ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 14 von Jonathan Blake Mackenzie Lawrence O’Donnell H. Beam Piper
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 14 von Jonathan Blake Mackenzie Lawrence O’Donnell H. Beam Piper
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2889 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heinz Nagel und Leopold Voelker Erstmalig in deutscher Sprache
Umschlagillustration: Fawcett, Inc. Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02889 6
Die Bilder wirkten schockierend: ein unmenschliches Ungeheuer zog einem jungen weiblichen Menschenkörper die Haut ab. Die Aufnahmen waren auf dem Planeten Vangomar gemacht worden, auf dem die Menschen eine Niederlassung gegründet hatten. Und auf Vangomar fand keiner etwas dabei, wenn menschliche Wesen wie Schlachtvieh zerlegt wurden… GESETZ DER WILDNIS von Jonathan Blake Mackenzie Die Erde war für immer zerstört, im atomaren Feuer verglüht. Auf der Venus, unter der Oberfläche der stürmischen Meere des Wasserplaneten, machte die Menschheit in Kuppelstädten einen neuen Anfang. Es war nicht gelungen, Eroberungskriege völlig abzuschaffen. Man hatte sie jedoch begrenzt und strikte Regeln aufgestellt… AUS DER TIEFE EMPOR von Lawrence O’Donnell Die Expedition von der Erde fand nur Ruinen auf dem Mars, verstaubte Zeugen einer einst blühenden Kultur. Das Schicksal der Marsbewohner würde für immer ein Geheimnis bleiben, wenn es nicht gelang, ihre Schriftzeichen zu entschlüsseln… DER UNIVERSALSCHLÜSSEL von H. Beam Piper
Jonathan Blake Mackenzie GESETZ DER WILDNIS
Die Fotos waren erschütternd – und mehr als das. Auf das durchschnittliche menschliche Vorstellungsvermögen wirkten sie ekelerregend, obszön, widerlich. »Der Magen dreht sich mir um, wenn ich sie ansehe!« hatte Mrs. Dennis Barlow gesagt, als sie Dr. Paul Heroa den Umschlag gereicht hatte. Dr. Heroa hatte den Umschlag genommen und die Bilder herausgeholt. Er war bereits weit über hundertsechzig, und das machte ihn selbst bei der besten geriatrischen Behandlung zu einem alten Mann. Er hatte viele Dinge gesehen und getan, die wahrscheinlich Mrs. Blanche Barlow schockiert hätten. Seine Reaktion auf die Fotos war daher vergleichsweise mild. Dennoch mußte er sich selbst eingestehen, daß sie nicht gerade zu den Bildern gehörten, die man sich ohne weiteres ins Wohnzimmer hängte. Insgesamt waren es elf verschiedene Aufnahmen. Aber alle gehörten zusammen. Es waren gewöhnliche Farbfotos, mit einem guten Objektiv aufgenommen und auf 24 X 36 cm vergrößert. Die Bilder waren flach, und das machte sie noch schrecklicher. Stereo-Abzüge ließen die Gegenstände immer etwas puppenhaft plastisch erscheinen, und das nahm den Bildern leicht den Eindruck der Aktualität, den ein gutes Foto eigentlich vermitteln sollte. Beim fünften Bild hielt Dr. Heroa inne. Er wußte, daß Mrs. Barlow und ihr Mann ihn beobachteten.
Schließlich war es der Mann, Dr. Barlow, der das Schweigen brach. »Das hat mich auch am meisten erschüttert, Dr. Heroa. Den Rest könnte ich noch ertragen, aber ein Mädchen wie das –« »Und dieses schreckliche Monstrum!« fügte Mrs. Barlow hinzu. Das schreckliche Monstrum wirkte auf den Laienbetrachter wirklich schockierend, das mußte Dr. Heroa zugeben. Der Körper war in seiner Form irgendwie katzenhaft, aber die Beine waren eine Mischung aus Panther und Frosch. Der Kopf erinnerte an einen Tiger, gleichzeitig aber auch an einen Hai – obwohl da nur vier scharfe Reißzähne waren; der Rest waren Mahlzähne, und das wies darauf hin, daß das Wesen ein Allesfresser war. Die Augen waren groß und rund und hatten schwere Lider. Statt Schultern besaß das Geschöpf ein kragenartiges Gebilde, aus dem acht dicke, muskulöse Tentakel herauswuchsen. Aber das war gar nicht das eigentlich Schreckliche. Das eigentlich Schreckliche war, was die Tentakel taten. Das Mädchen hing mit gespreizten Beinen an den Knöcheln von zwei Haken in der Decke herab. Es war nackt. Genauer gesagt, es war mehr als nackt, und das mußte bei jedem gesunden männlichen Wesen einen Schock auslösen. Sie besaß keine Haut mehr, und die Instrumente, die die Tentakel hielten, waren Messer. Dr. Heroa sagte nichts, sondern sah sich die anderen Fotos an. Ebenso wie die ersten fünf zeigten sie ähnliche Szenen aus einem Schlachthof. Als er fertig war, legte Dr. Heroa die Fotos auf seinen Schreibtisch mit der Bildseite nach oben und sah zuerst Dr. Dennis Barlow und dann dessen Frau Blanche an. Barlow war achtunddreißig und hatte ein hart geschnittenes Gesicht – nicht
gerade hübsch, aber jedenfalls männlich genug, um auf die meisten Frauen attraktiv zu wirken. Blanche Barlow war sechs Jahre jünger, hatte goldblondes Haar, eine prächtige Figur und ein auffällig schönes Gesicht. Man hätte sie ebensogut für vierundzwanzig halten können. Ehe er etwas sagen konnte, sprach die Frau. »Wußten Sie, daß so etwas hier auf Sandarot vor sich geht? Hat man Sie davon informiert, daß hier menschliche Wesen geschlachtet werden, Dr. Heroa?« Dr. Heroa runzelte die Stirn. »Wenn von den Darota menschliche Wesen getötet werden, so habe ich das bestimmt nicht gewußt«, sagte er vorsichtig. »Jedenfalls hat man uns keine Todesfälle dieser Art gemeldet. Auf dem ganzen Planeten leben etwa nur eine dreiviertel Million menschlicher Wesen, und es hätte sich bestimmt schon länge herumgesprochen, wenn man Menschen schlachtete.« »Wollen Sie damit sagen, daß diese Fotos – äh – künstlich hergestellt… gefälscht sind?« Heroa unterdrückte ein schwaches Lächeln. Er wußte, daß die Barlows nicht eine zweihundert Lichtjahre weite Reise unternommen hatten, bloß weil sie Fotos besaßen, die vielleicht gefälscht worden waren. Die Frau wollte bloß wissen, ob dieser senile, dumme, schwachsinnige alte Doktor Heroa sich einbildete, sich aus einer solchen Klemme mit Lügen herauswinden zu können. Er unterdrückte also sein Lächeln und hob die Brauen. »Gefälscht? Aber nein, Mrs. Barlow. Wer sollte denn so etwas tun?« »Sie sagten gerade, Sie wüßten nicht, daß hier Menschen geschlachtet werden«, erklärte sie. Also gut, Gnädigste, dachte er bei sich, wenn Sie Ihr Spielchen treiben wollen, dann mache ich eben mit. Schließlich hatte er gute hundert Jahre Erfahrung mehr als sie.
Er deutete auf die Fotos. »Sie meinen das da? Das habe ich nicht gesagt.« »Sie sagten, wenn die monströsen Darota hier Menschen schlachteten, wäre das schon lange bekannt geworden.« Ihre blauen Augen blickten verärgert. »Ich glaube, Sie haben mich falsch zitiert«, sagte er, und seine Stimme klang verweisend. »Ich bin ganz sicher, daß ich die Darota nie monströs genannt habe.« Und dann bohrten sich seine braunschwarzen Augen in die ihren. »Und was hat das mit diesen Fotos zu tun?« Ihre Augen blickten weiter verärgert, und ihre Mundwinkel waren jetzt weiß. »Ich verstehe«, sagte sie, und ihre Lippen waren dabei ganz schmal. »Sie sprechen also den Eingeborenen von Sandarot den menschlichen Status ab.« »Den meisten von ihnen schon«, sagte Heroa. »Es gibt ein kleines Insekt mit all den schlechten Eigenschaften eines Moskitos, das ich für besonders unmenschlich halte.« »Dr. Heroa!« brauste sie plötzlich auf, »treiben Sie hier keine Wortspiele mit mir! Sie wissen ganz genau, was ich meine!« »Blanche – « mischte ihr Mann sich ein. Aber Heroa unterbrach ihn. »Nein, gnädige Frau, ich weiß nicht, was Sie meinen! Eingeborene? Was für Eingeborene? Nun schön, ich will keine Wortspiele mehr mit Ihnen treiben, wenn Sie aufhören, mit vagen Begriffen, wie Eingeborene zu argumentieren.« »Ich lasse mich doch nicht – « »Blanche, jetzt reicht’s!« Dr. Dennis Barlow sprach nicht laut, aber seine Stimme klang fest und ließ keinen Zweifel daran, daß er gewohnt war, sich Gehör zu verschaffen. Seine Frau sah ihn verärgert von der Seite an, schwieg aber. Dennis Barlow sah gar nicht zu ihr hin. Sein Blick war auf Dr. Heroa gerichtet.
»Dr. Heroa, meine Frau und ich haben die Berichte über die bedeutenderen Lebensformen auf diesem Planeten sorgfältig studiert. Trifft es denn nicht zu, daß die amphibischen, tentakeltragenden Darota nicht nur die eingeborenen Humanoiden versklavt haben, sondern sie auch schlachten und essen?« »Schlachten und essen, ja«, sagte Dr. Heroa ruhig. »Aber sie versklaven? Kaum. Es gehört ein gewisses Maß von Intelligenz und ein gewisses Maß an Verständnis dazu, um ein Sklave zu werden. Wenn man den Sinn des Wortes etwas weit faßt, könnten Sie zum Beispiel sagen, daß unsere Urahnen das Pferd versklavt haben. Aber den Bengaltiger und den Wolf – den nie.« »Sie sind nicht etwa Anthropologe, Dr. Heroa?« sagte Dr. Barlow. Er formulierte das wie eine Frage, meinte es aber nicht so. »Nein.« Heroa schüttelte den Kopf. »Mein Fachgebiet ist die politische Soziologie. Ich bin hier, um sicherzustellen, daß die Kolonie des Homo Sapiens terrestrialis im soziologischen Sinne nicht durchdreht, wie es auf Fangomar passiert ist.« »Und auch kein Biologe?« fragte Barlöw weiter. »Nein, auch kein Biologe.« »Hm-m-m. Den Berichten zufolge betrachten Sie die eingeborenen Humanoiden als Tiere. Die Darlington-Stiftung ist nicht der Meinung, daß Sie oder sonst jemand hier auf Sandarot qualifiziert sind, eine solche Behauptung aufzustellen. Ich bin Biologe – oder, genauer gesagt, Zoologe. Meine Frau ist Anthropologin. Wir sind beide qualifiziert und, wenn ich das sagen darf, auf unseren Fachgebieten bekannt und geschätzt. Ebenso wie Sie auf dem ihren. Die Stiftung hat uns hierher geschickt, um eine wissenschaftliche Untersuchung über die Lage der Spezies anzustellen, die wir vorläufig Homo Sapiens sandarotorum genannt haben. Wir hatten daran
gedacht, Sie um Ihre Unterstützung zu bitten, aber offenbar sind Sie davon überzeugt, daß es nur Tiere sind.« »Mein lieber Dr. Barlow«, sagte Heroa ruhig, »es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen jede gewünschte Unterstützung zuteil werden zu lassen. Ihre Papiere sind in Ordnung. Ihr Auftrag eindeutig. Wenn Sie unterstellen, daß ich Ihnen meine Unterstützung verweigern würde, nur weil ich Ihre persönlichen Vorurteile nicht teile, ist das eine Ungerechtigkeit, die an eine persönliche Beleidigung grenzt.« »Ich habe keine Vorurteile, weder in der einen noch in der anderen Richtung!« brauste Barlow auf. »Meine Frau auch nicht. Wir sind lediglich hier, um dafür zu sorgen, daß einem jedem Gerechtigkeit widerfährt.« »Genau«, pflichtete seine Frau ihm bei. »Wir wollten Sie nicht beleidigen, Dr. Heroa. Übrigens, darf ich Sie etwas fragen?« Jetzt kommt natürlich eine persönliche Frage, dachte Heroa. Eine solche Bemerkung leitet immer eine persönliche Frage ein. »Eine ehrliche Frage hat mich noch nie beleidigt«, sagte er, »es sei denn, eine wahrheitsgemäße Antwort würde Sie beleidigen.« Das ignorierte sie. »Sie sind, glaube ich, Neuseeländer, und stammen von Maoris ab?« »Das stimmt.« »Dann sollte man eigentlich glauben, daß Sie für die eingeborenen Menschen mehr Mitgefühl empfinden, wenn man bedenkt, wie Ihre eigenen Vorfahren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert von den Briten behandelt wurden.« »Zunächst, Mrs. Barlow: meine Vorfahren wurden von den Briten nie versklavt oder verspeist – obwohl ich die Möglichkeit nicht bestreiten möchte, daß ein oder zwei meiner Ahnen sich irgendwann einmal an einem Engländer gütlich getan haben. Zum zweiten: wir haben das Recht, als
menschliche Wesen mit den Rechten von Menschen anerkannt zu werden, durch unsere Fähigkeit der Anpassung und durch unseren Mut im Krieg erworben. Wir haben die Briten gezwungen, das anzuerkennen; man hat uns dieses Recht nicht auf einem silbernen Tablett gereicht. Und drittens: die Maori waren schon vorher Menschen, wenn ich das so sagen darf.« Blanche Barlows Lippen wurden wieder ganz schmal, aber sie sagte nichts. »Ich glaube, es hat keinen Sinn, diesen Streit fortzusetzen«, fuhr Dr. Heroa fort. »Damit läßt sich nichts beweisen – weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Anstatt mit unseren persönlichen Gefühlen zu argumentieren, sollten wir uns auf wissenschaftliche Tatsachen stützen. Sie sind hier, um diese Tatsachen zu überprüfen. Wir wollen also nicht streiten, sondern ein Programm für Sie vorbereiten. Das sollten wir diskutieren. Sagen Sie mir also, was Sie brauchen, um Ihre Arbeit verrichten zu können.« Er brauchte noch zehn Minuten diplomatischer Verhandlungstaktik, bis der finstere Blick von ihren Gesichtern wich und einem freundlichen Lächeln Platz machte. Weitere zwei Stunden waren nötig, um Vorbereitungen für die Studien zu treffen, die sie anstellen wollten.
»Gar kein übler Kerl«, meinte Dennis Barlow, als er und seine Frau Dr. Heroas Büro verlassen hatten. »Dogmatiker ist er eben«, sagte Blanche entschieden. »Aber«, räumte sie ein, »ich habe schon viele Dogmatiker kennengelernt, und manche davon sind, abgesehen von ihrem Dogma, ganz vernünftig und sogar nett.« An der Lifttür drückte Barlow auf den Knopf. Hier gab es keine Grav-Schächte; auf Sandarot herrschte noch die altmodische Elektrizität. Die dreiviertel Million Erdkolonisten
war erst seit fünfundzwanzig Jahren auf dem Planeten, wenn auch schon vorher fünfunddreißig Jahre lang eine kleine Gruppe Wissenschaftler auf dem Planeten gelebt hatte. Es braucht Zeit, Geld und Mühe, um eine lebensfähige Kolonie auf einem fremden Planeten zu errichten, und deshalb haben die Lebensnotwendigkeiten natürlich den Vorrang vor Luxus. Dennis und Blanche Barlow warteten geduldig, bis der Aufzug in den sechsten Stock heraufkam. Als die Tür sich öffnete und ein tentakeltragendes Ungeheuer heraustrat, stieß Blanche einen kleinen Schrei aus und wurde ohnmächtig. Ihr Mann hatte gerade noch die Geistesgegenwart, sie zu packen und mit beiden Armen gegen die Wand zu drücken, als der Darot mit pantherähnlichen Schritten vorbeiging.
Dr. Heroa blickte auf, als sein Türknopf sich zweimal klappernd drehte. »Herein und willkommen«, rief er. Er wußte, daß draußen ein Darot stand. Knochenlose Tentakel sind nicht dazu geeignet, an eine Tür zu klopfen. Deshalb hatten die Darota sich eine eigene Methode ausgedacht, um sich anzumelden. Daß die Erdmenschen das Bedürfnis nach Zurückgezogenheit hatten, ein Bedürfnis, das sie nicht teilten, hatten sie bald erkannt. Der Knopf drehte sich erneut, und das Wesen trat ein. »Ello, Dr. Eroa. Ich nehme Ihre Gastfreundschaft an.« Dem Darot fiel es schwer, ein H zu sprechen; meistens kam es etwas verzerrt heraus. Etwa wie ein Ch. Manche Darota sprachen es so aus; andere ließen es einfach weg. Es war Geschmackssache. »Hallo, Gundurut! Was führt Sie zu mir? Ich dachte, Sie wollten noch einen Hunderttag bei den großen Sandbänken verbringen.«
»Es ist etwas dazwischengekommen, Doktor«, sagte Gundurut und bildete mit den Enden seines vorderen Tentakelpaares einen kleinen Kreis. »Ich wollte es mit Ihnen besprechen. Aber zuerst möchte ich Ihren neuen Leuten mein Bedauern ausdrücken.« »Oh«, sagte Heroa. »Sie sind den Barlows begegnet.« »Ja, im Flur. Als ich aus dem Lift trat. Da sie offenbar erschreckt und verängstigt waren, habe ich so getan, als hätte ich sie nicht bemerkt.« »Ich werde Ihre Entschuldigung weiterleiten«, sagte Dr. Heroa, »obwohl sie natürlich nicht nötig ist. Das ist eine ganz automatische Reaktion von Menschen, die noch nie einen Darot gesehen haben.« »Natürlich«, pflichtete Gundurut ihm bei. »Unsere Leute, die noch nie einen Menschen gesehen haben und noch nichts von ihrer Existenz gehört haben, reagieren genauso. Hat man diesen Leuten denn nichts gesagt?« »Vielleicht nicht genug«, antwortete Heroa. Die Behauptung war wörtlich genommen sogar richtig, überlegte er. »Man hat sie nur unzureichend informiert. Ich muß mich bei Ihnen dafür entschuldigen, daß das übersehen wurde.« »Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Gundurut und drehte eine Tentakel spitze. Er hielt die Enden geschlossen, wie die meisten Darota das taten, wenn sie sie nicht für irgendeine feine Arbeit brauchten. Auf die Weise sahen sie wie die Arme eines Kraken aus. Aber wenn die Arbeit es verlangte, öffnete sich jede Tentakelspitze wie eine Blume, spaltete sich in fünf tentakelhafte Finger oder, genauer gesagt, Daumen, da man alle fünf wie Daumen gebrauchen konnte. »Aber das bringt mich auf eine Frage. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es auf Ihrer Heimatwelt ein wildes Lebewesen geben muß, das uns in mancher Hinsicht gleicht. Ich möchte gern wissen, ob meine Vermutung zutrifft.«
»Das stimmt«, sagte Heroa vorsichtig. Er wollte Gundurut nicht belügen. »Es ist ein Meerestier und nicht amphibisch wie Sie, aber es hat acht Fangarme und wird von uns Menschen gefürchtet. Es ist natürlich ein Fleischfresser.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Man nennt es Krake oder Oktopode.« Gunduruts hai-tigerähnlicher Mund verzog sich zu einem Grinsen, und dann gurgelte tief in seiner Kehle etwas, das man als Lachen bezeichnen konnte. »Deshalb also nennt ihr uns Oktopussy.« »Zum Teil«, räumte Heroa ein. Jetzt sehr vorsichtig! »Aber es handelt sich um eine Wortzusammensetzung. Die andere Hälfte ist ›Pussy‹, und man versteht darunter auf der Erde ein kleines warmblütiges Pelztier, das mit vielen Menschen in einer Art Symbiose lebt.« Gundurut blickte interessiert. »Wirklich? Und worin besteht der… der Mechanismus?… Handelsvertrag? Ich glaube, das ist nicht der richtige Ausdruck.« »Die Vereinbarung«, sagte Heroa. »Ja. Was bietet einer dem anderen, wenn ich die Frage stellen darf?« »Aber natürlich. Der Mensch bietet Sicherheit, Unterschlupf. Nahrung und Zuneigung, und die Katze – das ist ein anderes Wort für Pussy – bietet Freundschaft, gefühlsmäßige Wärme, Anlehnung. Sie müssen verstehen, daß Katzen keine besonders hohe geistige Kapazität besitzen; es handelt sich mehr um eine gefühlsmäßige Gemeinschaft.« »Ah, ich begreife! Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.« Und dann spalteten sich die Spitzen seiner beiden Vordertentakel in fünf fingerlange Glieder, und er verschränkte sie, ähnlich einem Menschen, der die Hände über der Brust faltet. Die Geste bedeutete soviel wie: Höflichkeiten haben wir jetzt genug getauscht; nun möchte ich von wichtigen Geschäften sprechen.
Heroa hob die Hände und faltete sie in Brusthöhe, um damit anzuzeigen, daß auch er bereit war, ein geschäftliches Gespräch zu führen. Innerlich empfand er Erleichterung. Die Darota hatten keinen Sinn für physische Abgeschiedenheit, aber dafür ein um so stärkeres Bedürfnis nach geistiger Abgeschiedenheit. Nicht, daß sie nicht neugierig gewesen wären; ihre Neugierde war sogar sehr stark entwickelt. Aber ihre Ethik verbot es, daß diese Neugierde das Privatleben eines anderen beeinträchtigte. Ein Darot ergründete alles, was die physische Welt anzubieten hatte. Fast jeder intelligente erwachsene Darot konnte einen Gegenstand, den er noch nie zuvor gesehen hatte – zum Beispiel eine mechanische Armbanduhr –, nehmen und sie nach ein paar Minuten zerlegen und wieder zusammensetzen. Und wenn man einen solchen Gegenstand unbewacht herumliegen ließ, mußte man damit rechnen, daß ein Darot ihn zerlegte und studierte, ohne um Erlaubnis zu bitten. Heroa selbst hatte einmal mit betroffenem Staunen zugesehen, wie ein Darot den ersten Safe geöffnet hatte, der je auf Sandarot angekommen war. Das lag viele Jahre zurück. Es war eine alte Konstruktion gewesen; die neueren auf die Person des Besitzers abgestimmten Geräte, die nach dem Prinzip der Feldsättigung funktionierten, waren für die Wirtschaft der menschlichen Kolonie auf Sandarot zu teuer – und außerdem überflüssig. Die strenge psychologische Auslese der Sandarot-Kolonisten hatten jene Elemente ferngehalten, deren Persönlichkeitsstruktur sie mehr für asoziale Taten und weniger für ehrliche Arbeit geneigt machte. Die Darota waren die erste intelligente nicht-irdische Lebensform, der der Mensch begegnet war, und Heroa hatte darauf bestanden, daß Sandarot von zivilisierten Menschen und nicht von Barbaren kolonisiert wurde. Der Safe war nicht in erster Linie dazu bestimmt, einbruchssicher zu sein; er war als feuersicherer
Behälter für Akten bestimmt. Beton und Stahl waren noch teuer, und die meisten Häuser wurden aus Holz gebaut. Der Safe war ein Würfel mit einer Kantenlänge von einem Meter, der an einer Seite eine Tür hatte. Die Tür war mit einem einfachen Kombinationsschloß versehen. Er gehörte Heroa und stand immer noch in seinem Büro, obwohl das alte Holzgebäude schon lange durch eine Stahlbetonkonstruktion ersetzt worden war. Aber vor zwanzig Jahren hatte Heroa einen Safe für notwendig gehalten. Die Frachtkosten von der Erde waren ziemlich hoch gewesen. Am Tag nach seinem Eintreffen hatte ein Darot Heroa besucht, und der Soziologe hatte telefoniert – damals noch mit einem ›blinden‹ Telefon. Er hatte seinem Besucher mit einer Handbewegung zu verstehen gegeben, daß er warten solle, und sein Gespräch fortgesetzt. Der Darot hatte sich gesetzt. Damals hatte es auch noch kein Wartezimmer gegeben. Er sah zu, wie Miss Deller, Heroas Sekretärin und Assistentin, an der Schreibmaschine arbeitete. Und dann, nachdem er alle wichtigen Informationen über die Maschine in sich aufgenommen hatte, wandte er sich dem Safe zu. Fasziniert musterte er ihn. Miss Deller nahm ein Blatt aus der Schreibmaschine und verließ das Zimmer. Der Darot stand auf und sah sich die elektronische Schreibmaschine an. Sie war noch eingeschaltet, also in Gebrauch und daher tabu. Wieder sah er den Safe an. Er kniete nieder, um ihn gründlicher zu betrachten. Dann blickte er zu Heroa auf, um zu sehen, ob man ihn beobachtete. Gut! Das war der Fall! Seine Tentakelspitze berührte die Stahlwand. Immer noch ließ er Heroa nicht aus den Augen. Heroa sah ihm zu, telefonierte aber weiter. Der Darot öffnete seine fünf kleinen Tentakel und strich damit über die Oberfläche des Safe. Keine Reaktion von Heroa. Der Darot schloß würdevoll und langsam die Augen
und öffnete sie wieder. Das entsprach dem stummen, dankbaren Nicken eines Menschen. »Ja. Natürlich, Charlie«, sagte Heroa ins Telefon. »Ja. Wiedersehen.« Aber er legte den Hörer nicht auf, obwohl das Gespräch beendet war. »Oh, vielleicht«, sagte er. Er wollte sehen, was sein Besucher vorhatte, und er war froh, daß er sich so entschieden hatte. Der Darot tastete und studierte: oben, unten, seitlich, hinten. Dann wieder zurück zur Safetür. Er betastete den feinen Spalt zwischen der Wand und der Tür. Er zog am Handgriff. Nichts geschah. Und dann berührte er das Kombinationsschloß – sehr vorsichtig. Er musterte die Striche. Und dann drehte er langsam, zuerst nach einer Richtung, dann nach der anderen. Einen Tentakel hatte er am Handgriff, den anderen am Drehknopf, einen weiteren an der Skala. Die empfindlichen Fingerchen berührten den Rand, wo die Zahlen eingraviert waren. Die anderen fünf Tentakel berührten den Safe an verschiedenen anderen Stellen und die empfindlichen Finger sammelten Informationen. Er sah aus wie ein Tintenfisch, der eine Auster öffnete, dachte Heroa. Anstelle von physischer Kraft setzte er viel wirksamere Kräfte ein: Beobachtungsgabe und Intelligenz. Heroa redete immer noch in das stumme Telefon. »Nein, Charlie. Natürlich, wenn du meinst.« Miss Deller kam zurück und blieb unter der Tür stehen. Sie sah den Darot an und dann Heroa. Und dann begriff sie die Situation und ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich, als ginge überhaupt nichts Ungewöhnliches vor. Heroa hatte ein paar Mal auf das Wandchronometer gesehen. Und als der Darot schließlich den Griff niederdrückte und die Safetür aufschwang, blickte er erneut auf die Uhr. Von dem Augenblick, da er begonnen hatte, das Einstellrad zu drehen, bis zum Öffnen der Tür waren knapp siebzehn
Minuten verstrichen. In dieser Zeit hatte der Darot sich davon überzeugt, daß das Gebilde ein Behälter war, daß man ihn am Griff öffnen konnte und daß man die Skala in ganz bestimmter Weise manipulieren mußte, um den Mechanismus auszulösen, der die Tür versperrte. Die Empfindlichkeit seiner fingerähnlichen Endtentakel hatte ihm verraten, wann sich ein Sperrbolzen öffnete. Zum Teil war es natürlich Glück gewesen, aber ohne Denkarbeit wäre nichts dabei herausgekommen. Der Darot ignorierte die Papiere in dem Safe. Er untersuchte die Sperrbolzen und die Öffnungen, in die sich diese schieben mußten. Heroa sagte: »Schön, Charlie. Wiedersehen.« Und legte auf. Der Darot blickte schnell auf und erhob sich. Ohne dem Safe einen weiteren Blick zu widmen, schloß er die Tür, drehte das Handrad und zog dann prüfend am Griff. Dabei sagte er: »Danke, daß Sie mir Gelegenheit zum Selbstlernen gegeben haben.« »Aber bitte. Sie wollten mich sprechen?« »Ja. Sind Sie das Cheroa?« Der Gutturallaut anstelle des H war stark. »Ja.« »Ich sein… war… ist… Gundurut. Ich sein… bin!… Ich bin Fisch-Chüter. Man chat mir gesagt, daß ich mit dem Cheroa sprechen soll.« Während der zwanzig Jahre, die inzwischen verstrichen waren, hatte Gundurut seinen Akzent zum größten Teil verloren, aber seine Persönlichkeit hatte sich nicht verändert. Fragen über Mechanismen, über Chemie, Elektronik und Physik; über Astronomie; über alles, das die Welt anzubieten hatte – solche Fragen wurden ohne Zögern gestellt. Aber nie persönliche Fragen. Und ebenso wie alle Darota hielt er eine Frage dann für persönlich, wenn sie etwas mit dem
gesellschaftlichen Zusammenleben, mit emotionellen Reaktionen, mit der Regierung der Erdmenschen, mit Politik, Wünschen, Absichten, Methoden oder Zwecken zu tun hatte; praktisch mit allem, was man für subjektiv, instinktiv oder kulturell halten konnte. Wenn freiwillig Informationen dieser Art geliefert wurden, hörte man aufmerksam zu – aber nie, nie fragte man danach. Heroa hielt es für kennzeichnend für die Beziehung, die zwischen Gundurut und ihm entstanden war, daß dieser Vorbehalt in einem gewissen Maße während der letzten paar Jahre zwischen ihnen abgebaut worden war. Nicht oft und nicht ohne ausführliche Entschuldigungen, aber immerhin gelegentlich kam es vor, daß Gundurut eine solche Frage stellte. Und selbst dann waren seine Fragen nie das, was der durchschnittliche Erdmensch als persönlich bezeichnen würde. Andererseits waren die Fragen, die er soeben gestellt hatte, in gewisser Weise persönlich. Es gab Reaktionen und Gedanken mancher Menschen, die Heroa den Darota noch nicht erklären wollte. Er wollte nicht, daß sie erfuhren, daß die siebenhundertfünfzigtausend Kolonisten auf Sandarot eine sorgfältig ausgewählte Gruppe waren, die sich ziemlich deutlich von den durchschnittlichen Erdmenschen, die zu Hause geblieben waren, unterschieden und die sich noch deutlicher von den durchschnittlichen Asozialen unterschieden, die das Gros der Kolonisten auf anderen erdähnlichen Planeten bildeten, wo man keine fremden Intelligenzwesen vorgefunden hatte. Die Darota, die gelegentlich mit den emotionellen Reaktionen von einigen wenigen der neuen Kolonisten konfrontiert waren, neigten dazu, das für eine unpersönliche Reaktion zu halten. Die Situation, so nahmen sie an, sei analog zu ihrer eigenen Reaktion, als zum erstenmal Erdmenschen auf ihrem Planeten aufgetaucht waren. Die Darota hatten
individuell und im Kollektiv mit Angst und Ablehnung reagiert, als sie zum erstenmal ein menschliches Wesen sahen. Ebenso hätte eine Gruppe menschlicher Wesen reagiert, wenn sie plötzlich einem tollwütigen Wolf gegenübergestanden hätte. Wie lange würde ein menschliches Wesen brauchen, um zu erkennen, daß, völlig unabhängig vom Aussehen, was auf den ersten Blick ein Wolf zu sein schien, seinem Verhalten nach ein vernünftiges Wesen war? Im Durchschnitt, das wußte Heroa, würde es länger dauern, als die Darota gebraucht hatten, um zu erkennen, daß die menschlichen Wesen von der Erde keine Jachus waren, obwohl sie den Jachus auf Sandarot sehr ähnlich waren – äußerlich. Das Wort Iachu war englischen Ursprungs. Die erste wissenschaftliche Expedition hatte die humanoiden Eingeborenen von Sandarot sofort Yahoos genannt, zu Ehren Jonathan Swifts. Nachdem sie diese menschenähnlichen Wesen gesehen hatten, war den Wissenschaftlern auch die Reaktion der Darota beim ersten Anblick eines Erdmenschen verständlich und sogar gerechtfertigt erschienen. Daß die Darota die Unterschiede ebenso wie die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Rassen, die auf zwei so weit voneinander entfernten Planeten entstanden waren, bemerkt und erkannt hatten, war ihnen hoch anzurechnen. Die Darota waren sehr geschickte Beobachter; sie verbrachten die ersten zehn Jahre ihres Lebens als kiemenatmende, fischähnliche Wesen, vergleichbar vielleicht mit kleinen Schildkröten mit Tentakeln. Und im Meer muß man lernen, das Verhalten der Umwelt richtig zu beurteilen. Vor langer Zeit hatten die Nackttaucher in den Meeren der Erde zu beurteilen gelernt, ob ein bestimmter Hai gefährlich war oder nicht. Sie hatten einfach sein Verhalten beobachtet. Jene, die das nicht verstanden, hatten eine weit höhere
Sterblichkeitsrate als jene, die es verstanden. Bei den Darota gab es diesen Prozeß schon seit Jahrtausenden. Und jeder Darot hatte bis zu seinem zehnten Geburtstag mehr Zeit im Meer verbracht als ein Dutzend Taucher von der Erde zusammen in ihrem ganzen Leben im Wasser verbracht hatten. Die Umgebung des Meeres unterscheidet sich wesentlich vom Land. Nur die Oberfläche des Meeres wird vom Wetter beeinträchtigt; in ein paar Faden Tiefe ist die See wie ein Mutterleib. Hagel, Frost, Schnee, Hitze, Trockenheit, ja sogar die Bürde der Schwerkraft gibt es nicht. Selbst Erdbeben und Vulkane, die zwar nicht unbekannt sind, fordern keinen so hohen Tribut wie an der Oberfläche. Die Gefahren, die das Meeresleben zu bewältigen hat, liegen einzig und allein in den anderen Lebewesen ihrer Umgebung. Auf dem Land gibt es viel mehr Todesfälle durch Unglücke als Todesfälle durch Mord mit der Absicht des Verzehrs. Im Meer gilt das Gegenteil. Ein intelligentes Meerestier lernt deshalb ganz andere Dinge als ein intelligenter Landbewohner. Und ein Amphibienwesen wie ein Darot hat den Vorteil, beide Schulen zu durchlaufen. Kein Wunder also, daß Gundurut auf die Existenz einer irdischen Tierart, die den Darota glich, geschlossen hatte. Weshalb sollte auch sonst ein Erdmensch vom Anblick eines Darot erschreckt werden? Warum? dachte Heroa. Ganz einfach, weil menschliche Wesen ihre Fantasie anders einsetzen als die Darota. Die Darota, die sowohl auf dem Land als auch im Meer Gefahren ausgesetzt waren, der Gefräßigkeit der Meeresfauna und den gedankenlosen, aber nichtsdestoweniger mächtigen und tödlichen Naturkräften auf dem Land, mußten ihre Fantasie einsetzen, um mit tatsächlichen, wahrscheinlichen Gefahren fertig zu werden. Heroa wußte noch nicht genau, ob das eine genetische oder eine Eigenschaft war – wenn er auch letzteres
hoffte – aber die Tatsache, daß die Darota in ihrer Literatur den Begriff der Fantasie nicht kannten oder jedenfalls nicht in dem Maße wie die Erdenmenschen, blieb unbestritten. Heroa wäre es daher sehr schwer gefallen, die Reaktion der Barlows zu begreifen, wenn er hätte zugeben müssen, daß, mit Ausnahme der Tentakel, ein Darot überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Oktopoden von der Erde hatte und daß das Anhängsel Pussy des Namens, den der Mensch dem Darot gegeben hatte, mehr eine Lautmalerei war und, wenn er überhaupt eine Bedeutung hatte, sich nicht auf die Hauskatze, sondern eher auf größere Katzenarten der Erde bezog. Als er daher die Hände faltete, um anzuzeigen, daß er bereit war, mit Gundurut über Geschäfte zu sprechen, war er sehr froh, daß der Darot keine weiteren persönlichen Fragen gestellt hatte. Er wartete, daß Gundurut zu reden begann. »Dr. Eroa«, sagte Gundurut, »an den großen Sandbänken geschieht eine Tragödie. Wir wissen nicht, wie wir damit fertig werden sollen.« »Was für eine Tragödie?« fragte Heroa. »Unsere letzte Gruppe von Jungen wird – wird wahnsinnig.«
Blanche Barlow rieb sich müde über die Augen. »Dennis, wenn ich mir jetzt noch ein Band ansehen muß, werde ich entweder blind oder verrückt. Eines von beiden – ich habe mich noch nicht entschieden.« Dr. Dennis Barlow lachte. »Ich bin ganz deiner Meinung, Liebling, aber nur so bekommen wir alle Daten, die wir brauchen.« Er blätterte in einem Notizbuch, das bereits hundert engbeschriebene Seiten enthielt. »Es wird viel Arbeit machen, all das Zeug miteinander in Verbindung zu bringen.« Er griff zu dem Videorecorder und nahm das Videoband heraus. »Das nächste ist – «
»Bitte, Dennis, heute nicht mehr! Wenn ich noch ein Band mit diesen bedauernswerten Leuten sehe, die wie Tiere leben… dann… dann fange ich an zu heulen. Wie können die das bloß zulassen?« Barlow schaltete wortlos das Gerät ab, und der zwei mal zwei Meter große Bildschirm verblaßte zu silbrigem Grau. »Wie können sie es bloß zulassen?« wiederholte sie, und ihre großen blauen Augen musterten das Gesicht ihres Mannes. Die Frage seiner Frau war jetzt noch rhetorisch, das wußte Barlow. Aber er wußte auch, daß sie eine Antwort haben wollte. »Reg dich nicht auf, Liebling«, sagte er sanft. »Sie leben jetzt schon seit Zehntausenden von Jahren so, kann ich mir vorstellen. Noch ein paar Monate – « Er wollte ergänzen: machen auch nichts mehr aus. Aber als er ihren Gesichtsausdruck sah, schaltete er blitzschnell und führte den Satz, beinahe ohne Pause, so zu Ende: »dann werden wir alles ändern.« Ehe sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür des Fernsehraumes, und ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit dunklem Haar und ausgeprägten Geheimratsecken kam herein. Dann blieb er stehen. »Oh, entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich wußte nicht, daß der Bildschirm in Gebrauch war.« Er sprach mit britischem Akzent, den die Jahre, die er fern von England verbracht hatte, etwas gemildert hatten. »Aber das macht doch nichts, Dr. Pendray«, sagte Dennis Barlow und lächelte. »Wir sind gerade fertig geworden.« Blanche Barlow lächelte ebenfalls. »Ja, wir sind fertig für heute, Doktor. Kommen Sie herein. Wir haben den Raum ohnehin länger belegt als wir eigentlich hätten dürfen.« »Aber nicht doch«, sagte Pendray. »Ich habe es gar nicht eilig. Wirklich, überhaupt nicht eilig. Ich wollte mir bloß ein
paar Sektionsbänder ansehen. Das Nervensystem des darotischen Tentakelkomplexes ist sehr interessant. Wenn Sie auch zusehen wollen – « Er ließ den Satz als Einladung in der Luft hängen. »Nein, ich glaube nicht, vielen Dank«, sagte Blanche Barlow. Und dann: »Sagen Sie, wie haben Sie es geschafft, Darotakörper zum Sezieren zu bekommen?« Der Chirurg lächelte. »Nun man könnte sagen, man hat sie uns vermacht. Die Darota bestatten normalerweise ihre Toten im Meer, aber sie sind da nicht dogmatisch. Sie haben gegen unsere Studien nichts einzuwenden.« »Also natürliche Todesfälle?« »Oder Unglücksfälle«, sagte Dr. Pendray. »Haben Sie auch Leichen der Humanoiden seziert?« fragte die Frau. »O ja, einige. Ich kann Ihnen die Bänder zeigen, wenn es Sie interessiert. Ich sehe, Sie haben hier Bänder studiert, die die Humanoiden in ihrer natürlichen Umgebung zeigen. Sehr gute Aufzeichnungen, nicht wahr? Manche sind schon fünfzig Jahre alt. Versteckte Kameras. Vollautomatisch.« »Wie bekommen Sie humanoide Körper zum Sezieren? Werden die auch vermacht?« Sie ließ nicht locker. Dr. Pendray lachte. »Nun, das nicht. Die meisten werden uns von den Darota geliefert. Ein paar sind erschossen worden. Einige sind in der Gefangenschaft gestorben. In der Gefangenschaft leben sie nicht sehr lange. Deshalb fangen wir sie auch nicht mehr. Ich halte es für grausam, wilde Tiere so einzusperren, wenn sie im Käfig doch nur sterben. Und sie pflanzen sich in der Gefangenschaft nicht fort.« Er hielt inne und sah sie an. »Was ist denn, Mrs. Barlow?« »Yahoos – « ihre Stimme klang bitter. »Man braucht jemandem bloß eine verächtliche Bezeichnung zu geben, was, Dr. Pendray? Ihn Nigger oder Rothaut oder Schlitzauge
nennen. Irgendein häßliches Wort, das ihm die Würde nimmt! Nennen Sie jemand ein wildes Tier! Dann ist es wohl auch in Ordnung, ihn zu erschießen, ihn zu schlachten oder einzusperren. Nicht wahr, Dr. Pendray? Nein, vielen Dank, Dr. Pendray! Ich glaube nicht, daß ich mir Ihre Bänder ansehen möchte. Bring mich hier weg, Dennis.« Sie wandte sich verärgert ab und ging auf die Tür zu. Dennis Barlow folgte ihr. »Mrs. Barlow?« Sie blieb stehen, drehte sich halb herum und sah Pendray über die Schulter an. »Ja?« »Sie haben die Bänder gesehen, die die Yahoos in ihrer natürlichen Umgebung zeigen, wo sie sich also normal verhalten?« Seine Stimme klang zwar ruhig, aber man spürte die Erregung. »Ja.« »Mrs. Barlow, man kann einem Organismus nichts nehmen, was er nicht besitzt. Man kann einem Yahoo nicht die Würde nehmen. Man kann einem Yahoo nicht einmal Würde geben. Wenn Sie etwas von diesen Bändern gelernt hätten, dann würden Sie das einsehen. Es wäre wahrscheinlich wirklich Zeitvergeudung für Sie, wenn Sie sich diese Sektionsbänder ansähen, denn Sie würden bestimmt auch davon nichts lernen, weil Sie eine vorgefaßte Meinung haben. Guten Tag, Mrs. Barlow.« Dr. Dennis Barlows Gesicht verfinsterte sich, aber ehe er eine Antwort geben konnte, zog Blanche an seinem Arm, und die beiden gingen ohne ein weiteres Wort hinaus. Dr. Marcus Landau stand gerade im Archiv und stellte zwei Spulen zurück, als die Barlows hereinkamen. Er erblickte sie, ehe sie ihn sahen. Dr. Landau war ein Mann in mittleren Jahren, Anfang achtzig. Seine Haut hatte die Farbe von bitterer Schokolade.
Sein Haar kräuselte sich wie hauchfeiner Silberdraht, und seine sanfte Stimme hatte den weichen Akzent der Bermudas. Neben Dr. Paul Heroa und Dr. James Pendray war er einer der drei führenden Wissenschaftler auf Sandarot. Er hatte Blanche Barlow während der ersten Woche ihres Aufenthalts beobachtet und ihr dann probeweise den Spitznamen »goldene Furie« verliehen. Jetzt, am Ende der zweiten Woche, war die Probezeit um. Es würde bei »goldener Furie« bleiben. Paul Heroa hatte er »alte Lederhaut« getauft, und Jim Pendray »Lord« – aber nur für sich und weil es ihm Spaß machte, solche Spiele mit sich selbst zu treiben. Dieses Spiel nannte er »Charakteretikett«, und es hatte feste Regeln. Keiner bekam ein Etikett, bevor Dr. Landau absolut sicher war, daß alle Leute, die diese Person ebenfalls kannten, das Etikett als zutreffend und richtig bezeichnen würden. Aber wie Aristoteles vermied er es, die Probe aufs Exempel zu machen. Ihm genügte der eigene Gedanke als Beweis. Über Dennis Barlow hatte er noch keine Entscheidung getroffen. »Blanche«, sagte Barlow mit leiser, aber angespannter Stimme, »das war unnötig. Du – « Plötzlich hielt er inne. »Oh, hallo, Dr. Landau.« Aha, er fühlt sich beobachtet! Und das nannte sich Zoologe! dachte Dr. Landau. »Wie geht es Ihnen, Dr. Barlow, Mrs. Barlow«, sagte Landau laut. »Wie kommen Ihre Arbeiten voran? Ich hoffe, unser bescheidenes Forschungszentrum hat Ihnen wenigstens ein Mindestmaß an wichtigen Daten geliefert.« »Oh, mehr als das, Dr. Landau«, sagte Blanche Barlow und lächelte. »Es gibt unendlich viele Daten hier. Das Schwierige wird sein, sie auszuwerten. Übrigens, wann erwarten Sie Dr. Heroa von den großen Sandbänken zurück?«
»Nun, das weiß ich nicht. Ich fürchte, er weiß es auch nicht. Ich habe heute morgen mit ihm telefoniert, und er weiß nicht, wie lange er noch braucht. Er hat mich wieder gebeten, ihn bei Ihnen zu entschuldigen, daß er so schnell nach Ihrer Ankunft abreisen mußte. Falls Sie irgend etwas benötigen, brauchen Sie es mir bloß zu sagen.« »Vielen Dank. Wir werden später ein paar Forschungsreisen machen wollen, aber es wird noch eine Weile dauern, bis wir unsere Pläne etwas mehr konkretisiert haben.« »Natürlich. Kann ich im Augenblick irgend etwas für Sie tun?« Die Barlows sahen einander an. Schließlich sprach Dennis. »Nein, im Augenblick nicht, Dr. Landau. Vielen Dank. Alles läuft bis jetzt reibungslos.« »Freut mich, das zu hören. Ich wünsche Ihnen bei der Suche nach der Wahrheit viel Erfolg.« Er ließ sie stehen und begab sich in den Fernsehraum. Dr. Pendray hatte den Schirm noch nicht eingeschaltet. »Hast du zu tun, Jim?« fragte Landau. »Nichts Dringendes, Marc. Warum?« Landau trat ein und schloß die Tür hinter sich. »Ich habe mich gerade gefragt, was du wohl zu unseren Freunden von der Darlington-Stiftung gesagt hast, um sie so auf die Palme zu bringen«, sagte er und lächelte. »Besonders die Frau.« »Oh, das.« Pendray berichtete ihm von der Unterhaltung mit den Barlows. »Diplomatie, dein Name ist Pendray«, murmelte Landau, als der andere geendet hatte. »Es ist sowieso egal«, sagte Pendray und zuckte die Achseln. »Ich habe das Gefühl, daß sie in Gedanken bereits ihren Abschlußbericht schreibt. In ihrem Inneren hat sie bereits entschieden, was sie der Stiftung berichten wird. Was du oder ich oder sonst jemand auch sagen würde, es wird nichts daran
ändern. Und ihr Mann wird sich ihrer Meinung natürlich anschließen.« »Du hältst also nicht viel von den beiden? Als Wissenschaftler, meine ich.« »Machst du Witze? Es ist nicht das erste Mal, daß ich ihresgleichen begegne. Sie sammeln endlose Mengen von Daten, machen alle möglichen sorgfältig ausgeklügelten Experimente und bereiten Dutzende hübscher kleiner Diagramme und Tabellen vor. Die Anomalien lassen sie natürlich weg – alle jene Daten, die nicht ihrer vorgefaßten Meinung entsprechen. Was dann noch übrigbleibt, wird sorgfältig zurechtgestutzt und hergerichtet, daß es ins Bild paßt. Wie denkt Paul darüber?« »Genau so. Was können wir schon tun? Die DarlingtonStiftung wird den Bericht bekommen, den sie haben will. Mit dem Bericht und den Fotos werden die auf der Erde einen solchen Gestank verbreiten, daß das ganze Sandarot-Projekt daran zugrunde geht. Menschen und Darota werden letztlich darunter leiden.« »Man möchte beinahe wünschen«, sagte Pendray, »daß die Barlows nicht von ihrer geplanten Inspektionstour zurückkehren – obwohl das wahrscheinlich nichts nützen würde.« »Nein, der Gestank würde dann nur etwas anders riechen, aber das Ergebnis wäre dasselbe. Nicht genug damit, daß unter den heranwachsenden Darota diese seltsame Wahnvorstellung ausgebrochen ist. Wir müssen uns jetzt auch noch mit Spinnern in unserer eigenen Rasse herumschlagen.« Er strich sich über die Stirn. »Wer steckt eigentlich dahinter?« fragte Pendray. »Hast du weitere Informationen?« »Nichts, was wir nicht schon vorher wußten. Der einzige Mann, der diese Fotos aufgenommen haben konnte, war
Finnerly von der Industrial Computer Corporation«, sagte Landau. »Aber die sind nicht die einzigen.« »Wer denn noch? Sagtest du nicht, du wüßtest nichts Neues?« »Weiß ich auch nicht. Aber überlege doch. Die ICC setzt doch nicht alles daran, daß Truppen hierhergeschickt werden, um die Yahoos zu schützen, bloß damit sie uns am Ende Computer und Steuersysteme für ein paar MultiphasenWerkzeugmaschinen verkaufen können. Das lohnt doch den Aufwand nicht.« »Du hast recht.« Pendrays Stimme klang verärgert. »Gäbe es die Darota nicht, wäre dieser Planet wie jeder andere. Weit offen und jedem zugänglich. Wir hätten innerhalb von fünf Jahren fünfzig Millionen Menschen hier. Und keine Kontrolle.« »Keine Kontrolle«, nickte Landau. »Aber neue Absatzgebiete für gewisse skrupellose Geschäftemacher. Wir wissen auch, wer nicht dahintersteckt. Keiner von den drei führenden internationalen Gravitech-Giganten. Die greifen nicht zu solchen schmutzigen Mitteln. Dasselbe gilt für die meisten großen Unternehmen. Ich wette, daß keines die ICC unterstützt. Aber es gibt andere, viel zu viele davon.« »Es wird also ein doppeltes Spiel werden«, sagte Pendray. »Sie werden uns an mehreren Stellen gleichzeitig angreifen. Zum einen wollen sie die edlen Yahoos schützen, zum anderen Sandarot für uneingeschränkte Kolonisierung öffnen.« »Man hört geradezu, wie die zwei Hände zusammenklatschen«, sagte Landau trocken. »Ja. Und die einzige nicht-irdische intelligente Rasse, die wir kennen, wird dazwischen zerdrückt. Wir könnten genausogut einpacken und nach Hause fliegen.« »Du hältst also nicht viel von Pauls Plan?«
»Ehrlich gesagt, nein, Marc«, gab Pendray zu. »Er scheint anzunehmen, daß man die Barlows überzeugen kann, wenn man sie mit allen Daten füttert, die sie schlucken können. Aber, verdammt nochmal, Marc, du kannst einen Fanatiker nicht überzeugen, indem du ihm Informationen lieferst. Er glaubt doch nur das, was er glauben will.« »Mein Entschluß steht fest. Bitte, belästige mich nicht mit Fakten«, sagte Landau ironisch. »Genau.« »Aber wir können doch gar nichts tun«, sagte Landau. »Wir können nicht gegen die Darlington-Stiftung kämpfen. Ich bezweifle sogar, ob die Regierung etwas gegen sie ausrichten könnte. Milliarden stehen dahinter – Milliarden an Geld und Milliarden von Menschen. Und sie besteht aus Menschen wie den Barlows: ehrliche, hingebungsvolle, hart arbeitende Fanatiker.« »Ich weiß, ich weiß.« Pendray strich sich übers Kinn. »Und was ist mit Gouverneur Donovan? Was wird er tun?« »Paul hat mit ihm gesprochen. Er hat zugesagt, daß er sich aus der ganzen Sache heraushalten wolle. Wenn das Schlimmste eintritt und der Planet zur Kolonisierung freigegeben wird, kann er als Kolonialgouverneur bleiben und sein möglichstes für den Schutz der Darota tun.« »Das könnte nützen. Aber viel ist es nicht.« Pendray verzog plötzlich den Mund zu einem bösen Grinsen. »Vielleicht wäre ich besser dran, wenn ich von meiner Reise zurückgekommen wäre, wenn das alles schon vorbei ist – wie auch immer es ausgehen mag. Wenigstens hat man draußen andere Sorgen. Im Herzen bin ich einfach kein Städter.« Auch Landau grinste. »Das glaube ich gern. Sonst würdest du Point Garrison keine Stadt nennen. Eigentlich sind wir immer noch ein Dorf.«
»Und doch lebt hier die Hälfte menschlicher Bevölkerung dieses Planeten«, sagte Pendray. »Keine Stadt auf der Erde könnte das von sich behaupten.« »Stimmt. Oh, noch etwas, Jim – « »Ja?« »Ich glaube, es ist besser, wenn wir die Barlows nicht reizen. Das – « »Das stärkt bloß ihren Widerstand – ich weiß, Marc. Ich werde mich bemühen, den freundlichen Arzt und Ratgeber zu spielen. Die Landarztrolle, sozusagen. Aber wenn sie jedes Mal beleidigt wegrennt, sobald sie das Wort Yahoo hört, wird sie die meiste Zeit beleidigt sein.« »Nun, wir können sie natürlich nicht in Watte packen. Ich lasse dich jetzt allein. Vielen Dank Jim.«
Die wenigsten Kolonisten in Point Garrison ahnten etwas von der Gefahr, die Dennis und Blanche Barlow verkörperten. Man hatte die Namen zwar in den Nachrichten erwähnt, aber kaum einer achtete auf sie. In gewissen Kreisen hörte man, daß sie die Lebensgewohnheiten der Yahoos studierten, aber das erregte keine besondere Neugierde. Warum auch? Diejenigen, die den Barlows begegnet waren, sagten, die beiden benähmen sich hysterisch – insbesondere Blanche Barlow –, wenn die Rede auf die Yahoos und deren Intelligenz kam. Und die meisten dieser Leute gingen dazu über, den Begriff ›humanoide Eingeborene‹ anstelle der Bezeichnung Yahoo zu gebrauchen, wenn die Barlows in der Nähe waren. Aber davon abgesehen schienen die Barlows ganz nette Leute zu sein. Frauen fühlten sich zu dem gut aussehenden freundlichen Dennis hingezogen, und den Männern fiel es schwer, die Augen vor Blanches Schönheit zu verschließen. Trotzdem, es waren Ausländer, Besucher, keine Bewohner des Planeten.
Irgendwie fügten sie sich nicht in das gesellschaftliche Leben von Point Garrison ein. Und falls man den Zweck Mission kannte, es störte die Barlows nicht; sie bemerkten es nicht einmal. Sie befanden sich auf Sandarot, um zu arbeiten, nicht um gesellschaftlichen Umgang zu pflegen. Am Ende des ersten Monats beschloß Dennis, eine der kleinen Fabriken der Stadt zu besichtigen: die Garrison Flugzeugwerke. Der Geschäftsführer der Fabrik war ein kleiner, rundlicher Schotte mit hellbraunem Haar namens Fred Doyle. Er empfing Barlow am Eingang und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Barlow! Gouverneur Donovan hat angerufen. Er sagt, Sie wollen sich umsehen. Freut mich wirklich. Kommen Sie nur herein, kommen Sie rein.« Nach ein paar Minuten höflichen Plauderns wurde Dennis Barlow gefragt, wo er anfangen wolle. »Nun, um ganz offen zu sein, Mr. Doyle – « »Nennen Sie mich doch Fred, Dr. Barlow. Schließlich tun das alle.« »Okay, Fred. Ich heiße Dennis. Jedenfalls wollte ich sagen, daß ich heute Zeit habe. Ich wollte daher ein bißchen ausspannen. Meine Frau füttert den Computer im Institut. Da bin ich überflüssig. Eigentlich interessiert mich Ihre Fabrik mehr in meiner Eigenschaft als Zoologe als von der technischen Seite her.« »Nun, wenn Sie mir erklären können, weshalb sich ein Zoologe für die Herstellung schwerkraftumsetzender Antriebsaggregate vom zoologischen Standpunkt aus interessiert, würde ich Ihnen gern helfen, Dennis.« »Ich habe gehört, daß Sie Darota unter Ihren Arbeitern haben, und man hat mir gesagt, daß die Dinge tun können, wozu Menschen nicht fähig sind.«
»Oh!« Fred lächelte. »Ja, natürlich! Kommen Sie nur. Ich führe Sie in die Multiplexdreherei. Das ist das Interessanteste. Ich stelle Ihnen meinen Vorarbeiter Tham vor. Der kann Ihnen zeigen, wie das funktioniert.« Er führte Dennis Barlow in eine riesige Maschinenhalle. Alles war hell beleuchtet, luftig und sauber. Die Halle erinnerte eher an eine Küche oder einen Operationssaal als an eine Fabrik. Barlow brauchte ein paar Minuten, um zu erkennen, daß, soweit er sehen konnte, er und Doyle die beiden einzigen Menschen in der Halle waren. Sämtliche Maschinen wurden von Darota bedient, soweit sie nicht schon automatisch waren. »Tham!« rief Fred einem Darota zu. »Kommen Sie bitte mal her! Ich möchte Sie jemand vorstellen.« Der Darot legte einen Lappen weg und kam mit pantherartiger Grazie auf die beiden Männer zu. »Na, wie geht’s Ihnen heute, Fred?« Seine Stimme übertönte das Summen der Maschinen. »Ganz gut, Tham, ganz gut. Ich möchte Ihnen Dr. Dennis Barlow vorstellen. Dr. Barlow, das ist Tham Novosh, mein Werksleiter in dieser Abteilung.« »Sehr erfreut, Dr. Barlow.« Dann sah er Fred erwartungsvoll an. »Ist eine der Maschinen frei, Tham? Ich möchte, daß Sie Dr. Barlow etwas zeigen, sofern Sie Zeit haben.« »Sicher, Fred; gern. Kommen Sie mit, Dr. Barlow.« Barlow folgte dem Darot, sah sich dabei aber auch die anderen Maschinen an. Insgesamt waren es etwa dreißig und an den meisten stand ein Darot. Alle acht Tentakel bewegten sich gleichzeitig, drehten Schrauben, Knöpfe und Räder. Die Bewegungen waren von einer eigenartigen rhythmischen Schönheit, die Barlow an Meerespflanzen erinnerte, die sich in
einer leichten Strömung bewegten, oder an die Arme eines langsam schwimmenden Kraken. Bei einer der Maschinen angelangt, sagte Tham: »Ich habe sie für einen BJF-37 eingestellt, Fred. Ist das in Ordnung?« »Ja. Zeigen Sie Dr. Barlow den Prüfblock und erklären Sie ihm den Vorgang.« Tham holte aus einer Schublade im Sockel der Maschine ein eigenartiges Metallgebilde. Es hatte etwa die Größe einer Männerfaust, schien aber ganz aus eigenartig fließenden Kurven und gebogenen Flächen zu bestehen. »Wir nennen das einen Prüfblock, Dr. Barlow. Er hat dieselbe Größe und dieselbe Form wie die Spinkupplung in einem Schwerkraftumsetzer. Haben Sie je in die Maschine eines Flugzeugs gesehen?« »Nicht unter die Verkleidung.« »Nun, die Spinkupplung vollführt gleichzeitig verschiedene Bewegungsarten. Das hängt davon ab, ob Sie nach oben oder nach unten, nach rechts oder nach links fliegen, ob Sie rollen, schweben oder kreisen. In einer gewöhnlichen Flugmaschine sind es insgesamt acht Bewegungsarten. Die Bewegungen geschehen alle bei hoher Geschwindigkeit und starker Belastung. Dieses Muster hier besteht aus gehärtetem Werkzeugstahl und nicht aus einer Paramag-Legierung, aber die Form ist dieselbe. Jede dieser Flächen ist eine Steuerfläche für die verschiedenen Bewegungsarten und jede hat eine andere Funktion, wenn die Drehachse verschoben wird. Deshalb sieht das so eigenartig aus.« Tham lachte. »Es hat eine Art formlose Form, könnte man sagen. Aber es muß so sein. Jedes Werkstück muß der Vorlage entsprechen, sonst treten Schwingungen auf, und der Motorblock fliegt auseinander.« Zwei Tentakel stellten das Muster beiseite. Zwei weitere deuteten auf die Maschine. »Und das hier nennen wir eine Multiplexdrehbank. Eine Spinkupplung kann nicht gegossen
werden; man muß sie schmieden und dann spanabhebend bearbeiten.« Zwei weitere Tentakel griffen nach einem Rahmen und holten ein Metallstück heraus. Tham hielt Barlow den Klumpen hin. »Das ist der Rohling. Wir müssen ihn bloß noch bearbeiten. Und das geht so.« Er spannte den Prüf block ein und legte den Rohling in die Spannzange zu seiner Rechten. Ein Taster, der die Fläche des Prüfblocks berührte, wurde eingestellt. Im Laufe des Herstellungsprozesses würde er die abgetasteten Daten an den Mechanismus weitergeben, der die Werkzeugmaschine steuerte. Ein Tentakel berührte einen Schalter, und beide Metallstücke begannen sich zu drehen. Und dann war es plötzlich im Umkreis der Maschine totenstill, als hätte jemand eine dicke Decke darübergeworfen. »Wir müssen die Lärmschlucker einschalten«, erklärte Tham, »sonst wäre es hier zu laut.« Tham nahm zwei weitere Einstellungen vor, und zwei Borazon-Schneider näherten sich dem Rohling. Barlow sah fasziniert zu, wie die Spinkupplung unter den Schneidekanten Gestalt annahm und wie aus dem klobigen Rohling ein Präzisionsteil wurde. Die Schneidewerkzeuge glitten zurück, und die Drehbewegung hörte auf. Tham löste die Spannzange und nahm das fertiggestellte Werkstück heraus. »Jetzt gehen wir zum Komperator und sehen, ob die Maße stimmen.« Als er fertig war, reichte er Barlow die fertige Spinkupplung. »Da haben Sie es, Dr. Barlow. Auf ein tausendstel Millimeter genau. Und jetzt kommt er in eine ähnliche Maschine, wird poliert, und dann ist er ganz fertig.« »Hervorragend«, sagte Barlow mit echter Bewunderung. »Vielen Dank. War sonst noch was, Fred?«
»Das ist alles. Vielen Dank, Tham. Es sei denn, Dr. Barlow hätte noch eine Frage.« »Die einzige Frage, die mir einfällt, ist: Wie haben Sie das gemacht? Ich habe schon genug damit zu tun, zwei Arme und zehn Finger zu koordinieren. Bei dem Gedanken, acht Arme und vierzig Finger gleichzeitig bewegen zu müssen, wird mir ganz schwindlig.« Thams Tigerhaigesicht grinste breit. »Es gehört bloß Übung dazu, Dr. Barlow. Und ich muß Ihnen sagen, ich habe keine Ahnung, wie Sie so komplizierte Arbeiten verrichten können, wo Sie doch überall Knochen haben und Arme und Finger, die Sie nur an bestimmten Stellen und nur in bestimmte Richtungen bewegen können. Ich habe einmal einen Mann gesehen, der von Hand eine Stahlgravur machte, und ich werde nie verstehen, wie er das angestellt hat. Das wäre genauso, als müßte ich diese Maschine mit den Füßen bedienen.« Barlow blickte auf die Füße des Darot hinunter. Er trug Sandalen. Trotzdem sah man, daß er keine Zehen hatte. Jeder Fuß lief vorn spitz zu. Das erinnerte Barlow an die gepanzerten Ritterstiefel des Mittelalters. An der Spitze des Fußes war eine kräftige, gebogene Klaue. »Wenn er an Land ist, legt er die Füße zusammen«, erklärte Fred, dem Barlows Blick aufgefallen war. »Dr. Barlow hat noch nie einen Darot gesehen, Tham. Zeigen Sie ihm, wie Sie die Füße zum Schwimmen auseinanderfalten.« »Aber gern.« Mit drei Tentakeln stützte er sich gegen die Drehbank. Zwei weitere Tentakel zogen die Sandale vom rechten Fuß. Er hob das Bein, so daß Barlow die Fußsohle sehen konnte. Eine Furche führte vom Absatz bis zur Klaue. »Wenn ich im Wasser bin, mache ich auf. So.« Die Furche wurde breiter, und der Fuß faltete sich auseinander, so daß die zwei Hälften, die die Sohle gebildet
hatten, jetzt wie eine Hornhaut nach oben geklappt war. Die neue, jetzt sichtbare Sohle wirkte zart wie eine Membrane. »Dann können Sie also nicht mit auseinandergefalteten Füßen gehen?« fragte Barlow. »Oh, das könnte ich schon«, sagte Tham und faltete den Fuß zusammen und steckte ihn wieder in die Sandale. »Aber nicht sehr weit, sonst würden die Füße wehtun. Ich meine, auf festem Boden. Wenn ich in einem Sumpf bin, wie zum Beispiel unten am Delta, dann kann man natürlich die Füße auseinanderfalten und sinkt nicht ein, aber nur, wenn der Schlamm weich ist, sonst tut’s weh.« »Sehr praktisch«, sagte Barlow. »Jedenfalls«, meinte Fred, »sind ausgebildete Darota sehr geeignet, Multiplexbänke zu bedienen. Erdmenschen könnten das nicht. Nicht einmal vier Erdmenschen. Man hat es versucht. Aber die stehen sich dauernd im Wege herum. Auf der Erde benutzt man einen Computer, der mehr als die ganze Drehbank kostet und beinahe genau so groß ist. Wir haben bloß die Drehbänke gekauft und den Steuermechanismus selbst entworfen und gebaut. Damit haben wir uns den Preis für den Computer und die teure Fracht gespart. Außerdem spart man Reparaturkosten, Wartungskosten und Programmierkosten, falls man ein anderes Teil bearbeiten möchte. Wir zahlen all unseren Angestellten den gleichen Lohn, ob Erdmensch oder Darot. Unser Lohnkostenanteil ist also hoch. Außerdem sind die Maschinen auf die Weise sehr viel flexibler. Einen Computer kann man einstellen, um eine Serie zu fertigen. Ein Darot dagegen kann eine Serie unterbrechen, die Werkzeuge abmontieren, ein Einzelstück herstellen, wieder die Werkzeuge abmontieren und wieder die Serienherstellung fortsetzen. Der Umbau dauert höchstens fünfzehn Minuten. Und das Schöne an der Sache ist, daß das ganze Geld, das sonst für Frachtspesen und Computerkosten draufginge, hier
auf Sandarot bleibt, wo es gebraucht wird, statt zurück zur Erde zu wandern.« »Und ein Teil davon wandert in meine Tasche«, sagte Tham und griff mit einem Tentakel an seine blauen Arbeitsshorts, das einzige Kleidungsstück, das er außer den Sandalen trug. Dennis Barlow erkannte plötzlich, welche Veränderung er in den letzten zwanzig Minuten durchgemacht hatte. Hereingekommen war er mit einem Gefühl des Abscheus. Die Darota in der Maschinenhalle hatten ihn an jene schrecklichen Fotos erinnert. Aber jetzt bemerkte er, daß er in Tham nicht ein tentakelbewehrtes Monstrum, sondern eine Person sah, mit der man sprechen und lachen konnte, jemand, mit dem man vielleicht eines Abends sogar ein Bier trinken konnte. Im Vergleich zur Realität wirkten die Fotos auf einmal schattenhaft und leblos. Ein Glockenton erklang deutlich, aber nicht aufdringlich. »Mittagessen«, sagte Fred. »Bleiben Sie und essen Sie mit uns?« »Nein, vielen Dank, Fred. Ein andermal. Das war wirklich interessant. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Tham.« »Ganz meinerseits, Dr. Barlow. Kommen Sie mal wieder vorbei, wenn Sie mehr Zeit haben, dann können wir Ihnen noch mehr zeigen.« »Natürlich«, sagte Fred. »Dann zeige ich Ihnen die ganze Fabrik. Hier gibt’s eine Menge Dinge zu sehen, die Sie vielleicht interessieren.« »Ich will sehen, wie ich es einrichten kann, Fred. Aber heute bin ich zum Mittagessen verabredet. Mit meiner Frau.« »Okay, ich bringe Sie zum Tor.« »Und ich werde mir ein Lurghsandwich und etwas Kaltes zu Trinken besorgen«, sagte Tham. »Wiedersehen, Dr. Barlow.« Der Darot schlenderte davon.
Als die zwei Männer zum Tor gingen, fragte Dennis: »Was hat Tham da gesagt, Fred? Ein Lurksandwich? « »Lurgh«, sagte Fred. »Den G-Laut müssen Sie gurgeln.« »Lurghh. Ich verstehe. Was ist das?« »Geräuchertes Yahoo-Fleisch. Ich mag es nicht, aber – he, was ist denn los, Dennis? Ist Ihnen nicht gut?« Barlow unterdrückte das Gefühl von Übelkeit, das ihn überkommen hatte. »Nein«, sagte er. »Es ist nichts. Wahrscheinlich macht das die Sonne.« »Ja, wenn man aus der kühlen Halle in die Hitze hinaustritt, passiert das manchmal. Ihnen fehlt wirklich nichts?« »Ganz bestimmt. Das war nur eine kleine Übelkeit. Ist schon vorbei.« Aber Dr. Barlow aß an diesem Tag nichts zu Mittag, und er sagte auch nicht, weshalb.
Dr. James Pendray saß am Steuer des kleinen Flugzeuges und wünschte insgeheim, er wüßte, was zum Teufel in Paul Heroas Gehirn vor sich ging. Der alte Knabe hatte etwas vor. Das wußte Pendray genau. Aber was… Nun, was auch immer es sein mochte, Pendray war bereit, Heroa zu unterstützen. Der alte Schlaukopf hatte irgendeinen Plan ausgeheckt, und allein schon deshalb, weil es Heroas Plan war, mußte er gut sein. Hinter ihm saßen Dennis und Blanche Barlow und unterhielten sich. Sie wiesen einander auf die interessanten Eigenarten des Landes hin. Bei einer Bodengeschwindigkeit von etwas weniger als dreihundertdreißig Stundenkilometer und einer Höhe von tausend Meter hatten sie genau die richtige Perspektive. »Ist das dort im Süden schon die Küste?« fragte Dennis Barlow.
Pendray hatte sich in letzter Zeit sehr diplomatisch verhalten, und man sprach sich jetzt mit den Vornamen an. »Ja. Sie werden sie in ein paar Stunden genauer sehen. Wir fliegen parallel zum Strand. Und nachher ist es bis zu den großen Sandbänken nur noch eine Stunde.« »Und das Gebiet der Humanoiden liegt nördlich davon?« wollte Blanche wissen. »Stimmt. Höchstens eine Flugstunde. Selbst wenn wir Pech haben. Normalerweise stößt man etwa neunzig Kilometer von den Sandbänken entfernt auf einen Stamm.« »Gut. Wir wollen so schnell wie möglich hin.« Das kann ich mir vorstellen, dachte Pendray. Der Vorschlag, die größte Stadt der Darota zu besuchen, hatte Blanche überhaupt nicht beeindruckt. Pendray wußte nicht genau, ob sie die Darota verabscheute, haßte oder fürchtete. Wahrscheinlich konnte man ihr Empfinden als eine Mischung dieser drei Gefühle interpretieren. »Ich wollte Sie schon fragen, Jim«, sagte Dennis, »ob Sie wissen, weshalb die Darota ihre Stadt bei den großen Sandbänken gebaut haben. Ich meine, wir Menschen bauen unsere Städte gewöhnlich an einem Fluß oder an einem See oder irgendeinem anderen Gewässer. Und auf der Erde sind die wirklich großen Städte immer in der Nähe eines Hafens. Aber die Darota bleiben dicht am Meer, und sie haben nicht viel Schiffe. Warum also konzentrieren sie sich gerade an den großen Sandbänken? Ist das nur Zufall, oder gibt es einen Grund dafür?« »Haben Sie das nicht gewußt?« Pendray war ehrlich überrascht. »Das ist eine ihrer wichtigsten Brutstätten.« »Brutstätten?« »Natürlich. Die großen Sandbänke sind ein Ausläufer des Kontinentalschelfs, das praktisch horizontal verläuft. Es gibt beinahe hunderttausend Quadratkilometer Schelf, wo die
maximale Tiefe nur zehn Faden beträgt, im Durchschnitt sogar nur fünf. Die Gegend ist reich an kleinen Inseln und Felsen, die über die Meeresfläche herausragen. Der Rand des Schelfs liegt beinahe zweihundert Kilometer von der Küste entfernt, aber man könnte wahrscheinlich den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen, wenn man vorsichtig ist. Es ist genau das Gegenteil eines Hochseehafens auf der Erde. Schlecht für die Navigation, aber herrlich für die Kleinen.« »Wie geht denn die Fortpflanzung vonstatten?« fragte Dennis. Pendray wunderte sich, daß ein Zoologe diese Frage nicht schon vor langer Zeit gestellt hatte. Blanche, die Anthropologin, war natürlich überhaupt nicht interessiert, aber Dennis hätte schon zu Anfang fragen müssen. Aber Blanche hatte ihn so mit den Yahoos beschäftigt gehalten, daß er für andere Dinge überhaupt keine Zeit gehabt hatte. »Ziemlich unkompliziert«, sagte Pendray. »Die Darota sind wie der Mensch das ganze Jahr über zur Liebe fähig, und die Fruchtbarkeitsperioden der Darotafrauen sind ebenso wie beim Menschen zyklisch. Nur daß der Zyklus der Darota ein jährlicher und kein monatlicher ist. Die Eier werden etwa sechs Wochen nach der Befruchtung im Meer gelegt und brüten dann etwa drei Monate – bis Mitte Sommer. Am Ende des neunten Lebensjahres beginnen die Lungen sich zu entwickeln, und die Kiemen verschwinden. Im Frühling des zehnten Jahres sind die Jungen so weit, um an Land zu kommen und das Leben an der Luft fortzusetzen. Ebenso wie die Menschen sind sie um ihr vierzehntes oder fünfzehntes Jahr fortpflanzungsfähig, und dann beginnt der Zyklus von neuem.« »Äh – was für ein Familienleben haben sie denn?« fragte Blanche. »Gar keins, wenn Sie unsere Familie als eine Blutsverwandtschaft verstehen. Die Kinder sind für die ersten
zehn Jahre buchstäblich auf sich selbst angewiesen. Niemand weiß, wer wessen Kind ist, und es interessiert auch niemand. Die Erwachsenen sorgen dafür, daß die großen, gefährlichen Raubtiere fernbleiben, und besonders die Frauen gehen immer wieder hinaus und werfen den Kleinen Nahrung zu. Die Erwachsenen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit beim Schwimmen, und es macht ihnen mächtigen Spaß, mit den Kleinen im Wasser herumzutollen. Zwar wissen die Kinder nicht, wer ihre Eltern sind, aber dennoch werden sie geliebt. Ein erwachsenes Paar übernimmt so viele Junge, wie es sich leisten kann, sobald die Kleinen in die Landphase eintreten.« »Wenn sie nicht wissen, welche genetischen Verwandtschaftsbeziehungen vorliegen«, sagte Blanche, »wie verhindern sie dann die Inzucht?« »Überhaupt nicht«, erklärte Pendray. »Weshalb sollten sie auch? Die statistische Wahrscheinlichkeit, daß ein beliebiger Mann und eine beliebige Frau Bruder und Schwester sind, ist sehr gering. Es kommt häufig vor, daß ein erwachsenes Paar, das eine Familie bilden will, seit der Jugend im gleichen Haushalt aufgewachsen ist. Den Begriff der Jungfräulichkeit kennen sie nicht und irgendwelche Tabus im vorehelichen Verkehr ebenfalls nicht. Ein Mädchen legt jedes Jahr nach dem fünfzehnten Geburtstag eine Anzahl Eier; woher soll es wissen, ob sie befruchtet sind oder nicht? Und was sollte es sie auch interessieren? Die Mischung des genetischen Materials ist hier sehr viel zufälliger als bei uns Menschen, das können Sie mir glauben.« »Haben sie überhaupt sexuelle Tabus?« fragte Blanche. »Natürlich haben sie die. Kein Erwachsener würde jemanden heiraten, der mehr als zehn Jahre jünger oder älter ist. Das garantiert, daß die Generationen sich nicht mischen. Und wenn ein Paar einmal beschlossen hat zu heiraten, dann bleiben die
zwei ihr ganzes Leben zusammen. Ehebruch ist beinahe unbekannt.« »Ich bin überrascht, daß sie überhaupt heiraten«, sagte Blanche spitz. »Ich möchte bezweifeln, daß solche Tiere überhaupt den Begriff der Ehe kennen.« Pendrays Stimme blieb ganz ruhig. »Ihr Begriff von der Ehe ist natürlich nicht derselbe wie der unsere, aber die Ähnlichkeit ist verblüffend. Die Liebe, das Bedürfnis, mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zusammenzusein, das Gefühl gemeinsamer Sicherheit, eine Familie zu gründen – das haben wir mit ihnen gemeinsam. Und ich bezweifle, daß je ein Darot-Paar geheiratet hat, weil das Mädchen schwanger war oder weil beide Schuldgefühle wegen vorehelichen Verkehrs hatten. Es gibt natürlich einige Zwangsehen. Die Gemeinschaft mißbilligt auch Junggesellen und alte Jungfern – in sehr viel stärkerem Maße als das bei uns der Fall ist. Es gibt Ehen ohne Liebe ebenso, wie es Streitigkeiten und Prozesse und so weiter gibt. Die sind auch nicht vollkommener als wir – nur anders. Das ist alles.« »Anders«, sagte Blanche. »Anders. Oh, ja. Ja, wir sind wirklich anders. Dennis, schau dort hinüber, nach links! Ist der See nicht wunderschön?« Sie mag die Darota nicht, dachte Pendray. Und nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. Nur, daß man das von einem Indianer heute nicht mehr sagt, ganz im Gegensatz zu früher.
»Dann ist es also nicht Wahnsinn?« fragte Gundurut. »Ganz bestimmt nicht«, sagte Dr. Heroa. »Nicht in dem Sinne, wie Sie meinen. Diese Kinder haben gerade etwas gelernt, was bisher noch kein Angehöriger Ihrer Rasse erfahren hat. Es ist natürlich unsere Schuld. Wir Erdmenschen haben das schon getan, solange wir uns erinnern können. Erst in den
letzten achtzehn Monaten ist es dazu gekommen, daß hier, bei den großen Sandbänken, eine größere Gruppe Erdmenschen gelebt hat. Und erst während dieser Zeit sind Ihre Heranwachsenden ihnen ausgesetzt gewesen.« »Ich fürchte, ich begreife das nicht«, sagte Gundurut. »Diese Halluzinationen, diese unwirklichen Dinge, die sie sich selbst ausgedacht haben – das soll nicht Wahnsinn sein? « »Nein. Die Kinder glauben diese Dinge nicht, von denen sie behaupten, sie seien wirklich. Schauen Sie, Gundurut – Sie können doch lügen, oder?« »Ja. Wenn nötig schon. Aber warum halten die es für notwendig, solch unglaubliche Lügen zu verbreiten?« »Das ist ja der Fehlschluß. Genau das. Sie halten es gar nicht für notwendig. Sie tun es, weil es ihnen Spaß macht.« Gundurut schwieg ein paar Sekunden. Und dann platzte er heraus: »Ich verstehe das nicht. Wie kann ihnen so etwas Spaß machen? Das ist nicht – nicht normal! Das ist genauso, als hätte man Spaß daran zu atmen oder so etwas. Man tut es, weil man muß, aber man tut es nicht zum Vergnügen.« »Essen Sie nur, weil Sie müssen?« »Nein. Nein.« »Und macht es Ihnen Spaß?« »Ja. Besteht da eine Verbindung?« »Natürlich. Betrachten Sie es einmal anders: Sie verwenden doch Parabeln und Analogien, oder?« »Zur Schulung. Zum Beispiel, wenn ich demonstrieren will, daß man ein generelles Prinzip auch spezifisch anwenden kann, oder um eine Ähnlichkeit aufzuzeigen, oder eine Korrelation, so wie Sie es jetzt offenbar tun. Aber nicht zum Spaß. Das begreife ich nicht. Keiner von uns begreift das.« Heroa schloß die Augen. »Vielleicht werden Sie es nie begreifen, Gundurut!«
»Warum nicht? Wenn es ein Kind verstehen kann, kann ich es dann nicht?« Er begriff nicht; er wollte nicht begreifen. Aber es gefiel ihm nicht, wenn man ihm sagte, daß er zu solchem Verständnis nicht fähig war. »Es hat doch Fälle gegeben, nicht wahr«, sagte Heroa, »wo ein Darota-Kind während seines zehnten Lebensjahres im Sturm verlorenging und an einer unbewohnten Stelle an Land gespült wurde. Gerade zu dem Zeitpunkt, wo die letzte Veränderung stattfand. Zu dem Zeitpunkt also, wo die Kiemen verschwunden sind und die Lungen ihre Arbeit übernommen haben?« »Ja. Gelegentlich. Nicht oft. Gewöhnlich finden sie den Weg zurück.« »Aber manchmal bleibt das Kind dort?« »Solche Fälle sind bekannt geworden. Gewöhnlich sterben die Kinder dann kurz darauf. An unbewohnten Orten gibt es gewöhnlich an Land keine Nahrung, und das bedeutet, daß das Kind vom Meer leben müßte. Aber solche Fälle sind vorgekommen – ja.« »Und wie waren diese Kinder dann, wenn man sie fand?« »Schwachsinnig. Sie konnten nicht sprechen, konnten es auch nicht erlernen. Sie konnten sich überhaupt nicht an die Zivilisation gewöhnen. Wir haben angenommen, daß sie aus diesem Grund nicht nach Hause zurückgekehrt sind – weil sie schwachsinnig waren.« »Nein. Genau das Gegenteil. Weil sie nicht nach Hause zurückgekehrt sind, hielt man sie für schwachsinnig. Es gibt eine kritische Periode, in der man das Reden lernen muß. Wenn eines unserer Kinder nicht bis zu seinem fünften Lebensjahr das Sprechen lernt, lernt es das eigentlich nie mehr.« »Ah«, sagte Gundurut nachdenklich. »Wie das Schwimmen.« »Das Schwimmen?«
»Es kommt gelegentlich vor, daß ein Kind am Anfang seines zehnten Lebensjahres einen Unfall hat und in ein Krankenhaus gebracht werden muß. Sein Schwanz verkümmert, und die Beine wachsen. Wenn es nicht in diesem Jahr lernt, mit den Beinen zu schwimmen, lernt es das Schwimmen nie mehr. Und wenn es nicht während des folgenden Jahres gehen lernt, lernt es das auch nicht.« »Dann verstehen Sie, was ich sagen will. Hätte ich das gewußt, so hätte ich das als Beispiel angeführt.« »Ist das bei Ihnen nicht so?« »Nein. Bei uns ist das Schwimmen eine Fähigkeit, die man jederzeit lernen kann. Nur daß es in der Kindheit leichter geht.« »Und was hat das damit zu tun, daß man zum Spaß lügt?« »Mit dem Lügen unmittelbar nichts, aber mit dem Verständnis dafür, weshalb sie zum Spaß lügen. Ich frage mich, ob das Lügen zum Spaß nicht eine Fähigkeit ist, die man früh lernen muß, wenn man sie überhaupt lernen will. Wenn das zutrifft, dann kann ein älterer Darot sie sich nicht mehr erwerben, und deshalb kann er es auch nicht begreifen. Ich glaube, daß das zutrifft.« »Und alle Erdmenschen tun das? Wie kommt es dann, daß wir das nie erkannt haben?« »Das haben Sie nicht erkannt, weil Sie es überhaupt nicht bemerkt haben, Gundurut. Unsere Rassen haben beide einen Sinn für Humor, und in manchen Punkten überlappt sich das. Wortspiele zum Beispiel. Daran haben wir beide Spaß.« »Ja. Wegen der bis dahin unbekannten Kreuzkorrelation zwischen zwei sonst nicht in Beziehung miteinander stehenden Symbolen. Sie sind instruktiv und machen deshalb Spaß.« Heroa sah ihn an. »Ich will doch verdammt sein«, sagte er leise. »So habe ich das nie gesehen. Schauen Sie, Sie erzählen Witze, genau wie wir es tun. Wir finden nicht alle Ihre Witze
spaßig, und Sie nicht alle unseren, aber es gibt welche, die uns beiden gefallen. Warum erzählen Sie Witze?« »Weil sie instruktiv sind. Ein Witz ist eine instruktive Parabel, die ein unerwartetes und daher nicht vorhersehbares Resultat hat. Oder?« »Nach all den Jahren ist mir jetzt erst klar geworden«, sagte Heroa, »daß wir aus völlig verschiedenen Gründen über die gleichen Dinge lachen. Ich möchte wetten, daß Sie diejenigen unserer Witze nicht verstanden haben, die nicht instruktiv waren.« »Wir erfahren mit jedem Augenblick mehr über uns, was, mein Freund? Ich frage mich, ob wir einander je ganz verstehen werden? Aber Sie wollten eine Korrelation zwischen Witzen und Lügen zum Spaß herstellen.« »Ich wollte darauf hinweisen, daß Witze nichts anderes als nicht ernstgemeinte Lügen sind«, sagte Heroa. »Aber in Ihrer Vorstellung sind sie das offenbar nicht.« »Nein. Nein. Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Was ist denn der Zweck dieser nicht instruktiven Parabeln? Das ist doch nur bedeutungsloser Unsinn. Erklären Sie mir die Bedeutung der Parabel von Silberschein und den drei Yahoos.« Paul Heroa mußte ein Lachen unterdrücken. Wer auch immer diese Fabel erzählt hatte, hatte sie gut übersetzt. Der silberne Schimmer der Haut einer Darotfrau galt als genauso anziehend wie blondes Haar bei einer Frau auf der Erde. Und die Interpretation »drei Yahoos« war geradezu genial. »Sie hat keine instruktive Bedeutung«, sagte Heroa. »Das ist ein uraltes Kindermärchen. Fast jeder Erdmensch hat es als Kind einmal gehört. Wo haben Sie das her?« »Eines meiner Mädchen hat es mir erzählt. Sie fragte mich, ob ich es schon gehört hätte, und ich sagte nein. Ich sah, daß es ihr Spaß machte, die Geschichte zu erzählen, aber ich verstand den Grund nicht, warum es ihr Spaß machte.«
»Sagen Sie mir eines: hat das Kind verschiedene Stimmlagen für die drei Yahoos benutzt? War Papa Yahoo eine Person mit tiefer Stimme, und sprach Baby Yahoo schrill und quäkend?« »Ja, so war es.« »Und das Kind hatte besonderen Spaß daran?« »Offensichtlich.« »Und wie haben Sie reagiert?« »Ich war schockiert. Ich wußte, daß das Kind die Geschichte von einem Ihrer Leute gehört hatte, und begriff einfach nicht, warum jemand bewußt und sinnlos ein Kind anlügen sollte. Ich begreife das immer noch nicht. Yahoos können nicht sprechen, und es ist eine Lüge, wenn man behauptet, daß sie es doch können.« »Und Sie haben dem Kind erklärt, daß Yahoos nicht sprechen können?« »Ja. Aber da sagte die Kleine: ›Oh, das weiß ich schon, es ist ja nur ein Märchen.‹ Und das habe ich nicht begriffen. Ich begreife es immer noch nicht.« »Eines Tages werden Sie es vielleicht begreifen. Irgendwann einmal.« »Aber Sie glauben das nicht. Was, Freund Heroa?« Er lächelte. »Wetten möchte ich nicht. Aber die Kinder begreifen. Und das hat zur nächsten Stufe geführt. Sie haben ihre eigenen Geschichten erfunden. Sie haben Lügen erfunden und geglaubt, ihre Behüter würden das begreifen. Aber das haben sie nicht getan. Sie hielten sie für verrückt.« »Ja. Und ich muß offen gestehen, daß ich noch gar nicht sicher bin, ob Ihre Erklärung zutrifft. Selbst Sie, weise wie Sie sind, wissen nicht, wie unser Gehirn funktioniert, ebensowenig wie wir Sie begreifen.« »Das muß ich zugeben.« Zwei Länder, durch eine gemeinsame Sprache getrennt, zitierte er in Gedanken. »Wir
können nur abwarten. Ich werde meine Leute bitten, Ihren Kindern keine Geschichten dieser Art mehr zu erzählen, wenn Sie das wünschen.« »Vielleicht ist das besser«, sagte Gundurut nachdenklich. »Bei den älteren Darota hat das große Unruhe hervorgerufen. Ich möchte nicht, daß es zwischen meinem Volk und dem Ihren Spannungen gibt.« Er hielt inne. »Aber, um ehrlich zu sein, ich glaube, der Schaden ist bereits angerichtet. Wir könnten den Kindern verbieten, einander die Geschichten zu erzählen, aber wie sollen wir ein solches Verbot erzwingen? Das wäre nicht möglich. Deshalb werden wir es auch nicht tun, denn es ist unsinnig, Regeln aufzustellen, deren Einhaltung man nicht erzwingen kann.« »Mir geht es genauso. Aber ich glaube, mein Volk wird einsehen, daß es klug ist, der Bitte zu entsprechen.« Und die Leute werden es sehr komisch finden, daß Silberschein und die drei Yahoos hier die Jugend verderben. Sie werden lachen, aber sie werden verstehen. Und Guhn hat recht, dachte er. Der Schaden ist bereits angerichtet.
»Dr. Heroa«, sagte Blanche Barlow verärgert, »ich möchte gern wissen, warum Sie eine ganze Flugzeugladung Darota aufgefordert haben, uns nach Norden ins Humanoiden-Gebiet zu folgen?« Sie hatte an die Tür seines Zimmers geklopft, war hereingerannt und hatte ihm die Frage praktisch an den Kopf geworfen. »Ich habe das nicht angeordnet, Mrs. Barlow«, sagte er mit milder Stimme. »Das ist hier Gesetz. Nicht mein Gesetz. Darota-Gesetz. Das Territorium ist ein Schutzgebiet.« »Aber die Darota sind bewaffnet!«
»Natürlich. Es ist gefährliches Land, Mrs. Barlow.« »Ich brauche keinen Schutz! Mein Mann und ich kommen auch allein zurecht! Die Humanoiden werden uns nichts tun, wenn wir ihnen zeigen, daß wir in Frieden und Freundschaft kommen! Ich dulde es nicht, daß uns bewaffnete Untiere folgen!« Heroa hörte das Ausrufezeichen hinter jedem Wort heraus. »Mrs. Barlow. Jetzt hören Sie mir gut zu. Ich kann nichts dagegen unternehmen. Das Gesetz kann weder für mich noch für Sie, noch für sonst jemanden abgeschafft werden. Die Wildhüter müssen jede Person, die dorthin fährt, begleiten. Das dient nicht nur Ihrem Schutz; es dient auch dem Schutz der Humanoiden. Die Hegevorschriften müssen eingehalten werden.« »Hegevorschriften!« Ihre Augen schossen Blitze. »Dann sind sie also bloß – « »Mrs. Barlow!« Heroa hatte eine erstaunlich kräftige Stimme, wenn er wollte. »Ich habe keine Lust, mir wieder eine Ihrer Tiraden über die Rechte, Privilegien und die Würde der Humanoiden anzuhören. Die Hegevorschriften sind erlassen worden, lange bevor der Mensch auf diesem Planeten eintraf. Die Wildhüter werden Sie vor Ihrer Abreise über die Vorschriften informieren. Ich empfehle Ihnen, zuzuhören und zu gehorchen. Wenn Sie sonst nichts mehr vorzubringen haben, Mrs. Barlow, guten Tag.«
»Und ich sage, daß es verrückt ist, verrückt und gefährlich!« sagte Dr. Pendray mit leiser Stimme. »Meine Frau weiß, was sie tut«, sagte Dr. Dennis Barlow ebenso leise. »Halten Sie jetzt den Mund und lassen Sie es sie tun. Sie weiß, wie man mit primitiven Wilden umgeht.« »Aber nicht mit wilden Tieren!«
»Halten Sie den Mund!« Die beiden Männer saßen in dem Flugzeug. Barlow hatte die Kamera eines kleinen TV-Recorders auf seine Frau gerichtet, die etwa dreißig Meter entfernt mit dem Rücken zu ihnen durch das kniehohe Gras ging. Zwanzig Meter vor ihr kauerten auf einem Felsvorsprung fünfundzwanzig bis dreißig Yahoos und beobachteten sie. Sie wirkten verblüffend menschlich. Selbst James Pendray mußte das zugeben. Sie waren nicht sonderlich sauber, aber auch nicht wirklich schmutzig. Sie trugen keine Kleidung, keinerlei Schmuckstücke. Ihr Haar war braun und fiel in wirren Locken herab, aber es war nicht besonders lang. Die Männer hatten Bärte, aber der Haarwuchs war spärlich. Die Stirn war flach, und sie hatten ausgeprägte Unterkiefer. Aber auch nicht in stärkerem Maße als viele Menschen. Sie musterten die Frau schweigend und unbewegt. Sie ging auf sie zu, die Hände vor sich haltend, die Finger ausgestreckt, um zu zeigen, daß sie keine Waffen trug. Insgeheim war Pendray dankbar dafür, daß vier DarotaWildhüter in der Nähe waren. Fünf Meter vor der Gruppe blieb Blanche Barlow stehen. Sie sprach mit so leiser Stimme, daß die beiden Männer im Flugzeug nichts hören konnten, obwohl das Richtmikrofon, das Dennis in der Hand hielt, ihre Stimme aufnahm. Sie sprach keine Worte; sie machte Geräusche, sanfte, freundliche Laute. Die Laute sollten Gefühle vermitteln, nicht Intelligenz. Ihre Stimme war weich, süß und zart. Einer der Yahoos knurrte. Blanche ließ sich nicht stören. Die einzige Bewegung war das Zappeln zweier Babies, die eine Frau mit großen Brüsten in den Armen hielt. Die übrigen musterten Blanche aufmerksam. Und dann ging einer der Männer, ein breitschultriges Geschöpf mit einer ergrauenden Haarmähne, auf sie zu.
Blanches Stimme veränderte sich etwas, wurde lockend. Sie hielt dem Mann die Hand hin. Er packte sie, riß sie zu sich heran und schmetterte ihr die Faust gegen den Schädel. Wie auf ein Zeichen stürzte sich der Rest der Bande auf sie. Hände streckten sich aus, Stimmen heulten und bellten. Und als Blanche Barlow zusammenbrach, peitschten Schüsse auf. Vier Kugeln bohrten sich in die Yahoos. Zwei von ihnen schmetterten in die Brust des Mannes, der Blanche geschlagen hatte. Die beiden nächsten Yahoos wurden von je einer Kugel getroffen. Weitere Schüsse krachten. Die Yahoos, die auf den Beinen geblieben waren, wirbelten herum und flohen in den Schutz der Felsen zurück. Einige hoben Steine auf und begannen, sie auf Blanche zu werfen. Sie wußten nicht, woher die eigentliche Gefahr kam, aber das Feuer der vier Darota hinderte sie daran, ihr Ziel zu treffen. Dennis Barlow und James Pendray rannten bereits auf Blanche zu. Sie war nur leicht benommen. Jetzt stemmte sie sich hoch und sah sich benommen um. »Liegenbleiben!« schrie Dennis. »Bleib liegen, Blanche!« Sie schien ihn nicht zu hören. Ihre Augen registrierten eine Tragödie. Die Frau mit den großen Brüsten lag ganz in der Nähe. Eine Kugel hatte sie durch den Kopf getroffen. Unverletzt und munter quäkend saßen die beiden Babies neben ihr. Dennis erreichte Blanche zuerst. Pendray war wenige Schritte hinter ihm. »Komm, Liebling; wir verschwinden hier!« Er half ihr beim Aufstehen. Die Steinwürfe hatten aufgehört, ebenso das Gewehrfeuer. »Mir fehlt nichts«, sagte sie schwach. »Ich kann gehen. Nimm die Babies, Dennis. Nimm die Babies mit.«
»Sind sie nicht schön, Dr. Heroa, himmlisch schön?« »Ganz hübsch«, gab Dr. Heroa zu. »Ich habe schon häßlichere Menschenbabies gesehen.« »Sie sind höchstens einen Monat alt. Schauen Sie nur, wie wild sie auf ihr Fläschchen sind! Sind sie nicht reizend?« Blanche sah die beiden Säuglinge liebevoll an. Sie hatte eine Sondergenehmigung von den Darota-Behörden gebraucht, um die Yahoobabies nach Point Garrison zu bringen, aber Dr. Heroa hatte überraschenderweise seinen Einfluß für sie geltend gemacht. Gebadet und in Windeln wirkten die zwei Kleinen jetzt genauso wie jedes andere Menschenbaby in Point Garrison. »Das wird es beweisen, Dr. Heroa! Dennis und ich werden sie aufziehen, als wären es unsere eigenen Kinder.« Sie wandte sich von den Kinderbettchen ab und sah Heroa an. »Die armen Würmer haben keine Chance gehabt, Dr. Heroa. Tausende von Jahren hat man sie verfolgt und gequält, und die Darota haben sie wie wilde Tiere gejagt. Sie hatten keine Chance, eine Kultur zu entwickeln. Ihre Sprache ist primitiv geblieben.« »Sind Sie sicher, daß sie eine Sprache haben?« fragte Dr. Heroa. »Aber natürlich! Alle menschlichen Wesen haben eine Sprache. Das ist eines der Kriterien, das sie von den Tieren unterscheidet.« Heroa nickte. Jetzt war nicht die Zeit, Blanche Barlow darauf hinzuweisen, daß ihre Argumente sich im Kreise drehten. »Es ist eine Frage der Umgebung«, fuhr Blanche fort. »Ein menschliches Kind von der Erde würde, wenn die hiesigen Humanoiden es aufzögen, sich genauso wild verhalten. Es würde nichts anderes kennen. Nach so vielen Generationen, in denen man auf sie geschossen, sie herumgejagt und geschlachtet hat, sehen sie in jedem Fremden einen Feind. Ich
kann es ihnen nicht übelnehmen, daß sie mich auch so behandelt haben. Aber diese Kinder werden eine Chance haben. Sie sind noch nicht an das Leben in der Wildnis gewohnt. Wenn wir sie wie unsere eigenen Kinder aufziehen, werden sie ihre eigene Abstammung nie erfahren. Sie werden lernen, was Sie und ich gelernt haben, als wir aufwuchsen. Sie werden sprechen lernen. Soweit mir bekannt ist, ist dies das erste Mal, daß ein Experiment dieser Art durchgeführt wird. Das ist eine Sternstunde der Anthropologie.« Dr. Heroa nickte langsam. »Ich glaube, Sie haben recht. Ich glaube, daß Sie eine Menge von diesem Experiment lernen werden, Mrs. Barlow.« »Da bin ich ganz sicher. Unser Forschungsvertrag mit dem Institut bindet uns hier drei Jahre. Bis zum Ende dieses Zeitabschnitts werden wir eine Menge Daten auf Forschungsreisen gesammelt haben. Und von Jane und Michael werden wir noch mehr gelernt haben.« »Jane und Michael? Ja, ich glaube, Sie werden eine Menge von Jane und Michael lernen. Eine unheimliche Menge.«
»Paul«, sagte Dr. Marcus Landau, »ich weiß nicht, ob dein Gesichtsausdruck jetzt Enttäuschung oder Zufriedenheit bedeuten soll.« Heroa, Landau und Pendray saßen um einen Konferenztisch im Institutsgebäude. Auf dem Tisch standen und lagen Kaffeetassen, Blocks, Schreibstifte und Berichte. »Keines von beiden«, sagte Heroa. »Die Tatsache besteht. Ich nehme sie als gegeben hin. Ich muß zugeben, daß ich gehofft hatte – stark gehofft hatte! –, daß die Darota so viel Fantasie haben würden. Die Hinweise, die ich anfangs bekam,
bestärkten mich in dieser Meinung. Aber wie ihr aus diesen Berichten seht, hat sich die Lage im vergangenen Jahr stabilisiert. Fantasie für sich allein betrachtet, die Freude an reiner schöpferischer Fantasie, ist für einen Darot bloß eine vorübergehende Phase. Die Kleinen haben eine Zeitlang Spaß daran, aber dann geht das vorüber. In der Mitte des zweiten Jahres, nachdem sie das Wasser verlassen haben, ist die Phase vorbei. Sie blicken in der gleichen Art und Weise darauf zurück wie ein erwachsener Mensch auf die Tage zurückblickt, in denen er annahm, daß man sich allein von Kuchen, Schokolade und Eiskrem ernähren könnte. Oder daß das größte Vergnügen auf der ganzen Welt darin besteht, Papierpuppen auszuschneiden.« »Aber alle Hoffnung hast du noch nicht aufgegeben, glaube ich«, sagte Pendray. »Nein, das nicht. Es wird einige Darota geben – einen oder zwei in jeder Generation – die diese kreative Ader behalten. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber ich glaube, daß die Zeit kommen wird, wo die Darota nicht nur gute Schüler, sondern auch Erneuerer sein werden. Ich hoffe, daß – « Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. »Herein!« Dr. Dennis Barlow öffnete die Tür und trat ein. »Hallo, Paul, Mike, Jim. Hoffentlich habe ich euch nicht unterbrochen. Du hast doch gesagt, fünfzehn Uhr dreißig, oder?« »Stimmt. Komm nur herein. Wir sind gerade am Ende. Nimm dir einen Stuhl und setz dich. Dort drüben steht Kaffee und eine Tasse. Bedien dich selbst.« Während Barlow eine Tasse füllte, sagte Heroa: »Damit hätten wir es, glaube ich. Nächster Fall. Hast du eine Akte über Mike und Janie Barlow, Jim?« »Hier.« Pendray griff nach einem Aktendeckel und zog ihn zu sich heran. »Wir lernen alle von diesen Kleinen.«
Dennis Barlow setzte sich, nahm einen Schluck aus seiner Tasse und fragte: »Sind sie gesund, Doktor?« »Physisch gesehen kerngesund. Geistig… nun, wer kann das im Alter von vierzehn Monaten schon sagen? Es gibt keine psychologischen Tests, die uns so früh Aufschluß geben. Wie findest du sie denn?« Barlow grinste. »Schnell wachsen sie ja, nicht wahr? Sie sind so groß und so stark wie Vierjährige. Und wie die zwei sich balgen! Unwahrscheinlich. Dabei tun sie einander nicht weh. Habt ihr euch die Bänder angesehen?« Die drei Wissenschaftler nickten. »Ja«, sagte Heroa. »Dann wißt ihr ja, was ich meine. Die meiste Zeit spielen sie nett miteinander, aber wenn dann eines mal das andere ärgert, dann muß man aufpassen! Neulich hat Janie mit ihren Bauklötzen gespielt, und Mike wollte auch spielen. Also hat er ihr ein paar Klötze weggenommen. Und dann bekam er gleich noch einen nachgeworfen, der prallte von seinem Schädel ab. Blanche mußte sich einschalten. Sie hat sie gepackt und richtig durchgeschüttelt und ihnen einen Vortrag gehalten. Natürlich schlägt sie sie nie. Wir glauben nicht, daß man Kinder schlagen muß, um sie zu erziehen. Ich glaube, das Problem liegt darin, daß sie so egozentrisch sind wie alle Kinder dieser Altersstufe, aber größer als die meisten, und deshalb sind sie so wild. Die meisten anderen Kinder mit vierzehn Monaten haben einfach noch nicht die Kraft und die Koordinationsfähigkeit, um das zu tun.« »Die meisten Erdenkinder meinst du«, verbesserte ihn Pendray. »Für Sandarot-Humanoiden ist diese Entwicklungsstufe ganz normal.« »Wirklich? Aber auf den Bändern war davon nichts zu sehen.«
»Nun, zugegeben, wir haben nicht sehr viel Material«, sagte Dr. Landau. »Die Erwachsenen bekommen in der Gefangenschaft keine Jungen, und – « »Es würde mir auch den Spaß verderben, wenn man mich in einen Käfig steckte«, unterbrach ihn Barlow und lächelte. Landau schmunzelte. »Jedenfalls haben wir keine genauen Informationen. Es ist schwierig, Einzelpersonen der Humanoiden über einen längeren Zeitraum hinweg im Auge zu behalten. Und das hier ist das erste Mal, daß welche von Kind auf aufgezogen werden. Aber die Darota sagen, daß sie sehr schnell reifen und daß diese Kinder für ihr Alter nicht abnormal sind.« »Hm-m-m, interessant. Dann habt ihr die Bänder also den Darota gezeigt?« »Gundurut hat sie gesehen«, sagte Heroa. »Ihn interessiert dieses Experiment genauso wie uns.« Barlows Lächeln war verblaßt. »Das kann ich mir vorstellen. Es wäre leichter, sie wie Vieh zu züchten, statt sie in der Wildnis zusammenzutreiben und abzuschießen. Aber du kannst ihm von mir bestellen, daß keines dieser Kinder als Scheibe Lurgh auf Toast enden wird. Und in ein paar Jahren gilt das vielleicht für alle Humanoiden.« »Das hängt natürlich von deinem Bericht an die Stiftung ab«, sagte Heroa. »Gundurut gibt zu, daß er ein Interesse daran hat. Er und seine Leute hängen ebenso von den Yahoo-Herden ab, wie die Indianer der nordamerikanischen Prärien vor ein paar hundert Jahren auf die Bisonherden angewiesen waren. Als die Bisons abgeschlachtet wurden, brach der Widerstand der Indianer gegen die weißen Eroberer zusammen. Aber daran denkt Gundurut gar nicht, wenn dir das auch eigenartig vorkommt. Es interessiert ihn wirklich, ob die Humanoiden intelligent sind – in menschlichem Sinne intelligent. Die Darota sind eine ungemein ethische Rasse. In
viel stärkerem Maße als wir. Wenn sie feststellen, daß die Yahoo zu intelligentem Verhalten fähig sind, wird es gar nicht nötig sein, daß wir die Yahoos beschützen. Die Darota würden keinen einzigen mehr von ihnen töten. Und wenn sie feststellen, daß es ihre Schuld war, daß die Yahoos nie eine eigene Kultur entwickelt haben, werden sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihnen zu helfen.« »Ich begreife.« Barlow blickte sich schuldbewußt um. »Es tut mir leid. Vergeßt, was ich gesagt habe. Aber sagt um Himmels willen nie so etwas zu Blanche. Ich möchte nicht einmal, daß ihr sagt, Gundurut habe sich für die Kleinen interessiert und die Bänder gesehen.« »Wir sagen nichts«, versprach Heroa. »Wir respektieren die Überzeugung deiner Frau.« Und ihre Laune, dachte Marc Landau. Die goldene Furie ist noch viel schwieriger geworden, seit sie Pflegemutter ist. »Was für Fortschritte machen denn die Kleinen mit dem Sprechen?« fragte Pendray und lenkte damit die Unterhaltung von der Kontroverse weg. »Bis jetzt bloß Mama und Papa«, sagte Barlow. »Aber was kann man denn von einem vierzehn Monate alten Kind sonst erwarten?« »Bitte, Dennis, du brauchst dich nicht zu verteidigen«, sagte Pendray. »Ich erwarte überhaupt nichts. Ich will bloß Informationen.« »Entschuldige.« »Schon recht. Sie nennen dich also Papa und Blanche Mama. Oder?« Barlow runzelte die Stirn. »Nein, noch nicht. Bis jetzt bringen sie die Wörter noch durcheinander.« Und dann lächelte er wieder. »Sie wissen, wenn sie eines der beiden Wörter rufen, dann kommt einer von uns beiden gerannt. Ich erinnere mich, Mike war einmal im Laufstall und Janie
draußen. Etwas passierte, und er packte ihr Haar durch die Stangen des Laufstalls und fing zu ziehen an. Er konnte nicht zu ihr und begann zu schreien. ›Mama‹ schrie er, so laut er konnte. Ich ging hinein und trennte die beiden. Wahrscheinlich sollte ich nur auf ›Papa‹ reagieren und Blanche nur auf ›Mama‹, damit die beiden zu unterscheiden lernen.« Pendray nickte. »Ja, ich schlage vor, daß ihr das versucht. Sonst haben die ja gar keinen Grund, euch auseinander zu halten. Benutzen sie diese Wörter auch zu anderer Zeit?« »Wenn sie hungrig sind. Sie kommen vier- oder fünfmal am Tag und schreien ›Mama, Mama‹, ›Papa, Papa‹. Wie im Chor. Das bedeutet, daß sie am Verhungern sind. Und, Mann, können die was verspachteln. Aber das ist ja verständlich, da sie so schnell heranwachsen.« »Ich bin froh, daß du das erwähnst«, sagte Pendray. »Ich möchte, daß du sie bald zu einem Grundumsatztest herbringst. Geht das?« »Klar. Wann es dir paßt. Wie wäre es nächste Woche an Ihrem üblichen Untersuchungstag?« »Gut, ich werde mich drum kümmern. Gibt es sonst noch etwas zu berichten?« »Nein, mir fällt nichts mehr ein«, sagte Barlow. »Es ist bloß jammerschade, daß sie keine Spielkameraden haben. Aber für gleichaltrige Erdenkinder sind sie viel zu groß und zu wild. Und die Vier- und Fünfjährigen sind ihnen in der Erziehung so weit voraus, daß sie nichts miteinander anfangen können. Außerdem würden die Nachbarn es nicht erlauben. Sie haben starke Vorurteile gegen Yahoos und sogar Angst vor Babies. Wahrscheinlich bilden sie sich ein, daß Mike und Janie ihre Kinder auffressen würden oder so etwas.« »Wahrscheinlich«, nickte Heroa. »Und sie haben guten Grund dafür. Du hast ja gesehen, was aus den Yahoos wurde,
die damals abgeschossen wurden. Die Wildhüter haben Aufnahmen gemacht.« »Deine eigenen Ahnen waren auch einmal Kannibalen, Dr. Heroa. Das heißt noch lange nicht, daß sie keine Menschen waren.« »Wahrscheinlich sollte ich jetzt rot werden«, sagte Heroa. »Aber den Gefallen tu ich dir nicht. Wir alle haben irgendwo unter unseren Vorfahren Kannibalen. Bloß daß die letzten meiner anthropophagischen Ahnen etwas später als die deinen lebten.« »Ich könnte mich jetzt mit dir streiten, Paul«, sagte Dr. Landau und lächelte wohlwollend, »und behaupten, daß ich den letzten Kannibalen in meinem Stammbaum habe, aber den Gefallen tu ich dir nicht.« Und dann sah er Barlow mit demselben milden Lächeln an. »Mein gelehrter Maorifreund wollte hier, glaube ich, gar nicht auf den Kannibalismus an sich hinweisen, sondern auf seine Grundvoraussetzungen. Wir sprechen jetzt nicht von den seltenen Fällen extremen Hungers, wo Menschen zum Wahnsinn oder weiter getrieben wurden. Das waren Ausnahmefälle, und das wissen wir. Wir sprechen von Kannibalismus als einer üblichen Praxis. In jedem bekannten Fall war irgendein Ritual damit verbunden, ganz besonders dann, wenn das Opfer demselben Stamm oder derselben Familiengruppe angehörte. Selbst wenn ein Feind aus einer anderen Gruppe zu diesem Zweck getötet wurde, lief das Ganze immer sehr würdig und mit langen Vorbereitungen ab. Unsere menschlichen Ahnen, Dr. Barlow, sprangen ihre Toten nicht einfach an und rissen sie in Stücke wie ein Wolfsrudel.« »Soweit wir wissen nicht«, sagte Barlow grimmig. »Soweit wir wissen«, pflichtete Landau ihm bei. »Ich räume ein, daß es nicht viele schlüssigen Beweise dafür gibt. In sich
selbst beweist das überhaupt nichts über die Yahoos. Aber jedenfalls muß man es mit berücksichtigen. Nicht wahr?« »Ich finde, der schlüssigste Beweis werden Mike und Janie, sein«, meinte Barlow. »O ja, ganz bestimmt«, nickte Landau. »Ich glaube, das ist ein Punkt über den wir alle einer Meinung sind«, sagte Heroa mit bewußt unbeteiligter Stimme.
Dr. James Pendray wusch sich in einer Ecke des Operationssaales die Hände. »Janie wird schon durchkommen, Dennis«, sagte er, ohne aufzublicken. »Paß nur auf, daß sie sich nicht die Naht aufreißt, wenn sie aufwacht.« »Hoffentlich schlägt sie nicht um sich, wenn sie aus der Narkose erwacht. Es wird immer schlimmer. Ich hätte nicht gedacht, daß sie sich so gegen die Spritze wehren würde.« Dennis Barlows Stimme klang besorgt. »Und was macht Michaels blaues Auge?« fragte Pendray. »Das ist nicht schlimm. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Schwellung ist beinahe weg. Aber wie kam er bloß auf die Idee, seine Schwester ins Bein zu beißen? Wenn er ihr eins auf die Nase gegeben hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber seine Zähne haben wirklich eine häßliche Wunde gerissen.« »Ja«, nickte Pendray. »Für einen Zweijährigen hat er wirklich ein kräftiges Gebiß.« Eine Weile herrschte Schweigen. Der Arzt trocknete sich inzwischen die Hände ab. »Jim«, sagte Barlow. »Ja?« »Sag nichts zu Blanche. Aber ich frage mich ehrlich, ob unsere Hypothese stimmt.« »Wieso?« Pendrays Stimme klang gleichgültig.
»Nun, es gibt eine allgemeine Regel. Je mehr Zeit zwischen Pubertät und dem Heranwachsen vergeht, desto größer ist die Intelligenz des Lebewesens. Schau dir doch diese Kinder an! Sie sehen aus wie Zehnjährige!« »Und was macht ihr Wortschatz?« Pendray kannte die Antwort. Er wollte bloß auf etwas hinweisen. »Mama! Papa.« »Unterscheidung?« »Nein. Sie scheinen den Unterschied zwischen den beiden Wörtern nicht zu kennen.« »Wenn ein Schimpanse in einem menschlichen Haushalt aufgezogen wird«, wies Pendray ihn hin, »lernt er gewöhnlich ein paar Wörter. Einfache.« »Ich weiß. Ich weiß.« Er hielt inne, und als er weitersprach, klang seine Stimme verärgert. »Aber Jim, das sind keine Schimpansen. Schau sie dir doch an!« Er deutete auf den Operationstisch, wo Janie noch unter dem Einfluß von Pendrays Injektion schlief. »Wie kann man ein so hübsches Geschöpf einfach nur als ›Lebewesen‹ bezeichnen?« »Menschliche Wesen sind auch Lebewesen, denke ich«, sagte Pendray. »Bitte keine Wortspiele! Du weißt, was ich meine!« »Ja. Ich bin bloß überrascht, daß ein Zoologe ein Wort, das eine wissenschaftliche Bedeutung besitzt, mit emotionellen Vorzeichen versieht. Sie können sich noch nicht anziehen, oder?« »Nein. Und ausziehen auch nicht. Es ist ihnen egal, ob sie angezogen sind oder nicht. Aber würdest du das von einem Zweijährigen anders erwarten?« »Nein. Ich streite mich auch nicht mit dir, Dennis. Du streitest mit dir selbst.« Barlow rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich weiß. Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
»Und was willst du unternehmen, Dennis?« Barlow nahm die Hand vom Gesicht. »Was? Unternehmen? Ich werde das Experiment fortsetzen! Es ist noch nicht vorbei; noch lange nicht vorbei. Die Zeit ist noch zu kurz.« »Nur du und deine Frau können das beurteilen, Dennis. Es ist euer Experiment. Aber – « Er hielt inne. »Aber was?« »Wenn man gefühlsmäßigen Anteil an einem Experiment nimmt, so führt das nicht gerade dazu, daß man die Resultate unvoreingenommen und wissenschaftlich objektiv beurteilen kann. Niemand kann ein Experiment völlig objektiv durchführen, wenn es im Grunde darum geht, die eigenen Theorien zu erhärten. Aber – versuchen sollte man es, Dennis. Versuchen.«
»Das ist also, was wir hier versuchen, Dennis«, sagte Heroa. »Auf diesem Planeten können wir zum erstenmal in der Geschichte der Menschen – und in der Geschichte der Darota – versuchen, eine Zivilisation aufzubauen, die aus zwei nicht miteinander im Wettstreit liegenden intelligenten Lebensformen besteht. Im Vergleich zu ihnen sind wir auf dem Sektor kreativer abstrakter Fantasie überlegen, was die Ethik angeht unterlegen. Sie ertragen geringe Luftfeuchtigkeit nicht besonders gut und können in einiger Entfernung vom Wasser nicht arbeiten. Physiologisch gesehen sind es Wasserverschwender. Sie sind einfach nicht dazu gebaut, auf dem Kontinent zu leben. Sie können das Landesinnere erforschen, so wie wir im Meer tauchen können. Aber existieren können sie auf dem Lande nicht. Andererseits können sie im Meer Dinge tun, von denen wir nicht einmal träumen.
Aber wenn dieses Experiment scheitert, bekommen wir vielleicht nie mehr eine Chance. Deshalb möchte ich nicht, daß dieser Planet für die üblichen Kolonisten geöffnet wird. Ich habe praktisch jede Person hier einzeln ausgewählt. Wir haben die besten psychologischen Tests eingesetzt, die wir uns ausdenken konnten, um sicherzustellen, daß unsere Leute ethisch weit über dem menschlichen Durchschnitt stehen. Nicht in der Intelligenz, aber in der Ethik. Falls die Kolonisten des üblichen Schlages hier auftauchten, würde es den Darota wahrscheinlich genauso ergehen wie den Indianern. Wir müssen ihnen Zeit lassen, um sich den neuen Technologien anzupassen, um langsam zu lernen, daß es Leute gibt, denen man nicht vertrauen darf. Der durchschnittliche Kolonist ist asozial, und sein ethischer Standard liegt in Wirklichkeit unter dem menschlichen Durchschnitt. Die Darota würden ihnen vertrauen, und die Kolonisten würden sie ausrauben, beschwindeln und vielleicht sogar versklaven. Und dann würde ihr Vertrauen umschlagen in absolutes Mißtrauen gegenüber jedem Menschen. Es würde Jahrhunderte dauern, um das wieder in Ordnung zu bringen – wenn es überhaupt möglich ist. Verstehst du, was ich meine?« »Natürlich, Dr. Heroa«, sagte Dennis Barlow. »Aber wie könnte ein positiver Bericht über die Intelligenz der Yahoos diese Entwicklung beeinträchtigen?« Jetzt, nach drei Jahren, konnte Dennis das Wort Yahoo ohne Schuldgefühle aussprechen, obwohl er es in Blanches Nähe nie tat. Heroa wußte, daß er seine Antwort sorgfältig formulieren mußte. Der leiseste Hinweis darauf, daß die DarlingtonStiftung vielleicht politische oder wirtschaftliche Absichten verfolgen könnte, würde sofort zurückgewiesen werden. »Es gibt gewisse skrupellose Kräfte auf der Erde, die Wert darauf legen, daß sie Zugang zu diesem Planeten bekommen. Dein Bericht und die Fotos würden dazu benutzt werden, die
öffentliche Meinung gegen die Darota aufzuwiegeln, wenn solche skrupellosen Männer sie in die Hand bekämen.« »Aber angenommen, die Yahoos sind im menschlichen Sinne intelligent?« fragte Barlow. »Ich könnte meinen Bericht doch nicht fälschen.« »Natürlich nicht! So etwas würde ich nie verlangen«, sagte Heroa gereizt. Und dann, etwas ruhiger: »Wir wollen annehmen, daß sie wirklich intelligent sind, daß das Experiment mit Michael und Jane das beweist. Ich versichere dir, daß die Darota schockiert sein werden und alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um gutzumachen, was sie angerichtet haben. Es wird natürlich unsere Aufgabe sein, ihnen ein geeignetes anderes Tier für die Ernährung anzubieten. Aber da könnten wir etwas finden – Rinder vielleicht. Und dann hätten wir auf diesem Planeten drei intelligente Rassen, die zusammenarbeiten – die Darota, die Yahoos und wir von der Erde. Mit anderen Worten, ich möchte, daß in deinem Bericht steht, daß die Darota die Yahoos nicht länger töten und aufessen und daß das Problem bereits gelöst worden ist! Damit wird die Information harmlos. Diese skrupellosen Männer wären nicht mehr in der Lage, sie als Waffe zu benutzen. Begreifst du?« »Natürlich. Ich – « Das Telefon auf Dr. Heroas Schreibtisch klingelte. »Entschuldige bitte«, sagte er und griff danach. »Dr. Heroa?« »Ja, Jim. Was?« Er blickte auf, sah Barlow an. »Ja… wir kommen gleich hinüber!« Er legte den Hörer auf die Gabel und stand auf. »Wir müssen ins Krankenhaus hinüber. Es hat einen Unfall gegeben.« Dennis Barlow war aufgesprungen. »Eines der Kinder?« »Nein. Deine Frau. Ich weiß nicht, wie ernst es ist.«
Sie brauchten fünf Minuten, um das Krankenhaus zu erreichen. Marc Landau wartete am Eingang auf sie. »Wo ist Blanche?« schrie Dennis. »Was ist passiert?« »Du kannst sie jetzt nicht sehen, Junge. Sie ist in der Chirurgischen. Jim kümmert sich um sie. Sie ist in guten Händen. Beruhige dich.« »Was ist passiert? Ist sie schwer verletzt?« »Wir wissen nicht, was passiert ist. Sie ist… sie ist ziemlich schwer verletzt. Ihr Zustand ist ernst, aber nicht kritisch, sagte Jim.« Dennis setzte sich. »Sag mir, was passiert ist. Ich muß es wissen.« »Einer der Nachbarn hörte sie schreien, Dennis. Jetzt beruhige dich doch! Johnson hörte sie schreien und kam gerannt. Er hatte so eine Ahnung, was es sein könnte. Also nahm er einen Knüppel, einen schweren Spazierstock, weißt du, ehe er ging.« Landau hielt inne und biß sich, bevor er weiterredete, auf die Unterlippe. »Dennis, diese Yahoos haben versucht, sie umzubringen. Beinahe wäre es ihnen gelungen. Sie haben Johnson in den Arm gebissen, aber er hat sie beide bewußtlos schlagen können. Jetzt haben wir sie eingesperrt.« »Das kann ich nicht glauben«, sagte Dennis mit völlig ausdrucksloser Stimme. Aber jeder wußte, daß er es doch glaubte. »Warum? Warum tun die so etwas?« »Das wissen wir nicht. Das werden wir erst wissen, wenn Blanche es uns sagt. Habt ihr denn gar nichts bemerkt?« »Nein«, sagte Dennis Barlow dumpf. »Nein. Nie. Ihr habt ja meine Berichte gelesen. Im letzten Jahr haben die Kinder aufgehört, miteinander zu streiten. Ihr erinnert euch doch, wie sie sich immer prügelten. Das tun sie nicht mehr. Wir hielten das für ein gutes Zeichen. Warum sollten zwei dreijährige Kinder Blanche angreifen? Warum?« Er sprach mit monotoner Stimme, als hätte er jedes Gefühl verloren.
»Drei Jahre sind sie nur chronologisch gesehen alt«, sagte Landau sanft. »Physiologisch sind sie etwa sechzehn, wenn man sie nach menschlichen Begriffen beurteilt. Geistig? Nun, das weiß ich nicht. Johnson sagte, sie hätten ›Mamapapa‹ geschrien, während sie ihn angriffen. Das sind die einzigen Wörter, die sie kennen, nicht wahr?« »Ja.« »Du bist Zoologe, Dennis. Was, würdest du sagen, ist die Lebenserwartung eines Säugetiers, das in dreißig Monaten die Pubertät erreicht?« »Etwa… etwa zwanzig Jahre maximal.« »Intelligenzstufe?« »Niedrig. Tierisch.« Er blickte vom Boden auf. »Es sind Orang Utans, Marc. Orang Utans, nur schlimmer. Ja! Schlimmer!« Heroa wirkte besorgt. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß das passieren würde. Ich… es tut mir leid, daß ich es überhaupt zugelassen habe, Dennis.« »Deine Schuld ist das nicht. Ausschließlich meine. Ich habe es kommen sehen, aber ich wollte es nicht wahrhaben – wenn ihr das begreift. Und Blanche war noch blinder als ich. Manchmal habe ich mich gefragt, ob sie es je sehen würde. Ich frage mich, ob sie es jetzt begreift. Wird sie sich wieder irgendwelche Entschuldigungen ausdenken?«
Es dauerte beinahe vierundzwanzig Stunden, bis sie die Antwort darauf bekamen. »Sie ist jetzt wach, Dennis«, sagte Jim Pendray. »Sie ist bei Bewußtsein. Sie wird durchkommen. Sie will dich sehen.« Er führte Barlow zum Krankenzimmer und ließ ihn allein hineingehen, ließ aber die Tür einen Spalt offenstehen, so daß er, Heroa und Landau mithören konnten.
»Blanche, Blanche, Liebling.« Sie war am ganzen Körper bandagiert, schlug aber die Augen auf und versuchte zu lächeln. »Liebling, was ist geschehen? Kannst du sprechen?« Sie schloß die Augen wieder. »Es war schrecklich. Schrecklich.« »Was ist geschehen?« »Ich… ich habe an meinem Schreibtisch gearbeitet, und da hörte ich… eigenartige Geräusche.« Ihre Worte kamen abgehackt. »Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer. Michael und Jane waren… auf dem Boden. Sie – oh, Dennis! Sie kopulierten!« »Ja, und was dann?« »Ich wurde wütend. Ich… ging hinein und… stieß Michael von Jane herunter. Ich… ich ohrfeigte ihn. Dann schrien sie beide und knurrten… und… und gingen auf mich los… wie wilde Tiere… ich konnte mich nicht gegen sie wehren… sie waren zu stark. Sie bissen und kratzten und schlugen. Und … dann kann ich mich an nichts mehr erinnern.« Einen Augenblick war sie still, dann wiederholte sie: »Wie wilde Tiere.« Sie blickte ihren Mann aus geweiteten Augen an. »Es sind keine Menschen, Dennis! Es sind einfach keine Menschen!« Die drei Wissenschaftler, die draußen zugehört hatten, blickten sich nur stumm an.
Originaltitel: OVERPROOF. Copyright © 1965 by Conde Nast Publications, Inc. Aus ANALOG SCIENCE FICTION – SCIENCE FACT Oktober 1965. Übersetzt von Heinz Nagel.
Lawrence O’Donnell AUS DER TIEFE EMPOR
In etwa achthundert Meter Tiefe ruht die schwarze ImperviumKuppel, die Montana schützt, auf dem Grund des Venusmeeres. Unter der Kuppel ist Karneval, denn die Montaner feiern den vierhundertsten Jahrestag der Landung von Erdenmenschen auf der Venus. Unter der großen Kuppel, die die Stadt bedeckt, herrschen Licht und Farbe und Heiterkeit. Maskierte Männer und Frauen in Seide und Celoflex wandern durch die breiten Straßen, lachen und trinken die schweren Weine der Venus. Der Meeresboden ist ebenso wie die hydroponischen Gewächstanks nach Delikatessen abgekämmt worden, um die Tische der Reichen zu füllen. Finstere Schatten bewegen sich inmitten der Feiernden: Männer, deren Gesichter sie unverkennbar als Mitglieder einer Freien Gefolgschaft ausweisen. Auch die teuerste Kleidung kann den Stempel nicht verwischen, den Jahre des Kampfes ihnen aufgedrückt haben. Unter den Dominomasken sind ihre Münder hart und kantig. Im Gegensatz zu den Unterseebewohnern ist ihre Haut von den ultravioletten Strahlen, die durch die Wolkenschichten der Venus dringen, dunkel gebrannt. Auf dem Fest wirken sie wie Gespenster aus der Vergangenheit. Man respektiert sie, fürchtet sie aber zugleich. Es sind Söldner. Wir befinden uns auf dem Planeten Venus, vor neunhundert Jahren, unter dem Aurorameer, nicht weit nördlich des Äquators. Vor neunhundert Jahren also, ebenso fern im Raum
wie in der Zeit. Über dem ganzen Wolkenplaneten verstreut liegen die Unterwasserkuppeln, und noch viele hundert Jahre werden vergehen, ehe das Leben sich ändert. Aus unserer heutigen Perspektive, aus der Zivilisation des vierunddreißigsten Jahrhunderts, ist es leicht, zu leicht, die Menschen in den Kuppeln als Wilde zu betrachten, als Wilde, die dumm und brutal ein Leben der Primitivität führen. Schon lange sind inzwischen die Freien Gefolgschaften verschwunden. Die Inseln und Kontinente der Venus sind registriert und Krieg ist heute ein Fremdwort. Aber in den Zeiten des Übergangs, in Zeiten verzweifelter Rivalität, gibt es immer Kriege. Die Kuppeln bekämpften sich untereinander. Jede einzelne versuchte, die anderen zu unterwerfen, indem sie ihre Coriumvorräte raubte, die Energiequelle jener Tage. Historiker, die die Geschichte dieser Epoche studieren, werden Vergnügen daran finden, die vielen Legenden jener Zeit zu prüfen und die grundlegenden sozialen und geologischen Fakten daraus abzuleiten. Man darf als allgemein bekannt voraussetzen, daß nur ein einziger Faktor die Kuppeln davor bewahrte, sich gegenseitig zu vernichten: das Gentleman-Agreement, das den Krieg den Kriegern überließ und damit den Unterseestädten Gelegenheit gab, ihre Wissenschaft und ihre Gesellschaftsstruktur zu entwickeln. Wahrscheinlich war dieser Kompromiß unvermeidbar. Jedenfalls führte er zur Bildung der Freien Gefolgschaften, der Söldnergruppen, die in den Dienst einer jeden Kuppel traten, die angegriffen wurde oder selbst anzugreifen wünschte. Ap Towrl berichtet in seinem Monumentalwerk Zyklen der Venus in der Form symbolischer Legenden. Viele Historiker haben die nüchterne Wahrheit aufgezeichnet, die den Krieg als ein hartes, kompromißloses Geschäft entlarvt. Es ist dagegen nicht allgemein bekannt, daß die Söldner beinahe unmittelbar für den heutigen Höchststand unserer Kultur verantwortlich
sind. Nur ihnen ist es zuzuschreiben, daß der Krieg die wissenschaftliche und soziale Entwicklung zu keiner Zeit stören durfte. Der Kampf war eine hochspezialisierte Wissenschaft für sich und benötigte wegen der fortgeschrittenen Technik jener Zeit nur wenige Soldaten. Die Söldnergruppe bestand nur aus einigen tausend Männern, nicht mehr. Ein eigenartiges, einsames Leben mußten sie geführt haben, vom normalen Leben in der Kuppel ausgeschlossen. Aber ohne Söldner wären die Kuppelstädte in den totalen Krieg hineingezogen worden. Und das Ergebnis eines solchen Krieges hätte nur eines sein können: die vollständige Vernichtung. Als harte, unbezähmbare Diener des Kriegsgottes auf ihre eigene Abschaffung hinarbeitend, füllen die Gefolgsleute die Seiten der Geschichte, und über ihnen flattert in der wolkensatten Atmosphäre der Venus das Banner des Kriegsgottes Mars. Sie waren zum Untergang verurteilt, ebenso wie die Saurier, und sie kämpften weiter, ebenso wie die Saurier es taten, und dienten auf ihre eigene ungewöhnliche Weise dem Gott des Friedens, der hinter dem des Krieges wartete. Jetzt sind sie dahingegangen. Aber indem wir sie und ihren Einfluß auf die Unterseeperiode studieren, können wir viel lernen; denn ihnen ist es zuzuschreiben, daß die Zivilisation wieder jene Höhen erklomm, die sie auf der Erde erreicht hatte und vielleicht noch darüber hinaus. Die Gefolgsleute haben ihren endgültigen Platz in der interplanetarischen Literatur gefunden. Jetzt sind sie Legende, archaisch und fremd. Aber sie waren Kämpfer. Und in dem Maße, wie die Einigung der Venusstädte Fortschritte machte, gingen sie dahin. Dennoch können wir sie besser verstehen, als die Bewohner der Kuppelstädte sie verstanden haben.
Diese Geschichte, die auf Tatsachen und Legenden aufbaut, hat zum Mittelpunkt einen typischen Kämpfer jener Zeit – Kapitän Brian Scott von Doones Freien Gefolgsleuten. Vielleicht hat es ihn nie gegeben. Scott trank von dem beißend scharfen Uisquiplus und starrte durch die Rauchschwaden in der Taverne. Er war ein harter, vierschrötiger Mann mit dichtem, kurzgeschnittenem Haar, das schon von grauen Fäden durchzogen war. Eine alte Wunde war an seinem Kinn vernarbt. Mit seinen dreißig Jahren sah er aus wie ein Veteran. Er war vernünftig genug, einen ganz gewöhnlichen blauen Celoflexanzug zu tragen anstatt der schreiend bunten Seide- und Nylongewebe, die rings um ihn glänzten. Draußen wurde eine lachende Menschenmenge über die Laufbänder getragen. Man konnte sie durch die durchsichtigen Wände sehen. Im Inneren der Taverne war es ruhig, abgesehen von der tiefen Stimme eines Harfenspielers, der eine alte Ballade sang und sich selbst auf seinem komplizierten Instrument begleitete. Dann endete das Lied. Verstreuter Applaus ertönte; plötzlich plärrte aus einem Lautsprecher Musik, und dann war es mit der Beherrschung dahin. In den Nischen und an der Bar fingen Männer und Frauen zu lachen an und sich ohne Rücksicht auf ihre Nachbarn zu unterhalten. Manche Paare begannen zu tanzen. Das Mädchen neben Scott hatte eine schlanke, gebräunte Gestalt und kohlschwarze Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen. Sie blickte ihn fragend an. »Hast du Lust, Brian?« Scott verzog den Mund zu einer Grimasse. »Ich denk schon, Jiana. Äh?« Er stand auf, und sie schwebte graziös in seine Arme. Brian tanzte nicht besonders gut, aber was ihm an Übung fehlte, ersetzte er durch Gefühl für Rhythmus. Jianas Gesicht mit den hohen Wangenknochen war ihm zugewandt.
»Du mußt Bienne vergessen. Er will dich bloß ärgern.« Scott blickte zu einer Nische hinüber, wo zwei Mädchen mit einem Mann saßen – Kommandant Fredrik Bienne von den Doones. Er war ein hagerer, hochgewachsener Mann mit verbittertem Gesicht. Seine braunen Augen lagen unter finsteren Brauen. Er deutete gerade auf das tanzende Paar. »Ich weiß«, nickte Scott. »Das will er. Ach, soll ihn der Teufel holen. Ich bin nun mal Kapitän und er nur Kommandant. Nächstes Mal soll er sich an seine Befehle halten und sein Schiff nicht aus dem Verband herausnehmen, um einen Gegner zu rammen.« »So war das also?« fragte Jiana. »Ich habe es nicht genau gewußt. Es wird so viel geredet.« »Da hast du recht. Oh, Bienne haßt mich schon seit Jahren. Ein Gefühl, das ich übrigens erwidere. Wir kommen einfach nicht miteinander aus. Jedesmal, wenn ich befördert wurde, fing er an, neidisch zu werden. Wahrscheinlich hat er sich eingebildet, daß er dienstälter ist als ich und deshalb schneller befördert werden müßte. Aber er ist einfach ein zu großer Individualist – und zwar im falschen Augenblick.« »Er trinkt viel«, sagte Jiana. »Laß ihn doch. Jetzt sind wir schon seit drei Monaten in der Montana-Kuppel. Die Jungs haben die Untätigkeit satt – noch dazu wenn sie so behandelt werden.« Scott deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür, wo ein Gefolgsmann mit dem Barkeeper stritt. »Hier haben nur Offiziere Zutritt. Daran ist nichts zu ändern.« Sie konnten das Gespräch im allgemeinen Lärm nicht hören, aber worum es ging, war nicht zu verkennen. Und dann zuckte der Soldat die Achseln. Man sah, daß er einen Fluch ausstieß, als er ging. Ein dicker Mann in scharlachroter Seide rief herausfordernd:
»Wollen keine Soldateska hier haben!« Scott sah, wie Kommandant Bienne mit halbgeschlossenen Augen aufstand und auf den Tisch des Dicken zuging. Scott zuckte leicht mit den Achseln. Sollte diese Zivilisten doch der Teufel holen. Geschah dem Burschen ganz recht, wenn Bienne ihm die Leviten las. Darauf schien es hinauszulaufen. Der Dicke befand sich in Gesellschaft eines Mädchens und dachte gar nicht daran, etwas zurückzunehmen, obwohl Bienne in drohender Haltung vor ihm stand. Plötzlich kam eine Durchsage über die Lautsprecheranlage. Scott erfaßte ihren Sinn sofort. Er nickte Jiana zu und sagte: »Das wär’s.« Sie hatte es auch gehört und ließ Scott los. Er ging auf den Tisch des Dicken zu und sah, wie sich dort eine Prügelei anbahnte. Der Zivilist, das Gesicht rot wie ein Truthahn, hatte plötzlich zugeschlagen und rein zufällig Bienne an der Wange getroffen. Der Kommandant grinste verkniffen und trat einen Schritt zurück. Seine Faust kam hoch. Scott packte ihn am Arm. »Nicht, Kommandant.« Bienne wirbelte herum. »Was geht Sie das an? Lassen – « Der Dicke sah, daß sein Gegner abgelenkt war und das machte ihm Mut. Mit geballten Fäusten griff er an. Scott langte an Bienne vorbei, drückte dem Zivilisten die offene Hand ins Gesicht und schob. Der Dicke fiel auf seinen Tisch. Als er wieder aufstand, sah er eine Waffe in Scotts Hand. Der Kapitän sagte barsch: »Kümmern Sie sich um Ihr Strickzeug, Mister.« Der Zivilist leckte sich über die Lippen, zögerte und setzte sich. Halblaut murmelte er irgend etwas über wildgewordene Söldner. Bienne versuchte sich loszureißen, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er den Kapitän schlagen. Scott
schob die Waffe ins Halfter zurück. »Befehle«, sagte er zu dem Kommandanten und deutete mit dem Kopf auf den Lautsprecher. »Haben Sie es nicht gehört?« »Mobilmachung. Doone-Gefolgsleute melden sich im Hauptquartier. Kapitän Scott in der Administration. Sofortige Mobilmachung – « »Oh«, sagte Bienne, wobei er immer noch finster blickte. »Okay. Aber Zeit, diesem Dreckskerl eine zu verpassen, hätte ich schon noch gehabt.« »Sie wissen genau, was sofortige Mobilmachung bedeutet«, sagte Scott. »Unter Umständen brechen wir sofort auf. Das ist ein Befehl, Kommandant!« Bienne salutierte und wandte sich ab. Scott ging zu seinem Tisch zurück. Jiana hatte ihre Handtasche genommen und fuhr sich gerade mit dem Lippenstift über die Lippen. Ihr Blick begegnete dem seinen. »Ich warte im Appartment, Brian. Viel Glück.« Er küßte sie kurz, war aber in Gedanken nicht mehr bei der Sache. Jiana verstand. Sie lächelte, strich ihm übers Haar und stand auf. Dann traten sie hinaus auf die Bänder. Parfümierter Wind blies Scott ins Gesicht. Angewidert rümpfte er die Nase. Während des Karnevals waren die Kuppeln für die Söldner noch unangenehmer als sonst; dann spürte man die Kluft, die es zwischen ihnen und den Unterseebewohnern gab, noch deutlicher. Scott schob sich durch die Menschenmenge und zog Jiana hinter sich her. Sie gingen schräg über die Bänder, bis sie den schnellen Mittelstreifen erreicht hatten. Dort fanden sie Sitzplätze. An einer Kreuzung verließ Scott das Mädchen. Er fuhr weiter zur Administration, einer Gruppe hoher Gebäude im Zentrum der Stadt. Hier war das technische und politische Hauptquartier, mit Ausnahme der Laboratorien, die in den Vorstädten untergebracht waren, in der Nähe der Kuppelwand.
Es gab noch ein paar Testkuppeln, ein paar Kilometer von der Stadt entfernt, aber die benutzte man nur für gefährliche Experimente. Scott blickte auf und wurde unwillkürlich an die Katastrophe erinnert, die aus allen Wissenschaftlern so etwas ähnliches wie eine Freimaurerloge gemacht hatte. Über ihm hing, scheinbar schwerelos, über einem freien Platz ein Erdglobus, halb verdeckt von den Falten eines schwarzen Vorhangs. In jeder Kuppel auf der Venus gab es ein ähnliches Monument, das an den verlorenen Mutterplaneten erinnerte. Scotts Blick wanderte weiter zur Kuppeldecke, so als könne er das Kuppelmaterial, die Wasserschicht und die Wolkenatmosphäre durchdringen und den weißen Stern sehen, der mitten im Weltraum hing und fast so hell strahlte wie die Sonne strahlte. Ein Stern – das war alles, was von der Erde übrig geblieben war, seit dort vor zweihundert Jahren die atomare Vernichtung getobt hatte. Wie ein Lauffeuer hatte die Pest sich ausgebreitet, hatte Kontinente schmelzen und Berge versinken lassen. In den Bibliotheken gab es Videoaufzeichnungen von dieser Apokalypse. Ein religiöser Kult – die Männer vom Tage des Gerichts – hatte sich erhoben und die völlige Vernichtung der Wissenschaft gefordert. Es gab immer noch Anhänger dieses Kultes. Aber als die Techniker sich vereinten und auf alle Zeit Experimente mit Atomkraft verboten, die Todesstrafe auf die Anwendung der Atomenergie aussetzten und niemand gestatteten, sich ihrer Gesellschaft anzuschließen, der den Minerva-Eid geleistet hatte, war dieser Kult bald am Ende. »… nur zum Nutzen der Menschheit zu arbeiten… alle Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, um die Menschheit und die Wissenschaft zu schützen… nie das Vertrauen zu mißbrauchen, das man in uns setzt und stets den Untergang des Mutterplaneten vor Augen…«
Die Erde. Eine seltsame Welt mußte das gewesen sein, dachte Scott. Sonnenlicht zum Beispiel, das nicht von einer Wolkenschicht gefiltert wurde. In jenen Tagen hatte es keine unerforschten Gebiete auf der Erde gegeben, aber hier auf der Venus, wo die Kontinente noch nicht erobert waren – dafür bestand natürlich keine Notwendigkeit, da alles Lebensnotwendige unter den Kuppeln produziert werden konnte –, hier auf der Venus gab es immer noch unbekanntes Gebiet! Unter den Kuppeln eine hochspezialisierte Kultur, auf der Oberfläche des Planeten eine Urwelt, wo nur die Freien Gefolgschaften ihre Festungen und ihre Schiffe hatten – Schiffe zum Kampf, die Festungen, um die Techniker zu beherbergen. Die Kuppeln duldeten die Besuche der Söldner, ließen jedoch nicht zu, daß sie sich für immer dort niederließen. So ausgeprägt war der Gegensatz zwischen Krieg und Fortschritt in den Augen der Öffentlichkeit. Unter Scotts Füßen führte das Transportband an eine Rolltreppe heran, die ihn ins Administrationsgebäude beförderte. Er trat auf ein anderes Band, das ihn zu einem Lift beförderte, und stand kurz danach vor einem Vorhang, auf dem das Gesicht von Präsident Dane Crosby von Montana abgebildet war. »Kommen Sie ’rein, Kapitän«, sagte Crosbys Stimme, und Scott schob den Vorhang beiseite. Jetzt stand er in einem mittelgroßen Raum, durch dessen großes Fenster man die Stadt sehen konnte. Crosby, eine weißhaarige, schlanke Gestalt in blauer Seide, saß an seinem Schreibtisch. Er wirkte wie ein müder alter Buchhalter, dachte Scott. Und doch war Crosby einer der größten Politologen der Venus. Cinc Rhys, der Anführer von Doones Freier Gefolgschaft, saß in einem Ruhesessel. Die Lebenssäfte schienen Rhys’ Körper schon vor Jahren verlassen zu haben. Übriggeblieben war eine Mumie aus braunem Leder und Sehnen. An dem
Mann war nichts Weiches. Sein Lächeln war eine Grimasse. Muskeln lagen wie Drähte unter der dunklen Haut. Scott salutierte. Rhys wies ihn mit einer Handbewegung an, ebenfalls in einem Ruhesessel Platz zu nehmen. Die Erregung in den Augen des Cinc war auffällig – ein Adler, der sich anschickte, zuzustoßen, ein Raubtier, das Blut gerochen hatte. Crosby spürte das, und ein schiefes Lächeln spielte über sein bleiches Gesicht. »Jedem sein Handwerk«, bemerkte er ironisch. »Wahrscheinlich würde ich mich auch zu Tode langweilen, wenn ich zu lange Urlaub hätte. Aber diesmal steht Ihnen ein ziemlicher Kampf bevor, Cinc Rhys.« Scotts Körper straffte sich. Rhys blickte ihn an. »Die Virginia-Kuppel greift an, Kapitän. Sie haben die Höllenhunde gedungen – Flinns Leute.« Eine Pause entstand. Es gab Einzelheiten zu besprechen. Die beiden Söldner wollten das aber nicht in Gegenwart eines Zivilisten tun, selbst wenn es der Präsident der MontanaKuppel war. Crosby stand auf. »Die finanzielle Seite ist zufriedenstellend geregelt?« Rhys nickte. »Ja, die ist in Ordnung. Ich nehme an, daß die Schlacht in ein paar Tagen stattfindet. Ich würde annehmen in der Nähe des Venus-Grabens.« »Gut. Ich muß noch etwas erledigen; wenn Sie mich bitte ein paar Minuten entschuldigen wollen – « Er führte den Satz nicht zu Ende und ging durch den Vorhang hinaus. Rhys bot Scott eine Zigarette an. »Sie begreifen doch, Kapitän. Die Höllenhunde!« »Ja, Sir. Danke. Das schaffen wir nicht allein.« »Stimmt. Wir haben weder genug Leute noch Waffen. Und die Höllenhunde haben sich kürzlich mit O’Brians Männern vereint, nachdem O’Brian bei den Kämpfen am Pol getötet wurde. Eine ziemlich starke Einheit. Und ihre Spezialität ist
der U-Boot-Angriff. Ich würde sagen, wir müssen den Plan 7 einsetzen.« Scott schloß die Augen und überlegte. Jede Freie Gefolgschaft verfügte über ausgeklügelte Angriffspläne, die auf die Eigenheiten jeder anderen Gefolgschaft abgestimmt waren. Diese Pläne wurden laufend verbessert, wenn es Fortschritte in der Waffentechnik gab oder wenn Gruppen sich miteinander verbündeten. Diese Pläne waren so detailliert, daß sie binnen Augenblicken realisiert werden konnten. Plan H 7, so erinnerte sich Scott, sah vor, daß man sich der Hilfe des »Mob«, einer kleinen, gut organisierten Gruppe von Söldnern versicherte, die von Cinc Tom Mendez befehligt wurde. »Okay«, sagte Scott. »Werden Sie mit ihm einig?« »Ich glaube schon. Wir haben uns noch nicht über die Prämie geeinigt. Ich habe ihn über Laser angerufen, aber er schiebt die Entscheidung vor sich her. Er wartet auf den letzten Augenblick, um uns seine Bedingungen diktieren zu können.« »Was verlangt er, Sir?« »Fünfzigtausend in bar und einen fünfzigprozentigen Anteil an der Beute.« »Ich würde sagen, dreißig Prozent müßten genügen.« Rhys nickte. »Ich habe ihm fünfunddreißig angeboten. Vielleicht schicke ich Sie zu seiner Festung – mit Generalvollmacht. Wir können auch eine andere Gefolgschaft kriegen, aber Mendez hat eine ausgezeichnete U-BootOrtungsanlage, und die wäre im Kampf gegen die Höllenhunde sehr nützlich. Vielleicht komme ich über Laser mit ihm klar. Wenn nicht, müssen Sie zu ihm fliegen und seine Dienste einkaufen. Und zwar um weniger als fünfzig Prozent Beuteanteil, wenn das geht.« Scott rieb sich die Kinnarbe. »Inzwischen hat Kommandant Bienne die Leitung der Mobilmachung. Wenn – «
»Ich habe unsere Festung angerufen. Transportflugzeuge sind bereits unterwegs.« »Das gibt einen harten Kampf«, sagte Scott, und die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Rhys lachte. »Und gute Profite. Virginia hat große Coriumvorräte. Ich weiß nicht wieviel, aber eine ganze Menge.« »Wie hat es denn diesmal angefangen?« »Wie üblich, nehme ich an«, sagte Rhys ohne jedes Interesse. »Imperialismus. Jemand in Virginia hat sich einen Plan ausgedacht, um die anderen Kuppeln zu annektieren. Immer dasselbe.« Sie standen auf, als die Türvorhänge auseinandergingen. Präsident Crosby, ein weiterer Mann und eine Frau traten ein. Der Mann wirkte jung, und sein knabenhaftes Gesicht war noch nicht gebräunt. Das Mädchen war hübsch und lieblich und wirkte fast transparent wie eine Puppe, die in einem inneren Licht leuchtete. Ihr blondes Haar war nach der augenblicklich herrschenden Mode kurz geschnitten, und ihre Augen glänzten, wie Scott feststellte, in einem eigenartigen Grün. Sie war mehr als nur hübsch – sie war aufregend interessant. »Meine Nichte Ileene Kayne«, stellte Crosby vor. »Und mein Neffe, Norman Kayne.« Dann setzten sie sich. »Wie wär’s mit einem Drink?« schlug Ileene vor. »Hier geht es so steif zu. Schließlich hat der Kampf noch nicht begonnen!« Crosby schüttelte den Kopf. »Kein Mensch hat dich eingeladen. Versuch jetzt bloß nicht, eine Party daraus zu machen. Wir haben nicht viel Zeit.« »Na schön«, murmelte Ileene. »Ich kann warten.« Sie musterte Scott interessiert. Jetzt schaltete Norman Kayne sich ein. »Ich möchte gern Donnes Freier Gefolgschaft beitreten, Sir. Ich habe mich
bereits beworben. Aber jetzt, wo eine Schlacht bevorsteht, möchte ich nicht warten, bis alles den Dienstweg gegangen ist. Deshalb habe ich mir gedacht – « Crosby sah Cinc Rhys an. »Das wäre ein persönlicher Gefallen, den Sie mir tun könnten. Aber die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen. Mein Neffe ist ein unverbesserlicher Romantiker. Das Leben in der Kuppel hat ihm noch nie gefallen. Vor einem Jahr ist er ausgerissen und hat sich Starlings Gefolgschaft angeschlossen.« Rhys hob die Brauen. »Dieser Bande? Das ist keine Empfehlung für ihn. Diese Leute werden nicht einmal als Söldner angesehen. Das ist eher eine Guerillabande. Ohne jede Ethik. Es gibt sogar Gerüchte, daß sie sich mit Atomkraft beschäftigt haben.« Crosby blickte verstört auf. »Davon hatte ich nichts gehört.« »Es ist auch nur ein Gerücht. Falls es je Beweise dafür geben sollte, würden die Freien Gefolgschaften – und zwar alle – Starling sofort vernichten.« Norman Kayne schien sich in seiner Haut nicht ganz wohlzufühlen. »Ich war wahrscheinlich ziemlich dumm, aber ich wollte kämpfen, und Starlings Gefolgschaft hatte Eindruck auf mich – « Der Cinc räusperte sich. »Das kann ich mir vorstellen. Echte Romantiker, ohne die leiseste Ahnung, was Krieg wirklich bedeutet. Sie haben bloß ein Dutzend Techniker und keine Spur von Disziplin. Echte Piraten. Kayne, heute werden Kriege nicht von Romantikern gewonnen. Der moderne Soldat ist ein Taktiker, der weiß, wie man denkt, integriert und gehorcht. Wenn Sie sich unserer Gefolgschaft anschließen, müssen Sie alles vergessen, was Sie bei Starling gelernt haben.« »Sie nehmen mich also, Sir?« »Ich glaube, das wäre unklug. Ihnen fehlt die Ausbildung – « »Ich habe Erfahrung – «
»Sie würden mir einen Gefallen tun«, schaltete Crosby sich ein, »wenn Sie diesmal auf den Dienstweg verzichteten, Cinc Rhys. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar. Da mein Neffe unbedingt Soldat werden möchte, würde ich es vorziehen, daß er bei den Doones diente.« Rhys zuckte die Achseln. »Na schön. Kapitän Scott wird Ihnen Ihre Befehle erteilen, Kayne. Und vergessen Sie nicht, daß die Disziplin das wichtigste für uns ist.« Der Junge mühte sich vergebens, ein begeistertes Lächeln zu verbergen. »Vielen Dank, Sir.« »Kapitän – « Scott stand auf und nickte Kayne zu. Sie gingen hinaus. Im Vorzimmer war ein Telefon. Scott rief das Hauptquartier der Doones in Montana an. Das Gesicht des Integrators blickte ihn fragend vom Bildschirm an. »Hier Kapitän Scott. Neuaufnahme.« »Ja, Sir. Aufnahmebereit.« Scott schob Kayne vor sich. »Fotografieren Sie diesen Mann. Er wird sich umgehend im Hauptquartier melden. Name: Norman Kayne. Nehmen Sie ihn ohne Ausbildung auf – Befehl von Cinc Rhys.« »Bestätigt, Sir.« Scott unterbrach die Verbindung. Kayne konnte sein Lächeln immer noch nicht unterdrücken. »Also«, sagte der Kapitän, »das wär’s. Sie unterstehen meinem Kommando. Worauf sind Sie spezialisiert?« »Gleitboote, Sir.« »Gut. Noch etwas. Vergessen Sie nicht, was Cinc Rhys Ihnen gesagt hat. Disziplin ist verdammt wichtig. Das haben Sie wahrscheinlich noch nicht erfaßt. Das ist kein Krieg mit Schild und Schwert. Hier gibt es auch keine Reiterattacken. Romantisch ist der Krieg schon seit den Kreuzzügen nicht
mehr. Sie brauchen bloß den Befehlen zu gehorchen, dann kriegen Sie keinen Ärger. Viel Glück.« »Danke, Sir.« Kayne salutierte und schritt hinaus. Scott grinste. Das Theatralische würde man dem jungen Mann bald austreiben. Und dann ertönte neben ihm eine Stimme. Er wandte sich um. Ileene Kayne wirkte in ihrer Celoflexrobe schlank und schön. »Ich glaube, Sie sind doch ein menschliches Wesen, Kapitän«, sagte sie. »Ich hab mit angehört, was Sie zu Norman gesagt haben.« Scott zuckte die Achseln. »Was ich ihm gesagt habe, ist zu seinem eigenen Nutzen – und zum Nutzen der Gefolgschaft. Ein einziger Mann, der nicht bei der Sache ist, kann viel Ärger verursachen, Miss Kayne.« »Ich beneide Norman«, sagte sie. »Das ungezwungene Leben, das Sie führen, muß faszinierend sein. Es würde mir gefallen – eine Weile. Nicht lange. Ich bin eines der nutzlosen Produkte dieser Zivilisation und tauge zu nichts. Aber ein Talent habe ich zur Perfektion entwickelt.« »Und das wäre?« »Nun, Hedonismus würden Sie es wahrscheinlich nennen. Ich habe Spaß an mir selbst. Das ist meistens nicht einmal langweilig. Aber im Augenblick langweile ich mich. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten, Kapitän.« »Nun, ich höre zu«, sagte Scott. Ileene Kayne schnitt eine Grimasse. »Das ist der falsche Ausdruck. Ich möchte – Sie besser kennenlernen, psychologisch gesehen, meine ich. Aber schmerzlos. Abendessen und Tanzen. Geht das?« »Dafür ist keine Zeit«, sagte Scott. »Wir können jeden Augenblick unsere Befehle bekommen.« Er wußte nicht, ob er mit diesem Mädchen ausgehen wollte, obwohl zweifellos von ihr eine gewisse hintergründige
Faszination ausging, ein Reiz, den er nicht ergründen konnte. Sie war stellvertretend für die Annehmlichkeiten einer Welt, die er nicht kannte. Die anderen Eigenschaften dieser Welt reizten ihn nicht: Geopolitik oder nichtmilitärische Wissenschaften waren ihm zu fremdartig. Aber alle Welten berühren sich an einem Punkt – dem Vergnügen. Scott begriff, wie die Menschen der Unterseewelt sich entspannten, aber er hatte kein Verständnis für ihre Arbeit oder ihr Gesellschaftssystem. Cinc Rhys kam durch den Vorhang. Seine Augen verengten sich. »Ich muß telefonieren, Kapitän«, sagte er. Scott wußte, was das bedeutete. Er wollte mit Cinc Mendez seinen Handel perfekt machen. Er nickte. »Ja, Sir. Soll ich mich im Hauptquartier melden?« Rhys’ hartes Gesicht schien sich zu entspannen, als er zuerst Ileene und dann Scott ansah. »Sie haben bis zum Morgen Ausgang. Ich brauche Sie erst dann. Aber melden Sie sich um sechs Uhr bei mir. Sie hatten sicher noch einiges zu erledigen.« »Jawohl, Sir.« Scott blickte Rhys nach. Der Cinc hatte natürlich Jiana gemeint. Aber Ileene wußte das nicht. »Nun?« fragte sie. »Kriege ich einen Korb? Sie könnten mich wenigstens zu einem Drink einladen.« Dafür war genügend Zeit. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Scott, und Ileene schob ihren Arm unter den seinen. Dann traten sie in den Fallschacht. Als sie auf einem der Bänder standen, wandte Ileene sich zu Scott um. »Ich habe etwas vergessen, Kapitän. Sie sind vielleicht schon verabredet. Ich habe nicht daran gedacht – « »Es ist nichts«, sagte er. »Nichts Wichtiges.« Das stimmte auch. Und als ihm das klar wurde, empfand er eine Art von Dankbarkeit für Jiana. Seine Beziehung zu ihr ergab sich aus seinem Beruf. Freiehe nannte man das; Jiana
war weder seine Frau noch seine Geliebte, sondern irgend etwas dazwischen. Die Söldner hatten keine feste Basis für ihr gesellschaftliches Leben. In den Kuppeln waren sie Besucher, und in den Küstenforts waren sie – nun, eben Soldaten. Man konnte eine Frau ebensowenig in eine Festung bringen wie auf ein Kriegsschiff. Also lebten die Frauen der Söldner in den Kuppeln und zogen von einer Kuppel zur anderen, ebenso wie ihre Männer es taten. Und wegen des allgegenwärtigen Schatten des Todes wurden die Bindungen sehr locker gelassen. Jiana und Scott waren jetzt seit fünf Jahren in Freiehe verbunden. Keiner stellte Forderungen an den anderen. Keiner erwartete von einem Söldner Treue. Soldaten unterlagen einer so eisernen Disziplin, daß im Frieden das Pendel oft sehr weit ausschlug. Für Scott war Ileene Kayne ein Schlüssel, der vielleicht die Tür zur Kuppel öffnen konnte. Türen, hinter denen eine Welt lag, zu der er nicht gehörte und die er nicht begreifen konnte. Scott mußte feststellen, daß es Nuancen gab, von deren Existenz er nie etwas gewußt hatte. Ein Hedonist wie Ileene widmete sein ganzes Leben solchen Nuancen; sie bezeichnete sie als ihre Berufung. Eine solche Nuance war zum Beispiel die Verfeinerung des Geschmacks des starken MoonflowerCocktails, indem man ein Stück Zucker, das man vorher in Limonensaft getaucht hatte, beim Trinken zwischen den Zähnen hielt. Scott zog Uisquiplus vor und teilte die typische Verachtung eines Soldaten für das, was er als hydroponische Getränke bezeichnete. Aber die Cocktails, die Ileene vorschlug, standen in ihrer Wirkung dem scharfen Uisquiplus in nichts nach. In jener Nacht lehrte sie ihn, zwischen den einzelnen Gläsern eine Pause zu machen und Glücksgas einzuatmen, sinnliche Erregung mit geistiger Erregung zu mischen. Alles Nuancen, die nur ein Mädchen mit Ileenes Erziehung kennen konnte. Sie war nicht typisch für das Leben
in den Kuppeln. Die Unterseeleute dienten Minerva, Scott diente Mars. Ileene aber diente Aphrodite. Nicht nur der Göttin der Liebe, sondern auch der Schutzgöttin der Künste und des Vergnügens. Es war Karneval, aber weder Ileene noch Scott trugen Masken. Ihre Gesichter waren Maske genug, und beide waren geschult, sich ihre Empfindungen nicht anmerken zu lassen, wenn auch auf unterschiedliche Art. Scotts harter Mund blieb selbst beim Lächeln straff. Und Ileenes Lächeln kam so oft, daß es schon bedeutungslos war. Vermochte Scott das Leben unter dem Meer besser zu verstehen als je zuvor? Sie war für ihn wie ein Katalysator. Das Verstehen zwischen ihnen bedurfte keiner Worte. Beide erkannten, daß sie Höhepunkte einer Entwicklung darstellten, die bald zu einem normaleren Leben führen würde. Scotts Trunkenheit saß im physischen Sinne tief. Er zeigte sie nicht. Sein Haar war ordentlich gekämmt, sein hartes, strahlenverbranntes Gesicht leidenschaftslos wie eh und je. Aber wenn seine braunen Augen Ileenes Blick begegnete, sprang ein Funke zwischen ihnen über. Licht und Farben und Geräusche. Sie begannen jetzt ein Muster zu bilden. Wurden für Scott bedeutungsvoll. Mitternacht war lange vorüber. Sie saßen in einem Olymp, der eine private Welt bildete. Die Wände des Raumes, in dem sie sich befanden, schienen nicht zu existieren. Schwach leuchtende Wolken schwebten chaotisch an ihnen vorbei, und undeutlich glaubten sie, das halbunterdrückte Rauschen eines künstlichen Windes zu vernehmen. Sie waren isoliert wie die Götter. Und die Erde war ohne Form und leer, und Finsternis lag über der Tiefe. Das war natürlich die Theorie des Olymp. Niemand existierte, es gab keine Welt außerhalb dieses Saales. Werte verschoben sich, und Hemmungen schienen absurd.
Scott entspannte sich auf dem durchsichtigen Kissen, das wie eine Wolke war. Neben ihm hob Ileene das Röhrchen mit dem Glücksgas an seine Nase. Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Ileene.« Sie ließ das Röhrchen zurückgleiten. »Ich auch nicht. Zuviel ist unbefriedigend, Brian. Irgend etwas sollte immer unausgekostet bleiben, irgendeine Vorfreude. Du hast diese Fähigkeit, ich nicht.« »Wie?« »Vergnügen – nun, es gibt eine Grenze dafür. Es gibt eine Grenze für das, was der Mensch erdulden kann. Und am Ende errichte ich in mir einen psychischen Widerstand gegenüber allem. Bei dir ist es immer das letzte Abenteuer. Du weißt nie, wann der Tod kommt. Du kannst nicht planen. Pläne sind langweilig – das Unerwartete ist es, das zählt.« Scott schüttelte leicht den Kopf. »Der Tod ist auch nicht wichtig. Er ist ein automatisches Auslöschen aller Werte, oder, besser gesagt – « er zögerte, suchte nach Worten, »in diesem Leben kannst du planen, kannst du dir Werte aufbauen, weil sie alle von gewissen Bedingungen abhängen. Sagen wir – von der Mathematik. Der Tod ist ein Wechsel, eine Verschiebung zu einem anderen Ort, an dem andere Bedingungen, völlig unbekannte Zustände gelten.« »Du glaubst, daß der Tod seine Regeln hat?« »Vielleicht ist die einzige Regel die, daß es keine Regeln gibt. Man lebt und erkennt, daß das Leben dem Tod unterliegt; darauf beruht die Zivilisation. Deshalb konzentriert die Zivilisation sich auf die Rasse, nicht auf das Individuum. Gesellschaftlicher Selbsterhaltungstrieb.« Sie musterte ihn ernst. »Ich hatte nicht gewußt, daß Söldner philosophieren können.« Scott schloß die Augen. Er war jetzt ganz entspannt. »In den Kuppeln weiß man nichts über uns Söldner. Man will es gar
nicht wissen. Wir sind Menschen. Intelligente Menschen. Männer. Unsere Techniker sind genauso bedeutend wie die Wissenschaftler unter den Kuppeln.« »Aber sie arbeiten für den Krieg.« »Krieg ist notwendig«, sagte Scott. »Jetzt wenigstens.« »Wie bist du zu deinem Beruf gekommen? Darf ich das fragen?« Er lachte. »Oh, ich habe keine dunklen Flecken in meiner Vergangenheit. Ich bin kein Mörder auf der Flucht. Man – treibt so dahin. Ich bin in der Australien-Kuppel geboren. Mein Vater war Techniker. Aber mein Großvater war Soldat. Wahrscheinlich lag es mir im Blut. Ich habe verschiedene Berufe ausprobiert. Sinnlos. Ich wollte etwas, das – zum Teufel, ich weiß es nicht. Vielleicht etwas, das von einem Mann das Ganze fordert. So wie der Kampf. Es ist wie eine Religion. Diese Kultanhänger – die Männer des Neuen Gerichts – sind Fanatiker, und man merkt sogleich, daß ihre Religion das einzige ist, das sie für wichtig halten.« »Bärtige, schmutzige Männer mit finsteren Gedanken.« »Es ist eine Religion, die auf falschen Voraussetzungen aufbaut. Es gibt andere, die bei anderen Menschen Anklang finden. Aber in jenen Tagen war die Religion für mich zu passiv.« Ileene musterte sein hartes Gesicht. »Du hättest die kämpfende Kirche vorgezogen – die Malteserritter, die gegen die Sarazenen kämpften.« »Vielleicht. Ich hatte keine Werte. Jedenfalls bin ich ein Kämpfer.« »Wie wichtig ist sie für dich, die Freie Gefolgschaft?« Scott schlug die Augen auf und lächelte das Mädchen an. Und jetzt wirkte er plötzlich wie ein Junge. »Ziemlich unwichtig eigentlich. Nur gefühlsmäßig hänge ich daran. Verstandesmäßig weiß ich, daß alles ein großer
Schwindel ist. Das war schon immer so. Ebenso absurd wie der Kult des Neuen Gerichts. Wir haben kein Ziel. Ich glaube, die meisten von uns wissen, daß es für die Freien Gefolgschaften keine Zukunft gibt. In ein paar hundert Jahren – « »Und doch bleibst du dabei? Warum? Geld kann es doch nicht sein.« »Nein. Es ist – wie Trunkenheit. Bei den alten Wikingern gab es etwas Ähnliches. Die Berserker. Für einen Doone-Mann ist seine Truppe Vater, Mutter, Kind und allmächtiger Gott. Er kämpft gegen die anderen Söldner, wenn man ihn dafür bezahlt, aber er haßt sie nicht. Sie dienen dem gleichen Idol, das am zusammenbrechen ist. Das ist es wirklich Ileene. Jede Schlacht, die wir gewinnen oder verlieren, bringt uns dem Ende näher. Wir kämpfen, um die Kultur zu schützen, die uns am Ende auslöschen wird. Die Kuppeln, wenn sie sich einmal vereinigen, werden sie dann noch Soldaten brauchen? Ich sehe die Entwicklung deutlich vor mir. Wenn Krieg ein wesentlicher Teil der Zivilisation wäre, würde jede Kuppel ihr eigenes Militär behalten. Aber sie schließen uns aus. Wir sind ein notwendiges Übel. Wenn sie nur endlich mit den Kriegen Schluß machten!« Scotts Faust ballte sich unwillkürlich. »So viele Männer würden ein glücklicheres Leben auf der Venus finden – unter dem Meer. Solange es Söldner gibt, wird es auch neue Rekruten geben.« Ileene nippte an ihrem Cocktail und sah dem grauen Chaos zu, das wie eine Wolke um sie wirbelte. Im schwachen Licht schien Scotts Gesicht wie ein dunkler Stein. Nur in seinen Augen flackerte es hell. Sie berührte zart seine Hand. »Du bist Soldat, Brian. Du wirst dich nicht ändern.« Sein Lachen klang ungemein bitter. »Den Teufel würde ich nicht, Miss Ileene Kayne. Glaubst du, daß das Kämpfen nur daraus besteht, den Auslöser zu betätigen. Ich bin Stratege.
Das hat zehn Jahre gedauert. Ich mußte mehr büffeln, als ich in einem technischen Institut in einer Kuppel hätte arbeiten müssen. Ich muß alles wissen, was es über Krieg zu wissen gibt, von ballistischen Flugbahnen bis zur Massenpsychologie. Das ist die größte Wissenschaft; die das ganze Sonnensystem je gekannt hat. Und die nutzloseste. Denn in ein paar hundert Jahren spätestens wird es gar keine Kriege mehr geben. Ileene – du hast noch nie die Festung einer Freien Gefolgschaft gesehen. Das ist Wissenschaft, Wissenschaft, die nur militärischen Zwecken dient. Wir haben unsere eigenen Psychologen, wir haben Ingenieure, die alles planen, von unseren Waffen bis zum Reibungskoeffizienten unserer Gleitboote. Wir haben Gießereien und Werkstätten. Jede Festung ist eine Stadt, die für den Krieg gebaut ist, so wie die Kuppeln für den gesellschaftlichen Fortschritt gebaut sind.« »So kompliziert ist das?« »Wunderschön kompliziert und wunderschön nutzlos. Es gibt so viele von uns, die das erkennen. Oh, wir kämpfen – das ist ein Gift. Wir verehren die Gefolgschaft – das ist ein emotionelles Gift. Und dennoch leben wir nur während des Krieges. Es ist ein unvollkommenes Leben. Die Menschen in den Kuppeln leben ein volles Leben. Sie haben ihre Arbeit und Vergnügungen. Wir passen nicht dazu.« »Nicht alle«, räumte Ileene ein. »Es gibt immer solche, die sich nirgends einfügen. Ihr habt wenigstens eine Aufgabe. Du bist Soldat. Ich kann nicht vom Vergnügen allein leben. Und doch gibt es nichts anderes für mich.« Scotts Finger schlossen sich um die ihren. »Du bist das Produkt einer Zivilisation. Ich bin ein Ausgestoßener.« »Mit dir, Brian, könnte es besser sein. Eine Weile wenigstens. Aber ich glaube nicht, daß es lange halten würde.« »Vielleicht doch.«
»Das glaubst du jetzt. Es ist etwas Schreckliches, wenn man weiß, daß man nur ein Schatten ist.« »Ich weiß.« »Ich will dich haben, Brian«, sagte Ileene und wandte ihm ihr Gesicht zu. »Ich will, daß du in die Montana-Kuppel kommst und hier bleibst. Bis unser gemeinsames Experiment mißlingt. Ich glaube, es wird bald scheitern. Aber vielleicht haben wir etwas Zeit. Ich brauche deine Stärke. Ich kann dir zeigen, wie du diesem Leben das Höchstmögliche abgewinnst – wie du dich ihm anpassen kannst. Wahrer Hedonismus. Und du kannst mir – vielleicht – Kameradschaft geben. Für mich genügt die Gesellschaft von Leuten, die wie ich sind, nicht.« Scott schwieg. Ileene beobachtete ihn eine Weile. »Ist Krieg so wichtig?« fragte sie schließlich. »Nein«, sagte er, »das ist er nicht. Er ist wie ein Ballon. Und er ist leer. Die Ehre der Gefolgschaft!« Scott lachte. »Ich zögere eigentlich nicht. Ich bin schon so lange ausgeschlossen. Männer und Frauen sind wichtig, sonst nichts, denke ich.« »Männer und Frauen, oder die Rasse?« »Nicht die Rasse«, sagte er plötzlich sanft. »Die Rasse soll der Teufel holen! Die hat gar nichts für mich getan. Ich kann mich einem neuen Leben anpassen. Nicht unbedingt diesem Hedonismus. Ich bin Experte in einigen Branchen; das muß ich sein. Ich kann in der Montana-Kuppel Arbeit finden.« »Wenn du Lust hast. Ich habe es nie versucht. Ich bin wahrscheinlich mehr fatalistisch eingestellt, aber – was hältst du davon, Brian?« Ihre Augen glänzten im düsteren Schein des Raumes wie Smaragde. »Ja«, sagte Scott. »Ich werde zurückkommen und bleiben.« »Zurückkommen?« fragte Ileene. »Warum nicht gleich bleiben?«
»Wahrscheinlich weil ich ein unverbesserlicher Dummkopf bin. Ich bin wichtig, und Cinc Rhys braucht mich jetzt.« »Rhys oder die Gefolgschaft?« Scott lächelte. »Nicht die Gefolgschaft. Es ist einfach eine Arbeit, die ich verrichten muß. Wenn ich daran denke, wie viele Jahre ich geschuftet habe, immer vorgegeben habe, daß Absurdes wichtig war, immer in dem Wissen, daß ich mich vor einem Popanz verbeugt habe. Nein! Ich will deine Art von Leben – das Leben, von dem ich gar nicht gewußt habe, daß es in den Kuppeln existiert. Das hier ist viel wichtiger als Liebe. Getrennt sind wir nur Hälften. Zusammen bilden wir vielleicht ein Ganzes.« Sie gab keine Antwort. Ihre Blicke ließen Scott nicht los. Und dann küßte er sie.
Ehe die Morgenglocke läutete, war er wieder in dem Appartement. Jiana hatte bereits für ihn gepackt. Sie schlief. Ihr dunkles Haar lag auf dem Kissen, und Scott weckte sie nicht. Leise rasierte er sich, duschte und zog sich an. Schweigen lastete über der Stadt. Als er das Badezimmer verließ und seine Uniform zuknöpfte, sah er, daß der Tisch heruntergeklappt und gedeckt war. Jiana kam herein. Sie trug einen Morgenmantel. Sie stellte die Tassen ab und füllte sie mit Kaffee. »Guten Morgen, Soldat«, sagte sie. »Dafür hast du doch noch Zeit, oder?« »Mhm.« Scott küßte sie etwas zögernd. Bis zu diesem Augenblick war es ihm ganz leicht vorgekommen, sich von Jiana zu trennen. Sie würde ihm nichts in den Weg legen. Das war der Hauptgrund für die Freiehe, aber Sie saß in dem Ruhesessel, süßte den Kaffee und öffnete eine Packung Zigaretten. »Verkatert?«
»Nein. Ich habe Vitamine genommen. Fühle mich ziemlich wohl.« Die meisten Bars hatten Vitaminautomaten, mit denen man die Wirkung von zu viel Alkohol und anderen Reizmitteln neutralisieren konnte. Scott fühlte sich wohl und munter. Er überlegte, wie er das Problem Ileene anpacken sollte. Jiana machte es ihm leicht. »Wenn es ein Mädchen ist, Brian, dann nimm es nicht so ernst. Es hat keinen Sinn, etwas zu unternehmen, bis dieser Krieg vorbei ist. Wie lange wird er dauern?« »Oh, nicht lange. Höchstens eine Woche. Vielleicht wird er auch mit einer Schlacht entschieden. Das Mädchen – « »Es ist doch kein Mädchen aus einer Kuppel.« »Doch.« Jiana blickte verblüfft auf. »Du bist verrückt!« »Ich wollte es dir gerade erklären«, sagte Scott ungeduldig. »Es ist nicht nur – sie. Ich habe die Gefolgschaft satt. Ich werde austreten.« »Hm-m. Einfach austreten?« »Einfach austreten.« Jiana schüttelte den Kopf. »Frauen aus den Kuppeln sind nicht zäh.« »Das brauchen sie auch nicht zu sein. Ihre Männer sind keine Soldaten.« »Mach, was du willst. Ich warte, bis du zurückkommst. Weißt du, Brian, wir sind jetzt schon seit fünf Jahren beisammen. Wir passen zueinander. Nicht wegen so etwas Hochgestochenem wie Philosophie oder Psychologie. Das Ganze liegt auf einer viel persönlicheren Ebene. Einfach wir zwei. Als Mann und Frau kommen wir gut miteinander zurecht. Und Liebe spielt da auch mit. Diese Gefühle sind viel wichtiger als das, was du auf lange Sicht denkst. Man kann sich zwar über die Zukunft erregen, aber leben kann man sie nicht.«
Scott zuckte die Achseln. »Vielleicht habe ich angefangen, nicht mehr an die Zukunft zu denken, und konzentriere mich jetzt auf Brian Scott.« »Willst du noch Kaffee haben?« »Ja.« »Nun, ich bin fünf Jahre lang mit dir von Kuppel zu Kuppel, gezogen und habe gewartet, wenn du in den Krieg gingst, habe mich gefragt, ob du zurückkommen würdest, habe gewußt, daß ich nur ein Teil deines Lebens bin. Aber manchmal dachte ich – der wichtigste Teil. Der Soldatenberuf beansprucht dich zu fünfundsiebzig Prozent. Ich bin das fehlende Viertel. Ich glaube, du brauchst dieses Viertel. Du brauchst genaugenommen diese Kombination. Du könntest eine andere Frau finden, aber sie müßte damit einverstanden sein, sich mit fünfundzwanzig Prozent zu begnügen.« Scott gab keine Antwort. Jiana blies Rauch durch die Nase. »Okay, Brian. Ich werde warten.« »Es ist gar nicht so sehr das Mädchen. Es paßt bloß zu den Vorstellungen, die ich mir gemacht habe. Du – « »Ich würde nie dazu passen«, sagte Jiana leise. »Die Söldner brauchen Frauen, die bereit sind, Soldatenfrauen zu sein. Freifrauen, wenn du willst. In erster Linie kommt es wohl darauf an, daß wir nicht zu viel verlangen dürfen. Aber es gibt andere Dinge. Nein, Brian, selbst wenn du das wolltest, ich könnte aus mir nichts anderes machen als ich bin. Ich könnte kein seßhafter Kuppelmensch werden. Ich wäre nicht mehr ich selbst. Ich könnte mich nicht mehr respektieren, wenn ich ein Leben lebte, das für mich fremd wäre. Und du würdest mich so auch nicht haben wollen. Ich könnte und will mich nicht verändern. Ich muß so bleiben, wie ich bin. Eine Soldatenfrau. Solange du ein Gefolgsmann bist, wirst du mich brauchen, aber wenn du dich veränderst – « Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Scott zündete sich eine Zigarette an. Er runzelte die Stirn. »Das ist sehr schwer zu sagen.« »Vielleicht verstehe ich dich nicht, aber ich stelle keine Fragen, und ich versuche nicht, dich zu verändern. Solange du das willst, kannst du es von mir haben. Etwas anderes habe ich nicht zu bieten. Für einen Söldner genügt es. Für einen Kuppelbewohner ist es nicht genug – oder vielleicht zu viel.« »Du wirst mir fehlen«, sagte er. »Das kommt darauf an. Du wirst mir fehlen.« Unter dem Tisch verkrampften sich ihre Finger ineinander. Ihr Gesicht veränderte sich nicht. »Es wird spät. Komm, laß mich dein Chronometer überprüfen.« Jiana beugte sich über den Tisch, hob Scotts Hand und verglich seine Uhr mit der an der Wand. »Okay, mach dich auf den Weg, Soldat.« Scott stand auf. Er beugte sich nieder, um Jiana zu küssen und, obwohl sie ihr Gesicht halb abwandte, bot sie ihm doch kurz darauf die Lippen. Sie sprachen nicht. Scott ging schnell hinaus, und das Mädchen saß reglos da. Die Zigarette verglomm unbemerkt zwischen ihren Fingern. Irgendwie war die Tatsache gar nicht wichtig, daß Scott sie verließ und zu einer anderen Frau und in ein anderes Leben ging. Wie jedes Mal war das einzige, wovor sie Angst hatte, daß er in die Gefahr hinauszog. Sorgt dafür, daß ihm nichts zustößt, dachte sie, ohne zu wissen, daß sie betete. Sorgt dafür, daß ihm nichts zustößt! Und dann würde das Schweigen kommen und das Warten. Das hatte sich nicht verändert. Ihre Blicke gingen zur Uhr. Die Minuten waren länger geworden.
Kommandant Bienne überwachte die Einschiffung der letzten Doone-Männer, als Scott im Hauptquartier eintraf. Er salutierte
zackig, und man merkte ihm nicht an, wie anstrengend die Nacht gewesen war. »Alles in Ordnung, Sir.« »Gut. Ist Cinc Rhys da?« »Gerade eingetroffen.« Bienne deutete mit einer Kopfbewegung auf den Türvorhang. Als Scott weiterging, folgte ihm der andere. »Was gibt’s, Kommandant?« Bienne sprach mit leiser, verschwörerisch klingender Stimme. »Bronson liegt. Sumpffieber.« Er vergaß sogar ›Sir‹ zu sagen. »Er sollte den linken Flügel des Geschwaders führen. Ich übernehme das gern.« »Ich will sehen, was sich machen läßt.« Biennes Lippen preßten sich zusammen, aber er sagte nichts. Er wandte sich seinen Männern zu, und Scott ging in das Büro von Cinc. Rhys telefonierte. Er blickte auf, und seine Augen verengten sich. »Morgen, Kapitän. Ich habe gerade von Mendez gehört.« »Ja, Sir.« »Er verlangt immer noch einen Anteil von fünfzig Prozent an der Coriumbeute von Virginia. Sie werden ihn aufsuchen müssen. Versuchen Sie, ihn unter fünfzig herunterzudrücken. Rufen Sie mich aus Mendez’ Festung an.« »Jawohl, Sir.« »Noch etwas. Bronson liegt im Krankenrevier.« »Das habe ich gehört. Darf ich vorschlagen, daß Kommandant Bienne seine Stelle als Befehlshaber des linken Flügels übernimmt?« Cinc Rhys hob die Hand. »Diesmal nicht. Seine Unberechenbarkeit können wir uns nicht leisten. Der Kommandant hat beim vorangegangenen Gefecht versucht, auf eigene Faust zu handeln. Sie wissen, daß wir nichts riskieren
können, bis er zu sich selbst zurückgefunden hat. Er muß an die Doones denken und nicht an Fredrik Bienne.« »Er ist ein guter Mann, Sir. Ein erstklassiger Stratege.« »Aber noch kein guter Integrationsfaktor. Nächstes Mal. Geben Sie Kommandant Geer den linken Flügel. Behalten Sie Bienne bei sich. Er braucht Disziplin. Und -- nehmen Sie ein Gleitboot, wenn Sie zu Mendez fahren.« »Kein Flugzeug?« »Nein, die technische Abteilung hat gerade eine neue Funkfrequenz gefunden, die garantiert nicht abgehört werden kann. Ich lasse die neuen Anlagen sofort in unseren Flugzeugen und Gleitbooten installieren. Nehmen Sie das Boot. Bis zur Festung des ›Mob‹ ist es nicht weit – Sie wissen doch, diese langgezogene Halbinsel an der Küste der Südhölle.« Selbst auf den Karten wurde dieser Kontinent als Hölle bezeichnet – aus offensichtlichen Gründen. Die Hitze war nur einer. Und selbst mit dem besten Gerät würde eine Gruppe, die den Dschungel dort erforschte, die Torturen der Verdammten erleiden. An der Oberfläche der Venus hatten sich Flora und Fauna zu einem teuflischen Pakt verbunden, um den Planeten für Erdenmenschen unbewohnbar zu machen. Manche Pflanzen schieden sogar giftige Gase ab. Nur die befestigten Küstenstützpunkte der Freien Gefolgschaften konnten existieren – und das nur, weil sie Festungen waren. Cinc Rhys sah Scott mit gefurchter Stirn an. »Wenn wir uns mit dem ›Mob‹ verbinden können, wenden wir Plan H 7 an. Sonst müssen wir uns eine andere Gruppe suchen. Und das möchte ich nicht. Die Höllenhunde haben zu viele U-Boote, und wir haben nicht genug Ortungsgeräte. Strengen Sie sich also an.« Scott salutierte. »Zu Befehl, Sir.«
Rhys entließ ihn, und er ging in das angrenzende Zimmer, wo er Kommandant Bienne allein vorfand. Der Offizier sah ihn fragend an. »Tut mir leid«, sagte Scott. »Geer bekommt das Kommando des linken Flügels.« Biennes Gesicht rötete sich. »Und mir tut’s leid, daß ich Ihnen vor der Mobilmachung nicht noch eins verpaßt habe«, sagte er. »Sie mögen keine Konkurrenz, wie?« Auch Scott packte jetzt die Wut. »Von mir aus hätten Sie das Kommando bekommen, Bienne.« »Sicher, das glaub ich Ihnen aufs Wort. Schon gut, Kapitän. Wo komme ich hin? Auf einen Gleiter?« »Sie kommen mit mir auf den rechten Flügel. Kommandoschiff Flintlock.« »Mit Ihnen. Unter Ihnen meinen Sie wohl«, stieß Bienne zwischen zusammengepreßten Lippen hervor. Seine Augen blitzten. »Ich habe Befehle für Sie, Kommandant«, herrschte Scott ihn an. »Besorgen Sie mir einen Gleiterpiloten.« Wortlos wandte Bienne sich zum Bildtelefon. Scott ging hinaus und versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken. Bienne war ein Esel. Ihn interessierte nur sein eigener Ruhm. Die Doones waren ihm gleichgültig. Und dann grinste er. Nun, ihm waren die Doones auch ziemlich gleichgültig, aber solange er bei der Gefolgschaft diente, war Disziplin wichtig – Integration in die reibungslos funktionierende Kampfmaschinerie. Hier war kein Platz für Individuen. Eines hatten er und Bienne gemeinsam: keiner der beiden hatte sehr viel für die Gefolgschaften übrig. Er nahm den Lift zum Pol der Kuppel. Unter ihm versank die Stadt Montana, schrumpfte auf Spielzeuggröße zusammen. Irgendwo da unten, dachte er, war Ileene. Er würde zurückkommen. Vielleicht würde das ein kurzer Krieg werden.
Nicht, daß Kriege hier häufig länger als eine Woche dauerten. Höchstens in den Fällen, wo eine Gefolgschaft völlig neue Strategien entwickelte. Man führte ihn durch eine Schleuse in eine – Blase –, eine zähe, durchsichtige Kugel, durch die ein Kabel führte. Scott war der einzige Fahrgast. Nach kurzem Warten setzte die Blase sich mit einem leichten Ruck in Bewegung. Langsam veränderte das Wasser außerhalb der Kugel seine Farbe. Erst schwarz, dann dunkelgrün und schließlich hellblau. Seetiere schwammen vorbei, aber für Scott waren sie nichts Neues. Er sah sie kaum. Jetzt hatte die Blase die Oberfläche erreicht. Da der Luftdruck konstant geblieben war, bestand keine Gefahr, und Scott öffnete die Klappe und betrat eines der Schwimmflöße, die über der Montana-Kuppel auf dem Meer schwammen. In der Ferne wurden Söldner in eine Flugfähre geführt. Scott sah sich um. Kein Sturm, stellte er fest, obwohl die tiefhängende Wolkendecke vom Wind zerfetzt war. Plötzlich erinnerte er sich, daß die Schlacht wahrscheinlich über dem Venusgraben stattfinden würde. Das würde für die Gleitboote nicht leicht sein. Hier gab es bestimmt weniger Thermik. Ein Gleitboot, niedrig, schnittig und elegant, schoß auf die Anlegestelle zu. Der Pilot klappte die Sichtkanzel auf und salutierte. Es war Norman Kayne, der Präsidentenneffe. In seiner enganliegenden grauen Uniform wirkte er sehr schneidig. Er grinste. Scott sprang in das Fahrzeug und setzte sich neben den Piloten. Kayne zog die Kanzel wieder zu und sah Scott an. »Befehle, Kapitän?« »Wissen Sie, wo die Festung des ›Mob‹ ist? Da fahren wir hin. Schnell.« Kayne beschleunigte den Gleiter, und Gischt spritzte auf. Diese kleinen Fahrzeuge mit dem geringen Tiefgang waren
ungeheuer schnell und bei Seegefechten unersetzlich. Sie waren schwer zu treffen. Sie waren aber nicht gepanzert. Ihre einzige Bewaffnung bestand aus Kleinkaliberkanonen, die Explosivgeschosse verwendeten, und sie waren gewöhnlich mit zwei Söldnern bemannt. Scott reichte Kayne eine Zigarette. Der Junge zögerte. »Wir sind nicht unter Beschuß«, lachte der Kapitän. »Im Gefecht achten wir auf strenge Disziplin. Aber mit mir können Sie ruhig rauchen. Da!« Er gab Kayne Feuer. »Danke, Sir. Ich bin wahrscheinlich – ein wenig überängstlich?« »Der Krieg hat seine Regeln. Nicht viele, aber die wenigen, die es gibt, sollte man nicht mißachten.« Beide Männer schwiegen eine Weile und blickten auf die weite, glatte Meeresfläche hinaus. Ein Transportflugzeug flog in niedriger Höhe über ihnen. »Ist Ileene Kayne Ihre Schwester?« fragte Scott plötzlich. Kayne nickte. »Ja, Sir.« »Habe ich mir gedacht. Wenn Sie ein Mann wäre, dann wäre sie vermutlich Söldner geworden.« Der Junge zuckte die Achseln. »Oh, ich weiß nicht. Sie hat nicht – ich weiß wirklich nicht. Das würde ihr zu mühsam sein. Sie mag Disziplin nicht.« »Und Sie?« »Für mich ist das Kämpfen wichtig, Sir.« Und dann, als wäre ihm das erst später eingefallen: »Das Siegen.« »Man kann eine Schlacht verlieren, selbst wenn man sie gewinnt«, sagte Scott ernst. »Nun, ich möchte lieber Söldner sein als sonst irgend etwas. Nicht, daß ich besonders viel Erfahrung hätte – « »Sie hatten bei Starlings Gruppe Kampferfahrung. Aber wahrscheinlich haben Sie gleichzeitig ein paar ganz gefährliche Dinge gelernt. Heutzutage ist Krieg nicht mehr
romantisch. Wenn die Doones versuchten, mit Romantik und riskanten Operationen Schlachten zu gewinnen, würde es in ein, zwei Wochen keine Doones mehr geben.« »Aber – « Kayne zögerte. »Ist so etwas nicht nötig? Ich meine, ein Risiko einzugehen – « »Manchmal kommt man in verzweifelte Lagen«, räumte Scott ein, »aber ein blindes Risiko darf man im Krieg einfach nicht eingehen. Wenigstens nicht, wenn man ein guter Soldat ist. Als ich noch ein Anfänger war, habe ich mit meinem Zerstörer den Verband verlassen, um den Gegner zu rammen. Ich wurde degradiert. Und zwar aus gutem Grund. Das feindliche Schiff, das ich rammte, war für den Feind nicht so wichtig wie unser Zerstörer für uns. Wäre ich auf Kurs geblieben, hätte ich mitgeholfen, drei oder vier Schiffe zu versenken, statt eines zu beschädigen. Der Götze, vor dem wir alle auf den Knien liegen, heißt Integration, Kayne. Das ist hier viel wichtiger als es je auf der Erde war. Weil das Militär sich konsolidiert hat. Marine, Luftwaffe, Unterseeboote – die stehen jetzt alle unter einem Oberkommando. Die einzig wesentliche Veränderung hat eigentlich in der Luft stattgefunden.« »Segelflugzeuge meinen Sie? Ich weiß, daß man in einer Schlacht keine motorgetriebenen Maschinen einsetzen kann.« »Nicht in der Venusatmosphäre«, nickte Scott. »Sobald eine motorgetriebene Maschine in die Wolkenschicht eingedrungen ist, muß der Pilot sich mit Turbulenzen und Luftlöchern herumschlagen, und gezieltes Schießen ist unmöglich. Und wenn sie gepanzert sind, sind sie zu langsam. Sind sie leicht, kann man sie auch leicht orten und abschießen. Die Segelflugzeuge brauchen wir in erster Linie nicht für Bombenabwürfe, sondern um Angriffe zu leiten. Sie verbergen sich in den Wolken, bleiben dort und machen Infrarotaufnahmen, die zu den Schiffen gefunkt werden. Sie
sind die Augen der Flotte. Sie können uns – weißes Wasser voraus, Kayne. Abdrehen!« Der Pilot hatte die Schaumkronen vor ihrem Bug ebenfalls gesehen. Instinktiv riß er das Ruder herum. Das Gleitboot bockte und warf seine Insassen beinahe von den Sitzen. »Meerestier?« fragte Scott und gab sich dann auch gleich selbst die Antwort. »Nein, dazu ist die Gischt zu stark. Das ist ein Vulkan. Und die Gischt breitet sich schnell aus.« »Ich könnte ausweichen«, schlug Kayne vor. Aber Scott schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Kehren Sie um.« Gehorsam steuerte der junge Mann das Gleitboot aus der Gefahrenzone heraus. Scott hatte richtig vermutet. Der Strudel breitete sich beinahe schneller aus als das kleine Schiff fliehen konnte. Und dann hatte sie die Schaumzone eingeholt. Der Gleiter tanzte auf den Wellen, und das Steuer wurde Kayne beinahe aus der Hand gerissen. Scott half ihm. Aber selbst zwei Männer konnten es kaum bewältigen. Außerhalb der durchsichtigen Kanzel stiegen Dampfschwaden auf. Das Wasser unter dem Schaum wirkte jetzt bräunlich. Kayne gab Vollgas. Wie ein Geschoß jagte das kleine Gleitboot dahin, tanzte auf den Wellen. Einmal bohrten sie sich in eine haushohe Woge. Das kleine Boot erzitterte. Kayne preßte die Lippen zusammen, schaltete ein Hilfsaggregat ein – und dann hatten sie die Flutwelle hinter sich gelassen und jagten wieder auf Montana zu. Scott grinste. »Gut gemacht. Ein Glück, daß wir keinen Ausweichkurs gesteuert haben. Wir hätten es nie geschafft.« »Ja, Sir.« Kayne atmete tief. Seine Augen glänzten vor Erregung. »Jetzt können Sie rauchen. Hier.« Er schob dem Jungen eine angezündete Zigarette zwischen die Lippen. »Sie werden ein
guter Doone-Mann, Kayne. Sie reagieren schnell. Und richtig.« »Danke, Sir.« Eine Weile rauchte Scott schweigend. Er blickte nach Norden. Aber bei der schlechten Sicht konnte er die Vulkankegel nicht ausmachen, die die Südhölle kennzeichneten. Die Venus war ein vergleichsweise junger Planet, und die inneren Feuer brachen immer wieder unerwartet an die Oberfläche. Deshalb wurden auch nie auf Inseln Festungen errichtet – sie hatten die schlechte Angewohnheit, ohne Warnung im Meer zu verschwinden! Das Gleitboot lag ziemlich hart auf den Wellen. Bei dieser Geschwindigkeit nützten die Stoßdämpfer nicht viel. Scott rutschte auf den weichen Luftpolstern hin und her. Das Gleitboot raste weiter, umgeben von der monotonen See und den Wolken, bis die Küste vor dem Bug auftauchte, die plötzlich am nebelverhüllten Horizont hervortrat. Scott blickte auf sein Chronometer und seufzte erleichtert. Trotz des Umwegs, die ihnen der Unterseevulkan aufgezwungen hatte, waren sie schnell von der Stelle gekommen. Die Festung des »Mob« war ein mächtiges Werk aus Metall und Stein an der Spitze der Halbinsel. Der schmale Streifen Land, der es mit dem Festland verband, war gerodet worden. Einschlagtrichter zeigten, wo die Geschütze des Forts Angriffe aus dem Dschungel zurückgeschlagen hatten. Die Reptilwesen der Venus besaßen zwar eine gewisse Intelligenz, ihre Denkweise aber war der der Menschen fast völlig entgegengesetzt, so daß kein Weg zu ihnen führte. Oft genug hatte man versucht, sich mit ihnen zu einigen, und hatte feststellen müssen, daß man sie besser in Ruhe ließ. Für sie gab es kein Verhandeln. Sie waren blinde Wilde, mit denen man keine Verträge schließen konnte. Sie blieben im Dschungel, aus dem sie nur gelegentlich hervorkamen, um die
Festungen anzugreifen – Angriffe, die zum Scheitern verurteilt waren, weil Fänge und Klauen den Stahlmantelgeschossen und dem Sprengstoff der Menschen nicht gewachsen waren. Das Gleitboot schoß in eine Bucht. Scott blickte starr nach vorn. Es galt als schlechtes Benehmen, wenn ein Söldner zu viel Neugierde zeigte beim Betreten der Forts einer anderen Gefolgschaft. Ein paar Männer standen am Kai und warteten offenbar auf ihn. Sie salutierten, als Scott das Boot verließ. Er stellte sich mit Namen und Rang vor. Ein Korporal trat ihm entgegen. »Cinc Mendez erwartet Sie, Sir. Cinc Rhys hat vor etwa einer Stunde angerufen. Wenn Sie mitkommen wollen – « »Ist gut, Korporal. Mein Pilot – « »Wir kümmern uns um ihn. Vielleicht einen Drink nach der Fahrt?« Scott nickte und folgte dem Mann in die Bastion, die sich an die vorspringende Festungsmauer schmiegte. Das Seetor war offen, und er schritt schnell durch den Hof, kam an einem Türvorhang vorbei und bestieg einen Lift. Kurz darauf stand er vor einem weiteren Vorhang, der das Gesicht von Ginc Mendez trug, plump, einem Schwein ähnlicher als einem Menschen. Mendez war offenbar kahl wie eine Billardkugel. Als er eintrat, sah er Mendez selbst an der Stirnseite eines langen Konferenztisches sitzen. Etwa ein Dutzend Offiziere des »Mob« hatten ebenfalls Platz genommen. Von Angesicht zu Angesicht wirkte Mendez etwas sympathischer als sein Abbild. Er glich eher einem Eber als einem Schwein – ein Kämpfer, kein Ästhet. Der scharfe Blick seiner schwarzen Augen bohrte sich förmlich in Scotts Schädel. Er stand auf, und seine Offiziere folgten seinem Beispiel. »Setzen Sie sich, Kapitän. Hier unten ist für Sie Platz. Das hat nichts mit dem Rang zu tun. Ich sitze bloß lieber einem Mann gegenüber, wenn ich mit ihm zu tun habe. Aber Sie sind
gerade angekommen. Möchten Sie sich erfrischen? Wir warten gern.« Scott setzte sich. »Nein, Cinc Mendez. Ich möchte keine Zeit verlieren.« »Dann wollen wir auch keine Zeit mit langen Reden vergeuden. Aber einen Drink schlagen Sie bestimmt nicht ab.« Er winkte der Ordonnanz an der Tür, und kurz darauf stand ein gefülltes Glas neben Scott. Sein Blick musterte die Gesichter der Männer, die ihm gegenübersaßen. Gute Soldaten, dachte er – zäh, gut ausgebildet und erfahren. Sie hatten ihre Feuertaufe schon lange hinter sich. Eine kleine Gruppe, dieser »Mob«, aber eine verschworene Gemeinschaft. Cinc Mendez nahm einen Schluck. »Um zur Sache zu kommen – die Doones möchten, daß wir beim Kampf gegen die Höllenhunde mithelfen. Virginiakuppel hat die Dienste der Höllenhunde gekauft, um die Montanakuppel anzugreifen.« Er zählte es an seinen kurzen Fingern ab. »Dafür sollen wir fünfzigtausend in bar und fünfunddreißig Prozent der Coriumbeute bekommen. Stimmt’s?« »Richtig.« »Wir verlangen fünfzig Prozent.« »Das ist viel. Die Doones verfügen über überlegene Streitkräfte und mehr Material.« »Uns gegenüber vielleicht, aber nicht gegenüber den Höllenhunden. Außerdem ist der Prozentsatz erfolgsabhängig. Wenn wir verlieren sollten, bekommen wir nur die Barzahlung.« Scott nickte. »Das trifft zu, aber die einzige echte Gefahr, die die Höllenhunde darstellen, liegt in ihrer U-Boot-Waffe. Die Doones haben genügend Land- und Luftstreitkräfte. Wir könnten die Höllenhunde auch ohne Sie besiegen.«
»Das glaube ich nicht.« Mendez schüttelte seinen Kahlkopf. »Sie haben einige neue Unterwassertorpedos, die selbst kräftige Panzerplatten wie Butter durchschneiden. Aber wir haben neue Sonaranlagen. Wir können die U-Boote der Höllenhunde in Stücke schlagen, ehe Sie in Torpedoreichweite kommen.« »Sie haben uns bloß hingehalten, Cinc Mendez«, erklärte Scott. »So schlecht sind wir nicht daran. Wenn wir Sie nicht kriegen, dann eine andere Gruppe.« »Mit Sonar?« »Yardleys Kompanie ist auch nicht schlecht.« Ein Major an der Stirnseite des Tisches schaltete sich ein. »Das stimmt, Sir. Die haben vielleicht Kamikaze-U-Boote. Nicht besonders verläßlich, aber sie haben welche.« Cinc Mendez wischte sich langsam über den kahlen Schädel. »Hm-m-m. Nun, Kapitän, ich weiß nicht. Yardleys Kompanie ist für diese Aufgabe nicht so gut geeignet wie die unsere.« »Also gut«, sagte Scott. »Ich habe alle Vollmachten. Wir wissen nicht, wieviel Corium Virginia eingelagert hat. Was halten Sie von diesem Vorschlag: der ›Mob‹ bekommt fünfzig Prozent der Coriumbeute bis zu einer Viertelmillion; fünfunddreißig Prozent von dem, was darüber ist.« »Fünfundvierzig.« »Vierzig über einer Viertelmillion, fünfundvierzig darunter.« »Meine Herren?« fragte Cinc Mendez und sah sich um. »Ihre Stimmen?« Es gab einige Ja und ein paar Nein. Mendez zuckte die Achseln. »Dann liegt die Entscheidung bei mir. Schön, wir bekommen fünf und vierzig Prozent der Beute bis zu einer Viertelmillion, vierzig Prozent von allem, was darüber liegt. Einverstanden. Darauf wollen wir trinken.« Die Ordonnanzen brachten Gläser. Als Mendez sich erhob, taten die anderen es ihm gleich. Als sie sich setzten, sagte
Mendez: »Major Matson, bitte rufen Sie Cinc Rhys an und arrangieren Sie die Einzelheiten. Wir müssen seine Pläne kennen.« »Ja, Sir.« Mendez sah zu Scott hinüber. »Was kann ich jetzt noch für Sie tun?« »Nichts mehr. Ich fahre zu unserem Fort zurück. Die Einzelheiten lassen sich über Lichtstrahl per TV-Phon erledigen.« »Wenn Sie mit dem Gleiter zurückfahren«, meinte Mendez spöttisch, »werde ich vorschlagen, daß Sie sich noch massieren lassen. Wir haben genügend Zeit. Schließlich haben wir uns ja geeinigt.« Scott zögerte. »Na schön. Ich – äh – spüre meine Knochen schon.« Er stand auf. »Oh, ich habe noch etwas vergessen. Wir haben Gerüchte gehört, daß Starling Atomkraft einsetzen möchte.« Mendez’ Mund verzog sich angewidert. »Das habe ich noch nicht gehört. Wissen Sie etwas darüber, meine Herren?« Alle schüttelten den Kopf. Nur ein Offizier meinte: »Ich habe davon reden hören, aber bis jetzt nur Gerüchte.« Mendez nickte. »Nach diesem Krieg werden wir weitere Nachforschungen anstellen. Sollte sich das Gerücht als wahr erweisen, stehen wir natürlich ganz auf Ihrer Seite. In dem Fall müßten die Starlings natürlich vernichtet werden. Für ein solches Verbrechen braucht man kein Kriegsgericht!« »Danke. Ich werde mich mit den anderen Kompanien in Verbindung setzen und erfragen, was die gehört haben. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen – « Er salutierte und ging hinaus. Er hatte einen guten Handel abgeschlossen. Die Doone-Männer brauchten die Hilfe des »Mob« dringend, um gegen die Höllenhunde bestehen zu können. Cinc Rhys würde mit seiner Abmachung zufrieden sein.
Eine Ordonnanz brachte ihn zum Bad, wo eine Massage seine verkrampften Muskeln lockerte. Dann stand er wieder am Kai und bestieg sein Boot. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, daß die Räder des Kriegs bereits angelaufen waren. Die Schlachtschiffe ankerten bereits an der Küste in einer geschützten Bucht, das wußte Scott, aber bald würden sie auslaufen, dem Treffpunkt mit den Doones entgegen. Kayne saß am Steuer des Gleiters. »Die haben das Hilfsaggregat für uns repariert«, sagte er. »Das ist in unserem Geschäft so üblich.« Scott winkte den Männern am Kai zu, als ihr Boot dem offenen Meer entgegenstrebte. »Jetzt zur Doone-Festung. Wissen Sie den Weg?« »Ja, Sir. Wird… wird der ›Mob‹ auf unserer Seite kämpfen, wenn ich fragen darf?« »Ja, erstklassige Kämpfer sind das. Sie werden etwas erleben, Kayne. Wenn Sie zum nächsten Mal den Befehl ›Alle Mann auf Gefechtsstation‹ hören, dann gibt das die tollste Prügelei, die je auf der Venus stattgefunden hat. Und jetzt Tempo – wir haben es eilig!« Der Gleiter raste mit Höchstgeschwindigkeit nach Süden. Vor dem Bug sprühte Gischt.
Ihr Motor versagte, als sie noch acht Meilen von der DooneFestung entfernt waren. Das war eine Katastrophe. Nicht nur eine Panne. Die überlastete Maschine brannte durch. Der kleine Zwischenfall mit dem Unterseevulkan hatte verborgene Mängel in der Legierung zum Vorschein gebracht, die auch die Reparaturabteilung des »Mob« nicht entdeckt hatte. Sie konnten von Glück reden, daß es passierte, als sie gerade auf
einem hohen Wellenberg waren. Die Maschine brannte durch. Der ganze Bug wurde in Fetzen gerissen. Wären sie zu dem Zeitpunkt in einem Wellental gewesen, hätten Scott und der Pilot Pech gehabt – noch mehr Pech als sie ohnehin schon hatten. Sie waren vielleicht eine halbe Meile von der Küste entfernt. Scott wurde durch die Explosion halb betäubt. Er sah, wie der Horizont zu kreisen anfing. Das Boot kenterte, und die Sichtkanzel klatschte in die Wellen. Aber das Plastikmaterial hielt. Beide Männer lagen auf dem Boden, der eben noch die Decke gewesen war – und dann fing das Boot zu sinken an. Dampf zischte. Kayne schaffte es noch, einen der Notknöpfe zu drücken. Die Kanzel klemmte natürlich, aber einige Segmente schoben sich zur Seite, und ein Guß salzigen Seewassers schoß herein. Einen Augenblick brauchten sie, um sich in dem Durcheinander zurechtzufinden. Scott sah Kaynes Schatten, und dann waren sie frei. Unter ihm sank das Boot langsam und war dann verschwunden. Sein Kopf brach durch die Wellen, und er japste nach Luft, schüttelte das Wasser aus dem Haar und sah sich um. Wo war Kayne? Jetzt tauchte der Junge auf. Er hatte den Helm verloren, und das Haar klebte an seinem Schädel. Scott winkte ihm zu und betätigte den Auslöser seiner Rettungsweste, jenes aufblasbare Kleidungsstück, das man bei Seeinsatz immer unter der Uniform trug. Die Chemikalien vermischten sich, und leichtes Gas strömte in die Luftkammer, so daß Scott hochgehoben wurde. Er spürte, wie an seinem Hinterkopf das Kragenkissen aufgeblasen wurde – mit dessen Hilfe konnte man sogar als Schiffbrüchiger schlafen, ohne Gefahr zu laufen, dabei unterzugehen. Aber er brauchte jetzt keinen Schlaf.
Kayne, das sah er, hatte seine eigene Rettungsweste ebenfalls aufgeblasen. Scott sah sich um. Nirgends war ein Lebenszeichen zu sehen. Das graugrüne Meer lag verlassen bis zum nebligen Horizont da. Eine halbe Meile entfernt ragten die Wände des Dschungels auf. Dahinter ballten sich schwefelgelbe Wolken. Scott zog sein Dschungelmesser aus der Scheide und bedeutete Kayne, seinem Beispiel zu folgen. Der Junge schien sich keine Sorgen zu machen. Für ihn war das Ganze bestimmt nur ein Abenteuer, dachte Scott. Er nahm das Messer zwischen die Zähne und schwamm auf das Ufer zu. Kayne blieb an seiner Seite. Einmal warnte Scott seinen Begleiter, sich still zu verhalten, und beugte sich vor. Sein Gesicht war jetzt unter Wasser, und er spähte zu dem großen, undeutlichen Schatten hinunter, der sich zusammenringelte und verschwand – eine Seeschlange. Zum Glück nicht hungrig. Die Meere der Venus waren angefüllt mit gefährlichem Leben. Es gab nicht viele Vorsichtsmaßnahmen, die man ergreifen konnte. Wenn man hier im Wasser war, empfahl es sich, es so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Scott berührte einen kleinen Zylinder, den er am Gürtel trug, und spürte, wie Blasen daraus aufstiegen. Er war erleichtert. Als er die Schwimmweste aufgeblasen hatte, hatte dieses Rohr mit komprimiertem Gas automatisch begonnen, ein übelriechendes Gas abzulassen, das das Wasser in gewissem Umkreis durchsetzte. Aber bei Aasfressern wie den Schlangen funktionierte das nicht. Scott wandte die Nase ab. Die offizielle Bezeichnung der Geräte war Mellison-Rohre, aber die Männer nannten sie Stinker. Die Gezeiten auf der Venus sind unberechenbar. Der Wolkenplanet hat keinen Mond, ist aber näher an der Sonne als die Erde. Die Gezeiten sind schwach, nur nicht während vulkanischer Aktivität, wenn die Gezeitenwellen an die Ufer
branden. Scott sah sich immer wieder am Strand um und suchte Spuren gefährlicher Lebewesen. Aber da war nichts. Endlich ging er an Land, schüttelte sich wie ein Hund und wechselte beinahe instinktiv das Magazin seiner Waffe aus. Jetzt hatte er sie mit Explosivgeschossen geladen. Die Waffe war natürlich wasserdicht – auf der Venus eine unbedingte Notwendigkeit. Während Kayne sich mit einem unwilligen Laut hinsetzte und die Luft aus seiner Schwimmweste ließ, blieb Scott stehen und musterte die etwa zehn Meter entfernte Dschungelwand. Das einzige Geräusch, das sie hörten, war das Schlagen der Wellen. Die meisten Bäume waren von der Art der Lianen, die in einem erbitterten Konkurrenz- und Vernichtungskampf miteinander standen. Sofort, wenn einer von ihnen Zeichen des Wachstums zeigte, griffen die parasitischen Stränge ihrer Nachbarn sie an und versuchten sie von dem schwachen Sonnenlicht, das die Venus bot, abzudrängen. Die Blätter begannen erst zehn Meter über dem Boden. Dort bildeten sie ein regelrechtes Dach, das jedes Licht verschluckt hätte, wären sie nicht aus durchscheinendem Grün gewesen. Weißliche Stränge krochen wie Schlangen von Baum zu Baum. Es gab zwei Arten venusischer Fauna: die Riesen, die den Wald einfach niedertrampelten, und die zarten kleinen Bodenbewohner – hauptsächlich Insekten und Reptilien –, die zu ihrem Schutz Giftsäcke besaßen. Aber keine der beiden Arten war für Menschen besonders angenehm. Es gab auch fliegende Geschöpfe, aber die lebten in den oberen Schichten zwischen den Blättern. Und dann gab es unbestimmte Schreckgestalten, die im tiefen Schlamm und den unheimlichen Sümpfen ihr Auskommen fanden. Aber über die wußte man nicht viel. »Nun«, sagte Scott, »das wär’s denn wohl.«
Kayne nickte. »Ich hätte wohl die Maschine überprüfen sollen.« »Sie hätten nichts gefunden. Versteckte Fehler. Da kann man nichts machen. Halten Sie jetzt Ihre Gasmaske bereit. Wenn wir in die Nähe von Giftblumen kommen und der Wind in unsere Richtung weht, kippen wir sonst einfach um.« Scott öffnete eine wasserdichte Tasche an seinem Gürtel und nahm einen Lackmusstreifen heraus, den er an seinem Handgelenk befestigte. »Wenn das hier blau wird, bedeutet es Gas. Selbst wenn wir es nicht riechen.« »Ja, Sir. Was nun?« »Das Boot ist weg. Also können wir nicht um Hilfe funken.« Scott betastete die Schneide seines Buschmessers und schob es in die Gürtelscheide. »Wir nehmen Kurs auf die Festung. Acht Meilen. Zwei Stunden, wenn wir am Ufer bleiben und keinen Ärger kriegen. Mehr als das, wenn der Signalfelsen vor uns liegt, weil wir in diesem Fall einen Umweg machen müssen.« Er holte ein zusammenklappbares Teleskop heraus und spähte in südwestlicher Richtung am Ufer entlang. »Mhm, wir machen einen Umweg.« Übelkeit erregender süßlicher Dunst senkte sich von den Blättern auf sie herab. Von oben, das wußte Scott, sah der Wald geradezu lieblich aus. Er erinnerte ihn immer an einen Teppich, den er Jiana einmal gekauft hatte. Riesengroße Blumen in allen Farben des Regenbogens vor einem Hintergrund aus hellem Grün. Selbst unter der Flora war die Konkurrenz hart; die Pflanzen übertrafen sich gegenseitig in Farben und Gerüchen, um die geflügelten Pollenträger anzulocken. Die Dschungel der Venus bargen Geheimnisse, die er niemals erfahren würde. Menschen vermögen es, Gebiete aus der Luft zu erobern. Aber halten können sie sie mit dieser Methode nicht.
Es würde lange, unendlich lange dauern, bis der Dschungel und alles, was er bedeutete, Schritt für Schritt zurückgedrängt werden konnte – und das würde erst in fernen Tagen geschehen, in einer Zeit, die Scott nicht mehr erleben würde. Die wilde Welt würde gezähmt werden. Aber nicht jetzt. Noch nicht. Im Augenblick war sie ungezähmt und sehr gefährlich. Scott zog seinen Uniformrock aus und wrang ihn aus. In dieser gesättigten Luft würden seine Kleider niemals trocknen, trotz des Luftzugs. Die Hosen klebten an ihm. »Fertig, Kayne?« »Ja, Sir.« Mit gleichmäßigem, kräftesparendem Schritt zogen sie nach Südwest. Die Meilen flossen unter ihnen dahin. Es kam ihnen gleicherweise darauf an, schnell und aufmerksam zu sein. Gelegentlich blickte Scott mit dem Teleskop aufs Meer hinaus, in der Hoffnung, ein Schiff zu entdecken. Aber da war nichts. Die Schiffe lagen im Hafen, bereiteten sich für die Schlacht vor. Die Flugzeuge standen auf ihren Stützpunkten, wo die neuen Ortungsgeräte eingebaut wurden, die Cinc Rhys erwähnt hatte. Vor ihnen ragte der Signalfelsen auf, ein Felsvorsprung, an die hundert Meter hoch und absolut unbesteigbar. Dort endete der schwarze Sand. Der Felsen fiel jäh ins Meer ab, wo gefährliche Strudel brausten. Ein Umgehen des Felsens auf der Meerseite war unmöglich. Es blieb kein Ausweg – sie mußten ins Landesinnere vordringen, so gefährlich dieser Weg auch war. Scott schob das so lange wie möglich hinaus; erst als der Felsgrat unmittelbar vor ihnen aufragte, schwarz wie die Nacht, mit silbrigen Flecken darin, bog er nach einem prüfenden Blick auf Kayne nach rechts ab und marschierte auf den Dschungel zu. »Eine halbe Meile Dschungel entspricht etwa hundert Meilen am Ufer«, bemerkte er.
»Ist es so schlimm, Sir? Ich hab’s noch nie versucht.« »Niemand versucht es gern, wenn es nicht absolut nötig ist. Halten Sie die Augen offen und den Strahler bereit. Treten Sie nicht ins Wasser, selbst wenn Sie Grund sehen. Es gibt da kleine Teufel, die fast völlig durchsichtig sind – Vampirfische. Wenn sich davon ein paar an Ihnen festsaugen, brauchen Sie schon nach einer Minute eine Transfusion. Ich wünschte, wir bekämen einen Vulkanausbruch. Wenn das passiert, halten die Biester sich meistens ruhig.« Unter einem Baum blieb Scott stehen und suchte sich einen langen, geraden Ast aus. Das dauerte eine Weile, aber schließlich fand er einen. Mit Hilfe seines Buschmessers schnitt er eine fünf Fuß lange Stange ab. Dicht gefolgt von Kayne drang er in das finstere Dickicht ein. »Wir könnten überfallen werden«, sagte er zu dem Jungen. »Passen Sie auf.« Der Sand war jetzt klebrigem weißem Schlamm gewichen. Die Männer waren davon bis zu den Knien bedeckt, ehe ein paar Augenblicke verstrichen waren. Der ganze Boden schien rutschig. Das Gras hatte dieselbe Farbe wie der Schlamm angenommen. Folglich sah man es kaum, spürte es bloß, wenn man auf ein Graspolster trat, denn das war noch schlüpfriger. Scott marschierte ganz langsam, dicht an die Felswand zu seiner Linken gepreßt, wo der Boden etwas besser zu begehen war. Trotzdem mußte er ein paarmal das Buschmesser einsetzen, um sich einen Pfad durch die Lianen zu schneiden. Plötzlich blieb er stehen und hob die Hand. Kaynes Schritte hinter ihm verstummten. Scott deutete schweigend. Vor ihnen, in der Felswand, war ein Loch. Der Bau eines Tieres? Der Kapitän bückte sich, fand einen kleinen Stein und warf ihn. Dann wartete er, eine Hand am Pistolengriff. Jetzt konnte jeden Augenblick etwas aus dem Bau herausschießen und sie anspringen. Und dann war da ein neues Geräusch – ein leises
Trommeln, wie aus weiter Ferne. Wasser, das von Blatt zu Blatt tropfte, das in dem dicken Dschungeldach über ihnen seinen Weg nach unten fand. Tink, tink – tink, tink, tink – tink – »Okay«, sagte Scott ruhig. »Trotzdem vorsichtig – « Er ging weiter, die Waffe in der Hand, und näherte sich der Mündung des Baues. »Drehen Sie sich um, Kayne. Gehen Sie weiter, bis ich Halt sage.« Er packte den Jungen am Arm und führte ihn. Die Waffe steckte er wieder ins Halfter zurück. Die Stange, die er unter den Arm geklemmt hatte, nahm er in die Hand. Er tastete damit den Schlamm vor ihnen ab. Hier gab es oft Schlammlöcher und Sandfallen, ebenso Fallgruben, verdeckte Löcher, die Schlammwölfe gebaut hatten – natürlich waren das keine Wölfe, sondern Tiere, die keiner den Menschen bekannten Spezies angehörten. Kayne seufzte erleichtert und wandte sich um. »Was war das?« »Bei diesen Löchern weiß man nie, was herauskommt«, erklärte Scott. »Aber die Biester sind schnell und gewöhnlich giftig. Man darf nichts riskieren. Langsam hier. Die Stelle da vorn gefällt mir nicht.« Im Dschungel waren Lichtungen selten. Aber hier gab es eine, etwa sechs Meter im Durchmesser und schüsselförmig. Scott streckte vorsichtig die Stange vor und tastete. Ein leichtes Zucken ging durch den weißen Schlamm und, noch ehe sie es gesehen hatten, hielt der Kapitän bereits die Pistole in der Hand und gab einen Schuß nach dem anderen ab. »Schieß, Kayne«, befahl er. »Schnell! Schießen Sie darauf!« Kayne gehorchte, obwohl er sein Ziel nur ahnen konnte. Schlamm spritzte auf, plötzlich purpurrot gefärbt. Scott feuerte immer noch und griff gleichzeitig nach dem Arm des Jungen. Sie rannten zurück. Dann erstarb das Echo. Wieder hörten sie in der Ferne das leise Trommeln der Wassertropfen in dem grünen Dach.
»Wir haben ihn erwischt«, sagte Scott nach einer Pause. »So?« sagte der andere verständnislos. »Was – « »Ein Schlammwolf, glaube ich. Man kann die Biester nur umbringen, wenn man sie erwischt, ehe sie aus dem Schlamm raus sind. Die sind verdammt schnell und schwer totzukriegen. Aber – « Sie waren inzwischen umgekehrt. Nichts war mehr zu sehen. Der Schlamm hatte sich in der schüsselförmigen Senke wieder gesammelt. Und die Löcher, die ihre Explosivladungen verursacht hatten, hatten sich gefüllt. An ein paar Stellen waren noch rote Spuren zu sehen. »Langweilig wird’s einem hier nie«, bemerkte Scott. Sein Grinsen lockerte die Spannung. Kayne lachte und folgte dem Beispiel des Kapitäns, indem er das Magazin seiner Waffe austauschte. Der schmale Grat des Signalfelsens zog sich etwa vierhundert Meter landeinwärts, ehe er niedrig genug wurde, daß man ihn besteigen konnte. Schließlich erreichten sie diese Stelle, halfen einander beim Klettern und fanden sich auf dem Gipfel, immer noch weit unter dem Blätterdach. Die schwarze Felsfläche war heiß und verbrannte ihnen beim Klettern die Handflächen. Selbst durch die Schuhsohlen spürten sie die Hitze. »Haben wir jetzt die Hälfte geschafft, Kapitän?« »Ja, aber freuen Sie sich nicht zu früh. Es wird erst besser, wenn wir wieder das Ufer erreicht haben. Wir werden wahrscheinlich ein paar Fieberspritzen brauchen, wenn wir in die Festung kommen, für alle Fälle. Oh, oh, Maske, Kayne! Schnell.« Scott hob den Arm. Das Lackmuspapier hatte sich blau gefärbt. Mit geübten Handgriffen legten sie die Gasmasken an. Scott fühlte, wie seine Haut prickelte, aber das war ungefährlich. Trotzdem, später würde es schmerzhaft werden. Er winkte Kayne zu, rutschte den Felshang hinunter, tastete mit der
Stange im Schlamm, sprang schließlich und wälzte sich im Dreck. Kayne folgte ihm. Schlamm neutralisierte zwar das Gas der Giftblumen nicht, absorbierte es aber zum großen Teil, ehe es die Haut erreichte. Scott strebte dem Ufer zu, eine groteske Gestalt. Immer wieder tastete er mit der Stange im Schlamm. Und trotzdem sank er ein. Die Stange rutschte tiefer, und als Scott sich automatisch zurückwarf, verlor er den Boden unter den Füßen. Er hatte noch Zeit, seinem Schöpfer zu danken, daß es Sand war, nicht die Falle eines Schlammwolfes, da hatte das trügerische Zeug ihn schon bis zu den Knien hinuntergezogen. Er ließ die Stange nicht los, sondern schwenkte sie in einem Bogen zu Kayne herum. Der Junge packte sie mit beiden Händen und warf sich auf den Boden. Mit einem Fuß hängte er sich an eine Wurzel. Scott drehte den Kopf herum und versuchte, durch die schlammbeschmierten Gläser seiner Maske zu sehen, wobei er sich gleichzeitig mit beiden Händen an der schlüpfrig gewordenen Stange festhielt. Noch weiter wurde er hineingezogen. Und dann spürte er plötzlich Widerstand. Der Junge versuchte, die Stange zu sich heranzuziehen. Scott schüttelte den Kopf. Er war ein gutes Stück stärker als Kayne, und der andere würde alle seine Kräfte brauchen, um sich an der Stange festzuklammern. Irgend etwas regte sich hinter Kayne im Schatten. Scott ließ instinktiv mit einer Hand los und griff nach der Waffe. Sie war absolut dicht, so daß der Schlamm den Mechanismus nicht beeinträchtigt hatte. Er feuerte auf das, was sich hinter Kayne bewegt hatte, dann hörte er einen halberstickten Aufschrei und wartete, bis es wieder ruhig geworden war. Der Junge hatte sich bloß kurz umgesehen, sich sonst aber nicht von der Stelle bewegt.
Dann machte die Rettung keine Schwierigkeiten mehr. Scott zog sich einfach an der Stange entlang und verteilte sein Gewicht über die ganze Körperoberfläche. Das schwierige war bloß, die Beine aus dem tödlichen Griff des Treibsandes zu befreien. Als er schließlich in Sicherheit war, mußte er fünf Minuten ruhen. Kayne deutete fragend auf das Gebüsch, wo das Tier erschossen worden war, aber Scott schüttelte den Kopf. Was sie da belauert hatte, war nicht wichtig, solange es außer Gefecht gesetzt war. Scott schob sich die Maske wieder zurecht und setzte den Marsch zum Ufer fort. Kayne folgte ihm. Von jetzt an gab es keine Zwischenfälle mehr; sie erreichten das Ufer ohne Schwierigkeiten und brachen im Sand zusammen, um auszuruhen. Schließlich holte Scott wieder ein Lackmuspapier heraus, stellte fest, daß das Gas sich verteilt hatte, und nahm die Maske ab. Er atmete tief. »Danke, Kayne«, sagte er. »Sie können ja reinspringen, wenn Sie sich den Schlamm abwaschen wollen. Aber bleiben Sie dicht am Ufer. Nein, nicht ausziehen. Dafür ist keine Zeit.« Der Schlamm haftete wie Klebstoff. Der schwarze Sand kratzte wie Bimsstein. Trotzdem fühlte Scott sich nach ein paar Minuten am Strand sauberer. Kayne hielt unterdessen Wache. Erfrischt setzten sie ihren Marsch fort. Etwa eine Stunde später sichtete sie ein Aufklärungsflugzeug, setzt sich über Funk mit der Festung in Verbindung, und ein Gleitboot kam ihnen entgegen. Und dann ragte die Festung vor ihnen auf, die den DooneHafen schützte. So groß auch die Bucht war, reichte sie doch nicht aus, um die ganze Flotte aufzunehmen. Scott sah sich um. Das Gleitboot bog um die Seemauer, die zum Schutz gegen Gezeitenwellen gebaut worden war, und schoß auf einen
Kai zu. Das kaum hörbare Motorengeräusch erstarb. Die Kanzel schob sich zurück. Scott stieg aus und winkte einer Ordonnanz. »Sorgen Sie dafür, daß dieser Soldat bekommt, was er braucht. Wir waren im Dschungel.« Der Mann salutierte und half Kayne aus dem Gleiter. Als Scott am Kai entlangrannte, hörte er, wie die Männer sich um Kayne sammelten und auf ihn einredeten. Aus dem Jungen würde ein guter Soldat werden – immer vorausgesetzt, daß er auch seine Feuerprobe bestand. Die Disziplin war da noch härter. Wenn er es nicht schaffte – nun, den menschlichen Faktor durfte man nicht vernachlässigen, ganz gleich, was auch die Psychologen tun konnten. Er begab sich direkt in sein Quartier und schaltete das TVPhon ein, um Cinc Rhys anzurufen. Das lederne Gesicht des Cinc tauchte auf dem Bildschirm auf. »Kapitän Scott zur Stelle.« Rhys musterte ihn scharf. »Was ist geschehen?« »Gleitbootpanne. Wir mußten den Rest der Strecke zu Fuß zurücklegen.« Der Cinc fluchte sanft. »Bin froh, daß Sie es geschafft haben. Irgend was passiert?« »Nein, Sir. Der Pilot ist auch unverletzt. Ich will mich jetzt nur noch ein bißchen frisch machen, dann kann ich übernehmen.« »Nehmen Sie besser eine Verjüngungsbehandlung – Sie werden sie gebrauchen können. Alles funktioniert wie ein Uhrwerk. Sie haben Ihre Sache bei Mendez gut gemacht – der Handel, den Sie abgeschlossen haben, ist besser, als ich gehofft hatte. Ich habe mit ihm TV-phoniert und unsere Streitkräfte integriert. Aber das besprechen wir später. Machen Sie sich frisch, und anschließend halten Sie eine Inspektion ab.« »Jawohl.«
Rhys schaltete ab. Scott wandte sich seiner Ordonnanz zu. »Hallo, Briggs. Helfen Sie mir die Klamotten ausziehen. Wahrscheinlich müssen Sie sie mir runterschneiden.« »Ich bin froh, daß Sie wieder da sind. Schneiden werde ich wohl nicht müssen – « seine Finger arbeiteten geschickt an den Schnallen und Reißverschlüssen. »Sie waren im Dschungel?« Scott grinste. »Sehe ich so aus, als wäre ich Segeln gewesen?« »Nicht ganz – nein.« Briggs ging hinaus, und Scott, der jetzt das schmutzige Zeug abgelegt hatte, folgte ihm. Der scharfe Strahl der Dusche tat gut, zuerst heißes Seifenwasser, dann ein Alkoholmix und dann wieder gewöhnliches Wasser, zuerst heiß, dann kalt. Das war das Letzte, was er selbst tun mußte. Jetzt war Briggs an der Reihe. Scott machte es sich auf dem Massagetisch bequem, und Briggs rieb ihm Salbe in die brennenden Augen, verabreichte ihm eine geschickte, aber mörderisch harte Massage, schaltete die Deckenstrahler ein und zog schließlich eine Spritze auf, um die Ermüdungstoxine zu neutralisieren. Als die Ordonnanz fertig war, war Scott ein neuer Mensch, ein Mensch mit einem klaren Kopf und einem erfrischten Körper. Briggs kam mit frischer Kleidung. »Ich lasse die alte Uniform reinigen, Sir. Hat keinen Sinn, sie wegzuwerfen.« »Das kann man nicht reinigen«, meinte Scott und schlüpfte ins Hemd. »Nicht, wenn man sich so wie ich im Schlamm gewälzt hat. Aber wie Sie wollen. Ich brauche sie lange nicht mehr.« »So, Sir?« »Ja, ich laß mir die Entlassungspapiere geben.«
Die Festung war eine völlig autarke Einheit in militärischem, nicht in gesellschaftlichem Sinne. Eine Agrarstruktur war nicht
nötig, da es nie zu einer vollständigen Belagerung kam. Man konnte also Nahrungsmittel per Wasser und per Luft aus den Kuppelstädten heranbringen. Aber die militärische Produktion war wichtig, und deshalb spielten im Leben der Festung die Techniker eine sehr große Rolle. Reparaturen waren immer nötig, denn in der Schlacht gab es Ausfälle. Man mußte auch dafür sorgen, daß die Waffen modernisiert und ständig Verbesserungen vorgenommen wurden. Waffen und Strategie waren von gleicher Bedeutung. Wie oft war es schon vorgekommen, daß eine zahlenmäßig weit überlegene Flotte eine viel stärkere nur durch den Einsatz praktischer Psychologie besiegt hatte. Scott fand Kommandant Bienne bei den Docks, wo er zusah, wie ein neues U-Boot vom Stapel gelassen wurde. Offenbar hatte Bienne seinen Ärger noch nicht überwunden, denn er musterte den Kapitän finster, nachdem er ihn gegrüßt hatte. »Hallo, Kommandant«, sagte Scott. »Ich mache eine Inspektion. Sind Sie frei?« Bienne nickte. »Gibt nicht viel zu tun.« »Nun, Routine eben. Das U-Boot ist gerade noch rechtzeitig fertig geworden, was?« »Ja.« Bienne konnte das Vergnügen nicht verbergen, das ihm der Anblick des schlanken Bootes bereitete, das jetzt ins Wasser glitt. Scott blickte hinaus zum Horizont, wo die großen Schlachtschiffe vor Anker lagen. Zwölf waren es, graugrüne Monstren aus Stahl. Jedes einzelne Schiff hatte ein Startkatapult für Segelflugzeuge, aber die zerlegbaren Flugzeuge waren noch unter Deck verstaut. Kleinere Zerstörer lagen wie schlanke Wölfe zwischen den Schlachtschiffen. Und dann gab es da noch zwei schnelle Transportschiffe, die mit Gleitbooten und Segelschiffen beladen waren. Torpedoboote und ein Monitor, unbesiegbar, mächtig bewaffnet, aber langsam. Nur ein direkter Treffer konnte einen Monitor außer
Gefecht setzen, dafür hatte er aber andere Nachteile. Gewöhnlich war die Schlacht vorüber, ehe sie erschienen. Abgesehen von den Schießscharten, war das Schiff von einem mächtigen Panzer, der an den einer Schildkröte erinnerte, bedeckt. Die Armageddon war in einzelne Schotts unterteilt und hatte einige Hilfsmotoren, so daß sie im Gegensatz zu der legendären Rover selbst bei einem Treffer nicht sterben mußte. Man konnte sie als Dinosaurier bezeichnen. Zwar war es möglich, dem Monstrum den Kopf abzuschießen, aber dennoch würde es mit seinen Klauen und dem mächtigen Schwanz weiterkämpfen. Die schweren Kanonen glichen die Schwerfälligkeit des Riesen mehr als aus – die Schwierigkeit war nur, den Monitor überhaupt an den Kampfschauplatz zu bringen. Er war unendlich langsam. Scott furchte die Stirn. »Wir kämpfen über dem Venusgraben, was?« »Ja«, nickte Bienne. »Dabei bleibt es. Die Höllenhunde haben bereits Kurs auf die Montanakuppel genommen, und wir werden sie über dem Graben abfangen.« »Wann ist denn die Stunde Null?« »Heute um Mitternacht.« Scott schloß die Augen und versuchte, sich ihren Kurs vor seinem geistigen Auge vorzustellen. Nicht besonders gut. Wenn eine Seeschlacht in der Nähe einer Inselgruppe abgehalten wurde, so bestand manchmal die Möglichkeit, daß ein Monitor in der Deckung der Inseln heranschlich. Aber hier würde dieser Trick nicht funktionieren. Schade – die Höllenhunde waren stark, insbesondere seit sie sich mit O’Brians Legion zusammengetan hat. Selbst jetzt, da der »Mob« sie unterstützen würde, konnte man keineswegs sagen, wie der Kampf ausgehen würde. Vielleicht war die Armageddon der entscheidende Faktor. »Ich frage mich – « sagte Scott. »Nein, das wäre unmöglich.«
»Was?« »Ob man die Armageddon tarnen könnte? Wenn die Höllenhunde den Monitor kommen sehen, ziehen sie sich zurück und zwar schneller als diese Kiste folgen kann. Ich habe mir überlegt, wie wir sie in den Kampf einschmuggeln könnten, ohne daß der Feind etwas merkt.« »Sie ist jetzt getarnt.« »Aber bloß mit Farbe; man kann sie leicht ausmachen. Ich hatte die verrückte Idee, sie als Insel oder toten Wal oder so etwas zu tarnen.« »Für einen Wal ist sie zu groß, und schwimmende Inseln sind verdächtig.« »Ja, aber wenn es uns gelänge, die Armageddon unbemerkt einzuschmuggeln – hm. Monitore kentern leicht, oder?« »Ja. Die sind kopflastig. Aber in gekentertem Zustand kann ein Monitor nicht kämpfen. So gut ist die Idee gar nicht, Kapitän.« Biennes Augen blickten spöttisch. Scott brummte bloß und wandte sich ab. »Also gut. Sehen wir uns um.« Die Flotte war im Paradezustand. Scott ging in die Werkstätten. Er erfuhr, daß einige neue Schiffsrümpfe in Vorbereitung waren, bis zur Stunde Null aber nicht mehr fertiggestellt werden konnten. Dann ging er mit Bienne in die Labors. Nichts Neues. Keine Pannen, keine Überraschungen. Die ganze Maschinerie lief glatt. Als die Inspektion beendet war, hatte Scott eine Idee. Er beauftragte Bienne, allein weiterzumachen, und ging Cinc Rhys suchen. Der Cinc war in seinem Büro und schaltete gerade das TV-Phon ab, als Scott eintrat. »Das war Mendez«, sagte er. »Der ›Mob‹ trifft unsere Flotte hundert Meilen vor Küste. Sie stehen natürlich unter unserem Befehl. Ein tapferer Mann, dieser Mendez, aber ich traue ihm nicht ganz.«
»Sie glauben, er könnte uns betrügen, Sir?« Cinc Rhys schüttelte den Kopf. »Brutus war ein ehrenwerter Mann. Nein, er wird sich an den Handel halten, den er geschlossen hat. Aber Kartenspielen möchte ich mit Mendez nicht. Als Söldner ist er vertrauenswürdig, als Mensch – nun, wie sieht’s draußen aus?« »Sehr gut, Sir. Ich habe eine Idee im Zusammenhang mit der Armageddon.« »Ich wünschte, ich hätte auch eine«, sagte Rhys. »Wir werden es nicht schaffen, diesen verdammten Kasten einzusetzen. In dem Augenblick, wo die Höllenhunde ihn kommen sehen, werden sie ausweichen.« »Ich habe an eine Tarnung gedacht.« »Ein Monitor ist ein Monitor. Den kann man nicht tarnen. Wie sollte er denn sonst aussehen?« »Da gibt es eine Ausnahme, Sir. Sie könnten ihn so tarnen, daß er wie ein defekter Monitor aussieht.« Rhys lehnte sich zurück und sah Scott überrascht an. »Interessant. Fahren Sie fort.« »Schauen Sie, Sir.« Der Kapitän skizzierte die Umrisse des Monitors auf einem Block. »Über der Wasserfläche ist die Armageddon kuppelförmig. Darunter ist sie ganz anders, hauptsächlich wegen des Kiels. Warum können wir denn nicht dem Monitor falsche Aufbauten geben – einen falschen Kiel zum Beispiel, so daß er wie gekentert aussieht?« »Das ist möglich.« »Jeder kennt die Achillesferse eines Monitors, daß er unter Feuer leicht kentert. Wenn die Höllenhunde eine scheinbar gekenterte Armagdeddon auf sich zutreiben sehen, nehmen sie natürlich an, daß der Kasten gefechtsunfähig ist.« »Verrückt«, lächelte Rhys. »Aber manchmal funktionieren solche verrückten Ideen.« Er schaltete das TV-Phon und erteilte einige Befehle. »Verstanden? Gut. Setzen Sie die
Armageddon in Marsch, sobald die Geräte an Bord sind. Den Umbau kann man auch auf hoher See durchführen. Wir dürfen keine Minute verschwenden. Wenn wir die Umbauten im Dock machen lassen, holt sie die Flotte nie mehr ein.« Der Cinc schaltete ab, und sein ledernes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Hoffentlich klappt es. Wir werden ja sehen.« Er schnippte mit den Fingern. »Beinahe hätte ich es vergessen – Präsident Crosbys Neffe – Kayne – war doch bei Ihnen, als sie die Panne hatten. Oder? Ich habe mich schon gefragt, ob ich ihm die Grundausbildung nicht hätte erlassen sollen. Wie hat er sich denn im Dschungel verhalten?« »Ganz gut«, sagte Scott. »Aus dem Jungen wird noch ein guter Soldat.« Rhys sah den Kapitän scharf an. »Und wie steht es mit der Disziplin? Ich hatte das Gefühl, daß das seine schwache Stelle sei.« »Ich habe keine Klagen.« »So. Na schön. Starlings Gruppe hat keine gute Ausbildung anzubieten – ganz besonders nicht für einen Anfänger. Weil wir gerade von Starling sprechen. Hat Cinc Mendez etwas davon gewußt, daß Starling Atomenergie einsetzt?« »Nein, Sir. Wenn Starling das wirklich tut, dann hat er auch dafür gesorgt, daß keiner etwas erfährt.« »Wir werden uns nach der Schlacht darum kümmern. So etwas darf nicht sein – wir wollen keinen zweiten Weltuntergang. Es war schlimm genug, daß wir die Erde verloren haben. Die Menschheit ist dabei stark dezimiert worden. Wenn das wieder passierte, wäre es mit der Menschheit aus.« »Ich glaube nicht, daß diese Gefahr besteht. Auf der Erde waren es die großen Atomkraftwerke, über die man die Kontrolle verloren hat. Starling hat aber im schlimmsten Fall nur Handwaffen.«
»Stimmt. Eine Welt kann man damit nicht in die Luft sprengen. Aber Sie kennen ja das Gesetz – auf der Venus darf es keine Atomkraft geben.« Scott nickte. »So, das wäre alles.« Rhys entließ ihn mit einer Handbewegung.
Scott blickte auf, als Bienne das Zimmer betrat. Biennes dunkles Gesicht war unter der bronzefarbenen Haut gerötet. Seine Lider lagen schwer über den Augen. Er zog den Türvorhang hinter sich zu und sah Scott böse an. Und dann schleuderte er Scott eine Beleidigung an den Kopf. Der Kapitän stand auf. Sein Innerstes krampfte sich zusammen. Und dann sagte er ganz leise: »Sie sind betrunken, Bienne. Gehen Sie. Gehen Sie auf Ihre Kammer.« »Aber sicher – du kleiner Zinnsoldat. Du gibst gern Befehle, was? Und sticheln magst du auch. Ich hab das satt, Kapitän Brian Scott.« »Seien Sie kein Narr! Ich kann Sie genausowenig leiden wie Sie mich, aber das hat mit der Kompanie nichts zu tun. Ich habe Sie für dieses Kommando vorgeschlagen.« »Du lügst«, sagte Bienne und beugte sich vor. »Und ich kann dich Dreckskerl nicht riechen.« Scott wurde bleich. Die Narbe an seiner Wange flammte rot. Bienne kam auf ihn zu. Er war betrunken, aber nicht so betrunken, daß er sich nicht mehr in der Gewalt gehabt hätte. Plötzlich schoß seine Faust vor und traf Scott am Kinn. Der Kapitän hatte eine weit kürzere Reichweite als Bienne. Er duckte sich unter dem nächsten Schlag weg, und dann traf seine Faust Bienne an der Kinnspitze. Bienne wurde zurückgeworfen, krachte gegen die Wand und sank zu Boden.
Scott rieb sich die Knöchel und sah den anderen an. Dann kniete er nieder und untersuchte ihn. Bewußtlos. Jetzt erschien Briggs. Der Anblick von Biennes reglosem Körper schien ihn nicht zu überraschen. Scott lachte. »Briggs.« »Ja, Sir.« »Kommandant Bienne hat einen kleinen Unfall gehabt. Er – ist ausgerutscht. Er muß sich irgendwo das Kinn angeschlagen haben. Außerdem hat er ein Glas zuviel getrunken. Kümmere dich um ihn, ja?« »Mit Vergnügen, Sir.« Briggs hob Bienne auf und legte ihn sich über die Schultern. »Um zwölf ist die Stunde Null. Bis dahin muß der Kommandant an Bord der Flintlock sein, und zwar nüchtern. Geht das?« »Aber sicher, Sir«, sagte Briggs und ging hinaus. Scott ging zu seinem Stuhl zurück und stopfte sich die Pfeife. Er hätte Bienne natürlich Stubenarrest geben können – aber – nun, das war eine persönliche Angelegenheit. Man konnte durchaus großzügig sein, ganz besonders da Bienne ein guter Mann war, den man im Kampf gebrauchen konnte. Nach einer Weile klopfte er die Asche aus der Pfeife und machte einen zweiten Inspektionsgang.
Um Mitternacht lichtete die Flotte Anker. Bei Morgendämmerung näherten sich die Doones dem Venusgraben. Die Schiffe des »Mob« hatten sich ihnen angeschlossen, sieben Schlachtschiffe, eine Anzahl Kreuzer, Zerstörer und ein Transporter. Kein Monitor. Der »Mob« besaß zwar einen, aber der war vor zwei Monaten gekentert und befand sich immer noch im Reparaturdock.
Die vereinigten Flotten fuhren in halbmondförmiger Formation. Der linke Flügel, den Scott kommandierte, bestand aus seinem eigenen Schiff, der Flintlock, sowie der Arquebus, der Arro und der Miserecordia, alles Schlachtschiffe der Doones. Er hatte auch zwei Schiffe des »Mob« bei sich, die Navaho und die Zuri. Letztere wurde von Cinc Mendez befehligt. Hinzu kam noch ein Transporter. Das zweite Transportschiff war dem rechten Flügel zugeteilt. Ferner gab es natürlich noch die leichteren Schiffe. Im Zentrum waren die Schlachtschiffe Aralest Lance, Gapling und Mace, sowie drei Schiffe von Mendez’ Flotte. Cinc Rhys befand sich an Bord der Lance und leitete von dort aus den Einsatz. Der getarnte Monitor Armageddon stampfte außer Sichtweite hinter ihnen her. Scott war in seinem Kontrollraum, umgeben von TVSchirmen und Schaltern. Sechs Funker kauerten auf ihren Hockern, bereit, sofort in Aktion zu treten, wenn in ihren Kopfhörern ein Befehl ertönte. Scott selbst trug ein Kehlkopfmikrophon. Jetzt überflog sein Blick wieder den Halbkreis der Bildschirme. »Schon irgendwelche Meldungen von den Segelflugzeugen?« »Nein, Sir.« »Verbinden Sie mich mit dem Kommandanten der Luftaufklärer.« Einer der Bildschirme flackerte auf, und ein Gesicht erschien. »Meldung.« »Bis jetzt noch nichts, Kapitän. Warten Sie.« In der Ferne war Donner zu hören. »Wir haben jetzt ein Funksignal geortet.« »Feindliche Flugzeuge in den Wolken?« »Offenbar. Jetzt ist er uns wieder entkommen.« »Versuchen Sie, ihn wiederzufinden.«
Als ob das etwas nützte! Motorflugzeuge waren leicht zu orten, aber bei Seglern war das etwas völlig anderes. Es war schlimmer als die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden. Zum Glück trugen die Biester wenigstens keine Bomben. »Meldung, Sir. Einer unserer Segelflieger.« Ein weiteres Gesicht tauchte auf einem Bildschirm auf. »Meldung, Sir. Habe Feind entdeckt.« »Gut. Schalten Sie Infra-TV ein. Welcher Sektor?« »V. D. Achthundertsieben Nordwest Einundzwanzig.« Scott sprach jetzt in sein Kehlkopfmikrophon. »Ich möchte Cinc Rhys und Kommodore Geer sprechen. Und Cinc Mendez.« Drei weitere Bildschirme leuchteten auf. Sie zeigten die Gesichter der drei Offiziere. »Schalten Sie den Piloten dazu.« Irgendwo über dem Venusgraben lenkte der Gleiterpilot seine Maschine durch die Wolkenschicht. Die automatische TVKamera durchdrang mit ihren Infrarot-Objektiven den düsteren Nebel und lieferte ein klares Bild der Meeresfläche. Auf dem Fernsehschirm tauchten Schiffe auf, die in Schlachtformation dahinzogen. Scott erkannte sie und zählte unwillkürlich. Die Orion, die Sirius, die Vega, die Polaris – hm – leichtere Schiffe. Eine ganze Menge. Die Fernsehkamera zog weiter. »Die sind weit in der Überzahl«, sagte Cinc Rhys. »Cinc Mendez, funktionieren Ihre Sonargeräte?« »Ja, bis jetzt noch nichts geortet.« »Ich schätze, daß wir in einer halben Stunde Kontakt haben. Wir haben die ausgemacht, und die uns bestimmt auch.« »Okay.«
Die Bildschirme wurden dunkel. Scott lehnte sich zurück. Jetzt galt es warten, sich auf das Unerwartete vorbereiten. Die Orion und die Vega waren die größten Schlachtschiffe der Höllenhunde, größer als irgendein Schiff, das die Doones – oder der »Mob« – anzubieten hatten. Cinc Flinn befand sich ohne Zweifel an Bord der Orion. Die Höllenhunde besaßen einen Monitor, aber den hatten die Luftaufnahmen bisher nicht gezeigt. Aber auch ohne Monitor waren die Höllenhunde weit überlegen. Hinzu kam noch ihre Unterseeflotte. Die Sonargeräte von Cinc Mendez mochten da helfen, aber das reichte vermutlich nicht. Vielleicht brachte die Armageddon die Entscheidung. Bis jetzt kämpfte sich der getarnte Monitor noch weit hinter den Doones durch die Wellen. Kommandant Bienne tauchte auf einem Bildschirm auf. Er reagierte jetzt wie ein Roboter. Für den Augenblick war jede persönliche Feindschaft vergessen. Scott erwartete auch nichts anderes, und deshalb war seine Stimme völlig unpersönlich, als er sich meldete. »Die Gleitboote sind startbereit, Kapitän.« »Schicken Sie sie in fünfzehn Minuten aus. Weitergeben an den linken Flügel, an alle Schiffe, die Gleitboote an Bord haben.« »Jawohl.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Und dann dröhnte in der Ferne eine Explosion, und Scott blickte auf. Ein neues Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Die Höllenhunde eröffnen das Feuer. Die suchen noch nach der richtigen Entfernung. Wahrscheinlich haben sie Segelflugzeuge oben. Aber wir können sie nicht sehen.« »Die Männer sollen in Deckung gehen. Schießen Sie Sperrfeuer und bereiten Sie sich darauf vor, gezieltes Feuer zu
eröffnen. Treten Sie mit unserem Piloten über der Flotte der Angreifer in Verbindung.« Jetzt fing es an – der unablässig rollende Donner, der nicht aufhören würde, bis der letzte Schuß abgegeben war. Scott ließ sich auf Cinc Rhys’ Bildschirm schalten. »Meldung, Sir.« »Versuchen Sie den Feind zu beschäftigen. Wir können noch nicht viel ausrichten. Ändern Sie die Formation. Fahren Sie RAcht.« »Wir haben drei feindliche U-Boote geortet«, meldete sich Cinc Mendez. »Der Feind hat magnetische Wasserbomben eingesetzt.« »Ich will mit dem U-Boot-Kommandanten sprechen«, unterbrach ihn Rhys. Scott lauschte dem immer lauter werdenden Schlachtendonner. Das Klappern der Hitzestrahler konnte er nicht hören, aber das lag nur daran, daß die Entfernung zwischen den feindlichen Flotten für diese nicht besonderes verläßlichen, aber mächtigen Waffen noch zu gering war. Es dauerte eine Weile, bis ein Hitzestrahler angewärmt war, und innerhalb dieser Frist konnte man mit einem wohlgezielten Schuß den Projektor vernichten. »Ausfall, Sir. Direkter Treffer an Bord des Zerstörers Bayonet.« »Ausmaß des Schadens?« »Noch gefechtsfähig. Ausführliche Meldung folgt.« Nach einer Weile schaltete sich ein Segelfliegerpilot ein. »Polaris von Granate getroffen, Sir.« »Das will ich sehen.« Auf dem Bildschirm tauchte das Schlachtschiff der Höllenhunde auf. Ein Großteil der Aufbauten war abgerissen. Aber das Schiff war noch gefechtsklar. Scott nickte. Beide Seiten hatten sich jetzt eingeschossen.
Das Artilleriefeuer nahm zu. Die starken Winde der Venus machten exakte Flugbahnberechnungen schwer, aber man konnte genau zielen. Scott nickte grimmig, als die Flintlock von einem Schuß getroffen wurde und in ihren Grundfesten erbebte. Jetzt bekamen sie direkten Beschuß. Hier, im Gehirn des Schiffs, war er der Schlacht genauso nahe wie jeder einzelne Kämpfer. Die Bildschirme waren seine Augen. Sie hatten den Vorteil, daß sie Infrarot einsetzen konnten. Auf diese Weise sah Scott von hier aus mehr als er auf Deck mit bloßem Auge gesehen hätte. Etwas ragte aus dem Nebel auf, und Scott hielt unwillkürlich den Atem an, ehe er die Umrisse des Doone-Schlachtschiffs Miserecordia erkannte. Es war vom Kurs abgekommen. Der Kapitän sprach einen Tadel in seinem Kehlkopfmikrophon. Jetzt schalteten sich die Gleitboote in den Kampf ein, flinke Hornissen, die die feindliche Flotte bedrängten. In einem von ihnen saß Norman Kayne, erinnerte sich Scott. Er dachte an Ileene, schob den Gedanken dann aber gleich wieder von sich. Dafür war jetzt keine Zeit. Auf den Bildschirmen tauchte jetzt die Vorhut der Höllenhunde auf. Cinc Mendez rief: »Elf weitere U-Boote. Eines ist durchgekommen. Scheint in der Nähe der Flintlock zu sein. Wasserbomben werfen.« Scott nickte und gehorchte. Der mächtige Schiffsleib erzitterte, und dann kam eine Meldung: »Ölspur Steuerbord.« Gut. Ein paar Torpedos konnten eine Menge Schaden anrichten. Die Flintlock erzitterte unter dem Rückstoß der schweren Batterie. Hitzestrahlen stachen hinaus. Die großen Schiffe konnten den Strahlen, die massives Metall schmelzen ließen, nur schwer ausweichen. Aber die Gleitboote, die wie wütende Insekten herumhuschten, überschütteten gleichzeitig die
Projektoren mit einem wahren Kugelhagel. Aber auch das bedurfte der Planung. Die Strahlen selbst waren unsichtbar. Riegel der Höllenhunde außer Gefecht. Auf dem Bildschirm drehte sich der große Zerstörer herum, und der Bug wies nach vorn. Sie würde rammen. Scott stieß einen Befehl aus. Die Flintlock drehte sich zur Seite, und ihre Kanonen überschütteten die todgeweihte Riegel mit einem Granatenhagel. Die Schiffe passierten einander so dicht, daß die Männer auf den Decks der Flintlock den Zerstörer im Nebel taumeln sahen. Scott schätzte ihren Kurs ab und versuchte verzweifelt, Mendez zu erreichen. Es gab eine kurze Verzögerung. »QM – QM – dringend! Ich muß die Zuni sprechen!« »Hier meldet sie sich, Sir.« Scott befahl: »Kurswechsel. QM. Zerstörer Riegel hat Kurs auf Sie.« »Jawohl.« Der Bildschirm wurde dunkel. Scott verfolgte die Szene über ein zweites Gerät. Er stöhnte. Die Zuni wich schnell aus, aber die Riegel war zu nahe – verdammt nahe. Und dann rammte sie. »Zum Teufel!« stieß Scott hervor. Damit war die Zuni unfähig. Er meldete es Cinc Rhys. »Danke, Kapitän, Formation R-Acht beibehalten.« Mendez erschien auf einem Bildschirm. »Kapitän Scott, wir sind gefechtsunfähig. Ich komme an Bord. Ich muß die UBootBekämpfung leiten. Kann ich einen Kontrollstand haben?« »Ja, Sir. Landen Sie bei Sektor 7.« Vom Nebel verborgen, fuhren die Flotten auf Parallelkurs dahin. Die großen Schlachtschiffe behielten ihre Formation bei und jagten Hitzestrahlen und Granaten über den Abgrund, der die Flotten trennte. Die leichteren Schiffe kamen immer wieder
von ihrem Kurs ab, und die Gleitboote schwärmten wie die Insekten, verwickelten einander in Einzelkämpfe, wenn sie nicht die größeren Schiffe bedrängten. Segelflugzeuge waren jetzt nutzlos. Und unablässig rollte und brüllte der Donner. Die Flintlock zitterte. »Treffer auf feindlichem Schiff Orion, Treffer auf Sirius.« »Treffer auf Schiff Apache.« »Vier weitere feindliche U-Boote vernichtet.« »Doone-U-Boot X 16 meldet sich nicht mehr.« Cinc Mendez kam herein. Sein Atem ging schwer. Scott deutete auf einen freien Sessel vor einem Bildschirm. »Treffer auf der Lance. Augenblick. Cinc Rhys verletzt, Sir.« Scott erstarrte. »Einzelheiten.« »Augenblick – tot, Sir.« »Danke«, sagte Scott nach einigen Sekunden. »Ich übernehme das Kommando. Weitergeben.« Er bemerkte, wie Mendez ihn von der Seite musterte. Wenn der Cinc einer Kompanie getötet wurde, konnten zwei Dinge geschehen – entweder wurde ein neuer Mann zum Cinc befördert, oder die Kompanie schloß sich mit einer anderen zusammen. In diesem Fall erforderte Scotts Rang es, daß er für den Augenblick das Kommando der Flotte übernahm. Später würde es in der Festung eine Beratung und schließlich einen Beschluß geben. Aber daran dachte er jetzt kaum. Rhys tot. Der zähe, alte Rhys tot, im Kampf getötet. Scott erinnerte sich, daß Rhys in irgendeiner Unterseekuppel eine Freifrau hatte. Die Kompanie würde ihr eine Pension zahlen. Scott hatte die Frau nie gesehen. Und dann ertappte er sich plötzlich bei dem Gedanken, wie sie wohl sein mochte. Der Gedanke war ihm früher noch nie gekommen.
Die Bildschirme blitzten. Er hatte jetzt eine doppelte Pflicht – oder eine dreifache. Sein ganzes Bestreben war jetzt, die Schlacht zu lenken. Er fühlte sich wie unter Narkose – es fiel ihm schwer, die Zeit abzuschätzen. Eine Stunde mochte vergangen sein oder sechs, seit die Schlacht begonnen hatte. Oder vielleicht sogar weniger als eine Stunde. »Zerstörer kampfunfähig. Kreuzer kampfunfähig. Drei feindliche U-Boote kampfunfähig – « Und so ging es weiter. An den Feuerleitstellen zweiten Grades leitete Mendez die U-Boot-Bekämpfung. Wo zum Teufel steckt bloß die Armageddon, dachte Scott. Der Kampf würde zu Ende sein, ehe diese zu groß geratene Schiffskröte überhaupt auftauchte. Und da flammte plötzlich ein neuer Bildschirm auf. Das schmale, habichtsnasige Gesicht von Ginc Flinn von den Höllenhunden tauchte auf. »Ich rufe den Befehlshaber der Doones.« »Zur Stelle«, sagte Scott, »Kapitän Scott.« Warum rief Flinn an? Feindliche Flotten hielten während des Kampfes niemals Funkverbindung. »Sie setzen Atomkraft ein«, sagte Flinn lakonisch. »Erklärung bitte.« Mendez gab es einen Ruck. Scott fühlte, wie sich seine Muskeln verkrampften. »Das geschieht natürlich ohne mein Wissen oder meine Billigung, Cinc Flinn. Ich bitte um Entschuldigung. Einzelheiten?« »Eines Ihrer Gleitboote hat mit einer Atompistole auf die Orion geschossen.« »Schaden?« »Eine Siebenerkanone kampfunfähig.«
»Wir ziehen natürlich sofort eine unserer Kanonen des gleichen Kalibers aus dem Kampf. Weitere Einzelheiten?« »Beobachten Sie Sektor M 18 südlich Orion. Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Der Zwischenfall wird aus den Akten gelöscht.« Flinn schaltete ab. Scott hatte das Gleitboot bereits auf dem Bildschirm. Er schaltete den Vergrößerer ein. Das kleine Boot floh vor dem feindlichen Feuer und raste zurück zur Doone-Flotte, direkt auf die Flintlock zu. Er sah den Kanonier durch die Glaskuppel, sein Kopf war halb abgerissen. Der Pilot, der immer noch die Atompistole in der Hand hielt, war Norman Kayne. Blut überströmte sein jungenhaftes Gesicht. Starlings Leute hatten also tatsächlich Atomkraft. Kayne mußte die Waffe eingeschmuggelt haben. Und in der Erregung des Kampfes hatte er sie gegen den Feind eingesetzt. Eiskalt befahl Scott: »Steuerbordbatterie. Gleitboot Z-19-4. Abschießen.« Im gleichen Augenblick explodierte die Granate neben dem kleinen Boot. Auf dem Bildschirm sah man, wie Kayne verblüfft aufblickte. Seine eigenen Leute schossen auf ihn! Und dann begriff er. Verzweifelt riß er das Gleitboot in einen Zickzack-Kurs und versuchte, dem Feuer zu entkommen. Scott sah ihm mit zusammengekniffenen Lippen zu. Das Gleitboot explodierte in einem Regen von Funken und Wrackteilen. Automatisches Kriegsgericht. Nach der Schlacht würden sich die Kompanien zusammenschließen und Starling vernichten. Inzwischen ging die Schlacht weiter. Scott wandte sich wieder seinen Bildschirmen zu. Der Zwischenfall war für den Augenblick vergessen.
Langsam gewannen die Höllenhunde das Übergewicht. Beide Seiten verloren Schiffe. Schiffe, die kampfunfähig waren. Wieder mußte Scott an den Monitor Armageddon denken. Damit konnte man die Schlacht noch retten. Aber der Monitor war noch weit entfernt. Scott spürte die Explosion nicht, die den Kontrollraum zerfetzte. Er verlor das Bewußtsein. Lange konnte er nicht bewußtlos gewesen sein. Als er die Augen wieder öffnete, sah er rings um sich nur Wrackteile. Er schien der einzige zu sein, der überlebt hatte. Aber es konnte kein direkter Treffer gewesen sein. Er lag auf dem Rücken, ein Träger preßte ihn gegen den Boden. Aber keine Knochen waren gebrochen. Blindes, unglaubliches Glück hatte ihm geholfen. Seine Funker waren tot, das erkannte er auf einen Blick. Er versuchte, unter dem Stahlträger herauszukriechen. Aber das war unmöglich. Und im Lärm der Schlacht konnte er sich kein Gehör verschaffen. In der Nähe der Tür bewegte sich etwas. Cinc Mendez hatte sich hochgerappelt. Sein Gesicht war blutverschmiert. Er sah Scott liegen und blieb stehen. Dann griff er nach der Pistole. Scott konnte die Gedanken des anderen lesen. Wenn der Kapitän der Doones jetzt starb, hatte Mendez eine Chance, die Doones zu übernehmen. Wenn Scott dagegen überlebte, so würde wahrscheinlich er zum Cinc gewählt werden. Mendez hatte also ein Interesse daran, den anderen zu töten. Ein Schatten tauchte unter der Tür auf. Mendez, der den Rücken zur Tür hatte, konnte Kommandant Bienne nicht sehen, der sich jetzt in dem zerstörten Kontrollraum umsah. Scott wußte, daß Bienne die Lage sofort richtig erkannte. Der Kommandant sah, daß Mendez in wenigen Augenblicken feuern würde.
Scott wartete. Die Finger des Cinc krampften sich um den Pistolengriff. Bienne grinste. »Ich dachte schon, der Schuß hätte Sie fertiggemacht, Sir. Scheint doch recht schwer zu sein, einen Doone-Mann zu töten.« Mendez nahm die Hand von der Waffe. Dann wandte er sich zu Bienne um. »Ich bin froh, daß Sie hier sind, Kommandant. Wahrscheinlich müssen wir beide zugreifen, um den Träger hochzustemmen.« »Wollen wir es versuchen, Sir?« Zu zweit gelang es ihnen, Scott zu befreien. Und dann begegneten sich die Blicke der beiden Doone-Männer. So etwas wie Spott lag in Biennes Augen. Er hatte eigentlich nicht Scott das Leben gerettet. Er hatte nur das getan, was jeder Doone-Mann getan hätte. Denn Bienne war in erster Linie Soldat. Scott versuchte, seine Glieder zu bewegen. Sie gehorchten ihm. »Wie lange war ich bewußtlos, Kommandant?« »Zehn Minuten, Sir. Die Armageddon ist in Sicht.« »Gut. Ziehen sich die Höllenhunde zurück?« Bienne schüttelte den Kopf. »Bis jetzt scheinen die noch keinen Verdacht geschöpft zu haben.« Scott murrte etwas Unverständliches und ging zur Tür. Die anderen dicht hinterher. »Wir brauchen ein anderes Flaggschiff«, sagte Mendez. »Ja. Die Arquebus, Kommandant, übernehmen Sie hier. Cinc Mendez – « Ein Gleiter brachte sie zur Arquebus. Der Monitor Armageddon rollte scheinbar hilflos in den Wellen, stellte Scott fest. Dem Schlachtplan entsprechend, lenkten die DooneSchiffe die Höllenhunde auf den scheinbar gekenterten Riesen
zu. Die Techniker hatten ganze Arbeit geleistet; der falsche Kiel wirkte überzeugend. An Bord der Arquebus übernahm Scott wieder das Kommando. Mendez widmete sich der U-Boot-Bekämpfung. Der Cinc grinste Scott an. »Warten Sie nur, bis der Monitor das Feuer eröffnet, Kapitän.« »Ja… aber jetzt geht’s uns noch ziemlich dreckig.« Keiner von beiden erwähnte den Zwischenfall von vorhin. Er war jetzt stillschweigend vergessen. Immer noch bellten die Kanonen. Die Höllenhunde überschütteten die Formation der Doones mit Feuer, und das Kriegsglück neigte sich ihnen zu. Scott musterte die Bildschirme mit gefurchter Stirn. Wenn er zu lange wartete, waren sie verloren. Und dann befand sich die Armageddon zwischen den zwei größten Schlachtschiffen der Höllenhunde. Scott hatte den Kommandanten des Monitor auf dem Bildschirm. »Feuer eröffnen.« Die Geschützpforten des Monitors öffneten sich. Die mächtigen Kanonen des Meerestitanen schoben sich heraus. Beinahe gleichzeitig feuerten sie, und ihr Donner übertönte den Lärm der leichteren Waffen. »Angriff!« befahl Scott. »Plan R-Sieben.« Es war fast unmöglich, einen Monitor in den Kampf zu schicken, aber wenn das einmal gelang, gab es nichts, was ein solches Monstrum aufhalten konnte – außer Atomkraft. Aber die Höllenhunde kämpften weiter, versuchten eine neue Formation zu bilden, doch dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Es gelang den großen Schlachtschiffen nicht, den Kanonen der Armageddon zu entgehen, und das bedeutete – Cinc Flinns Gesicht tauchte auf dem Bildschirm auf. »Wir kapitulieren. Feuer einstellen.«
Scott erteilte seine Befehle. Das Brüllen der Kanonen erstarb. Dann herrschte Schweigen. »Sie haben uns einen großen Kampf geliefert, Cinc«, sagte Scott. »Danke. Sie auch. Der Trick mit dem Monitor war ausgezeichnet.« Und das war es. Scott fühlte, wie etwas in ihm erlahmte. Flinns beinahe zeremonielles Lob war bedeutungslos. Die Erregung, die Scott bis jetzt aufrechterhalten hatte, war wie weggeblasen. Der Rest war reine Routine.
Über der Virginiakuppel würden symbolische Wasserbomben abgeworfen werden. Sie würden die Kuppel nicht beschädigen, aber das war so üblich. Und dann würde Kriegsentschädigung bezahlt werden. Die Kuppelstadt, die hinter dem Verlierer stand, mußte dafür aufkommen. Corium oder dessen Äquivalent in Bargeld. Die Schatzkammer der Doones würde bersten. Ein Teil der Summe würde für Reparaturen und neue Schiffe draufgehen. Scott stand allein an der Reling der Arquebus. Sie hatten Kurs auf Virginia genommen. Er sah zu, wie sich die Wolken in der Dunkelheit verfärbten, zuerst grau wurden und dann ganz verschwanden. Er war ganz allein in der Nacht. Das Plätschern der Wellen drang an sein Ohr, während die Arquebus ihrem fünfhundert Kilometer entfernten Ziel entgegenbrauste. Warme, gelbe Lichter leuchteten hinter ihm aus den Bullaugen, aber er wandte sich nicht um. Das, dachte er, war genau wie der wolkenverhüllte Olymp unter der Montanakuppel, wo er Ileene so vieles versprochen hatte. Und doch gab es da einen Unterschied. In einem Olymp war ein Mann wie ein Gott, ganz von der Welt, der Lebenden
abgeschieden. Hier in der Finsternis gab es das Gefühl des Fremdseins nicht. Nichts war zu sehen – die Venus hatte keinen Mond, und die Sterne wurden von den Wolken verborgen. Und die Meere der Venus leuchteten nicht. Unter den Wellen stehen die Kuppeln, dachte Scott. Sie bergen die Zukunft. Schlachten wie die heutige werden geliefert, damit die Kuppeln nicht zerstört werden. Und die Menschen werden Opfer bringen. Die Menschen haben immer Opfer gebracht. Der Mensch muß sich seine eigenen Ideale schaffen. »Gäbe es keinen Gott, so hätte der Mensch ihn sich erschaffen.« Die Doones bedeuteten nichts. Ihre Idee war falsch. Und doch würde die Zivilisation wieder aus den beschützten Kuppeln heraufsteigen, weil die Menschen jenem Ideal treu waren. Eine Zivilisation, die ihre zum Tode verurteilten Wächter vergessen würde. Jene Hüter der Meere der Venus, die Gefolgsleute. Es war keine einfache Wahl. Eigentlich war es überhaupt keine Wahl. Denn Scott wußte ganz genau, daß er, solange er lebte, nie mit ganzem Herzen an die Gefolgschaften würde glauben können. Da würde immer etwas in ihm sein, das ihn mit bitterem Spott verlachte. Das Flüstern der Wogen drang zu ihm. Es hatte keinen Sinn. Sein Denken war sentimental, dumm. Aber Scott wußte jetzt, daß er nicht zu Ileene zurückkehren würde.
Originaltitel: CLASH BY NIGHT. Copyright © 1948 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION April 1948. Übersetzt von Heinz Nagel.
H. Beam Piper DER UNIVERSALSCHLÜSSEL
Martha Dane blieb stehen, blickte hinauf zu dem kupferrot gefärbten Himmel. Der Wind hatte seit Mittag, während sie sich im Innern des Gebäudes aufhielt, gedreht, und der Staubsturm, der über die Hochebenen im Osten fegte, wehte jetzt über Syrtis hinweg. Die durch den Nebel vergrößerte Sonne war ein riesiger magentaroter Ball, so groß wie die Sonne von Terra, die unmittelbar vor ihr leuchtete. In dieser Nacht würde etwas von diesem Staub aus der oberen Atmosphäre herabrieseln, um eine weitere hauchdünne Schicht auf die Decke zu legen, unter der die Stadt die letzten fünfzigtausend Jahre verbracht hatte. Der rote Löß lag überall, bedeckte Straßen, Parks und Plätze, verbarg die kleinen Häuser, die unter ihm zermalmt und platt gedrückt worden waren, und die Trümmer, die von hohen Gebäuden herabgekommen waren, als Dächer eingesunken und Mauern nach außen gefallen waren. Hier, wo sie stand, lagen die früheren Straßen dreißig bis fünfundvierzig Meter unter der Oberfläche der Staubschicht. Der Mauerdurchbruch in dem Gebäude hinter ihr führte in das sechste Stockwerk. Unter sich sah sie die Gruppe von Hütten und Schuppen auf der mit Gestrüpp bewachsenen Ebene, die einst, als diese Stadt noch ein Hafen war, den Strand eines Meeres bildete, das ausgetrocknet war und jetzt die Syrtis-Senke genannt wurde. Das helle Metall war bereits mit einer dünnen Schicht des roten Staubes bedeckt. Wieder dachte sie daran, was die Freilegung dieser Stadt an Zeit und Arbeit, an Menschen und Material und Verpflegung, die aus einer Entfernung von
achtzig Millionen Kilometer durch den Raum herbeigeflogen werden mußten, kosten würde. Man mußte Maschinen verwenden; es gab keine andere Möglichkeit. Bulldozer, Bagger und Förderbänder arbeiteten schnell, doch sie waren plump und blind. Sie dachte an die Grabungen in der Umgebung von Harappa und Mohenjodaro im Industal und an die behutsamen und geduldigen einheimischen Arbeiter – an die gewissenhaften Aufseher, an die Männer mit Picken und Spaten, an die langen Schlangen der Träger, welche die Erde in Körben wegschaffte. Gewiß, sie waren langsam und primitiv wie die Zivilisation, deren Ruinen sie ausgruben, aber sie konnte an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft einer ihrer Helfer einen wertvollen Fundgegenstand beim Aufhacken des Bodens beschädigt hatte. Ohne die unterbezahlten und nie klagenden einheimischen Arbeitskräfte stünde die Archäologie noch da, wo Winckelmann sie vorgefunden hatte. Aber auf dem Mars gab es keine einheimischen Arbeiter; der letzte Marsbewohner war vor fünfzig Jahrtausenden gestorben. Einige hundert Meter zu ihrer Linken begann etwas zu knattern wie ein Maschinengewehr. Es war eine Magnetramme; Tony Lattimer mußte entschieden haben, in welches Gebäude er als nächstes einbrechen wollte. Dann wurde sie sich des unbequemen Gewichts ihrer Ausrüstung bewußt, verschob, um es besser zu verteilen, die Tragriemen ihres Sauerstofftanks, hängte die Kamera, das Zeichenbrett und die Zeichenutensilien von der linken Schulter um auf die rechte, klemmte die Notizbücher und die Zeichenblöcke unter den linken Arm. Dann begann sie den ausgetretenen Pfad hinabzusteigen, über Hügel von vergrabenem Schutt, um aus dem Löß herausragende Mauerreste herum, vorbei an noch stehenden Gebäuden, von denen einige bereits aufgebrochen und erforscht worden waren, und steuerte über die mit Gestrüpp bewachsene Ebene auf die Hütten zu.
Es waren zehn Personen im Hauptbüro der Hütte I anwesend, als sie eintrat. Sobald sie sich ihres Sauerstoffgeräts entledigt hatte, zündete sie sich eine Zigarette an, die erste seit Mittag, ließ ihren Blick in die Runde schweifen. Da saß Selim von Ohlmhorst, der Turko-Germane, einer ihrer beiden Archäologenkollegen, an einem Ende des langen Tisches, seine dicke gebogene Pfeife rauchend, ein Einlegeheft durchblätternd. Am anderen Ende des Tisches saß der weibliche Ordonnanzoffizier Sachiko Koremitsu zwischen zwei Tiefstrahlern, den Kopf tief über ihre Arbeit gebeugt. Oberst Hubert Penrose, der kommandierende Offizier der Raumstreitkräfte, und Hauptmann Field, der Abwehroffizier, lauschten dem Bericht eines Piloten, der von einem Nachmittagserkundungsflug zurückgekehrt war. Zwei weibliche Leutnants der Fernmeldeabteilung überprüften den Text der Abendsendung, die an den in einer Entfernung von achttausend Kilometern um den Planeten kreisenden Satelliten Cyrano gefunkt und von dort über den Mond an die Erde weitergeleitet werden sollte. Bei ihnen saß Sid Chamberlain, der Reporter des Raumnachrichtendienstes. Er war, wie Selim und sie selbst, Zivilist; er bekundete diese Tatsache durch ein weißes Hemd und einen ärmellosen Pullover. Und da war schließlich Major Lindemann, der Pionieroffizier, der vor einem Zeichenbrett mit einem seiner Assistenten irgendwelche Pläne diskutierte. Hoffentlich tun sie etwas zur Verbesserung der Wasserversorgung, dachte sie, während sie sich mit der kärglich bemessenen Ration heißen Wassers Hände und Gesicht wusch. Dann trug sie ihre Notizbücher und Zeichenblöcke zu Selim von Ohlmhorst hinüber, machte jedoch, wie sie es immer tat, halt neben Sachiko. Die Japanerin restaurierte etwas, das vor fünfzigtausend Jahren einmal ein Buch gewesen war; eine Brillenlupe vor den Augen, das glänzende schwarze Haar mit
einem gleichfarbigen Stirnband zurückgebunden, löste sie mit einem haardünnen, an einem Kupfergriff befestigten Draht von der zerfallenen Seite ein winziges Stück, legte es mit einer Pinzette auf das durchsichtige Plastikblatt, auf dem sie die Seite rekonstruierte, und fixierte es mit einem Strahl aus einer Sprühdose. Es war eine reine Freude, ihr zuzuschauen; jede ihrer Bewegungen war anmutig und genau. »Hallo, Martha, haben wir noch nicht Cocktail-Zeit?« Die Frau an dem Tisch sprach, ohne den Kopf zu heben, als fürchtete sie, der leiseste Hauch könne das flockenartige Material vor ihr hinwegwehen. »Nein, es ist erst fünfzehn Uhr dreißig. Ich bin mit meiner Arbeit drüben fertig. Ich fand keine Bücher mehr, wenn dies eine gute Nachricht für Sie ist.« Sachiko nahm die Lupenbrille ab, lehnte sich, die Hände vor die Augen haltend, in ihrem Sessel zurück. »Nein, ich mache das gern. Ich nenne es ein MikroPuzzlespiel. Dieses Buch hier ist wirklich eine Katastrophe. Selim fand es offen unter einem schweren Gegenstand liegend; die Blätter waren vollkommen zerdrückt.« Sie zögerte kurz. »Wenn nur irgendein Sinn herauskommt, nachdem ich es restauriert habe.« Ihre Worte hatten einen skeptischen Unterton. Martha bemühte sich überzeugend zu wirken, als sie antwortete. »Es wird etwas dabei herauskommen, eines Tages. Sehen Sie, wie lange es dauerte, bis man die ägyptischen Hieroglyphen lesen konnte, selbst nachdem man den Rosettastein gefunden hatte.« Sachiko lächelte. »Ja, ich weiß. Aber man hatte ihn, den Rosettastein.« »Und wir haben ihn nicht. Es gibt keinen Rosettastein, nirgendwo auf dem Mars. Eine ganze Rasse, eine ganze Spezies starb aus, während der erste Cro-Magnon-
Höhlenmaler Bilder von Renntieren und Bisons schuf, und über fünfzigtausend Jahre und achtzig Millionen Kilometer gab es keine Brücke der Verständigung. Doch wir werden eine solche Brücke finden. Es muß irgendwo irgend etwas sein, das uns die Bedeutung einiger weniger Worte verrät, und wir werden sie benutzen, um mehr Worte zu entschlüsseln, und so weiter. Wir werden die Entzifferung dieser Sprache vielleicht nie erleben, aber wir werden einen Anfang machen, und eines Tages wird jemand das Werk vollenden.« Sachiko nahm die Hände von den Augen, vermied es sorgfältig, in das grelle Licht der Lampen zu schauen, und lächelte wieder. Dieses Mal war Martha sicher, daß es nicht das japanische Lächeln der Höflichkeit war, sondern das natürliche menschliche Lächeln der Freundschaft. »Ich hoffe es, Martha, wirklich. Es wäre wunderbar für Sie, die erste zu sein, der es gelingt, und es wäre wunderbar für uns alle, lesen zu können, was diese Leute geschrieben haben. Es würde diese tote Stadt wieder zum Leben erwecken.« Das Lächeln erlosch langsam. »Doch es erscheint so hoffnungslos.« »Haben Sie keine Bilder mehr gefunden?« Sachiko schüttelte den Kopf. Nicht daß es viel bedeutet haben würde, wenn sie welche gefunden hätte. Sie hatte Hunderte von Bildern mit Texten gefunden; es war nie gelungen, eine positive Beziehung zwischen einem abgebildeten Gegenstand und einem gedruckten Wort herzustellen. Keine der beiden Frauen sagte noch etwas, und nach einer kurzen Weile setzte Sachiko die Brille wieder auf und beugte sich tief über das Buch.
Selim von Ohlmhorst blickte von seinem Notizbuch auf, nahm die Pfeife aus dem Mund. »Alles erledigt drüben?« fragte er, eine Rauchwolke in die Luft blasend. »Soweit etwas zu erledigen war.« Sie legte ihre Notizen und ihre Skizzen auf den Tisch. »Hauptmann Gicquel hat angefangen, das Gebäude vom fünften Stockwerk nach unten abzudichten, mit einem Eingang im sechsten; sobald dies getan ist, will er beginnen, die Sauerstoffgeneratoren zu installieren. Ich habe da, wo er arbeiten wird, alles Bemerkenswerte aufgenommen.« Oberst Penrose blickte kurz auf, als notiere er sich etwas im Geiste, um später darauf zurückzukommen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Piloten zu, der etwas auf einer Karte erklärte. Von Ohlmhorst nickte. »Viel dürfte es im übrigen nicht gewesen sein, was Sie da gefunden haben«, sagte er. »Wissen Sie, welches Gebäude Tony sich jetzt vornehmen wird?« »Das hohe mit dem konischen Ding auf der Spitze, das aussieht wie ein Kerzenlöscher, glaube ich. Ich habe gehört, wie er dort die Löcher für die Sprengsätze bohrte.« »Nun, ich hoffe, es stellt sich heraus, daß es ein Gebäude ist, das bis zum Schluß bewohnt war.« Bei dem letzten war dies nicht der Fall gewesen. Seine Einrichtung und seine Installationen waren offensichtlich im Verlauf einer langen Zeit Stück für Stück entfernt worden, bis es ganz leer war. Jahrhundertelang hatte diese sterbende Stadt sich in einem Prozeß des Autokannibalismus selbst verzehrt. Sie sagte etwas in diesem Sinne. »Ja. Wir finden das immer wieder, ausgenommen natürlich an Orten wie Pompeji. Haben Sie je eine der anderen Städte in Italien gesehen?« fragte er. »Minturnae zum Beispiel? Zunächst rissen die Bewohner ein Gebäude nieder, um ein
anderes zu reparieren, und dann, nachdem sie die Städte geräumt hatten, kamen andere Menschen und rissen nieder, was übriggeblieben war, und brannten die Steine, um Kalk zu gewinnen, bis nichts übrigblieb als die Spuren der Fundamente. In dieser Beziehung haben wir Glück; dies ist eine der Städte, in der die marsische Rasse unterging, und es kamen später keine Barbaren, um zu zerstören, was sie hatten stehen lassen.« Er zog langsam an seiner Pfeife. »An einem dieser Tage, Martha, werden wir in eines der Gebäude einbrechen und feststellen, daß in ihm die letzten dieser Leute starben. Dann werden wir die Geschichte vom Ende der Zivilisation erfahren.« »Und wenn wir es lernen, ihre Sprache zu lesen, werden wir die ganze Geschichte erfahren und nicht nur das Ende.« Sie zögerte, als wage sie nicht, den Gedanken in Worte zu fassen. »Einmal werden wir so weit sein, Selim«, sagte sie, schaute dann auf ihre Uhr. »Ich muß meine Listen noch aufarbeiten vor dem Essen.« Einen Augenblick lang zeigte das Gesicht des alten Mannes einen Ausdruck der Mißbilligung; er schien etwas sagen zu wollen, besann sich aber eines Besseren und steckte seine Pfeife wieder in den Mund. Das kurze Faltenspiel um seinen Mund und das Zucken des weißen Schnurrbartes hatten jedoch genügt; sie wußte, was er dachte. Sie verschwendete ihre Zeit und Mühe, glaubte er, Zeit und Mühe, die nicht ihr gehörten, sondern der Expedition. Doch er durfte nicht recht haben; es mußte einen Weg geben, das Ziel zu erreichen. Wortlos wandte sie sich von ihm ab und ging zu ihrem eigenen Arbeitsplatz in der Mitte des Tisches. Vor ihr lagen Stapel von Fotos und Fotokopien restaurierter Buchseiten und Kopien von Inschriften, sowie die Notizbücher, in denen sie ihre Untersuchungsergebnisse zusammenstellte. Sie setzte sich, zündete sich eine neue
Zigarette an und nahm von einem Stapel ungeprüften Materials das oberste Blatt. Es war die Fotokopie von etwas, das aussah wie die Titelseite mit Inhaltsangabe einer Art Zeitschrift. Sie erinnerte sich; sie hatte das Blatt selbst gefunden, vor zwei Tagen, in einem Schrank im Erdgeschoß des Gebäudes, dessen Durchsuchung sie soeben beendet hatte. Sie betrachtete die Schrift eine Weile. Sie war lesbar, lesbar nach dem System rein willkürlich doch folgerichtig aussprechbarer phonetischer Werte für die Buchstaben, das sie entwickelt hatte. Die langen vertikalen Symbole waren Vokale. Von ihnen gab es nur zehn; nicht sehr viele, doch genug, um lange und kurze Laute für bestimmte Buchstaben zu unterscheiden. Es gab zwanzig der kurzen horizontalen Buchstaben, was bedeutete, daß Laute wie -ng oder -ch oder sh einzelne Buchstaben waren. Es stand eins gegen Millionen, daß ihr System dem wirklichen Klang der Sprache entsprach, aber sie hatte mehrere tausend marsische Wörter aufgezeichnet, und sie konnte sie alle aussprechen. Und das war alles. Sie konnte zwischen dreitausend und viertausend marsische Worte aussprechen, doch sie konnte keinem von ihnen eine Bedeutung zuordnen. Selim von Ohlmhorst glaubte nicht, daß sie es je können würde. Tony Lattimer war der gleichen Meinung, und er war weitaus weniger zurückhaltend, wenn es darum ging, sie zu äußern. Und so dachte auch, sie war dessen sicher, Sachiko Koremitsu. Es gab Zeiten, da Martha fürchtete, sie könnten recht haben. Die Buchstaben auf dem Blatt vor ihr begannen sich zu winden und zu tanzen, schlanke Vokale mit fetten kleinen Konsonanten. Sie taten das jetzt jede Nacht in ihren Träumen. Und da waren andere Träume, in denen sie sie leicht las wie ihre Muttersprache; wenn sie dann aufwachte, versuchte sie verzweifelt und vergeblich sich zu erinnern. Sie blinzelte und schaute weg von der Fotokopie; als sie wieder hinsah, hatten
die Buchstaben sich wieder beruhigt. Am Kopf der Seite standen drei Wörter zwischen zwei Querlinien, scheinbar die marsische Methode des Großschreibens. Masthamorvod Tadavas Sornhulva. Sie sprach sie im Geiste aus, durchblätterte ihre Notizen, um festzustellen, ob sie ihr bereits früher begegnet waren und in welchen Kontexten. Alle drei waren verzeichnet. Außerdem war masthar ein ziemlich häufiges Wort, ebenso norvod und auch nor; -vod jedoch war ein Suffix, eine Nachsilbe. Darvas war ebenfalls ein Wort und ta- war eine Vorsilbe; sorn und hulva waren beide gewöhnliche Wörter. Diese Sprache, das hatte sie seit langem entdeckt, war dem Deutschen sehr ähnlich, wenn die Marsianer ein neues Wort gebraucht hatten, hängten sie einfach zwei existierende Wörter aneinander. Die Grammatik würde sich wahrscheinlich als ein Graus erweisen. Nun, sie hatten Zeitschriften veröffentlicht, und eine von ihnen hatte den Titel Masthar norvod Tadavas Sornhulva gehabt. Sie fragte sich, ob es etwas gewesen war wie die Archäologische Vierteljahresschrift oder etwas mehr in der Art der Sex Stories. Eine kleinere Zeile unter dem Titel bezeichnete offensichtlich die Nummer und das Ausgabedatum des Heftes; man hatte genug in Serien numerierte Objekte gefunden, um sie in die Lage zu versetzen, die Zahlzeichen zu identifizieren und festzustellen, daß man ein Dezimalsystem verwendet hatte. Dies war die eintausendsiebenhundertfünfundvierzigste Ausgabe, für Doma 14837; Doma mußte also der Name eines der marsischen Monate sein. Das Wort war bereits zuvor mehrere Male aufgetaucht. Sie zog heftig an ihrer Zigarette, während sie Notizbücher und bereits gesichtetes Material durchblätterte. Sachiko sprach zu jemand, und am Ende des Tisches wurde ein Stuhl gerückt. Sie hob den Kopf und sah, wie ein großer Mann mit rotem Haar und rotem Gesicht im Grün der
Raumstreitkräfte und mit dem einzelnen Stern des Majors auf der Schulter, sich setzte. Es war Iwan Fitzgerald, der Arzt. Er nahm Gewichte von einem Buch, ähnlich dem, das der weibliche Ordonnanzoffizier zu restaurieren im Begriffe war. »Hatte wenig Zeit in den letzten Tagen«, beantwortete er Sachikos Frage. »Die Finchley liegt noch immer mit dem, was sie hat, was es auch sein mag. Ich war noch nicht in der Lage, eine endgültige Diagnose zu stellen. Ich habe außerdem Bakterienkulturen untersucht und in meiner kargen Freizeit Objekte für Bill Chandler seziert. Er hat endlich ein Säugetier gefunden. Sieht aus wie eine Eidechse und ist nur zehn Zentimeter lang, doch es ist ein richtiges warmblütiges, lebendgebärendes Säugetier mit Fortpflanzungsorganen und Mutterkuchen. Es gräbt sich ein und scheint von dem zu leben, was hier als Insekten gilt.« »Gibt es hier genug Sauerstoff für ein solches Lebewesen?« fragte Sachiko. »Es scheint so, nahe am Boden.« Fitzgerald rückte das Band seiner Lupe zurecht und zog diese über die Augen. »Er fand das Tier in einer Schlucht unten am Meeresboden – ha, diese Seite scheint intakt zu sein. Vielleicht kann ich sie in einem Stück abheben – « Er sprach unhörbar zu sich selbst weiter, während er das Blatt ein wenig anhob und eins der durchsichtigen Plastikblätter darunterschob. Er arbeitete mit peinlicher Sorgfalt; es war nicht die Sorgfalt der kleinen Hände der Japanerin, die sich wie die Pfoten einer Katze bewegten, die ihr Gesicht wäscht, sondern die eines Dampfhammers, der eine Erdnuß knackt. Auch die Feldarchäologie erforderte ein gewisses Feingefühl, doch Martha beobachtete die beiden mit neidvoller Bewunderung. Dann wandte sie sich wieder ihrer eigenen Arbeit zu, beendete das Inhaltsverzeichnis.
Die nächste Seite war der Anfang des ersten im Inhaltsverzeichnis angegebenen Artikels; viele der Worte waren ihr unbekannt. Sie hatte den Eindruck, daß es sich um eine Art wissenschaftlicher oder technischer Zeitschrift handelte; das konnte daher rühren, daß solche Publikationen den Hauptteil ihrer eigenen Zeitschriftenlektüre ausmachten. Es konnte sich nicht um Fiktion handeln; die Absätze machten einen sachlichen, faktischen Eindruck. Schließlich gab Fitzgerald ein kurzes, befriedigtes Grunzen von sich. »Ah, ich hab’s!« Sie blickte auf. Er hatte die Seite abgelöst und legte ein weiteres Plastikblatt auf sie. »Bilder?« fragte sie. »Keins auf dieser Seite. Warten Sie einen Augenblick.« Er drehte das Blatt um. »Auch auf dieser Seite keins.« Er fixierte das Blatt mit dem Mittel aus der Sprühdose, nahm dann seine Pfeife und zündete sie wieder an. »Diese Arbeit macht mir Spaß, und sie ist eine gute Übung für meine Hände; denken Sie also nicht, daß ich mich beklage«, sagte er. »Aber hören Sie, Martha, glauben Sie ehrlich, daß dabei jemals etwas herauskommt?« Sachiko hielt mit ihrer Pinzette ein Schnitzel der Silikonfolie, welche die Marsianer als Papier verwendet hatten, hoch; es war kaum vier Quadratzentimeter groß. »Schauen Sie; drei Worte auf diesem kleinen Stück«, sagte sie. »Iwan, Sie haben das leichtere Buch gewählt.« Fitzgerald ließ sich nicht ablenken. »Dieses Zeug ist absolut bedeutungslos«, fuhr er fort. »Es hatte eine Bedeutung vor fünfzigtausend Jahren, als es geschrieben wurde, doch jetzt hat es überhaupt keine.« Sie schüttelte den Kopf. »Bedeutung ist nicht etwas, das mit der Zeit verschwindet«, erklärte sie. »Es hat ebensoviel
Bedeutung, wie es je hatte. Wir haben nur nicht gelernt, es zu entziffern.« »Das scheint mir eine fruchtlose Unterscheidung zu sein«, mischte sich Selim von Ohlmhorst in die Unterhaltung ein. »Es gibt kein Mittel mehr, es zu entziffern.« »Wir werden eins finden.« Sie fühlte, daß sie mehr zu ihrer eigenen Ermutigung als aus Überzeugung sprach. »Wie? Mit Hilfe von Bildern und Bildtexten? Wir haben Bilder mit Unterschriften gefunden, und was haben sie uns verraten? Die Unterschrift soll das Bild erklären und nicht das Bild die Unterschrift. Stellen Sie sich vor, jemand, dem unsere Kultur fremd ist, hat ein Bild gefunden, auf dem ein Mann mit weißem Bart und Schnurrbart ein Scheit von einem Baumstamm absägt. Er würde glauben, die Unterschrift bedeutet ›Holz sägender Mann‹. Wie soll er wissen, daß es sich in Wirklichkeit um Kaiser Wilhelm II. im Exil in Doorn handelt?« Sachiko hatte ihre Lupenbrille abgenommen und zündete sich eine Zigarette an. »Ich kann mir Bilder vorstellen, die dazu bestimmt sind, ihre Unterschriften zu erklären«, sagte sie. »Zum Beispiel jene bebilderten Sprachlehrbücher, die wir im Dienst benutzen – kleine lineare Zeichnungen mit einem Wort oder einem Satz darunter.« »Gewiß, wenn wir so etwas finden würden«, begann von Ohlmhorst. »Michael Ventris fand etwas Ähnliches in den fünfziger Jahren«, ertönte Hubert Penroses Stimme unmittelbar hinter ihr. Sie wandte den Kopf. Der Oberst stand am Tisch der Archäologen. Hauptmann Field und der Pilot waren hinausgegangen.
»Er fand eine Anzahl griechischer Inventurverzeichnisse militärischer Ausrüstungsgegenstände«, fuhr Penrose fort. »Sie waren in kretischer B-Schrift geschrieben, und am Kopf jeder Liste befand sich ein kleines Bild, ein Schwert oder ein Helm oder ein Kochdreifuß oder ein Karrenrad. Das gab ihm den Schlüssel zur Schrift.« »Der Oberst wird noch ein richtiger Archäologe«, bemerkte Fitzgerald. »Wir alle lernen das Fach des andern kennen, auf dieser Expedition.« »Ich habe hiervon gehört, lange bevor diese Expedition überhaupt geplant war.« Penrose entnahm seinem goldenen Etui eine Zigarette. »Vor dem Dreißig-Tage-Krieg, als Leutnant auf der Geheimdienstschule. Aber für uns ging es um Geheimschriftanalysen, nicht um archäologische Entdeckungen.« »Ja, Geheimschriftanalyse ist hier das richtige Wort«, sagte von Ohlmhorst. »Das Lesen einer bekannten Sprache in einer unbekannten Schriftform. Die Listen, die Ventris fand, waren in einer bekannten Sprache, in Griechisch, gehalten. Weder er noch irgend jemand anders hatte ein Wort der kretischen Sprache gelesen bis zur Auffindung des griechisch-kretischen Zweisprachentextes, denn nur mit einem bilingualen Text, von dem eine Sprache bekannt ist, kann eine alte unbekannte Sprache erlernt werden. Und ich frage Sie, welche Hoffnung haben wir, hier so etwas zu finden? Martha, Sie haben an diesen marsischen Texten gearbeitet, seit wir hier gelandet sind – während der letzten sechs Monate. Sagen Sie mir, haben Sie ein einziges Wort gefunden, dem Sie mit Sicherheit eine Bedeutung zuordnen können?« »Ja, ich glaube, ich habe eins.« Sie bemühte sich, ihre Stimme nicht allzu triumphierend klingen zu lassen. »Doma. Es ist der Name eines der Monate des marsischen Kalenders.«
»Wo haben Sie dieses Wort gefunden?« fragte von Ohlmhorst. »Und wie haben Sie festgestellt – ?« »Hier.« Sie nahm die Fotokopie und reichte sie ihm. »Ich würde dies die Titelseite einer Zeitschrift nennen.« Er schwieg eine Weile, betrachtete das Blatt. »Ja, das würde ich auch tun. Haben Sie noch mehr davon?« »Ich bearbeite die erste Seite des ersten hier aufgeführten Artikels. Lassen Sie mich nachsehen; ja, hier ist alles, was ich gefunden habe.« Sie erklärte ihm, wo sie es gefunden hatte. »Ich gab das Ganze Geoffrey und Rosita zum Fotokopieren, und dies ist das erste Blatt, das ich bereits untersucht habe.« Der alte Mann erhob sich, wischte Tabakasche von den Revers seiner Jacke, trat zu ihr, legte die Titelseite auf den Tisch und durchblätterte rasch den Stapel Fotokopien. »Ja, und hier ist der zweite Artikel, auf Seite acht, und hier ist der nächste.« Er war bei dem letzten Blatt angelangt. »Am Ende des letzten Artikels fehlen zwei Seiten. Das ist bemerkenswert; im übrigen ist es überraschend, daß ein Ding wie eine Zeitschrift sich so lange erhalten hat.« »Nun, diese Silikonfolie, die die Marsianer als Papier benutzt haben, ist ziemlich dauerhaft«, sagte Hubert Penrose. »Sie scheint ursprünglich kein Wasser oder irgendeine andere Flüssigkeit enthalten zu haben, sonst wäre sie mit der Zeit ausgetrocknet.« »Oh, es ist nicht bemerkenswert, daß dieses Material sich so lange gehalten hat. Wir haben sehr viele Bücher und Papiere in ausgezeichnetem Zustand gefunden. Aber nur eine wirklich lebendige Kultur, eine organisierte Kultur, veröffentlicht Zeitschriften, und diese Zivilisation lag bereits Hunderte von Jahren vor ihrem eigentlichen Ende im Sterben. -Es ist möglich, daß solche Aktivitäten wie die Veröffentlichung von Zeitschriften bereits tausend Jahre vor dem vollkommenen Aussterben dieser Leute ein Ende fanden.«
»Nun, bedenken Sie, wo ich das Heft gefunden habe; in einem Schrank in einem Keller. Dort verstaut und vergessen, und dann, übersehen, als sie das Gebäude demontierten. Solche Dinge passieren.« Penrose hatte die Titelseite aufgenommen und betrachtete sie. »Ich glaube, es besteht kein Zweifel darüber, daß dies eine Zeitschrift ist.« Er betrachtete wieder den Titel, die Lippen stumm bewegend. Mastharnorvod Tadavas Sornhulva. »Ich frage mich, was das bedeutet. Aber Sie haben recht bezüglich des Datums – Doma scheint der Name eines Monats zu sein. Ja, o Sie haben ein Wort gefunden, Dr. Dane!« Sid Chamberlain, bemerkend, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging, war von dem Tisch, an dem er arbeitete, herübergekommen. Nachdem er die Titelseite und einige der Innenseiten geprüft hatte, begann er in das Stenofon zu flüstern, das er von seinem Gürtel abgenommen hatte. »Versuchen Sie nicht, aus dieser Sache eine Sensation zu machen, Sid«, sagte sie. »Alles, was wir haben, ist der Name eines Monats, und wer weiß, wie lange es dauern wird, bis wir herausfinden, um welchen Monat es sich handelt.« »Nun, ist das nicht ein Anfang?« bemerkte Penrose. »Grotefend hatte nur das Wort ›König‹, als er die persische Keilschrift zu lesen begann.« »Aber wir haben nicht das Wort für Monat, sondern nur den Namen eines Monats. Jedermann kannte die Namen der persischen Könige lange vor Grotefend.« »Darum geht es nicht«, wandte Chamberlain ein. »Was die Öffentlichkeit auf Terra interessieren wird, ist die Tatsache, daß die Marsianer Zeitschriften veröffentlichten, wie wir es tun. Das ist etwas Vertrautes; das läßt die Marsianer realer erscheinen, menschlicher.«
Drei Männer waren hereingekommen und legten ihre Masken, ihre Helme und ihre Sauerstofftanks ab, zogen ihre gesteppten Overalls aus. Zwei waren Leutnants von den Raumstreitkräften, der dritte ein junger Zivilist mit kurzgeschorenem Haar, bekleidet mit einem karierten Wollhemd. Tony Lattimer und seine Gehilfen. »Erzählen Sie mir nicht, Martha hat endlich etwas anfangen können mit diesem Zeug«, sagte er, sich dem Tisch nähernd. Seine Stimme klang ironisch. »Doch, sie hat den Namen eines der marsischen Monate gefunden«, erklärte Hubert Penrose, zeigte ihm die Fotokopie der Titelseite. Tony Lattimer nahm das Blatt, warf einen Blick darauf und ließ es auf den Tisch fallen. »Erscheint glaubwürdig, ist aber nur eine Annahme. Dieses Wort ist vielleicht überhaupt kein Monatsname; es kann ›veröffentlicht‹ bedeuten, oder ›autorisiert‹ oder ›Copyright‹, oder etwas Ähnliches. Ehrlich gesagt, ich glaube, es ist nur eine wilde Vermutung, daß dieses Ding so etwas wie eine Zeitschrift sein soll.« Er ließ das Thema fallen und wandte sich an Penrose. »Ich habe das nächste Gebäude, in das wir eindringen wollen, ausgewählt; es ist das hohe mit dem konischen Ding auf der Spitze. Es dürfte im Innern in ziemlich gutem Zustand sein; die konische Spitze hat den Staub daran gehindert, sich anzusammeln, und von außen scheint nichts eingedrückt oder geborsten zu sein. Das Bodenniveau ist höher als bei den andern, etwa beim siebten Stockwerk. Ich habe eine gute Stelle gefunden und bereits die Sprenglöcher gebohrt; morgen werde ich ein Loch in die Mauer sprengen, und wenn Sie mir einige Leute überlassen, kann die Erkundung sofort beginnen.« »Gewiß, Dr. Lattimer. Ich kann etwa ein Dutzend Männer abstellen, und ich nehme an, Sie finden auch einige
Freiwillige«, sagte Penrose zu ihm. »Was werden Sie an Material brauchen?« »Oh, etwa sechs Sprengsätze; sie können auf einmal gezündet werden. Und das Übliche an Lampen, Piken und Spaten, und eine Kletterausrüstung für den Fall, daß wir auf eingestürzte oder unsichere Treppen stoßen. Wir werden zwei Abteilungen bilden. Kein Raum soll zum erstenmal betreten werden, ohne daß ein qualifizierter Archäologe dabei ist. Es können auch drei Abteilungen sein, wenn Martha sich losreißen kann von diesem Katalog systematisierter Unverständlichkeiten, an dem sie arbeitet, um mal etwas Vernünftiges zu tun.« Es verschlug ihr den Atem, und ihr Gesicht wurde starr. Sie preßte die Lippen zusammen, um eine wütende Erwiderung zurückzuhalten, als Hubert Penrose für sie antwortete. »Dr. Dane hat ebensoviel vernünftige Arbeit geleistet wie Sie«, sagte er brüsk. »Und wichtigere Arbeit, bin ich geneigt zu sagen.« Von Ohlmhorst war sichtlich bekümmert; er blickte kurz zu Chamberlain hinüber und dann rasch wieder von ihm weg. Er befürchtete, daß ein Bericht über Uneinigkeiten zwischen den Archäologen an die Öffentlichkeit gelangen könnte. »Die Ausarbeitung eines Aussprachesystems, nach dem die marsische Sprache transkribiert werden kann, ist ein höchst wichtiger Beitrag«, sagte er. »Und Martha hat ihn fast ohne Hilfe geleistet.« »Ohne Hilfe von Dr. Lattimer jedenfalls«, fügte Penrose hinzu. »Hauptmann Field und Leutnant Koremitsu haben sie etwas unterstützt, aber neun Zehntel sind ihr eigenes Werk.« »Alles nur willkürliche Annahme«, sagte Lattimer verächtlich. »Wir wissen nicht einmal, ob die Marsianer die gleichen Vokallaute hervorbringen konnten wie wir.« »Oh, doch, das wissen wir«, widersprach Iwan Fitzgerald, sicher auf seinem eigenen Gebiet. »Ich habe bis jetzt keine
wirklichen marsischen Totenschädel gesehen – diese Leute scheinen sehr gründlich gewesen zu sein in der Beseitigung ihrer Toten – aber auf Grund der Statuen und Büsten, die ich gesehen habe, würde ich sagen, daß ihre Stimmorgane die gleichen waren wie die unseren.« »Schön, zugegeben. Zugegeben auch, daß es sehr imponierend sein wird, die Namen marsischer Notabler herunterzuleiern, deren Statuen wir finden, und wenn wir je in der Lage sein werden, einige Ortsnamen zu deuten, werden sie gewiß vernünftiger klingen als dieses Tierarzt-Latein, mit dem die alten Astronomen die Mars-Karte beschriftet haben«, sagte Lattimer. »Mein Einwand ist der, daß sie ihre Zeit auf dieses Zeug verschwendet, von dem nie jemand auch nur ein Wort wird lesen können, während soviel wirkliche Arbeit zu tun ist und wir sowenig Leute haben wie jetzt.« Es war das erste Mal, daß das so deutlich ausgesprochen wurde. Sie war froh, daß Lattimer es gesagt hatte und nicht von Ohlmhorst. »Was Sie meinen«, erwiderte sie, »ist, daß es nicht soviel Publizitätswert hat wie das Ausgraben von Statuen.« Einen Augenblick lang konnte sie sehen, daß der Schuß gesessen hatte. Dann antwortete Lattimer mit einem Seitenblick auf Chamberlain: »Was ich meine, ist, daß Sie etwas herauszufinden suchen, von dem jeder Archäologe, Sie eingeschlossen, weiß, daß es nicht existiert. Ich habe nichts dagegen, daß Sie Ihre berufliche Reputation aufs Spiel setzen und sich lächerlich machen, wohl aber, daß die Mißgriffe eines einzelnen Archäologen das ganze Unternehmen in den Augen der Öffentlichkeit in Mißkredit bringen.« Dies schien Lattimer am meisten zu beunruhigen. Martha suchte nach einer Antwort, als der Bekanntmachungslautsprecher einen schrillen Pfiff von sich
gab und dann schnarrte: »Cocktail-Zeit! Eine Stunde bis zum Essen! Cocktails in der Bibliothek, Hütte Vier!« Die Bibliothek, die auch als Bar, als Erholungsraum und als allgemeiner Versammlungsraum diente, war bereits überfüllt; die meisten der Anwesenden standen an dem langen Tisch, der mit den aus einem glas-ähnlichen Material bestehenden Wandpaneelen aus einem der zerfallenen Gebäude gedeckt war. Sie schenkte sich ein, was hier als Martini galt, und trug ihr Glas zum Ende des Raumes, wo Selim von Ohlmhorst allein saß. Eine Weile unterhielten sie sich über das Gebäude, dessen Erkundung sie soeben beendet hatten, und ergingen sich dann in Erinnerungen an ihre Arbeit auf der Erde – an die von Ohlmhorsts in Kleinasien in den Ruinen des Hethiterreiches und die ihre in Pakistan, wo sie die Städte der HarappaZivilisation ausgegraben hatte. Sie beendeten ihre Drinks – ein Gemisch von Alkohol und aus marsischen Pflanzen gewonnenen Extrakten – und von Ohlmhorst trug die beiden Gläser zu dem Tisch, um sie von neuem zu füllen. »Wissen Sie, Martha«, sagte er, als er zurückkam, »in einem Punkt hatte Tony recht. Sie setzen ihre berufliche Reputation aufs Spiel. Es ist gegen alle archäologische Erfahrung, daß eine Sprache, die so vollkommen tot ist wie diese, entziffert werden kann. Es bestand eine Kontinuität zwischen all den andern alten Sprachen – weil er das Griechische kannte, lernte Champollion es, das Ägyptische zu lesen, und mit Hilfe des Ägyptischen entzifferte man das Hethitische. Deshalb waren Sie und Ihre Kollegen nie in der Lage, die HarappaHieroglyphen zu übersetzen; hier fehlt jede Kontinuität. Wenn Sie darauf bestehen, daß diese vollkommen tote Sprache gelesen werden kann, wird Ihr wissenschaftlicher Ruf darunter leiden.«
»Ich habe Oberst Penrose einmal sagen hören, daß ein Offizier, der Angst hat, seinen militärischen Ruf zu riskieren, selten solchen Ruf erwirbt. Bei uns ist es das gleiche. Wenn wir wirklich etwas entdecken wollen, müssen wir es riskieren, Irrtümer zu begehen. Und ich bin weitaus mehr daran interessiert, etwas zu entdecken, als meinen Ruf zu wahren.« Sie schaute hinüber zur andern Seite des Raumes, wo Tony Lattimer bei Gloria Standish saß und sich ernst mit ihr unterhielt, während Gloria einen der unechten Martinis schlürfte und ihm zuhörte. Gloria war Favoritin für den Titel Miss Mars 1996, wenn man für vollbrüstige Blondinen schwärmte, doch Tony wäre ihr gegenüber ebenso aufmerksam gewesen, wenn sie wie die böse Hexe aus dem Märchen ausgesehen hätte, denn Gloria war die Kommentatorin des Pan-Federation-Radiosystems bei der Expedition. »Ich weiß, daß Sie so denken«, sagte der alte TurkoGermane. »Deshalb habe ich Sie vorgeschlagen, als man mich aufforderte, einen zweiten Archäologen für diese Expedition zu benennen.« Er hatte Tony Lattimer nicht vorgeschlagen; Lattimer war der Expedition von seiner Universität aufgedrängt worden. Es hatte dazu der Drahtzieherei höherer Stellen bedurft; sie wünschte, mehr darüber zu wissen. Es war ihr gelungen, von den Universitäten und von der Universitätspolitik unabhängig zu bleiben; alle ihre Grabungen waren von nichtakademischen Stiftungen und Museen gefördert worden. »Sie haben einen ausgezeichneten Ruf, einen besseren als ich, wenn man Ihr Alter berücksichtigt. Um so mehr beunruhigt es mich zu sehen, wie sie ihn aufs Spiel setzen, indem Sie hartnäckig behaupten, die marsische Sprache könne entziffert werden. Ich sehe wirklich nicht, wie Sie hoffen können, recht zu behalten.«
Sie hob und senkte die Schultern, trank einen Schluck von ihrem Cocktail und zündete sich eine neue Zigarette an. Es wurde ermüdend zu versuchen, etwas in Worte zu fassen, was sie nur fühlte. »Im Augenblick sehe ich es auch nicht, aber ich werde recht behalten. Vielleicht werde ich etwas finden wie die Bilderbücher, von denen Sachiko sprach. Eventuell die Lesefibel eines Kindes; sie müssen so etwas Ähnliches gehabt haben. Und wenn es nicht das ist, werde ich etwas anderes finden, das mir weiterhilft. Wir sind erst sechs Monate hier. Ich kann den Rest meines Lebens warten, wenn es sein muß, aber einmal wird es mir gelingen.« »Ich kann nicht so lange warten«, sagte von Ohlmhorst. »Ich habe nur noch wenige Jahre zu leben, und wenn die Schiaparelli in ihren Orbit eintritt, werde ich auf der Cyrano zur Erde zurückkehren.« »Ich wünschte, Sie täten es nicht. Dies ist eine ganz neue Welt der Archäologie, im wahren Sinne des Wortes.« »Ja.« Er trank seinen Cocktail aus und betrachtete seine Pfeife, als fragte er sich, ob er sie so kurz vor dem Essen wiederanzünden sollte, steckte sie dann in die Tasche. »Eine ganz neue Welt – aber ich bin alt geworden, und sie ist nicht für mich. Ich habe mein Leben damit verbracht, die Hethiter zu studieren. Ich spreche die hethitische Sprache, obwohl König Muwatallis vielleicht meinen modernen türkischen Akzent nicht verstehen würde. Aber die Dinge, die ich hier brauche, kenne ich nicht – Chemie, Physik, Maschinentechnik – und bin nicht in der Lage, Stahlträger zu testen, Metallegierungen, Kunststoffe und Silikone zu analysieren. Ich bin mehr zu Hause in einer Zivilisation, die in Karren fuhr, mit Schwertern kämpfte und es eben erst lernte, Eisen zu bearbeiten. Diese Expedition ist ein Kader von Spitzenkräften – nicht nur die Leute von den Raumstreitkräften, die die Hauptexpedition
führen werden, sondern auch wir Wissenschaftler. Und ich bin nur ein alter Kavalleriegeneral, der es nicht mehr lernt, Panzer und Flugzeuge zu kommandieren. Sie werden Zeit haben, den Mars kennenzulernen. Ich nicht.« Sein Ruf als Dekan der Hethitologie war ebenfalls unbestritten, fügte sie im Geiste hinzu. Dann schämte sie sich des Gedankens. Man durfte ihn nicht auf eine Stufe stellen mit Tony Lattimer. »Ich kam nur hierher, um die Arbeit in Gang zu bringen«, fügte er hinzu. »Die Bundesregierung war der Meinung, ein alter Praktiker müßte das tun. Nun, die Arbeit ist angelaufen; Sie und Tony und alle, die mit der Schiaparelli herauskommen, müssen sie fortsetzen. Sie sagten es selbst: Sie haben eine ganze neue Welt. Dies ist nur eine einzige Stadt der letzten marsischen Zivilisation. Davor haben Sie die Späte Hochlandkultur und die Kanalbauer und alle Zivilisationen und Rassen und Reiche vor ihnen, bis zurück in die Marssteinzeit.« Er zögerte einen Augenblick. »Sie haben keine Vorstellung, was Sie noch alles erforschen müssen. Dies ist nicht die Zeit, sich zu sehr zu spezialisieren.«
Sie stiegen alle aus dem Lastwagen und vertraten sich die Beine, blickten den Weg hinauf, der zu dem hohen Gebäude mit der sonderbaren schiefen Mütze auf seiner Spitze führte. Die vier kleinen Gestalten, die an seiner Mauer gearbeitet hatten, kletterten in den Jeep und fuhren langsam zurück, wobei die Kleinste von ihnen, Sachiko Koremitsu, ein elektrisches Kabel abrollen ließ. Als sie den Lastwagen erreicht hatten, stiegen sie aus; Sachiko schloß das freie Ende des Kabels an eine kernelektrische Batterie an. Sogleich drangen schmutziger grauer Rauch und orangefarbener Staub
aus der Mauer des Gebäudes, und eine Sekunde später krachte die vielfache Explosion. Sie und Tony Lattimer und Major Lindemann kletterten auf den Lastwagen, ließen den Jeep auf dem Weg stehen. Als sie das Gebäude erreichten, sahen sie, daß eine genügend breite Bresche in der Mauer entstanden war. Lattimer hatte seine Sprengsätze zwischen zwei der Fenster verlegt; sie waren zusammen mit der Mauer herausgesprengt worden und lagen unzerbrochen am Boden. Martha erinnerte sich, wie sie in das erste Gebäude eingedrungen waren. Ein Offizier der Raumstreitkräfte hatte einen Stein aufgehoben und ihn gegen eine der Fensterscheiben geschleudert, glaubend, dies wäre alles, was sie zu tun hätten. Der Stein war zurückgeprallt. Er hatte seine Pistole gezogen – sie hatten damals alle Schußwaffen getragen nach dem Grundsatz, was sie auf dem Mars nicht kannten, könnte ihnen gefährlich werden – und vier Schüsse abgegeben. Die Kugeln waren ebenfalls abgeprallt, kupferfarbene Metallflecken und feine Sprünge auf dem Glas zurücklassend. Jemand versuchte es mit einem Gewehr; das schwere Geschoß hatte die glas-ähnliche Scheibe gespalten, ohne sie jedoch zu durchdringen. Mit einem Azytelensauerstoffbrenner hatte man eine Stunde gebraucht, um das Fenster herauszuschneiden; im Laboratorium an Bord des Schiffes versuchten sie immer noch herauszufinden, um was für ein Material es sich handelte. Tony Lattimer war vorausgegangen und schwenkte seine Taschenlampe ärgerlich fluchend; seine durch den Helmsprecher verstärkte Stimme klang unnatürlich rauh. »Ich dachte, das Loch führt uns in einen Gang, aber das hier ist ein Zimmer. Vorsichtig! Es ist etwa ein halber Meter bis zum Fußboden, und der ist mit Schutt von der Sprengung bedeckt.«
Er stieg hinunter in den aufgesprengten Raum; die andern begannen Geräte aus dem Lastwagen zu laden – Schaufeln und Piken und Brechstangen und Hämmer, tragbare Scheinwerfer und Kameras, Zeichenmaterial, eine ausziehbare Leiter, sogar Bergsteigerseile und Steigeisen und Spitzhacken. Hubert Penrose lud sich etwas auf die Schulter, das aussah wie ein surrealistisches Maschinengewehr, in Wirklichkeit jedoch eine kern-elektrische Ramme war. Martha wählte einen der Bergsteigereispickel, mit dem sie graben oder hauen oder stemmen oder über kleine Hindernisse hinwegsteigen konnte. Die mit dem Staub von fünzig Jahrtausenden bedeckten Fenster ließen nur ein trübes Zwielicht durch; selbst die Bresche in der Mauer erhellte nur einen kleinen Fleck des Fußbodens. Jemand schaltete einen Scheinwerfer ein, richtete ihn gegen die Decke. Der große Raum war kahl und leer; dicker Staub lag auf dem Fußboden und färbte die einst weißen Wände rot. Es konnte ein großes Büro gewesen sein, doch nichts war übriggeblieben, das seine Verwendung anzeigte. »Dieses Gebäude ist ausgeräumt bis zum siebten Stockwerk hinauf!« rief Lattimer aus. »Es scheinen eine Menge elektrischer und elektronischer Apparate dort an der Wand installiert gewesen zu sein«, bemerkte einer der Offiziere von den Raumstreitkräften. »Da sind zehn oder zwölf elektrische Anschlüsse.« Er wischte mit seinem Handschuh über die staubige Wand, kratzte dann mit seinem Schuh am Fußboden. »Ich kann sehen, wo man irgend etwas losgestemmt hat.« Die Türe, eine der von den Marsianern verwendeten doppelten Schiebetüren, war geschlossen. Selim von Olmhorst versuchte sie zu öffnen, doch sie bewegte sich nicht. Die metallenen Schloßteile waren wie aneinandergefroren; Molekül hatte sich mit Molekül verbunden, seit die Tür zum letzten Mal geschlossen worden war. Hubert Penrose kam nach
vorn mit der Ramme, setzte den Meisel in den Spalt zwischen den Türhälften, stemmte die Ramme gegen seine Hüfte und drückte den Auslöserhahn. Die Ramme knallte kurz wie die Waffe, der sie glich, und die Türen gingen wenige Zentimeter auseinander, blieben dann stecken. Es war genügend Staub in die Gleitspalten eingedrungen, um die Türen zu blockieren. Es war eine vertraute Situation, mit der sie jedes Mal konfrontiert wurden, wenn sie eine Tür aufbrechen mußten, und sie waren darauf vorbereitet. Jemand ging hinaus, brachte eine Motorwinde herein, und schließlich rückte eine der Türen langsam zurück bis zum Pfosten. Das genügte, um die Lampen und die Geräte durchzuschieben; dann traten sie alle aus dem Raum hinaus auf den Flur. Etwa die Hälfte der anderen Türen war offen; auf jeder stand eine Zahl und darüber ein einzelnes Wort, Darfhulva. Eine der Zivilfreiwilligen, eine Professorin der Ökologie der Penn State Universität, schaute den Gang hinauf und hinunter. »Ich fühle mich hier wie zu Hause«, sagte sie. »Ich glaube, dies war eine Hochschule, und das waren Hörsäle. Das Wort dort oben bezeichnete das Lehrfach oder die Fakultät. Und diese elektronischen Geräte waren audiovisuelle Lehrhilfen.« »Eine fünfundzwanzigstöckige Universität«, spottete Lattimer. »Nun, ein Gebäude wie dieses böte Platz für dreißigtausend Studenten.« »Vielleicht waren es so viele; dies war eine große Stadt in ihrer Blütezeit«, sagte Martha, vornehmlich bewegt von dem Wunsch, Lattimer zu widersprechen. »Gewiß, aber bedenken Sie das Gedränge in den Gängen, wenn man die Hörsäle wechselte. Es würde eine halbe Stunde beanspruchen, alle von einem Stockwerk zum andern zu befördern.« Er wandte sich an von Ohlmhorst. »Ich nehme den Teil über diesem Stockwerk. Dieses Gebäude ist bis hierher
vollkommen ausgeplündert worden, doch es besteht eine Chance, daß oben noch etwas zu finden ist«, sagte er. »Ich bleibe zunächst in diesem Stockwerk«, erwiderte der Turko-Germane. »Hier kommt alles vorbei, was herein- und herausgetragen wird. Es muß alles gründlich überpüft und registriert werden. Dann können Major Lindemanns Leute hier mit ihrer Arbeit beginnen.« »Nun, wenn niemand Wert darauf legt, werde ich nach unten gehen«, sagte Martha. »Ich komme mit Ihnen«, erklärte Hubert Penrose. »Wenn die unteren Stockwerke keinen archäologischen Wert haben, werden wir Unterkunftsräume aus ihnen machen. Dieses Gebäude ist sehr gut geeignet für diesen Zweck; es bietet genug Raum für alle, ohne daß man sich gegenseitig auf die Füße tritt.« Er blickte den Gang hinunter. »In der Mitte dürften wir auch Rolltreppen finden.« Auch der Fußboden des Ganges war mit Staub bedeckt. Die meisten der offenen Räume waren leer, doch einige wenige enthielten Möbel, in der Hauptsache Schreibpulte, was für die Theorie sprach, daß es sich um eine Universität und um Hörsäle handelte. Auf beiden Seiten des Ganges führten Rolltreppen nach oben und nach unten. »So gelangten die Studenten von einem Hörsaal in den andern«, bemerkte Martha. »Und ich bin sicher, wir werden diese Treppen in dem ganzen Gebäude finden.« Sie gingen weiter und kamen zum Ende des Ganges, der in eine große quadratische Mittelhalle mündete. Außer vier weiteren Rolltreppen, die noch als einfache Treppen benutzt werden konnten, entdeckten sie hier auch die Türen von zwei Personenaufzügen. Aber es waren die Wände und die Malereien auf ihnen, die sie in Erstaunen versetzten. Die Malereien waren mit Staub bedeckt, und sie versuchte sich vorzustellen, wie sie ursprünglich ausgesehen haben
mochten, und schätzte gleichzeitig ab, wieviel Arbeit ihre Reinigung erfordern würde; doch die Bilder waren noch immer zu erkennen, ebenso wie das Wort Darfhulva, das in goldenen Buchstaben auf jeder der vier Hallenwände stand. Und plötzlich begriff sie, daß sie dank dieser Wandmalereien ein bedeutungsvolles marsisches Wort gefunden hatte. Diese Wandmalereien stellten ein im Uhrzeigersinne rund um den Raum verlaufendes historisches Panorama dar. Eine Gruppe von nackten Wilden hockte um ein Feuer. Jäger mit Bogen und Speeren trugen den Kadaver eines Tieres, das einem Schwein ähnlich sah. Nomaden ritten auf langbeinigen, anmutigen Tieren, die geweihlosen Hirschen glichen. Bauern beim Säen und beim Ernten. Lehmhüttendörfer. Steinerne Städte. Prozessionen von Priestern und Kriegern. Schlachten mit Schwertern und Bogen, und mit Kanonen und Musketen, und Schiffe mit Segeln und Schiffe ohne sichtbaren Antrieb, und Flugzeuge. Sich ändernde Trachten und Waffen und Maschinen und Architekturstile. Eine fruchtbare Landschaft, die sich langsam in öde Steppen und Wüsten verwandelt – die Zeit der großen planetenweiten Dürre. Die Kanalbauer – Männer mit Maschinen grabend und schürfend, die aussahen wie Dampfbagger und Kräne, Aquädukte durch kahle Ebenen ziehend. Weitere Städte – Seehäfen an austrocknenden Ozeanen. Zerfallende, halb-verlassene Städte. Eine aufgegebene Stadt mit vier winzigen menschenähnlichen Gestalten und ein Ding wie ein Kampfwagen auf einem von Gestrüpp überwachsenen Platz, zwergenhaft erscheinend inmitten der riesigen Gebäude. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel: Darfhulva bedeutete Geschichte. »Wundervoll!« rief von Ohlmhorst aus. »Die ganze Geschichte dieser Rasse. Wenn der Maler Kostüme, Waffen und Maschinen und die Architektur für jede Periode richtig dargestellt hat, dann können wir die Geschichte dieses
Planeten im Zeitalter, Perioden und Zivilisationen aufgliedern.« »Sie können annehmen, daß die Darstellungen richtig sind. Die Geschichtsfakultät dieser Universität dürfte auf historischer Echtheit bestanden haben«, sagte sie. »Ja! Darfhulva – Geschichte! Und Ihr Heft war eine Zeitschrift für Sornhulva!« rief Penrose aus. »Sie haben ein Wort, Martha!« Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, daß er sie bei ihrem Vornamen und nicht Dr. Dane genannt hatte. Sie war nicht sicher, ob das nicht ein größerer Triumph war als die Entdeckung eines Wortes der marsischen Sprache. Oder ein noch bedeutungsvollerer Anfang? »Allein, nehme ich an, bedeutet dieses hulva etwas wie Wissenschaft oder Lehre oder Studium; in der Zusammensetzung dürfte es unserem logie entsprechen. Und darf bedeutet etwas wie Vergangenheit oder alte Zeiten, oder menschliche Ereignisse, oder Chronik.« »Das ergibt drei Worte, Martha!« jubilierte Sachiko. »Sie haben es geschafft.« »Seien wir nicht zu voreilig«, bemerkte Lattimer, dieses Mal ohne Spott. »Ich gebe zu, daß darfhulva das marsische Wort für Geschichte als Studienfach ist. Ich gebe auch zu, daß hulva das allgemeine Wort ist und darf eine Modifizierung darstellt, die uns sagt, welches Fach gemeint ist. Doch den Worten eine spezifische Bedeutung zuordnen, das können wir nicht, weil wir nicht wissen, wie die Marsianer dachten, wissenschaftlich oder anders.« Er verstummte plötzlich, erschreckt durch das blauweiße Licht, das aufblitzte, als Chamberlain seine Scheinwerfer einschaltete. Und als das Surren der Kameras aufhörte, war es Chamberlain, der weitersprach. »Das ist der bedeutendste Fund, den wir bisher gemacht haben – die ganze Geschichte des Mars, von der Steinzeit bis zum Ende, alles auf vier Wänden. Ich werde es schnell
aufnehmen, es aber langsam senden, vom Anfang bis zum Ende. Tony, ich möchte, daß Sie den begleitenden Kommentar sprechen. Würden Sie das tun?« Ob er das tun würde! dachte Martha. Wenn er einen Schwanz hätte, würde er jetzt damit wedeln vor Freude. »Nun, es müssen weitere Wandmalereien sein in den andern Stockwerken«, sagte sie. »Wer will mit uns nach unten gehen?« Sachiko erklärte sich bereit, und sofort meldete sich auch Iwan Fitzgerald. Sid entschied sich, mit Tony Lattimer nach oben zu gehen, ebenso Gloria Standish. Die meisten wollten im siebten Stockwerk bleiben, um Selim von Ohlmhorst bei seiner Arbeit zu helfen. Nachdem sie mit der Spitze ihres Eispickels die Festigkeit der Rolltreppe geprüft hatte, ging Martha voraus nach unten. Das sechste Stockwerk war ebenfalls Darfhulva, der historischen Fakultät, gewidmet und zwar, nach dem Charakter der Wandmalereien zu urteilen, der militärischen und der technologischen Geschichte. Sie inspizierten kurz die Zentralhalle und stiegen dann hinunter in das fünfte Stockwerk; es hatte den gleichen Charakter wie die oberen Stockwerke, doch der große quadratische Mittelraum war vollgestellt mit staubbedeckten Möbeln und Kisten. Iwan Fitzgerald, der den Scheinwerfer trug, schwenkte ihn langsam im Kreis. Hier zeigten die Wandmalereien offenbar marsische Heldengestalten, so menschlich in ihrer Erscheinung, als wären sie Angehörige ihrer eigenen Rasse; jede der Gestalten hielt einen Gegenstand in der Hand – ein Buch, ein Reagenzglas oder irgendein anderes wissenschaftliches Gerät, und den Hintergrund bildeten Industrielandschaften und Interieurs von Laboratorien, eingehüllt in Flammen und Rauch. Das Wort am Kopf jeder der vier Wände war ihr vertraut – Sornhulva.
»Heh, Martha, da ist das Wort!« rief Iwan Fitzgerald aus. »Das Wort im Titel Ihrer Zeitschrift.« Er zeigte auf die Malereien, »Chemie oder Physik.« »Beides«, bemerkte Hubert Penrose. »Ich glaube nicht, daß die Marsianer eine scharfe Unterscheidung zwischen ihnen machten. Sehen Sie, der alte Herr mit dem zottigen Bart muß der Erfinder des Spektroskops sein; er hält ein Spektroskop in der Hand, und hinter ihm ist ein Regenbogen abgebildet. Und die Frau in dem blauen Arbeitskittel neben ihm hat auf dem Gebiet der organischen Chemie gearbeitet; beachten Sie das Diagramm langer Molekularketten hinter ihr. Welches Wort würde die Idee ausdrücken, daß Chemie und Physik als ein einziges wissenschaftliches Fach betrachtet werden?« »Sornhulva«, sagte Sachiko. »Wenn hulva so etwas wie Wissenschaft bedeutet, dann muß sorn Stoff oder Substanz oder physikalischer Gegenstand bedeuten. Sie hatten die ganze Zeit recht, Martha. Eine Zivilisation wie diese hat sicherlich etwas hinterlassen, das sich selbst erklärt.« »Dies wird ein wenig mehr von dem überlegenen Lächeln von Tony Lattimers Gesicht verschwinden lassen«, sagte Fitzgerald, als sie über die bewegungslose Rolltreppe zum nächsten Stockwerk hinabstiegen. »Tony möchte der Größte sein. Wenn jemand der Größte sein will, kann er nicht die Möglichkeit ertragen, daß ein anderer größer ist als er, und wem es als erstem gelingt, diese Sprache zu lesen, wird der Größte sein auf dem Gebiet der Archäologie.« Das stimmte. Sie hatte früher nie daran gedacht, und jetzt bemühte sie sich, nicht daran zu denken. Sie wollte nicht die Größte sein. Sie wollte die marsische Sprache lesen können und die Zivilisation der Marsianer erforschen. Zwei Treppen tiefer gelangten sie in ein Zwischengeschoß, das in halber Höhe rund um eine große, etwa zwanzig Meter hohe Erdgeschoßhalle verlief. Mit ihren Scheinwerfern
beleuchteten sie nacheinander die Gegenstände, welche die Halle füllten – eine große Gruppe von Skulpturen in der Mitte, ein Motorfahrzeug, das zur Reparatur aufgebockt war, Dinge, die aussahen wie Maschinengewehre und automatische Kanonen, lange Tische, auf denen staubbedeckte Dinge lagen, Maschinen, Kisten, Kästen und andere Behälter. Sie stiegen hinunter, inspizierten oberflächlich die einzelnen Objekte, bis sie eine Rolltreppe fanden, die in das Souterrain führte. Dieses hatte drei Stockwerke; sie stiegen weiter hinab und standen schließlich am Fuß der letzten Rolltreppe auf einem kahlen Betonfußboden und schwenkten die Kegel ihrer tragbaren Scheinwerfer über Stapel von Kisten, Fässern, anderen Behältern und Haufen von pulverigem Staub. Die Kisten bestanden aus Plastikmaterial – sie hatten bis jetzt nichts aus Holz Gemachtes in der Stadt gefunden – die Fässer und die anderen Behälter aus Glas oder einer glasartigen Substanz. Äußerlich waren alle diese Gegenstände intakt. Die Staubhaufen waren vermutlich Überbleibsel von Gegenständen, die aus organischen oder Flüssigkeiten enthaltenden Stoffen bestanden hatten. Hier unten, wohin Wind und Staub nicht gelangen konnten, war Verdunstung die einzige zerstörerische Kraft gewesen, nachdem das kurze Leben, das in Verwesung endete, erloschen war. Sie fanden auch Kühlräume, und als sie einen von ihnen mit Marthas Eispickel und dem pistolenähnlichen Vibriermeißel, den Sachiko an ihrem Gürtel trug, öffneten, fanden sie ausgetrocknete Haufen von etwas, das Gemüse gewesen sein konnte, und zäh wie Leder gewordene Fleischstücke. Mit einer Rakete zum Schiff hinaufgeschickte Proben dieser Stoffe würden nach einer Kohlenstoff-Datierung eine ziemlich zuverlässige Schätzung darüber ergeben, wie lange dieses Gebäude bewohnt gewesen war. Die Gefrieranlage, die vollkommen verschieden war von allem, was ihre eigene
Technik produziert hatte, war durch Elektrizität betrieben worden. Nach einer kurzen Untersuchung stellten Sachiko und Penrose fest, daß die Maschine noch angestellt war; sie hatte erst aufgehört zu funktionieren, nachdem die Energiequelle, welcher Art sie auch gewesen sein mochte, ausgefallen war. Das mittlere Untergeschoß war, zumindest in der letzten Zeit, ebenfalls als Lager verwendet worden; es war durch eine Trennwand in zwei Teile geteilt, durch die nur eine Tür führte. Sie benötigten eine halbe Stunde, um diese Tür aufzubrechen, und waren schon im Begriff, um schweres Werkzeug nach oben zu schicken, als sie genügend nachgab, daß sie durchschlüpfen konnten. Fitzgerald, der mit der Lampe vorausging, blieb plötzlich stehen, schaute sich um und gab dann einen Laut von sich, der aus seinem Helmsprecher wie ein Nebelhorn klang. »Oh, nein! Nein!« »Was ist, Iwan?« fragte Sachiko, die hinter ihm hereingekommen war, ängstlich. Er trat zur Seite. »Schauen Sie sich das an, Sachi! Werden wir all das prüfen müssen?« Martha kroch hinter ihrer Freundin durch die Öffnung, blickte um sich und blieb dann bewegungslos stehen, benommen vor Erregung. Bücherkiste auf Bücherkiste, ein Riesenstapel Kisten, fünf Meter hoch. Fitzgerald und Penrose, die hinter ihr hereingeschlüpft waren, unterhielten sich aufgeregt; sie hörte nur den Klang ihrer Stimmen, nicht ihre Worte. Dies mußte der Hauptteil der Universitätsbibliothek sein – die gesamte Literatur der verschwundenen Marsrasse. Durch eine Schneise zwischen den Kistenstapeln konnte sie in der Mitte des Raumes auf einem freien Platz die Schreibtische der Bibliothekare sowie Treppen und einen Lastenaufzug sehen, die zu dem darüberliegenden Geschoß führten.
Sie ging mit den andern auf die Mitte zu. Sachiko sagte: »Ich bin die leichteste; lassen Sie mich vorangehen.« Sie mußte von den aus dünnem Metallgerippe bestehenden Treppen sprechen. »Ich würde sagen, sie sind sicher«, bemerkte Penrose. »Die Mühe, die wir mit den Türen hatten, zeigt, daß das Metall nicht brüchig geworden ist.« Schließlich übernahm die Japanerin die Führung, sich in ihrer Vorsicht katzenartiger bewegend wie sonst. Die Treppen waren sicher, trotz ihres zerbrechlichen Aussehens, und alle folgten ihr. Das darüberliegende Stockwerk war ein Duplikat des Raumes, in den sie eingedrungen waren, und schien ebenso viele Bücher zu enthalten. Anstatt Zeit zu verschwenden, um die aus diesem Raum hinausführende Tür aufzubrechen, stiegen sie wieder zu dem mittleren Kellergeschoß hinab und benutzten die Rolltreppe, auf der sie heruntergekommen waren. Das obere Kellergeschoß enthielt Küchenräume – Elektroherde, auf denen zum Teil noch Töpfe und Pfannen standen – und einen großen Raum, der ursprünglich die Mensa der Studenten gewesen sein mußte, obwohl er zuletzt als Werkstatt benutzt worden war. Wie sie erwartet hatten, befand sich der Lesesaal im Erdgeschoß, unmittelbar über dem Bücherlager; er schien in einen allgemeinen Wohnraum für die letzten Bewohner des Gebäudes verwandelt worden zu sein. Ein anstoßendes Auditorium war in ein Chemielaboratorium verwandelt worden; es enthielt Bottiche, Destillierapparate und einen metallenen Fraktionsturm, der durch ein Loch in der Decke in den darüberliegenden Raum ragte. Eine große Menge von Plastikmöbeln, wie sie sie überall in der Stadt gefunden hatten, war hier aufgestapelt, teilweise zerbrochen, offensichtlich zur Reparatur vorgesehen. Die anderen Räume des Erdgeschosses schienen ebenfalls Fabrikations- und Reparaturzwecken gedient zu haben; eine beachtliche Industrie
vielfältiger Art mußte hier lange Zeit betrieben worden sein, nachdem die Universität aufgehört hatte, als solche zu funktionieren. Im zweiten Stockwerk fanden sie ein Museum; viele der ausgestellten Gegenstände blieben nur schlecht sichtbar in verstaubten Glaskästen. Hier gab es auch Verwaltungsbüros; die Türen der meisten von ihnen waren verschlossen, und sie verschwendeten keine Zeit damit, sie aufzubrechen, doch diejenigen, deren Türen offen standen, waren in Wohnquartiere verwandelt worden. Sie machten Notizen und fertigten Lageskizzen an für zukünftige gründlichere Durchsuchungen. Es war fast Mittag, bevor sie sich wieder zum siebten Stockwerk hinaufgearbeitet hatten. Selim von Ohlmhorst befand sich in einem Raum auf der Nordseite des Gebäudes und skizzierte die Position der Gegenstände, bevor er sie untersuchte und zum Abtransport freigab. Er hatte den Fußboden mit Kreidestrichen schachbrettartig aufgeteilt und jedes Feld mit einer Nummer versehen. »Wir haben alles in diesem Stockwerk fotografiert«, sagte er. »Ich habe drei Gruppen – mehr Scheinwerfer habe ich nicht –, die alles vermessen und aufzeichnen. Bei dem Tempo, mit dem wir vorankommen, werden wir am frühen Nachmittag fertig sein.« »Sie haben schnell gearbeitet. Offensichtlich nehmen Sie es nicht allzu genau mit Ihrem Grundsatz, daß ein ›qualifizierter Archäologe‹ die Räume als erster betreten soll«, bemerkte Penrose. »Ach, seien wir doch nicht kleinlich«, rief der alte Mann ungeduldig aus. »Ihre Offiziere sind keine Dummköpfe. Alle von ihnen haben Schulen des Geheimdienstes oder der Kriminalpolizei besucht. Viele der sorgfältigsten Amateurarchäologen, die ich je kannte, waren pensionierte
Soldaten oder Polizisten. Im übrigen ist nicht viel zu tun. Die meisten der Räume waren leer oder enthielten wie dieser nur einige Möbel, Gerümpel und Papierfetzen. Haben Sie etwas gefunden in den unteren Stockwerken?« »Nun, ja«, erwiderte Penrose mit einem Unterton von Triumph in der Stimme. »Was würden Sie sagen, Martha?« Sie begann Selim zu berichten. Die anderen, unfähig, ihre Erregung zu unterdrücken, unterbrachen sie mit Zwischenrufen. Von Ohlmhorst lauschte ihr in ungläubiger Verwunderung. »Aber dieses Stockwerk war fast vollkommen ausgeräumt, und die anderen Gebäude, die wir vorher untersucht haben, waren es ebenfalls vom Erdgeschoß aufwärts«, sagte er schließlich. »Die Leute, die dieses Gebäude geräumt haben, wohnten in ihm«, bemerkte Penrose. »Sie hatten elektrische Energie bis zum Schluß; wir haben mit Lebensmitteln gefüllte Kühlschränke gefunden und Kochgeräte, auf denen noch das Mittagessen stand. Sie müssen die Rolltreppen benutzt haben, um Gegenstände von den oberen Stockwerken nach unten zu befördern. Das ganze erste Stockwerk war in Werkstätten und Laboratorien umgewandelt worden. Ich glaube, dieses Gebäude muß so etwas gewesen sein wie ein Kloster im Mittelalter Europas oder was ein solches Kloster gewesen wäre, wenn das Mittelalter dem Untergang einer wissenschaftlich hochentwickelten Zivilisation gefolgt wäre. Wir fanden im Erdgeschoß eine Menge Maschinengewehre und leichtere Kampfwagen, und alle Türen waren verbarrikadiert. Diese Leute hier versuchten eine Zivilisation am Leben zu erhalten, nachdem der Rest des Planeten in Barbarei zurückgefallen war; ich schätze, sie mußten sich von Zeit zu Zeit gegen Überfälle von Barbaren verteidigen.«
»Ich hoffe, Oberst, Sie bestehen nicht darauf, aus diesem Gebäude das Wohnquartier der Expedition zu machen?« fragte von Ohlmhorst besorgt. »O nein! Dieses Haus ist eine archäologische Schatzkammer. Mehr als das; nachdem was ich sah, können unsere Techniker hier eine Menge lernen. Aber Sie lassen dieses Stockwerk sobald wie möglich aufräumen. Ich lasse den Teil über der Erdoberfläche vom sechsten Stockwerk abwärts luftdicht abschließen. Dann werden wir Sauerstoffgeneratoren und Triebwerke installieren und einige Rolltreppen wieder in Betrieb nehmen. Für die oberen Stockwerke können wir provisorische Luftabdichtung Stock für Stock vornehmen und tragbares Gerät verwenden, wenn wir alles abgedichtet, beleuchtet und beheizt haben, können Sie und Martha und Tony Lattimer systematisch und in aller Bequemlichkeit an die Arbeit gehen, und ich werde Ihnen so viele Hilfskräfte zur Verfügung stellen, wie ich bei den andern Arbeiten erübrigen kann. Dies ist einer der größten Funde, die wir bis jetzt gemacht haben.« Tony Lattimer und seine Begleiter kamen kurz darauf ins siebte Stockwerk herunter. »Ich verstehe das alles überhaupt nicht«, begann er, sobald er sie erreicht hatte. »Dieses Gebäude ist nicht auf die gleiche Weise geräumt worden wie die andern. Man scheint immer von unten nach oben gearbeitet zu haben, aber hier haben sie die oberen Stockwerke zuerst geräumt, alle bis auf die Spitze des Gebäudes. Ich habe übrigens herausgefunden, was das konische Ding auf dem Dach ist. Es ist ein Windrotor, und darunter befindet sich ein elektrischer Generator. Dieses Gebäude erzeugte seine eigene Energie.« »In welchem Zustand sind die Generatoren?« fragte Penrose. »Nun, alles ist natürlich voll von Staub, der unter den Rotor geweht wurde, aber die Maschine scheint in ziemlich gutem
Zustand zu sein. Heh, ich wette, das ist es! Sie hatten Energie, also benutzten sie die Aufzüge, um die Sachen nach unten zu schaffen. Das ist es, was sie taten. Einige der oberen Stockwerke scheinen jedoch nicht betreten worden zu sein.« Er schwieg eine Weile, schien hinter seiner Sauerstoffmaske zu lächeln. »Ich weiß nicht, ob ich es in Gegenwart von Martha erwähnen soll, aber zwei Stockwerke hier drüben fanden wir einen Raum – es muß die Handbibliothek der Fakultäten gewesen sein –, der etwa fünfhundert Bücher enthielt.« Das Geräusch, das ihn unterbrach und wie das Krächzen eines Papageis klang, war nur das hohle Lachen Iwan Fitzgeralds durch seinen Helmsprecher.
Das Essen in den Hütten wurde in Hast eingenommen; man redete erregt und mit vollen Mündern. Hubert Penrose und seine Mitarbeiter drängten sich heftig diskutierend an einem Ende des Tisches zusammen. Am Nachmittag wurden alle andern Arbeiten eingestellt, und die etwa fünfzig Männer und Frauen der Expedition konzentrierten ihre Tätigkeit auf die Universität. Bis zum späten Nachmittag war das siebte Stockwerk vollkommen überprüft, fotografiert und skizziert, die Wandmalereien in der quadratischen Zentralhalle hatte man mit Schutzplanen abgedeckt, und Laurent Gicquel war mit seiner Abdichtungsmannschaft an der Arbeit. Es war beschlossen worden, die Zentralhalle an den Eingängen abzudichten. Der franko-kanadische Ingenieur brauchte fast den ganzen Nachmittag, um die Ventilationsrohre zu finden und sie zu verspunden. An der Nordseite des Gebäudes fand man einen Aufzugschacht, der bis zum fünfundzwanzigsten Stockwerk reichte und Zugang zur Spitze gewährte; ein zweiter in der Mitte verlaufender Schacht führte in die unteren Stockwerke. Niemand schien bereit, den alten Aufzügen zu
trauen; erst am nächsten Abend wurden zwei Wagen und die notwendigen Maschinen, die man in den Werkstätten des Raumschiffes gebaut hatte, mit Landefähren heruntergeschickt. Um diese Zeit war auch die Abdichtung vollendet, die kernelektrischen Energieumwandler waren installiert und die Sauer Stoffgeneratoren in Betrieb genommen. Martha hielt sich am nächsten Tage etwa eine Stunde vor dem Mittagessen in dem unteren Kellergeschoß auf, als zwei Offiziere der Raumstreitkräfte dem Aufzug entstiegen und zusätzliche Lampen brachten. Sie benutzte noch immer ihr Sauerstoffgerät, und es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannte, daß die Neuankömmlinge keine Masken trugen und daß einer von ihnen rauchte. Sie nahm ihren Helmsprecher, ihr Kehlkopfmikrofon und, vorsichtig atmend, ihre Maske und ihre Sauerstofftanks ab. Die Luft war kalt und roch säuerlich alt – der erste marsische Geruch, den sie in die Nase bekam –, doch als sie sich eine Zigarette anzündete, flammte das Feuerzeug hell und stetig auf, und der Tabak brannte gleichmäßig. Die Archäologen, viele von den andern zivilen Wissenschaftlern, einige Offiziere der Raumstreitkräfte und die beiden Korrespondenten, Sid Chamberlain und Gloria Standish, zogen an diesem Abend ein, stellten in freien Räumen Feldbetten auf. Sie installierten in dem alten Leseraum elektrische Öfen und einen Kühlschrank und richteten eine Bar und eine Eßtheke ein. Einige Tage lang war das Gebäude von lärmender Aktivität erfüllt, dann kehrten die Leute von der Raumfahrt nacheinander bis auf einige wenige Zivilisten an ihre eigene Arbeit zurück. Zu erledigen waren immer noch die Abdichtung der wohnlichsten der bereits erforschten Gebäude und ihre Vorbereitung für die Ankunft der fünfhundert Mitglieder der Hauptexpedition. Ferner mußten der Landeplatz für die Landefähren des Hauptschiffes
vergrößert und weitere Treibstofftanks gebaut werden. – Dann mußten noch die alten Wasserreservoire der Stadt entschlammt werden, bevor das Tauwetter des nächsten Frühlings mehr Wasser in die unterirdischen Leitungen brachte, die in falscher Übersetzung von Schiaparellis italienischem Wort Kanäle genannt wurden. Die alten Kanalbauer mußten eine Zeit vorausgesehen haben, da ihre Nachfahren nicht länger in der Lage sein würden, die Instandhaltungsarbeiten durchzuführen, und hatten entsprechende Vorkehrungen getroffen. An dem Tage, an dem die Universität vollkommen bewohnbar gemacht worden war, begann die eigentliche Arbeit für Selim, Tony Lattimer und sie selbst, bei der sie von einem halben Dutzend Offiziere der Raumstreitkräfte, meistens Frauen, und vier oder fünf Zivilisten unterstützt werden sollten.
Sie arbeiteten von unten nach oben, teilten die Fußböden in numerierte Quadrate ein, vermaßen, registrierten, fotografierten alle Objekte. Sie verpackten Proben organischer Stoffe und schickten sie hinauf zum Schiff zur Datierung und Analyse nach dem Kohlenstoff-14-Verfahren, sie öffneten Büchsen und Krüge und Flaschen und stellten fest, daß alle Flüssigkeiten in ihnen verdunstet waren. Überall fanden sie Zeichen plötzlich unterbrochener und nicht wiederaufgenommener Aktivität. Eine in einen Schraubstock eingespannte und halb durchsägte Metallstange und daneben die Säge. Töpfe und Pfannen mit vertrockneten Resten von Speisen. Ein hartes Stück Fleisch auf einem Tisch, daneben das Messer. Toilettenartikel auf Waschtischen. Ungemachte Betten, deren Tücher zerfielen, wenn man sie berührte, aber noch die Abdrücke vom Körper des Schlafenden zeigten. Papier und Schreibmaterial auf Tischen, als ob der Schreiber
aufgestanden wäre, um nach fünfzigtausend Jahren zurückzukehren und den Schriftsatz zu beenden. Sie fühlte sich beunruhigt. Auf irrationale Weise begann sie zu glauben, die Marsianer hätten diesen Ort nie verlassen, befänden sich noch immer in ihrer Nähe, beobachteten sie mißbilligend, wenn sie etwas aufhob, das sie niedergelegt hatten. Jetzt waren es die Marsianer selbst, die durch ihre Träume geisterten, und nicht länger ihre rätselhafte Schrift. Zuerst hatte jeder, der in die Universität zog, ein separates Zimmer genommen, glücklich, dem Gedränge und dem Mangel an Privatleben der Hütten zu entrinnen. Nach wenigen Nächten war sie froh, als Gloria Standish zu ihr zog, und akzeptierte bereitwillig deren Ausrede, sie fühle sich einsam, wenn sie nicht mit jemand sprechen könne, bevor sie einschlief. Sachiko Koremitsu zog am nächsten Abend zu ihnen, und bevor sie zu Bett ging, reinigte und ölte sie ihre Pistole mit der Bemerkung, sie fürchte, sie könne Rost ansetzen. Auch die anderen spürten es. Selim von Ohlmhorst nahm die Gewohnheit an, sich plötzlich umzudrehen und hinter sich zu schauen, als versuche er jemand zu überraschen, der ihm nachschlich. Tony Lattimer stellte, als er an der mit Hilfe des Schreibtisches des Bibliothekars im Lesesaal improvisierten Bar einen Drink nahm, sein Glas ab und fluchte. »Wissen Sie, was dieses Gebäude hier ist? Ein archäologisches Marie Celeste!« erklärte er. »Es war bis zum Schluß bewohnt – wir alle haben gesehen, wie diese Leute sich bemühten, hier eine Zivilisation am Leben zu erhalten –, aber welches war das Ende? Was geschah mit ihnen? Wohin gingen sie?« »Sie haben doch nicht erwartet, daß sie uns draußen mit einem roten Teppich und einem großen Transparent mit der
Inschrift ›Willkommen, Terraner!‹ empfangen?« fragte Gloria Standish. »Nein, natürlich nicht; sie sind alle vor fünfzigtausend Jahren gestorben. Aber wenn sie die letzten der Marsianer waren, warum haben wir nicht wenigstens ihre Knochen gefunden? Wer hat sie begraben, nachdem sie gestorben waren?« Er betrachtete sein Glas, einen Becher aus hauchdünnem Material, gefunden mit hundert ähnlichen in einem oberen Stockwerk, als ringe er mit sich, ob er noch einen Drink nehmen solle. Dann entschied er sich dafür und griff nach dem Cocktail-Krug. »Und alle Türen im Parterre sind von innen verriegelt oder verbarrikadiert. Wie sind sie hinausgelangt? Und warum sind sie gegangen?«
Am nächsten Tag um die Mittagszeit hatte Sachiko Koremitsu die Antwort auf die zweite Frage. Vier Elektroingenieure waren mit der Landefähre vom Schiff heruntergekommen, und sie hatte den Morgen mit ihnen, mit Sauerstoffmaske, auf der Spitze des Gebäudes verbracht. »Tony, ich glaube, Sie sagten, diese Generatoren seien in gutem Zustand«, begann sie, als sie Lattimer erblickte. »Sie sind es nicht. Sie sind in einem hoffnungslosen Zustand. Dort oben geschah folgendes: die Stützen der Windrotoren gaben nach, und deren Gewicht knickte die Hauptwelle und zerschmetterte alles unter ihnen.« »Nun, nach fünfzigtausend Jahren kann man so etwas erwarten«, erwiderte Lattimer. »Wenn ein Archäologe sagt, etwas sei in guter Verfassung, dann meint er nicht notwendigerweise, daß es startet, wenn man auf einen Knopf drückt.« »Sie haben wohl nicht bemerkt, daß das geschah, als der Strom noch eingeschaltet war?« fragte einer der Ingenieure,
verärgert über Lattimers Ton. »Nun, so war es. Alles ist verbrannt oder zusammengeschmolzen. Ich sah eine Stromschiene von zwanzig Zentimeter Durchmesser, die glatt durchgeschmolzen war. Es ist ein Jammer, daß wir nicht alles in gutem Zustand vorgefunden haben, selbst archäologisch gesprochen. Ich habe eine Menge von interessanten Dingen gesehen, Dinge, die dem weit voraus sind, was wir heute benutzen. Doch es wird eine Reihe von Jahren dauern, bis wir alles untersucht haben und uns vorstellen können, wie es ursprünglich ausgesehen hat.« »Sah es so aus, als ob jemand versuchte, es in Ordnung zu bringen?« fragte Martha. Sachiko schüttelte den Kopf. »Sie müssen einen Blick darauf geworfen und dann aufgegeben haben. Ich glaube nicht, daß es möglich war, irgend etwas zu reparieren.« »Nun, das erklärt, warum sie fortgegangen sind. Sie brauchten Elektrizität für Licht und Heizung, und ihre gesamte Industrie war auf Elektrizität eingestellt. Sie hatten ein gutes Leben mit Strom; ohne ihn war dieses Gebäude nicht bewohnbar.« »Aber warum haben sie dann alles von innen verbarrikadiert, und wie sind sie hinausgekommen?« wollte Lattimer wissen. »Um andere Leute daran zu hindern, einzubrechen und zu plündern. Der letzte Mann verriegelte die letzte Tür und rutschte außen an einem Seil hinunter«, sagte von Ohlmhorst. »Das werden wir am Ende schon herausfinden.« »Ja, etwa um die Zeit, da Martha anfängt, marsisch zu lesen«, höhnte Lattimer. »Genau dann werden wir es herausfinden«, erwiderte von Ohlmhorst ernsthaft. »Es würde mich nicht überraschen, wenn sie etwas Schriftliches hinterlassen haben, als sie dieses Gebäude räumten.«
»Beginnen Sie wirklich, ihren Wunschtraum als ernsthafte Möglichkeit zu betrachten, Selim?« fragte Lattimer. »Ich weiß, es wäre wundervoll, aber wundervolle Dinge geschehen nicht, nur weil sie wundervoll sind, sondern nur weil sie möglich sind. Und dies ist hier nicht der Fall. Lassen Sie mich den hervorragenden Hethitologen Johannes Friedrich zitieren, der sagte: ›Nichts kann aus nichts übersetzt werden!‹ Oder den späteren, aber nicht weniger hervorragenden Hethitologen Selim von Ohlmhorst: ›Wo bekommen Sie Ihre zweisprachigen Texte her?‹« »Friedrich erlebte es, daß man die hethitische Schrift entzifferte und las«, erinnerte ihn von Ohlmhorst. »Ja, als man zweisprachige hethitisch-assyrische Texte fand.« Lattimer tat einen Löffel voll Kaffeepulver in seine Tasse und fügte heißes Wasser hinzu. »Martha, Sie sollten es wissen, besser als jeder andere, wie wenig Chancen Sie haben. Sie haben jahrelang im Indus-Tal gearbeitet; wie viele Worte Harappa haben Sie oder irgend jemand anderer je lesen können?« »Wir haben nie eine Universität mit einer Bibliothek von einer halben Million Bänden gefunden.« »Und am ersten Tag, da wir dieses Gebäude betraten, ermittelten wir Bedeutungen für verschiedene Worte«, fügte Selim von Ohlmhorst hinzu. »Und Sie haben seither kein weiteres bedeutungsvolles Wort gefunden«, sagte Lattimer. »Und Sie sind sich nur einer allgemeinen Bedeutung sicher, nicht der spezifischen Bedeutung von Wortelementen, und Sie haben ein Dutzend verschiedene Interpretationen für jedes Wort.« »Wir haben einen Anfang gemacht«, erwiderte von Ohlmhorst. »Wir haben Grotefends Wort für ›König‹! Aber ich werde einmal in der Lage sein, einige Bücher dort oben zu
lesen, und wenn es den Rest meines Lebens in Anspruch nimmt. Und das wird es wohl.« »Sie meinen, Sie haben Ihren Plan geändert, auf der Cyrano nach Hause zurückzufahren?« fragte Martha. »Sie wollen hier bleiben?« Der alte Herr nickte. »Ich kann dies nicht unvollendet zurücklassen. Es gibt hier zu viel zu entdecken. Der alte Fuchs wird noch eine Menge neuer Tricks lernen müssen, aber von nun an wird hier mein Betätigungsfeld sein.« Lattimer war schockiert. »Sie sind wahnsinnig!« rief er aus. »Sie meinen, Sie wollen alles aufgeben, was sie in der Hethitologie geleistet haben, und hier auf dem Mars von neuem beginnen? Martha, wenn Sie ihm diesen verrückten Entschluß eingeredet haben, dann war das verbrecherisch!« »Niemand hat mir etwas eingeredet«, sagte von Ohlmhorst schroff. »Und was Ihre Bemerkung betrifft, ich gäbe auf, was ich in der Hethitologie geleistet habe, so weiß ich beim Teufel nicht, wovon Sie reden. Alles, was ich über das Hethiterreich weiß, ist veröffentlicht und steht jedermann zur Verfügung. Hethitologie ist wie Ägyptologie; sie hat aufgehört, Forschung und Archäologie zu sein, und ist Gelehrsamkeit und Geschichte geworden. Und ich bin kein Gelehrter und kein Historiker; ich bin ein mit Pickel und Schaufel arbeitender Feldarchäologe – ein erfahrener und hochspezialisierter Grabräuber und Trümmersortierer – und es gibt auf diesem Planeten mehr Pickel-und-Schaufel-Arbeit, als ich in hundert Leben vollbringen könnte. Dies ist etwas Neues; ich war ein Narr zu glauben, ich könnte es aufgeben und wieder Fußnoten kritzeln über hethitische Könige.« »Sie könnten alles haben, was Sie wollen, in der Hethitologie. Es gibt ein Dutzend Universitäten, die Sie nehmen würden. Aber nein! Sie müssen auch der erste Mann in der Marsologie sein. Sie können nichts jemand anderem
überlassen – « Lattimer schob seinen Stuhl zurück, stand auf und verließ den Tisch mit einem Fluch, aus dem tiefe Verbitterung sprach. Vielleicht waren seine Gefühle stärker als er selbst. Vielleicht begriff er, wie Martha es tat, was er verraten hatte. Sie starrte, die Blicke der andern meidend, gegen die Decke, verlegen, als habe Lattimer etwas Schmutziges auf den Tisch geworfen. Tony Lattimer hatte verzweifelt gewünscht, Selim möge auf der Cyrano nach Hause zurückkehren. Die Marsologie war ein neues Gebiet; wenn Selim sich auf dieses Gebiet begab, würde er den Ruf mitbringen, den er sich in der Hethitologie bereits erworben hatte, und automatisch in die führende Rolle hineinwachsen, die Lattimer für sich selbst begehrte. Fitzgeralds Worte fielen ihr wieder ein – wenn jemand der Größte sein will, kann er nicht die Möglichkeit ertragen, daß ein anderer größer ist als er. Auch daß er ihre Arbeit lächerlich machte, wurde jetzt verständlich. Er war nicht davon überzeugt, daß sie nie die marsische Sprache würde lesen können. Er hatte gefürchtet, es könnte ihr gelingen. Iwan Fitzgerald isolierte schließlich den Bazillus, der die rätselhafte Krankheit von Miss Finchley verursacht hatte. Kurz darauf ging die Krankheit in ein leichtes Fieber über, von dem sie sich schnell erholte. Niemand sonst schien infiziert worden zu sein. Fitzgerald bemühte sich noch immer herauszufinden, wie der Bazillus übertragen worden war. Sie fanden einen Globus des Mars, gefertigt in der Zeit, da die Stadt ein Seehafen war. Sie lokalisierten die Stadt und stellten fest, daß ihr Name Kukan gewesen war – oder eine ähnliche Folge von Konsonanten und Vokalen. Sofort begannen Sid Chamberlain und Gloria Standish in ihren Sendungen den Namen Kukan als Ursprungsort anzugeben, und Hubert Penrose benutzte den Namen in seinen offiziellen Berichten. Sie fanden auch einen Marskalender; das Jahr war
in zehn mehr oder weniger gleiche Monate eingeteilt, und einer von ihnen war Doma gewesen. Ein anderer Monat war Nor, und dies war ein Teil des Namens der wissenschaftlichen Zeitschrift, die Martha gefunden hatte. Bill Chandler, der Zoologe, war tiefer und tiefer in den alten Meeresgrund der Syrtis-See eingedrungen. Vierhundert Kilometer vor Kukan und in fünfhundert Meter Höhe schoß er einen Vogel, zumindest etwas mit Flügeln und etwas, das Federn ähnelte, obwohl es mehr reptilartig als vogelartig war in seinen allgemeinen Kennzeichen. Er und Fitzgerald enthäuteten den Kadaver und sezierten ihn Zelle um Zelle. Fast sieben Achtel seines Körpers waren Lungen; es atmete zweifellos Luft, die mindestens die Hälfte dessen an Sauerstoff enthielt, was nötig war zum Unterhalt menschlichen Lebens, oder fünfmal soviel wie die Luft um Kukan. Das rückte die Archäologie aus dem Mittelpunkt des Interesses und löste neue Aktivitäten aus. Die gesamte Luftflotte der Expedition – vier Senkrechtstarter und drei flügellose Kampfaufklärer – wurden für die intensivierte Erforschung des niederen Meeresbodens eingesetzt, und die Männer und Frauen der biologischen Disziplin arbeiteten fieberhaft und machten bei jedem Flug neue Entdeckungen. Die Universität wurde Selim und Martha und Tony Lattimer überlassen; letzterer blieb meistens für sich, während sie und der alte Turko-Germane zusammenarbeiteten. Die zivilen Spezialisten anderer Gebiete und die Leute von den Raumstreitkräften, die den Nachrichtenverkehr unterhielten, gezeichnet und fotografiert hatten, flogen alle in die niederen Gebiete der Syrtis-See, um festzustellen, wieviel Sauerstoff es dort gab und welche Art von Leben. Manchmal kam Sachiko vorbei; den größten Teil ihrer Zeit verbrachte sie damit, Fitzgerald beim Sezieren zu helfen. Sie hatten vier oder fünf Spezies identifiziert, die man vage als
Vögel bezeichnen konnte, und etwas, das man als Reptil klassifizieren konnte, ferner ein fleischfressendes Säugetier von der Größe einer Katze mit vogelähnlichen Klauen, und ein pflanzenfressendes Tier, fast identisch mit dem schweinähnlichen Geschöpf in der großen Darfhulva-Wandmalerei, sowie ein gazellenähnliches Tier mit einem Einhorn in der Mitte der Stirn. Der Höhepunkt kam, als eine Gruppe in dreitausend Meter Höhe unter dem Niveau von Kukan atembare Luft fand. Einer von ihnen bekam einen Anfall von sorroche und mußte zur Behandlung rasch zurückgeflogen werden, aber die anderen zeigten keine nachteiligen Reaktionen. Die täglichen Nachrichtensendungen von Terra zeigten einen entsprechenden Wechsel der Interessen zu Hause an. Die Entdeckung der Universität hatte die Aufmerksamkeit auf die tote Vergangenheit des Mars gelenkt; jetzt war die Öffentlichkeit am Mars interessiert als einen möglichen Wohnort für die Menschheit. Es war Tony Lattimer, der die Archäologie wieder zur Geltung brachte in den Aktivitäten der Expedition und in den Nachrichten zu Hause. Martha und Selim arbeiteten im Museum im zweiten Stockwerk, schrubbten den Schmutz von den Glaskästen, registrierten den Inhalt; Lattimer und zwei Offiziere der Luftstreitkräfte untersuchten die früheren Verwaltungsbüros auf der andern Seite des Gebäudes. Es war einer von diesen Offizieren, ein junger Leutnant, der aus dem Zwischengeschoß heraufstürzte, zitternd vor Erregung. »Heh, Martha! Dr. von Ohlmhorst!« schrie er. »Wo sind Sie? Tony hat die Marsianer gefunden!« Selim ließ seinen Putzlappen zurück in den Eimer fallen; sie legte ihren Schreibblock auf den Kasten neben ihr. »Wo?« fragten sie gleichzeitig.
»Drüben auf der Nordseite.« Der Leutnant faßte sich wieder und sprach jetzt ruhiger. »Ein kleiner Raum, hinter einem der Fakultätszimmer – ein Konferenzzimmer. Es war von innen verschlossen. Wir mußten die Tür mit einem Schweißgerät herausbrennen. Da sahen wir sie. Achtzehn von ihnen, rund um einen langen Tisch – « Gloria Standish, die zum Mittagessen hereingekommen war, stand im Zwischengeschoß, schrie in ein Radiotelefon: »… anderthalb Dutzend von ihnen! Nun, natürlich sind sie tot. Was für eine Frage! Sie sehen aus wie mit Leder bedeckte Skelette. Nein, ich weiß nicht, woran sie gestorben sind. Sid, begreifen Sie das? Wir haben die Marsianer gefunden!« Sie knallte den Telefonhörer auf die Gabel, rannte ihnen voraus.
Martha erinnerte sich an die verschlossene Tür; bei der ersten Inspektion hatten sie versucht, sie zu öffnen. Jetzt war sie auf beiden Seiten herausgeschweißt worden und lag, noch heiß an den Kanten, auf dem Fußboden des großen Büroraums vor dem Konferenzzimmer. In dem Konferenzzimmer brannte ein Scheinwerfer, und Lattimer ging inspizierend umher, während ein Offizier der Raumstreitkräfte an der Tür stand. Die Mitte des Raumes nahm ein langer Tisch ein; rund um ihn saßen in Lehnstühlen achtzehn Männer und Frauen, die seit fünfzigtausend Jahren in dem Raum weilten. Vor ihnen auf dem Tisch standen Gläser und Flaschen, und wenn sie die Gestalten in einem gedämpfteren Licht gesehen hätte, würde sie geglaubt haben, sie seien beim Trinken eingeschlummert. Einer hatte ein Bein über die Armlehne gehängt und war zusammengerollt wie ein Fötus. Ein anderer war nach vorn über den Tisch gefallen, seine Arme waren ausgestreckt, und an einem Finger leuchtete matt ein Smaragd. Mit Leder
bedeckte Skelette, hatte Gloria Standish sie genannt, und das waren sie – Gesichter von Totenschädeln, Arme und Beine wie Stöcke, das Fleisch zusammengeschrumpft über den Knochen. »Ist das nicht phantastisch?« jubelte Lattimer. »Massenselbstmord war es! Beachten Sie, was in den Ecken steht.« In den Ecken des Raumes standen aus durchlöchertem Metall hergestellte Kohlenbecken von etwa zehn Liter Fassungsvermögen, und die Wand über ihnen war von Rauch geschwärzt. Von Ohlmhorst hatte sie sofort entdeckt und leuchtete mit seiner Taschenlampe in eins der Becken hinein. »Ja, Holzkohle. Ich sah einen Vorrat davon neben einer Handschmiede in einer Werkstatt im ersten Stock. Deshalb hatten Sie soviel Mühe, in den Raum einzudringen; sie hatten ihn von innen abgedichtet.« Er reckte sich und ging an den Wänden entlang, bis er einen Ventilator fand. »Mit Lumpen verstopft«, sagte er. »Sie müssen die letzten gewesen sein, die übrig waren. Ihre Energiequelle war versiegt, sie waren alt und müde, und die ganze Welt um sie herum lag im Sterben. So kamen sie einfach hierher und zündeten die Holzkohle an und saßen trinkend beisammen, bis sie alle einschliefen. Nun, jetzt wissen wir jedenfalls, was aus ihnen geworden ist.« Sid und Gloria machten am meisten aus der Entdeckung. Die Öffentlichkeit daheim wollte etwas über die Marsianer erfahren, und wenn lebende Marsianer nicht gefunden werden konnten, dann war ein Raum voll Toter das Nächstbeste. Tony Lattimer, der Entdecker, begann seinen Lohn einzuheimsen für seine Aufmerksamkeiten gegenüber Gloria und seine Bemühungen, Sid für sich zu gewinnen; er war ständig dabei, Fernsehplaudereien zu machen oder den Nachrichtensendungen vom Heimatplaneten zu lauschen. Ohne Frage war er über Nacht der am meisten bekannte Archäologe der Geschichte geworden.
»Ich persönlich bin an alledem nicht interessiert«, erklärte er, nachdem er sich zwei Tage nach der Entdeckung die Nachrichtensendung von der Erde angehört hatte. »Aber dies wird eine große Sache werden für die marsische Archäologie. Wir müssen es der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen, wir müssen es dramatisieren. Selim, können Sie sich erinnern, wie Lord Carnavon und Howard Carter das Grab des Tut-anchamon fanden?« »Im Jahre 1922? Da war ich zwei Jahre alt«, erwiderte von Ohlmhorst lachend. »Ich weiß wirklich nicht, wieviel diese Publizität der Archäologie je genützt hat. Ja, die Museen widmeten den ägyptischen Exponaten mehr Raum, und wenn ein Museumsabteilungschef ein paar Schaukästen mehr bekommt, dann weiß man, wie schwer es ist, ihn zu bewegen, daß er sie wieder hergibt. Und eine Zeitlang war es leichter, finanzielle Unterstützung zu bekommen für neue Ausgrabungen. Aber ich weiß nicht, wieviel Gutes all diese öffentliche Aufregung in Wirklichkeit auf die Dauer bewirkt.« »Nun, ich denke, einer von uns sollte auf der Cyrano zurückkehren, wenn die Schiaparelli in ihren Orbit eintritt«, sagte Lattimer. »Ich hoffte, Sie würden das tun; Ihre Stimme hätte am meisten Gewicht. Aber ich denke, es ist wichtig, daß einer von uns zurückgeht, um die Story unserer Arbeit und dessen, was wir geleistet haben und noch zu leisten hoffen, der Öffentlichkeit, den Universitäten, den gelehrten Gesellschaften und der Bundesregierung zu berichten. Hier ist noch eine Menge Arbeit von uns zu leisten. Wir dürfen nicht zulassen, daß die andern Wissenschaftsgebiete und die sogenannten praktischen Interessen die Aufmerksamkeit des Publikums und die akademische Unterstützung monopolisieren. Deshalb glaube ich, ich sollte, wenigstens für eine Weile, zurückgehen und sehen, was ich tun kann – «
Vorlesungen, die Organisierung einer Gesellschaft der marsischen Archäologie mit Anthony Lattimer, Dr. phil. als logischem Kandidaten für den Präsidentenposten, akademische Ehrungen, Orden, die Anerkennung der Fachwelt und die Bewunderung des Laienpublikums, Stellungen mit eindrucksvollen Titeln und Dotierungen. Süß sind die Früchte der Publizität. Sie drückte ihre Zigarette aus und stand auf. »Nun, ich habe noch die letzten Listen dessen, was wir in der Biologiefakultät gefunden haben, zu überprüfen. Ich fange morgen mit Sornhulva an und möchte dieses Material fertig haben zur Expertenschätzung.« Dies war die Art von Dingen, denen Tony Lattimer entgehen wollte, der Kleinarbeit, der Plackerei. Laßt die Infanterie durch den Dreck robben; die Orden kriegen die hohen Tiere.
Eine Woche später war sie halb fertig mit dem fünften Stockwerk und aß eben im Lesesaal des ersten Stockwerks zu Mittag, als Hubert Penrose herüberkam und sich neben sie setzte und sie fragte, was sie im Augenblick tue. Sie sagte es ihm. »Ich frage mich, ob Sie mir ein paar Männer für eine Stunde oder so besorgen können«, fügte sie hinzu. »Ich werde aufgehalten durch einige blockierte Türen in der Mittelhalle. Es sind der Lesesaal und die Bibliothek, wenn der Plan dieses Stockwerks in etwa dem der unteren entspricht.« »Ja. Ich bin selbst ein ziemlich guter Türknacker.« Er schaute sich in dem Raum um. »Da ist Jeff Miles; er hat nichts Wichtiges zu tun im Augenblick. Und wir werden Sid Chamberlain einmal zur Abwechslung arbeiten lassen. Wir vier sollten in der Lage sein, Ihre Türen zu öffnen.« Er rief
Chamberlain, der sein Tablett zum Geschirrspüler hinübertrug. »He, Sid, haben Sie etwas zu tun in der nächsten Stunde?« »Ich wollte in den vierten Stock hinaufgehen und sehen, was Tony tut.« »Vergessen Sie das. Tony hat sein Kontingent an Marsianern gesammelt. Ich will Martha helfen, ein paar Türen aufzubrechen; wir werden wahrscheinlich einen ganzen Friedhof von Marsianern finden.« Chamberlain zuckte die Achseln. »Warum nicht. Hinter einer blockierten Tür kann man alles finden, und ich weiß, was Tony im Augenblick tut – nur Routinearbeit.« Jeff Miles, der Hauptmann der Raumstreitkräfte, kam herüber, begleitet von einem Mitglied des Laboratoriumspersonals des Schiffes, der am Tag zuvor mit der Landefähre heruntergekommen war. »Das dürfte in Ihr Fach schlagen, Mort«, sagte er zu seinem Begleiter. »Chemie und Physik. Wollen Sie mitkommen?« Der Laborant, Mort Tranter, erklärte sich bereit. Sehenswürdigkeiten besichtigen, das war der Grund, weshalb er vom Schiff heruntergekommen war. Sie trank ihren Kaffee aus und rauchte ihre Zigarette zu Ende, und dann gingen sie zusammen hinaus in die Halle, nahmen ihre Ausrüstung auf und fuhren im Fahrstuhl zum fünften Stock. Die Tür des Hörsaals war die nächstgelegene; mit ihr begannen sie. Mit dem richtigen Werkzeug und genügend Hilfskräften war sie kein Problem, und in zehn Minuten hatten sie sie weit genug geöffnet, um sich mit den Scheinwerfern hindurchzuzwängen. Der Raum war vollkommen leer und wie die meisten Räume hinter verschlossenen Türen verhältnismäßig frei von Staub. Die Studenten, so schien es, hatten mit dem Rücken zur Tür gesessen, zu Füßen eines niedrigen Podestes, aber ihre Sitze, der Katheder und die
gesamte Einrichtung waren entfernt worden. Die beiden Seitenwände trugen Inschriften: rechts ein Muster von konzentrischen Kreisen, das sie als ein Diagramm der atomaren Struktur erkannte, und rechts eine komplizierte Tabelle von Zahlen und Worten in zwei Spalten. Tranter zeigte auf das Diagramm zur Rechten. »Sie sind jedenfalls bis zum Bohr’schen Atom gekommen«, sagte er. »Nun, nicht ganz. Sie wußten von Elektronenschalen, aber sie stellten den Kern als eine solide Masse dar. Kein Hinweis auf die Protonen- und Neutronen-Struktur. Ich wette, wenn es Ihnen gelingt, ihre wissenschaftlichen Bücher zu übersetzen, werden Sie feststellen, daß sie lehrten, das Atom sei das letzte und tunteilbare Teilchen. Das erklärt, warum man nie Anzeichen dafür gefunden hat, daß die Marsianer Kernenergie benutzten.« »Das ist ein Uranatom«, bemerkte Hauptmann Miles. »Ist es das wirklich?« fragte Sid Chamberlain erregt. »Dann wußten sie bereits von der Atomenergie. Nur daß wir keine Bilder von dem Pilz einer Atombombe gefunden haben, bedeutet nicht – « Martha wandte sich der andern Wand zu. Während sie die Anordnung von Zahlen und Worten studierte, hörte sie Tranter sagen: »Unsinn, Sid. Wir wußten vom Atom, lange bevor jemand herausfand, was wir mit ihm tun konnten. Uran wurde auf der Erde im Jahre 1789 von Klaproth entdeckt.« Es war etwas Vertrautes an der Tabelle auf der linken Wand. Sie bemühte sich, sich an das zu erinnern, was sie in der Schule über Physik gelernt und was sie später zufällig aufgeschnappt hatte. Die zweite Spalte war eine Fortsetzung der ersten; beide enthielten je sechsundvierzig Posten, und diese waren alle fortlaufend numeriert.
»Sie benutzten wahrscheinlich Uran, weil es das größte der einfachen Atome ist«, sagte Penrose. »Die Tatsache, daß nichts da ist, was darüber hinausgeht, zeigt, daß sie keines der Transurane geschaffen hatten. Ein Student könnte hingehen und das äußere Elektron jedes der zweiundneunzig Elemente aufzeigen.« Zweiundneunzig! Das war es; die Tabelle auf der linken Wand enthielt zweiundneunzig Posten! Wasserstoff war Nummer Eins, das wußte sie; Eins, Sarfaldsorn. Helium war Zwei; das war Tirfaldsorn. Sie konnte sich nicht erinnern, welches Element das nächste war, doch im Marsischen war es Sarfalddavas. Sorn mußte dann Stoff bedeuten, oder Substanz. Und davas; sie versuchte herauszufinden, was es sein könnte. Sie wandte sich rasch den andern zu, packte Hubert Penroses Arm mit einer Hand und schwenkte ihren Notizblock mit der anderen. »Schauen Sie sich das an, dort oben«, rief sie erregt aus. »Sagen Sie mir, wofür Sie es halten. Könnte es eine Tabelle der chemischen Elemente sein?« Alle blickten nach oben. Mort Tranter sagte nach kurzem Zögern: »Könnte sein. Wenn ich nur wüßte, was diese Schnörkel bedeuten – « »Wenn Sie die Zahlen lesen könnten, würde das helfen?« fragte sie und begann die arabischen Ziffern und ihre marsischen Äquivalente niederzuschreiben. »Es ist ein Dezimalsystem, das gleiche, wie wir es benutzen.« »Sicher. Wenn das eine Tabelle der Elemente ist, dann brauchen wir nur die Zahlen. Danke«, fügte er hinzu, als sie das Blatt abriß und es ihm reichte. Penrose kannte die Zahlen und war ihm voraus. »Zweiundneunzig Posten, fortlaufend numeriert. Die erste Zahl ist die Atomzahl. Dann ein einzelnes Wort, der Name des Elements. Dann das Atomgewicht – «
Sie begann die Namen der Elemente herunterzulesen. »Ich kenne Sauerstoff und Helium; was ist tirfalddavas, das dritte?« »Lithium«, sagte Tranter. »Die Atomgewichte gehen nicht über das Dezimalkomma hinaus. Hydrogen ist Nummer Eins, wenn dieser Doppelhaken ein Pluszeichen ist. Helium vierplus, das ist richtig. Und Lithium ist mit sieben angegeben, das ist nicht richtig. Es ist sechs-Komma-neun-vier-Null. Oder ist das Ding da ein marsisches Minuszeichen?« »Natürlich! Schauen Sie! Ein Pluszeichen ist ein Haken, um Dinge zusammenzuhängen, ein Minuszeichen ist ein Messer, um etwas von etwas anderem abzuschneiden – sehen Sie, die kleine Schleife ist der Griff, und die lange spitze Schleife ist die Klinge. Stilisiert natürlich, aber so ist es. Und das vierte Element, kiradavas, was ist das?« »Beryllium. Atomgewicht angegeben mit neun-und-einHaken; in Wirklichkeit ist es neun-Komma-Null-zwei.« Sid Chamberlain war verstimmt, weil er keine Story darüber bekommen konnte, daß die Marsianer Atomenergie entwickelt hatten. Er brauchte einige Minuten, bis er die neueste Entwicklung begriff, aber schließlich dämmerte es ihm. »Heh! Sie lesen das?« rief er aus. »Sie lesen marsisch?« »Das stimmt«, antwortete ihm Penrose. »Ich lese es einfach so herunter. Nur die beiden Zeichen hinter dem Atomgewicht verstehe ich nicht. Sie sehen aus wie Monate des Marskalenders. Was könnten sie bedeuten, Mort?« Tranter zögerte. »Nun, die nächsten Informationen nach dem Atomgewicht sollten die Periodennummer und die Gruppennummer sein. Aber das sind Wörter.« »Welche würden die Nummern des ersten sein, die von Wasserstoff?« »Periode Eins, Gruppe Eins. Eine Elektronenschale, ein Elektron in der äußeren Schale«, erwiderte Tranter. »Helium ist ebenfalls Periode Eins, aber nur seine äußere
Elektronenschale ist besetzt, also gehört es zur Gruppe der Edelgase.« »Trav, Trav. Trav ist der erste Monat des Jahres. Und Helium ist Trav, Yenth; Yenth ist der achte Monat.« »Die Edelgase können als Gruppe Acht bezeichnet werden, ja. Und das dritte Element, Lithium, ist Periode Zwei, Gruppe Eins. Stimmt das?« »Gewiß. Sanvy Trav; Sanv ist der zweite Monat. Welches ist das erste Element in Periode Drei?« »Sodium, Nummer Elf.« »Stimmt, es ist Krav, Trav. Nun, die Namen der Monate sind einfach Zahlen, Eins bis Zehn.« »Doma ist der fünfte Monat. Das war Ihr erstes marsisches Wort, Martha«, sagte Penrose. »Das Wort für Fünf. Und wenn darvas das Wort für Metall ist, und sornhulva Chemie und/oder Physik bedeutet, dann ist, so wette ich, Tadavas Sornhulva wörtlich übersetzt: ›Wissen vom Metall‹, also Metallurgie mit anderen Worten. Ich frage mich, was Mastharnorvod bedeutet.« Es überraschte sie, daß er sich nach so langer und ereignisreicher Zeit noch daran erinnerte. »Etwas wie ›Journal‹ oder ›Revue‹, oder vielleicht ›Vierteljahresschrift‹.« »Auch das werden wir herausfinden«, sagte sie zuversichtlich. Hiernach erschien nichts unmöglich. »Vielleicht können wir ermitteln – « Dann unterbrach sie sich. »Sie sagten ›Vierteljahresschrift‹. Ich denke, es war ›Monatsschrift‹. Das Heft war datiert für einen bestimmten Monat, für den fünften, glaube ich. Und wenn nor zehn ist, könnte Masthornorvod ›Jahrzentel‹ bedeuten. Und ich wette, wir werden finden, daß masthar das Wort für Jahr ist.« Sie blickte wieder auf die Tabelle. »Nun, schreiben wir alle diese Worte auf, mit allen nur möglichen Übersetzungen.«
»Lassen Sie uns eine Pause machen«, schlug Penrose vor und zog seine Zigaretten aus der Tasche. »Und dann wollen wir das in Ruhe und Bequemlichkeit erledigen. Jeff, wie wäre es, wenn Sie und Sid hinübergingen auf die andere Seite der Halle und nachsähen, ob Sie in dem andern Raum einen Schreibtisch oder etwas Ähnliches finden, und einige Stühle? Wir werden eine Weile zu tun haben.« Sid Chamberlain hatte sich inzwischen gewunden, als quälten ihn Ameisen, und sich zu beherrschen versucht. Jetzt brach es aus ihm heraus. »Das ist die Sensation! Das ist mehr als die Entdeckung der Wasserreservoire oder der Statuen oder dieses Gebäudes oder gar der Tiere und der toten Marsianer! Warten Sie, bis Selim und Tony das sehen! Vor allem Tony! Sein Gesicht möchte ich sehen! Und wenn ich diese Sensation zur Sendung bringe, wird die Erde aus dem Häuschen geraten!« Er wandte sich an Hauptmann Miles. »Jeff, kümmern Sie sich bitte um die andere Tür, während ich jemand beauftrage, Selim und Tony zu verständigen. Und Gloria; warten Sie bis sie – « »Ruhig Blut, Sid«, unterbrach ihn Martha. »Sie zeigen mir besser Ihr Manuskript, bevor Sie zu sehr über die Stränge schlagen. Dies ist erst ein Anfang; es wird Jahre und Jahre dauern, bis wir in der Lage sein werden, alle die Bücher unten zu lesen.« »Es wird schneller gehen, als Sie denken, Martha«, sagte Hubert Penrose. »Wir werden alle daran arbeiten, und wir werden Material per Fernschreiber zur Erde funken, und auch dort werden Leute daran arbeiten. Wir werden ihnen alles übermitteln, was wir können… alles, was wir finden, und Kopien von Büchern, und Kopien Ihrer Wortlisten…« Und man würde andere Tabellen finden – astronomische Tabellen, Tabellen für Physik und Chemie zum Beispiel – bei denen Worte und Zahlen einander entsprachen. Die
Bibliotheksregale mußten voll von ihnen sein. Man würde sie in das römische Alphabet und in arabische Ziffern transkribieren, jemand würde die numerische Bedeutung entdecken, wie Hubert Penrose und Mort Tranter und sie selbst es getan hatten bei der Tabelle der Elemente. Und man würde alle Chemielehrbücher in der Bibliothek ermitteln; neue Worte würden Bedeutung erlangen aus dem Kontext, in dem die Namen von Elementen erschienen. Sie würde selbst anfangen müssen, Chemie und Physik zu studieren.
Sachiko Koremitsu schaute durch die Tür herein, trat dann ein. »Gibt es etwas, das ich tun kann?« begann sie. »Was ist geschehen? Etwas Wichtiges?« »Wichtig?« explodierte Sid Chamberlain. »Schauen Sie sich das an, Sachi! Wir lesen es! Martha ist dahinter gekommen, wie man Marsisch liest!« Er packte Hauptmann Miles am Arm. »Kommen Sie, Jeff; gehen wir. Ich will die andern rufen – « Er redete immer noch, als er aus dem Raum eilte. Sachi betrachtete die Inschriften. »Ist es wahr?« fragte sie, und dann, bevor diese anfangen konnte, es ihr zu erklären, warf sie ihre Arme um Marthas Hals. »Oh, das ist es wirklich! Sie können es lesen! Ich bin so glücklich!« Sie mußte von neuem beginnen, ihre Entdeckung zu erklären, als Selim von Ohlmhorst hereinkam. Dieses Mal konnte sie ihre Gedanken zu Ende führen. »Aber, Martha, sind Sie wirklich so sicher? Sie wissen inzwischen, daß es für mich ebenso wichtig ist wie für Sie, diese Sprache lesen zu lernen, aber wie können Sie so sicher sein, daß diese Worte wirklich Dinge bedeuten wie Wasserstoff und Helium und Bor und Sauerstoff? Woher wissen Sie, daß ihre Tabelle der Elemente die gleiche war wie die unsere?«
Tranter und Penrose und Sachiko sahen ihn erstaunt an. »Das ist nicht nur die marsische Tabelle der Elemente; das ist die Tafel der Elemente. Es ist die einzige, die es gibt«, ereiferte sich Mort Tranter. »Sehen Sie, Wasserstoff hat ein Proton und ein Elektron. Wenn er mehr von einem von beiden hätte, wäre es etwas anderes. Und das gleiche gilt für die übrigen Elemente. Und Wasserstoff auf dem Mars ist der gleiche wie Wasserstoff auf der Erde, oder auf Alpha Centauri, oder in der nächsten Milchstraße – « »Schreiben Sie diese Zahlen in dieser Reihenfolge auf, und jeder Student der Chemie im ersten Semester kann Ihnen sagen, welche Elemente sie bedeuten«, bemerkte Penrose – »Das heißt, wenn er erwartet, sein Examen zu bestehen.« Der alte Herr schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich fürchte, ich würde das Examen nicht bestehen. Ich könnte es nicht. Eins der Dinge, die ich von der Schiaparelli heraufbringen lassen werde, ist ein Sortiment von Lehrbüchern für Chemie und Physik, wie sie für Kinder von zehn oder zwölf Jahren vorgesehen sind. Es scheint, ein Marsiologe wird eine Menge Dinge lernen müssen, von denen die Hethiter und die Assyrer nie hörten.« Tony Lattimer, der eben hereinkam, hörte den letzten Teil der Erklärungen. Er warf einen raschen Blick auf die Wände und, erkennend, was geschehen war, ergriff er Marthas Hand. »Sie haben es tatsächlich geschafft, Martha! Sie haben den Schlüssel gefunden! Ich habe nie geglaubt, daß es möglich ist. Lassen Sie mich Ihnen gratulieren!« Er hoffte anscheinend, alle Sticheleien und Spötteleien der Vergangenheit ausradieren zu können. Wenn es so war, dann konnte er seinen Willen haben. Seine Freundschaft bedeutete ihr so wenig wie seine Animosität – ausgenommen, daß seine Freunde auf der Hut sein mußten vor dem bewußten Messerstich in den Rücken. Doch er kehrte ja mit der Cyrano
zur Erde zurück, um der Größte zu werden. Oder hatte er seine Meinung wieder geändert? »Das ist etwas, das wir der Welt zeigen können, um allen Aufwand an Zeit und Geld für die marsische Archäologie zu rechtfertigen. Wenn ich zur Erde zurückkomme, werde ich dafür sorgen, daß Ihnen volle Anerkennung zuteil wird für diese Leistung – « »Wir brauchen nicht so lange zu warten«, unterbrach Hubert Penrose ihn trocken. »Ich schicke morgen einen offiziellen Bericht ab; Sie können sicher sein, Dr. Dane wird volle Anerkennung zuteil werden, nicht nur für diese Leistung, sondern auch für ihre frühere Arbeit, die es möglich gemacht hat, diese Entdeckung auszuwerten.« »Und Sie können hinzufügen, eine Arbeit, die getan wurde trotz Anzweiflungen und Entmutigung von seiten ihrer Kollegen«, sagte Selim von Ohlmhorst, »an denen auch ich mich, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, beteiligt habe.« »Sie sagten, wir müßten eine bekannte Sprache als Schlüssel finden«, sagte sie. »Sie hatten recht.« »Dies ist mehr als ein Schlüssel im Sinne der Zweisprachigkeit, Martha«, sagte Hubert Penrose. »Die Naturwissenschaft drückt universale Fakten aus. Sie ist eine Universalsprache, und Sie haben einen Universalschlüssel gefunden. Bis jetzt haben die Archäologen nur mit vorwissenschaftlichen Zivilisationen zu tun gehabt.«
Originaltitel: OMNILINGUAL. Copyright © 1957 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Februar 1957. Übersetzt von Leopold Voelker.