gehören, damit das Warten in der Kreisbahn die – « ihr Lächeln erweiterte sich zu einem Grinsen – »die aufgestaute Unruhe der schwierigeren Mannschaftsmitglieder nicht…« Wieder knackte es im Lautsprecher. »Mr. Bordman. Miss Redfeather. Soweit sich aus den Mitteilungen der Bodenstation ersehen läßt, wird das Schiff wahrscheinlich ziemlich lange in der Kreisbahn bleiben. Dementsprechend werden Sie im Boot nach unten gebracht. Würden Sie sich bitte fertigmachen und sich im Bootshangar melden?« Die Stimme hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu: »Bitte nur Handgepäck.« Aletha strahlte. Bordman durchlebte den schockierten Unglauben eines Mannes, dessen geliebte Routine plötzlich auf unvorstellbare Weise durchbrochen wird. Natürlich war es schon vorgekommen, daß Inspektionsschiffe aus einer Kreisbahn heraus Bootslandungen ausgeführt hatten, und die Kolonieschiffe ließen ohnehin automatische Raketenschiffe hinab, solange es noch kein Landegestell gab, mit dem das Hauptschiff heruntergeholt werden konnte. Seines Wissens hatte aber noch kein Frachter, der eine auf die Schlußinspektion vorbereitete Kolonie besuchte, seine Passagiere mit dem Boot abgesetzt. »Das ist lächerlich!« sagte Bordman.
»Vielleicht wird’s ein Abenteuer«, sagte Aletha. »Ich gehe jedenfalls packen.« Sie verschwand in ihrer Kabine. Bordman zögerte und ging dann in seinen Raum. Die Kolonie auf Xosa II war vor zwei Jahren gegründet worden, wobei man innerhalb von sechs Monaten die Minimum-Komfort-Bedingungen erreicht hatte. Nach einem Jahr stand bereits das vorläufige Landegestell für leichte Versorgungsschiffe. Das Landegestell war schließlich wieder abgerissen worden, um durch ein endgültiges Gestell ersetzt zu werden, bei dem alle Möglichkeiten berücksichtigt waren. Die acht Monate seit der letzten Schiffslandung hätten in jedem Fall für den Wiederaufbau des gigantischen spinnennetzartigen, fast tausend Meter hohen Gebildes ausreichen müssen, das den interstellaren Handelsverkehr dieses Planeten bewältigen sollte. Für einen Alarmfall wie diesen gab es keine Entschuldigung. Eine Bootslandung war undenkbar! Aber er sichtete doch seine Habe. Die Ladung der Warlock bestand im wesentlichen aus Teilen der Schmelzanlage, die die Ausrüstung der Kolonie vervollständigen sollte. Es war vorgesehen, diese Maschinen zuerst zu entladen, damit die Schmelzanlage, wenn die Laderäume ganz leer waren, schon in Betrieb genommen werden konnte. Das Schiff sollte eine volle Ladung Roheisen an Bord nehmen und dann erst wieder starten. Bordman war davon ausgegangen, daß er während seiner Inspektion in der Kabine leben und mit dem Schiff wieder abreisen konnte. Jetzt wurde er also mit dem Boot nach unten gebracht. Er ärgerte sich. Das einzige Stück, das er vielleicht brauchen würde, war sein Hitzeanzug, aber er zweifelte eigentlich daran. Er packte einige Kleidungsstücke ein und legte trotzig seine Richtlinien und die Unterlagen über die Koloniespezifikation dazu. Er wollte sich sofort nach der Landung an die Arbeit machen.
Er verließ den Passagierraum und begab sich zur Bootsschleuse. Aus der Luke des Bootes ragte das Bein eines Technikers, der sich im gleichen Augenblick aufrichtete und mit ernstem Gesicht einen Streifen aus dem Computer des Bootes mit einem ähnlichen Streifen aus dem Schiffsautomaten verglich. Bordman war sich bewußt, daß er sich wie ein typischer Passagier verhielt, als er fragte: »Was ist los?« »Wir können nicht landen«, sagte der Ingenieur knapp. Und er marschierte davon – der Tradition folgend, nach der das Schiffspersonal seinen Passagieren stets mit Verachtung begegnet. Bordman runzelte die Stirn. In diesem Augenblick kam Aletha mit einem leichten Koffer herbei. Bordman stellte ihn in das Boot, wobei er sich an der Enge der Kabine störte. Aber es handelte sich nicht um ein Rettungsfahrzeug, sondern um ein Landungsboot. Ein Rettungsboot war mit einem Lawlor-Antrieb ausgestattet und konnte Lichtjahre zurücklegen, aber um das zu erreichen, waren an Stelle der Raketen und des Raketentreibstoffs Luftreiniger- und Wassererneuerungsanlagen und Nahrungsmittellager eingebaut. Ohne Landegestell konnte ein solches Boot nicht auf einem Planeten niedergehen, sondern sich nur in die Nähe einer zivilisierten Welt manövrieren. Dieses Landeboot dagegen konnte ohne Gestell aufsetzen wobei allerdings seine Luftvorräte knapp bemessen waren. »Da muß irgendeine Schweinerei passiert sein«, sagte Bordman düster. Aber er kam nicht dahinter. Er befand sich an Bord eines Frachtschiffes. Frachtschiffe starteten oder landeten nicht aus eigener Kraft – das hätte zu große Treibstoffvorräte erforderlich gemacht. Vielmehr kam die Energie von den Landegestellen, die die Schiffe ins All hinaushoben oder wieder herabzogen. Aus diesem Grunde hatten die Schiffe
Treibstoff nur für den eigentlichen Raumflug an Bord, was sehr wirtschaftlich war. Ein Landegestell hatte aber keine beweglichen Teile, und obwohl es naturgemäß sehr groß sein mußte, gewann es seine Energie aus der Ionosphäre seines Planeten. Ohne einen anfälligen Mechanismus oder eine Energiequelle, die versiegen konnte, war es undenkbar, daß ein Landegestell ausfiel! Es konnte also kein Notfall eingetreten sein, der das Schiff zwang, um einen Planeten zu kreisen, der ein Landegestell hatte! Der Ingenieur kam zurück. Er trug einen kleinen Beutel voller Briefrollen und winkte den beiden zu. Aletha kroch durch die Luke des Landebootes, und Bordman folgte ihr. Theoretisch hätten sich vier Menschen in das kleine Schiff zwängen können, das aber schon mit drei Passagieren ziemlich ausgefüllt war. Der Ingenieur folgte ihnen und schloß die Luke. »Schott geschlossen«, sagte er in das Mikrofon vor sich. Die Außendruck-Nadel bewegte sich und blieb auf halber Höhe stehen. Der Innendruck-Anzeiger rührte sich nicht. »In Ordnung«, sagte der Ingenieur. Der Außendruck-Anzeiger fiel auf Null. Ein Dröhnen war zu hören, und die länglichen Wände des Bootshangars glitten zur Seite, so daß sich das Landungsboot plötzlich in einer ovalen Vertiefung der Schiffshülle befand. Über ihm leuchteten unzählige Sterne. Die Scheibe des nahen Planeten kam um das Schiff herum in Sicht – ein gewaltiges, grell leuchtendes Gebilde. Es war braun – mit großen, unregelmäßigen gelben und bläulich gefärbten Stellen. Die sandfarbenen Flächen, die den größten Teil des Planeten einnahmen, schimmerten in unzähligen Hell- und Dunkelschattierungen, und am Rand erstreckte sich eine blendende Helle, bei der es sich nur um eine Polkappe handeln konnte. Aber Bordman wußte, daß dieser Planet keinen einzigen Ozean, keinen See und keinen
Teich hatte und daß es sich bei dieser Polkappe mehr um Rauhreif als um eine kilometerdicke Gletscherbildung handeln konnte wie sie an den Polen einer Maximum-Komfort-Welt zu finden war. »Anschnallen«, sagte der Techniker über die Schulter. »Gleich kommt die Schwerkraftlosigkeit und dann der Raketenstoß. Kopf gut anlehnen.« Bordman schnallte sich gereizt an. Er sah, daß sich Aletha mit leuchtenden Augen der gleichen Beschäftigung widmete. Ohne Vorwarnung überfiel ihn ein Gefühl des Unwohlseins. Das Landungsboot löste sich vom Schiff und aus seinem kleinen künstlichen Schwerkraftfeld. Plötzlich war keinerlei Anziehung mehr zu spüren, und Bordman hatte das kurze übelkeiterregende Schwindelgefühl, das der abrupte Übergang zur Schwerelosigkeit immer hervorruft. Gleichzeitig begann sein Herz heftig zu schlagen in der instinktiven, rassenbewußten Reaktion auf das Gefühl des Fallens. Dann kam der Donner der Raketen. Bordman wurde heftig in den Sitz gedrückt, und seine Zunge wollte ihm die Atemwege verschließen. Eine gewaltige Last drückte ihm auf die Brust, und panikerfüllt fluchte er unhörbar vor sich hin. Jetzt verdunkelten sich die Bullaugen, denn sie hatten den Schatten des Schiffes verlassen. Das Landungsboot wechselte den Kurs – ohne daß eine Zentrifugalkraft spürbar wurde – und tauchte in eine allesumfassende Dunkelheit, in der die Planetenoberfläche nur als undeutlicher Schimmer zu erkennen war. Hinter dem Landungsboot leuchtete mit entsetzlicher Kraft eine blauweiße Sonne. Trotz des polarisierten Schutzglases war ihr Licht unerträglich heiß. »Haben… haben Sie gesagt«, keuchte Aletha, der die Beschleunigung den Atem geraubt hatte, »daß wir kein Abenteuer erleben würden?« Bordman antwortete nicht. Unbequemlichkeit rechnete er nicht als Abenteuer.
Der Techniker verschwendete keinen Blick auf die Bullaugen. Er beobachtete den Schirm vor sich. Auf der erleuchteten Scheibe zog sich eine senkrechte Linie hin, an der sich ein Lichtpunkt abwärts bewegte und so die Flughöhe in Einheiten von tausend Kilometern markierte. Nach längerer Zeit erreichte der Punkt das untere Ende, die senkrechte Linie verdoppelte sich, und ein anderer Lichtpunkt begann abzusinken. Diese Linie gab die Flughöhe in hundert Kilometern an. Ein heller viereckiger Lichtfleck erschien auf einer Seite des Schirms. Eine Stimme begann metallisch zu murmeln, schien plötzlich zu schreien und wurde wieder leise. Bordman blickte aus einem der schwarzen Bullaugen und sah den Planeten wie durch rauchgeschwärztes Glas – ein geisterhaft rotes, geflecktes Gebilde, das den halben Kosmos ausfüllte. Sein Rand war gekrümmt. Das mußte der Horizont sein. Der Ingenieur bediente die Kontrollen, und das weiße Quadrat wanderte über den Schirm. Andere Kontrollen wurden aktiviert, und es kehrte in die Mitte zurück. Der Lichtpunkt, der an den Hundert-Kilometer-Markierungen abwärts gewandert war, hatte jetzt die Unterkante erreicht; eine dritte senkrechte Linie erschien, und ein Zehn-Kilometer-Punkt begann abzusinken. Das Landungsboot geriet plötzlich in Bewegung und wurde wie von einer Riesenfaust hin und her geworfen. Es hatte die Ausläufer der Atmosphäre erreicht. Der Ingenieur stieß Worte aus, die für Alethas Ohren eigentlich nicht geeignet waren. Das Schütteln wurde womöglich noch heftiger. Bordman klammerte sich fest, um trotz der Sicherheitsgurte nicht in Stücke geschlagen zu werden, und starrte auf die düstere Oberfläche des Planeten. Sie schien vor dem Landungsboot zurückzuweichen, das sie offenbar zu überholen versuchte.
Ganz plötzlich wurde das Boot ruhiger. Das Viereck hüpfte in der Mitte des Astrogationsschirms herum, und der Ingenieur versuchte es mit Hilfe der Kontrollen zu bändigen. Vor den Bullaugen wurde es etwas heller. Bordman konnte die Oberfläche deutlicher erkennen. Mineralverfärbungen aller Schattierungen erstreckten sich zwischen weiten braunen Sandfeldern. Kurz darauf konnte er die Schatten von Bergen erkennen. Er machte Berghänge aus, zwischen denen Täler hätten liegen müssen, die aber statt dessen durch sandfarbene Flächen verbunden waren. Das mußten die Sandplateaus sein, die man auf diesem Planeten entdeckt hatte und deren Entstehungsgeschichte noch umstritten war. Aber daneben sah er auch leuchtend-gelbe und schmutzigweiße Flächen, rosarote und ultramarinblaue Flecken, graue und violette Streifen und das unglaubliche Rot des Eisenoxyds, das sich kilometerweit erstreckte. Es war unglaublich. Die Raketen setzten aus, und das Landungsboot schwang herum. Der Horizont richtete sich auf, und die grelle Landschaft drehte sich behäbig weg. Aus dem Lautsprecher ertönte ein Stakkato von Anweisungen, die der Ingenieur befolgte. Das Landungsboot schwang sich tief hinab in den Schatten von riesigen malvenfarbenen Berggipfeln, die ein Sandplateau begrenzten – dann richtete es sich wieder auf und verharrte. Im nächsten Augenblick setzten die Raketen wieder ein – in der Atmosphäre und nach der kurzen Stille wirkten sie entsetzlich laut –, und das Boot begann auf seinem Feuerschweif abzusinken. Eine gewaltige undurchsichtige Wolke aus Staub und Raketendämpfen verdunkelte die Sichtluken, so daß nichts mehr zu sehen war. Ein lautes Knirschen ertönte, und der Techniker fluchte verdrießlich vor sich hin. Schließlich schaltete er die Raketen wieder ab. Endgültig.
Bordman, der noch immer an seinen Stuhl gegurtet war, stellte fest, daß er nach oben starrte. Da das Boot auf seinen Schwanzflossen gelandet war, lagen Bordmans Füße höher als sein Kopf, und er kam sich ziemlich lächerlich vor. Er sah, wie sich der Techniker aus seinen Gurten befreite, und machte es ihm nach; aber es war absurderweise sehr schwierig, aus dem Stuhl freizukommen. Aletha schaffte es mit etwas mehr Eleganz. Sie brauchte keine Hilfe. »Wir warten«, sagte der Techniker unfreundlich, »bis jemand kommt.« Also warteten sie, wobei sie ihre bisherigen Rückenlehnen als Sitze benutzten. Der Techniker drückte auf einen Knopf am Kontrollbrett, und die Fenster wurden heller. Jetzt war die Oberfläche von Xosa II deutlicher zu erkennen. Nichts Lebendiges rührte sich. Der Boden bestand aus Kieseln und Sand und kleinen Felsen und Felsblöcken – Reste, die anscheinend von den sehr eindrucksvollen Bergen herabgerollt waren. Da waren gewaltige bunte Klippen und Mesas, an denen der Wind seine deutlichen Spuren hinterlassen hatte. Da war eine Kerbe in der Bergwand durch die eine seltsame, fächerförmige erstarrte Formation sichtbar wurde. Wenn es vorstellbar gewesen wäre, hätte Bordman das Gebilde für einen Sandfluß, für einen Wasserfall aus Sand gehalten. Und überall herrschte blendende Helle, überall sah und spürte man den brennenden Sonnenschein. Aber es war kein Blatt oder Ast oder Grashalm zu sehen. Ringsherum nur Wüste. Xosa II. Aletha blickte sich mit leuchtenden Augen um. »Herrlich, nicht?« fragte sie glücklich. »Ehrlich gesagt«, erwiderte Bordman, »habe ich in meinem ganzen Leben noch keinen Planeten erlebt, der weniger einladend und attraktiv ausgesehen hat.« Aletha lachte. »Ich sehe das anders.«
Und das war verständlich. Es hatte sich mit den Jahren die Ansicht durchgesetzt, daß die Menschheit zwar einer einzigen Spezies angehört, daß sie aber aus zahlreichen Rassen bestand, von denen jede den Kosmos mit eigenen Augen sah. Auf Kalmet III gab es eine starke, vorwiegend asiatische Bevölkerung, die an den zahlreichen Berghängen Terrassen angelegt hatte und dort Landwirtschaft trieb und die auf geschickte Weise moderne Methoden mit gesellschaftlichen Gewohnheiten verband, wie sie zum Beispiel auf Demeter I nicht anzutreffen waren. Hier gab es dafür zahlreiche StukkoStädte mit hübschen roten Ziegeldächern und Olivenhainen. Auf den Llano-Planeten der Equis-Wolke ritten Alethas Artgenossen eifrig über Ebenen, auf denen sich die Nachfahren von Buffalos und Antilopen und Rindern tummelten, die man von der alten Erde mitgebracht hatte. In den Oasen von Tustam IV gab es Dattelpalmen und Reitkamele und heftige Diskussionen, welche Richtung zur Gebetszeit als die Richtung nach Mekka anzusehen war. Ganze Provinzen auf Canna I bestanden aus Weizenfeldern, und hochzivilisierte Emigranten des irdischen Kontinents Afrika horteten in den Lagerhäusern ihrer Raumhafenstadt Timbuk Gummi und herrliche Edelsteine. Es war also nur natürlich, daß Aletha diese windgepeitschte Wildnis mit anderen Augen ansah als Bordman. Ihre Rassegenossen waren in diesen Tagen die Pioniere der Sterne. Aufgrund ihrer Herkunft hatten sie ohnehin nicht viel für das städtische Leben übrig. Ihre angeborene Schwindelfreiheit hatte sie zu den führenden Stahlkonstrukteuren des Kosmos gemacht, und mehr als zwei Drittel aller Landegestelle in der Galaxis trugen ihre Coup-Feder-Symbole an den Stützpfeilern. Die Planeten-Regierung auf Algonka V residierte in einem kilometerhohen weißen Indianerzelt aus Stein, und auf dem Llano-Planeten Chagan wurden die allerbesten Pferde von
Ranchern mit bronzener Haut und hohen Wangenknochen gezüchtet.
Der Techniker schnaubte verächtlich. Ein Vehikel umrundete eine Klippe und kam klirrend auf den exzentrischen Kriechrädern näher, die neugegründete Kolonien so zweckmäßig finden. Das Fahrzeug glitzerte. Es kroch über die hingestreuten Felsbrocken und glitt auf dem losen Schutt dahin. Schnell kam es heran. Wieder schnaubte der Techniker. »Das ist ja mein Vetter Ralph!« sagte Aletha erfreut. Bordman blinzelte und schaute noch einmal genauer hin. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen – aber es stimmte. Die Gestalt, die das Fahrzeug steuerte, war ein Indianer, der nur ein Lendentuch und dicksohlige Sandalen trug und der sich im übrigen drei Federn in sein Kopfband gesteckt hatte. Ganz abgesehen davon steuerte er das Fahrzeug nicht wie ein gewöhnlicher Sterblicher, sondern saß im Reitersitz auf einem halbzylindrischen Teil des Wagens, über das er eine bunt gemusterte Decke geworfen. Der Techniker knurrte entsetzt. Bordman machte sich schnell klar, wie vernünftig diese Fahrmethode war – hier auf diesem Planeten. Das Fahrzeug hüpfte und schwankte und rollte und kippte und ruckte nur so vorwärts. Es wäre Wahnsinn gewesen, sich einem normalen Sitz anzuvertrauen, dessen Rückenlehne den Fahrer bei einem Vorwärtsruck nur noch kräftiger nach vorn geworfen hätte, ohne bei einer entgegengerichteten Bewegung ausreichend zu stützen. Und zur Seite hin gab es schon gar keinen Halt. Es war wirklich vernünftig, das Fahrzeug wie ein Pferd zu reiten! Aber was die Bekleidung anging, war sich Bordman nicht so sicher. Der Techniker öffnete die Luke und knurrte feindselig: »Wissen Sie, daß wir eine Dame bei uns haben?«
Der junge Indianer grinste. Er winkte Aletha zu, die sich an einer Sichtluke die Nase plattdrückte. Und im nächsten Augenblick verstand Bordman auch den Grund für den leichten Aufzug. Luft drang durch die offene Luke herein – heiße, trockene Luft. Sie schien aus einem Ofen zu kommen! »Hallo, Letha!« rief der Reiter des geräderten Rappens. »Zieh dich für das Klima um oder nimm den Hitzeanzug, ehe du herauskommst.« Aletha kicherte. Bordman hörte eine Bewegung hinter sich. Im nächsten Augenblick kletterte Aletha schon aus der Luke und schwang sich hinab. Bordman hörte den Ingenieur knurren, und sah, wie Aletha ihren Vetter begrüßte. Sie hatte ihre indianisch geschnittene Kleidung, an die sich Bordman inzwischen gewöhnt hatte, abgelegt und war jetzt wie die angelsächsischen Mädchen gekleidet, wenn sie sich am Strand der kühleren Planeten sonnen. Einen Augenblick überlegte Bordman, daß sie sich einen Sonnenstich holen würde, aber dann machte er sich klar, daß Alethas indianischer Teint auch für derart starke Sonnenbestrahlung geeignet war. Der Wind würde ihre Haut kühlen, und ihr dichtes, glatt zurückgekämmtes Haar würde ein mindest ebenso guter Schutz gegen den Sonnenstich sein wie ein Hitzehelm. Es mochte ihr warm werden, aber sie würde keine Schäden davontragen – nicht einmal einen Sonnenbrand. Er dagegen… Bordman zog sich bis auf die Unterkleidung aus und stieg in seinen Hitzeanzug. Er füllte die Beutel aus dem Wassertank des Bootes. Dann schaltete er die winzigen, batteriegetriebenen Motoren ein. Der Anzug, der für kurze Perioden unerträglicher Hitze gedacht war, blähte sich auf. Die Motoren hielten den Druck konstant und sorgten dafür, daß seine Haut unberührt blieb. Sie kühlten außerdem das Innere durch die Verdunstung des Schweißes und des Wassers aus den Tanks. Im Grunde war es eine Miniatur-Klimaanlage, die es ihm ermöglichen sollte,
Temperaturen auszuhalten, die für Menschen mit seiner Haut und seinem Teint normalerweise tödlich waren. Das kostete natürlich eine Menge Wasser. Er trat an die Ausstiegsluke und kletterte ungeschickt die Außenleiter hinab. Er rückte seine Blendbrille zurecht und näherte sich den beiden jungen Indianern, die sich angeregt unterhielten. Er streckte seine behandschuhte Rechte aus. »Ich heiße Bordman«, sagte er mühsam. »Ich sollte die Schlußinspektion vornehmen. Was ist hier verkehrt gelaufen? Warum mußten wir eine Bootslandung machen?« Alethas Vetter schüttelte ihm freundlich die Hand. »Ich bin Ralph Redfeather«, stellte er sich vor. »Projektingenieur. Es ist praktisch alles schiefgelaufen. Unser Landegestell ist futsch. Wir konnten Ihr Schiff nicht mehr rechtzeitig warnen. Als es endlich auf unsere Rufe reagierte, war es schon im Schwerkraftfeld des Planeten. Sein Lawlor-Antrieb, der bekanntlich in einem Gravitationsfeld nicht funktioniert, kann es jetzt nicht mehr wegbringen. Unsere Energie war natürlich von dem Landegestell abhängig. Das Schiff, in dem Sie gekommen sind, kann also nicht wieder starten, wir können keinen Notruf ausstrahlen, und nach unserer Schätzung wird die Kolonie spätestens in sechs Monaten verhungert und verdurstet sein. Es tut mir leid, daß Sie und Aletha da mit hineingezogen werden.« Dann wandte er sich wieder Aletha zu und sagte freundlich: »Wie geht es Mike Thundercloud und Sally Whitehorse und den anderen, Letha?«
Die Warlock schwebte auf ihrer neuen Kreisbahn um Xosa II. Das Landungsboot war losgeflogen und sollte ohne seine beiden Passagiere zurückkehren. Niemand an Bord wollte unten bleiben, denn man kannte die Situation – man wußte von
der unerträglichen Hitze und der völligen Hoffnungslosigkeit. Aber niemand hatte etwas zu tun! Während der zweimonatigen Reise von Trent nach Xosa II war das Schiff normal gewartet worden, und Reparaturen oder sonstige Ausbesserungsarbeiten waren nicht erforderlich. Nennenswerte Pflegearbeiten fielen auch nicht an. Solange nichts passierte, blieben den Männern nur die regelmäßigen Wachen. Es gab aber nichts zu tun während dieser Wachen, die ohnehin nur drei Stunden des Tages in Anspruch nahmen; die übrigen einundzwanzig Stunden waren Freizeit, von der nicht einmal eine halbe Stunde nutzbringend ausgefüllt werden konnte. Es würde wahrscheinlich Jahre dauern, bis Hilfe kam, bis die Warlock aus der Kreisbahn in den freien Raum hinausgeschleppt wurde, wo sie ihren Lawlor-Antrieb wieder aktivieren konnte, oder bis zunächst nur die Mannschaft abgeholt wurde. Inzwischen waren die Besatzungsmitglieder nicht besser dran als die Kolonisten. Sie waren absolut hilflos. In einer Hinsicht hatte es die Mannschaft sogar schlechter: sie konnte nicht mit der farbenfrohen Aussicht auf den Tod leben und sich je nach Temperament darauf vorbereiten – sie hatte nur Langeweile zu erwarten. Die Männer sahen der Zukunft mit äußerstem Widerwillen entgegen.
Die Fahrt zur Kolonie war die reinste Qual. Aletha ritt hinter ihrem Vetter auf der Satteldecke, was ihr, wenn überhaupt, nur wenig auszumachen schien. Für Bordman war nur Platz im Laderaum des Wagens geblieben, den er jetzt mit dem Postsack teilte. Der Boden war unglaublich uneben und das Schwanken des Fahrzeugs dementsprechend unerträglich. Die Hitze war im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. In der kleinen Metallzelle kletterte die Temperatur auf siebzig Grad
in der Sonne – und bei einem entsprechenden Zeitaufwand braucht man nicht viel mehr Hitze zum Essenkochen. Zwar soll schon einmal ein Mann in einen Ofen geklettert sein, in dem ein Braten schmorte, ohne daran zu sterben, aber dieser Ofen hatte ihn nicht wild herumgeschleudert, so daß ihm die von der Sonne glühendheiß gemachten Metallwände den Hitzeanzug gegen die Haut preßten. Der Anzug sicherte sein Überleben, mehr aber auch nicht. Der Inhalt der Wasserbehälter war kurz vor der Ankunft aufgebraucht, und kurze Zeit arbeitete der Anzug nur mit Bordmans Schweiß. Er blieb am Leben, war aber dem Zusammenbruch nahe, als die Kolonie endlich erreicht war. Er trank das eiskalte Salzwasser, das man ihm reichte, und ging zu Bett. Wenn sein Blut wieder einen normalen Salzgehalt aufwies, war alles wieder gut. Zunächst schlief er aber fast zwölf Stunden lang. Als er schließlich aufstand, fühlte er sich körperlich wieder fit, schämte sich aber zutiefst. Dabei tröstete ihn der Gedanke wenig, daß Xosa II eine Minimum-KomfortKolonie der Klasse D war – ein Planet mit blau-weißer Sonne und einer Durchschnittstemperatur von fünfundvierzig Grad. Die Afrikaner konnten ein solches Klima vertragen, wenn sie nachts in kühlere Quartiere kamen. Die Indianer konnten im Freien Stahlarbeiten durchführen, nur durch isolierte Schuhe und Handschuhe geschützt. Bordman aber durfte sich ohne einen Hitzeanzug nicht ins Freie wagen, und auch dann mußte er auf die Zeit achten. Das war keine Frage der Schwäche, sondern der Veranlagung. Trotzdem schämte er sich. Aletha nickte ihm zu, als er das Büro des Projektingenieurs gefunden hatte. Es nahm eine der Schiffshüllen ein, in denen man ganz zu Anfang Materialien mit Raketenkraft gelandet hatte. Es gab insgesamt vierzig Schiffshüllen, die geleert und in drei Gruppen zusammengefügt worden waren, so daß ein Kolonist sein Quartier und seine Bekannten von Zeit zu Zeit
wechseln konnte. Auf diese Weise wurde das Koloniefieber weitgehend ausgeschlossen. Aletha saß an einem Tisch und notierte sich eifrig etwas aus einem Loseblatt-Band, der vor ihr lag. Die Wand hinter ihr war mit ähnlichen Bänden bedeckt. »Ich habe mich lächerlich gemacht!« sagte Bordman erbittert. »Ganz und gar nicht!« beruhigte ihn Aletha. »Das hätte jedem passieren können. Ich würde mich zum Beispiel auf Timbuk nicht wohlfühlen.« Darauf konnte er nichts erwidern. Timbuk war im wesentlichen ein Dschungelplanet, der eben das KarbonZeitalter hinter sich hatte. Die Kolonisten fühlten sich dort sehr wohl, weil ihre Vorfahren am irdischen Golf von Guinea gelebt hatten. Aber viele andere Rassen fanden das Klima nicht so gesund, und Indianer starben dort schneller als alle anderen. »Ralph muß gleich kommen«, fügte Aletha hinzu. »Er und Dr. Chuka haben eine Stelle ausgesucht, an der wir die Unterlagen lassen können. Die Sanddünen sind hier wirklich schrecklich, wissen Sie. Wenn eines Tages einmal ein Forschungsschiff kommt, um hier nach dem Rechten zu sehen, sind diese Gebäude vielleicht schon völlig zugedeckt. Das trifft eigentlich für jede Stelle auf Xosa zu, so daß es nicht einfach ist, einen Ort für die Unterlagen zu bestimmen, der auf jeden Fall gefunden wird.« »Weil«, sagte Bordman skeptisch, »dann ja niemand mehr am Leben ist, um darauf hinzuweisen. Sehe ich das richtig?« »Genau«, sagte Aletha. »Die Lage ist wirklich kritisch. Ich hatte an sich nicht vorgesehen, jetzt schon zu sterben.« Sie sagte das völlig ausdruckslos. Bordman schnaubte. Als Kolonialinspektor war er weit herumgekommen, und seines Wissens war bisher noch keine Kolonie untergegangen, die ein gutes Rüstzeug hatte und deren Vor-Siedlung-Prüfung positiv verlaufen war. Er hatte in ähnlichen Fällen Panikausbrüche erlebt, was er verstehen konnte; aber die sachliche Resignation
der Xosa-Kolonisten vor dieser ihm unbekannten Situation war ihm unverständlich. Etwas klirrte außerhalb der Schiffshülle, die das Hauptquartier des Projektingenieurs beherbergte. Bordman konnte durch die abgeschirmten Bullaugen nichts erkennen. Er streckte die Hand aus und öffnete die Tür. Die Helligkeit fuhr ihm wie ein Faustschlag in die Augen. Er kniff sie sofort zu und wandte sich ab, aber er hatte eben noch ein schimmerndes Bodenfahrzeug gesehen, das nicht weit vom Eingang hielt. Er wischte sich eben die Tränen aus den geblendeten Augen, als draußen Schritte ertönten. Alethas Vetter trat ein, gefolgt von einem riesigen Mann mit bemerkenswert dunkler Haut. Er trug eine Brille mit einem dicken korkähnlichen Nasenstück, das das Metall des Brillengestells von seiner Nase trennte. Bei direkter Hautberührung hätten sich sofort Blasen gebildet. »Das ist Dr. Chuka«, sagte Redfeather freundlich. »Mr. Bordman. Dr. Chuka ist Leiter unserer mineralogischen Gruppe und zuständig für den Bergbau.« Bordman reichte dem Schwarzen die Hand. Dr. Chuka grinste und entblößte verblüffend weiße Zähne. Dann schauderte er. »Ist ja kalt wie in einem Eisschrank hier«, sagte er mit tiefer Stimme. »Ich besorge mir mal was anzuziehen und bin gleich wieder da.« Er verschwand mit hörbar klappernden Zähnen durch eine Tür. Alethas Vetter atmete sechsmal tief ein und verzog das Gesicht. »Mir ist auch fast kalt«, sagte er, »aber Chuka hat sich hier wirklich eingelebt. Er ist auf Timbuk aufgewachsen.« Bordman sagte knapp: »Es tut mir leid, daß ich bei der Ankunft zusammengebrochen bin. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich bin hier, um mich von den Fortschritten des Ausbaus dieser Kolonie zu überzeugen und einen Inspektionsbericht zu verfassen, von dem es abhängt, ob die Kolonie für den normalen Handels- und Touristenverkehr
erschlossen wird, ob die Familien der Kolonisten einreisen dürfen und so weiter. Ich wurde auf höchst ungewöhnliche Weise mit dem Boot hier heruntergebracht, und man sagt mir, daß die Kolonie zum Untergang verdammt ist. Ich hätte gern eine offizielle Angabe über den Stand der Arbeiten und eine Erklärung für die ungewöhnlichen Umstände, von denen ich gerade gesprochen habe.« Der Indianer blinzelte ihn an. Dann lächelte er schwach. Der Schwarze kam zurück, jetzt mit einem engsitzenden einteiligen Anzug bekleidet, dessen Reißverschluß er hochzog. Redfeather informierte ihn über das Gespräch, indem er Bordmans Worte trocken wiederholte. Chuka grinste und flegelte sich auf einen Stuhl. »Ich würde sagen«, bemerkte er mit seiner erstaunlich tiefen Stimme, »daß uns der Sand einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Es gibt eine Menge Sand auf Xosa II. Würdest du nicht auch sagen, daß es am Sand liegt?« Der Indianer erwiderte ernst: »Natürlich spielt auch der Wind eine gewisse Rolle.« »Ich glaube, Sie wissen«, sagte Bordman wütend, »daß ich als Kolonialinspektor in Ausübung meiner Pflichten die Autorität habe, Befehle zu geben. Ich werde jetzt eine solche Anordnung erteilen. Ich will das Landegestell sehen – wenn es noch steht. Ich kann doch davon ausgehen, daß es nicht eingestürzt ist?« Redfeathers Gesicht rötete sich. Für einen Stahlfachmann gab es keine schlimmere Beleidigung als anzudeuten, daß seine Arbeit nicht beständig war. »Ich versichere Ihnen«, sagte er höflich, »daß es nicht eingestürzt ist.« »Wie weit ist die Arbeit Ihrer Meinung nach gediehen?« »Das Gestell dürfte zu achtzig Prozent fertiggestellt sein«, sagte Redfeather förmlich. »Sie haben die Arbeit daran eingestellt?«
»Die Arbeit ist eingestellt«, bestätigte der Indianer. »Obwohl die Kolonie bis zu seiner Fertigstellung keine neuen Vorräte bekommen kann?« »Ja«, sagte Redfeather ausdruckslos. »Dann gebe ich den offiziellen Befehl, mich sofort zum Landegestell zu bringen«, sagte Bordman ärgerlich. »Ich möchte mich überzeugen, was für ein Versagen hier vorliegt. Würden Sie bitte sofort dafür sorgen?« Redfeather sagte mit völlig ausdrucksloser Stimme: »Sie wollen also die Baustelle des Landegestells besichtigen. Sehr gut. Wird arrangiert.« Er wandte sich um und wanderte in den unvorstellbaren Sonnenschein hinaus. Bordman blinzelte, als der kurze Lichteinfall seine Augen traf, und begann dann im Büro auf und ab zu gehen. Er schämte sich noch immer wegen seines Zusammenbruchs und war aus diesem Grunde besonders empfindlich. Aber der Befehl, den er eben gegeben hatte, war durchaus berechtigt gewesen. Er hörte ein leises Geräusch hinter sich und wirbelte herum. Dr. Chuka, riesig und schwarz und bebrillt, wiegte sich auf seinem Stuhl und versuchte ein Lachen zu unterdrücken. »Zum Teufel – was soll das?« fragte Bordman mißtrauisch. »Es dürfte doch kaum lächerlich sein, daß ich mir das Bauwerk ansehen will, von dem das Leben der Kolonie letztlich abhängt?« »Nein, lächerlich ist das nicht«, sagte Dr. Chuka, »es ist einfach überwältigend komisch!« Sein Gelächter hallte laut durch das Büro mit der runden Decke, die der Raketenhülle folgte. Aletha lächelte, aber ihre Augen blickten ernst. »Sie sollten jetzt lieber einen Hitzeanzug anlegen«, sagte sie zu Bordman. Wieder packte ihn die Wut, und er war versucht, allen gesunden Menschenverstand in den Wind zu schlagen. Aber dann marschierte er doch in die kleine Zelle, in der er
aufgewacht war. Ärgerlich zog er den Hitzeanzug an, der ihn schon einmal unzureichend geschützt, wenn auch am Leben gehalten hatte. Er füllte die Tanks bis oben hin – was er beim erstenmal vielleicht versäumt hatte. Schließlich kehrte er in das Büro des Projektingenieurs zurück. Er kam sich beladen und unmöglich vor.
Durch ein abgedunkeltes Fenster sah er einige dunkelhäutige Männer, die sich an einem Wagen zu schaffen machten. Sie statteten das Fahrzeug mit einem Sonnenschutz und seltsam geformten Seitenblechen aus, die wie Flügel wirkten. Eine Art Handwagen wurde herangefahren, und große schwere Tanks wanderten in den Laderaum. Dr. Chuka war verschwunden, aber Aletha hatte sich wieder ihrer Arbeit zugewandt und notierte sich etwas aus dem Loseblatt-Band auf dem Tisch. »Darf ich fragen«, bemerkte Bordman ironisch, »womit Sie sich gerade befassen?« Sie blickte auf. »Ich dachte, das wüßten Sie«, erwiderte sie überrascht. »Ich bin hier als Vertreterin der Gesellschaft für Indianische Geschichte. Ich kann Coups bestätigen und werde CoupUnterlagen für die Gesellschaft erstellen. Sie sind für die Kapsel mit den Dokumenten bestimmt, die Ralph und Chuka vorbereiten, damit das Verzeichnis der Coups nicht verlorengeht, was auch geschehen mag.« »Coups?« fragte Bordman. Er wußte, daß die Indianer auf die Stützpfeiler ihrer Stahlkonstruktionen Federn malten, und daß das Anbringen solcher »Coup-Zeichen« ein geschätztes Privileg und zweifellos ein überlieferter oder neu aufgelebter Brauch war, der von den Indianern auf der Erde praktiziert worden war. Aber er wußte nicht, was es mit diesen Zeichen auf sich hatte. »Coups«, wiederholte Aletha sachlich. »Ralph trägt drei Adlerfedern. Sie haben sie gesehen. Er hat drei
Coups – und außerdem noch Flügelfedern! Er hat den Bau der Landegestelle auf Norlath und – ach, Sie wissen schon.« »Ich weiß es nicht«, gestand Bordman, dessen Stimmung nicht die beste war, weil er immer wieder das Gefühl hatte, auf Xosa II mit unnötiger Herablassung behandelt zu werden. Aletha blickte ihn überrascht an. »In den guten alten Tagen auf der Erde«, erklärte sie, »rechnete sich ein Mann einen Coup an, wenn er einen Feind skalpiert hatte. Der erste Krieger, der in einem Kampf auf einen Gegner trifft, bekommt auch einen Coup – allerdings einen nicht so bedeutenden. Heute werden Coups für andere Dinge erteilt, aber jedenfalls bedeuten Ralphs drei Adlerfedern, daß er den gleichen Respekt erwarten darf wie früher ein Krieger, der bei drei verschiedenen Gelegenheiten einen gegnerischen Krieger im feindlichen Lager getötet und skalpiert hat.« Bordman grunzte: »Barbarisch, würde ich sagen.« »Wenn Sie es so sehen wollen«, sagte Aletha. »Jedenfalls ist ein Coup etwas, auf das man stolz sein kann – und zum Beispiel gibt es keine Coups fürs Geldverdienen!« Sie hielt einen Augenblick inne und sagte barsch: »Das Wort ›snobistisch‹ paßt vielleicht besser als ›barbarisch‹. Wir sind Snobs! Aber wenn sich der Anführer eines Clans im Großen Zelt auf Algonka erhebt und all die Federn zur Schau stellt, die die Mitglieder seines Clans errungen haben – nun, dann ist man stolz, diesem Clan anzugehören!« Sie setzte trotzig hinzu: »Auch wenn man die Zeremonie nur auf einem Fernsehschirm verfolgt.« In diesem Augenblick öffnete Dr. Chuka die Außentür, und blendende Helle strömte herein. Der Körper des Mannes glitzerte vor Schweiß.
»Alles fertig, Mr. Bordman.« Bordman stellte seine Blendbrille ein, aktivierte die Motoren des Hitzeanzugs und trat hinaus.
Hitze und Sonnenlicht waren erdrückend. Er stellte seine Blendbrille noch dunkler und näherte sich schwerfällig dem wartenden Fahrzeug, das mit einem Sonnenschutz ausgerüstet worden war. Aber das war nicht die einzige Veränderung. Das Dach des Laderaums war verschwunden, und man hatte hinten zylindrische Reitsitze wie Sättel eingebaut. Die seltsamen Seitenschilde senkten sich dicht über die Kriechräder. Er begriff ihren Zweck nicht, und verzichtete ärgerlich darauf, Fragen zu stellen. »Fertig«, sagte Redfeather kühl. »Dr. Chuka begleitet Sie. Wenn Sie sich bitte hierhin setzen würden…« Bordman kletterte ungeschickt in den kastenartigen Fond des Wagens und bestieg eines der zylindrischen Gebilde. Mit einem Sattel wäre es sicher die bequemste Art und Weise gewesen, das unglaublich rauhe Gelände in einem mechanischen Beförderungsmittel zu überwinden. Er wartete. Ringsum erhoben sich die gedrungenen Hüllen der Frachter, die – von einem Raumschiff in dieses Sonnensystem geschleppt – mit eigener Raketenkraft gelandet waren. Nach der Entladung hatte man sie zu drei getrennten Lebensbereichen zusammengestellt, die jeweils eigene Quartiere, Aufenthaltsräume und Erholungseinrichtungen hatten. Jeder Kolonist konnte seine Gemeinschaft frei wählen und nach Belieben umziehen oder Besuche machen oder sich auch völlig abkapseln. Um die geistige Gesundheit zu bewahren, mußte die freie Entscheidung der Kolonisten gewahrt sein, und eine Über-Reglementierung kann in jeder Gemeinschaft tödlich sein. Doppelt gefährlich ist sie bei
Männern, die die psychologischen Qualifikationen für das Leben in einer Kolonie besitzen. In einiger Entfernung erhob sich eine gigantische Bergkette, die in unnatürlichen Farben leuchtete. In unmittelbarer Nähe waren nackte Felsen zu sehen, die außerordentlich glatt wirkten, als wären seit Urzeiten Sandkörner darüber hingestrichen und hätten sorgsam jede Unebenheit abgeschliffen. Zur Linken begannen nach einem halben Kilometer die Dünen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Die naheliegenden Erhebungen waren klein, wurden aber mit zunehmender Entfernung von den Bergen größer – offensichtlich eine Folge der Bodenwinde in dieser Gegend. Der Horizont war ganz offensichtlich keine gerade Linie. Die Dünen dort draußen mußten wahrhaft gigantisch sein. Aber auf einer Welt, die so groß war wie die alte Erde und die abgesehen von einigen Schneeflächen an den Polen kein Wasser hatte, konnten Sanddünen natürlich eine unvorstellbare Größe erreichen. Die Oberfläche von Xosa II war ein Sandmeer, in dem die Inseln und kleinen Kontinente aus windzerfressenem Felsgestein kaum auffielen. Dr. Chuka hantierte mit einem kleinen Gegenstand, von dem eine Röhre herabhing. Er kam in den Laderaum geklettert und befestigte das Gebilde an einem der beiden Tanks, die man zuvor in den Wagen gehoben hatte. »Für Sie«, wandte er sich an Bordman. »Die Tanks sind voller Luft, die unter ziemlichem Druck stehen – ein paar tausend Pfund. Hier ist ein Druckventil, durch das Sie Ihren Hitzeanzug mit Extraluft versorgen können. Bei dem Druckgefälle ist sie ziemlich kalt und wird die Temperatur noch stärker drücken.« Bordman war wieder einmal beschämt. Chuka und Redfeather konnten sich aufgrund ihrer Herkunft auf diesem Planeten fast unbekleidet bewegen, ohne daß es ihnen etwas ausmachte. Er jedoch brauchte ein besonders
gekühltes Kostüm, damit er die Hitze überstand. Darüber hinaus versorgten ihn die beiden mit Sonnenblenden und gekühlter Luft, die sie selbst nicht brauchten. Sie kümmerten sich um ihn. Er war seiner natürlichen Umgebung ebensoweit entrückt, als wenn er die Inspektion einer Unterwasser-Kolonie vorgenommen hätte. Er mußte sich mit einem Schutzanzug plagen, der praktisch einem Tauchanzug gleichkam, und war zudem von einer besonderen Luftversorgung abhängig. Er schluckte den Ärger hinunter, den ihm seine Unzulänglichkeit verursachte. »Dann können wir ja wohl fahren«, sagte er so barsch wie möglich. Alethas Vetter bestieg den Kontroll-Sattel – der tatsächlich nur aus einer Decke bestand –, und Dr. Chuka ließ sich neben Bordman nieder. Der Wagen setzte sich in Bewegung und hielt auf die Berge zu. Die Glätte der Felsen hatte getäuscht. Der Wagen ruckte und schwankte und rüttelte und rollte und kippte. In einem normalen Sitz hätte niemand diese Fahrt überstanden. Trotzdem kam sich Bordman wie auf einem Schaukelpferd vor, und der Sonnenschutz trug zu dem Eindruck bei, daß es sich gar um ein Pferd auf einem Kinderkarussell handelte. Es war beschämend. Daß sie zu dritt waren, machte es noch schlimmer. Er blickte sich um und versuchte seine Gedanken von der unmöglichen Situation abzulenken. Die Blendbrille machte das Licht einigermaßen erträglich, aber er war beschämt. »Die unteren Schirme«, sagte Chukas tiefe, angenehme Stimme, »sollen Ihnen den Aufenthalt angenehmer machen. Das Dach über uns schützt uns vor dem direkten Sonnenlicht und die Seitenschilde halten die Reflexionen zurück. Auch wenn Sie dem Sonnenlicht nicht direkt ausgesetzt wären, würden Sie sofort Blasen bekommen.«
Bordman schwieg. Das Fahrzeug kämpfte sich weiter und erreichte schließlich Sand – braunen, mit Mineralien durchsetzten Sand. Dann ragte eine Düne vor ihnen auf – eine Düne, die für xosanische Verhältnisse nicht groß war, vielleicht dreißig Meter hoch. Aber als das Fahrzeug ihren windgeschützten steileren Hang in Angriff nahm, schien der Planet plötzlich unmöglich abzukippen, während sich die Räder schneller drehten. Schließlich erreichten sie die Krone der Düne, die wie bei einer Meereswoge anscheinend gleich überkippen wollte. Auf dem windwärtigen Hang kämpften die Räder jetzt mit einer bemerkenswert lockeren Sandfläche, die offenbar jeden Augenblick ins Fließen kommen konnte, und Bordman sah die Wüsten von Xosa II plötzlich als die Ozeane, die sie tatsächlich waren. Die Dünen waren Wogen, die sich unendlich langsam, aber mit der unwiderstehlichen Gewalt von Sturzseen bewegten. Nichts vermochte ihnen zu widerstehen. Nichts! Auf den nächsten drei Kilometern überwanden sie noch zahlreiche ähnliche Dünen und erreichten schließlich die Vorläufer der Berge. Zum zweitenmal bemerkte Bordman – beim erstenmal hatte er es durch die Sichtluke des Landungsbootes gesehen – die Vertiefung in der Bergwand und den Sand der wie ein Wasserfall hindurchgeflossen war und an den unteren Klippen einen herrlich symmetrisch zulaufenden Halbkegel bildete. Es gab viele solcher Sandfälle, und einmal entdeckte er sogar eine Sand-Kaskade. Der Sand war über eine Reihe von Steinvorsprüngen geflossen, hatte sich auf der nächsttieferen Ebene gestaut und war dann wieder übergelaufen. Jetzt arbeitete sich das Fahrzeug einen Hang hinauf, auf dem sich kein Sand festgesetzt hatte, weil er zu steil war. Die Landschaft schien einem Alptraum entsprungen. Der Wagen ruckte weiter, und Bordman blickte schwindelnd in die Abgründe zu beiden Seiten. Die Farben waren unmöglich.
Die Trockenheit und Leblosigkeit der Gegend war irgendwie erschreckend. Unwillkürlich hielt er nach irgendeinem noch so kleinen Busch Ausschau. Eine Stunde dauerte die Reise noch, dann ging es einen steilen Felshang hinauf, auf dem der Wind seine Spuren hinterlassen hatte, und als das Ende dieses Hanges erreicht war, fuhr der Wagen noch hundert Meter weiter und stoppte. Sie hatten den Kamm der Berge erreicht, hinter der sich zweifellos eine zweite Bergkette erstreckte. Aber sie war nicht zu sehen. An der Stelle, die die Männer nach so mühsamer Kletterei erreicht hatten, gab es keine Felsen, kein Tal, keinen abwärts gerichteten Hang – sondern nur Sand. Sie blickten auf eines der Sandplateaus, die zu den einzigartigen Erscheinungsformen von Xosa II gehörten. Und Bordman wußte jetzt, daß die in Zweifel gestellte Erklärung stimmte. Die Winde, die über die Berge fuhren, brachten Sand, so wie die Winde auf anderen Planeten Feuchtigkeit und Pollen und Samen trugen. Standen dem Wind zwei Bergketten im Wege, bildete er Wirbel über dem dazwischenliegenden Tal und lagerte Sand ab. Bordman überlegte, daß die hiesige Erscheinungsform der irdischen Passatwinde ein Tal nach und nach durchaus bis zu den Bergspitzen füllen konnte – ebenso wie die Passatwinde auf anderen Welten zum Beispiel für eine gleichbleibende Feuchtigkeit sorgten, von der ganze Zivilisationen abhingen. Aber… »Nun?« fragte Bordman herausfordernd. »Das ist der Bauplatz des Landegestells«, sagte Redfeather. »Wo?« »Hier«, sagte der Indianer trocken. »Vor einigen Monaten war hier noch ein Tal. Das Landegestell hatte schon eine Höhe von fast achthundert Metern – zweihundert Meter waren noch zu bauen. Und dann gab es einen Sturm.« Es war heiß, entsetzlich heiß – selbst hier auf dem Plateau in Gipfelhöhe. Dr. Chuka warf einen Blick in Bordmans Gesicht,
beugte sich im Fahrzeug vor und drehte an einem Ventil. Sofort wurde es Bordman kühler. Seine Haut war natürlich trocken; die umgewälzte Luft trocknete seinen Schweiß sofort. Aber er hatte das schwindlige, fieberheiße Gefühl, in einem Brutkasten zu sitzen – ein Gefühl, gegen das er schon einige Zeit angekämpft hatte. Die komprimierte Luft war jetzt fast berauschend kühl. Dr. Chuka reichte ihm eine Wasserflasche, und Bordman trank hastig. Das Wasser war leicht gesalzen, um das durch den Schweiß verlorene Salz zu ersetzen. »Ein Sturm, soso«, sagte Bordman, nachdem er über sein Wohlbefinden und die Szene der Katastrophe nachgedacht hatte, die sich vor ihm erstreckte. Das Plateau mußte aus Hunderten von Millionen Tonnen Sand bestehen, der unmöglich abzutransportieren war – es sei denn durch einen nachhaltigen Wechsel der Passatwinde, die dann aber längs durch das Tal wehen mußten. »Aber was hat ein Sturm hiermit…« »Es war ein Sandsturm«, sagte Redfeather kühl. »Wurde wahrscheinlich durch eine Sonneneruption ausgelöst – wir wissen es nicht. Bei der Vor-Siedlungs-Inspektion war jedenfalls von möglichen Sandstürmen die Rede. Das Inspektionsteam hat sogar an einigen Stellen den durchschnittlichen Sandfall in Zentimetern geschätzt. Hier bringen die Unwetter nur Sand – und keinen Regen. Jedenfalls muß es sich wohl um eine Eruption gehandelt haben, denn der Sturm dauerte – « seine Stimme wurde flach und vorsichtig angesichts des Unglaublichen – »zwei Monate. Die ganze Zeit über haben wir nicht ein einziges mal die Sonne zu Gesicht bekommen. Und wir konnten natürlich auch nicht arbeiten. Der Sand hätte uns in Minutenschnelle die Haut vom Leibe gepeitscht. Also warteten wir. Als schließlich alles vorüber war, entdeckten wir dieses Sandplateau an der Stelle, die das Inspektionsteam als Standort
für unser Landegestell bestimmt hatte. Das Gestell war darunter begraben. Wie Sie sehen können, liegen die oberen Teile der achthundert Meter hohen Konstruktion noch fast hundertundfünfzig Meter tief im Sand vergraben. Unsere vorgefertigten Stahlteile für den Weiterbau liegen fertig aufgestapelt – unter fast einem Kilometer Sand. Mit unseren geringen Energievorräten ist es kaum zweckmäßig – « Redfeathers Ton wurde sarkastisch –, »den Versuch einer Ausgrabung zu machen. Es dürfte sich um unzählige hundert Millionen Tonnen handeln. Wenn wir den Sand wegschaffen könnten, könnten wir das Gestell fertigstellen. Wenn wir das Gestell fertigstellen könnten, hätten wir genug Energie, um den Sand in mehrjähriger Arbeit zu beseitigen, wenn wir auch ausreichend Ersatzmaschinen hätten. Und wenn es nicht noch einen Sandsturm gäbe.« Er hielt inne. Bordman atmete die kühlere Luft in vollen Zügen. Er konnte jetzt klarer denken. »Wenn Sie sich mit Fotografien zufriedengeben«, sagte Redfeather höflich, »könnten Sie sich überzeugen, daß die Arbeit tatsächlich schon so weit gediehen war.« Bordman übersah jetzt die Folgen der Katastrophe. Die Besatzung der Kolonie setzte sich zusammen aus Indianern, die die Stahlarbeiten durchführen sollten, und aus Afrikanern, die für die Tätigkeiten vorgesehen waren, denen sich die Indianer von Natur aus widersetzten – die Bedienung der komplizierten Bergbaumaschinen in den Schächten und die Überwachung der hochschnellen Schmelzprozesse. Beide Rassen vertrugen das Klima und konnten darin arbeiten – vorausgesetzt, sie hatten klimatisierte Nachtquartiere. Aber sie brauchten Energie. Nicht nur Energie, die die Maschinen trieb, sondern auch Energie, die ihr Überleben sicherte. Die Klimaanlage, die das Schlafen möglich machte, kondensierte aus der gekühlten Luft die geringen vorhandenen Spuren von
Wasserdampf – und das brauchten sie zum Trinken. Ohne Energie waren sie zum Verdursten verurteilt. Ohne das Landegestell und die Energie, die es aus der Ionosphäre zog, konnten sie keine neuen Vorräte entgegennehmen und würden also verhungern. Und die Warlock, die jetzt irgendwo da oben in ihrer Kreisbahn schwebte, befand sich so weit im Schwerkraftfeld des Planeten, daß sie ihren Lawlor-Antrieb nicht benutzen und die schlechte Nachricht nicht weiterleiten konnte. Normalerweise konnte es Jahre dauern, bis ein Kolonieschiff, das mit Raketenkraft in ein Schwerkraftfeld eindringen und auch wieder daraus freikommen konnte, entsandt wurde, um festzustellen, warum man von Xosa II nichts mehr hörte. Natürlich gab es auch keine Möglichkeit, über interstellare Entfernungen Notsignale zu geben. Die Schiffe selbst reisten schneller als jedes denkbare Signal, und die Entfernungen waren so groß, daß die normalen Kommunikationsverbindungen erhebliche Zeit brauchten. Ein Brief vom Rim zur Erde benötigte für diese Strecke auch heute noch zehn Jahre. Selbst die wesentlich kürzeren Entfernungen, die zur Rettung von Xosa II zurückgelegt werden mußten, ließen keine Hoffnung aufkommen. Die Kolonie war ganz auf sich gestellt. Bordman sagte betont: »Ich akzeptiere die Fotos. Ich akzeptiere sogar die Feststellung, daß die Kolonie untergehen wird. Ich werde meinen Bericht für die Unterlagenkapsel zur Verfügung stellen, die Sie nach Alethas Worten vorbereiten. Und ich entschuldige mich, falls ich Ihnen irgendwie zu nahe getreten bin.« Dr. Chuka nickte anerkennend. Er musterte Bordman freundlich. Ralph Redfeather sagte verbindlich: »Ist schon in Ordnung.« Bordman fuhr fort: »Da ich die Autorität habe, Befehle zu geben, die für meine Arbeit erforderlich sind – möchte ich gern die Maßnahmen kontrollieren, die Sie ergriffen haben, um Ihren Instruktionen für den Notfall zu
genügen. Ich möchte sofort sehen, was Sie getan haben, um die Situation zu meistern. Ich weiß, daß das unmöglich ist, aber ich beabsichtige einen Bericht über Ihre Bemühungen zu hinterlassen.« Die Warlock schwebte in der Leere um den Planeten Xosa II. Ihre Flughöhe betrug kaum achttausend Kilometer, so daß die gefleckte Oberfläche des trockenen Planeten ständig sehr schnell unter ihr dahinzog. Innerhalb der Schiffshülle gab es künstliche Schwerkraft und Licht und das Summen der Ventilatoren, die die Luft in Bewegung hielten und durch die Erneuerungsanlage schickten. Auch gab es Nahrungsmittel und ausreichend Wasser, und die Temperatur war bewundernswert angenehm. Aber es passierte nichts – und niemand rechnete damit, daß etwas passierte. Die Mannschaft bestand aus acht Männern, die an mehrmonatige Raumreisen gewöhnt waren. Aber allein die Reise hierher hatte schon zwei Monate gedauert. Sie hatten alle Visirollen immer wieder durchgespielt, bis sie nicht mehr zu ertragen waren. Sie hatten immer wieder die Buchrollen gelesen, für die sie sich irgendwie interessierten. Auf anderen Flügen hatten sie Schach und andere Spiele gespielt, bis es sich schon von vornherein sagen ließ, wer wen besiegen würde – um welches Spiel es sich auch handelte. Jetzt sahen sie mit großer Erbitterung in die Zukunft. Das Schiff konnte nicht landen, weil es auf dem Planeten unter ihnen kein betriebsbereites Landegestell gab. Sie konnten nicht weiterfliegen, weil der Lawlor-Antrieb nicht funktionierte, wenn das Schiff sich einem erdähnlichen Planeten auf mehr als fünf Planetendurchmesser näherte. Der Raum wird durch ein so schwaches Feld kaum spürbar gebogen, aber der Lawlor-Antrieb braucht eine fast völlig spannungsfreie Leere, um anzuspringen. Die Warlock hatte nicht genug Treibstoff, um sich aus dem Zug der Schwerkraft zu befreien und die nötigen fünfzigtausend Kilometer
zurückzulegen. Aus den gleichen Gründen waren auch die Rettungsboote nutzlos. Sie konnten mit Raketenkraft nicht freikommen, und ihr Lawlor-Antrieb funktionierte nicht. Die Mannschaft der Warlock langweilte sich. Das Schlimmste an allem war, daß kein Ende abzusehen war. Es gab ausreichend Nahrungsmittel und Wasser, und die Lebensbedingungen waren erträglich, aber die Lage der Männer erinnerte an das Schicksal von Gefangenen, die für unbestimmte, aber längere Zeit eingesperrt waren. Eine Fluchtmöglichkeit bestand nicht. Keine Form der Erleichterung war denkbar. Die Aussichtslosigkeit war zum Wahnsinnigwerden. In den Mannschaftsquartieren kam es schon zwei Stunden nach dem Einschwenken in die Kreisbahn zu einem Faustkampf – die ersten Reaktionen auf die Katastrophe. Der Kapitän wanderte anschließend durch das Schiff und konfiszierte jede Waffe und schloß sie ein. Auch er spürte schon das Zerren an den Nerven. Es gab nichts zu tun. Er wußte auch nicht, wann es jemals wieder etwas zu tun geben würde; diese Lage war dazu geeignet, Hysterie hervorzurufen. Es war Nacht. Über der Kolonie leuchteten Myriaden von Sternen. Es waren natürlich nicht die Sterne der Erde, aber Bordman war nie auf der Erde gewesen. Er war fremde Konstellationen gewöhnt. Er starrte durch eine Sichtluke zum Himmel auf und registrierte, daß der Planet keine Monde hatte. Hinter ihm raschelte Papier. Aletha Redfeather schlug die Seite eines Loseblatt-Bandes um und machte sich sorgsam eine Notiz. Die Wand hinter ihr war mit zahlreichen ähnlichen Büchern bedeckt. In ihnen waren die Einzelheiten aller Arbeiten festgehalten, die die Kolonie-Besatzung durchgeführt hatte. Das Leben war hier zuerst sehr beschwerlich gewesen, und in den Berichten war manche Heldentat verzeichnet. Man hatte
versucht, Wasservorräte mit dem Flugzeug vom Pol heranzuschaffen, was kein sehr praktisches Unternehmen gewesen war, selbst wenn es darum ging, eine Flüssigkeitsreserve zu bilden. Auf Xosa II bewegte der Wind Sandpartikel durch die Atmosphäre wie auf anderen Planeten Feuchtigkeit. Flugzeuge wurden im Fliegen zerschrammt. Die letzte betriebsbereite Maschine mußte achthundert Kilometer von der Kolonie entfernt eine Notlandung machen. Ein Kriechrad-Wagen ging auf Rettungsexpedition und brachte die Mannschaft zurück. Das Fahrzeug war zwar mit SilikonPlastik bedeckt, das sich nicht so leicht abnutzte, aber nach der Rückkehr mußte es trotzdem verschrottet werden. Zahlreiche Männer waren bei Sandrutschen verschüttet worden, gefolgt von heldenhaften Rettungsversuchen, die ein- oder zweimal auch zum Erfolg geführt hatten. Es hatte Mineneinstürze und Unfälle gegeben, und alles in allem hatten sich die Männer wunderbar gehalten und trotz widriger Umstände sehr viel geschafft. Bordman trat an die Tür der Schiffshülle, die Ralph Redfeathers Büro beherbergte. Er öffnete sie und trat hinaus. Er hatte das Gefühl, in einen Ofen zu steigen. Der Sand hatte die Hitze der eben untergegangenen Sonne gespeichert. Die Luft war derart trocken, daß Bordman spürte, wie ihm die Feuchtigkeit aus den Nasenschleimhäuten gezogen wurde. Nach zehn Sekunden waren seine Füße – die in normalen Zimmerschuhen steckten – unangenehm heiß. Nach zwanzig Sekunden hatte er das Gefühl, daß sich an seinen Fußsohlen Blasen bildeten. Schon die Nachthitze dieses Planeten brachte ihn um! Vielleicht konnte er es kurz vor Morgengrauen im Freien aushalten, aber er haderte dennoch mit seinem Schicksal. Hier auf diesem Planeten lebten und gediehen Indianer und Afrikaner, doch er konnte nur eine oder zwei
Stunden ohne Schutz auskommen – und dann auch nur zu einer bestimmten Zeit der Planetenrotation! Er ging wieder hinein und schämte sich der Schmerzen an seinen Füßen. Aletha blätterte erneut um. »Hören Sie!« sagte Bordman ärgerlich. »Was Sie auch sagen – Sie kehren wieder an Bord der Warlock zurück, ehe…« Sie blickte ihn an. »Wir werden uns darum Sorgen machen, wenn es soweit ist. Aber ich glaube, ich bleibe lieber hier.« »Jetzt vielleicht noch«, schnappte Bordman, »aber ehe sich die Lage hier verschlimmert, gehen Sie an Bord zurück! Die Männer oben haben Treibstoff genug, um das Landungsboot sechsmal landen zu lassen, und sie können Sie hier herausholen!« Aletha zuckte die Achseln. »Warum sollte ich Xosa verlassen, um an Bord eines Wracks zu gehen? Mehr ist die Warlock doch kaum noch. Seien Sie ehrlich – wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis wir den Besuch eines Schiffes erhalten, das uns wirklich helfen kann?« Bordman antwortete nicht. Er hatte sich hierüber schon Gedanken gemacht. Die Reise von Trent – dem nächsten Stützpunkt – hatte zwei Monate gedauert. Dabei war von vornherein vorgesehen, daß die Warlock auf Xosa II blieb, bis die Schmelzanlage in Betrieb genommen war und eine Schiffsladung Roheisen liefern konnte. Was mindestens zwei Wochen dauerte, sich aber auch bis zu zwei Monaten hinziehen konnte. Also wurde die Warlock wahrscheinlich erst in vier Monaten in Trent zurückerwartet. Und wenn dieser Termin um zwei Monate überzogen wurde, krähte auch noch kein Hahn danach. Es mochte also sechs Monate dauern, bis sich jemand ernsthaft zu fragen begann, warum das Schiff mit seiner Ladung noch nicht zurück war. Nun würde man zunächst auf die Ankunft von Rettungsbooten warten – für den
Fall, daß es irgendwo ein Unglück gegeben hatte. Schließlich würde man das Schweigen der Warlock doch dem Hauptquartier der Kolonialinspektion aus Canna III melden, was im günstigsten Fall noch einmal drei Monate dauern mochte – und den gleichen Zeitraum für die Rückmeldung. Im Grunde wurde erwartet, daß eine Kolonie sich selbst meldete, wenn sie in Schwierigkeiten war. Für solche Notfälle hatte jede Kolonie eine Anzahl Rettungsboote, und wenn kein Rettungsboot die Krise meldete, nahm man natürlich an, daß es keine solche Krise gab. Niemand rechnete mit dem Versagen eines Landegestells! Nach einem Jahr würde sich vielleicht mal jemand ernsthaft Gedanken über Xosa II machen und eine Empfehlung abgeben, daß doch mal nach dem Rechten zu sehen sei, wenn oder falls ein geeignetes Schiff zufällig den Raumsektor von Xosa II passierte. Tatsächlich mochte es vernünftig sein, in frühestens drei Jahren mit einem Rettungsschiff zu rechnen. »Sie sind Zivilistin«, sagte Bordman kurzangebunden. »Wenn Nahrungsmittel und Wasser knapp werden, kehren Sie an Bord des Schiffes zurück. Dann sind Sie wenigstens noch am Leben, wenn hier mal jemand nach dem Rechten sieht.« Aletha sagte leise: »Vielleicht möchte ich aber gar nicht weiterleben. Werden Sie denn wieder ins Schiff gehen?« Bordman errötete. Er gedachte unten zu bleiben. Aber er sagte bestimmt: »Ich kann Ihnen befehlen, wieder an Bord zu gehen, und Ihr Vetter wird den Befehl ausführen.« »Das möchte ich doch sehr bezweifeln«, sagte Aletha freundlich. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit.
Knirschende Schritte ertönten von draußen. Bordman stöhnte leise auf, als er an seine Füße dachte. Mit den isolierten Sandalen bewegten sich diese Menschen frei von einem Teil
ihrer Kolonie in den anderen – selbst bei Sonnenschein. Er konnte nicht einmal in der Nacht vor die Tür treten! Erbittert verzog er die Lippen. Eine Gruppe Männer betrat das Büro – Farbige mit harten Muskeln unter schimmernder Haut und bronzehäutige Indianer mit glattem Haar. Ralph Redfeather führte sie herein. Dr. Chuka kam als letzter. »Das wär’s«, sagte Redfeather. »Das sind unsere Vorarbeiter. Wir können Ihnen jetzt sicher alle Fragen beantworten.« Er übernahm die Vorstellung der Männer. Bordman machte nicht den Versuch, die Namen zu behalten. Abeokuta und Northwind und Sutata und Tallgrass und T’ckka und Spottedhorse und Lewanika – Namen, die in dieser Zusammensetzung auch nur in einer rauhen, jungen Kolonie zu finden waren. Die Männer, die das Büro jetzt füllten, waren völlig entspannt – innerlich und äußerlich. Die Anwesenheit eines Kolonialinspektors schien sie nicht im geringsten zu stören. Sie nickten, als Redfeather ihre Namen nannte, und die Nächststehenden schüttelten Bordman die Hand. Bordman wußte, daß ihm diese Gruppe unter anderen Umständen rein äußerlich gefallen hätte. Aber die Lebensbedingungen auf diesem Planeten hatten ihn erniedrigt – nicht jedoch diese Männer. Sie waren offensichtlich durch sie nur zum Tode verurteilt. »Ich muß einen Bericht hinterlassen«, sagte Bordman barsch – und wunderte sich im gleichen Augenblick über seine eigene Formulierung; offensichtlich akzeptierte er die Hoffnungslosigkeit der Lage bereits, wenn er schon von »hinterlassen« sprach. »In diesem Bericht muß der Stand der Arbeiten an dieser Kolonie festgehalten werden. Aber da wir uns in einer Notlage befinden, muß ich auch einen Bericht über die Maßnahmen verfassen, die zur Abwendung der Katastrophe unternommen worden sind.« Der Bericht würde natürlich keinen praktischen Wert haben – ebensowenig wie
die Coup-Unterlagen, die Aletha erstellte – Unterlagen, die gelesen werden würden, wenn auf diesem Planeten niemand mehr am Leben war. Aber Bordman wußte, daß er ihn trotzdem schreiben würde. Es schien ihm unvorstellbar, das nicht zu tun. »Redfeather sagt mir«, fuhr er fort, »daß die gespeicherte Energie dazu verwendet werden kann, die Gebäude der Kolonie zu klimatisieren, wodurch Kondenswasser aus der Luft gewonnen werden kann – für etwa sechs Monate. Wenn wir die Gebäude etwas warm werden ließen, um Energie zu sparen, hätten wir nicht genug Trinkwasser. Wenn wir auf halbe Ration hinunter gingen, um die Lebensmittelvorräte zu schonen, würde das Wasser nicht reichen, und mit der Energieversorgung wäre es irgendwann auch vorbei. Nein, hier ist für uns nichts zu gewinnen.« Die Männer nickten. Derartige Überlegungen waren für sie schon längst abgeschlossen. »Die Warlock hat Nahrungsmittel an Bord«, fuhr Bordman sachlich fort, »aber das Landungsboot läßt sich nur wenige Male einsetzen, da es den Treibstoff des Schiffes nicht benutzen kann. Insgesamt ließe sich vielleicht eine Tonne an Vorräten zu Boden bringen. Aber wir sind fünfhundert! Hier ist also auch nichts zu machen.« Er schaute die Männer nacheinander an. »Also leben wir ganz normal weiter«, sagte er ironisch, »bis unsere Nahrungsmittel- und Wasservorräte, bis die Energie für unser nächtliches Wohlbefinden auf einmal aufgebraucht sind. Es hat keinen Sinn, irgend etwas strecken zu wollen, weil die Decke dann woanders zu knapp wird. Redfeather sagt mir, daß Sie sich mit der Situation abgefunden haben. Womit beschäftigen Sie sich aber – da Sie sich nun schon mal damit abgefunden haben?« Dr. Chuka sagte freundlich: »Wir haben eine Fundstelle für unsere Unterlagen ausgewählt, und unsere
Bergleute nehmen jetzt Sprengungen vor, um Platz zu schaffen. Wir wollen unsere Maßnahmen bis zum letztmöglichen Augenblick festhalten. Die Fundstelle ist sandsicher. Unsere Mechaniker bauen einen Sender, für den wir ein wenig Energie abzweigen werden. Er wird mehr als zwanzig Jahre in Betrieb sein und Hinweise geben, damit die Dokumentenkapsel gefunden werden kann, auch wenn sich das Gelände durch den Sand verändert haben sollte.« »Und«, sagte Bordman, »auch wenn die Tatsache eingetreten sein sollte, daß dann niemand mehr am Leben ist, um den Fremdenführer zu spielen.« Chuka fügte lächelnd hinzu: »Wir singen auch sehr viel. Mein Volk ist… äh… religiös. Wenn wir… äh… nicht mehr hier sind, werden wir in der anderen Welt einen guten Chor abgeben – habe ich mir sagen lassen.« Die Männer grinsten und entblößten weiße Zähne. Bordman beneidete sie, daß sie bei einem solchen Gedanken lächeln konnten. Aber er fuhr grimmig fort: »Soweit ich bisher mitbekommen habe, spielt doch auch der Sport eine große Rolle.« Redfeather sagte: »Dazu haben wir genug Zeit. Die Klettermannschaften haben in fünfhundert Kilometer Umkreis alle interessanten Berge bestiegen und ihre Coups gemeldet. Wir haben einen neuen Rekord im Speerwerfen erzielt – unter Berücksichtigung der Schwerkraft-Konstante, und Johnny Cornstalk hat die hundert Yards in acht Komma vier Sekunden gelaufen. Aletha hat die Unterlagen bestätigt.« »Sehr nützlich«, sagte Bordman sarkastisch und ärgerte sich im gleichen Augenblick über diese Bemerkung, noch ehe die Gesichter der bronzehäutigen Männer ihren Ausdruck verloren. Chuka hob die Hand. »Wart’s nur ab, Ralph! Lewanikas Neffe wird diesen Rekord innerhalb einer Woche einstellen.« Wieder schämte sich Bordman, weil Chuka eingesprungen war, um seine schlechte Laune zu überspielen.
»Ich nehme das zurück«, sagte er ärgerlich. »Meine Bemerkung war ungehörig – ich hätte sie für mich behalten sollen. Aber ich bin hierher gekommen, um eine Inspektion dessen vorzunehmen, was Sie getan haben – was ich hier jedoch bekomme, ist Material für eine Beurteilung der Moral der Kolonisten. Das liegt außerhalb meines Bereichs. Ich bin in erster Linie Techniker! Wir haben ein technisches Problem!« Aletha meldete sich plötzlich hinter ihm. »Aber Sie haben es in erster Linie mit Männern zu tun, die sich einem sehr menschlichen Problem gegenübersehen – gut zu sterben. Und das scheinen sie bisher recht gut zu bewältigen.« Bordman knirschte mit den Zähnen. Wieder einmal kam er sich erniedrigt vor. Auf seine Weise verfolgte er das gleiche Ziel. Aber ebensowenig wie er genetisch für das Klima dieses Planeten geeignet war, vermochte er diese fatalistische oder fromme Resignation vor der Katastrophe anzuerkennen. Ob Indianer oder Afrikaner – in gleicher Weise hatten diese Männer eigene Vorstellungen von würdevollem Benehmen, wenn ihnen nichts anderes übrigblieb, als zu sterben. Aber Bordmans Vorstellung von menschlicher Würde zwang ihn, den Kampf fortzusetzen, sich dem Schicksal weiter zu widersetzen, auch wenn er schon dahingerafft wurde. Es lag ihm im Blut oder in den Genen; vielleicht war es auch das Ergebnis einer lebenslangen Erziehung. Er brachte es einfach nicht fertig, eine Situation als hoffnungslos anzuerkennen, selbst wenn ihm sein Verstand das Gegenteil einredete. »Ich verkenne das nicht«, sagte er nüchtern, »muß aber in technischen Begriffen denken. Man könnte sagen, daß wir sterben werden, weil wir die Warlock mit ihren Nahrungsmittelvorräten und Maschinen nicht herabbekommen. Wir können die Warlock nicht landen lassen, weil wir kein Landegestell haben. Wir haben kein Landegestell, weil die Konstruktion, soweit sie bisher fertig ist, und das restliche
Baumaterial unter mehreren Millionen Tonnen Sand begraben liegen. Wir können kein neues provisorisches Landegestell für leichtere Schiffe bauen, weil wir keine Schmelzanlage zur Herstellung von Stahlträgern haben und auch keine Energie, wenn wir die Anlage hätten. Aber: wenn wir die Stahlträger hätten, könnten wir uns die Energie zum Betrieb der Schmelzanlage beschaffen, die wir brauchen, um die Stahlträger herzustellen. Und wir haben keine Schmelzanlage, demnach auch keine Stahlträger, keine Energie, keine Aussicht auf Nahrungsmittel oder Hilfe, weil wir die Warlock nicht herunterbringen. Sie sehen also, das Problem dreht sich im Kreise. Wenn wir diese logische Kette an irgendeinem Punkt durchbrechen können, sind alle Schwierigkeiten beseitigt.« Einer der Farbigen murmelte seinen Nachbarn etwas zu. Leises Gelächter ertönte. »Wie Mr. Woodchuck«, erklärte der Mann, als Bordman ihn anstarrte. »Als ich noch ein kleiner Junge war, hab ich mal eine solche Story gehört.« Bordman sagte eisig: »Mit dem Problem Kühlung, Wasser und Nahrungsmittel liegt es ähnlich. In sechs Monaten könnten wir etwas Eßbares anbauen – wenn wir Energie zur Kondensierung von Feuchtigkeit hätten. Wir haben Chemikalien für hydroponische Anlagen – wenn wir die Pflanzen vor dem Hitzetod schützen könnten. Kühlung und Wasser und Nahrungsmittel bilden also praktisch einen weiteren Teufelskreis.« Aletha sagte zögernd: »Mr. Bordman…« Er wandte sich ärgerlich um. Aletha sagte fast entschuldigend: »Auf Chagan wurde einer Frau mal ein… naja, Frauen-Coup gegeben. Ihr Mann züchtet Pferde und ist ganz verrückt mit seinen Tieren. Die beiden leben in einer Art Wohnwagen draußen im Freien – auf den Llanos. Manchmal lassen sie sich monatelang nicht bei einer Siedlung sehen. Die Frau liebt Eiskrem über alles, obwohl die
Kühlung kein einfaches Problem ist. Aber sie hat einen Doktortitel in Geschichte. Sie ließ ihren Mann eine isolierte Schale auf dem Dach ihres Wohnwagens anbringen, und in dieser Schale bereitet sie ihr Eis.« Die Männer starrten sie an. Alethas Vetter sagte amüsiert: »Dafür hätte sie in der Tat eine Art technische Coup-Feder verdient.« »Der Rat hat ihr einen Kupferkrug verliehen – ganz offiziell«, sagte Aletha. »Wissenschaftlicher Fortschritt im Haushalt.« An Bordman gewandt, erklärte sie: »Ihr Mann montierte eine Schale auf dem Dach des Wohnwagens, die nach unten hin isoliert war. Während des Tages lag ein isolierter Deckel darüber, der die Schale vor der Sonnenhitze abschirmte. In der Nacht nahm sie den Deckel ab und goß ihre Eismasse in die Schale. Sie mußte natürlich vor Tagesanbruch aufstehen, um sie wieder herauszukratzen, aber das Eis war dann jedenfalls gefroren. Auch wenn die Nacht ziemlich warm war.« Sie blickte die Männer nacheinander an. »Ich weiß nicht, wieso das so ist. Sie sagte, daß man das auf der Erde in einer Stadt namens Babylon so gemacht hätte – vor vielen tausend Jahren.« Bordman blinzelte. Dann sagte er heftig: »Verdammt! Wer weiß, um wieviel Grad die Bodentemperatur hier in der Nacht fällt?« »Ich«, erwiderte Alethas Vetter leise. »Die Temperatur der oberen Sandschichten fällt zwischen zwanzig und dreißig Grad. Weiter unten bleibt es natürlich wärmer. Aber die Luft ist hier fast kühl zu nennen, ehe die Sonne aufgeht. Wieso wollen Sie das wissen?« »Auf allen Planeten sind die Nächte kühler«, sagte Bordman, »weil in jeder Nacht die dunkle Hemisphäre ihre Wärme in den leeren Raum abstrahlt. Es gäbe jeden Morgen Frost, wenn der Boden die Hitze während des Tages nicht aufspeicherte. Wenn wir nun diese Hitzespeicherung tagsüber verhindern – indem
wir vor Sonnenaufgang ein Stück Boden zudecken und die Isolierung den ganzen Tag liegenlassen – dann haben wir einen Kühlungseffekt! Der Nachthimmel ist der leere Raum – mehr als zweihundert Grad unter Null!« Ein Gemurmel lief durch den Raum, und die Männer begannen zu diskutieren. Die Vorarbeiter des Kolonialteams waren Männer der Praxis, wußten aber auch, warum einige Dinge praktisch waren. Ganz ohne theoretische Kenntnisse kann man moderne Stahlarbeiten nicht durchführen und auch keine neuartigen Bergbaumaschinen bedienen. Bordmans Vorschlag klang eigentlich recht vernünftig – wie etwas, das sogar klappen konnte. Schon auf den ersten Blick ließ sich erkennen, daß auf diese Weise ein Temperaturabfall erreicht werden konnte, der doppelt so groß war wie die normale nächtliche Abkühlung. Aber da holte schon jemand einen Rechenschieber hervor und begann fachmännisch damit zu hantieren. Erstaunt verkündete er seine Ergebnisse. Andere stellten diese in Frage und rechneten selbst, nur um zum gleichen Schluß zu kommen. Niemand kümmerte sich um Bordman. Das Büro war von der lebhaften Diskussion erfüllt, an der sich auch Redfeather und Chuka sofort beteiligten. Nach einiger Zeit kristallisierte sich heraus, daß durch die Hitzeabstrahlung jede zweite Nacht ein totaler Temperatursturz von hundert Grad erreicht werden konnte, wenn die Atmosphäre von Xosa II wirklich so klar war wie aus den hellen Sternen und dem tiefblauen Tageshimmel ersichtlich, und wenn keine warmen Winde aufkamen, die sich vielleicht verhindern ließen, indem man… Und dieses Problem ließ schließlich drei Gruppen entstehen, die verschiedene Lösungen vorschlugen. Als Dr. Chuka schließlich mit lauter Stimme vorschlug, doch alle drei Lösungen auszuprobieren und schon vor Sonnenaufgang fertig zu haben, löste sich die Versammlung schnell auf, und die
Männer verließen die Schiffshülle, noch immer in ihre Diskussion vertieft. Jemand hatte sich erinnert, daß es in einer sehr trockenen Gegend auf Timbuk Tauteiche gab, und ein anderer wußte zu berichten, daß die Bewässerung auf Delmos III auf gleiche Weise bewirkt wurde. Und er erinnerte sich, wie das dort gemacht wurde… Die Stimmen schwirrten durch die ofenheiße Nacht davon. Bordman verzog das Gesicht und sagte: »Verdammt! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen!« »Weil Sie nicht Geschichte studiert haben; weil Sie nicht mit einem pferdezüchtenden Mann verheiratet sind und keine Eiskrem mögen«, sagte Aletha lächelnd. »Trotzdem brauchten wir einen Techniker wie Sie, um das Problem auf eine einfache Formel zu reduzieren.« Dann fügte sie hinzu: »Ich kann mir vorstellen, daß Sie Bob Running Antelope gefallen würden, Mr. Bordman.« Bordman sagte ärgerlich: »Wer ist denn das? Und was soll diese Bemerkung?« »Das sage ich Ihnen«, erwiderte Aletha, »wenn Sie noch ein paar Problemchen gelöst haben.« In diesem Augenblick kehrte ihr Vetter zurück und sagte mit Genugtuung: »Chuka sagt, er kann Silikon-Isolierungen herstellen. Es gibt genug Material, und er wird einen Sonnenspiegel benutzen, um sich die nötige Hitze zur Herstellung des Silikons zu beschaffen. Wie groß muß die bedeckte Fläche sein, um pro Nacht fünfzehntausend Liter Wasser zu gewinnen?« »Wie soll ich das wissen?« fragte Bordman. »Wie groß ist der Feuchtigkeitsgehalt der Luft hier überhaupt?« Dann fuhr er verblüfft fort: »Moment mal! Benutzen Sie Hitzeaustauscher zur Abkühlung der Luft, ehe Sie sie unter Einsatz von Energie abkühlen und in die Gebäude pumpen? Das würde uns Energie sparen…« Der indianische Projektingenieur sagte gebannt: »Rechnen wir uns das mal aus! Ich bin eigentlich nur
Stahlbaufachmann, aber…« Die beiden Männer gingen an die Arbeit. Aletha blätterte eine Seite um.
Die Warlock kreiste um den Planeten. Die Männer an Bord wurden still und zogen sich in sich selbst zurück. Schon die zweimonatige Reise hatte ausgereicht, um die erste Gereiztheit aufkommen zu lassen. Jetzt konnte sich die Zeit zu Jahren dehnen. Zunächst vermieden die Männer mit ihren Mannschaftskameraden in Kontakt zu kommen. Sie waren mit der Eintönigkeit ihres Daseins schon so vertraut, daß die Zukunft ihnen nichts Neues mehr bieten konnte. Sie wußten, wie sehr sie sich bald gegenseitig auf die Nerven fallen würden, und dieses Wissen trug dazu bei, daß sie sich schon jetzt nicht ausstehen konnten. Nach kaum zwei Tagen auf der Kreisbahn haderten die Männer an Bord der Warlock bereits krankhaft mit ihrem Schicksal. Am dritten Tag gab es einen zweiten Faustkampf, der ziemlich erbittert geführt wurde. Kämpfe dieser Art waren kein gutes Zeichen in einem Raumschiff, das wahrscheinlich erst in einigen Jahren wieder irgendwo landen konnte.
Die meisten menschlichen Probleme hängen irgendwie zusammen und finden eine Lösung, sobald ein winziger, unbedeutender Teil der Kette gelöst wird. Das große Problem der interstellaren Raumfahrt lag in der Tatsache, daß sich nichts schneller als das Licht bewegen konnte, und nichts konnte sich schneller als das Licht bewegen, weil die Masse mit der Geschwindigkeit zunahm, und das geschah ganz offensichtlich, weil die Schiffe im gleichen Zeitkontinuum blieben, auch nachdem man herausgefunden hatte, daß eine Ein-Sekunden-Verschiebung möglich war; es machte sich
einfach niemand klar, daß das die Überlichtgeschwindigkeit bedeutete. Und vor Beginn der interstellaren Raumfahrt gab es auch praktisch keinen interplanetarischen Handelsverkehr, weil für Starts und Landungen zuviel Treibstoff benötigt wurde. Und man brauchte mehr Treibstoff, um den Treibstoff zu transportieren, der für die Starts und Landungen benötigt wurde, und so weiter – bis schließlich jemand die Energie der Bodenstation für die Starts und Landungen einsetzte. Jetzt erst konnten die interplanetarischen Schiffe nennenswerte Ladungen an Bord nehmen. Und auf Xosa II gab es eine Notlage, weil ein Sandsturm das fast vollendete Landegestell unter einigen Megatonnen Sand begraben hatte und der Bau nun nicht vollendet werden konnte, weil nicht genügend Energie vorhanden war; was wiederum daran lag, daß er eben nicht vollendet war, weil man nur wenig gespeicherte Energie hatte, weil… Trotz allem dauerte es fast drei Wochen, bis das Problem auf die tatsächlich einfachen Grundbegriffe reduziert werden konnte. Bordman hatte es als ein Problem bezeichnet, das sich im Kreise drehte, aber er hatte seine wahre Kreisform eigentlich noch nicht erkannt. Wie alle Kreisprobleme handelte es sich in Wirklichkeit um eine unstabile Reihe von Umständen und begann auseinanderzufallen, sobald er feststellte, daß ihm der Tatbestand der Kühlung die Möglichkeit eröffnete, weitere Probleme zu lösen. Nach einer Woche waren schon zehn Morgen Wüste mit streifenförmigem Silikon-Woll-Filz bedeckt. Tagsüber bildete eine glänzende Schicht die Oberfläche, und bei Sonnenuntergang schleppten Kriechradwagen die Streifen beiseite und legten eine gitterförmige Anlage mit unzähligen kleinen Vertiefungen frei. Das Gitterwerk war so gestaltet, daß die darüber hinstreichenden Winde in den kleinen Vierecken keine Luftwirbel erzeugten. Auf diese Weise blieb die gekühlte Luft
in den Gittertaschen ungestört, und es konnte auch keine Wärmeableitung nach unten entstehen. Dagegen herrschte die ganze Zeit über eine herrliche Hitzeabstrahlung in den Raum hinaus – so wie es auf den Nachtseiten jedes Planeten geschah, nur noch viel stärker. Nach zwei Wochen wurden pro Nacht schon rund zehntausend Liter Wasser gewonnen. Nach weiteren drei Wochen waren über den meisten Häusern der Kolonie ähnliche Gitter angebracht, und man hatte einen riesigen Schuppen errichtet, in dem die für das Kühlsystem bestimmte Luft vorgekühlt wurde. Auf diese Weise würde der Vorrat an gespeicherter Energie wahrscheinlich dreimal so lange reichen. Die einfache Gleichung des Todes ging plötzlich nicht mehr auf. Eines Tages geschah etwas Neues. Einer von Dr. Chukas Assistenten interessierte sich für ein bestimmtes Mineral. Zum Schmelzen benutzte er den Sonnenofen, mit dem auch die Silikonwolle hergestellt worden war. Dr. Chuka beobachtete ihn bei seiner Arbeit. Einen Augenblick später riß er verblüfft die Augen auf, lachte dann laut los und besuchte Ralph Redfeather. Daraufhin nahmen indianische Stahlarbeiter eine Schiffshülle auseinander, die als Treibstofftank gedient hatte, die nun aber leer stand, weil der Treibstoff verbraucht war. Aus dem so gewonnenen Rohmaterial entstand ein transportabler Achtzehnmeter-Sonnenspiegel, der von den afrikanischen Technikern eine leistungsfähige Energieausrüstung erhielt. Plötzlich entstand auf der Oberfläche von Xosa II ein grellweißer Lichtpunkt, der noch heller war als die Sonne des Systems. Die Energie spielte auf einer Klippe. Unvorstellbare Gerüche zogen durch die Atmosphäre, und sogar die afrikanischen Bergbau-Techniker setzten ihre Blendbrillen auf. Wenig später tröpfelten
geschmolzenes Metall und Schlacke in auseinanderlaufenden Bächen zögernd die Klippe hinab. Dr. Chuka strahlte und klatschte sich auf die schwitzenden Schenkel, und Bordman zog einen Hitzeanzug über und ließ sich in einem Kriechrad-Wagen hinausfahren, um das Schauspiel zwanzig Minuten lang zu beobachten. Als er in das Büro des Projektingenieurs zurückkehrte, stürzte er ein Glas eiskaltes Salzwasser hinab und grub seine Bücher aus, die er vom Schiff mitgebracht hatte. Vor allem den Band mit den spezifischen Vorschriften und die Bücher mit den allgemeinen Definitionen, die von der Kolonialbehörde herausgegeben worden waren. In ihnen waren die kurzen Ausdrücke näher definiert, die manchmal vom Kolonialamt benutzt wurden, um bestimmte Ausrüstungsgegenstände zu bestellen.
Als Chuka wenig später das Büro betrat, brachte er das erste rohe Gußstück xosanischen Eisens mit. Er strahlte. Bordman war gerade nicht anwesend, und Ralph Redfeather arbeitete fieberhaft an seinem Tisch. »Wo ist Bordman?« fragte Chuka mit seiner vibrierenden Stimme. »Ich möchte die offizielle Meldung machen, daß die Bergbauanlagen auf Xosa II ab heute in der Lage sind, Gußeisen, Kobalt, Zirkonium und Beryllium in handelsüblichen Mengen zu liefern! Im Augenblick müssen wir zwar noch eine eintägige Frist setzen, wenn wir etwas anderes als Eisen liefern sollen – unsere Maschinen reichen eben noch nicht aus – aber wir können auch Chrom und Mangan liefern – allerdings erst nach zwei Tagen. Die Lager sind etwas weiter entfernt.« Er ließ das Stück Eisen auf den zweiten Tisch fallen, auf dem sich Aletha mit ihren LoseblattBänden eingerichtet hatte. Das Metall qualmte und begann die
Tischplatte zu versengen. Er nahm es wieder auf und betastete es vorsichtig mit seinen behandschuhten Fingern. »Was willst du mehr, Ralph!« brüstete er sich. »Ihr mit euren Coups! Den hier kannst du mir anschreiben! Ohne Energie und nur mit selbstgebauten Maschinen können wir jetzt das erste Schiff beladen, das hier landet. Allerdings muß ich etwas fremde Hilfe beim Sonnenspiegel eingestehen, aber das ist alles. Na, wie willst du das in den Unterlagen festhalten? Ich glaube, wir haben euch da ganz schön übertrumpft.« Ralph kümmerte sich kaum um den großen Mann. Seine Augen leuchteten. Er war eifrig damit beschäftigt, einige Formeln und Zahlen aus dem Definitionsbuch des Kolonialamts abzuschreiben, die Bordman ihm gezeigt hatte. Die Bücher begannen mit der Spezifikation für antibiotische Gewächsanlagen für Kolonien mit Bakterienproblemen und schlossen mit den erforderlichen Materialstärken für Zookäfige für die bewegliche Fauna, unterteilt in Flug-, Wasser- und Landwesen, diese wiederum unterteilt in Fleisch-, Pflanzenund Allesfresser; dazu besondere Spezifikationen für die Käfige von Tiefseewesen, die besonders hohen Luftdruck benötigten oder deren Planeten eine giftige Atmosphäre hatten. Redfeather hatte den dritten Band bei »Landegestelle, Leichter Notfall, Rettungsstationen, Benutzung von« geöffnet. An den meistbefahrenen Handelsrouten im All gab es eine Reihe von nicht-kolonisierten Planeten, auf denen Rettungsstationen für schiffbrüchige Raumfahrer unterhalten wurden. Diese Stationen hatten jeweils nur eine kleine Patrouillenbesatzung, die von Rettungsbooten versorgt wurden. Ihre Energie bezogen sie mittels kleinster Anlagen aus der Ionosphäre des jeweiligen Planeten, und naturgemäß konnten sie nur mit Booten von maximal zwanzig Tonnen fertig werden. Aber die Spezifikationen für die Ausstattung derartiger Rettungsstationen waren auch in Bordmans
Unterlagen enthalten, obwohl er nur Kolonialinspektionen durchführte. Sie waren unter anderem auch für Firmen bestimmt, die sich an Ausschreibungen für den Bau solcher Anlagen beteiligen wollten, und für die Männer, die diese Arbeiten überprüfen mußten. Also enthielten sie alle erforderlichen Anweisungen zum Bau eines Landegestells, Rettungsstation, Benutzung von – falls das einmal benötigt wurde. Redfeather machte sich fieberhaft Notizen. Chuka unterbrach seinen Redefluß und blickte grinsend um sich. »Ich weiß, daß wir nicht weiterkommen, Ralph«, sagte er freundlich, »aber so etwas macht sich in den Unterlagen recht gut. Schade, daß wir keine Coup-Verzeichnisse führen wie ihr Indianer.« Alethas Vetter sagte barsch: »Verschwinde! Wer hat deinen Sonnenspiegel gebaut – das war mehr als nur fremde Hilfe! Bereitet euch darauf vor, Eisenträger für uns zu gießen! Stützpfeiler! Ich will versuchen, ein Rettungsboot hochzubekommen und nach Trent zu schicken. Wir bauen ein Kleinst-Landegestell und werden den Leuten draußen die Hölle heiß machen, damit sie uns Vorräte schicken! Wenn uns kein neuer Sandsturm einen Strich durch die Rechnung macht und die Kühlflächen wieder zudeckt, auf die uns Bordman gebracht hat, können wir uns mit hydroponischer Nahrung am Leben halten, bis das Schiff hier ist.« Chuka starrte ihn nur an. »Du willst doch nicht etwa sagen, daß wir tatsächlich eine Überlebenschance haben? Wie?« Aletha musterte die beiden Männer ironisch. »Dr. Chuka«, sagte sie leise, »Sie haben das Unmögliche geschafft. Ralph hat es nun auf das Absurde abgesehen. Fällt Ihnen vielleicht auf, daß Mr. Bordman inzwischen das Unvorstellbare vollbringen will? Auch für ihn ist es unvorstellbar, aber er versucht es trotzdem.« »Was will er denn versuchen?« fragte Chuka vorsichtig und leicht amüsiert.
»Er versucht zu beweisen«, sagte Aletha, »daß er der beste Mann auf diesem Planeten ist, weil er sich körperlich am wenigsten für ein Leben hier eignet. Sein Stolz ist verletzt. Unterschätzen wir ihn nicht!« »Er soll der beste Mann hier sein?« fragte Chuka ausdruckslos. »Auf seine Weise ist er ein patenter Bursche – die Idee mit der Kühlung beweist das! Aber er kann sich ohne Hitzeanzug nicht nach draußen wagen.« Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, sagte Ralph Redfeather trocken: »Unsinn, Aletha. Er hat Mut – das will ich ihm zugestehen. Aber er könnte nicht in dreihundert Metern Höhe auf einem Stahlträger balancieren. Auf seine Art ist er durchaus fähig, jawohl. Aber der beste Mann hier…« »Ich bin sicher«, stimmte ihm Aletha zu, »daß er auch nicht so gut singen könnte wie der schlechteste Sänger in Ihrem Chor, Dr. Chuka, und jeder Indianer wäre ihm im Laufen überlegen – ja, vielleicht sogar ich. Aber er hat etwas, das wir nicht haben, ebenso wie wir über Eigenschaften verfügen, die er nicht hat. Wir fühlen uns sicher in den Grenzen unseres Könnens. Wir wissen, was sich schaffen läßt, und daß wir es besser schaffen als irgendein – « ihre Augen leuchteten – »Bleichgesicht. Aber er zieht sich selbst in Zweifel – jederzeit und in jeder Beziehung. Und aus diesem Grunde ist er vielleicht der beste Mann auf diesem Planeten. Ich möchte wetten, daß er das noch unter Beweis stellt!« Redfeather sagte verächtlich: »Du hast die Sache mit der Hitzeabstrahlung vorgeschlagen! Was beweist es schon, daß er sie für uns in die Praxis umgesetzt hat?« »Es beweist vor allem«, erwiderte Aletha, »daß er die Katastrophe nicht auf sich zukommen lassen konnte, ohne etwas dagegen zu unternehmen – auch wenn es zunächst unmöglich aussah. Er vermochte sich mit den fatalen
Tatsachen auch abzufinden. Er quälte sich mit dem Gedanken, daß die Tatsachen weniger fatal sein würden, wenn sich hier oder dort etwas drehen ließe. Sein Stolz war verletzt, weil hier die Natur über den Menschen gesiegt hatte. Seine Ehre war angekratzt. Und ein so leicht verletzlicher Mann ist zwar niemals richtig glücklich, aber er kann in seiner Arbeit zu Höchstleistungen kommen!« Chuka erhob sich massig aus seinem Stuhl. »Sie sind freundlich«, sagte er kichernd, »sehr freundlich! Ich möchte seine Gefühle nicht verletzen, ehrlich nicht! Aber es ist mir noch nicht passiert, daß ein Mann wegen seines Stolzes oder wegen seiner Empfindlichkeit gelobt wird. Wenn Sie recht haben… nun, dann kann es uns nur recht sein. Vielleicht berechtigt uns das dann zu neuer Hoffnung. Aber… hmm. Würden Sie einen solchen Mann heiraten?« »Das möge der Große Manitou verhindern«, sagte Aletha hastig. Bei dem Gedanken verzog sie das Gesicht. »Ich bin Indianerin – ich möchte einen zufriedenen Mann. Und ich möchte auch mit ihm zufrieden sein. Mr. Bordman wird niemals richtig glücklich oder zufrieden sein. Nein, ein Bleichgesicht ist nichts für mich! Aber ich glaube nicht, daß er schon am Ende ist. Daß wir Hilfe holen, wird ihn nicht zufriedenstellen. Sein Stolz wäre immer noch verletzt. Er würde sich unmöglich vorkommen, wenn er sich selbst nicht bewiese, daß er noch Besseres leisten kann!« Chuka zuckte die massigen Achseln. Redfeather notierte den letzten Punkt und sprang auf. »Welche Eisenmengen könnt ihr produzieren, Chuka?« fragte er. »Was läßt sich wegen der Gußformen machen? Wie sieht es mit dem Elastizitäts-Modul aus? Wieviel Kohlenstoff enthält das Eisen? Und wann könnt ihr mit den großen Güssen anfangen?«
»Sprechen wir mal mit meinem Vorarbeiter«, sagte Chuka selbstgefällig. »Wir können zusammen ausrechnen, wie schnell meine… äh… Erzquelle Metall über die Felsklippen rieseln läßt. Wenn du tatsächlich dein Rettungsboot in die Luft bekommst, können wir vielleicht schon in anderthalb Jahren mit Hilfe rechnen, und nicht erst in fünf.« Gemeinsam verließen sie das Büro. Im benachbarten Raum war ein leises Geräusch zu hören, und Aletha hielt den Atem an. Eine halbe Minute lang saß sie regungslos da. Dann wandte sie den Kopf. »Ich muß mich entschuldigen, Mr. Bordman«, sagte sie bedauernd. »Ich kann meine Unhöflichkeit nicht rückgängig machen, aber es tut mir sehr leid.« Bordman betrat das Büro. Er war bleich. »Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand, wie? Tatsächlich wollte ich gerade hereinkommen, als ich – Bemerkungen über mich hörte, die Chuka und Ihren Vetter in Verlegenheit setzen würden, wenn sie wüßten, daß ich sie gehört habe. Ich blieb also stehen. Nicht um zu lauschen, sondern um sie nicht wissen zu lassen, daß ich ihre private Meinung über mich gehört hatte. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie es ihnen nicht sagen würden. Jeder hat ein Anrecht auf seine eigene Meinung – ich habe auch eine Meinung über die beiden.« Er fügte grimmig hinzu: »Offenbar schätze ich sie höher ein als sie mich!« Aletha sagte zerknirscht: »Es muß sich fürchterlich angehört haben. Aber sie… und wir alle schätzen Sie höher ein, als Sie sich selbst einschätzen.« Bordman zuckte die Achseln. »Sie ganz besonders. Würden Sie jemand wie mich heiraten? Manitou, nein!« »Und aus gutem Grund«, sagte Aletha entschlossen. »Wenn ich hier wieder herauskomme – wenn ich hier herauskomme –, werde ich Bob Running Antelope heiraten. Er ist nett, und der Gedanke an eine Ehe mit ihm gefällt mir. Ich möchte es gern.
Aber ich erwarte nicht nur Glück, sondern auch Zufriedenheit, Erfüllung. Das ist wichtig für mich – im Gegensatz zu Ihnen und zu der Frau, die zu Ihnen passen würde. Und ich… nun, ich könnte Sie beide nicht beneiden!« »Ich verstehe«, erwiderte Bordman ironisch, ohne etwas zu verstehen. »Ich wünsche Ihnen all die Zufriedenheit, mach der Sie sich sehnen.« Dann schnappte er: »Aber was heißt, daß Sie noch Großes von mir erwarten? Was für umwälzende Ideen soll ich noch aus dem Zylinder zaubern, weil ich so schrecklich stolz bin?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Aletha ruhig. »Aber ich bin der Meinung, daß Sie irgendwann mit einer Idee aufkreuzen werden, auf die niemand von uns kommen würde. Und ich habe nicht gesagt, daß Ihr Stolz der Antrieb dazu wäre, sondern die Tatsache, daß Sie mit sich unzufrieden sind. Das ist Ihnen angeboren!« »Wenn Sie damit sagen wollen, daß ich neurotisch bin«, schnappte Bordman, »liegen Sie falsch! Ich bin nicht neurotisch, nein. Ich bin nur wütend! Ich komme wegen dieses Durcheinanders noch mit meinem ganzen Zeitplan in Verzug – das ist alles!« Aletha erhob sich und zuckte bedauernd die Achseln. »Ich wiederhole meine Entschuldigung«, sagte sie, »und überlasse Ihnen jetzt das Büro. Aber ich möchte auch noch einmal sagen, daß ich glaube, Sie werden sich noch etwas ausdenken, auf das niemand sonst kommen würde – und ich habe keine Vorstellung, was das sein könnte. Aber Sie werden es jetzt allein schon deshalb tun, um zu beweisen, daß ich mich in meinem Urteil geirrt habe.« Sie verließ das Büro, und Bordman biß die Zähne zusammen. Er hatte das bedrückende Gefühl, daß er eben etwas über sich gehört hatte, das nicht ganz von der Hand zu weisen war. »Idiotisch!« wütete er, als er allein war. »Ich soll neurotisch sein? Ich soll beweisen wollen, daß ich der beste Mann hier auf dem Planeten bin –
nur weil ich stolz bin?« Er schnaubte verächtlich durch die Nase und setzte sich ungeduldig hinter den Tisch. »Absurd!« knurrte er aufgebracht. »Warum sollte ich mir selbst beweisen, daß ich etwas leisten kann? Was würde ich tun, wenn ich ein solches Bedürfnis hätte?« Stirnrunzelnd starrte er die Wand an. Es war zum Auswachsen! Die Frage nagte an ihm – was würde er tun, wenn sie recht hätte? Wenn er sich tatsächlich ständig beweisen müßte… Er erstarrte plötzlich, und ein Ausdruck größter Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte überlegt, was ein unsicherer, unzufriedener Mann in seiner Lage hier auf Xosa II tun würde. Das Überraschende war, daß er auch schon eine Lösung hatte!
Die Warlock erwachte. Mürrisch beantwortete der Kapitän den Notruf von Xosa II. Er lauschte. Dann schaltete er das Empfangsgerät ab und eilte an eine Außenluke, die für die Zeit verdunkelt war, da die blauweiße Sonne des Systems diese Seite des Schiffes beschien. Er bediente die Handkontrollen und machte die Luke durchsichtiger. Dann starrte er auf die ungeheure, sandfarbene gefleckte Oberfläche des Planeten hinab, die achttausend Kilometer unter ihm dahinzog. Er hielt nach der Stelle Ausschau, an der er die Kolonie wußte. Und er sah, was man ihm angekündigt hatte – ein unendlich feines Gebilde, das von der Planetenoberfläche aufragte. Es lag etwas schräg – zum Westen des Planeten hin – und wuchs mit der Planetendrehung zu einem ungewöhnlichen pilzförmigen Objekt an, das einfach nicht denkbar war. Es war nicht möglich, daß dieses dreißig Kilometer hohe Gebilde Menschenwerk war – dieses Gebilde, das sich in der Spitze wie ein Giftpilz auf schlankem Stiel erweiterte und nach Westen treibend auszufransen und dünner zu werden begann
und das sich dennoch ständig erneuerte. Aber seine Augen täuschten ihn nicht. Der Kapitän der Warlock starrte nach unten, bis kein Zweifel mehr bestand. Es war keine Atomexplosion, weil sich der Pilz nicht veränderte; das Gebilde schwand, wurde aber immer wieder ergänzt. So etwas gab es einfach nicht! Er ging brüllend durch das Schiff und forderte damit unwillige Reaktionen heraus. Aber als die Warlock bei der nächsten Umkreisung die bewußte Stelle wieder erreichte, wurde die seltsame Erscheinung auch von den Männern des Schiffes beobachtet. Nachdem sie sie auch mit Teleskopen erforscht hatten, brach hysterisches Freudengeschrei aus. Hastig machten sie sich an die Arbeit, die Spuren ihrer anderthalbmonatigen Meuterei und Verzweiflung zu beseitigen. Sie brauchten drei Tage, um das Schiff wieder zu säubern, und die ganze Zeit über veränderte sich der seltsame braune Sandstrahl nicht. Am sechsten Tage schwächte er ab und war am siebenten größer denn je und hielt schließlich die Größe. Die Beobachtungen durch die Teleskope bestätigten die Nachricht, die der Kapitän erhalten hatte. Bald wurde die Mannschaft ungeduldig, und die letzten drei oder vier Tage waren schlimmer als die ganze vorhergehende Zeit der Hoffnungslosigkeit. Aber jetzt gab es keinen Grund mehr zum Haß. Der Kapitän war sehr erleichtert. Ein achthundert Meter hohes Gitterwerk aus Stahl ragte auf und bildete eine vielfach gekreuzte, ringförmige Wand, die fast die Höhe der das Tal umgebenden Berge erreichte. Aber es war eigentlich kein normales Tal mehr, sondern ein Krater – eine steile, konisch zulaufende Grube, deren Sandhänge gerade außerhalb der Umrandungsträger des rotleuchtenden Stahlgebildes ausliefen. Weitere Stahlträger, mit denen das Landegestell vollendet werden konnte, lagen außerhalb des
großen Runds aufgestapelt. In der Mitte erhob sich ein kompliziertes vielfach verstrebtes Objekt, das auf dem Felsgrund ruhte. Es war (nicht angestrichen und sehr klein – vielleicht dreißig Meter hoch und kaum neunzig Meter im Durchmesser. Aber es war deutlich als Nachahmung des riesigen, jetzt freigelegten und neu angestrichenen Landegestells zu erkennen, das in der Lage war, interstellare Frachtschiffe und den ganzen Raumverkehr einer BergbauKolonie zu bewältigen. Ein Kriechrad-Fahrzeug kam den Hang herabgerollt und -geschwankt. Es war mit einem Sonnenschutz und Seitenflügeln versehen, und Bordman ritt erschöpft auf seiner Decke im Laderaum. Er trug einen Hitzeanzug. Der Wagen erreichte den Talgrund und hielt vor einem Werkzeugschuppen. Bordman stieg aus. Der wilde, ungewohnte Ritt hatte ihn sichtlich mitgenommen. »Wollen Sie sich im Schuppen etwas abkühlen?« fragte Chuka fröhlich. »Mir geht’s gut«, sagte Bordman kurzangebunden. »Ich fühle mich ganz wohl, solange Sie mir die Druckluft nicht wegnehmen.« Es war offensichtlich, daß es ihm nicht gefiel, auf diese Extraluft angewiesen zu sein. »Was soll das alles? Sie wollen die Warlock herunterholen? Warum bestehen Sie darauf, daß ich dabei bin?« »Ralph hat ein Problem«, sagte Chuka höflich. »Er ist da oben, sehen Sie? Er braucht Sie. Wir haben auch einen Aufzug. Sie müssen ja sowieso den Stand der Arbeiten begutachten und könnten sich gleich umsehen, wenn Sie schon mal da oben sind. Er möchte Ihnen aber gern etwas zeigen – dort, wo die Leute zusammenstehen. Auf der Plattform.« Bordman verzog das Gesicht. Wenn man mitten in einer Inspektion steckte, hatte man sich an Höhen und Tiefen und an eine fremdartige Umgebung ziemlich gewöhnt. Aber er hatte seit Monaten keine Stahlkonstruktion mehr bestiegen –
eigentlich nicht mehr seit seiner Inspektion auf Kalka IV vor fast einem Jahr. Er mußte damit rechnen, daß ihm zunächst schwindlig war. Er begleitete Chuka an die Stelle, an der ein Stahlkabel von einem fast unsichtbaren Stahlträger in schwindelnder Höhe herabhing. Der Fahrstuhl bestand aus einem improvisierten Korb; ein paar Planken und eine Reling bildeten eine unzureichend wirkende Plattform, die vier Menschen aufnehmen konnte. Die beiden Männer betraten den kleinen Fahrstuhl, und auf ein Handzeichen von Chuka wurden sie hochgezogen. Bordman stöhnte innerlich, als der Boden unter ihm hinwegstürzte. Es war ein schreckliches Gefühl, derart im Nichts zu hängen. Er wollte die Augen schließen. Immer höher stieg der kleine Käfig und erreichte sein Ziel erst nach unendlich langer Zeit. Hier wartete eine neue Plattform. Die Sonne blendete, und die Landschaft war in einen unerträglichen Schimmer getaucht. Bordman stellte seine Blendbrille auf größte Dunkelheit ein und trat vorsichtig aus dem schwankenden Käfig auf die kaum haltbarer wirkende Plattform hinüber, die gerade zehn Quadratmeter groß war. Sie war etwa in doppelter Höhe eines gewöhnlichen städtischen Wolkenkratzers angebracht. Die Berggipfel waren kaum einen Kilometer entfernt und lagen nicht viel höher. Bordman fühlte sich unwohl. Er würde sich an das Gefühl gewöhnen, aber… »Nun?« fragte er mürrisch. »Chuka hat gesagt, daß Sie mich hier brauchen. Was ist los?« Ralph Redfeather nickte ihm förmlich zu. Auch Aletha war anwesend, ebenso wie zwei Vorarbeiter Chukas, von denen einer nicht sehr glücklich aussah, und vier indianische Stahlarbeiter. Sie grinsten Bordman an. »Ich wollte Ihnen die Anlage zeigen«, sagte Alethas Vetter, »ehe wir die Energie einschalten. Es sieht ganz und gar nicht so aus, als hätte das kleine Landegestell mit all dem Sand
fertigwerden können. Aber Lewanika wollte Ihnen Bericht erstatten.« Ein Farbiger, der unter Chuka arbeitete und der nach seinem Aussehen in diesem Augenblick lieber festen Boden unter den Füßen gehabt hätte, begann langsam zu sprechen. »Wir gossen die Träger für das kleine Landegestell, Mr. Bordman. Wir schmolzen das Metall aus den Klippen heraus und ließen es in die Gußformen laufen.« Er hielt inne. Einer der Indianer sagte: »Wir bauten aus den Trägern das kleine Landegestell. Wir machten uns zuerst Gedanken, weil wir es auf dem Sand errichteten, unter dem das große Gestell begraben lag. Wir verstanden nicht, warum Sie diese Baustelle bestimmt hatten. Aber wir bauten es.« Der zweite Farbige schwankte etwas und fuhr fort: »Wir stellten die Spulen her und richteten das kleine Gestell so ein, daß es genauso arbeiten konnte wie das große. Und dann aktivierten wir das große Gestell, obwohl es noch nicht fertig war!« »Gut, gut«, sagte Bordman ungeduldig. »Ausgezeichnet. Aber was soll das? Ist das eine Feier?« »Haben Sie Geduld, Mr. Bordman«, sagte Aletha lächelnd. Ihr Vetter fuhr im Gesprächston fort: »Wir errichteten das kleine Gestell oben auf dem Sand und zogen Energie aus der Ionosphäre. Unter Mangel an Energie litten wir also nicht! Und dann stellten wir es so ein, daß es anstelle von Schiffen Sand in die Höhe hob. Nicht so stark, daß es den Sand ins All transportierte, sondern daß der Sand in einiger Höhe von den vertikalen Winden ergriffen werden konnte. Dann schalteten wir es ein.« »Und wir trieben das kleine Ding in die Tiefe«, sagte einer der Indianer grinsend. »Was für ein Ritt! Manitou!« Redfeather starrte ihn stirnrunzelnd an und nahm die Erzählung wieder auf. »Das kleine Gestell schleuderte den
Sand aus dem Mittelpunkt des Tals hinauf. Wie Sie vorhergesagt hatten, brachte der Sand die Luft in Bewegung, so daß durch die Wirbel mehr Sand in den Bereich des Gestells kam – ein Wirbelsturm, der durch fünfzehn Megakilowatt angetrieben wurde. Der Sand wurde teilweise bis zu dreißig Kilometer hoch geschleudert, bildete eine Art Pilz, bis der Wind dort oben die Eruptionen nach Westen abtrieb. Das ganze Zeug ist weitab wieder heruntergekommen, Mr. Bordman, wo wir eine neue Dünenlandschaft gebildet haben. Und das kleine Gestell sank immer weiter ein – im gleichen Maße, wie der Sand darunter und in einem gewissen Umkreis verschwand. Wir mußten den Prozeß dreimal stoppen, weil es zu kippen drohte. Wir mußten mühsam graben, um es wieder zu begradigen – aber es fraß sich ins Tal hinein.« Bordman stellte die Motoren seines Hitzeanzugs auf größere Leistung. Ihm war unangenehm warm. »In sechs Tagen«, sagte Ralph fast feierlich, »hatte das kleine Ding das alte Landegestell zur Hälfte freigelegt. Jetzt waren wir in der Lage, die große Anlage umzustellen und so in Betrieb zu nehmen, daß sie ebenfalls Sand in die Höhe wirbelte. Auf diese Weise konnten wir noch größere Energien einsetzen, und zwei Tage später war das ganze Landegestell frei. Der Talgrund war wieder zugängig. Wir haben einige hundert Millionen Tonnen Sand mit Hilfe unseres Landegestells transportiert und können jetzt auch die Warlock und ihre Ladung begrüßen, und der Sonnen-Schmelzofen ist bereits dabei, Gußstücke für die erste Rücksendung anzufertigen. Wir wollten Ihnen zeigen, was wir geschafft haben. Die Kolonie ist außer Gefahr, und wir werden das Landegestell fertiggestellt und zur Inspektion bereit haben, noch ehe das Schiff zum Rückflug bereit ist.« Bordman sagte gequält: »Das ist sehr gut, ausgezeichnet. Ich werde es in meinem Inspektionsbericht erwähnen.«
»Aber«, sagte Ralph womöglich noch feierlicher. »Wir haben das Recht, einen Coup für die Mitglieder unseres Stammes und unseres Clans anzurechnen. Jetzt…« Es herrschte Verwirrung. Alethas Vetter sagte Worte, die Bordman überhaupt nicht verstand. Von Zeit zu Zeit fielen die anderen Indianer ein und plapperten unsinniges Zeug. Alethas Augen leuchteten, und sie wirkte freudig erregt und zufrieden. »Aber was – was soll das?« fragte Bordman, als alles vorüber war. »Ralph hat Sie gerade formell in den Stamm aufgenommen, Mr. Bordman – und in seinen und meinen Clan«, sagte Aletha stolz. »Er hat Ihnen einen Namen gegeben, den ich Ihnen noch aufschreiben muß. Er bedeutet jedenfalls ›Mann-der-nicht-aneigene-Weisheit-glaubt‹. Und jetzt…« Ralph Redfeather, zugelassener interstellarer Ingenieur, Absolvent der härtesten technischen Universität in seinem Teil der Galaxis, Träger dreier Adler-Flügelfedern, gekleidet in ein Paar isolierte Sandalen und einen Lendenschurz – brachte einen kleinen Farbtopf und einen Pinsel zum Vorschein und begann auf einem Stück Stahlträger, das zur Aufnahme der nächsten Etage bereit war, zu malen. Sorgsam malte er eine Feder auf das Metall. »Das ist ein Coup«, erklärte er Bordman über die Schulter. »Ihr Coup, aufgemalt, wo er errungen wurde – hier oben. Aletha ist ermächtigt, ihn offiziell zu bestätigen. Und der Anführer des Clans wird seinem Kopfschmuck eine weitere Adlerfeder hinzufügen, den er im großen Zelt auf Algonka trägt, und – und Ihre Clanbrüder werden stolz sein.« Dann richtete er sich auf und streckte die Hand aus. Chuka sagte lächelnd: »Als zivilisierte Menschen haben wir für unzivilisierte Federn nichts übrig. Aber wir… äh… haben sehr viel für Sie übrig. Und wir beabsichtigen nach der Landung der Warlock einen Tanz zu veranstalten, bei dem sich unser Chor produzieren wird. Es gibt ein… äh… Lied, eine Art choraler
Calypso über dieses… äh… Abenteuer, das Sie zu einem so angenehmen Ende gebracht haben. Es ist ein ziemlich guter Calypso, der auf vielen Planeten populär sein wird.« Bordman schluckte. Er fühlte sich höchst unwohl. Er hatte das Gefühl, jetzt eigentlich etwas sagen zu müssen, und er wußte nicht, was. Aber gerade in diesem Augenblick setzte ein tiefes Summen ein, ein vibrierendes Geräusch, das von unendlicher Energie zeugte. Der Ton ging von dem achthundert Meter hohen Landegestell aus, das zum Zeichen der Betriebsbereitschaft seine unvorstellbar tiefe Baßstimme erhob. Bordman blickte auf. Die Warlock setzte zur Landung an.
Originaltitel: SAND DOOM. Copyright © 1955 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Dezember 1955. Übersetzt von Thomas Schlück.
Eric Frank Russell ABENDDÄMMERUNG DER MENSCHHEIT
Der Planet war uralt. Das fahle Muttergestirn hatte seine Kraft verloren, und der blaue Himmel über ihm vermochte keine Wolke mehr zu halten. Die Bäume waren nicht mehr wie früher. Im Laufe der Aeonen hatten sie sich ihrer veränderten Umgebung angepaßt. Die Respiration ihrer Blätter war viel schwächer als die ihrer frühen Vorfahren, aber sie saugten dafür um so mehr Nahrung aus dem ausgelaugten Boden. Genauso ging es den Gräsern. Und den Blumen. Aber es lebten auch noch Kinder dieses Planeten, die keine Blätter und keine Wurzeln hatten und die sich nach ihrem Willen frei bewegen konnten. Ihnen war dieser Ausgleich versagt; sie konnten nicht an derselben Stelle bleiben und sich aus dem Boden ernähren. Im Laufe der Zeit hatten sie deshalb lernen müssen, auf etwas zu verzichten, was früher lebensnotwendig gewesen war. Sie kamen mit einer Mindestmenge Sauerstoff aus. Die Kinder dieses Planeten waren Käfer, Vögel und Zweibeiner. Sie alle, die Käfer, die Vögel und die Menschen, waren miteinander verwandt. Sie alle hatten dieselbe Mutter: eine alte Kugel, die um eine stumpf glühende Sonne kreiste. Eines Tages würde diese Sonne ein letztesmal aufflackern und dann für immer erlöschen. Und sie alle hatten sich seit langem auf dieses Ende gewissenhaft vorbereitet. Sie lebten in einer Zeit, der die Erfüllung bevorstand, und teilten sich diese Zeit, weil sie allen gehörte. Deshalb war es auch nicht ungewöhnlich, daß Melisande mit einem kleinen Käfer sprach, der auf dem
Rücken ihrer blassen, schmalen Hand saß und aufmerksam zuhörte. Natürlich verstand der Marienkäfer kein Wort von dem, was sie sagte. So klug war er nicht. Aber im Laufe der Zeit war das Gehirn des Käfers gewachsen. Wenn er auch nicht den Sinn der Worte verstand, so wußte er doch, daß man mit ihm sprach. Er suchte die menschliche Gesellschaft und empfand Behagen beim Klang der menschlichen Stimme. Von den Tieren, die jetzt noch lebten – viele waren es nicht – war keines mehr scheu. Ob sie den Sinn des gesprochenen Wortes verstanden oder nicht, sie liebten es doch, daß man zu ihnen sprach. Oft konnten sie stundenlang zuhören. So kam es, daß Melisande sprach, während sie dahinschritt, und daß der kleine Käfer ihr geduldig zuhörte, bis sie ihre Hand schüttelte und ihm fröhlich zurief: »Flieg, kleiner Käfer, flieg nach Hause!« Er breitete die hauchdünnen Flügel aus und schwirrte davon. Melisande blieb stehen und schaute zu den Sternen empor, die bei Tage mit derselben Deutlichkeit und Klarheit zu sehen waren wie bei Nacht. Sie empfand das ungläubige Staunen eines kleinen Kindes, das eine neue Welt erblickt. Sie war an die dünne Höhenluft gewöhnt, an die schwache, blasse Sonne und an das Funkeln der Sterne. Oft schaute sie zum Himmel empor, suchte einen Stern und nannte ihn bei seinem Namen. Und immer wieder drängte sich ihr dieselbe Frage auf. »Welcher?« Und vom Himmel kam immer wieder dieselbe Antwort zurück: »Welcher?« Sie riß sich von dem Anblick los und ging auf dem schmalen Pfad weiter, der hinunter ins Tal führte. Zu ihrer Linken, ganz weit hinten am Horizont, tauchte ein länglicher schmaler Flugkörper aus Metall auf. Kurz darauf vernahm sie ein donnerähnliches Grollen.
Weder dieser ungewöhnliche Anblick noch das Geräusch vermochten ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie war daran gewöhnt. Raumschiffe waren keine Seltenheit auf diesem alten Planeten. Oft landeten zwei an einem Tag, dann wieder vergingen vier Wochen bis zur Ankunft des nächsten. Selten waren es dieselben Schiffe, und selten sahen die Insassen zweier Schiffe einander ähnlich. Sie kannten keine gemeinsame Sprache, diese Besucher aus dem geheimnisvollen Dunkel, sondern jeder bediente sich einer anderen. Manche konnten nur in Gedanken sprechen, wieder andere waren stimmlos und unfähig, einen Gedanken zu übertragen; sie konnten überhaupt nicht sprechen, sondern verständigten sich mit Hilfe ihrer ungemein geschickten Finger oder mit Hilfe irgendwelcher anderen Ausdrucksmittel. All dies machte das Lernen so schwer. Eben erst, im Alter von siebenhundert Jahren, hatte sie ihr Abschlußexamen bestanden und dadurch die Stellung eines Erwachsenen erlangt. Vor langer, langer Zeit war es vielleicht möglich gewesen, daß einer die Kenntnisse seiner Zeit innerhalb von einem Jahrhundert in sich aufnahm, und in den ersten Tagen des Lebens auf diesem Planeten war dies vielleicht in zehn Jahren möglich gewesen. Aber heute ging das nicht mehr. Jetzt, in dieser bedeutungsvollen Zeit der letzten Jahrhunderte, wurden zu viele Kenntnisse verlangt, als daß jemand sie sich ohne besondere Schulung hätte verschaffen können. Sie bestanden aus einer unübersehbaren Reihe von Daten, hinter denen sich die unendliche Größe des Kosmos verbarg. Jedes neue Schiff legte ein paar kleine, unscheinbare Körnchen auf diesen hohen Berg. Aber selbst dieser Berg des Wissens war immer noch klein im Vergleich zu dem, was noch nicht erforscht war und was noch erforscht werden würde – wenn dieser Planet lange genug lebte. Wenn!
Das war der Kernpunkt. Das Universum war von seinen Bewohnern erobert worden. Das Atom war in den Händen dieser Bewohner zu einem willigen Werkzeug geworden. Der Makrokosmos und der Mikrokosmos waren Spielzeuge jener Wesen, deren Schiffe endlos die Weite des Raums durchmaßen. Aber niemand vermochte es, eine sterbende Sonne am Leben zu halten. Hier lag die Grenze menschlichen Könnens.
Melisande dachte an all diese Dinge, während sie ins Tal hinunterging. Und dennoch waren ihre Gedanken frei von jeder Bitterkeit und Anklage. Sie war ein Kind ihrer Zeit. Tausendmal hatte sie dem Unabänderlichen ins Auge schauen müssen und dabei gelernt, wie vergeblich es ist, dagegen anzukämpfen. Das Unabänderliche hatte seinen Schrecken verloren. Am Ende des Tals stand ein großer, breiter Palast aus Marmor. Dahinter erstreckte sich eine Reihe flacher, mit Blumen bepflanzter Terrassen und eine Anzahl von Rasenbeeten mit kleinen Springbrunnen. Stand man vor dem Gebäude, hatte man das ganze Tal vor sich. Melisande kam immer aus dieser Richtung, weil der Waldweg die nächste Verbindung war. Sie ging die Treppe hinauf und empfand leise Erregung, als sie das riesenhafte Gebäude betrat. Breite, mit Mosaik ausgelegte Korridore, auf deren Wänden bunte Fresken prangten, führten zum östlichen Flügel des Hauses, aus dem ihr das undeutliche Geräusch von Stimmen und ab und zu der durchdringende Ton eines Sprachrohrs entgegenschlug. Mit vor Aufregung glänzenden Augen gelangte sie in eine große Halle, in der Sitzreihen in einem Halbkreis angeordnet waren. Der Saal war ursprünglich für viertausend Gäste bestimmt gewesen, aber jetzt waren kaum mehr als
zweihundert Menschen anwesend. Zwischen den besetzten Plätzen gähnten überall ganze Reihen leerer Sitze. Die Stimmen der wenigen Anwesenden klangen hohl, und das Echo wurde von den halbrunden Wänden und der hohen Kuppel zurückgeworfen. Es war überall dasselbe Bild: Der Platz für Tausende wurde von wenigen Dutzend eingenommen. Die Städte waren unterbevölkert. Die Großstädte zählten nicht mehr Einwohner als ein Dorf von früher, und in den Dörfern lebten höchstens drei oder vier Familien. Nur noch eine Million Menschen lebte auf diesem Planeten. Früher hatten hier mehr als viertausend Millionen gewohnt. Die anderen, die nicht mehr hier waren, hatten längst ihren Weg zu den Sternen gefunden, nicht wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen, sondern kühn und voll Vertrauen auf die große Sendung, die dieser Planet zu erfüllen hatte. Die wenigen, die noch hier lebten, sollten ihnen folgen, sobald sie dazu bereit waren. Und deshalb saßen die zweihundert hier in diesem Saal und warteten voll Ungeduld auf den schicksalsschweren Ruf des Sprachrohrs. »Acht-zwo-acht Hubert«, dröhnte es soeben. »Zimmer sechs!« Ein blonder Hüne erhob sich von seinem Sitz und ging nach vorn, von zweihundert Augenpaaren verfolgt. Einen Augenblick lang herrschte lautlose Stille. Als er an Melisande vorbeikam, lächelte sie ihm zu. »Viel Glück!« »Danke!« Dann verschwand er hinter der Tür. Das Murmeln der Stimmen setzte wieder ein. Melisande setzte sich an den Anfang einer Sitzreihe neben einen schmächtigen, kleinen jungen Mann von ungefähr siebeneinhalb Jahrhunderten, also ungefähr in ihrem Alter. »Habe ich mich sehr verspätet?« flüsterte sie.
»Nein«, beruhigte er sie. »Eben wurde der vierte Name aufgerufen.« Er selbst zeigte deutlich seine wachsende Unruhe. Ungeduldig sagte er zu Melisande: »Wenn es nur schneller ginge! Diese Ungewißheit…« »Neun-neun-eins José-Pietro«, plärrte das Sprachrohr. »Zimmer zwanzig!« Er hörte es mit aufgerissenem Mund, die Augen unnatürlich geweitet. Dann erhob er sich, langsam und unbeholfen. Er fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich ausgetrockneten Lippen und warf Melisande einen hilfesuchenden Blick zu. »Das bin ich!« »Ihr Flehen wurde erhört«, lachte sie. »Nun, wollen Sie nicht gehen?« »Doch. Natürlich.« Er drängte sich an ihr vorbei, den Blick auf die Tür gerichtet, durch die der blonde Hubert verschwunden war. »Aber jetzt, wo es soweit ist, fühle ich mich doch schwach in den Knien.« Sie machte eine wegwerfende Gebärde. »Es will Ihnen doch niemand etwas antun. Sie bekommen nur eine Urkunde – und vielleicht sogar eine mit goldenem Siegel.« Er verabschiedete sich mit einem stummen Blick voll Dankbarkeit und beeilte sich zu gehen, wobei er sichtlich bemüht war, unbefangen und selbstbewußt zu erscheinen. »Sieben-sieben Jocely. Zimmer zwölf!« Und kurz darauf: »Zwo-vier-null Betsibelle. Zimmer neunzehn!« Zwei Mädchen verließen den Saal, dick, untersetzt, dunkelhaarig und lächelnd die eine, groß, schlank, rothaarig und ernst die zweite. Dann, nach einer kurzen Pause, kam der Befehl, auf den sie wartete. »Vier-vier Melisande. Zimmer zwo!« Der Mann in Zimmer zwei hatte helle graue Augen, schneeweißes Haar und weiche, verschwommene Gesichtszüge. Er mochte mittleren Alters sein, aber vielleicht
war er auch schon alt, uralt. Es ist schwer, das Alter zu schätzen, wenn der Mensch sein faltenloses Gesicht und die schneeweißen Locken schon mehr als tausend Jahre trägt. Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, und sagte: »Ich bin glücklich, Melisande, dir sagen zu können, daß du bestanden hast.« »Danke, Professor.« »Ich war sicher, daß du die Prüfungen bestehen würdest.« Er lächelte ihr freundlich zu und fuhr fort: »Und jetzt möchtest du sicher unser Urteil erfahren, nicht wahr?« »Ja, Professor.« Sie sprach leise und hatte die Hände demütig auf dem Schoß gefaltet. »In Allgemeinbildung bist du ausgezeichnet«, verriet er ihr. »Darauf kannst du stolz sein – über diesen ungeheuren Schatz an Kenntnissen zu verfügen, das man mit dem völlig ungeeigneten Namen Allgemeinbildung umschreibt. Ebenso zufriedenstellend sind deine Leistungen in Soziologie, Massenpsychologie, alter und moderner Philosophie und transkosmischer Ethik.« Er beugte sich nach vorn und sah ihr in die Augen. »Aber deine Schwäche liegt in der allgemeinen Verständigungsmöglichkeit.« Sie hatte den Blick zu Boden gesenkt. Vor Scham war ihr das Blut ins Gesicht geschossen. »Es tut mir wirklich leid, Professor.« »Das braucht dir nicht leid zu tun«, widersprach er heftig. »Man kann nicht in allen Fächern hervorragende Leistungen bieten, wenn man es auch gern möchte.« Er wartete, bis sie ihren Blick wieder hob, und fuhr dann fort: »Was die vokalen Formen der Verständigung anbelangt, so bin ich mit dir in den gutturalen Sprachen sehr zufrieden.« Er hielt einen Augenblick inne. »Und in den labialen Sprachen bist du großartig.« »Ja?« Ihre Augen leuchteten. »Deine schriftlichen und mündlichen Übungen in labialen Sprachen werden von den Valreanern auf Sirius als
Musterbeispiele verwendet. Deine Fehler sind gleich null. Deine Sprechgeschwindigkeit betrug dreihundertzwanzig Worte pro Minute, die Valreaner sprechen durchschnittlich dreihundertvierzehn. Das bedeutet also, daß du ihre Sprache besser als sie selbst beherrschst.« Er lächelte selbstzufrieden bei dem Gedanken, daß seine Schülerin die Valreaner im Umgang mit ihrer eigenen Muttersprache in den Schatten stellte. »Und nun, Melisande, ist der Zeitpunkt gekommen, einen schwerwiegenden Entschluß zu fassen.« »Ich bin bereit, Professor.« Sie hielt seinem Blick stand, ihre Miene drückte Entschlossenheit aus. »Zunächst habe ich dir dieses zu überreichen.« Er übergab ihr eine dünne Rolle, von der eine geflochtene Schnur mit einem goldenen Siegel herabhing. »Ich gratuliere dir.« »Danke.« »Melisande«, fragte er leise, »bist du bereit, dort hinaus zu gehen?« Er deutete auf das Fenster, hinter dem Millionen von Sternen leuchteten. »Ja.« »Du hast viel Zeit vor dir. Du bist noch sehr jung.« Er seufzte, als er an sein eigenes Alter dachte. Dann erhob er sich und ging zu einer Maschine, die an der Wand stand. Er öffnete eine Klappe und nahm einen Stoß Karten heraus. »Wir werden die Bewerbungen sortieren und für dich die geeignetste heraussuchen.« Er steckte die Karten in die Maschine. Sie bestanden nur aus einem weißen, dünnen Rechteck, das oben eine Nummer trug, während die übrige Fläche mit runden und eckigen Löchern versehen war. Als er den ganzen Stoß in die Maschine gesteckt hatte, öffnete er eine andere Klappe, unter der die Bedienungsknöpfe lagen. Er drückte einige Tasten. In der Maschine begann es zu arbeiten und zu summen, und kurz darauf wurden die Karten in schneller Reihenfolge wieder
ausgestoßen. Als die letzte ausgeworfen war, blickte er auf den Zähler. »Elf, Melisande. Elf Sterne, von denen du dir einen aussuchen mußt.« Er nahm die erste Karte und steckte sie in einen anderen Schlitz an der Seite der Maschine. Dann stellte er verschiedene Tasten ein und drückte auf einen Knopf. Der Apparat begann leise zu summen. Dann ertönte eine Stimme. »Bewerbung Nummer 109747. Valrea, ein Verband von vier Planeten, bestehend aus – « Die Stimme brach unvermittelt ab. Auf eine abwehrende Handbewegung Melisandes hin hatte der Professor abgeschaltet. »Kein Interesse?« »Nein, Professor. Vielleicht habe ich unrecht, denn ich beherrsche die Sprache und hätte es deshalb auf Valrea leichter als anderswo. Aber sie haben schon einige von uns bekommen.« »Ja. Sie haben sich um vierhundert beworben. Wir schickten ihnen sechsunddreißig. Später sollen noch zwanzig weitere folgen.« Er schaute sie mit fast väterlichem Wohlwollen an. »Du hättest dort Gesellschaft, Melisande. Du wärest bei Menschen deiner eigenen Rasse, wenn es auch nur wenige sind.« »Das mag sein«, gab sie zu. »Aber ich finde es ungerecht, daß die Valreaner, deren Wünsche schon zum Teil erfüllt wurden, noch mehr bekommen sollen, während andere leer ausgehen. Finden Sie nicht auch?« »Gewiß.« Er steckte eine zweite Karte in den Schlitz. »Bewerbung Nummer 118451«, sprach die Maschine. »Brank, ein einzelner Planet im Sternhaufen des Pferdekopfes. Abteilung A 71, Unterabteilung D 19. Massekoeffizient 1,2. Zivilisation Typ F. Die vorherrschende Lebensform besteht aus zweifüßigen Wirbeltieren, siehe Abbildung.«
Auf dem Bildschirm leuchtete ein farbiges Bild auf, das mehrere hünenhafte, grünlich aussehende Lebewesen mit langen, spinnenförmigen Armen und Beinen zeigte, mit sieben Fingern an jeder Hand, kahlen Schädeln und weit hervorstehenden gelben Augen. Noch zwei volle Minuten brachte die Stimme Angaben über Brank und seine Fauna. Dann schwieg die Stimme. »Vor dreißig Jahren bewarben sie sich um hundert von uns«, erklärte der Professor. »Wir schickten ihnen zehn. Jetzt sollen sie eine neue Zuteilung von sechs erhalten, zu denen du gehören kannst, wenn du willst.« Als er sah, daß sie wieder den Kopf schüttelte, steckte er eine weitere Karte in den Apparat. »Bewerbung Nummer 120776. Nildea, ein Planet mit einem großen Satelliten, dicht bevölkert, zu Maelstrom gehörig, Abteilung L 7, Unterabteilung CC 3.« So ging es weiter. Die Bewohner dieses Planeten erschienen auf der Bildfläche, vielarmige, polypenähnliche Wesen ohne Augen, aber mit Wahrnehmungsorganen, die ihnen aus dem Kopf hervortraten wie die Fühler von Insekten. Die Nildeaner hatten schon vierzig Personen erhalten und forderten noch mehr an. Melisande winkte ab. Die elfte und letzte Karte erregte ihr Interesse so lebhaft, daß sie sich nach vorn beugte und gespannt zuhörte. »Bewerbung Nummer 141048. Zelam, ein einzelner Planet, am Rande des erforschten Kosmos gelegen. Ordnungszahl und genaue Lage unbekannt. Erst kürzlich entdeckt. Massekoeffizient 1. Zivilisation Typ J. Vorherrschende Lebensform reptilienartig, siehe Abbildung.« Sie hatten in der Tat eine entfernte Ähnlichkeit mit aufrecht gehenden Alligatoren. Gewiß bestanden Unterschiede zwischen den vielfältigen Rassen, die den Kosmos bevölkerten. Manche waren schon früh auf dem Schauplatz der Weltgeschichte erschienen,
andere dagegen waren später aufgetaucht. Sie alle konnten mit Läufern auf einer Rennbahn verglichen werden, von denen die einen das Schlußfeld bildeten, während die anderen einen erheblichen Vorsprung hatten. Sie alle strebten demselben Ziel zu, das zugleich das Ende des Rennens bedeutete. Die Zelamiten liefen im Schlußfeld. »Zu ihnen will ich gehen«, entschied Melisande mit fester Stimme. Er schob die elf Karten auseinander und betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen. »Sie haben sechzig angefordert. Die meisten verlangen zuviel, besonders die Neuen. Unser Kontingent ist zur Zeit erschöpft, aber wir wollen niemandem eine Abfuhr erteilen.« »Und?« »Es wurde vorgeschlagen, ihnen einen Menschen zu schicken, einen einzigen, um wenigstens unseren guten Willen zu zeigen.« »Ich bin ein Mensch«, sagte sie ruhig. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute sie sorgenvoll an. »Du wirst sehr einsam sein.« »Alle Neuangekommenen sind einsam.« »Es lauern dort vielleicht Gefahren, von denen du keine Ahnung hast.« »Und die ebenso drohen, wenn wir zu mehreren sind«, erwiderte sie schlagfertig. Er suchte nach einem letzten Argument, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Die Zelamiten leben nachts. Sie werden von dir erwarten, daß du nachts arbeitest und bei Tage schläfst.« »Unsere Leute auf Brank haben dasselbe jahrelang getan, und viele tun es auch heute noch. Sollte es mir schwerer fallen als ihnen, Professor?« »Nein, gewiß nicht.« Er erhob sich und trat auf sie zu. »Ich sehe, daß du dich nicht beirren läßt. Du hast deine Wahl
getroffen, und ich will dich nicht davon abbringen.« Er nahm ihre Hand, zog und drückte einen sanften Kuß auf ihre Finger, um sich von ihr zu verabschieden. »Viel Glück, Melisande. Ich bin stolz darauf, dich zu meinen Schülern zählen zu können.« »Danke, Professor.« Ihr Zeugnis fest an sich drückend, blieb sie unter der Tür stehen und drehte sich ein letztes Mal um. »Ich bin glücklich, Sie als Professor gehabt zu haben.« Noch lange, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, blieb er regungslos sitzen und starrte geistesabwesend vor sich hin. Sie kamen und gingen, einer nach dem anderen. Jeder kam als Fremdling und schied von ihm wie ein eigenes Kind, und jedem gab er ein Stück von sich selbst mit auf den Weg. Und jeder, der für immer hinausging in den weiten Raum der Sterne, ließ seinen eigenen sterbenden Planeten um einen Menschen ärmer hinter sich. Es ist nicht leicht, auf dem geliebten Planeten zurückzubleiben, der seinem Ende entgegengeht, und zusehen zu müssen, wie die Flamme niedriger brennt und die Schatten immer länger werden.
Trotz der ungeheueren Reisegeschwindigkeit dauerte die Reise zum Planeten Zelam lang. Aus den Tagen wurden Wochen und schließlich mehrere Monate. Des öfteren mußte Melisande umsteigen, zuerst von einem mächtigen Schiff, das den Dienst auf der Hauptstrecke versah, auf ein kleineres, das auf der Nebenstrecke verkehrte, von dort in eine leichte Raumrakete, deren Mannschaft aus stummen Xanthianern bestand, und dann in ein altes Raumschiff, das seine besten Tage längst hinter sich hatte und dessen Mannschaft aus einer bunt zusammengewürfelten Völkerschar bestand. Auch zwei Menschen von Melisandes Rasse befanden sich darunter. Schließlich kam sie auf einen seltsamen keilförmigen Flugapparat, wie ihn die geschäftstüchtigen Haldisianer
benutzten, um abgelegene Planeten mit Waren zu beliefern. Einer dieser Planeten war Zelam, das Ziel ihrer Reise. Hinter diesem Planeten lag das noch unerforschte Dunkel, aus dem nur ein einziger, hell glänzender Spiralnebel herüberleuchtete. Eines Tages, mit größeren und besser ausgerüsteten Schiffen, würde man wohl auch ihn erreichen, eine neue Insel im Weltraum, die Heimat neuer, unbekannter Lebensformen. Sie hatte ihre Zeit während der langen Reise nutzbringend verwendet. Mit Hilfe eines phonetischen Wörterbuchs, einer einfachen Grammatik der zelamitischen Sprache und ihrer natürlichen Begabung hatte sie es geschafft, diese Sprache völlig zu beherrschen, bevor der Planet in Sicht kam. Zum Aussteigen waren weder eine Leiter, noch eine Rampe, noch sonst ein Hilfsgerät vorhanden. Die Haldisianer lösten dieses Problem einfach dadurch, daß sie Melisande kurzerhand zur Ausstiegsluke hinauswarfen. Eine unsichtbare Kraft, die entweder von ihnen selbst oder von einer Maschine erzeugt wurde, hielt sie in der Luft und ließ sie behutsam auf den zwölf Meter tiefer gelegenen Boden hinab. Ihr Gepäck folgte auf demselben Weg, begleitet von zwei Besatzungsmitgliedern. Zwei weitere Besatzungsmitglieder schwebten am Schiff nach oben und öffneten die Ladeluken. Die Zelamiten hatten wenige Tage zuvor von ihrer Ankunft erfahren. Eine Abordnung war zu ihrer Begrüßung erschienen. Die Zelamiten waren größer, als Melisande erwartet hatte. Die Abbildung auf dem Bildschirm hatte keine Anhaltspunkte über die wahren Größenverhältnisse gegeben. Der kleinste von ihnen überragte sie mit Kopf und Schultern. Seine mit scharfen Zähnen bewehrten Kiefer hatten die Länge ihres Arms und sahen aus, als könnten sie sie mit einem Biß zermalmen!
Der größte und älteste der Gruppe, von breitem, untersetztem Körperbau, kam auf sie zu, während die anderen nach ihrem Gepäck griffen. »Sind Sie der Mensch, der Melisande genannt wird?« »Ja, das bin ich«, gab sie mit einem freundlichen Lächeln zurück. Seine Antwort bestand aus einem bedrohlich klingenden Knurren. Sie ließ sich dadurch nicht beirren. Sie wußte genau, daß diese furchterregende Grimasse nichts anderes war als ein herzliches Lächeln zu ihrer Begrüßung. Der Tonfall seiner Stimme bewies, daß sie recht hatte. »Wir schätzen uns glücklich, Sie jetzt bei uns zu haben.« Der stechende, durchdringende Blick seiner orangefarbenen Augen ruhte einen Augenblick lang prüfend auf ihr, bevor er bedauernd hinzufügte: »Wir haben uns um hundert beworben und rechneten mit zehn, vielleicht zwanzig.« »In einiger Zeit werden noch weitere hinzukommen.« »Hoffen wir es.« Mit einem vielsagenden Blick deutete er auf das Raumschiff, dessen Ladung gelöscht wurde. »Die Haldisianer haben zwanzig bekommen. Wir haben es satt, uns ihre Prahlereien anhören zu müssen und glauben, zumindest dieselben Ansprüche stellen zu können.« »Auch sie hatten anfänglich nur zwei von uns«, setzte Melisande ihm auseinander. »Die anderen kamen erst später, wie es auch bei Ihnen der Fall sein wird. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere spärlichen Reserven gleichmäßig auf alle Planeten zu verteilen.« »Nun ja – « Er spreizte die Klauen seiner Hand, was bei den Zelamiten einem Schulterzucken gleichkam, führte sie zu einem sechsrädrigen Fahrzeug, das in der Nähe stand, sorgte dafür, daß ihr Gepäck eingeladen wurde, und setzte sich dann neben sie. »Ich muß Ihnen übrigens gratulieren. Es ist bemerkenswert, wie fließend Sie unsere Sprache beherrschen.« »Ich danke Ihnen.«
Aufmerksam betrachtete sie die blaue Moorlandschaft mit den gelben Flüssen, durch die sie der Wagen in schneller Fahrt brachte. Er hielt schließlich vor einem langen, niederen Steingebäude mit steilem Giebeldach und Fenstern aus Kunststoff, dessen Vorderseite besonders eindrucksvoll wirkte. Sie erstreckte sich über mindestens eine halbe Meile und wuchs aus einem blauen Moosteppich empor. An beiden Enden lagen eingezäunte, gepflegte Gärten. »Dies hier ist Ihre Schule.« Er deutete auf den Gebäudeteil, vor dem sie standen. »Und dies hier Ihre Wohnung.« Als er ihre überraschte Miene bemerkte, fügte er hinzu: »Das Haus wurde für zehn Personen gebaut und hätte Platz für noch mehr Unterrichtsräume geboten, wenn wir das Glück gehabt hätten, mehr Menschen von der Erde zu bekommen.« »Ich verstehe.« Sie stieg aus und bat, man möge ihr Gepäck in ihr Zimmer tragen. Trotz ihrer jahrhundertelangen Ausbildung, trotz ihrer gewissenhaften Vorbereitung während der Reise und obwohl sie sich diesen Planeten selbst ausgesucht hatte, würde es noch eine Zeit dauern, bis sie sich hier eingewöhnt hatte. »Was halten Sie von einem kleinen Imbiß«, schlug er vor, »bevor Sie sich zur Ruhe begeben?« »Um Himmels willen!« lachte sie fröhlich. »Die Haldisianer ließen sich nicht davon abbringen, mir zu Ehren ein Abschiedsessen zu veranstalten. Ich glaube, während der nächsten Tage werde ich nichts mehr essen können.« »Hm.« Von seinem Gesicht war deutlich abzulesen, daß er es lieber gesehen hätte, wenn sich die Haldisianer nicht so sehr um Melisande bemüht hätten. »So bleibt mir also nichts anderes übrig, als Ihnen eine angenehme Ruhe und die Erholung zu wünschen, die Sie sicher notwendig brauchen. Werden Sie morgen abend mit Ihrer Arbeit beginnen können?« »Bestimmt.«
»Gut. Ich werde Nathame davon unterrichten, unseren Kultusminister, der auch im politischen Leben eine bedeutende Rolle spielt. Er wird bei Ihnen vorsprechen, bevor Sie mit der Arbeit beginnen.« Nach einem letzten Zähnefletschen fuhr er weg. Sie schaute ihm lange nach, wandte sich dann um und betrachtete die Eingangstür zu ihrer Wohnung, die man offengelassen hatte. Es war eine einfache, senkrechte Hängetür, die durch eine seitlich angebrachte Kurbel auf- und niedergelassen und von innen mit einem Riegel gesichert werden konnte. Dahinter lag der Flur mit einem festen Boden, auf dem man gehen mußte, weil die Erfindung des automatischen Förderbandes anscheinend hier noch nicht bekannt war. Auch das Licht mußte eingeschaltet werden und leuchtete nicht selbsttätig auf wie bei ihr zu Hause. Trotzdem wirkte alles gemütlich und anheimelnd. Sie betrat den Raum, der nun ihr Heim sein sollte.
Am Abend des nächsten Tages erschien Nathame, ein äußerst kluger, aufgeklärter Vertreter seines Volkes, dessen glitzernde Orden an der Brust die von ihm zur Schau getragene Selbstsicherheit wirkungsvoll unterstrichen. Er plauderte eine Weile über dieses und jenes, wobei er sie keine Sekunde aus den Augen ließ, und fuhr dann fort: »Bevor wir auf andere Rassen trafen, kannten wir nur unsere eigene Geschichte. Jetzt müssen wir die Geschichte eines ganzen Kosmos und seiner Völker lernen. Eine Aufgabe, die ein Menschenleben ausfüllt. Trotzdem habe ich mich damit beschäftigt. Eine Tatsache fiel mir bei diesem Studium auf: daß die Rasse, zu der Sie gehören, ungewöhnlich klug ist.« »Glauben Sie wirklich?« Sie wußte nicht, worauf er hinauswollte. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Er
erwärmte sich für sein Thema. »Im Laufe der Geschichte sind zwischen sechzig und siebzig Lebensformen aus dem Weltraum verschwunden. Die einen bekriegten einander und sprengten sich gegenseitig samt ihrer Planeten in die Luft. Die anderen fielen kosmischen Katastrophen zum Opfer, die niemand vorhersehen oder vermeiden konnte. Die Mehrzahl aber starb, als ihre Sonne erlosch, als die Wärme verschwand und der ewige Frost nach ihnen griff.« Seine orangefarbenen Augen waren unverwandt auf sie gerichtet. »Daraus folgt, daß eine Rasse in ihrer Gesamtheit untergehen und spurlos verschwinden kann.« »Nicht unbedingt«, widersprach sie, »denn – « »Halt!« Er hob abwehrend die Hand. »Es ist ein bezeichnendes Merkmal Ihrer Rasse, dieser Gefahr nicht ausgesetzt zu sein. Wer oder was könnte eine Rasse vernichten, die über eine Million von Planeten verstreut lebt? Nichts! Niemand!« »Wer könnte ein Interesse daran haben, dies zu versuchen?« »Niemand, der nicht völlig verrückt ist«, räumte er ein. »Und deswegen ist Ihre Rasse unbesiegbar. Damit haben Sie die Existenz Ihrer Rasse für alle Ewigkeit gesichert. Das meinte ich, als ich Ihre Rasse als ungewöhnlich klug bezeichnete.« Er beugte sich vor. »Und wie ist Ihnen dies gelungen?« »Was glauben Sie wohl?« forderte sie ihn heraus. »Indem Sie Ihren ungeheueren Schatz an Wissen und Erfahrungen dazu benutzten, sich die Eitelkeit der weniger hoch entwickelten Rassen zu Diensten zu machen.« »Ich bin anderer Ansicht.« Ohne ihren Einwand zu beachten, fuhr er fort: »Ihre Rasse ist der Katastrophe zuvorgekommen. Sie wußten genau, daß, wenn Ihre Sonne eines Tages erlischt, kein anderer Planet und kein Planetensystem einen Flüchtlingsstrom von mehreren Millionen bei sich aufnehmen würde. Aber gegen ein paar
Dutzend oder ein paar Hundert dieser Flüchtlinge hat niemand etwas, besonders wenn sie dazu beitragen, das Ansehen ihrer Gastgeber zu heben. Und darin bestand das Meisterstück Ihrer Rasse: Sie brachte die anderen dazu, sich um diese Flüchtlinge zu bewerben, ja zu reißen.« »Aber wenn – « Wieder brachte er sie mit einer Handbewegung zum Schweigen, verschränkte die Arme in einer seltsamen Haltung vor der Brust, ging im Zimmer auf und ab und sprach mit einer gekünstelt hohen Stimme. Offensichtlich ahmte er eine bestimmte Sorte von Zelamiten nach, die sie noch nicht kannte. »Hast du wirklich geglaubt, Thalsamie, wir würden unsere Kinder auf eine staatliche Schule schicken? Aber nein, wir brachten sie in das größte Internat auf Hei. Schrecklich teuer, natürlich! Sie haben dort ›Menschen‹ von der Erde als Lehrer. Später im Leben wird einer ganz anders angesehen, wenn er von sich behaupten kann, er sei von einem ›Menschen‹ erzogen worden.« Mit normaler Stimme fuhr er fort: »Haben Sie verstanden, was ich meine? Seit wir von den Haldisianern entdeckt wurden, kamen ungefähr zwanzig verschiedene Lebensformen zu uns auf Besuch. Jeder dieser Besucher blickte hochmütig auf uns herab. Was, Sie haben keine Menschen hier? Bei allen Sternen, wie rückständig! Wir haben zwanzig auf unserem Planeten – oder vierzig, oder fünfzig, je nachdem.« Seine Nasenflügel bebten, als er aufseufzte. »Sie prahlen und rühmen sich damit und benehmen sich so hochmütig, daß jeder von uns einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt und in den allgemeinen Ruf nach Menschen mit einstimmt.«
»Snobs und Hochmütige wurden nicht von uns erzogen«, verteidigte sie sich. »Solche Eigenschaften werden von uns nicht gefördert.« »Das mag sein. Aber das ist die Folge Ihrer Anwesenheit bei denen, die Sie nicht erziehen.« Er trat auf sie zu und sprach leidenschaftlich weiter: »Wir bewarben uns um hundert Menschen. Wenn wir sie bekommen hätten, wären wir damit nicht zufrieden gewesen. Wir hätten noch mehr angefordert. Nicht um unser Ansehen zu erhöhen, sondern aus einem anderen, besseren Grunde.« »Aus welchem?« »Auch wir sorgen uns um unsere Zukunft. Die Haldisianer, die davon mehr verstehen als wir, haben herausgefunden, daß unsere Sonne nicht mehr lange zu leben hat. Das bedeutet, daß uns dasselbe Schicksal wie Ihnen bevorsteht. Wir müssen denselben Weg wie Sie wählen, denn wir wissen keinen anderen. Diesen Weg sind Sie gegangen, er wird auch unsere Rettung sein. Die Nachfrage nach Menschen von der Erde ist größer als das Angebot – Ihre Rasse ist nicht sehr zahlreich, oder?« »Nein, heute nicht mehr«, gab sie zu. »Wir zählen noch ungefähr eine Million. Unsere Welt hat nicht mehr lange zu leben.« »Eines Tages werden wir dasselbe von uns sagen müssen, und es wäre zu wünschen, daß bis dahin die Zelamiten zu einem annehmbaren Ersatz für die Menschen von der Erde herangewachsen sind.« Mit einer gebieterischen Gebärde setzte er hinzu: »Darin besteht Ihre Aufgabe, soweit sie von einem einzelnen Menschen überhaupt in Angriff genommen werden kann. Sie ist nicht leicht. Beginnend mit unseren begabtesten Kindern, sollen Sie unsere ganze Rasse dazu befähigen, mit ebensoviel
Umsicht und Klugheit für ihre Erhaltung zu sorgen, wie die Erdenmenschen es getan haben.« »Wir werden unser Bestes tun.« Sie sprach absichtlich in der Mehrzahl. Er bemerkte es und antwortete ihr mit einem dankbaren Lächeln. Dann grüßte er und ging. Sie bemühte sich, ihre Gedanken auf die Arbeit zu konzentrieren, die vor ihr lag, und eilte durch den großen Korridor zu dem Klassenzimmer, aus dem ihr lautes Lärmen entgegenschallte. Als sie das Zimmer betrat, verstummte der Lärm sofort. Sie ging an ihren Platz hinter dem Pult. Aus den hundert kleinen Gesichtern mit den noch schmalen Kiefern blickten ihr die kugelrunden Augen aufmerksam und ehrfürchtig entgegen. »Wir beginnen heute abend mit den Grundbegriffen der transkosmischen Ethik«, eröffnete sie den Unterricht. Sie drehte sich zu der schwarzen Wandtafel um, die auf der Erde längst nicht mehr verwendet wurde, nahm einen weißen Stift und schrieb: »Erstes Kapitel. Die Intelligenz ist wie das Zuckerwerk, aus dem Bonbons gemacht werden. Sie tritt auf in einer unendlichen Vielzahl von Formen, Gestalten und Farben, und doch ist sie immer gleich gut.« Sie blickte über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß die Kinder aufpaßten. Mit großer Sorgfalt schrieben sie Wort für Wort mit, einer hatte sogar vor Aufregung die Zunge herausgestreckt, deren purpurrote Spitze getreulich den Bewegungen seines Federhalters folgte. Unwillkürlich ging ihr Blick empor zu dem gläsernen Dach, durch das der Himmel auf sie herabschaute. Irgendwo in der absoluten Schwärze der Nacht, für sie unsichtbar, brannte ein schwaches, langsam verlöschendes Licht.
Und nicht weit von diesem Licht entfernt, nur noch notdürftig erwärmt von der sterbenden Sonne, war ein zweites, silberblaues, sehr viel kleineres Licht. Der Ursprung der Menschheit. Für immer verlorene Heimat.
Originaltitel: FAST FALLS THE EVENTIDE. Copyright © 1952 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Mai 1952. Übersetzt von Otto Kühn.
T. H. Mathieu TOD AN BORD
»Machen wir uns nichts vor. Das verdammte Ding ist gefährlich, tödlich.« So begann Wiggens immer die Konferenz, zwanglos und unvermittelt; das war so seine Gewohnheit. Die Worte riefen in Arthur Hamiltons Bewußtsein ein anschauliches Bild hervor; denn er war dabeigewesen, als es Belcher erwischt hatte. Es war kein Vergnügen, einen Mann sterben zu sehen, einen vom Schmerz gequälten Mann. Sicher, man hatte ihm bei seiner Einstellung auch das Risiko, das er einging, vor Augen gehalten. Aber daß die Wirklichkeit so grausam sein würde, das hatte er nicht im Traum gedacht. Es hatte mit einer plötzlichen Feststellung begonnen. »He, das kleine Ding beißt«, hatte Belcher gesagt. Und dann die entschuldigende Reaktion, um die Furcht zu verbergen. »Hat mich gemein gezwickt.« Dann die offene Angst, als Belcher merkte, daß etwas ernstlich nicht in Ordnung war. »Es tut weh, sehr.« Schnell kamen der Schweißausbruch, der Schmerz, die dämmernde Erkenntnis des Todes. Zuletzt der Tod selbst. Unwiderruflich, endgültig, vollendet in wenig mehr als zwanzig Sekunden. Das würde er nie vergessen können. Bei Wong waren die Eindrücke nur mittelbar gewesen. Sie hatten ihn im Unterholz gefunden, mit dem Gesicht nach unten. Aber Belcher… Hamilton würde niemals Zach Belcher vergessen… Wiggens fuhr fort: »Es sei unser Fehler, behaupten die Ökologen. Wir haben die Küstengebiete dieses Planeten
besiedelt, aber unsere kleinen Freunde sind keine Küstenbewohner. Wir begegnen ihnen erst, wenn wir uns ins Binnenland vorwagen. Ihre Gewohnheiten sind uns unbekannt. Anscheinend haben sie etwas für uns – oder für unsere Nahrung übrig; es zieht sie jedenfalls dorthin, wo wir auch sind. Ergebnis: ihre Zahl wird immer größer. Zweites Ergebnis: unsere Interessen kollidieren – siehe Belcher und Wong.« Wiggens’ Augen glitzerten, als er die Männer anblickte, die um den ungefügen Tisch herumsaßen. Der grelle Schein der Coleman-Sonnenenergielampe, die vom Zeltpfosten herunterhing, reflektierte die Erregung, die in seinen Augen lag. »Zur Zeit sind wir auf dem Rückzug. Ich hoffe aber, nicht für lange. Wir werden etwas unternehmen.« Er nickte Hamilton zu. »Arthur wird das Exemplar, das er gefangen hat, zur Erde bringen und mit einer Lösung zurückkommen. Die technischen Möglichkeiten sind dort besser als hier.« Dick Royale, der Geologe und Hamiltons langjähriger Freund, lehnte sich von rechts herüber und sagte: »He, Alter! Brauchst du einen Assistenten? Nimm mich mit. Wenn wir zu Hause sind, stelle ich mich zur Verfügung und lasse mich von dem Biest beißen.« »Quatsch!« schrie ein anderer. »Royale möchte nur mitfahren, weil er mit einer von den Stewardessen schlafen will.« »Ruhe!« Wiggens mußte schreien, damit man ihn hören konnte; dann herrschte plötzlich Stille. »Von Royales und Hamiltons Drüsenfunktionen wollen wir jetzt nicht sprechen; wir sind hier, um einen Planeten zu erforschen. Wir werden unsere Zelte hier abbrechen und weiterziehen. Vielleicht kommen unsere scheußlichen Begleiter nur in bestimmten Gebieten vor. Ungefähr tausend Meilen nördlich befindet sich ein größer See, der…«
Aber eigentlich hörte Arthur Hamilton gar nicht mehr zu. Sechs Monate waren schon vergangen, seit er das letzte Mal an einem zivilisierten Ort geweilt hatte. Lächelnd schüttelte er den Kopf, als er sich an City Eins und an die letzte durchzechte Nacht erinnerte. Irgendwie ging die Konferenz dann doch vorüber, und Enoch Wiggens sprach auf ihn ein: »Ich habe mich mit dem Hauptquartier in Verbindung gesetzt, Art. Morgen geht ein Flug zur Erde ab; du kannst dann verschwinden. Schade, daß es sich um die Alexandrite handelt. Sie ist alt und unbequem, aber ich nehme an, du wirst schon zurechtkommen. Brauchst du Zeit, um dein Zeug zu packen?« Hamilton sah das schwache Lächeln um den Mund des anderen. »Ja, Doc, ich glaube schon«, sagte er. Wiggens wurde ernst. »Also gut. Auch auf die Gefahr hin, dich zu langweilen, wiederhole ich nochmals, damit du nicht vergißt, wie wichtig die Angelegenheit ist: Erstens, bring das Biest nach Hause. Dann finde irgendeine schnelle, billige Methode, wie wir die Viecher ausrotten können. Vielleicht ist es ein chemisches Gift; ich würde ein bakteriologisches vorziehen. Aber es muß etwas sein, das hilft. Wir müssen dieses Gebiet für die menschliche Besiedlung vorbereiten. Gute Nacht, Leute.« Hamilton und Royale gingen auf ihr Zelt zu. »Beneide dich immer noch, Art, besonders wegen der Heimreise mit Beverlee.« »Quatsch!« Hamiltons Heftigkeit ließ seinen Begleiter aufhorchen. »He, was hast du denn?« Hamilton sagte nichts, aber der Geologe bemerkte den trotzigen Ausdruck auf seinen Lippen. Er lächelte, streckte die Hand aus und sagte: »Viel Glück! Hoffentlich bekommst du das, was du dir wünschst.«
»Danke.« Hamilton entspannte sich. »Los, fangen wir mit dem Packen an.«
»Wahrscheinlich gar nicht wichtig, Mrs. Winter«, sagte Kapitän Stevenson und blickte auf die Frau hinunter. Seine Schläfen waren grau. Ein Grund, warum er es niemals weiter bringen würde als zum Handelskapitän, war die brüskierende Art, wie er seine Passagiere behandelte. »Aber selbst wenn es wichtig wäre«, fuhr er streng fort, »fürchte ich, daß ich nichts unternehmen kann. Raumhäfen verfügen über eine Institution, die sich Verkehrskontrolle nennt, und wenn mir die Verkehrskontrolle keine Starterlaubnis gibt, dann warte ich.« Sie zeigte ihm die kalte Schulter und sagte: »Kapitän, ich erinnere Sie daran, daß wir um 1820 in New York sein müssen. Wir haben unsere Startzeit schon überschritten. Es ist jetzt 1615, und es sind etwa 683 Lichtjahre« – Sie hielt inne, und ihre Augen bekamen jenen fanatischen Ausdruck, wie ihn Laien haben, wenn sie sich eine Einzelheit sorgfältig gemerkt haben und damit den Fachmann zu verblüffen suchen. Dann fuhr sie triumphierend fort: » – zurückzulegen. Ich würde vorschlagen, daß wir uns auf den Weg machen. Ich treffe mich mit meinen Verwandten, und die sind – « wieder eine Pause und ein triumphierender Blick » – sehr einflußreich.« »Ich fürchte, Ma’am, wir werden trotzdem zu spät kommen.« Stevenson hielt sorgfältig seine Stimme unter Kontrolle, versuchte die Ruhe zu bewahren und gratulierte sich selbst, daß er es schaffte. Das verrückte Frauenzimmer hatte anscheinend gar nicht begriffen, was er gerade gesagt hatte. »Diese Kolonie, dieser Planet hat offiziell keinen Namen. Er ist uns noch unbekannt, und wir helfen den Leuten hier so gut es geht. Ein anderes Schiff verläßt den Planeten frühestens in einem Monat. Etwas Wichtiges war der Grund für die
Startverzögerung. Ich kann nicht ablehnen, selbst wenn ich im Recht wäre.« Stevenson brach ab, als der junge Mann durch die Eingangsschleuse kam, die Stewardeß mit einem überschwenglichen Kuß auf die Wange begrüßte, dem Steward zuwinkte, das traditionelle: »Wie schön, an Bord zu sein«, rief und dann näher kam. Der Kapitän murmelte eine Entschuldigung und ging ihm entgegen. »Art! Art Hamilton!« Es war ein Ausruf echter Freude, als die beiden Männer sich die Hände schüttelten. »Es müssen sechs Monate oder mehr vergangen sein, seit sie uns aus dieser Bar in City Eins rausgeschmissen haben. Mein Gott, der Forschungsdienst muß schon großen Mangel an Fachleuten haben, wenn sie ausgerechnet dich zur Erde schicken!« Hamilton lächelte. »Hallo, Steve. Ach was, ich fliege zurück, weil das hier mein Schützling ist.« Er hob die linke Hand und zeigte Stevenson den verdeckten Käfig, den er bei sich trug. »Ist das der Grund für die Verspätung?« »Genau«, antwortete der junge Mann. »Ich habe zu Hause damit zu tun. Aber erst muß ich zu Hause sein.« Er brach ab, sah sich lächelnd um und fuhr fort. »Ist der alte Pott noch nicht aus dem Verkehr gezogen worden, Steve? Ich dachte, man hätte ihn schon längst verschrottet.« »Tja«, Stevenson stieß das Wort bitter hervor. »Jedesmal wollen sie es aus dem Dienst ziehen und, jedesmal kommt irgend etwas anderes dazwischen. Ich glaube, wir alle haben Schwierigkeiten, und es ist jetzt« – er blickte auf seine Uhr, – »16 Uhr 19. Der Kahn soll in zwei Stunden in New York sein.« Er dämpfte die Stimme, zeigte heimlich mit dem Daumen auf Mrs. Winter und fuhr fort. »Da ist noch eine alte Schachtel, die sich beklagt.« Hamilton schüttelte den Kopf. »Du hast dich überhaupt nicht verändert, Steve.« Dann blickte er die Stewardeß an, die herankam. Er schluckte und
fügte hinzu: »Und du hast dich auch nicht verändert, Beverlee Floyd.« Keiner der beiden hörte Steve davongehen. »Es scheint, als hättest du noch ein paar Krähenfüße mehr um die Augen bekommen, Art.« »Das kommt davon, daß ich ständig in die Sonne schaue, in der Hoffnung, dein Schiff von weitem zu sehen.« Hamilton blickte bewundernd auf das goldblonde Haar des Mädchens, auf die zierliche, aber prächtige Figur, wo die Kurven alle am richtigen Fleck waren und die ihre Uniform kaum verbergen konnte. Er befeuchtete die Lippen, wischte mit dem Handrücken darüber und sagte langsam: »Ich war sechs Monate lang draußen in der Wildnis…« Sie lächelte unmerklich. »Du brauchst das nicht zu betonen. Du brauchst das auch nicht während des ganzen Fluges zu wiederholen. Wenn ich dich nicht kennen würde und nicht wüßte, wo du warst, hättest du es mir trotzdem nicht zu sagen brauchen; es steht dir auf dem Gesicht geschrieben.« »Wann legen wir den Hochzeitstag fest?« »Weißt du, ich habe den Verdacht, daß du allen Stewardessen die gleiche Frage stellst.« »Du tust mir Unrecht. Spaß oder Ernst, betrunken oder nüchtern, du bist die einzige, die ich jemals danach gefragt habe.« Sie legte ihre Hand leicht auf seinen Arm und sagte: »Ich weiß, Art. Ich glaube dir. Sag nur ruhig, daß ich die einzige bin. Aber ich fürchte, ich möchte trotzdem nicht heiraten, zumindest jetzt noch nicht…« Sie wurde von einer unscheinbar aussehenden kleinen Frau unterbrochen. »Verzeihen Sie, Miss. Es ist mein erster Transkontinuum-Flug seit zehn Jahren, und ich fühle mich etwas unwohl. Haben Sie Foramine?« »Gewiß, Mrs. Dranke«, antwortete die Stewardeß. Dann sagte sie zu Art Hamilton: »Schnall dich lieber an. Wir starten
bald.« Sie verließ den Raum, um der raumkranken Frau die Tabletten zu besorgen. Art Hamilton ging zu einem leeren Sitz. Er stutzte. Neben ihm, nur durch den Gang getrennt, saßen eine junge Mutter und ihr Sohn, dessen Alter er auf etwa drei Jahre schätzte. Das kann ja lustig werden! dachte er. Hamilton war früher schon mit Kindern gereist, und er sah den Ärger voraus. Neben seinem Platz, an der Schiffswand befestigt, befand sich ein Gepäcknetz. Vorsichtig schob er den Käfig in das Netz. Die Stimme Stevensons ertönte aus dem Lautsprecher: »Bitte anschnallen. Der Start erfolgt in zwei Minuten.« Hamilton war zu sehr mit dem Käfig beschäftigt; er mußte die Halterung befestigen und prüfen, ob sie stramm angezogen war. Da hörte er Beverlees Ruf durch das Dröhnen der Düsen: »Setz dich endlich. Du verzögerst den Start noch mehr!« Als er sich auf die Schaumgummipolster niederließ, machte er ein Gesicht, als sei er geschlagen worden. Das Mädchen befestigte seine Gurte und sagte: »Ich habe Kinder erlebt, die folgsamer waren als du.« »Sicher«, antwortete er. »Aber die waren auch nicht sechs Monate draußen gewesen…« Sie legte eine Hand auf seinen Mund. »Du brauchst das nicht ständig zu wiederholen«, sagte sie und ging. Er entspannte sich, spürte das Vibrieren des Antriebs, musterte die Passagiere und sah zum erstenmal richtig die Mutter mit ihrem Kind. Es war eine angenehme Überraschung. Die Mutter war hübsch und jung dazu. Der Junge lächelte ihn unablässig an. Hamilton grinste gequält. Mit Gewalt zwang er sich dazu, an zu Hause zu denken. »Fünfzehn Sekunden!« schnarrte der Lautsprecher. Die Beschleunigung preßte ihn in den Sitz mit einem Druck, der fester und weitaus weniger zart war als der von Beverlee.
»Niedliches kleines Vieh. Daß ihr Kerle vom Forschungsdienst nichts Besseres zu tun habt, als herumzulaufen und harmlose kleine Tiere einzusperren.« Der Sprecher war Charlie Briggs, der Schiffsnavigator und Bordingenieur. Er und Stevenson waren näher getreten, als Art Hamilton mit dem Käfig in die Steuerkabine gekommen war. Mit einer vielleicht etwas übertriebenen Geste hatte Hamilton die Hülle entfernt. Das Tier glich einer Maus. Es hatte eine Körperlänge von ungefähr fünf Zentimetern (zu der noch der Schwanz mit sieben Zentimetern kam), war behaart und vierfüßig. Der Körper war dicklich und aufgebläht. Er hatte eine leicht purpurne Färbung. Die Augen waren groß, größer als die einer Maus auf der Erde; auch das Maul war übergroß. Die mehr esels- als mausähnlichen Ohren hingen schlaff herunter. »Ich weiß nicht, Charlie«, sagte Stevenson, »es scheint mir nach nichts Besonderem auszusehen. Jedenfalls hat es sich nicht gelohnt, deswegen den Start zu verschieben. Art weiß wahrscheinlich, weiß bestimmt, was es mit dem Tier auf sich hat. Und er sagt, es wäre wichtig.« Hamilton schnaubte: »Das ist das Understatement des Jahres, und – « Er brach ab, als der Ingenieur die Hand ausstreckte, als wolle er den feinmaschigen Drahtbehälter hochheben, und schlug Briggs’ Hand zur Seite. »Finger Weg!« »Was zum – « begann Briggs. »Um Gottes willen, du darfst nur den Handgriff anfassen. Wir haben festgestellt, daß es etwa zwanzig Sekunden dauert, bis dein Tod eintritt, nachdem dich dieses Tierchen gebissen hat.« Ingenieur und Kapitän wichen unwillkürlich vom Käfig zurück. »Und das hast du auf mein Schiff gebracht?« fragte Stevenson mit heiserer Stimme.
»Ich muß es zur Untersuchung zur Erde schaffen. Was soll ich tun? Ich war in solcher Eile und hatte keine Zeit mehr, selbst wenn ich es gewollt hätte, die Gepäcksräume öffnen zu lassen. Schau…« Hamilton wurde von der Stewardeß unterbrochen, die gerade in die Kabine kam. »Hallo, Jungs. Wo ist das biologische Wundertier meines Freundes?« Sie erblickte das Tier. »Oh, wie niedlich!« Und dann langte sie nach dem Käfig. Was sich jetzt ereignete, hätte Teil eines Zirkusprogramms sein können. Hamilton warf sich dazwischen. Sein linker Arm schoß vor und packte den Handgriff des Käfigs. Den rechten Arm streckte er in die Gegenrichtung aus, um den Körper des Mädchens zurückzustoßen. Inzwischen hatte auch Stevenson ihren Arm ergriffen und sie herumgerissen. Der Ingenieur rief: »Halt!« und versuchte ebenfalls, sie wegzustoßen. Aber um den Bruchteil einer Sekunde kam er zu spät, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.
Die Szene blieb einen Augenblick erstarrt wie ein Denkmal. Art Hamilton hielt den Käfig hinter sich, als verweigere er einem darnach bettelnden Kind ein Stück Schokolade; Briggs lag zwischen ihm und Beverlee auf dem Boden; das Mädchen lehnte mit dem Oberkörper an Hamiltons Brust, während sie Stevenson anblickte. Dann kam Bewegung in das Denkmal, und alle begannen gleichzeitig zu sprechen. Stevenson sagte: »Du und deine blöde Tierliebe…« Hamilton begann: »Wir wollen nur verhindern, daß du dich von diesem…« Briggs stand auf und wischte sich die Knie ab. »Ich werde allmählich alt.«
»Würde mir vielleicht jemand eine Erklärung geben?« fragte die rothaarige Stewardeß und fügte nach einer Pause hinzu: »Und die sollte schon einleuchtend sein!« »Gut, Bev«, sagte Hamilton, »sie ist eigentlich sehr einfach. Dieses niedliche kleine Biest ist tödlicher als alles, was wir kennen. Geh nicht zu nahe ran. Halte den Käfig nur am Handgriff: Pseudomus könnte sonst durch die Maschen hindurchbeißen.« »Pseudomus?« fragte Stevenson. »Ist das sein Name? Pseudomus?« Hamilton antwortete leise: »Pseudomus Floydensis.« »Ich will verdammt sein!« murmelte Stevenson, der die Anspielung auf den Familiennamen des Mädchens verstanden hatte. Die Augen des Mädchens strahlten vor Freude. »Wie süß von dir, Art. Du hast ihn nach mir benannt.« »Es ist noch nicht endgültig.« Er war noch immer verwirrt. »Das muß von der Kommission entschieden werden, und…« »Nun gut«, unterbrach Stevenson. »Trotzdem kannst du nicht erwarten, daß man sich diesen Namen merkt. Für mich ist es weiterhin einfach ›die Maus‹.« Hamilton sagte: »Es ist jedenfalls ein ekliges Biest; hat schon zwei Männer aus unserem Team umgebracht, bevor wir die Gefahr erkannten. Ich habe mich der Sache angenommen und konnte das Tier schließlich erwischen. Ich glaube, ich weiß darüber so viel wie jeder andere.« »Aber warum ist es so wichtig?« fragte Briggs. »Pseudomus ist ein Kapitel in Ökologie für sich. Unsere Gruppe gehörte zu einer der ersten, die Forschung abseits der Küstengebiete betrieb. Wir zogen ins Landinnere, schlugen unser Lager auf, begannen zu arbeiten, und dabei zogen wir die Aufmerksamkeit unseres kleinen Freundes auf uns. Anscheinend mögen sie unsere Nahrung sehr. Sie vermehrten sich wie« – er suchte nach dem Wort, fand es und fuhr fort –
»Mäuse. Schließlich hatten wir uns so aneinander gewöhnt, daß sie anfingen, uns durch ihre Bisse Schaden zuzufügen; da begann der unvermeidliche Krieg.« Briggs blickte nervös auf die Uhr. »1651. Ich muß Eintragungen ins Logbuch machen.« Er ging davon. Die anderen folgten ihm. Art Hamilton hob den Käfig auf. Er wollte ihnen noch etwas sagen. »Ihr haltet es für eine Maus. Das ist ein Fehler. Es hat die Fähigkeit, schnell zu töten. Und es ist klug. Ich denke dabei nicht an primitive Schlauheit oder Scharfsinn oder an eine andere Ausdrucksform der Klugheit. Auf eine primitive Art kann es denken. Und diese Zähne… Wir haben festgestellt, daß Metall die einzige Substanz ist, die sie nicht durchbeißen können. Und was noch schlimmer ist: schaut euch mal die Vorderläufe an.« Die drei kamen wieder heran und starrten in den Käfig. Allmählich kam das Verständnis. Das Mädchen sagte atemlos: »Wie ein Daumen. Das Tier kann zupacken und sich festhalten – wie ein Affe.«
Die Lautsprecheranlage des Schiffes wurde eingeschaltet. »Hier spricht der Kapitän. In wenigen Augenblicken treten wir in den Hyperraum ein. Ich habe die Sichtschirme eingeschaltet, und Sie können den Übergang beobachten.« Art Hamilton stand an der Bar und beobachtete den Sichtschirm. Er sah den Sternhimmel; die gelben Löcher im Nichts, hinter denen die Götter frohlockten; das ungeordnete Muster der Sonnen. Es war ein Anblick, an den sich jedermann, obwohl er schön war, bald gewöhnte. Was er gern sah, das waren die Hyperraum-Erscheinungen. Vielleicht wegen ihrer kurzen Dauer. Immerhin gab es noch keinen Grund, länger als fünf Minuten im Hyperraum zu verweilen. Das Eindringen in den Hyperraum hatte keine physiologischen Auswirkungen. In einem geschlossenen
Transportsystem besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß die Passagiere den Übergang überhaupt nicht wahrnehmen. Aber Stevenson, der einen Sinn für das Theatralische und Dramatische hatte, löschte die Innenbeleuchtung und ließ die Bildschirme, um die Aufmerksamkeit auf diese zu lenken, hell aufleuchten. Auf den Schirmen ging der Übergang ganz plötzlich vonstatten. Da waren die Sterne gewesen: gelbe, blaue, rote und weiße. Die Farbunterschiede waren, wie an jedem Himmel, nicht sonderlich ausgeprägt. Plötzlich veränderten sie die Position und kamen in Bewegung; sie bewegten sich um die Schirme herum. Eine zweite Bewegungskomponente wurde sichtbar. Sie war feiner und nicht so schnell. Die Äquivalenzsterne des Hyperraums hatten eine innere Bewegung, die ihre äußere Form beeinflußte. Sie wurden amöbengleich, aber mit dem einen wichtigen Unterschied: ihre Formen waren winkliger mit weit weniger Kurven oder Rundungen. Krümmungen entstanden, gingen über in geometrische Formen. Man könnte sie besser mit dem Ausdruck »kaleidoskopische Einheiten« bezeichnen, statt »amöbengleich«. Beide Bewegungen waren fließend, weiß und kontinuierlich. Dieser Anblick war, für sich betrachtet, schon Grund genug für das Eindringen in den Hyperraum; eine Farbdimension kam noch hinzu. Eine veränderliche Dimension, in der keine Farbe länger als für den Bruchteil einer Sekunde verweilte. Einige Farben konnte man unmöglich benennen, denn man hatte sie vorher nie gesehen. Da waren Pastelltöne und Schattierungen. Und keine dieser Farben hatte der Mensch hergestellt, und sie wurden nicht in ein willkürliches Muster gezwängt. Dunkelgrün floß zusammen, teilte sich, und strömte durch Ultramarin; Rot und Purpur vereinigten und spalteten sich wieder.
Nicht alle Eindrücke waren schön, besonders nicht in der Hauptrichtung der Bewegung, wenn die Farben übereinander zu fließen begannen, bis das Resultat ein galliges Grau-grün mit blaßroten Flecken war. Sie waren aber verhältnismäßig selten und konnten vom Gesamtbild nicht ablenken. Es war, so empfand es Art Hamilton, ein Ballett aus Bewegung, Farbe und Form. Es war entfesselt und abstrakt; es war das, was Maler seit Hunderten von Jahren auf die Leinwand zu bringen versuchten; aber es war ihnen nie gelungen. Es war eine konzentrierte Mischung aus Sinnlichkeit und Vergeistigung und gefiel daher jedem Betrachter. Es hielt sie alle im Bann. Er stand da, atmete tief und beobachtete; und plötzlich wurde ihm bewußt, daß etwas nicht stimmte. Das konnte er gerade noch feststellen. Die allzu plötzliche Verfinsterung der Schirme zeigte an, daß sie sich im Übergangsstadium in dem normalen Raum befanden. Auch das konnte er noch feststellen. Und daß er kopfüber durch die Kabine flog, war die letzte Feststellung, die er traf. Er wurde ohnmächtig, bevor er die Schreie und das Bersten des Schiffsbruchs hörte. Einen Sekundenbruchteil, bevor er wieder zur Besinnung kam, zogen scharfkantige Wellen an seinen Augen vorüber. Er befand sich in einem Vor-Bewußtseinsstadium, das in dumpfes Bewußtsein überleitete. Hamilton öffnete die Augen und erblickte die Stewardeß, die über ihm kniete. Sie legte ihm eine Kompresse auf die Stirn und sagte mit leiser, beherrschter Stimme: »Dir ist nichts passiert. Bleib ruhig liegen. Du könntest einen Schock abbekommen haben.« Die Dinge ordneten sich ein, und schließlich war er hellwach. »Was ist geschehen? Ist jemand verletzt? Ist das Schiff in Ordnung?« Sie nickte. »Niemand ist verletzt. Du bist das einzige Opfer. Und was das Schiff angeht, so ist es intakt, und doch auch wieder nicht. Es sieht nicht gut aus.«
In ihm stieg Übelkeit hoch, schockbedingte Übelkeit. Er kämpfte dagegen an, wußte aber, daß er außer Warten nichts würde tun können. Daher versuchte er seinen Magen zu beruhigen, bis der Anfall vorüber war, und hob schließlich den Kopf, um sich umzusehen. Ein scharfer Schmerz schoß durch sein Gehirn. Er stöhnte, legte die Hand auf sein rechtes Auge und fühlte die Beule. Wie die meisten Mitglieder des Forschungsdienstes hatte auch Art Hamilton einen gut entwickelten Sinn für Realitäten. Seine erste Reaktion war, daß er die Augen schloß, sie wieder öffnete und sich an das Mädchen wandte. »Hat der Schlag gegen die Stirn bei mir Sehstörungen hervorgerufen, oder ist es hier so dunkel?« »Deine Augen sehen richtig.« Sie senkte die Stimme. »Die Notbeleuchtung ist eingeschaltet.« »Notbeleuchtung…?« Jetzt erst begriff er diese Tatsache in ihrer ganzen Tragweite. »Notbeleuchtung! Dann ist der Atomreaktor…« »Erloschen«, vervollständigte sie den Satz. »Zerstört, kaputt. Die Energie ist rationiert; Steve weiß nicht, wie lange wir hier festliegen, und wir wollen kein Risiko eingehen.« Etwas Kaltes griff nach Hamiltons Wirbelsäule und schrieb mit eisigen Fingern dumpfe Vorahnungen auf seinen Rücken. »Bev, wir hängen im… Hyperraum?« Sie nickte und sagte: »So halb und halb. Wir haben den Passagieren nichts gesagt. Keiner spricht darüber. Aber ich stelle mir vor, wenn jemand merkt, was geschehen ist…« »Was ist, wenn sich der Schaden nicht beheben läßt?« »Das scheint unwahrscheinlich…« Er unterbrach sie: »Laß den Berufston, bitte! Du sprichst mit Art Hamilton, nicht mit Mrs. Winter.« Für einen Augenblick schien es, als wollten die Nerven mit ihr durchgehen; sie schauderte und drängte sich näher an ihn heran. »Es sind schon früher Schiffe im Hyperraum
verlorengegangen, Art. Wir wissen nicht, was geschah, aber ich glaube, sie… sie haben die Atemluft abgelassen, um es kurz zu machen. Sprich mit Steve. Er ist der einzige, der darüber etwas weiß.« Hamilton legte einen Arm um das Mädchen. »Nimm’s nicht so schwer; noch wissen wir nicht, wie die Dinge in Wirklichkeit stehen.« Ein kurzes Lächeln belohnte ihn, und sie wurde ruhiger. »Wer ist hier eigentlich der Patient?« fragte sie und fuhr fort: »Fühlst du dich schon so gut, um aufzustehen und zu deinem Platz zu gehen?« Er nickte und kam langsam auf die Füße. Dabei verglich er die Zeit. »1713. Ich war aber nicht lange ohnmächtig.« Er blickte sich in der Bar um. Was er sah, war ein Trümmerhaufen. Beobachtung ist Gewohnheitssache. Die Menschen können sich an gewisse sichtbare Tatsachen gewöhnen und sehen sie auch noch, wenn sie gar nicht mehr vorhanden sind oder sich inzwischen verändert haben. Sherlock Holmes nannte das einen Beobachtungsmangel und bewies das auch Watson, indem er ihn nach der Zahl der Treppenstufen vor der Zimmertür fragte. Art Hamilton aber war schon ein Leben lang an Luft- und Raumfahrzeuge gewöhnt, besonders an Passagierschiffe mit ihren langen Gängen zwischen den Sitzreihen. Er war vertraut mit der Anordnung der Gepäcknetze über den Beschleunigungssesseln. Die Bar hatte sich losgerissen, Gläser, Flaschen und Hocker waren über den ganzen Gang verstreut. Die meisten Gepäckstücke hatten sich ebenfalls selbständig gemacht und waren über den Passagierraum verteilt. Die Passagiere machten das Durcheinander nur noch schlimmer, indem sie hin- und herliefen und ihr Gepäck zusammensuchten. Hamilton rannte zu seinem Sitzplatz. Der Käfig! Er war noch da, alles in Ordnung. Wirklich? Ein anderes Gepäckstück war gegen den Käfig gestoßen. Einige Haltegurte waren gerissen.
Er streckte die Hände aus, um ihn wieder richtig zu befestigen… und hielt betäubt inne. Es war einer jener Zufälle, wie sie unter Millionen Möglichkeiten nur einmal vorkommen. Es war nur eine kleine, tetraederförmige Vertiefung und ein Riß, ungefähr dreieinhalb Zentimeter breit. Der hatte genügt. Der Käfig war leer. Hamilton drehte sich um und rannte vor zur Steuerkabine. Die Furcht verlieh ihm Riesenkräfte, und er ignorierte die bösen Bemerkungen der Passagiere. Stevenson sah kurz von seinen Karten auf. »Das kommt davon, wenn ich hier auf dem Schiff so manches durchgehen lasse. Du – « er zeigte mit dem Finger auf Hamilton – »bist ab sofort zum gewöhnlichen Passagier degradiert. Verlasse die Brücke!« »Hör zu, Steve, ich weiß, daß du beschäftigt bist…« »Beschäftigt!« schnaubte Stevenson, »beschäftigt! Was ist mit dir los? Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich die Verantwortung für das Schiff und die Passagiere trage? Ich bin Kapitän, Scharfrichter und Allmächtiger zugleich. Auf einmal muß ich Dinge tun, die ein Kapitän seit Jahren nicht mehr gemacht hat. Ich muß navigieren. Denkst du, das wäre leicht, hier mitten im Nichts? Muß Charlies Daten überprüfen und eine Entscheidung treffen. Muß die Passagiere beruhigen. Muß das Schiff am Leben erhalten. Und muß entscheiden, ob ich ihm und den Passagieren den Gnadenstoß gebe, wenn es nicht repariert werden kann. Hättest du mir gern diese Entscheidung abgenommen? Und du nennst das beschäftigt!« Jones, der Steward, stürzte in den Raum, drängte Hamilton zur Seite und berichtete dem Kapitän: »Der Vorrat reicht, Sir.« Stevenson nickte. »Das ist besser als nichts; gehen Sie hinter zu Briggs in den Reaktorraum und versuchen Sie, ihm behilflich zu sein.«
Als der junge Mann gegangen war, sagte Stevenson zu Hamilton: »Du weißt, was ich zu tun habe, wenn wir hier nicht mehr wegkommen?« Hamilton nickte. »Es gibt Gerüchte.« »Die Vorschriften nehmen es äußerst genau; ich habe sie vorhin durchgelesen. ›Im Falle‹, heißt es da, ›einer hoffnungslosen Situation, zum Beispiel Versagen des Antriebs im Hyperraum, ist der Kapitän ermächtigt, Passagiere und Besatzung zu töten‹. Bei Gott, sie verwenden wirklich diesen Ausdruck. Das wirksamste und humanste Mittel ist das plötzliche Herauslassen der Luft aus dem Schiff. Es ist dem Kapitän überlassen, diesen Zeitpunkt festzulegen. Es wird nicht empfohlen, den Hungertod abzuwarten, jedoch ist der Kapitän dazu angehalten, jedes mögliche Mittel anzuwenden, um das Schiff sicher mach Hause zu bringen.« Er schien in Grübelei zu versinken, riß sich aber mit einiger Anstrengung wieder zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich mag das nicht, Art. Von allen Entscheidungen, die ich im Laufe meines Lebens getroffen habe, wird dies die schlimmste sein. Na ja, ich muß das Schiff im Zustand des freien Falls treiben lassen; geh lieber wieder hinaus.« Hamilton zögerte. Er war mit großen Neuigkeiten hergekommen, Neuigkeiten von schiffserschütternder Wichtigkeit. Er war der Überbringer schlechter Nachrichten. »Vielleicht wäre es gut, wenn du mir einen Augenblick zuhören könntest, Steve«, sagte er. »Bereite dich auf eine noch schlechtere Nachricht vor. Pseudomus ist ausgebrochen.« Stevenson lehnte sich nach vorn über den Kartentisch, stützte einen Ellbogen auf und legte den Kopf in die Handfläche, während er mit den Fingern die Augenbrauen massierte. Die Anspannung zeigte sich in seinem Gesicht. Er öffnete die Augen so langsam, daß es schien, er wäre zu erschöpft, um das überhaupt noch zu schaffen. »Ausgebrochen?«
Hamilton nickte. »Weggelaufen. Ein Gepäckstück hat den Schaden angerichtet.« Er wartete. Als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Zum Teufel, Steve, ich wollte dich da nicht hineinziehen, aber du bist für die Passagiere verantwortlich…« »Das weiß ich!« brauste der Kapitän auf. Hamilton hob die Hand. »Die Leute kommen bestimmt nach Hause, Steve. Trotz allem, was sich ereignet hat, ist anzunehmen, daß wir es schaffen. Aber irgendwo im Schiff treibt sich ein mörderisches kleines Biest herum, das gefährlicher ist als die augenblickliche Situation. Wir müssen es finden.« Stevenson nahm von einem Häufchen karmesinroter Pillen zwei und sagte, als hätte er Hamiltons Worte nicht begriffen: »Foramin. Hast du deine Pille schon genommen?« Und auf die negative Antwort hin reichte er das Medikament hinüber. »Nimm lieber zwei; sie helfen gegen den Zustand der Schwerelosigkeit. Und das ist alles, was wir an Bord haben: Foramin und Aspirin. Aber was kann man mehr verlangen. Wir sind auf Pannen schlecht vorbereitet.« Der erschöpfte Mann kam auf das Thema zurück: »Ich weiß wirklich nicht, was ich anderes tun soll, Art. Ich weiß nicht, was wir ändern könnten. Wir gehen wie vorgesehen in den freien Fall über.« »Aber wir sind dann verhältnismäßig hilflos – zumindest wird unsere Bewegungsfähigkeit drastisch beschnitten.« »Das trifft auch auf deinen Schützling zu«, sagte Stevenson. »Nicht so nachhaltig wie auf Menschen. Pseudomus hat Klauen und kann sich damit festhalten – und er kann sich schnell anpassen.« »Genau wie der Mensch«, war Stevensons lakonische Antwort. Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber wie du schon gesagt hast, bin ich für die Passagiere verantwortlich. Ich darf keine Energie verschwenden. Der
Schwerkraftgenerator wird abgestellt.« Er schaltete die Lautsprecheranlage ein und gab bekannt: »In zwei Minuten werden wir in den freien Fall übergehen, 1729 galaktische Zeit. Bitte bleiben Sie auf den Plätzen. Laufen Sie nicht herum. Die Stewardeß wird Ihnen helfen. Im Fall von Übelkeit finden Sie in Ihrer rechten Armstütze Tüten…« Dann rief er den Reaktorraum. »Charlie? Wir schalten die Schwerkraftgeneratoren aus. Bereite dich darauf vor… Wie geht’s?… Ist gut. So bald wie möglich.« Er suchte in einer der Tischschubladen und holte eine zerknautschte Dienstmütze heraus, die er Hamilton zuwarf. »Was ist das?« »Setz sie auf; die Leute sehen gern Uniformen. Schirmmützen repräsentieren Autorität, und die Leute respektieren das. Besonders in einer kritischen Lage. Ich ernenne dich zum Schiffsoffizier. Du kannst überall hingehen, und ich befehle dir, diese verdammte Maus zu suchen.« »Okay, Steve. Aber warum unterrichtest du nicht die Passagiere?« »Bist du verrückt? Die Leute haben Sorgen genug. Wenn wir ihnen jetzt noch von dem Biest erzählen, drehen sie durch. Wir haben dann eine Panik an Bord, und das wäre das sichere Ende. Das ist mein zweiter Befehl an dich: sag niemandem etwas davon!« Er stand auf, murmelte: »Festhalten!« und schaltete den Schwerkraftgenerator ab.
Hamilton stellte fest, daß es eigentlich gar nicht so schlimm war. Nach dem ersten Schock und einigen Augenblicken der Orientierung und Anpassung, ging es schon ganz gut. Da war auch etwas Übelkeit, aber dagegen hatte er Foramin genommen. Körperliche Fortbewegung war natürlich schwierig; aber die Bauweise des Transkontinuum-Schiffes
machte sie andererseits doch leichter, als er zunächst angenommen hatte. Die Menschen bewegten sich, wenn man so sagen will, schnell. Sie fraßen Entfernungen, betrogen die Zeit, waren im interstellaren Raum zur Teestunde und im intergalaktischen zum Cocktail. Ein, zwei, drei Stunden? Höchstens fünf für eine lange Reise. Wozu also große Schiffe? Die Schiffe führten auf langen Strecken lediglich eine Mahlzeit für die Besatzung, Ladung und Post mit sich. Ihre Größe wurde bestimmt durch die Anzahl der Passagiere, die sie zu befördern hatten. Die Schiffe waren notwendigerweise zylindrisch, wobei der Passagierraum längs der Hauptachse lag. Um es näher zu beschreiben: er bestand aus einem Mittelgang. Links und rechts davon lagen die Beschleunigungssitze. Vorn lag die Kommandobrücke, hinten war der Reaktorraum. Nachdem sich Art Hamilton an den gewichtlosen Zustand gewöhnt hatte und sich an den Sitzen entlang hangelte, gewann er schnell eine gewisse Gewandtheit. Bald konnte er sich ebenso gut wie die Mannschaft bewegen, die jahrelang unter solchen Bedingungen trainiert hatte. Beverlee hatte mit Schrecken von dem Ausbruch des Tieres erfahren und dieselben Ängste wie Stevenson durchgestanden. Aber genau wie Stevenson hatte auch sie vernünftig reagiert. Sie fürchtete sich zwar, aber sie setzte diese Furcht in sinnvolle Betätigung um. Neben der Sorge für die Passagiere, die sie inzwischen als ihre »Herde« bezeichnete, half sie Art Hamilton bei der Suche nach dem Tier. »Es wäre besser«, murmelte er, als sie in der Bar angelangt waren, »wenn wir wenigstens sehen könnten, was wir tun.« »Sicher.« Ihr Flüstern klang weich in seinen Ohren, und sie war ihm sehr nahe. Er schüttelte ungehalten den Kopf. »Die Ironie des Schicksals. Endlich bin ich mit dir mal allein im Dunkeln…«
»Wir sind nicht allein.« »… und was tu ich? Man könnte verrückt werden, verrückt…« »Du bist nicht verrückt, nur starrköpfig…« »… verrückt, sage ich dir. Mit dem Mädchen meiner Sehnsucht allein im Dunkeln…« Er stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Ich sage dir, das ist das Schicksal eines Forschers. Mäusefangen! Unter anderen Umständen vielleicht ja.« Sie zischte ihm böse zu: »Wenn du deine Hände nicht bei dir behältst…« »Zum Teufel, was meinst du damit?« »Etwas hat mich berührt.« Sie schien zu begreifen. »Art, etwas kriecht an mir herauf!« »Nicht bewegen!« »Auf dem Rücken – nein, auf der linken Seite über den Rippen.« »Ruhig. Das Licht ist so düster hier… warte.« Plötzlich lachte er. »Du kannst wieder aufatmen, Bev. Was dich berührt hat, war der Schirm der Mütze, die Stevenson mir gegeben hat. Ich hatte sie abgenommen, als ich unter diesen Sessel kroch; vermutlich ist sie im schwerelosen Zustand um dich herumgeschwebt.« Das Mädchen atmete befreit auf. »Das hat mich aber ziemlich erschreckt.« »Du hattest auch allen Grund dazu. Mir ging es ebenso.« Plötzlich hängte sie sich bei ihm ein und lehnte, wie um sich auszuruhen, ihren Kopf an seine Schulter. »Art?« »Hm?« »In solchen Augenblicken habe ich immer das Gefühl, als müßte ich meinen Beruf aufgeben und dich heiraten.« Er zog ihr Gesicht heran und küßte sie. »Art, die Lampe über Mrs. Drake brennt. Ich muß zu ihr gehen…«
Hamilton brummte nur und ließ sie gehen. Er versuchte nachzudenken. Die Maus konnte unter Umständen leicht zu finden sein, aber das bezweifelte er. In der Vergangenheit hatte das Tier zu viel Klugheit bewiesen, als daß es ihm leichtfallen würde. Außerdem war Fortbewegung während des freien Falls schwierig. Hamilton vermutete, daß sie sich wahrscheinlich irgendwo festgeklammert hatte und sich überhaupt nicht bewegte. Was ihm Sorgen machte, war die Möglichkeit, daß sie sich in einem Kleidungsstück eines Passagiers verborgen hielt. Das Fehlen irgendeiner Bewegung des Schiffes, das Zwielicht und der Ernst der Lage wirkten sich lähmend auf die Passagiere aus. Hamilton spürte es selbst. Er hatte die Neigung, lieber zu grübeln, als das Tier zu suchen. Er schrak zusammen, als eine Stimme aus dem Lautsprecher tönte: »Die Besatzung bitte beim Kapitän melden.« Es dauerte eine Weile, bis ihm bewußt wurde, daß auch er zu dieser Gruppe gehörte. Mit einem etwas verzerrten Lächeln setzte er die Mütze auf und hangelte sich den Gang hinunter. Er hatte fast die Kabine erreicht, als die Situation, vor der er sich fürchtete, eintrat. Ein Schrei kam aus dem Passagierraum – und die Stimme verriet ihm, daß nur ein ganz bestimmter Passagier gerufen haben konnte: der Junge! Er wirbelte herum und vergaß dabei, daß er schwerkraftlos war. Fluchend schwebte er an die Decke und stieß gegen die Schiffswand. Der Aufprall war hart, aber er achtete nicht auf die Schmerzen. Er bemühte sich, wieder nach unten zu kommen, und bewegte sich wie durch einen Schleier, alles ringsum vergessend außer dem Schreien des Kindes. Es brach ab, noch bevor er den Platz des Kindes erreicht hatte. Hamilton bewegte sich weiter und war schon darauf gefaßt, daß nun die Schreie der Mutter kommen würden. Sie blieben aus.
Als er die beiden erreichte, hatte sich der Junge etwas beruhigt. Zwei Tränen glitzerten auf seinen Wangen. »Was ist los?« stieß Hamilton hervor. »Jetzt ist es weg!« sagte der Junge weinerlich. Die Mutter fragte ärgerlich: »Was ist weg?« »Du hast es erschreckt. Du hast das Tier erschreckt.« »Sei nicht albern, hier gibt es keine Tiere.« »Wo ist das Tier hingelaufen?« fragte Hamilton. »Weiß nicht. Möchte es haben.« »Wo war es?« »Hier.« Der Junge zeigte auf die Lehne des Sessels. »Schönes Tier. Möchte auch ein Tier haben.« »Wie groß war es, Kleiner? So groß wie ein Mäuschen?« »Ja, wie ein ganz süßes kleines Mäuschen.« Die Mutter lächelte Hamilton zu. »Es ist ein bißchen überreizt. Hat ohnehin schon eine sehr rege Fantasie; erzählt mir immer von Dinosauriern, die er gesehen haben will.« Hamilton nickte. Kalter Schweiß bedeckte seinen Rücken. Er richtete sich auf und strich dem Jungen über das Haar. »Du bist ein braver Junge.« Aus dem Lautsprecher kam eine weitere Aufforderung an die Besatzungsmitglieder. Hamilton hangelte sich wieder den Gang hinunter.
Briggs war schon da und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit Stevenson. Hamilton trat ein. Ihm folgte Jones, der aussah, als müsse er allein die ganze Verantwortung tragen. Als letzte erschien Beverlee mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Steve…« begann sie, aber er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Wenn’s soweit ist, Bev. Wir haben alle eine Chance. Aber ich möchte das noch erledigen.« Er griff zum Mikrofon und sprach hinein.
»Informatorische Logbucheintragung, TranskontinuumSchiff Alexandrite, 1812 galaktische Standardzeit. Gesamte Schiffsbesatzung anwesend. Stevenson, Kapitän; Briggs, Navigator und Bordingenieur; Jones, Steward; Floyd, Stewardeß; und Hamilton – « Er brach ab und suchte anscheinend nach einer passenden Bezeichnung. Ein böses Grinsen ging über sein Gesicht, nachdem er ihn gefunden hatte. »Halboffizieller Rattenfänger. Es folgt ein weiterer Bericht im Anschluß an die vorhergehende Logbuchaufzeichnung.« Dann nickte er Briggs zu. »Fang an, Charlie.« Briggs ergriff das Mikrofon. »Nun«, Briggs rieb sich mit der Hand den Nacken, »wie ich die Dinge sehe, stehen sie noch nicht zum besten. Wir scheinen drei Alternativen zu haben: hier zu sterben, auf der Heimreise zu sterben, oder es vielleicht zu schaffen. Aber wenigstens haben wir so etwas wie eine Chance. Und dafür könnt ihr euch bei Jones bedanken; er war es, der den Energieabfall zwischen Umwandler und den Antriebsdüsen feststellte.« Jones warf Briggs einen dankbaren Blick zu. In einer Logbuchaufzeichnung, selbst wenn es nur eine informatorische war, erwähnt zu werden, bedeutete gute Aufstiegschancen. »Wir können den Antrieb reparieren – vorübergehend. Aber folgendes wird geschehen: die Düsen werden mit unterschiedlicher Leistung schieben. Eine genaue Abstimmung ist nicht mehr möglich. Falls es uns gelingt, den Umwandler betriebsfähig zu machen, können Energieschwankungen auftreten. Und dann haben wir keine Chance mehr. Mit zuviel Masse auf Stufe Zwei gibt es so etwas wie eine Frühzündung. Energie wird dann genug vorhanden sein, allerdings Wärmeenergie – und zwar sehr plötzlich.« »Willst du damit sagen, daß wir in Atomenergie verwandeln?« fragte die Stewardeß.
»Nein«, antwortete Briggs. »Das nicht. Es wird nur außerordentlich heiß werden. So heiß, daß das Schiff schmilzt; wahrscheinlich so heiß, daß alles verdampft. Wie dem auch sein mag, der Hitzegrad kann nur theoretisch ermittelt werden. Dann werden wir aber nicht mehr da sein, um es entsprechend würdigen zu können.« »Und es gibt nichts, was du dagegen tun könntest?« fragte sie. »Nein, Bev.« Briggs machte ein grimmiges Gesicht. »Mir fehlt die Erfahrung im Umgang mit heißer Materie. Schiffsingenieure können vielleicht noch Lecks reparieren, nicht aber den Antrieb.« »Was soll also geschehen?« fragte Hamilton. »Wie ich schon sagte«, antwortete Briggs, »provisorisch kann ich die Sache zurechtbiegen. Wir müßten uns auf ein Wettrennen mit der Zeit einlassen. Wenn ich den Antrieb in Gang gesetzt habe, kann ich ihn nicht mehr anhalten. Und ich habe keine Ahnung, wie lange das der Umwandler durchhält.« Stevenson sagte kurz: »Ich benötige etwas Zeit, um einen Plan zu entwerfen. Was schätzt du, wie lange der Umwandler standhält.« Briggs rieb sich wieder den Nacken. »Sagen wir ungefähr eineinviertel Stunden – plus oder minus eine halbe Stunde.« Unfreiwillig sahen alle nach der Uhr. Es war 1816. Art Hamilton fragte sich, was für Gedanken wohl gerade durch Mrs. Winters Kopf gingen. In vier Minuten hätten sie in New York sein müssen; vor vierzehn Minuten hätten sie mit Station Eins Verbindung aufnehmen müssen. Die Frau würde unvermeidlich zu spät nach New York kommen. »Nicht genug Zeit«, sagte der Kapitän. »Nicht genug. Mit dieser Einschränkung kann ich nicht arbeiten. Da habe ich nur vierzehn Minuten, wenn man von der Annahme ausgeht, daß Charlies Mittelwert und nicht das Minimum zutrifft. Aber ich kann trotzdem nicht viel unternehmen. Aber es ist unsere einzige Chance. Noch Fragen? Charlie, was ist mit dir?«
Briggs schüttelte den Kopf. »Nichts. Nur vergiß nicht den Umwandler.« Der Kapitän nickte. Beverlee sagte: »Steve, vielleicht bin ich zu optimistisch, aber ich sehe nicht ein, warum du es nicht bis New York schaffen solltest, vorausgesetzt wir haben tatsächlich dreizehn Minuten Frist.« »Weil ich in New York nicht landen kann. Darum geht es. Du hast gehört, was geschehen wird. Das Schiff wird sich kurz nach unserer Landung in einen See von mehreren Tonnen geschmolzenen Metalls verwandeln. Kannst du dir vorstellen, was dann mit dem Landegebiet des größten Raumschiffhafens der Welt geschieht, wobei ich noch nicht einmal von dem Verkehrschaos sprechen will, das es dort verursacht?« Er lächelte grimmig. »Wenn es kurz vor der Landung passiert, dann brauchen wir uns darüber allerdings keine Gedanken mehr zu machen.« Hamilton fragte: »Warum können wir das Schiff nicht in die gleiche Umlaufbahn um die Erde bringen wie Station Eins? Dann können sie uns herausholen. Vielleicht könnten wir sogar das Schiff in Raumanzügen verlassen, wenn wir uns nahe genug bei der Station befinden.« Briggs blickte Stevenson an und erklärte, nachdem dieser genickt hatte: »Das wird aus verschiedenen Gründen nicht gehen, Art. Erstens haben wir keine Raumanzüge; Linienschiffe sind damit nicht mehr ausgerüstet. Zweitens: hast du schon unsere Navigationseinrichtung gesehen? Sie besteht aus einem elektronischen Schrotthaufen. Die einzige Möglichkeit, mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen, wären Handzeichen.« Er machte eine Pause und wandte sich an Stevenson. »Da ist allerdings doch was dran, Käpten. Wenn wir so nahe wie möglich an der Station in eine Kreisbahn gehen, werden sie, auch wenn wir sie über Funk nicht verständigen können, schließlich doch herauskommen.«
»Nein!« sagte Stevenson. »Zumindest nicht in dreizehn Minuten. Ich denke, es ist besser, wenn wir die ganze Strecke bis zur Erde zurücklegen. Wir haben Glück, daß keine schwangeren Frauen an Bord sind. Nach allem, was passiert ist, würden sie wahrscheinlich jetzt niederkommen.« »Steve, verzeih.« Die Stewardeß berührte seine Schulter. »Ich wollte es schon vorher erklären, als ich hereinkam. Es gibt einen anderen Grund, warum du auf der Erde landen mußt. Selbst wenn die Funkanlage in Ordnung wäre, müßtest du in New York landen – ob das Schiff schmilzt oder nicht.« Jetzt hörten alle zu. Beverlee fuhr fort: »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber während meiner Ausbildung habe ich so manches gelernt. Zum Beispiel wie man Erste Hilfe leistet. Es handelt sich um Mrs. Drake…« Sie machte eine Pause, und Stevenson fragte schroff: »Was soll das bedeuten? Was ist mit Mrs. Drake?« Mit leiser Stimme antwortete sie: »Sie braucht sofort ärztliche Hilfe. Ihr Blinddarm. Ich fürchte…«
Sie legten Mrs. Drake auf eine Pritsche und machten es ihr so bequem wie möglich. Aus der Bar holten sie Eis, machten eine Kompresse und legten sie der Frau auf den Leib. Die Schwerkraftgeneratoren begannen wieder zu arbeiten, nachdem der Umwandler eingeschaltet war, und das schien zu helfen. Das Schiff ging für zwei Minuten in den Hyperraum und kehrte, eine Stunde von der Erde entfernt, wieder in den (normalen Raum zurück. Keiner der Passagiere merkte etwas davon. Auch ahnten sie nicht, daß sie sich immer noch in sehr großer Gefahr befanden. Stevenson wußte es, Stevenson, der trotz seiner bisweilen beleidigenden, sarkastischen Art alles für seine Passagiere, die Mannschaft und das Schiff getan hatte. Er hatte den Kurs
selbst festgelegt, im Bewußtsein der bitteren Erkenntnis, daß er einen großen Teil des New Yorker Landegebietes zerstören mußte, sofern er überhaupt landen würde.
Art Hamilton hatte sich wieder auf die Suche nach seinem Tier gemacht. Es war 1854. Werden bald da sein. Wie die Zeit vergeht! Der gute Briggs wird den Käfig schon wieder flicken. Dich werden sie für die Flucht des Tieres verantwortlich machen. Verhindere das. Fang es ein. Möchte bloß wissen, wer verantwortlich gemacht wird, wenn es beißt? Du natürlich. Gewissermaßen verdienst du das auch. Aber sieh den Tatsachen ins Auge. Nicht die Verantwortung drückt dich nieder. Es ist der Gedanke an den Biß. Kannst du den Anblick ertragen wenn ein Mensch so qualvoll stirbt wie Belcher? Es ist nicht schön, das mitansehen zu müssen, nicht wahr? Verhindere das – fange es. Das ist gar nicht so leicht. Wo ist es? Überleg mal, kluger Junge. Also los! Wo versteckt sich Pseudomus? Und bleibt er an dieser Stelle? Du mußt ihn finden! Während der Suche begegnete er Briggs. Sie blieben stehen, zündeten Zigaretten an. »Der Käfig ist fertig, Art. Ich habe ihn an deinen Platz gestellt«, sagte Briggs. Hamilton betrachtete Briggs’ Gesicht genauer. Der Mann war müde. Er hatte dunkle Ringe um die Augen. »Wie schaut’s aus?« fragte Hamilton. »Wenig erfreulich«, sagte Briggs. »Du lebst auf geborgte Zeit; es ist jetzt 1859 BGZ.« »BGZ?« »Briggs’ geborgte Zeit. Wir sitzen in einem Backofen, der jederzeit zur Hölle werden kann.«
»Weißt du, Charlie, ich hatte das fast vergessen. Das verdammte Biest läßt mich an nichts anderes denken. Wie wird es sein, wenn der Ernstfall eintritt?« »Lustig, sehr lustig. Die Temperatur wird allmählich ansteigen. Zuerst wird man es gar nicht merken. Plötzlich spürst du die zunehmende Hitze. Und von diesem Punkt an wird es schneller gehen, aber auch nicht schnell genug. Das hängt davon ab, wie weit wir noch von New York entfernt sind. Haben wir eine vertretbare Chance, dann versucht der Käpten, uns runterzubringen. Wenn nicht… Wir können immer noch die Luft hinauslassen.« Ein schriller Schrei von Mrs. Winter riß Art Hamilton aus seinen trüben Gedanken. Es klang, als wäre sie von einer Nadel gestochen worden – oder von zwei Nadeln, vergifteten Nadeln. Er rannte zu ihr und erreichte sie noch vor der Stewardeß, die aus der anderen Richtung kam. »Was ist, Mrs. Winter?« fragte Beverlee. Hamilton fürchtete sich vor dem, was nun kommen würde. »Ich… ich… habe es gesehen! Ich habe es gesehen. Eine… Maus, eine Ratte!« stieß die Frau hervor. Hamilton und die Stewardeß tauschten Blicke. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Mrs. Winter?« fragte Hamilton. »Doch.« Dann mißverstand sie allerdings den Grund seiner Frage, glaubte, er zweifle an ihrer Beobachtung. »Ich sage Ihnen, ich habe eine Maus gesehen. Wie kommt ein solches Tier überhaupt in dieses Schiff?« Hamilton atmete auf. Die Frau war offensichtlich nicht verletzt, und Pseudomus mußte in der Nähe sein. Vielleicht würden die nächsten fünf Minuten Ergebnisse bringen. Er setzte die Suche allerdings nicht fort. Auf dem Sichtschirm wurde die Erde immer größer. Beverlee kam an seine Seite. Sie lächelten sich an, aber die Sorge wich nicht aus ihrem Blick.
»Wie geht’s Mrs. Drake?« fragte er. »Ganz gut, glaube ich. Und wie steht’s mit der Suche?« »Habe noch nichts gefunden.« »Du wirst es schon schaffen.« »Danke für den Vertrauensbeweis. Kann ich mich revanchieren?« »Ja.« Plötzlich bemerkte er, daß sie die Grenzen ihrer Nervenkraft bald erreicht hatte. »Werden wir es schaffen? Der Anblick der Erde ist fast zuviel für meine Nerven…« »Ich weiß, wie du dich fühlst«, unterbrach er sie. »Es war nicht ganz so schlimm, als wir noch draußen waren. Da warst du noch ziemlich fatalistisch. Aber jetzt, wo die Erde so nahe ist… Fast kann man die Hand ausstrecken und sie berühren. Eins will ich dir sagen, Bev. Wenn man mit menschlichem Willen etwas erreichen kann, dann werden Steve, Charlie, Jones und ich – und du – dieses Schiff nach Hause bringen.« Sie richtete sich auf. »Danke, Art. Das hilft mir weiter…« Wieder wurde sie von der Sprechanlage unterbrochen. Kapitän Stevensons Stimme verkündete: »Wir haben soeben die Umlaufbahn von Station Eins passiert und werden in achtzehn Minuten in New York landen.« Hamilton holte tief Luft. »Ich muß gehen«, sagte er zu dem Mädchen und setzte die Suche fort. Nun wurde es ernst. Achtzehn Minuten! Ihr Schicksal hing jetzt von den Launen der Götter und der Energieumwandlung im Meiler ab. Briggs und Jones gingen bemerkenswert oft in den Reaktorraum. Dann überlegte er, daß es eigentlich gar nicht so häufig der Fall war. Genau genommen vielleicht ein, zwei Male. Aber er war im Augenblick überempfindlich, und jedesmal, wenn er einen von den beiden sah, schien es ihm, als wäre es schon zum hundertsten Male. Was ihn störte, war die Unbekümmertheit der Passagiere. Sicherlich wußten sie, daß nicht alles zum besten stand. Dennoch sprachen sie von der
Landung, daß sie verspätet ankämen, von Hotelreservierungen und verpaßten Anschlüssen. Es war schrecklich. Diese Gespräche könnten sich ganz plötzlich in Schmerzensschreie verwandeln. Wurde es schon wärmer? Nein, das war Einbildung. In seine Gedanken um das Schicksal des Schiffes mischte sich die Befürchtung, daß er Pseudomus nicht rechtzeitig finden könnte. Es war unerläßlich, daß er ihn jetzt fand. Es blieben ihm nur achtzehn Minuten; nein, weniger. Warum hatte Pseudomus noch niemand gebissen? Er glaubte den Grund zu kennen. Was aber, wenn er in seiner Annahme fehlginge und das Tier innerhalb der nächsten paar Minuten beißen würde? Wäre das nicht die größte Tragödie überhaupt? Möglich, aber es würde nur einen beißen – wenn er recht hatte. Und er mußte recht haben; es gab keine andere Antwort. Gäbe es eine andere, dann würde das bedeuten, daß der Mensch das Wettrennen verloren hatte.
»Junger Mann!« es war die gebieterische Stimme von Mrs. Winter. »Junger Mann, Sie machen mich nervös. Warum laufen Sie eigentlich während des ganzen Fluges den Gang hinauf und hinunter?« »Tut mir leid, Mrs. Winter, aber ich habe jetzt keine Zeit, um mich mit Ihnen darüber zu unterhalten.« Noch sechzehn Minuten. »Ich bestehe darauf, daß Sie sich die Zeit nehmen! Zuerst wurde der Abflug wegen Ihnen verzögert. Dann hatten wir unterwegs laufend Schwierigkeiten. Wir hätten sterben können. Und wer sagt uns, daß Sie nicht an allem die Schuld tragen?« Verdammte Person! Laß mich in Frieden! »Sie haben mir noch nicht geantwortet, junger Mann.« »Ihre Anschuldigungen sind offensichtlich lächerlich. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen…«
Stevensons Stimme kam über den Lautsprecher. »Passagiere und Mannschaft werden gebeten, sich anzuschnallen. Wir beginnen mit dem Bremsmanöver.« Zu spät? Sollte der Fortbestand der Menschheit gefährdet sein, nur wegen einer Mrs. Winter? Nein. Noch war Zeit zu handeln. Er rannte zur Steuerkabine. Der Kapitän blickte auf, als Hamilton eintrat. »Gehorcht denn hier überhaupt keiner mehr? Das war kein Jux. Geh hinaus und schnall dich an. Du kennst die Lage. Ich habe keine Zeit, um mich mit dir zu unterhalten.« »Steve!« Aus Hamiltons Stimme sprach der Ernst der Verzweiflung. »Steve, wenn du gelandet bist, öffne nicht die Schleusen. Laß sie nicht hinaus!« »Bist du verrückt? Deine Maus ist völlig unwichtig.« »Doch, sie ist wichtig.« »Das ist sie nicht!« brüllte Stevenson und schnallte sich an. Er blickte auf die Kontrollinstrumente. »Und dir gebe ich dreizehn Sekunden Zeit, dich auf deinen Sitz zu bequemen. Andernfalls hast du meine Erlaubnis, dir den Hals zu brechen.« Hamilton rannte hinaus.
Sie waren gelandet. So einfach war das. Sie hatten die Erde lebend erreicht. Der befürchtete Temperaturanstieg war nicht eingetreten. Keine sinnlose Angst, im Weltraum sterben zu müssen, hatte ihnen die Kehle zugeschnürt. Die Erde hatte sie mit offenen Armen empfangen. Mit fast offenen Armen. Station Drei hatte sie passieren sehen und keine Funk- oder Bildschirmimpulse empfangen. Wie alle Stationen, so war auch Drei mit Geräten ausgerüstet, die es ermöglichten, Fremdkörper, Meteore und ähnliches zu zerstören, bevor sie auf der Erde in bewohnte Gebiete einschlagen konnten.
Ursprünglich waren die Stationen zu einer weniger friedvollen Aufgabe errichtet worden, doch die Tage der Intraspezifischen Kriegsführung waren vorüber. Ihr Schicksal wurde von einem Mann entschieden, der in Station Drei das Kommando führte – eine Entscheidung, die in Bruchteilen einer Sekunde getroffen wurde. Sie flogen vorüber und wußten nicht, daß es ein unbedeutendes Ereignis in seiner Vergangenheit gewesen war, das sie gerettet hatte. Als junger Leutnant hatte er sich oft gefragt, wie man den Unterschied zwischen einem Meteor und einem Raumschiff feststellen konnte. Es war natürlich eine rein theoretische Fragestellung: noch nie ist einem Schiff etwas zugestoßen. Aber nehmen wir es einmal an… Nun gut, ein Schiff, das eine Panne gehabt hatte und dessen Kommunikationsgeräte funktionsunfähig waren, würde sich genauso verhalten wie ein Meteor. Diese Überlegung trat plötzlich wieder aus seinem Unterbewußtsein zutage; er nannte es eine Eingebung. Und er gab den Befehl, trotz der Zweifel der Stationsbesatzung, den unidentifizierten Flugkörper nicht zu zerstören. Station Drei gab die Nachricht weiter. Die Warnung löste eine Kettenreaktion aus, und lange bevor das Schiff landete, war man bereit und wartete. Es war offensichtlich, daß es New York ansteuerte. Auf dem Landefeld brach eine Unruhe aus, die sich nur noch mit der Brownschen Molekularbewegung vergleichen ließ. Alle Unfallund Katastrophenfahrzeuge waren in Alarmbereitschaft. Kein anderes Schiff bekam Landeerlaubnis: Falls es doch ein Meteor war, dann konnte niemand voraussagen, wo er einschlagen würde. Aber bald wurde ersichtlich, daß es ein Schiff war, dessen Steuerung funktionierte. Es landete, und der Antrieb wurde abgestellt.
Warum aber, fragte man sich besorgt, strahlte das Heck immer noch Hitzewellen aus? Art Hamilton hatte seinen Sitz schon verlassen, bevor das Schiff ausgerollt war. Er lief zu Stevensons Kabine und kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß er die Ausgänge öffnete. »Steve, warte!« Stevenson hielt inne. »Wir sitzen im Innern einer Zeitbombe, und du verlangst, daß ich warte? Nein!« Hamilton hielt die Hand hoch. »Es kann im Gepäck der Passagiere, selbst in der Kleidung hinausgelangen.« Plötzlich stürzte Briggs in den Raum. »Käpten, laß die Leute raus, laß sie raus! Es geht los. Die Temperatur steigt.« »Steve!« Hamiltons Stimme ließ die beiden aufmerken. »Tu es nicht. Die Zukunft dieses Planeten steht auf dem Spiel. Ich brauche nur ein bißchen Zeit. Einen Augenblick.« Aus Hamiltons Stimme sprach die Verzweiflung, die ihn gepackt hatte. »Ginge es allein um die Maus, dann würde ich sagen, wir lassen es drauf ankommen. Aber es geht um mehr, um viel mehr. Das Biest ist ein Weibchen, ein trächtiges. Und sie wird bald Junge werfen!« Stevenson lachte, ein abgehacktes, bellendes, fast hysterisches Lachen. »Ich wußte es, ich wußte es! Ich hatte also tatsächlich eine Schwangere an Bord.« »Ich sagte dir nichts davon, weil ich dachte, es sei eine Nebensache, und ich wollte deine Sorgen nicht noch vergrößern. Aber begreifst du denn nicht?« Der Taxonom packte den Kapitän bei den Schultern. »Sie sind klein; sie können überall hin. Sie haben es auf unsere Nahrung abgesehen. Wenn wir das Biest hinauslassen, dann sind es morgen drei – oder zehn. Nächstes Jahr sind es hunderttausend. Und es sind keine harmlosen Mäuse. Sie sind
tödlich!« Der Kapitän starrte ihn an. Einen Augenblick lang standen sie sich stumm gegenüber. Schließlich wandte sich Stevenson an Briggs. »Wieviel Zeit haben wir noch, Charlie?« »Gott – ich weiß nicht. Vielleicht sechs, sieben Minuten. Aber du wirst dich doch von diesem Verrückten nicht dazu überreden lassen – wir müssen raus und weg vom Schiff. Es wird heiß.« »Wir können die Passagiere auf unseren Gepäckwagen wegbringen«, sagte Stevenson. »Du hast vier Minuten Zeit, Art.« Hamilton raste in den Passagierraum. Er nahm den Käfig und wandte sich an Mrs. Drake, die immer noch auf der Pritsche festgeschnallt lag. Er fühlte sich leer und ausgehöhlt. Wie aus weiter Ferne hörte er Stevensons Stimme über den Lautsprecher: »Es hat sich etwas ereignet, das die unmittelbare Öffnung der Schleusen verhindert. Bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen. Aber richten Sie sich darauf ein, das Schiff schnell zu verlassen, wenn ich den Befehl gebe…« Hamilton hörte nicht mehr hin und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Indem er sich über Mrs. Drake beugte, sagte er: »Ich brauche Ihre Hilfe, Mrs. Drake. Und bitte keine Fragen.« »Ich dachte mir schon, daß etwas nicht in Ordnung sei. Etwas, das nichts mit dem Schiff selbst zu tun hat. Was soll ich tun?« »Bewegen Sie sich nicht. Bleiben Sie ruhig liegen. An Bord läuft ein kleines, aber tödliches Tier frei herum. Ich glaube, es hält sich irgendwo in Ihrer Nähe auf.« Während Hamilton sprach, begann er die Kleidungsstücke zu entfernen, die man über die kranke Frau gedeckt hatte. Er arbeitete langsam – ihm schien alles unendlich lange zu dauern –, aber sorgfältig. Jede abgelaufene Sekunde war sein Feind. Und es gab Leute im Schiff, die dem Feind auch noch in die Hände zu arbeiten schienen.
Mrs. Winter maulte: »Ich will endlich raus. Es wird warm hier drinnen.« Und Stevenson sagte: »Eine Minute ist vorbei, mein Junge. Du hast noch drei.« Hamilton entfernte den letzten Mantel, sah oberflächlich hin und empfand es wie einen Schlag in die Magengrube. Er hatte versagt – und vielleicht den Untergang der Menschheit auf der Erde eingeleitet. Das Gefühl der Niederlage erdrückte ihn. »Zwei Minuten«, sagte Stevenson. Art Hamilton zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen. Und da hörte er es: »Ein süßes Tier, Mami.« Es war die Stimme des kleinen Jungen. Die Verzweiflung ließ Hamilton zu dem Kind rennen, bevor die Mutter empört sagen konnte: »Kapitän, hier ist eine Maus!« Mutter und Sohn hatten auf ihren Plätzen gesessen und sich schon zum Aussteigen fertig gemacht. Der Mantel des Jungen lag auf seinem Schoß, und in seinem Mantel hatte sich Pseudomus versteckt.
Es war ein Bild, das Hamilton nie vergessen würde: die Mutter, die instinktiv gemerkt hatte, daß etwas nicht in Ordnung war. Ihr Gesicht spiegelte Zweifel und Furcht. Der Junge, dem ein neues Spielzeug buchstäblich in den Schoß gefallen war und der mit kindlicher Freude gerade die Hand danach ausstreckte. Und das Tier, mit erhobenem purpurnem Kopf, die Inkarnation des Todes. »Nicht anfassen!« Hamiltons Befehl war ein heiseres Krächzen. »Nicht anfassen!« Es war die Stimme der Autorität, die ein Kind immer versteht. Der Junge blieb bewegungslos sitzen. Ohne den Kopf zu wenden, sagte Hamilton: »Steve, du kannst die vorn sitzenden Leute schon hinauslassen.«
Er begann, sich dem Jungen behutsam zu nähern. Jetzt bloß nicht durchdrehen, schärfte er sich ein. Warum mußte es ausgerechnet der Junge sein? Das hatte gerade noch gefehlt! Es war warm im Schiff. Er spürte den Schweiß auf der Stirn und wünschte, er hätte Zeit, ihn wegzuwischen. Das Wasser lief ihm aus den Achselhöhlen und durchnäßte sein Hemd. »Drei Minuten, Käpten.« Er achtete nicht auf Briggs’ Stimme, sondern sagte zu dem Jungen: »Du denkst, das ist ein süßes kleines Tier. Das ist es aber nicht. Es ist böse und muß eingesperrt werden. Nicht bewegen! Ich muß dieses böse Tier einsperren.« »Nein! Ich möchte mein Tier behalten! Mami, es gehört doch mir!« Der Schweiß lief ihm jetzt in die Augen, tropfte von der Nase. Er schmeckte den salzigen Geschmack auf den Lippen. Der Lärm im Vorderschiff drang nicht in sein Bewußtsein, als die ersten Passagiere hastig das Schiff verließen. Abermals hatte er eine Eingebung. »Ich sage dir, was ich tun werde, mein Kleiner. Ich schenke dir eine ganze Schachtel Bonbons für das Tier.« »Eine große Schachtel?« Dann blickte der Kleine in das Gesicht seiner Mutter und fügte sich in die unvermeidliche Überlegenheit der Erwachsenen. »Also gut.« Hamilton holte tief Luft und merkte erst jetzt, daß sich Zuschauer eingefunden hatten, die einen Halbkreis um die Gruppe bildeten und zu ahnen schienen, daß es hier um mehr ging als um ein kleines Tier und eine Schachtel Bonbons. Keiner wird dir die Arbeit abnehmen. Los. Beweg deinen Arm. Langsam… langsam… nicht so schnell… es sieht dich kommen… langsam… vorsichtig. Vergiß nicht, daß es springen kann… ruhig… Belcher sagte, es täte weh… ruhig… konzentriere dich…jetzt!
Die Hand schoß vor und ergriff das purpurne Tier am Kopf, unmittelbar hinter den Ohren. Es war ein entsetzlicher Augenblick, als er fühlte, wie sich der Kopf im Griff seiner schweißnassen Finger zu drehen begann. Dann packte er fester zu und steckte das wild zappelnde Tier in den Käfig. Alle Passagiere hatten das Schiff verlassen und saßen schon mit Briggs und Jones in den Gepäckwagen. Beverlee, Hamilton und Stevenson waren die letzten, die sich auf der hydraulischen Plattform auf die Landebahn hinunterließen. Als sie zu dem wartenden Gepäckwagen spurteten, begann das Heck des Schiffes kirschrot zu glühen. Hamilton, der inzwischen geglaubt hatte, daß er sämtliche Ängste durchgestanden hatte, die ein Mensch innerhalb eines Tages ertragen konnte, erlebte einen neuen Schock. Würden sie sich rechtzeitig weit genug vom Schiff entfernen können? Er hatte seinen toten Punkt erreicht; seine Nervenkraft war während der letzten Stunden restlos aufgebraucht. Stevenson bemerkte seinen Gesichtsausdruck und versuchte, die Angst zu zerstreuen, die auch noch angesichts der nahen Rettung nicht weichen wollte. Mit betont ruhiger Stimme sagte er: »Hm, 1924 galaktische Zeit. Gar nicht so schlecht. Nur vierundsechzig Minuten Verspätung. Und wenn man bedenkt, was wir durchgemacht haben…« Gebannt beobachteten sie die sichtbaren Anzeichen eines außer Kontrolle geratenen Energieumwandlungsprozesses. Das Schiff glühte karmingestreift vor dem Hintergrund des allmählich dunkel werdenden Himmels. Der Kapitän wandte als erster den Blick ab. »Was war mit diesem Biest los, Art?« Mühsam versuchte Art, das Gespräch aufzunehmen. »Ich überlegte mir, das heißt, ich versetzte mich dazu in die Lage des Tieres, warum Pseudomus nicht gebissen hatte. Natürlich konnte ich das nur erraten, da ich ihre Gewohnheiten noch nicht kenne. Aber die meisten Säugetiere suchen sich vor ihrer
Niederkunft ein Nest, weil sie Ruhe haben wollen. Ich hoffte, daß unser Pseudomus genauso reagieren würde. Du kannst dir denken, in welcher Lage ich mich befand. Hätte sie ihre Jungen an Bord des Schiffes zur Welt gebracht, dann hätten sie sich im ganzen Schiff versteckt. Einigen wäre es bestimmt gelungen, das Schiff rechtzeitig zu verlassen. Im anderen Falle, wenn sie nicht an Bord ihre Jungen geworfen, aber das Schiff verlassen hätte, wäre es genauso schlimm gewesen.« Trotz der einleuchtenden Erklärung konnte sich keiner die Auswirkungen vorstellen, die unweigerlich eingetreten wären, wenn Hamilton das Tier im letzten Augenblick nicht doch noch erwischt hätte. Wieder raffte der junge Wissenschaftler seine letzten Kräfte zusammen: »Könnt Ihr euch vorstellen, was passiert wäre? Ich vermute, daß diese Spezies sich sehr rasch vermehrt. Ohne natürliche Feinde auf der Erde, in einer für ein Nagetier paradiesischen Umwelt, mit seiner tödlichen Angriffswaffe und mit einer, wenn auch primitiven, Vernunft begabt, könnten die Tiere uns aus unserer dominierenden Stellung auf diesem Planeten verdrängen.« Stevenson betrachtete Hamilton mit einem etwas mehr als skeptischen, aber jetzt alles andere als mitleidigem Blick. »Du glaubst ernsthaft, daß das zutreffen könnte?« »Ich würde sehr ungern dafür den Beweis antreten.« Sie wurden von den heulenden Sirenen der Unfallwagen und Löschfahrzeuge unterbrochen, die jetzt auf sie zurasten. Schnell stiegen sie auf die schnelleren Wagen um, aber Hamilton bewegte sich wie im Traum. Nur undeutlich vernahm er Briggs’ lauten Ruf: »Verdammt, versucht gar nicht erst, es einzudämmen. Nichts wie weg von hier!« Auch die intensive Hitze, die das Schiff ausstrahlte, bemerkte er nur unbewußt. Es war vorüber. Sie waren in Sicherheit. Am Rande des Landefeldes verließen sie die Wagen, liefen wie
verstörte Schafe durcheinander, konnten aber den Blick nicht von dem Schiff wenden. Trotz der durch die Hitzewellen hervorgerufenen Luftverzerrungen konnte Hamilton sehen, wie sich in der Außenhaut Furchen und Beulen zu bilden begannen. In wenigen Sekunden hatten sich die Blasen in Tropfen verwandelt, die an den Seiten hinunterliefen. Hier und dort entstanden Funkenregen, als arbeite jemand im Schiffsinneren mit einem gigantischen Schweißapparat. Das Schiff glühte jetzt weiß und war schwer zu erkennen. Die Tropfen, die auf den Boden hinunterfielen, spritzten nicht mehr auseinander. Hamilton erkannte mit Überraschung, daß sich ein See aus geschmolzenem Metall gebildet hatte. Und dann schmolz eines der drei Fahrwerke, auf denen das Schiff stand. Der Rumpf erzitterte und kippte zur Seite. Das häßliche Geräusch zerreißenden Metalls übertönte alles andere. Fontänen flüssiger Materie spritzten nach allen Seiten. Es wurde jetzt so heiß, daß man nicht mehr zuschauen konnte. Mit leiser Stimme sagte Stevenson: »Das ist das Ende des Transkontinuum-Schiffes Alexandrite.« Hamilton ging langsam weg. Er war unendlich müde und psychisch erschöpft. Er war so deprimiert, daß er fast nicht Beverlees Stimme hörte. »Warte, Art. Lauf jetzt nicht weg!« Er blieb stehen. »Was ist mit deiner schwangeren Freundin?« fragte sie. »Seit die Menschheit existiert, ist ihr für jedes Problem eine Lösung eingefallen.« Hamilton richtete sich auf und straffte die Schultern. »Es wird nicht einfach sein, aber ich glaube, daß wir auch hier eine Lösung finden werden.« Sie schmiegte sich an ihn. »Bev?« »Hm?« »Bev, vorhin im Schiff hast du gesagt…« Seine Stimme wurde leiser. »Ich meine, was uns beide betrifft…«
Mit einem unschuldigen Augenaufschlag wandte sie ihm das Gesicht zu, nickte und sagte: »Es wird nicht einfach sein, aber ich glaube sicher, daß wir auch für uns eine Lösung finden werden.«
Originaltitel: CARGO: DEATH. Copyright © 1958 by Columbia Publications, Inc. Aus FUTURE SCIENCE FICTION Aus dem Amerikanischen übersetzt von Otto Kühn.
Frank Belknap Long STURZ VON DER MAUER
Zum besseren Verständnis der folgenden Kurzgeschichte erweist es sich vielleicht als vorteilhaft, sich kurz die wesentlichsten Bestandteil der angelsächsischen Literatur für Kinder zu vergegenwärtigen. Sie entspricht im Gesamtaufbau ungefähr der unsrigen, wenn man sich darauf beschränkt, sie oberflächlich und »nur von außen besehen« dem Alter des kleinen Lesers (oder Zuhörers) entsprechend einzustufen. Auch hier gibt es für die schon etwas »erwachsenen« das phantastische Märchen im Stile von »Peterchens Mondfahrt«. An erster Stelle stehen hier wohl Lewis Carrolls »Alice in Wonderland« und »Through the Looking Glass«. Für die etwas Kleineren gibt es ferner Grimms Märchen, sowohl hier wie in den angelsächsischen Ländern. Und schließlich besitzen auch die jüngsten (etwa 3 Jahre) ihre eigene Literatur: Die »Old English Nursery Rhymes« und »Mother Goose«. Sie beide interessieren uns hier in erster Linie, und wir müssen etwas näher darauf eingehen, wollen wir die folgende Geschichte verstehen. Unter dem Titel »Mother Goose« versteht man eine Sammlung von – meistens – Sechszeilern, deren Autor unbekannt ist, und die seit Generationen jedes englischsprechende Kind beschäftigen. In ihrem Gehalt entsprechen sie etwa unserem »Hoppe-Hoppe-Reiter« oder »Häschen in der Grube«, und ihre verblüffende Quintessenz,
die Frank Belknap Long in seiner Story behandelt, findet man auch in unseren Kinderreimen. Der Originaltitel dieser Erzählung ist dem wohl bedeutendsten Reim der »Mother-Goose«-Sammlung entnommen. Es ist die Geschichte von Humpty Dumpty, der auch in »Through the Looking Glass« Eingang gefunden hat, und gibt gleichzeitig ein Rätsel auf. In deutscher Übersetzung lautet sie etwa: »Humpty Dumpty auf der Mauer saß. Humpty Dumpty fiel ’runter ins Gras. Und selbst der König mit all seinen Mannen Könnt’ nimmermehr setzen ihn wieder zusammen.« Frage: Was ist Humpty Dumpty? Antwort: Ein Ei! Ein anderer Vers, der in unserer Kurzgeschichte vorkommt, entstammt den »Nursery Rhymes«. Es ist die Erzählung von Jack und Jill, die zu zweit einen Hügel hinaufgehen, um Wasser zu holen. Auf dem Rückweg verschütten sie es und kehren wieder um, und das Ganze wiederholt sich ad infinitum. Auch »Mutter Hubbard« und der »Gefräßige Hund« sind Verse, deren Inhalt dem Erwachsenen sinnlos erscheint, für das Kind jedoch eine besondere Bedeutung besitzt. Die Geschichten von den »Drei blinden Mäusen« und dem »Krummen Mann, der eine krumme Meile rannte« interessieren uns hier ebenfalls, da unsere Story darauf anspielt. Beide sind sie ein Teil der Phantasiewelt jedes englischsprechenden Kindes, genauso wie der Vers von den »Sechsundzwanzig Amseln«. Die Pointe dieser Kurzgeschichte endlich beruht auf einem der bedeutendsten Verse der »Mother-Goose«-Sammlung, dem Gedicht von Cock Robin, dem Rotkehlchen-Hahn. Es erzählt davon, wie Cock Robin mit blutüberströmter Brust (rote Kehle!) in einer Gegend liegt, in
die er eigentlich nicht gehört. Sein durch einen Pfeil herbeigeführter Tod ruft allgemeines Entsetzen hervor, und jedermann fragt erschrocken: »Wer hat Cock Robin getötet?« während andere Stimmen antworten: »Ich nicht! Ich nicht!«
Kenneth Wayne zog sich gerade zum Abendessen um, als er das Klopfen vernahm. Es war laut und beharrlich. Es schien sagen zu wollen: »Gib dir keine Mühe und tu nicht so, als ob du nicht zu Hause wärst, alter Junge! Ich höre deutlich, wie du dich in der Wohnung bewegst.« Wayne stöhnte. Er hatte keine Lust, mit dem jungen Graham über vasomotorische Psychologie oder mit dem langhaarigen Dr. Reydel über polytonale Musik zu diskutieren. Er war mit einem reizenden Mädchen zum Essen verabredet und wollte all seine Energie nur auf sie konzentrieren. Wayne sagte sich, daß er heute von keinem Besucher etwas zu befürchten habe. Der bloße Anblick seines Smokings, der über einer Stuhllehne hing, mußte genügen, um jeden redseligen Besucher zu entmutigen. Er zuckte ärgerlich die Schultern, wandte sich um, durchmaß den Raum mit drei langen Schritten und riß die Tür auf. Der Junge, der im Türrahmen stand, war ihm unbekannt. Junge? Nun, es war schwer, den Jüngling nicht als Mann zu bezeichnen, denn er besaß einen starken Bartwuchs, und sein Auftreten zeugte von Reife. Aber Wayne konnte erkennen, daß er nicht viel älter sein konnte als achtzehn, neunzehn Jahre. Seine klaren blauen Augen hatten den gequälten Ausdruck der Jugend, und ein Hauch des Neuen umgab ihn, der scharf mit Waynes Neigung zum Zynismus kontrastierte. Wayne war zwar erst siebenundzwanzig, aber sein Alter lastete schwer auf seinen Schultern. Sorgenvolle Gedanken umschatteten seine Züge, und die ebenen Flächen seines Gesichtes durchzogen sich mit
den Furchen des Grübelns. »Ich bin Phillip Orban«, sagte der Junge. »Ich bin ausgerückt. Sie haben mich mit ihren Fragen bis aufs Blut gequält.« Orban! Wayne schloß die Augen, während das Universum um ihn herum sich zu drehen begann. Orban hielt einen riesigen glühenden Reifen aus Metallrohr in der Hand. Bevor Wayne aufschreien konnte, war der zitternde Bursche in den Raum getreten, wo er den Reifen auf den Boden legte. »Schließen Sie die Tür«, flehte Orban. »Verriegeln Sie sie gut! Wenn sie kommen, sagen Sie, ich wäre nicht hier.« Wayne handelte mechanisch, als er die Tür ins Schloß rückte und den Schlüssel herumdrehte. Dann wandte er sich mit weißen Lippen um. »Warum bist du hierher gekommen? Ist dir klar, daß ich dich noch nie in meinem Leben gesehen habe?« Orban nickte. »Zuerst habe ich mich im Keller eines unbewohnten Hauses versteckt. Aber dann begann ich zu frieren. Und ich bekam Hunger. Ich mußte raus aus dem Loch. Ein Polizist entdeckte mich dabei, und ich lief davon. Ich habe Sie niemals zuvor gesehen, aber Sie gefallen mir. Sie müssen ihnen sagen, daß ich nicht hier bin.« Waynes Arm beschrieb eine Geste der Verzweiflung. »In Ordnung!« sagte er. »Habe ich das Gegenteil behauptet? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Es schien Wayne, als ob ein kleiner Gnom mit einer spitzen Zipfelmütze auf dem Kopf vor ihm stand, sichtbar gemacht durch eine Verzerrung im Dimensionsgefüge. Aber das war natürlich absurd! Orban war keine jener mutierten Supermann-Mißgeburten, über die Science-FictionAutoren immer spekulieren. Er war ein durchaus normaler Jüngling, den die geheimnisvolle Tiefe des Weltraums seit seiner frühesten Kindheit in Bann gehalten hatte. Aber welche Strafe stand darauf, einem Jungen Obdach zu gewähren, für
dessen Auffindung eine Belohnung ausgesetzt war? Ein Junge, über den man fünf Millionen Worte geschrieben hatte. Orban hatte ein schweres Verbrechen begangen. Ein grauenhaftes Verbrechen! Sich eines Mannes zu entledigen, indem man ihn auf der Stelle verschwinden ließ, war kein Deut weniger verwerflich als kaltblütiger Mord! Wayne starrte hinunter auf den leuchtenden Metallreifen. »Ist das der Apparat, den du gebaut hast?« fragte er und war überrascht, daß er überhaupt sprechen konnte. »Es ist die Tür, die ich gebaut habe!« entgegnete Orban. »Dr. Bryce wurde von mir nicht hineingestoßen. Er stolperte und stürzte.« »Aber wie hast du sie gebaut?« bohrte Wayne weiter. »Du hattest doch keine Hilfsmittel.« »In der Werkstatt meines Vaters gab es Werkzeuge«, sagte Orban. »Ich wußte, wie ich den Apparat bauen mußte. Dr. Bryce ist nicht tot. Er ist am Leben – in der blauen Welt.« Oberflächlich betrachtet war der Apparat ein einfaches Gebilde. Er bestand aus einem kreisrunden Reifen aus hohlem Metall, und sah aus wie ein riesenhaftes Crockettor. Man konnte leicht erkennen, daß der Reifen innen hohl war, denn er wies eine Unzahl von Löchern auf, aus denen ein seltsames, überirdisches Leuchten drang. »Sie müssen mir helfen, die Tür zu verstecken«, flehte Orban. »Wenn ich Dr. Bryce nicht rechtzeitig aus der blauen Welt zurückhole, werden ihn die blauen Bogenschützen töten!« Wayne wandte sich um und faßte den Burschen bei der Schulter. »Du sagst, du hättest Hunger? Vielleicht können wir etwas dagegen unternehmen.« »Ich bin hungrig«, gab der Junge zu. »Aber in der blauen Welt gibt es auch etwas zu essen.« Wayne grübelte eine Minute lang darüber nach. Dann schob er seinen Gast zur Küche. Er verließ ihn, während er damit
beschäftigt war, ein Glas Milch zu verschlingen. Nein, Milch verschlang man gewöhnlich nicht. Aber Orban tunkte Zwieback in die Milch und aß die Zwiebäcke. Es lief auf dasselbe hinaus. Wayne fühlte, daß er eine geistige Stütze benötigte. Kalte Druckschrift. Die offizielle Bestätigung der Orban-Geschichte in unpersönlicher Druckerschwärze. Er fand den Zeitungsausschnitt, indem er zuerst sämtliche Schubladen seines Schreibtisches ausleerte und dann unter der Schreibunterlage nachsah. Er war zerknittert und vergilbt und wies Flecken auf, als ob jemand über ihm Tränen vergossen hätte. Der Text lautete: Die Orban-Story von Ruth Stevens Ein Säugling, der vom Augenblick seiner Geburt an in einer sechzig Meter langen Wiege geschaukelt wurde! Ein kleiner Junge, der in einem Test-Raumschiff gefangen saß und durch den Weltraum trieb! Kreuz und quer wirbelte er durch das All, seit dem achten Lebensjahr Anweisungen befolgend und gerade genug Nahrung zu sich nehmend, um den Lebensfunken am Erlöschen zu hindern. Keine Krankheitskeime belästigten ihn dort draußen im Weltraum! Es gab keine Masern, keinen Keuchhusten, kein Scharlach, nur eingepaukte Instruktionen in seinem Gehirn und ein langes Vergessen! Woran hat er in all jenen Jahren gedacht? Wovon hat er geträumt? Phillip Orban kam in jenem Schiff zur Welt. Sein Vater erfand den Orban-Antrieb und baute das erste Raketenschiff, dessen äußere Hülle hart genug war, um den Anforderungen einer Milliarden-Meilen-Reise durch den interstellaren Raum gewachsen zu sein. Aber der Antrieb versagte, und das Schiff kehrte niemals zurück. Es zog auf einer Kreisbahn im Asteroidengürtel um die Sonne und blieb siebzehn Jahre lang im Weltraum.
Die Mutter des Jungen starb, als er drei Jahre alt war. Der Vater des Jungen führte ein Logbuch. Wir wissen, daß er auf die nackte Hülle des Schiffes hinauskletterte, um eine lockere Schwerkraftplatte festzuschrauben, als der Junge acht Jahre alt war. Eine geringfügige Reparaturarbeit, aber er zögerte die Rückkehr ins Schiff hinaus. Zögerte sie hinaus, für immer! Der Junge erinnerte sich rechtzeitig, was er tun durfte und was nicht. Nahrungskonzentrate mußten in sparsamen Mengen eingenommen werden; zweimal am Tag. »Du bist jetzt sieben, mein Sohn! Nein – morgen wirst du acht! Alt genug, um für dich selbst sorgen zu können!« Er besaß nicht ein einziges bittersüßes Erinnerungsbild. Er hatte niemals mit anderen Kindern gespielt. Es gab Bücher auf dem Schiff. Eine Bibliothek von eigenartiger Zusammenstellung. Die alten englischen Ammenreime Mother Goose, die Grimms Märchen, Lewis Carrolls Alice in Wonderland und Through the Looking-Glass, und natürlich technische Bücher. Phillip Orban las jedes Buch an Bord. Die Psychologen, die ihn jetzt untersuchen, sehen davon ab, uns mitzuteilen, warum sie die von ihm in die Bücher gekritzelten Randbemerkungen mit ungeheuerer Erregung aufnehmen. Sie fanden schließlich das Schiff, setzten magnetische Halteeisen an die Hülle und schleppten es zur Erde zurück. Sie brachten Orban zum Sitz seiner Familie, der wenige Dutzend Meter von der Werkstatt seines Vaters entfernt lag. Ein Junge von siebzehn Jahren, der Tag und Nacht von drei Psychologen beobachtet wird. Ein robuster Junge, der physisch schon fast ein Mann ist, müßte schon sehr umnachtet sein, wenn er dies nicht als störend empfinden würde! Sie untersuchen ihn wie ein Meerschweinchen in einem Käfig. Und hier erhebt eine gar nicht damenhafte Journalistin protestierend ihre Stimme: Wenn der Orban-Junge…
Wayne schauderte, faltete den Zeitungsausschnitt zusammen und steckte ihn in die Westentasche. Kenneth Wayne begann sich an Verschiedenes zu erinnern: An eine Maschine auf einem offenen Feld, die ein seltsames Leuchten ausstrahlte! Und an Dr. Bryce, der mit dem OrbanJungen vor der Maschine rang und rücklings mitten in den glühenden Kreis stürzte. Welch entsetzliches, unfaßbares Ereignis hatte den berühmten Psychologen aus der Welt gerissen, bevor er sein Gleichgewicht wiedererlangen konnte? Wayne erinnerte sich ferner daran, daß Orban geflohen war und den Reifen mitgenommen hatte! Die Presse im ganzen Land hatte zu zetern begonnen. Hatte Orban Dr. Bryce absichtlich in den Reifen gestoßen? Wenn ein Individuum tatsächlich die Gesamtsumme seiner Erlebnisse von Geburt an war, würde dann Orbans Charakter nicht himmelweit von jeder menschlichen Norm abweichen? Ein erschreckender Gedanke! War Orban ein tückisches Ungeheuer mit einer unmenschlichen Veranlagung für Täuschungsmanöver? War er… Twäng! Wayne wirbelte mit einem Ausruf des Schreckens herum. Ein Pfeil steckte zitternd in der Wand. Der Pfeil besaß eine Länge von sechzig Zentimetern und war mit metallenen Federn versehen, die zur Stabilisierung seines Fluges dienten. Seine scharfe Spitze schimmerte mit juwelenartigem Glanz durch den durchscheinenden Kunststoff der Wand. Nacktes Entsetzen verzerrte Waynes Gesichtszüge. Es bestand kein Zweifel, daß der Pfeil aus dem Reifen gekommen war. Der Winkel, in welchem er in der Wand steckte, ließ keinen anderen Schluß zu. Und sein Schaft war mit Blut beschmiert. Auch die Wand wies Blutflecke auf! Und doch wußte Wayne mit absoluter Sicherheit, daß der Pfeil sein Fleisch nicht
gestreift hatte. Automatisch faßte er sich an die Wange und starrte dann auf seine Hand. Nichts! Jene rote Flüssigkeit war zusammen mit dem Pfeil aus dem Reifen gekommen! Das Geschoß hatte ihn verfehlt. Aber wer war dann verwundet worden? Wayne schwankte in schwindelerregendem Entsetzen, als jemand laut an die Tür klopfte und eine vertraute Stimme rief: »Ken! Um Himmels willen, warum hast du die Tür abgeschlossen?« Wayne wandte sich um, schloß auf und öffnete die Tür mit bleichem Gesicht. Das Mädchen, das in den Raum kam, war sprühend lebendig. Sie trug ihr kupferfarbiges Haar kurz geschnitten. Ihre Wangen glühten erhitzt. Sie war sichtlich außer Atem und ein wenig verärgert, weil die Tür zugeschlossen gewesen war. Ruth Stevens sah nicht wie eine Journalistin aus. Sie wirkte herausfordernd charmant, eines von jenen Mädchen, die mit einem Blick, mit einem flüchtigen Lächeln den Schwerpunkt im Körper eines Mannes zu verschieben vermochten. Sie lächelte jetzt nicht. Ihre Augen glitten zu dem Reifen, und dann richteten sie sich auf den Pfeil. »Der Orban-Junge«, sagte Wayne. Seine Stimme klang gepreßt und bebte leicht, als ob er nahe dran war, die Nerven zu verlieren. »Er ist hier. Du hast einen Artikel über ihn geschrieben. Erinnerst du dich?« Ruth schwankte. Wayne glaubte, daß sie ohnmächtig werden würde. Er beging einen schweren Fehler. Er sprang mit einem Satz auf sie zu, ohne daran zu denken, daß er nur einen Meter von dem Reifen entfernt stand. Als er sie in seinen Armen auffing, fühlte er sich von etwas erfaßt. Es war wie ein Windstoß, wie ein brausender Zyklon. Es wirbelte ihn herum und riß ihn zurück, geradewegs auf den Reifen zu. Er hielt das Mädchen fest an sich gepreßt, ohne zu
erkennen, daß er sie unaufhaltsam in die gleiche Richtung zog. Ruth schrie gellend auf. Der Raum schien um sie zu kreisen. Wayne dachte nicht daran, das Mädchen loszulassen. Es wurde ihm nicht bewußt, daß sie sich in tödlicher Gefahr befand. Er dachte nur daran, sie zu beschützen. Ein dumpfes Heulen klang durch den Raum, als eine kalte Lichtflut dem Reifen entströmte und sie einhüllte. In weiter Ferne sah Wayne wie durch einen umgedrehten Feldstecher den Orban-Jungen aus der Küche rennen, sein bärtiges Gesicht vor Entsetzen entstellt. Dann schien der ganze Raum und alles, was er enthielt in Nichts zu verschwinden…
Das Gleichgewicht kehrte langsam zurück. Wayne wurde sich zuerst der Wärme in seinen Armen bewußt. Dann vernahm er einen Schrei, der von menschlichen Lippen kam. Er fühlte wieder festen Boden unter den Füßen. Er saß auf dem Boden und hielt Ruth in den Armen. Sie suchte sich zu befreien, indem sie eine Hand gegen sein Kinn preßte. Er saß mit dem Rücken gegen eine harte Steinfläche gelehnt und starrte auf das Mädchen. Er konnte ihr Gesicht jetzt deutlich erkennen. Klar und weiß zeichnete es sich in einem blauen iriszierenden Licht ab. »Ken, wo sind wir?« fragte sie mit erstickter Stimme. Die Frage war nicht leicht zu beantworten. Die Welt bestand aus harten, ungefügen Umrissen. Sie schienen sich auf einer Ebene zu befinden, die mit leichter Neigung in einen leuchtenden, blauen Dunst hinabführte. Die Landschaft besaß etwas Seltsames, Dynamisches. Ihre grenzenlose Leere drängte sich Wayne mit der Intensität von hart angeschlagenen Pianosaiten auf. Eines jedoch war sicher. Er lehnte mit dem Rücken an
einer Mauer, die hinter ihm lotrecht emporragte. Als er seinen Kopf wandte, konnte er die Mauer deutlich sehen. Mit einem leisen Stöhnen befreite sich Ruth aus seinen Armen und sank neben ihm zu Boden, so daß er die Umgebung ungehindert betrachten konnte. Viel zu betrachten gab es jedoch nicht. Nur die Mauer und die öde, trostlose Ebene. Ein paar Kieselsteine lagen in seiner Nähe und – etwas anderes. Etwas Kleines und Rundes und Wabbeliges, das sich in einer schalenförmigen Bodenvertiefung direkt vor Wayne bewegte. Ruth schrie plötzlich auf und zerrte an seinem Ärmel. »Ken, dort! Das kleine Ei-Ding lebt!« Ein Ei-Ding! Natürlich. Es glich einem Ei. Es war geädert und eigentlich geborsten, und etwas Feuchtes sickerte heraus. Ein schrecklicher Gegenstand steckte in ihm. Der lange Schaft eines Pfeiles. Waynes Nackenhaare sträubten sich. Er erhob sich und taumelte auf das »Ei« zu. Als er zwei Schritte getan hatte, rückte die ganze Oberfläche der Mauer in sein Blickfeld. Sie besaß eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der chinesischen Mauer, auch wenn sie zu Märchendimensionen reduziert erschien. Finster, schroff und mit Zinnen versehen, aber niedrig. An den Stellen, wo Türme die Mauer überragten, war sie nicht mehr als neun Meter hoch; dazwischen weitaus niedriger. Sie schlängelte sich in weiten Bögen unter einem Himmel aus feurigem Blau über die Ebene, um sich am Horizont zu verlieren. Das eiförmige Gebilde bewegte sich nicht mehr, als sich Wayne neben ihm auf ein Knie niederließ. Der Pfeil hatte es grausam durchbohrt, und Wayne vermochte sich nicht vorzustellen, daß es noch Schmerzen empfinden konnte. Die kleinen weißen Kaulquappenarme, die aus der Schale ragten,
lagen jetzt schlaff und reglos in dem blauen Schimmer. Erschlafft war auch sein runzliges kleines Greisengesicht. Der Mund stand offen. Die mit schweren Lidern versehenen Augen starrten leer und ausdruckslos. Wayne versuchte nicht, den Pfeil herauszuziehen. Offensichtlich lebte das Ei-Ding nicht mehr. Er war froh, daß es seinen Blick nicht erwidern konnte. Er richtete sich auf und wandte sich Ruth zu. »Es hat gelebt!« sagte er. »Ein gräßliches kleines Tier mit einem beinahe menschlichen Gesicht und mit der Gestalt eines Eies. Ich kann nicht glauben…« Twäng! Als der Pfeil an Wayne vorüberzischte, sprang er mit einem Schrei des Schreckens zurück. Etwas Riesenhaftes und Blaues war hinter einer Biegung der Mauer hervorgetreten, um mit einem gespannten Bogen auf ihn zu zielen. Er erblickte es für einen kurzen, lähmenden Sekundenbruchteil, als es in die Schatten zurückschnellte. Wayne wirbelte herum und ergriff Ruth beim Arm. »Wir müssen hier weg! So schnell wie möglich«, flüsterte er mit drängender Stimme. »Weg?« Ruth starrte ihn aus weit geöffneten Augen an. »Das geht doch nicht! Der Reifen ist verschwunden.« »Wir dürfen uns nicht länger hier an der Mauer aufhalten. Es gibt hier etwas, das es auf unser Leben abgesehen hat und auf uns schießt!« »Menschliche Wesen?« »Ihre Gestalt ist menschenähnlich. Eckig, flachgedrückt. Sie scheinen keine Köpfe zu besitzen.« Ruth taumelte auf ihn zu. »Bist du sicher, daß sie auf uns schießen?« »Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen. Wir müssen um unser Leben laufen.« »Aber wo sind wir denn?« keuchte Ruth. »In einer anderen Dimension?«
Bevor Wayne antworten konnte, erklang das scharfe Surren einer gespannten Bogensehne, und ein zweiter Pfeil zischte an ihm vorüber. Wayne begann zu laufen und riß Ruth mit sich. Sie hielten sich dicht an der Mauer, und ihre Schatten eilten ihnen im blauen Schimmer voraus. Keuchend blieben sie neben einem finster dräuenden Turm stehen, der aus der Ebene selbst emporzuwachsen schien und den Abschluß der Mauer bildete. Im rechten Winkel zu ihr erhob sich auf der anderen Seite dreißig Meter von ihnen entfernt ein riesiger, kreisrunder Erdhügel, der die Ebene in zwei Hälften teilte. Seine Kanten waren in dem seltsamen Licht verschwommen und unklar. »Los, komm!« drängte Wayne. »Vielleicht ist jener Hügel hohl. Wir müssen es wagen.« Sie stürzten weiter, aus Leibeskräften auf die Erhebung zulaufend, als sie plötzlich ein lautes Flattern vernahmen. Es schien in greifbaren Wellen aus dem Erdhügel hervorzudringen und gemahnte unwillkürlich an eine Schar Wandervögel, die sich in einer Baumkrone zusammengefunden hatten und die Luft mit ihrem Flattern erzittern ließen. Und dann erhoben sich vor ihren Augen zwanzig oder dreißig schwarze, geflügelte Gebilde aus dem Hügel und flogen in wilder, brausender Ekstase in den Himmel empor. Beinahe im gleichen Augenblick setzte der Pfeilregen ein. Eimer nach dem anderen stürzten die Vögel wie Steine herunter. Andere fielen mit rauhem Krächzen, ihre langen, eidechsenartigen Körper von den grausamen Pfeilen durchbohrt. Federn stoben. Zurück in den Erdhügel stürzten sie, senkrecht hinunter, und ihr Flattern verstummte. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille auf der Ebene, ein überirdisches, entsetzliches Schweigen.
Dann keuchte Wayne mit erstickter Stimme: »Erinnern dich diese Vorgänge nicht an etwas? In einer vagen, verzerrten, alptraumhaften Weise, meine ich? Nun, was denkst du?« Ruth starrte eine Zeitlang über die Ebene, bevor sie antwortete. Es schien ihr, daß sie eckige, drohende Schatten sah, die sich in der Ferne, am Rand ihres Gesichtsfeldes, bewegten. Es war ihr, als ob sie die Schatten von gespannten Bogen erkannte, die blau auf der blauen Ebene vorwärts glitten. »Humpty Dumpty auf der Mauer saß…« sagte sie. »Zwanzig Amseln und sechs dazu, klein gehackt zu feinem Ragout…« »Du hast also auch daran gedacht, nicht wahr?« Waynes Lippen waren weiß. »Wir haben nicht gesehen, wie Humpty Dumpty von der Mauer fiel, aber als wir ihn fanden, hatte er sich tatsächlich in sein Unglück gestürzt. Er lag zerschmettert auf dem Boden, und selbst der König mit all seinen Mannen, könnt’ nimmermehr setzen ihn wieder zusammen…« »Hör auf!« Ruths Stimme klang beinahe hysterisch. »Hier gibt es keinen König, keine Mannen. Jenes Ei war ein gräßliches kleines Tier mit einem Affengesicht. Und Amseln haben keine Eidechsenkörper!« Eine Prozession kam um den Erdhügel und in ihr Blickfeld, während das weitentfernte Dröhnen von Trommeln erklang. Man konnte nicht gerade sagen, daß es sich um Königsmannen handelte. Es waren nicht ganz rationale Gebilde. Die lange Prozession, die sich über die Ebene wand, bestand aus eiförmigen Wesen, die auf kurzen Stummelbeinen einherschwankten, und aus stolzierenden grünen Gestalten, die an wandelnde Spazierstöcke oder hagere Insekten mit Pferdeköpfen erinnerten. Lange Strähnen eines hauchdünnen Materials verbanden die Eier untereinander. Als sie näher kamen, entpuppte sich das schleierartige Zeug als ein schimmerndes, metallisches Netz. Sie werden Humpty Dumpty auffangen, wenn er stürzt, dachte Wayne halb irre.
Plötzlich entstand Bewegung an der langen Mauer. Ein Dutzend kleiner Ei-Gebilde rannte auf ihr entlang, sich duckend und Haken schlagend. Ihre Kaulquappenarme bebten und winkten. Ein finsterer, unheilvoller Schatten regte sich auf der Ebene. Twäng! Die laufenden Eier zerplatzten, als sie von der Mauer herunterstürzten. Die vorrückende Prozession brach in langgezogenes, schrilles Wehklagen aus. Die Königsmannen beschleunigten ihre Schritte und eilten auf die Mauer zu. Das Netz schwebte zwischen ihnen. Zu spät! Die Ebene unter der Mauer war bedeckt mit zuckenden und verendenden zerbrochenen Ei-Gebilden, deren Dotter auf den Boden floß. Eines zuckte nicht mehr. Vollkommen zerschmettert, nur mehr ein flachgedrücktes Affengesicht mit Kaulquappengliedern, schwamm es in seinem eigenen Eigelb. Plötzlich stieß Ruth einen Schrei aus. »Schau, dort drüben! Eines von jenen eckigen, kopflosen Wesen. Es zielt auf uns!« Der blaue Bogenschütze war aus dem Schatten der Mauer getreten und zeichnete sich scharf vor dem schräg einfallenden Schein des blauen Lichtes ab. Seine Arme und Beine bildeten metallische Zickzackformen, sein Körper eine eckige Platte. Er war schlank in den Hüften und breit in den Schultern, ein Donnerkeil Zeus’, der die menschliche Gestalt nachäffte, eine energiegeladene Figur, die aus einer Metallplatte ausgeschnitten zu sein schien. Er stand aufrecht und drohend, als er seinen Bogen hob. Wayne wirbelte herum, packte Ruth und riß sie zu Boden. Der Pfeil verließ den Bogen mit einem gräßlichen Schnalzen. Sie fühlten den Tod dicht an sich vorüberziehen, als die gespenstische, kopflose Gestalt in die Schatten zurücksprang. Und dann setzten sie ihre Flucht fort. Sie eilten auf den Erdhügel zu. Mit verzerrten Gesichtern liefen sie an der
Prozession watschelnder Eier und einherstolzierender Spazierstöcke vorbei. Ein weiterer Pfeil pfiff an ihnen vorüber und warf eine kleine Staubwolke auf, als er in die Flanke des Hügels fuhr. Dann kletterten sie über einen rauhen Wall aus aufgeworfener Erde und hinunter in eine von blauen Schatten eingefaßte tiefe Höhlung, die ihnen aus dem Dämmerlicht drohend entgegenzuspringen schien. »Das hat Mut erfordert«, sagte eine ruhige Stimme.
Der Mann saß auf dem Felsblock und hielt einen Seral-Strahler in der Hand. Er hatte eine mächtige Gestalt, breite Schultern und ein abgezehrtes Gesicht. Er hatte sein Hemd ausgezogen, um es als Verband zu benutzen. Seine Augen zwinkerten in dem entnervenden blauen Licht, das von oben in die Vertiefung einfiel, und sein rechter Arm lag unbeweglich auf seinen Knien und trug einen dicken Verband. Seine Augen waren tiefe Teiche intensiven Schmerzes. Leere Geschoßhülsen lagen um seine Füße herum verstreut. Er lächelte krampfhaft und versuchte sich zu erheben, sank aber wieder auf den Stein zurück. »Ich bin James Bryce«, sagte er. »Wie sind Sie hierhergekommen?« Er wies auf einen anderen Felsblock, als er fortfuhr. »Setzen Sie sich ruhig hin. Vorläufig befinden wir uns in Sicherheit. Ich habe sie mit sorgfältig abgepaßten Schüssen zurückgehalten.« Wayne half Ruth auf den Felsen und hielt Bryce einen Moment lang den Rücken zugekehrt, als er schwer atmend über die Ebene hinwegblickte. Dann wandte er sich um. Worte sprudelten von seinen Lippen – wahre Sturzbäche von Worten. Als er zu Ende gesprochen hatte, nickte Bryce grimmig. »Ich verstehe! Schauerliche Sache, vom Anfang bis zum Schluß. Wir sitzen in einer Welt gefangen, von der wir niemals glaubten, daß sie existiert, und wir haben
Orban dafür zu danken!« Ruth ergriff das Wort. »Mother Goose«, flüsterte sie. »Die Alten Englischen Ammenreime. Eine Welt, die nur im Gehirn des Orban-Jungen existiert. Irgendwie hat er sie wirklich werden lassen, dreidimensional.« Bryce lächelte eigenartig. »Sie sind zu diesem Schluß gekommen? Er ist falsch, aber gereicht Ihnen zur Ehre. Er bedeutet, daß Sie die Wirklichkeit wenigstens zu einem Bruchteil erkannt haben. Sie wissen, daß sich die Realität nicht in irgendein vorgefaßtes geistiges Muster umformen läßt.« Bryce zwang sich zu einem krampfhaften Lächeln. »Wie würde denn eine andere Dimension logischerweise aussehen? Bevölkert von Männern und Frauen wie wir? Oder der Opiumtraum eines Mathematikers? Blödsinn, nicht wahr? Warum sollte eine Intelligenz in einer anderen Welt auf einer Ebene funktionieren, die uns verständlich ist? Nehmen Sie beispielsweise die Träume, die in die Kinderliteratur Eingang gefunden haben. Was ist Kinderliteratur? Ist es nicht in ihrer reinsten Essenz eine Welt von alptraumartiger Phantasie und erschütternder Grausamkeit, ohne Sinn und Zweck?« Er blickte auf. »Humpty Dumpty auf der Mauer saß, Humpty Dumpty fiel ’runter ins Gras… Warum ist er heruntergefallen? Der arme alte Humpty Dumpty! Weint um ihn, rennt zur Mauer und seht euch die armseligen, kläglichen Versuche an, ihn wieder zusammenzusetzen. Nichts Grausames ist am armen alten Humpty Dumpty. Es reißt einem das Herz heraus vor Mitleid. Ein drolliges, sympathisches altes Ei. Wo ist hier die Grausamkeit? Ich werde es Ihnen sagen. Das Bild, das von dieser Ausgeburt einer teuflischen Phantasie entworfen wird, ist die Quintessenz der Grausamkeit. Ein zerbrochenes, zitterndes, lebendes Ei, das in qualvoller Pein zerschmettert liegt und seinen Dotter vergießt.« »Aber…«
Bryce winkte mit seiner muskulösen Hand. »Die Welt der Kinderliteratur ist wie ein Päckchen Tarockkarten. Sie kennen die alten Geschichten von Kindern, die von grausamen Kobolden verhext und gequält wurden. Eine Groteske liegt darin, die auf der Erde nicht Ihresgleichen hat. Der Geist eines Kindes steht dieser phantastischen Welt weit offen. Er ist völlig aufnahmebereit. Ein Kind sieht in seinen Träumen wirklich diese Welt. Wissen Sie warum? Weil die Welt tatsächlich existiert, genau wie jede andere nüchterne wissenschaftliche Realität. Wenn wir aufwachsen und älter werden, vergessen wir, uns daran zu erinnern.« Bryces Lippen wurden schmal. »Die geistige Aufnahmefähigkeit eines Kindes ist durch die Umgebung noch nicht abgestumpft. Es wächst in zwei Welten zugleich auf, solange, bis es sich unserer Wirklichkeit anpaßt. Aber der Autor der Mother-Goose-Reime erinnerte sich der Träume seiner Kindheit lebhafter und deutlicher, als die meisten anderen Menschen.« Bryce hob die Hand. »Die wirklichen Humpty Dumpties unterscheiden sich davon ganz erheblich. Als lebende Eier sind sie stets die Opfer eines grausamen Sports, dazu ausersehen, niedergeschossen und von ihren kleinen kummererfüllten Gefährten immer zu spät gerettet zu werden. Alle sind sie zum Untergang verurteilt. Welch eine verrückte, unvorstellbare Welt! Ein einziger riesiger Schießstand. Sport, Bogenschießen. Die kopflosen Bogner. Sie führen hier das große Wort, glaube ich, protzige, schmalhüftige Schläger. Aber sie haben etwas Automatisches an sich. Ich glaube nicht, daß sie die primären Urheber dieser Welt sind.« »Das beruhigt mich ungemein«, knurrte Wayne grimmig. »Die primären Urheber, die diese Welt geschaffen haben, könnten Puppenspieler sein, die keine sichtbare Substanz besitzen. Was mich vom ersten Augenblick meines Hierseins
an beeindruckte war das Automatische, der uhrwerkhafte Aspekt dieser Welt. Es ist unerfaßbar. Man vermag es sich nicht auszumalen. Ein sensitiver Mensch wird es jedoch kaum übersehen können.« »Ich weiß, was Sie meinen«, flüsterte Ruth. »Alles verläuft zyklisch. Eine unheimliche Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Jene Amseln steigen in regelmäßigen Abständen wie Tontauben empor, und wenn die Eier abstürzen, nehmen andere ihre Plätze auf der Mauer ein. Wir kennen diese Welt noch kaum. Vielleicht lebt auch die alte Mutter Hubbard hier, mit einem gefräßigen Hund, der aber in Wirklichkeit kein Hund ist. Es mag ein Hund sein, der immer und immer wieder zu einem leeren Loch in einer Klippenwand läuft. Er stürzt mit wütendem Gebell hinein und kommt mit einem Knochen wieder heraus. Dann durchbohrt ihn ein Pfeil, und er ist für einige Zeit ein toter Hund. Jack und Jill gehen einen Hügel hinauf, ein gutes Ziel für die kopflosen Bogner. In den Ammenreimen sind sie Jack und Jill. Hier können es zackige, metallische Gestalten sein, aber sehr verwundbar. Der Eimer ist zerbrochen, und das Wasser fließt aus und rinnt wie Quecksilber in den Boden. Jack und Jill klettern auf ihre Füße, ziehen die Pfeile heraus und taumeln wieder den Hügel hinauf, um mit qualvoll verzerrten Gesichtern von neuem Wasser zu holen. Oder vielleicht werden Jack und Jill von zwei anderen Gestalten ersetzt, und das erste Paar stirbt!« Bryces hageres Gesicht leuchtete jetzt totenbleich in dem kalten blauen Licht. »Es ist ein teuflisches Uhrwerk, das einmal in Bewegung gesetzt worden ist und immer in Bewegung bleibt«, fügte er hinzu. »Orban wußte, wie diese Welt aussieht«, sagte Wayne langsam. »Er nannte die Bogner ›blaue Bogenschützen‹. Wie paßt er in das Bild?«
»Denken Sie an sein ungewöhnliches Schicksal!« entgegnete Bryce. »Das ist der springende Punkt der ganzen Angelegenheit, Mann! Er…« Bryce richtete sich plötzlich auf und lauschte. Seine Hand ergriff die Strahlpistole. »Jetzt kommen sie«, warnte er. »Ducken Sie sich. Sie laufen aus verschiedenen Richtungen zusammen und schießen mit gräßlicher Kaltblütigkeit. Aber einige Energieentladungen zerstreuen sie und halten sie zurück.« Noch während er sprach erschienen drei blaue Bogenschützen zwischen der Mauer und dem Erdhügel. Sie traten aus den Schatten und standen einen Moment lang unbeweglich auf der Ebene. Kalter Schweiß rann über Waynes Rücken. Die hocherhobenen Bogen zielten auf den Hügel, stark gespannte und glitzernde Metallbögen, auf deren Sehnen schimmernde, diamantähnliche Pfeile lagen. Mächtige Hände, wie gepanzerte Fäuste, hielten die Schäfte der Pfeile zurückgezogen, und die straffen Sehnen funkelten im Licht wie Perlenschnüre. Die Schützen ließen ihre Bogensehnen gleichzeitig schwirren. Man vernahm nur ein einziges lautes Geräusch, wie ein Peitschenknall in vollkommener Stille. Kurz darauf folgte ein dumpfes Brüllen. Qualm wirbelte von dem Hügel empor und verhüllte die Bogner, als Bryce den Abzug seiner Strahlpistole betätigte. Als sich die Sicht wieder klärte, lagen zwei der Bogenschützen auf der Erde, aber die Zahl der Angreifer hatte sich verfünffacht. Bryce fluchte leise und umklammerte seinen verbundenen Arm mit der Hand. »Ein Pfeil hat mich erwischt, als ich durch den Reifen kam«, murmelte er. »Der Rückstoß der Waffe muß die Wunde wieder geöffnet haben. Verdammt noch mal, warum mußte es ausgerechnet mein rechter Arm sein?«
»Hier, geben Sie das mir!« sagte Wayne und griff nach dem Strahler. »Ich komme schon damit zu Rande!« knurrte Bryce. Aber Wayne hatte die Waffe schon an sich genommen und zielte mit zusammengepreßten Lippen auf die kopflosen Gestalten. Twäng! Zuerst war es nur ein Pfeil, der pfeifend die Luft durchschnitt. Dann kamen zehn, dann hundert Pfeile. Ein blitzender, schimmernder Schauer, so zischten sie über sie hinweg. Wayne schoß nicht nur einmal. Er ließ die Waffe in heißer Wut viermal aufdonnern. Sein Hals schmerzte vom Rückstoß der Pistole. Die Energielohe hüllte die Ebene ein. Ein blendender Pulsschlag schien im Herzen des Strahls zu pochen, inmitten einer sich ausbreitenden weißen Flamme.
Als sich der Rauch hob, war die Ebene von reglosen Bogenschützen bedeckt. Einen unvorstellbar entnervenden Anblick boten die metallischen Zickzackfiguren, die zuckten, sich dann mühsam erhoben und wie versengte Blätter in die Schatten davonwehten. »Das war unüberlegt!« brummte Bryce. »Ein einziger Feuerstoß hätte die gleiche Wirkung auf sie ausgeübt. Sie können die Schockwellen nicht vertragen!« Wayne atmete scharf die Luft ein. Einen Moment lang blieb er in der Hockstellung, und seine Augen glühten. Dann erhob er sich schwankend. »Ich habe Sie gefragt, wie Orban in dieses Bild paßt«, sagte er grimmig. »Erklären Sie uns den Rest.« Bryce zuckte die Achseln. »Bedenken Sie, Mann. Seit zahllosen Generationen werden die Kinder mit einer Diät von Phantasie und Wirklichkeit herangezogen. Das eine überwirft das andere. Kinder wissen nicht, wie real die Phantasiewelt ist,
und die Wirklichkeit, die sie umgibt, löscht Humpty Dumpty in ihrer Erinnerung bald aus.« »Ja,ja…« »Der Orban-Junge konnte, während er allein im Raumschiff lebte, lesen, und die Phantasiewelt bekam für ihn einen unnatürlichen Glanz. Sie wurde seine eigene vertraute, private Welt. Er sah nichts anderes als die Sterne des Weltraums und die Phantasievorstellung jener Märchen- und Kinderbücher, die er immer wieder las. Verstehen Sie nicht? Er mußte in diese Phantasiewelt gelangen. Er mußte durch die dimensionale Barriere brechen. Es wurde für ihn zur fixen Idee.« »Aber wie?« »Es gab technische und wissenschaftliche Bücher im Schiff. Orban konnte lesen, und er war kein kleines Tier. Er war verblüffend intelligent. Schon mit acht Jahren verstand er etwas von angewandter Physik. Er hatte viel mit seinem Vater gesprochen und wußte zu basteln und zu experimentieren.« Bryce stieß einen losen Stein mit der Schuhspitze zur Seite. »Vollkommen normale Jungen von acht Jahren besitzen einen Intelligenzquotient von einhundertfünfzig. Mozart war mit sechs ein vollendeter Musiker, mit neun ein Meister. In jeder Generation gibt es junge Schachgenies, und Schach ist ein Spiel, das auf drei verschiedenen Faktoren aufbaut. Man hat seine nackte Intelligenz in einen Hintergrund von Semantik und angewandter Psychologie zu betten. Aber einige Kinder bringen es zu monumentalen Hintergründen, indem sie nur Augen und Ohren offenhalten. Was wissen wir denn überhaupt über die menschliche Intelligenz? Des Lesens und Schreibens unkundige Bauern haben die Atomtheorie gemeistert, indem sie einfach aufs Geratewohl vorgingen. Orban war frühreif, zugegeben. Aber über Frühreife wissen wir noch weniger als über die Intelligenz des Erwachsenen.« Bryce blickte Wayne
mit quälendem Argwohn an. »Der Junge entwischte uns für einige Stunden und eilte zur Werkstatt seines Vaters. Reine Nachlässigkeit unsererseits. Als ich ihn mit dem Reifen sah, stürzte ich aus dem Haus und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden. Wir gerieten in Streit, und ich begann an ihm zu zerren. Glücklicherweise hatte ich einen Seral-Blaster umgeschnallt, um jeder Eventualität gewachsen zu sein. Und die verdammte Waffe war es dann, die das Unglück verschuldete. Ihr Gewicht zog mich hinunter, in die falsche Richtung. Als ich stolperte, kam ich nicht mehr dazu, mich irgendwo festzuhalten.« Bryce zuckte grimmig die Achseln. »Seitdem halte ich die Bogner in Schach. Ein seltsames Ding, dieser Reifen. Er ist erstaunlich leicht, wiegt nicht mehr als acht Pfund. Orban kann ihn mit einer Hand tragen, aber wenn man direkt davor steht, ist man erledigt. Als ich hindurchgefallen war, konnte ich den Reifen nicht mehr erblicken. Er muß von dieser Seite aus unsichtbar sein!« Wayne nickte. »Wir haben ihn auch nicht gesehen.« »Er befindet sich aber immer noch in der Nähe, glaube ich. Als ich in dieser Welt landete, entdeckte mich ein Bogenschütze. Der Pfeil traf mich im Oberarm. Ich riß ihn heraus und schleuderte ihn von mir, und er verschwand mit einem blendenden Lichtblitz. Sie haben auf der anderen Seite einen Pfeil herauskommen sehen. Vielleicht war es derselbe.« Wayne wollte etwas sagen, aber Bryce gebot ihm Stillschweigen. »Hören Sie!« Aus der purpurnen, unergründlichen Mitte des Erdhügels drang ein seltsamer klagender, rauschender Ton. Dann erhob sich ein Dutzend »Amseln« aus der Höhlung. Ihre eidechsenartigen Körper bebten und zitterten, als sie in weiten Spiralen in den Himmel hinaufstiegen. Keine Pfeile verfolgten sie. Tiefes Schweigen herrschte auf der Ebene.
»Es sieht aus, als ob wir die Bogner vorläufig ins Bockshorn gejagt haben«, murmelte Wayne, aber in seiner Stimme klang kein Triumph mit. Bryce schüttelte den Kopf. »Sie werden wieder angreifen«, meinte er. »Jene Vögel hatten diesmal einfach Glück. Ich frage mich, ob sie wissen, wieviel Glück. Oder ob sie sich überhaupt etwas daraus machen!« Ruth flüsterte: »Zwanzig Amseln und sechs noch dazu, Klein gehackt zu feinem Ragout. Mit Pfeffer und Salz und würzigem Kraut Zart gekocht ohne Knochen und Haut. In Pasteten gefüllt ließ der König sie bringen, Und während er aß, fingen an sie zu singen.« Ihre Stimme erhob sich scharf. »Ken, wer – glaubst du – war der König? Wir haben ihn nicht gesehen! Gibt es hier einen König?« »Eine symbolische Ausschmückung«, entgegnete Bryce. »Ich betone noch einmal: Mother Goose ist einfach diese Welt, durch den verzerrenden Spiegel der Phantasie des Kindes gesehen. Der Autor der Mother-Goose-Reime wandelte das, was er hier sah, in ein mittelalterliches Märchen um. Wir werden den König niemals sehen, weil wir mit ihm nicht das geringste gemein haben.« Der Himmel schien sich zu verdunkeln, als Bryce sprach. Wayne blickte in fröstelnder Vorahnung auf, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Oh, nein!« schrie Ruth. Aber hoch oben im Himmel war etwas. Es schwang langsam zum Erdhügel herunter. Etwas Rundes, das eine Krone zu tragen schien und wie ein Geleepudding wabbelte. Näher und näher kam es, mit jeder Vibration seines kugelförmigen Körpers tiefer schwingend.
Plötzlich wurde es klar und deutlich sichtbar. Es war kein König, und es trug keine Krone. Es war ein schwebendes Spheroid, geädert und transparent, angefüllt mit einem komplizierten Assortiment von sich bewegenden und wirbelnden Gegenständen, die ein kontinuierliches schwirrendes Geräusch erzeugten. Nackter Wahnsinn schien nun von Wayne Besitz zu ergreifen, als er hinauf starrte. Er legte die Handflächen an den Mund und rief: »Wer bist du?« »Wer bist du?« scholl es wie ein Staccato-Echo zurück. »Wer bist du?« »Wer bist du?« »Wenn es jetzt sagt: ›Wer bin ich?‹ bring ich mich um!« schrie Ruth hysterisch. »Wer bin ich?« dröhnte das Spheroid. »Bring ich mich um!« »Warten Sie!« Bryce faßte Ruth am Arm. »Es ist ein Tropismus, nichts anderes. Eine Art Echo-Reaktion. Sie haben geschrien. Es hat nur den letzten Teil aufgegriffen. Es wandelte die Frage nicht um. Es wiederholt einfach das, was es hört!« »Nein, – das stimmt nicht«, stöhnte Ruth. »Jetzt wird es gleich rufen: ›Bring du dich um!‹« »Nur dann, wenn Sie es hinaufrufen«, sagte Bryce mit unterdrücktem Lachen. »Passen Sie auf, ich zeige es Ihnen.« Er formte seine Hände zu einem Trichter. »Ihr werdet Sieger bleiben!« brüllte er mit Donnerstimme. »Ihr werdet Sieger bleiben!« kam die Antwort zurück. »Das verspreche ich«, rief Bryce. »Das verspreche ich!« »Sehen Sie?« Bryce wandte sich mit einem erleichterten Gesichtsausdruck um. »Man erhält selten eine Antwort, die noch besser wäre. Es ist die klassische Erwiderung eines guten Politikers. Was man gern hören möchte, kommt in einem
kraftvollen Echo zurück, welches jedoch absolut nichts bedeutet.« Das mit kreisenden und wirbelnden Rädern angefüllte Spheroid schwebte jetzt langsam zurück, senkrecht in den Himmel hinauf. Es wurde rasch kleiner und vibrierte quallig, als es aus der Sicht verschwand. »Nun, das war also unser König«, meinte Bryce. »Ich vermute, daß es nur ein eigenartiger Ordner-Mechanismus ist, der in langen Zeitabständen herunterschwingt. Eine Art Zahnrad in diesem ganzen riesigen Uhrwerk, ein stabilisiertes fliegendes Pendel, das hier benötigt wird, damit das Uhrwerk so funktioniert, wie es soll.« Ruth schoß mit einem Ausruf des Schreckens in die Höhe. Drei winzige metallische Gebilde waren über den Rand der Erhebung gehuscht und kletterten jetzt mit den blind-tastenden Bewegungen gehetzter Maulwürfe in die Amselgrube hinunter. Maulwürfe? Warum nicht Mäuse? Blinde Mäuse? Wayne war der erste, der es sagte: »Drei blinde Mäuse – sieh wie sie laufen…« Er hielt erschrocken inne. »Sprechen Sie es ruhig zu Ende«, murmelte Bryce. »Zur Farmersfrau sie liefen zu dritt, Die ihnen mit dem Messer Die Schwänze abschnitt.« Er hob den Zeigefinger. »Wie ich eben schon gesagt habe, ist die Quintessenz all dieser Vorgänge die Grausamkeit. Eine wilde, sinnlose, nicht mehr zu überbietende Grausamkeit. Warum werden blinde Mäuse verstümmelt? Ist es nicht unvorstellbar gräßlich? Und doch gehört es zu den MotherGoose-Reimen. Es gibt kaum einen Mother-Goose-Reim, der nicht in dieser Welt seinen Ursprung hätte. Die Jäger und – die
Gejagten. Kreaturen, die von blinder Grausamkeit verfolgt werden, während der Flucht niedergeschossen. Wer hat Cock Robin getötet?« Ein finsteres Interesse schien von Bryce Besitz zu ergreifen. »Cock Robin! Das ist die grausamste Geschichte von allen. Sie ist so teuflisch in ihrer verruchten, unfaßbaren Bosheit, daß sie in einigen Mother-Goose-Ausgaben gar nicht enthalten ist, da für Kinder nicht geeignet!« Er runzelte die Stirn. »Wer war Cock Robin eigentlich? Warum war jedermann so erschrocken? Cock Robin mit blutüberströmter Brust, in der der lange, zitternde Pfeil steckte. Warum war Cock Robin so anders, beinahe ein Fremder in dieser Welt? Warum war selbst die vielfältig personifizierte Grausamkeit so entsetzt und fragte nach dem Übeltäter? Warum antwortete jeder: ›Ich nicht. Ich nicht.‹ Warum hielt jedermann Cock Robin für das einzige Wesen in dieser Welt, das nicht hätte getötet werden sollen?« Bryce schritt auf und ab, von Zeit zu Zeit wie in böser Vorahnung über den Rand des Erdhügels hinwegblickend. »Es ist seltsam! Nicht nur die Mother-Goose-Reime spiegeln diese Welt wider. Eine uralte chinesische Vase trägt die Aufschrift: Sieh, wie die rauhen schwarzen Vögel in die bronzene Sonne fliegen, verfolgt von den Pfeilen der Finsternis! Und Lewis Carroll! In Alice im Wunderland stehen Dinge, die sich ebenfalls auf diese Welt zu beziehen scheinen. Warum ist Alice für Generationen von Kindern so wirklichkeitsnah?« Er zückte die Achseln. »Ein paar Leute erinnerten sich anscheinend ihrer Kindheits-Visionen besonders deutlich. Zu deutlich, als daß es noch angenehm wäre. Das Spiegelglas in Carrolls zweitem Buch ist nur ein Symbol. Man tritt hindurch, in eine andere Welt. Orban entdeckte die wissenschaftliche Realität hinter dem Symbol. Er konstruierte einen Spiegel, der die Barriere zwischen den Dimensionen aufhebt!« Ruth starrte
zu ihm auf. »Wollen Sie behaupten, daß alle Kinder gefährliche kleine Ungeheuer wären?« Bryce schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ein paar sehr spezielle Kinder, die von ihrer normalen Umgebung abgeschnitten sind, wie Orban es war. Ihre Visionen spornen sie an. Ich glaube auch, daß wir im Unterbewußtsein immer gewußt haben, daß ein Kind mit zuviel Wissen gefährlich ist. Warum dichten die Menschen gern Verse über die Bosheit von Kindern? Denken Sie an die Klein-Willie-Reime: Klein Willie hatte ein Schwesterlein. Das hängte er auf, es sollte so sein. Willie fällt immer was Lustiges ein. Dabei ist er erst sechs und noch ganz klein.« Von irgendwo auf der Ebene kam ein antwortendes Flüstern, als ob die grausamen Worte die blaue Welt zu erneuter Aktivität angestachelt hätten. Ein leises Rascheln huschte über die Ebene, unheilvoll und nervenlähmend. »Jetzt kommen sie!« wisperte Bryce und langte nach dem Strahler. Wayne bewegte sich rasch, um ihm zuvorzukommen. Er hatte die Waffe in der Hand und brachte sie in Anschlag, bevor der Psychologe protestieren konnte. Ein Schatten fiel auf die Ebene und wurde riesenhaft. Die blauen Bogner traten mit tödlicher Kaltblütigkeit aus dem Schatten der Mauer. Ihre Schatten zogen sich in die Länge, als sie aus verschiedenen Richtungen dem Hügel zustrebten. Ihre Donnerkeil-Körper waren in einen durchscheinenden Schimmer gehüllt. Wayne feuerte erst, als ein Dutzend Schützen ihre Pfeile gleichzeitig abschnellten. Ein Wirbel aus blendendem Weiß folgte der Detonation, eine schweigende Weiße, die für den Bruchteil eines Herzklopfens anhielt. Dann
erbebte der Hügel unter einer donnernden Erschütterung, und er wurde zurückgeschleudert…
Eine Stunde später saß Wayne mit dem Rücken gegen den Erdwall gelehnt, sein Gesicht grau vor Anstrengung. Dünne Rauchfahnen wirbelten über dem Hügel, ein beißender Dunst, der den Abhang direkt unter ihm verschleierte und die kauernde Gestalt von Bryce verhüllte. Aber er konnte die Verzweiflung fühlen, die von Bryce ausstrahlte. Bryce ergriff plötzlich das Wort. »Ich bin froh, daß wir noch einen Schuß aufgespart haben!« murmelte er. »Wir müssen uns entscheiden, wie wir ihn verwenden.« Die Worte fielen in eine eisige, tödliche Stille. Dann stöhnte Ruth auf. Wayne wußte mit finsterer Gewißheit, daß Bryce auf das Mädchen keine Rücksicht nehmen würde. Wenn er es für richtig hielt, daß die Waffe auf die drei Menschen gerichtet und von ruhiger Hand bedient wurde, würde er es sagen. Sie saßen einen Augenblick lang schweigend beieinander, und keiner wagte, seine Gedanken in Worte zu kleiden. Dann wandte sich Bryce an Ruth. »Beim Himmel, Sie sind eine hübsche Frau!« Plötzliche heiße Wut überkam Wayne wie ein Strom geschmolzener Lava. »Wenn wir die geringste Chance hätten«, fügte Bryce bedeutungsvoll hinzu, »würde Ken einen Rivalen bekommen!« Wayne erkannte, daß Bryce mehr Feingefühl besaß, als er ihm zugetraut hatte. Die Art und Weise, wie er die Tatsache ausdrückte, daß keine Hoffnung mehr bestand, war zwar seltsam, aber Wayne empfand es mit Dankbarkeit, daß er es nicht brutal geschildert hatte. Sein Ärger verrauchte beinahe sofort. Twäng!
Der Pfeil zischte an ihm vorüber und verfehlte ihn um wenige Millimeter. Die Bogner rückten wieder vor. Mit singenden Bogen strebten sie dem Hügel zu, und die Luft war erfüllt von fliegenden Todespfeilen. Das harte Knallen der gespannten Bogensehnen riß jetzt nicht mehr ab. Die Luft widerhallte von dumpfem Dröhnen, ein Dröhnen, das sich in Waynes Ohren und Schädel fortsetzte. Er taumelte. Wayne zögerte nicht und fragte auch nicht lange nach der Meinung der anderen. Die Plötzlichkeit des Angriffs entschied den strittigen Punkt für ihn. Der letzte Schuß würde nicht von der Vorsicht eines anderen Mannes gelenkt werden. Seine Entscheidung war getroffen, und nichts konnte ihn mehr zurückhalten. Wayne zog scharf die Luft ein und drückte auf den Abzug. Mit ohrenbetäubendem Getöse hüllte die hervorschießende Strahlung die Ebene ein. Wieder fühlte Wayne den schmetternden Rückstoß der schweren Waffe. Sekundenlang war die Ebene von Feuer und Qualm bedeckt. Der Rauch wirbelte über den Hügel empor und verbarg die Bogner seiner Sicht. Dann verzog sich der Qualm. Er rollte hinweg über eine verbrannte Stätte reinster Verwüstung und Öde, und die Tatsache, daß sie nicht vollständig leer war, machte sie nur noch entsetzlicher. Ein Bogenschütze wagte sich noch immer näher. Leicht schwankend kletterte er mit erhobenem Bogen durch den emporschwebenden Qualm den Abhang herauf. Er hatte fast den Rand der Erhebung erreicht, als Wayne mit einem Riesensatz auf ihn zusprang. Mit einem schrecklichen Schnalzen und Sirren schnellte der Pfeil von der Sehne und fuhr in den Erdwall hinter Waynes Rücken. Und dann schlug Wayne mit der schweren Waffe auf den eckigen flachen Körper des Bogners ein. Aus Leibeskräften schwang er seinen Arm immer und immer wieder.
Über die Ebene hallte das harte Dröhnen von Metall auf Metall, als ob mittelalterliche Ritter in schweren Rüstungen in einem Kampf auf Leben und Tod Kopf voran aufeinanderprallten. Wayne drängte den Bogenschützen mit einer Wildheit den Abhang wieder hinunter, die selbst ihn verblüffte. Seine Augen blitzten, und seine Lippen bebten, als er mit der scharfen Kante seiner Waffe auf die glänzende Brust des Scheusals einschlug und sie dann abwärts auf den tiefhängenden Metallköcher an seiner Seite sausen ließ. Seltsam, wieviel Mut ein Mensch aufbringen konnte, wenn sein Leben verwirkt war. Seltsam, wie die strahlende Stärke, die das Herz wie ein Schild umgab, hervorströmte und plötzlich allen sichtbar wurde! Die Pfeile fielen aus dem Köcher des Ungeheuers und verstreuten sich auf dem Boden. Sein Körper krümmte und verzerrte sich eigenartig, als ihn plötzlich etwas Unsichtbares, Unfühlbares emporzuheben schien und zurück zur Mauer riß. Wayne brüllte wild auf, als das zuckende Scheusal in die Ferne zurückwich, wirbelnd und kreisend wie ein sturmgepeitschtes Blatt. Es verschwand in einem blendenden Lichtblitz. Und als es verschwand, tauchte eine eilig laufende Gestalt auf der Ebene auf. »Orban!« Es war Ruth, die den Namen hinausschrie, noch während sie sich in ungläubigem Erstaunen erhob. Orban rannte geradeswegs auf Wayne zu und winkte eindringlich mit den Armen. Wayne konnte die Worte nicht verstehen, die der Junge rief. Aber er vermochte zu erkennen, daß ihm die laufende Gestalt bedeutete, er solle zum Erdhügel zurückkehren. In fieberhafter Ungewißheit, halb betäubt, wirbelte Wayne herum und begann hinaufzuklettern. Er vernahm sein eigenes Schluchzen. Seine Beine drohten zu versagen, aber es gelang ihm, die Höhe zu gewinnen und sich in die Höhlung
hinunterzuwerfen. Er lag auf dem Bauch und starrte angestrengt über den Erdwall hinweg. Seine Lungen keuchten und würgten. Langsam wurde er gewahr, daß sich Ruth neben ihm niedergelassen hatte und sich an ihn klammerte. Orban kam über den Wall. Er warf sich direkt gegenüber Wayne zu Boden und stützte sich auf einen Ellbogen. »Mußte warten… bis ich sicher war, daß ich dich ’rausholen konnte«, keuchte er. »Jener Mann…« Er wies in Bryces Richtung. »Er ist nicht so wichtig, aber du bist mein Freund! Mußte dich retten, Ken!« Wayne starrte ihn an. Sein Gaumen schien plötzlich trocken und spröde. »Ich hatte geplant, den Reifen so lange zu verstecken, bis ich richtig ausgerüstet war, um in diese Welt zu kommen, Ken«, fuhr Orban aufgeregt fort. »Ich habe zwar etwas ausgearbeitet, aber es genügte nicht, um mich hier zu beschützen. Das ist der Grund, warum ich dich gebeten hatte, mir zu helfen, den Reifen zu verstecken!« »Und was hast du ausgearbeitet?« fragte Bryce. Sein Gesicht schimmerte aschfahl, aber seine Stimme klang fest und kraftvoll. »Habe Ken erst vergangene Nacht kennengelernt«, keuchte Orban mit glänzenden Augen. »Aber er ist der einzige Freund, den ich jemals gehabt habe. Er wollte mich verbergen. Das ist weit mehr, als Sie jemals für mich tun würden, wette ich.« »Da hast du recht«, entgegnete Bryce mit einem rauhen Lachen. »Ich habe dich gefragt: Was hast du ausgearbeitet?« Statt einer Antwort öffnete der Junge seine Hand. Der Gegenstand, den er umklammert hatte, war klein, nicht größer als ein Taschenmesser. Seine Form erinnerte an einen Kompaß. Sechs winzige glühende Knöpfe ragten aus ihm hervor, aber sonst sah es unglaublich behelfsmäßig aus, als ob
Orban in einen Spielzeugladen gegangen war, um dort einen Kompaß zu kaufen und dann zwei dünne Drähte in komplizierter Anordnung um die kreisende Nadel zu wickeln. Und jetzt hielt er seine Bastelarbeit mit sichtlichem Stolz in die Höhe, als ob er etwas unvorstellbar Besonderes vollbracht hatte. »Habe schwer daran geschuftet, in Kens Küche«, erklärte er. »Es dauerte sechs Stunden, bis es funktionierte.« »Bist du sicher, daß es jetzt funktioniert?« »Darauf können Sie wetten«, sagte Orban stolz. »Die Segmente, welche dieser Drahtschleife Energie zuführen, sind anders angeordnet worden, sehen Sie? Sie verlaufen jetzt direkt unter den Kontaktpunkten. Alles, was ich jetzt zu tun habe, besteht darin, die zweite Schleife durch die Anziehung der Nadel in Position zu ziehen.« Während er sprach, drückte Orban auf einen der kleinen Knöpfe am Rand des »Kompasses«. Der »Kompaß« leuchtete auf. »Jetzt ist das Gerät bereit!« sagte Orban. Bryce starrte ihn an. »Bereit für was?« Orban legte seine Hand über den »Kompaß«. »Sie werden es gleich sehen. Passen Sie auf!« Zwischen seinen Fingern strömte aus dem »Kompaß« Licht hervor und umgab seine Hand mit einer Art Heiligenschein. Langsam hob er den Arm und wandte sich mit triumphierender Miene Wayne zu. »Schau, was jetzt passiert!« Es war unmöglich, es zu übersehen. Die blaue Welt befand sich plötzlich in wildem Aufruhr. Aus dem Himmel wabbelte der »König« herunter, um direkt über dem Erdhügel in der Schwebe zu bleiben. Die blinden Mäuse rannten rückwärts aus der Amselgrube, und sechsundzwanzig Amseln spiralten in den Himmel hinauf. Und draußen auf der Erde trat ein Dutzend Bogenschützen mit gespannten Sehnen aus den Schatten. Aber
das Erschreckendste war der Abgrund, der plötzlich in der Ebene gähnte. Aus ihm heraus taumelte etwas, das wie ein aus spitzen Rauten zusammengesetzter Riese aussah, dessen Körper sich fast in sich selbst krümmte. Die Gestalt torkelte stolpernd und schwankend über die Ebene, wie in unerträglicher Qual. Sie schien aus Metall zu sein und ähnelte sehr den Bogenschützen, aber sie bewegte sich in einer derart schwindelerregenden, krummen Art, daß Waynes Verstand betäubt zu wirbeln begann. »Es war einmal ein krummer Mann, der rannte eine krumme Meile…«, hörte sich Ruth schreien. Twäng! Ein Pfeil durchbohrte den blauen Schimmer und schlug mit dumpfem Geräusch in die Schulter des wie irrsinnig schwankenden Gebildes. Der Riese stolperte und fiel vornüber, während seine lose baumelnden Arme durch die Luft peitschten. Mühsam kroch er im Zickzack zu der Falltür in der Ebene zurück. Seine Bewegungen waren noch immer geometrisch irre. Plötzlich erstarrten die Bogner. Sie standen unbeweglich und hielten ihre Bogen in grotesken Stellungen. Der »König« hörte auf zu vibrieren. Er hing reglos über dem Hügel in der blauen Luft, wie eine hartgefrorene Qualle erstarrt. Jeder Gegenstand, der sich im Blickfeld befand, verharrte unbeweglich. Nichts rührte sich. Die herrschende Stille war so absolut, daß selbst die Bewegung einer blinden Maus ein Getöse hervorgerufen hätte. Aber die Mäuse saßen steif und starr, gefangen im Netz des Schweigens. »Beim Himmel, er hat die Uhr angehalten!« Bryces überraschter Ausruf zerschmetterte die unmenschliche Stille auf dem Hügel. Aber der »König« gab die Worte nicht zurück, und nichts auf der weiten Ebene rührte sich. Orban grinste jetzt zum erstenmal. »Ich wußte, daß es funktioniert«, frohlockte er. »Es blieb keine andere Möglichkeit. Es wird
aber alles bald wieder anfangen, in etwa drei Minuten. Für längere Zeit kann ich es nicht anhalten. Ihr müßt rasch weg.« »Du meinst…« Bryce feuchtete seine bleichen Lippen an. »Das kleine Ding…« Er winkte mit dem gesunden Arm. »… hat alles angehalten?« »Größe und Ausdehnung hat nichts mit Energie und Kraft zu tun«, meinte der Junge, als ob er zu einem Kind sprach. »Mensch, ich könnte jede Stadt der Erde in die Luft jagen – große Städte wie New York und Chicago – mit einem Gerät, das etwa halb so groß ist wie dieses hier!« Ruth schwankte. »Ich habe den Reifen so eingestellt, daß ihr ihn von dieser Seite aus sehen könnt«, sagte Orban. »Wenn ihr draußen seid, werde ich ihn von dieser Seite aus zerstören. Los, Ken! Du mußt auf die andere Seite gelangen, bevor alles wieder anfängt!« Zu viert eilten sie in die Richtung, die ihnen Orban angab. Nervenquälende Gedanken, die keiner Vernunft oder Logik entsprachen, wirbelten in Waynes Gehirn durcheinander, als er hinter dem Jungen herrannte. Sie umrundeten die Mauer in keuchender Eile. Der Orban-Junge führte sie an, und Bryce bildete den Abschluß. Die Mauer hatte sich nicht verändert, aber die heruntergestürzten Humpty Dumptys glichen Eiern, die aus einem Kühlschrank gefallen waren. Ihre Kaulquappenarme bewegten sich nicht mehr, und ihre vergossenen Dotter schienen hartgefroren zu sein. Orban verhielt seinen Lauf einen Augenblick und stieß ein Ei mit dem Fuß an. »Das arme kleine Ding!« murmelte er und schüttelte den Kopf. Dann eilte er weiter. Als der Reifen in Sicht kam, keuchte der Junge schwer. Sein Gesicht glänzte von Schweiß. Aber er lief weiter, bis er den Reifen erreichte. Dann wandte er sich um und wartete auf die anderen. »Ich kann nicht mit dir kommen, Ken«, sagte er, als
Wayne bei ihm anlangte. »Ich gehöre hierher. Ich passe nicht in deine Welt!« Er trat von einem Fuß auf den anderen und streckte plötzlich die Hand aus. Wayne starrte ihn in lähmendem Entsetzen an. »Aber du kannst doch nicht hierbleiben!« protestierte er. »Wenn die teuflischen Bogenschützen wieder beginnen…« Orban schüttelte den Kopf, aus den Augenwinkeln zur Mauer zurückblickend. »Ich wage es nicht, Ken! Weißt du, was geschehen würde, wenn ich mitkomme? Ich würde unvorsichtig werden und weitere Unglücke verursachen. Menschen würden dabei umkommen, vielleicht die ganze Menschheit. Ich weiß auf bestimmten Gebieten zu viel, ich bringe jeden in Gefahr.« Der Junge bückte sich, noch während er sprach, aber Wayne ahnte nicht, was er zu tun im Begriffe war, bis der schimmernde Reifen in der Luft über ihm aufragte. Orban befand sich hinter dem Reifen der Maschine. Er sprang mit einem Satz auf Ken zu, den Reifen mit ausgestreckten Armen vor sich haltend. Es war Wayne, als ob er unter eine warme Dusche trat. Das Licht hüllte ihn ein und züngelte nach ihm, bevor er erkannte, daß er nicht länger auf der Ebene stand. »Leb wohl, Ken!« drang es in einem schwindenden Echo an seine Ohren. »War ganz toll, einen Freund zu haben!«
Wayne erhob sich vom Boden und blickte sich um. Er befand sich nicht allein in dem Raum. Ruth saß neben ihm, Bryce lag ausgestreckt auf der anderen Seite, und der Reifen schmolz in einem langsam erlöschenden Lichtblitz zu einem formlosen Metallklumpen zusammen. Bryce kletterte bedächtig auf die Füße und starrte mit finster zusammengezogenen Brauen um sich, als ob ihm Waynes Wohnungseinrichtung nicht gefiel und er dies zu sagen im
Begriff war. Bryce taumelte zu einem Sessel und ließ sich nieder. »Nett haben Sie es hier, Ken«, sagte er. Und dann brach plötzlich seine erzwungene Ruhe zusammen. Schweißtropfen traten auf seine Stirn und auf seine Handrücken. Er erschauerte. »Er wird niemals zurückkommen«, flüsterte er. »Wir haben ihn zum letzten Mal gesehen.« Wayne richtete sich auf und taumelte zur Wand. Er starrte Bryce an. Bryce überlegte verzweifelt. »Hätte ich doch nur ein paar freundliche Worte zu ihm gesagt! Es war das wenigste, was ich hätte tun können.« »Warum?« Wayne merkte kaum, daß er gesprochen hatte. »Oh, natürlich ist es ein Paradoxon«, murmelte Bryce. »Genau wie – das Paradoxon des Zeitreisens. Gesetzt der Fall, ein Mann lebt jetzt und begibt sich in die Vergangenheit. Bedeutet das nicht, daß er schon immer in der Vergangenheit existiert hat? Aber wie kann er zurückgehen zu einer Zeit, wo er schon immer gewesen war?« Ruth erhob sich und starrte Bryce mit entsetzt aufgerissenen Augen an. »Was hat das mit Orban zu tun?« fragte sie. »Sagen wir, Sie begeben sich heute in eine andere Dimension«, meinte Bryce langsam. »Sagen wir, es ist eine Art zeitlose Dimension, von unserem Gesichtspunkt aus gesehen. Würden Sie dann nicht in jener anderen Welt vom Augenblick ihrer Erschaffung an existieren? Würden Sie nicht in diese Welt einfrieren und von Anfang an ein Teil von ihr werden? Wenn jemand von unserer Welt vor vielen Jahrhunderten in diese andere Welt geblickt hätte, würde er Sie dann nicht darin gefunden haben? Ich glaube, er würde es.« Bryce schwieg einen Moment und sah aus dem Fenster von Waynes Wohnzimmer. Das Dämmerlicht eines Oktobermorgens erstreckte sich jenseits der Glasscheibe in die
Ferne. Er blickte Wayne an und dann Ruth, als ob er sie auffordern wollte, abzuleugnen, daß sie soeben aus einer anderen Welt zurückgekehrt waren. »Sie haben jenen ›König‹ gesehen, jenes Uhr-Scheusal, das vom Himmel herunterschwang!« fuhr er fort. »Ein mechanischer Tropismus versetzt es in die Lage, Geräusche nach Art des Echos zurückzuwerfen. Angenommen, ein Junge, der niemals in jene Welt hätte gehen sollen, ist widerruflich in ihr gefangen. Angenommen, er schreit seine Herausforderung, seinen Trotz zum Himmel hinauf, als die Pfeile auf ihn zupfeifen. Angenommen, er ruft in Wut und Stolz seinen Namen, verwegen und mutig, wie ein trotziger Junge, der sich in Bedrängnis befindet, nun mal zu tun versucht ist. Seinen Namen, jetzt und immerdar, lange, bevor er in unserer Welt, in unserer Zeit geboren wurde, weil er sich selbst zu einem zeitlosen Teil jener zeitlosen Welt gemacht hat.« »Und?« Waynes Stimme war ein fragendes Flüstern. »Eine Menge Jungen tragen Spitznamen. Orbans Taufname war Phillip, aber sein Vater nannte ihn nicht so.« Ruth stieß einen Schrei aus. »Nein! Nein, das kann nicht sein!« »Angenommen, die Königsuhr tat nichts anderes, als seinen Namen zu wiederholen«, meinte Bryce sanft. »Angenommen, der Junge lag leblos auf der Ebene, und der König wiederholte seinen Namen immer und immer wieder. Und das Kind, das später der Autor der Mother-Goose-Reime werden sollte, sah diese Welt in einem Kindheitstraum und hörte den Namen. Bedenken Sie, er sah den Greuel nur undeutlich. Das Ding, das er sah, trug den Namen eines bekannten Vogels. Warum also sollte daraus nicht ein Vogel werden, der tot auf der Ebene lag, während jedermann in jener Welt fragte: Wer hat Cock Robin getötet? Ich nicht! Ich nicht!? Jedermann entsetzt und entgeistert, weil Cock Robin ein Fremder in jener Welt war.« »Sie meinen…«
»Die Einzigartigkeit Cock Robins war etwas Unfaßbares, Unvorstellbares, aber sie mußte sich dem Autor von Mother Goose mitgeteilt haben. Er phantasierte den Rest dazu, die protestierenden Stimmen, das allgemeine Entsetzen und die Reue. Er machte einen phantastischen kleinen Ammenreim daraus.« Bryce blickte Ruth ernst an. »Wissen Sie jetzt, wer Cock Robin war?« fragte er. Ruth drängte sich dichter an Wayne, bevor sie antwortete, als ob sie die Bürde des Entsetzens und Mitleids, die wie ein kaltes Gewicht auf ihrem Herzen lag, nicht allein tragen könnte. »Sein Vater nannte ihn Robin«, flüsterte sie. »Robin! Robin! Der Orban-Junge – er war Cock Robin!«
Originaltitel: HUMPTY DUMPTY HAD A GREAT FALL. Copyright © 1948 by Better Publications, Inc. Aus STARTLING STORIES November 1948. Übersetzt von Jesco von Puttkamer.
James Causey LACHE, BAJAZZO
Premierenabend. Die Arena war ziemlich mittelalterlich aufgemacht, Sägespäne bedeckten den Boden der drei Manegen. Darüber glitzerten die straffgespannten Drahtseile. Die Raubtiere knurrten und brüllten in ihren Käfigen. Der Dompteur knallte mit der Peitsche und verbeugte sich vor den acht riesigen Linsen, die matt glänzend nach unten starrten. Hinter diesen Linsen verbarg sich unser Publikum, sechzig Millionen Menschen, die sich über die ganze Hemisphäre verteilten. In den Kulissen lehnte sich Lisa einen Augenblick zitternd an mich. Ich flüsterte: »Dein Auftritt.« Sie nickte und drückte meine Hand. Trommeln rollten. Ich war den Tränen nahe, als sie in die Arena trat. Sie war reizend anzusehen. Neben mir grinste Paul Chanin. »Lampenfieber, Midge?« »Nein«, sagte ich kurz. Ich hatte Paul nie gemocht. Er war zu selbstbewußt und sah viel zu gut aus. Es hatte mir nicht gefallen, wie er Lisa während der Proben in den letzten Wochen zugelächelt hatte und wie sie sein Lächeln erwiderte. Aber Paul war ein sehr guter Schauspieler, wenn man bedenkt, daß er ein Mensch ist. Er legte eine prächtige einarmige planche aufs Seil, er konnte mit verbundenen Augen über glühenden Kohlen radschlagen, und er konnte singen. Wir betraten die Arena zusammen. Paul tänzelte elegant über die Bretter und sah in seinem purpurnen Trikot sehr eindrucksvoll aus. Ich dagegen stolperte unbeholfen in meinen
ausgebeulten Hosen hinterher, das Gesicht als traurige Clownmaske geschminkt, und spielte den Wütenden, während Paul mit Lisa flirtete. Dann sprang ich zehn Meter hoch in die Luft und blieb mit den Zehen am Drahtseil hängen. Ein breites Lachen. Midge der Clown. Manchmal fühlt man es, wenn eine Darbietung einschlägt. So war es auch jetzt. Gleich von Anfang an wußte ich, daß das Publikum mitging. Die Reihen der Reaktionslampen leuchteten in einem klaren Rubinrot, ein untrügliches Zeichen, daß wir dem Publikum gefielen. Ich war nicht überrascht. In unserer Darbietung verbanden sich zwei primitive Kunstformen, und sie umfaßt alles, Liebe, Pathos, Schönheit und Entsetzen. Der Schluß war das beste, wenn der Zarl aus seinem Käfig ausbrach und Lisa beinahe erwischte. Ich tötete den Zarl und er mich, wobei ich sterbend das Duo pro Pagliaccio sang. Vorhang. Direktor Latham kam, Beifall klatschend, in die Arena gelaufen. »Wunderbar«, keuchte er, »prächtig, Midge! Ich glaube, wir haben es doch geschafft.« Ich sah zu den Reaktionslampen hinüber. Sie leuchteten Beifall in einem tiefen Purpur. »Sieht wie ein Erfolg aus, Sir«, sagte ich. »Hoffentlich verdanken wir das Interesse des Publikums nicht allein der Neuartigkeit unserer Aufführung.« Schattengleich legte sich die Besorgnis über Lathams Gesicht. »Das werden wir später erfahren. Kommt ihr mit zur Feier?« Ich schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich habe bereits eine ganze Feier arrangiert, für mich und meine Frau. Auf Wiedersehen morgen bei der Probe.« Ich ging hinter die Bühne, um Lisa zu suchen. Sie befand sich nicht in unserem Umkleideraum. Bestürzt ging ich den Gang hinab zu Pauls Garderobe und öffnete die Tür. »Paul, hast du…« Meine Stimme stockte. Ich starrte sie an, Paul und Lisa.
»Oh, hallo, Liebling!« sagte Lisa. »Ist es nicht wunderbar: Paul hat mir soeben einen Antrag gemacht.« »Und sie hat angenommen«, sagte Paul. » Angenommen?« fragte ich verwirrt. »Wir passen so gut zusammen, wir drei«, strahlte Lisa begeistert. »Aber Lisa und ich sind doch Androiden«, flüsterte ich. »Na und?« fragte Paul. »Ihr seid Schauspieler, und darauf kommt es allein an. Es wird die beste Gemeinschaftsehe, die es je gegeben hat!« Heute weiß ich nicht mehr, wie ich in meinen Umkleideraum zurückgekommen bin. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mir meine Schminke abwischte und zu dem Spiegel sagte: »Et tu, Pagliaccio?«
Mitternacht war längst vorüber, als Lisa heimkam. Sie trug ein rosa Abendkleid. Ihr Haar lag wie weiches Gold auf den Schultern, und der Anblick ihrer Schönheit wirkte wie ein Messer in meiner Brust. »Oh, Liebling«, sagte sie, »du hättest nicht wegen mir aufbleiben sollen.« »Wo ist Paul?« »Daheim.« Sie zögerte. »Wir werden unseren Gemeinschaftsvertrag morgen früh unterschreiben. Willst du ihm beim Umzug helfen?« »Natürlich«, sagte ich. »Wir werden so glücklich sein, wir drei!« Ihre blauen Augen leuchteten. »Komm zu Bett, Liebling.« »Ich bin nicht müde. Ich glaube, ich mache noch einen Spaziergang.« An anderen Tagen ging ich gern bei Nacht durch die Straßen der Stadt und blickte gedankenvoll zu den Haßbars hinüber und auf die blutroten Neonlichter, die für Gewalttat und jähen Tod warben. Gewöhnlich beglückwünschte ich mich selbst
dazu, daß ich die Haßbars nicht aufzusuchen brauchte, da ich kein Mensch war. Doch dieses Mal war es anders. Schaudernd stand ich im Regen und blickte auf das Schild: JOES HASSBAR, NUR MESSER! TÖTE WIE EIN MANN! Die Schrift explodierte in Flammenzungen leuchtenden Rots, die sich wieder vereinigten und einen Dolch in einer geballten Faust darstellten. Lange Zeit starrte ich auf den Dolch. Ich dachte an Paul. Dann ging ich hinein. Mein erster Eindruck war, in eine große düstere Höhle geraten zu sein, die von schwelenden Fackeln erhellt wurde. Eine unsichtbare Welle disharmonischer Musik schlug mir entgegen, eine schreckliche Kakophonie von Trommelwirbeln, bei der dem Zuhörer eine Gänsehaut über den Rücken lief. Es war Musik aus der Hölle. »Ihren Ausweis, bitte.« Der Fragende war ein kleiner, fetter Mann in blauer Abendtunika. Er notierte meinen Namen und meine Erben und kassierte zehn Kredit Eintritt. »Zuschauer oder Teilnehmer, Sir?« Sein Lächeln war freundlich, aber seine Augen waren kalt wie der Tod. Diese Augen sehen den Tod dutzende Male jede Nacht; meine Aufgabe und mein Beruf zielten darauf hin, diesem Morden Einhalt zu gebieten, die Haßbars auszurotten. »Zuschauer«, sagte ich mit einem verlegenen Lächeln. Er verneigte sich leicht und führte mich zu den mit Schnüren abgegrenzten Zuschauerlogen. Ich bestellte etwas zu Trinken und sah mit krankhafter Spannung zu den Teilnehmern hinüber. Mit ausdruckslosen Gesichtern saßen sie unbeweglich auf ihren Hockern und starrten in den Spiegel hinter der Bar. Sie tranken mit geheuchelter Gleichgültigkeit, während ihre Augen nervös hin und her zuckten. Plötzlich schleuderte ein großer Mann in grauer Tunika seinen Drink in ein überraschtes Gesicht. Stahl blitzte im Licht der Fackeln. Der Träger der grauen Tunika stöhnte und fiel zuckend auf den mit Sägespänen bedeckten Boden. Begeisterte Rufe erhoben sich
von den Zuschauern, während zwei Barkeeper in weißer Kleidung den Leichnam hinausschafften. »Nicht schnell genug«, bemerkte eine Stimme neben mir. »Finden Sie nicht auch, Midge?« Es war Direktor Latham. »Überrascht, mich hier zu sehen?« Er lächelte verzerrt. »Um Sie nicht im unklaren zu lassen, unsere Vorstellung war ein Reinfall.« Ich befeuchtete meine Lippen. »Unmöglich. Die Reaktionsanzeiger…« »Nur das vorübergehende Interesse an was Neuem.« Er sah alt und müde aus. »Gewiß, es ist eine schöne Vorstellung. Das Publikum wird sie sich eine Woche lang ansehen, vielleicht auch zwei. Aber dann…« Er starrte finster auf die Leute an der Bar. »Wir haben wieder versagt.« Langsam wurde mir die Bedeutung seiner Worte bewußt. Ich flüsterte: »Wir hatten doch sechzig Millionen Zuschauer. Diese Zahl genügt dem Ausschuß. Morgen schon könnte er ein Gesetz verabschieden, das die Haßbars verbietet.« »Und innerhalb einer Woche würde die Kriminalität um das Dreifache zunehmen.« Lathams Stimme klang bitter. »Man würde bei hellem Tage seines Lebens nicht mehr sicher sein. Die Leute brauchen eine Katharsis des Gefühls. Sie müssen Blut sehen. Deshalb sind auch die Haßbars gesetzlich erlaubt. Dies ist der Grund, warum der Ausschuß jeden Monat eine Million Kredit für unsere Vorstellung auswirft, in der Hoffnung, die Bevölkerung werde sich von den Haßbars abwenden. Aber die Menschen wollen einfach nicht. Warum sollten sie auch? Der Mensch hat etwas Besseres als sich geschaffen: den Androiden. Jetzt bereut er es, aber zu spät. Er braucht den Android, dessen Fähigkeiten und Hilfe, und er schämt sich, es vor sich selbst eingestehen zu müssen. Hier in den Haßbars sieht sich der Mensch einem gleichwertigen Gegner gegenüber, nämlich sich selbst. Das gibt ihm sein Selbstbewußtsein zurück. Und das fehlt unserer Vorstellung.«
»Nein«, flüsterte ich. »Wenn Sie mit solchen Mitteln die Gunst des Publikums gewinnen wollen, reiche ich mein Entlassungsgesuch ein.« »Wirklich?« höhnte Latham. »Die Vorstellung muß weitergehen.« Diese vier kleinen Worte wirkten auf mich wie ein Zauberspruch. Für einen Schauspieler waren sie ungeschriebenes Gesetz. Er mußte weiterspielen, ungeachtet seiner persönlichen Einstellung oder Neigung. Latham wußte das so gut wie ich. Und damit konnte er mich halten. »Hol’ Sie dieser und jener«, stieß ich hervor. »Midge White, XQ9«, sagte er spöttisch. »X bedeutet weiß, kaukasischer Typ. Q: Spezialausbildung. 9: Schauspieler, einer von den besten. Sie sind gut, Midge. Ihr Bariton klingt wie eine Orgel. Auf der Bühne sprühen Sie vor Leidenschaft, und mit Ihrem Lächeln können Sie dem Publikum das Herz aus der Brust reißen. Sie sind das Theater selbst, Midge. Wollen Sie Ihre Zuschauer im Stich lassen? Können Sie das?« Mit rauher Stimme fuhr er fort: »Ich bin nur ein Direktor, Midge. Sie sind der Publikumsliebling. Sie wissen, was das Publikum wirklich sehen will. Geben Sie es ihm!« »Klar!« Ich zitterte vor Zorn. »Ein paar tote Androiden, bevor der Vorhang fällt.« »Sparen Sie sich Ihre Ironie«, sagte der Direktor müde. Sein Lächeln war eine Fratze. »Sie wissen doch, die Vorstellung muß…« »Hören Sie auf!« Ich zitterte am ganzen Körper. »Dann lassen Sie sich etwas einfallen. Bleiben Sie hier und nehmen Sie etwas von der Atmosphäre in sich auf.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Wir verlassen uns ganz auf Sie, Midge. Gute Nacht.« Nachdem er gegangen war, saß ich haßerfüllt da und starrte auf die sensationsgierigen Gesichter rings um mich herum. Totenstille herrschte unter den Teilnehmern. Niemand
rührte sich. Die Gestalten an der Bar saßen bewegungslos und warteten, die Hand am Messer. Ich stand auf. Ich zitterte immer noch am ganzen Leib. Durch die Rauchschwaden ging ich vor zu den purpurnen Seilen, welche Zuschauer und Teilnehmer trennten. Als ich über die Seile sprang, vernahm ich hinter mir das Gemurmel der Zuschauer, die eine Sensation witterten. An der Bar bewegte sich niemand. Nur das Geräusch meiner Füße auf den Sägespänen war zu hören. Sorgfältig wählte ich einen Platz am hinteren Ende der Bar. Der Barkeeper kam mir lächelnd entgegen. »Wohl lebensmüde, wie? Keine Waffe?« »Nein«, sagte ich kurz. Er brachte Wein. Drei Hocker weiter wandte mir ein Mann in brauner Geschäftstunika den Kopf zu. »Auf Kosten des Hauses«, sagte der Barkeeper heiter. »Nach den Regeln dürfen Sie einmal trinken, bevor Sie zur allgemeinen Beute werden. Selbstmorde sind hier selten. Vor einem Monat.« »Hau ab!« sagte ich. Gekränkt entfernte er sich. Der kleine Mann zu meiner Linken befeuchtete seine Lippen und lächelte. »Vergangene Woche habe ich zum erstenmal einen Menschen getötet.« Er kicherte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es war, als es noch keine Haßbars gab. Vor kurzem war ich dem völligen Zusammenbruch nahe. Mißerfolg im Geschäft, Unglück in der Liebe, alles ging schief. Doch jetzt bin ich ein neuer Mensch. Ich bin jemand. Ich habe einen Menschen getötet! Verstehen Sie?« »Sehen Sie sich manchmal die Fernsehprogramme an?« fragte ich. »Alles Quatsch! Konservenpropaganda für Kinder und alte Weiber«, ereiferte er sich.
Ich hob mein Glas. Seine Hand umklammerte sein Messer. Ich nippte an meinem Wein. Die Hand des kleinen Mannes zuckte vor. Stahl glitzerte. Die Reaktionszeit eines Androiden ist viel kürzer als die eines normalen Menschen. Wir reagieren schneller, ganz besonders Schauspieler. Ich packte das Messer mitten in der Luft und hielt es mit Daumen und Zeigefinger zwei Zentimeter von meiner Kehle entfernt fest. »Ganz nett«, lachte der Barkeeper. »Nach den Regeln des Hauses gehört er Ihnen. Stoßen Sie es ihm in den Bauch.« Der Adamsapfel des kleinen Mannes hüpfte auf und nieder. »Nein!« kreischte er. »Das gilt nicht! Habt ihr gesehen, wie er das Messer gepackt hat? Er ist Android!« Die Augen des Barkeepers glitzerten böse. »Stimmt das?« »Klasse XQ9«, sagte ich. Drohendes Gemurmel erhob sich. Ich konnte den Haß fühlen, der mir wie eine Woge entgegenschlug. Verzerrte Gesichter, haßerfüllte Blicke. Ich stieß das Messer in die Bartheke, daß es zitternd stecken blieb. »Raus!« rief der Barkeeper. Ich ging. Mir war zum Erbrechen übel. Ich mußte an Paul denken.
Am nächsten Tag half ich Paul beim Einzug in unsere Wohnung. Er war sehr gut aufgelegt, und Lisa strahlte vor Glück. Ich weiß nicht mehr, wann ich den Entschluß faßte, Paul zu töten. Vielleicht an jenem Nachmittag nach der Probe, als ich die beiden hinter der Bühne über mich reden hörte. »Heute morgen habe ich mit Latham gesprochen«, vernahm ich Pauls Stimme. »Der Ausschuß wird die Aufführung bald wieder absetzen.« »Aber es ist doch ein ausgezeichnetes Programm«, sagte Lisa erstaunt. »Midge sagt…«
»Midge hat bald ausgepfiffen. Latham hat ihn gebeten, die Vorstellung etwas zu ändern. Er hat es abgelehnt. Das Publikum verlangt Handlung, nicht diesen verwässerten Schmus, den wir ihm vorsetzen. Ich möchte, daß du dich von Midge scheiden läßt.« »Aber Paul!« »Du liebst ihn gar nicht, hast ihn niemals geliebt. Gestern habe ich ein Angebot bekommen, in der Stadt in einer der exklusivsten Haßbars aufzutreten. Fünfhundert Kredit die Woche! Wir werden eine Doppelnummer aufziehen, du und ich.« Leise kam die Antwort: »Die Haßbars werden bald geschlossen werden.« Sein Lachen klang häßlich. »Kaum. Da müßte Midge seinem Publikum schon etwas Besseres zum Ausgleich bieten. Und das wird er nie.« Wie betäubt wankte ich über die Bühne, als ihre Stimmen verklungen waren. Es schien, als wäre etwas in mir gestorben. Vor dem Käfig des Zarl verweilte ich. Das unbeschreibliche Ungeheuer rüttelte an den Stäben seines Käfigs und starrte mich an. »Wie lange noch?« fragte der Zarl lautlos. Diese Tiere besitzen die Gabe der Telepathie. »Etwa sechs Stunden. Friß dein Fleisch.« »Es ist präpariert. Es betäubt meine Reflexe, damit du mich ohne Gefahr für dich töten kannst.« »Wenn du nicht frißt, mußt du verhungern.« Es gibt nichts Schlimmeres für einen Zarl, als verhungern zu müssen. »Ich hasse dich«, dachte der Zarl. »Du haßt jeden.« »Dich am meisten. Du hast dir die Vorstellung ausgedacht. Jede Nacht muß ein Zarl sterben.« Ich starrte das Ungeheuer an. Langsam nahm der Gedanke Gestalt an. »Was hältst du davon, ein letztes Mal töten zu dürfen, bevor du selbst stirbst?« fragte ich leise.
Der Zarl hob die Schnauze und sah mich mit großen, gelben Augen an. Dann grinste er so grauenerweckend, daß ich den Blick abwenden mußte. »Den Mensch«, entgegnete er. »Den anderen. Du haßt ihn.« »Ja«, gab ich zur Antwort. »Wirst du das präparierte Fleisch entfernen?« »Ja.« Er starrte mich ausdruckslos an. »Abgemacht.« Den Abend werde ich nie vergessen. Als Lisa mir eröffnete, daß sie sich von Paul wieder scheiden lassen wolle, daß sie ihn nie richtig geliebt habe, wollte mir das Herz stehenbleiben. »Ich liebe ihn nicht, wirklich nicht.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du willst dich wirklich scheiden lassen?« fragte ich wie benommen. »Schnell, Midge, dein Auftritt. Ich werde dir später alles sagen.« Ich stolperte in die Arena. Ich wollte Paul etwas zurufen, ihn warnen. Ich wollte zum Käfig des Zarl laufen und ihn verriegeln. Aber als Schauspieler hatte ich keine andere Wahl, als weiterzuspielen. Die Vorstellung muß weitergehen! Midge der Clown, der singt, jongliert, auf den Händen läuft und auf dem Drahtseil tanzt. Ich hätte es nicht tun sollen. Nur ein blinder Narr konnte an Lisas Liebe zweifeln. Sie liebte mich. Sie würde mich immer lieben. Narr! Narr und Mörder! Und nun war es zu spät. Paul und Lisa standen in der Mitte der Manege und sangen ihr letztes Duett, während der Zarl in seinem Käfig zum Sprung ansetzte. Die Käfigtür öffnete sich, und der Zarl brüllte. In gespielter Panik stürzten die Clowns davon. Lisa schrie auf. Es gehörte zur Aufführung, daß der halbbetäubte Zarl sich aus dem Käfig auf Lisa stürzte. Bevor er sie erreichte, tötete ich ihn. Aber diesmal sprang das Ungeheuer ungeschwächt aus seinem Käfig. In wildem Lauf stürzte es auf Lisa zu. Ich sprang in die Manege, um den Angriff des Untiers auf Paul
abzuwehren. Zu spät begriff ich, daß es der Zarl nicht auf Paul abgesehen hatte, sondern hinter Lisa her war. Und die Tragödie nahm ihren Lauf. Lisa versuchte zu fliehen, stolperte und fiel. Der Zarl stand über ihr. Sie hörte auf zu schreien; für immer. Der Zarl hob die Schnauze und grinste mich an. Ich tötete ihn mit den bloßen Händen. Mit gebrochener, scheußlicher Stimme sang jemand Vesti, während der Vorhang fiel. Es war meine Stimme. Das große Finale. Paul schluchzte, als die Bühnenarbeiter Lisas Leiche forttrugen. Jemand schüttelte mich. Es war Latham. Sein Gesicht war feucht von Tränen. »Sie haben es geschafft«, keuchte er. »Prachtvoll! Welch große Schauspielerin Lisa war! Als mir der Zarl heute nachmittag davon berichtete, wollte ich es erst nicht glauben.« »Der Zarl hat es Ihnen erzählt?« fragte ich fassungslos. Er schien mich nicht zu hören. »Das hat der Aufführung gefehlt; Lisas Tod am Schluß, die große Tragödie. Sie sind ein Genie, Midge. Sehen Sie sich die Reaktionslampen an!« Die Reaktionsanzeiger leuchteten in einem tiefen Purpur und tauchten die Arena in blutrotes Licht. »Der Ausschuß hat eben angerufen«, fuhr Latham fort. »Die Aufführung war ein Bombenerfolg. Innerhalb einer Woche werden alle Haßbars geschlossen sein; der Kampf für die gute Sache ist gewonnen, Midge! Hier ist Lisa II, frisch aus der Retorte.« Ich sah Lisa II an, und mir war alles klar. »O Gott«, flüsterte Paul und brach in hysterisches Gelächter aus. Lisa II war reizend anzuschaun. Sie sagte mit einem scheuen Lächeln: »Ich hoffe, daß es morgen bei der Probe klappen wird. Ich werde zwar nicht so gut sein wie Lisa I, aber ich werde bestimmt mein Bestes geben.« »Probe«, murmelte ich benommen.
Die letzte Probe ihres Lebens. Generalprobe für den Tod. Morgen abend, den Abend darauf, jeden Abend würde ich Lisa sterben sehen. Doch die Vorstellung muß weitergehen.