ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 17 von Henry Kuttner Theodore Sturgeon Eric Frank Russell
Ausgewählt und zusamm...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 17 von Henry Kuttner Theodore Sturgeon Eric Frank Russell
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2905 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ute Seeßlen und Walter Spiegl Umschlagillustration: Kelly Freas Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02905 1
Für Lessing waren die Abende bei Leutnant Dyke eine Qual. Seit Monaten versuchte er, unter Hypnose ein wichtiges Ereignis in seinem Leben an die Oberfläche seines Bewußtseins zu bringen. Lessing war ein gutes Medium, aber es gab eine Schranke, die scheinbar unüberwindbar war. Doch eines Abends öffnete sich die Tür zum Dunkel seines Unterbewußtseins… DIE STUNDE DER KINDER von Henry Kuttner Beim Abendessen bei Mrs. Binns war man unter sich. Nur der engste Familienkreis und einige Pensionsgäste. Dort passiert nicht sonderlich viel. Bis ein neuer Gast eintraf, ein gewisses Fräulein Stein. Eine kluge, hübsche junge Frau, darüber sind sich alle einig. Seltsam ist nur, daß Gerda Stein so viel über außerirdische Dinge wußte… BESUCH BEI MRS. BINNS von Theodore Sturgeon Sie kamen aus dem Weltall und besetzten die Erde. Schon die Androhung von Gewalt machte die Erdenmenschen zu willigen Sklaven der Raidaner. Leutnant Lakin von der Invasionsflotte versuchte seinen Admiral vergebens zu warnen. Die Erdenmenschen waren nicht nur ein seltsames Volk, an der ganzen Geschichte war etwas faul. Nur merkten es die Raidaner erst, als es zu spät war, denn sie hielten sich für DAS HERRENVOLK von Eric Frank Russell
Henry Kuttner DIE STUNDE DER KINDER
Er saß auf einer Bank in dem kleinen Park vor dem Verwaltungsgebäude und sah, wie die Zeiger der Uhr über dem Eingang zur Kommandantur langsam gegen sieben vorrückten. Gleich beim Stundenschlag würde er durch diese Tür gehen, dann eine Treppe hinauf und den Gang entlang bis zu dem Zimmer, in dem Leutnant Dyke auf ihn wartete – wie jetzt schon an so vielen Abenden. Heute abend würden sie es vielleicht zu Ende führen können. Lessing hielt es für möglich. Etwas arbeitete hinter der fest verschlossenen Tür zu seinem Unbewußten, und vielleicht würde diese Tür, die bisher den geschicktesten Versuchen, mittels Hypnose einzudringen, getrotzt hatte, sich heute abend öffnen. Sie würde vielleicht endlich weit aufgehen und das Geheimnis freilassen, das Lessing selbst vollkommen unbekannt war. Lessing war ein gutes hypnotisches Medium. Leutnant Dyke hatte das schon früh bei den psychonamischen Experimenten mit der Klasse festgestellt – Experimenten, bei denen die Soldaten lernten, ihren Körper empfindungslos zu machen, so daß sie weder Hunger noch Schmerz spürten, wenn beide Gefühle eigentlich unerträglich sein mußten. Bei solchen Lernprozessen werden manchmal dunkle, nie betretene Gänge im Bewußtsein freigelegt. Aber nur ganz selten traf man in der Psyche eines Menschen auf einen so unüberwindlichen Block wie bei Lessing.
Bei den normalen Übungen hatte er gut reagiert. Unfähigkeit, sich zu bewegen, Empfindungslosigkeit des Körpers, der Trick, den Schwerpunkt zu verlagern, und dann die routinemäßigen posthypnotischen Befehle – das alles hatte bei ihm ohne weiteres funktioniert, wie es bei unzähligen anderen auch funktionierte. Aber in Lessings Geist gab es eine Schranke, die sich nicht überwinden ließ. Drei Monate seines Lebens waren hinter undurchdringlichen Mauern verborgen – und zwar unter Hypnose. Das war das Seltsame daran, denn im Wachzustand konnte er sich ganz deutlich an diese drei Monate erinnern. Doch wenn er in Hypnose war, dann existierte diese Zeit einfach nicht. Er wußte dann nicht mehr, daß er vor zwei Jahren im Juni, Juli und August ein ganz normales Leben geführt hatte. Er hatte sich damals als Zivilist in New York aufgehalten, hatte in einer Werbefirma gearbeitet und das geregelte Dasein geführt, das nach dem 7. Dezember 1941 noch eine Zeitlang möglich gewesen war. Es war damals nichts geschehen, was hätte erklären können, weshalb sein Erinnerungsvermögen unter Hypnose regelmäßig aussetzte, wenn man ihn nach dieser Zeit befragte. Das war der Beginn der endlosen Sitzungen gewesen, in denen Lessings Geist durchforscht, gesondet und behutsam beeinflußt wurde, so wie man eine komplizierte Maschine repariert oder ausgefallene Muskeln durch sanfte Massage wieder regeneriert. Bis jetzt hatte die Mauer nicht nachgegeben. Heute abend – Sieben Uhr. Der erste Schlag hallte durch die Abendluft. Lessing stand langsam auf, von einer ungewohnten Panik erfaßt. Heute abend, dachte er, heute wird es möglich sein. Er fühlte, wie es tief in seinem Unbewußten arbeitete. Heute abend würde er es erfahren – er würde sich wieder an das erinnern, was sein Gedächtnis ihm so lange vorenthalten hatte
– und seltsamerweise hatte er ein wenig Angst davor. Er wußte nicht, weshalb. In der Tür blieb er einen Augenblick stehen und sah sich um. Die Dämmerung hatte sich über die Militärstation gesenkt und warf ihre unheimlichen Schatten über die Baracken und den Krankenhausblock, der sich in einiger Entfernung undeutlich abzeichnete. Von irgendwoher hörte man das Pfeifen eines Zuges, der nach New York fuhr. New York, das nur eine Stunde entfernt war und an das sich die Erinnerung knüpfte, die sein Unterbewußtes so hartnäckig gefangenhielt. »Guten Abend, Sergeant«, sagte Leutnant Dyke und sah von seinem Schreibtisch auf. Lessing blickte ein wenig unsicher zu ihm hinüber. Dyke war ein energischer, kleiner blonder Mann, sehr bewußt und zielsicher. Er hatte ungeheures Interesse für das Phänomen von Lessings Erinnerungsausfall an den Tag gelegt, und Lessing war ihm dafür bis zu diesem Augenblick in einer etwas verwirrten Weise dankbar gewesen. Jetzt war er sich nicht mehr sicher. »Guten Abend, Sir«, antwortete er automatisch. »Nehmen Sie Platz. Zigarette? Sind Sie nervös, Lessing?« »Ich weiß nicht.« Er nahm sich gedankenlos eine Zigarette. In seinem Innern schien etwas aufbrechen zu wollen, und er konnte an nichts anderes denken. Der Damm begann zu brechen, und dahinter wartete in der Dunkelheit vielleicht eine Flutwelle darauf, sich frei zu ergießen. In seinem Geist begannen sich die Pforten zum Unterbewußtsein zu öffnen; es war schon so etwas wie ein automatischer Reflex auf Dykes hypnotisches Eindringen. Über Dykes Schreibtisch verbreitete eine nackte Birne ihr grelles Licht. Seine Augen hefteten sich darauf, und um ihn herum wurde es dunkel. Das war inzwischen auch schon ein Reflex geworden. Dyke, der hinter ihm stand, strich mit einem
Finger über seinen Kopf. Und Lessing versank sogleich. Er vernahm Dykes Stimme, die sich von einem Klang in eine starke, saugende Kraft in der Dunkelheit verwandelte. Eine unerklärliche Kraft, die ihn anzog und leitete. Der Damm brach. Die Pforten der Erinnerung begannen nachzugeben, und Lessing spürte Angst. »Gehen Sie in Ihrer Erinnerung rückwärts. Rückwärts bis zum Sommer neunzehnhunderteinundvierzig. Sommer. Sie sind in New York. Wenn ich bis zehn gezählt habe, dann werden Sie sich erinnern. Eins, zwei – « Bei zehn verstummte Dykes Stimme. Dann noch einmal. Und noch einmal. Bis die langen, mühseligen Vorbereitungen für diesen Augenblick Erfolg hatten und James Lessing zurück durch die Zeit glitt und… Und ein Gesicht sah, weiß vor einem dunklen Hintergrund, lodernd wie eine Flamme im rasch dahinjagenden Strom der Zeit. Wessen Gesicht war es? Er wußte es nicht, aber er wußte, daß ein Schatten dahinter stand, der noch schwärzer war als die Dunkelheit, gestaltlos und wachsam. Der Schatten wuchs, beugte sich drohend zu ihm herüber. Er hörte ein rhythmisches Klopfen und Worte, die sich dazu formten. Für eine Stunde Zwischen Dunkelheit und Tag, Wenn die Nacht sich davonschleicht, Fehlt die Erinnerung; Es ist die Stunde der Kinder – Es sagte ihm nichts. Er tastete im Dunkeln nach einem Sinn. Und dann begann es aufzutauchen, das, was er vergessen hatte. Irgend etwas ganz Geringfügiges, etwas, an das zu erinnern sich bestimmt nicht gelohnt hatte. Etwas… nein, jemand. Und
auch so geringfügig nicht. Jemand ziemlich Wichtiges. Jemand, den er zufällig irgendwo getroffen hatte – er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wo – in einer Bar oder im Park oder irgendwo auf einer Party – jedenfalls ganz zufällig. Jemand – ja, es war in einem Park gewesen – aber wer? Er konnte sich jetzt daran erinnern, daß um sie herum alles grün gewesen war, Laub, das in der Sonne leuchtete, und unter ihren Füßen Gras. Eine Quelle, bei der sie stehengeblieben waren, um zu trinken. Er erinnerte sich an das klare, farblose Wasser, das leise dahinplätscherte, aber er wußte nicht mehr, wer mit ihm… wer es gewesen war. Alles andere stand ihm jetzt wieder deutlich vor Augen. Nur die Person neben ihm blieb hartnäckig im Dunkel. Diese schmale Gestalt, etwas kleiner als er – war sie dunkelhaarig? Oder blond? Nein, dunkelhaarig. »Durchbohrt von einer weißen Dirne schwarzem Auge.« Er hielt plötzlich, von einem heftigen Schmerz gepackt, den Atem an, als die Erinnerung gewaltsam hervorbrach. Clarissa! Wie konnte er das vergessen haben? Wie konnte er nur? Wie war es möglich, daß er sie aus seinem Gedächtnis verloren hatte? Er saß benommen da, von diesem Glanz geblendet. Unter der flutenden Helle war irgendwo schmerzliche Trauer verborgen – aber er ließ sie noch nicht an die Oberfläche kommen. Clarissa. Worte reichten nicht aus, um diese leuchtenden Farben zu beschreiben. Als die Mauer gebrochen war, strömte ein so überwältigender Glanz hervor, daß… daß – Sie waren im Park jenseits des Hudson spazierengegangen, unter ihnen glitzerte das blaue Wasser des Flusses in der Sonne. Im Schatten unter den Bäumen rieselte aus einer Quelle klares Wasser über nasse braune Kiesel. Alles war so frisch und herrlich wie am ersten Tag der Schöpfung, weil Clarissa neben ihm ging. Clarissa – und sie hatte er vergessen. Es war, als blickte er in eine andere Welt, die um etwas heller war als diese. Alles leuchtete, alles glänzte, jeder Laut war
heller und klarer; über allem, was er sah, hörte und fühlte, lag eine Art Glorienschein. Als Kind hatte er die Welt mit solchen Augen gesehen, die den alltäglichsten Dingen einen besonderen Zauber abgewannen. Zauber – das war die richtige Bezeichnung für Clarissa. Nicht Eleganz oder Anmut, sondern Zauber wie im Märchen. Wenn er mit ihr zusammen war, dann hatte er sich in die Kindheit zurückversetzt gefühlt, und alles um ihn herum war von einer fast unerträglichen Klarheit und Frische. Aber Clarissa selbst – wer war sie? Wie hatte sie ausgesehen? Und vor allem, wie konnte er sie vergessen haben? Er tastete sich weiter vor in den trüben Nebel der Vergangenheit. Was für ein Satz war das gewesen, bei dem der Vorhang plötzlich aufgerissen war? Er hatte ihn schon wieder vergessen, so überwältigt hatte ihn die Vision. Es war wie ein Blitzstrahl gewesen, der die Dunkelheit erhellt hatte und wieder erloschen war. Dunkelheit – Schwärze – schwarze Augen – ja, das war es. »Durchbohrt von einer weißen Dirne schwarzem Auge.« Ein Zitat natürlich, aber woraus? Woraus denn? Shakespeare? Ja, »Romeo und Julia«. Hatte das nicht Mercutio über Romeos erste Liebe gesagt? Über das Mädchen, das Romeo geliebt hatte, bevor er Julia traf? Das Mädchen, das er so vollkommen vergessen hatte – Vergessen! Lessing lehnte sich in seinem Stuhl zurück und konnte einen Augenblick nur betroffen staunen über die Vielschichtigkeit des Unbewußten. Irgendeine Kraft hatte die Erinnerung an Clarissa aus allen Stufen seines Bewußtseins vertrieben, aber darunter, in der Dunkelheit seines Unterbewußtseins, hatte sie sich hartnäckig gehalten, verzerrt und versteckt hinter Analogien, hinter dem Satz eines Stückeschreibers, der vor dreihundert Jahren gestorben war.
Es war also doch nicht möglich gewesen, Clarissa ganz aus seinem Gedächtnis zu löschen. Sie hatte ihn so tief innen getroffen, hatte eine so leuchtende Spur hinterlassen, daß nichts sie hatte entfernen können. Trotzdem hatte er es nur Leutnant Dykes Können und einem zufällig aufgetauchten Satz zu verdanken, daß sein Gedächtnis sie wieder freigegeben hatte. (Einen schrecklichen Augenblick lang dachte er daran, welche anderen Erinnerungen wohl noch verborgen hinter Analogien, zufälligen Sätzen oder ganz harmlosen Bildern in den Abgründen seines Unterbewußtseins versteckt sein mochten.) Er war also Sieger geblieben – Sieger über all die gesichtslosen, körperlosen und stimmlosen Kräfte, die zwischen ihnen gestanden hatten. Der eifersüchtige Gott – die schemenhaften Gestalten der Wächter. In der Erinnerung blendete ihn einen Augenblick lang der Glanz von Gold. Er sah in diesem wie von einem Blitz erhellten Moment Fremde in prächtigen Gewändern vor sich, die sich vor einem verwirrenden, phantastischen Hintergrund bewegten. Dann schloß sich die Tür wieder, und er saß da und blinzelte. Sieger über sie? Wen? Er wußte es nicht. Selbst in diesem magischen Augenblick, bevor die Erinnerung wieder aussetzte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, wer sie waren. Vielleicht würde dieses Geheimnis nie gelöst werden. Aber irgendwo in seinem Unterbewußtsein lagen unglaubliche Dinge verborgen. Götter, schimmerndes Gold, Gestalten in prächtigen Gewändern, die sich im Wind bewegten. Dinge, die nicht – ganz sicher nicht – von dieser Erde stammten. Strahlend hell, so wie man die Welt sonst nicht sieht, so war Clarissa und alles, was sie umgab. Es war ein stärkerer Zauber als der, den man bei der ersten Liebe erlebt. Das fühlte er jetzt mit Gewißheit. Wenn er neben Clarissa ging, befand er sich in einem Zauberkreis, in dem alles verwandelt war. In ihrer Nähe
wurde die Welt strahlend neu wie die Welt der Kindheit. Doch zwischen ihm und ihr standen diese Schatten – War es nicht Clarissas – Tante? War da nicht eine… eine Tante gewesen? Eine große, dunkle, schweigsame Frau, deren Anwesenheit die Helligkeit gedämpft hatte? Er konnte sich nicht an ihr Gesicht erinnern; sie war nichts als ein Schatten, der hinter Clarissas strahlender Erscheinung stand, ein gesichtsloser, düsterer Schatten im Hintergrund. Seine Erinnerung setzte aus, und in die entstandene Lücke ergoß sich all die Verzweiflung, die er unbewußt zurückgehalten hatte, seit die schimmernde Flut über ihn hereingebrochen war. Clarissa, Clarissa – wo war sie jetzt mit all dem Glanz, der sie umgeben hatte. »Erzählen Sie«, sagte Leutnant Dyke. »Es gab da ein Mädchen«, begann Lessing. »Ich traf sie in einem Park – « Clarissa an einem strahlenden Junimorgen, schlank, groß, dunkel, im Hintergrund der Hudson, dessen Wasser glatt und blau dahinfloß. Durchbohrt von einer weißen Dirne schwarzem Auge. Ja, ganz schwarze Augen, weit auseinanderstehende glänzende Augen in einem ernsten Gesicht, das den nachdenklichen und verschlossenen Ausdruck eines Kindergesichts hatte. Und von dem Augenblick an, wo sich ihre Blicke zum erstenmal trafen, kannten sie einander. Er war tatsächlich durchbohrt worden – durchbohrt und aufgeweckt aus seiner Trägheit. (Durchbohrt – wie Romeo, der seine Liebe zweimal verlor…) »Hallo«, sagte Clarissa.
»Ich glaube, es hat nicht lange gedauert«, berichtete Lessing gequält. »Gerade lange genug, um zu merken, daß etwas sehr Seltsames um Clarissa war… etwas ganz Wunderbares… aber
nicht lange genug, um herauszufinden, was es war… glaube ich.« (Trotzdem, es waren herrliche Tage gewesen, auch nachdem die Schatten sich über sie zu senken begonnen hatten. In ihrer Nähe waren eigentlich von Anfang an Schatten gewesen. Er hatte das Gefühl, daß sie von der Tante ausgingen, mit der sie zusammenwohnte, dieser düsteren Figur, an deren Gesicht er sich nicht erinnern konnte.) »Sie mochte mich nicht«, erklärte er; er runzelte angestrengt die Stirn, während er sich zu erinnern versuchte. »Nein, das stimmt nicht ganz. Aber es lag so etwas in der… in der Luft, wenn sie anwesend war. Es fällt mir bestimmt gleich ein… wenn ich nur wüßte, wie sie ausgesehen hat.« Es war wohl nicht so wichtig. Sie hatten sich nicht sehr oft gesehen. Clarissa und er hatten sich in New York an so vielen verschiedenen Orten getroffen, und jeden Ort hatte sie durch ihre Gegenwart verzaubert. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, daß sich der Straßenlärm in ihrer Gegenwart in Musik verwandelte und Staub in Gold. Es war, als sähe er die Welt mit ihren Augen, wenn sie zusammen waren, und als sähe ihr Blick mehr – oder auch weniger – als der normale Blick eines Menschen. »Ich wußte so wenig von ihr«, sagte er. (Es wäre ebensogut möglich, daß sie bei ihrer ersten Begegnung am Fluß überhaupt erst ins Dasein getreten war. Und soweit er sich jetzt erinnerte, war sie in jenem anderen Augenblick in der schummrigen Wohnung wieder zurückgesunken in die Vergessenheit, als die Tante sagte – was hatte die Tante nur gesagt?) Er hatte vermieden, an diesen Augenblick zu denken, seit die Erinnerung wiederaufgetaucht war. Aber er mußte ihn wieder heraufholen. Vielleicht war dies der wichtigste Augenblick in der ganzen Geschichte, der Augenblick, der ihn so jäh für
immer von Clarissa und ihrer schimmernden, unwirklichen, übernatürlichen Welt getrennt hatte… Was hatte die Frau zu ihm gesagt? Er saß da und konzentrierte sich. Er schloß die Augen und richtete all seine Sinne nach innen und zurück zu jener seltsamen, dunklen Stunde, tastete sich an Schatten heran, die seinem Zugriff sofort entflohen. »Ich schaff’s nicht«, sagte er düster, die Augen noch immer geschlossen. »Ich schaff’s nicht. Es waren… ablehnende Worte, glaube ich, aber – Nein, es hat keinen Zweck.« »Versuchen Sie doch noch mal, sich an die Tante zu erinnern«, ermunterte ihn Dyke. »Wie sah sie aus?« Lessing legte die Hand über die Augen und dachte angestrengt nach. Groß? Dunkel wie Clarissa? Sicher streng – oder schloß er das nur aus dem, was sie gesagt hatte? Er konnte sich an ihr Aussehen nicht erinnern. Er sackte in seinem Stuhl zusammen und verzog vor Anstrengung das Gesicht. Sie hatte vor den Spiegeln gestanden und nach unten gesehen. War’s nicht so? Wie hatte sich ihre Gestalt gegen das Licht abgezeichnet? Sie besaß keine feste Gestalt. Sie war nie wirklich dagewesen. Ihr Bild verschwand hinter Möbeln oder entzog sich ihm, wenn er es in der Erinnerung aufzuspüren versuchte. Der Block in seinem Gedächtnis blieb fest. »Ich glaube, ich habe sie nie richtig gesehen«, sagte er und blickte Dyke dabei verwirrt an. »Sie ist einfach nicht da.« Und doch war es ihr Schatten gewesen, der sich in jenem letzten Augenblick zwischen ihn und Clarissa geschoben hatte, als… als… was konnte bewirkt haben, daß seine Erinnerung zwischen damals und heute einfach ausgesetzt hatte? Was war geschehen? Vergessen – Lethe – was hatte dazu geführt? Daran konnte er sich noch erinnern – Clarissas Gesicht in dem halbdunklen Zimmer, Verzweiflung stand darin, ihre Augen glänzten in Tränen, sie hatte die Arme ausgestreckt, die
Finger noch gekrümmt von der letzten Berührung. Er erinnerte sich an die Wärme und Weichheit dieses letzten Händedrucks. Und dann hatte Lethe sie getrennt.
»Das ist alles«, sagte Lessing verstört. Er sah auf. »Das waren die wichtigsten Ereignisse. Keins davon gibt einen Sinn.« Dyke sog an seiner Zigarette; seine Augen verengten sich. »Das Wichtigste haben wir irgendwo verfehlt«, sagte er. »Die Wahrheit liegt noch verborgen, tiefer als dieses alles. Schwer zu sagen, wo man ansetzen soll. Glauben Sie, daß Clarissa – « Lessing schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß sie es wußte.« (In all diesen verzauberten Tagen war sie wie ein ganz normales junges Mädchen gewesen, außer – was war geschehen? Er konnte es noch nicht greifen, aber es war etwas geschehen, das nicht normal gewesen war. Etwas Erschreckendes, das tief unter dem Alltäglichen begraben lag. Etwas Wunderbares, das vom Grund heraufschimmerte.) »Versuchen Sie es noch einmal mit der Tante«, sagte Dyke. Lessing schloß die Augen. Die körperlose, gesichtslose, stimmlose Frau spukte in seiner Erinnerung herum und entzog sich so geschickt jedem Zugriff, daß er daran zu zweifeln begann, ob er sich jemals an ihr Gesicht würde erinnern können… »Gehen Sie noch mal zurück zum Beginn«, forderte Dyke ihn auf. »Wann haben Sie zum erstenmal bemerkt, daß etwas Außergewöhnliches passierte?« Lessing tastete sich rückwärts durch die unnatürlich leeren Räume der Vergangenheit. Anfangs war ihm gar nicht bewußt gewesen, daß sich die Welt in Clarissas Gegenwart so wunderbar verklärte. Dieses Gefühl war erst langsam gewachsen und von Begegnung zu Begegnung stärker geworden, so als würde er durch eine Art
induzierten Magnetismus allmählich auf ihre Art zu sehen und zu fühlen eingestimmt. Er hatte zuerst nur gespürt, daß es einfach herrlich war, die gleiche Luft zu atmen wie sie und die gleichen Straßen zu gehen. Die gleichen Straßen? Ja, irgendwo auf einer Straße war etwas sehr Seltsames passiert. Verkehrslärm, durcheinanderschreiende Stimmen – ein Unfall. Es war direkt vor dem Eingang zum Central Park auf der Zweiundsiebzigsten Straße passiert. Die Umstände traten jetzt deutlich hervor. Sie waren den gewundenen Pfad hinaufgeschlendert in Richtung zur Straße. Und als sie sich der Straße näherten, hatten plötzlich Bremsen gequietscht, dann das scheppernde Geräusch von Metall, das aufeinanderprallte, und kreischende Stimmen. Lessing hatte Clarissa an der Hand gehalten. Er hatte gespürt, wie bei dem plötzlichen Lärm ein Zittern über ihren Arm gelaufen war, und dann war ihm ihre Hand weich und mit erschreckender Gewandtheit entglitten. Ihre Finger waren verschlungen gewesen, und er hatte seinen Griff nicht gelockert, aber irgendwie wurde ihm ihre Hand sanft entzogen. Er wandte sich zu ihr um. Die Erinnerung erschreckte ihn. Doch er wußte, daß es tatsächlich geschehen war. Er wußte, daß sich um sie herum die Luft in Ringen gekräuselt hatte, so wie sich Ringe im Wasser bilden, wenn man einen Stein hineinwirft. Es war ganz ähnlich gewesen, nur daß sich diese Ringe nicht ausgebreitet, sondern zusammengezogen hatten. Und während sie sich zusammenzogen, rückte Clarissa immer ferner. Sie wurde in einen sich rasch verengenden Tunnel leuchtender Ringe hineingesogen, hinter denen der Park verzerrt sichtbar wurde. Sie nahm weder Lessing noch ihre Umgebung wahr. Sie hatte die Augen gesenkt, und der nachdenkliche, ruhige Ausdruck auf ihrem Gesicht schloß sie von der Welt ab.
Er stand ganz starr und benommen da und konnte sich nicht einmal wundern. Die leuchtenden Ringe zogen sich bis zu einem Punkt zusammen, der ihn blendete, und als er wieder hinsehen konnte, war Clarissa verschwunden. Leute aus dem Park liefen nun den Abhang zur Straße hinauf, und hinter der Mauer war ein lautes Durcheinander von Stimmen zu hören. Niemand war so nahe gewesen, daß er es gesehen haben konnte – oder vielleicht war auch nichts zu sehen gewesen, und Lessings Geist hatte sich nur verwirrt. Vielleicht war er plötzlich verrückt geworden. Entsetzen stieg in ihm auf, aber die Zeit reichte nicht, daß es sich voll hätte ausbreiten können. Noch bevor er diesen Gedanken ganz zu Ende denken konnte, tauchte Clarissa wieder auf. Sie kam langsam um ein paar Büsche herum den Hügel heraus. Sie sah ihn nicht an. Er stand reglos mitten auf dem Weg, und sein Herz schlug so heftig, daß der Park um ihn herum zu beben schien. Erst als sie neben ihm stand, blickte sie lächelnd auf und faßte wieder seine Hand an. Das war das erste Mal, daß etwas Außergewöhnliches geschehen war. »Ich konnte mit ihr nicht darüber sprechen«, sagte Lessing mit unglücklicher Miene zu Dyke. »Gleich als ich ihr Gesicht sah, wußte ich, daß ich es nicht konnte. Sie wußte es nämlich nicht. Für sie war nichts geschehen. Und dann dachte ich natürlich, ich hätte es mir nur eingebildet – aber ich wußte auch, daß ich es mir nicht eingebildet haben konnte, es sei denn, in meinem Kopf stimmte etwas nicht, und dann konnte man natürlich auch nicht darüber sprechen. Später habe ich mir dann eine Theorie zurechtgelegt.« Er lachte nervös. »Irgendwas, nur damit ich mir nicht eingestehen mußte, daß ich… äh, daß ich vielleicht Halluzinationen gehabt hatte.«
»Fahren Sie fort«, sagte Dyke. Er beugte sich über den Schreibtisch und sah Lessing mit bohrendem Blick an. »Was geschah dann? Wiederholte es sich?« »Nein, nicht dasselbe.« Nicht dasselbe? Woher wußte er das? Er konnte noch nichts richtig greifen. Bruchstücke von Erinnerungen tauchten blitzartig auf, und in allen waren Hinweise auf spätere Ereignisse enthalten, aber diese Ereignisse selbst blieben noch verborgen. War das Erlebnis mit den leuchtenden Ringen nur eine Halluzination gewesen? Er hätte es bestimmt angenommen, wenn nicht noch anderes geschehen wäre. Wenn das Unbegreifliche sich von uns entfernt, reden wir uns ein, daß es in Wirklichkeit niemals dagewesen sein kann, wir müssen uns das einreden. Aber Lessing war es nicht erlaubt, zu vergessen… Die Erinnerungen überstürzten sich jetzt. Er hatte den richtigen Faden gefunden. Er lehnte sich entspannt zurück, und sein Gesicht, das bei der angestrengten Konzentration ganz finster ausgesehen hatte, glättete sich. Tief unten in seinem Gedächtnis lag das Wissen, dessen Glanz durch die Finsternis der Vergessenheit heraufschimmerte, immer noch ungreifbar und quälend, aber es war da, und er würde es fassen können, wenn er bis dorthin durchdrang. Falls er es fassen wollte. Falls er es wagte. Seine Gedanken eilten weiter; er war noch nicht bereit, sich diesem Problem zu stellen. Was war als nächstes geschehen? Wieder der Park. Seltsam, wie erinnerungsbeladen die Parks von New York auf einmal für ihn waren. Diesmal gehörte Regen zum Bild, und etwas – Erschreckendes – war geschehen. Aber was? Er wußte es nicht. Er mußte sich Schritt für Schritt zurücktasten zu etwas, das so unwahrscheinlich war, daß sein Verstand davor zurückscheute.
Regen. Ein plötzliches Gewitter, das sie am Ende des Sees überrascht hatte. Ein kalter Wind strich über das Wasser, und dicke Regentropfen fielen klatschend nieder. Und er sagte: »Komm, wir laufen rasch zurück zum Sommerhaus.« Sie liefen lachend Hand in Hand am Ufer entlang. Clarissa hielt ihren breitkrempigen Hut fest und paßte ihre Schritte den seinen an, so daß sie sich leichtfüßig wie Tänzer über den Rasen bewegten. Das Sommerhaus auf dem Felsen war dunkel und verwittert vom Frost vieler Winter. Es stand in einer kleinen Nische, von der aus man den See überblicken konnte – ein staubiger grauer Zufluchtsort, wo sie sich vor den Regentropfen schützen konnten, die auf sie niederprasselten, während sie den Hang hinaufliefen. Aber das Sommerhaus gab ihnen keinen Schutz. Es wartete nicht auf sie. Lessing, der den dunklen Felsen hinaufblickte, sah mit ungläubigem Staunen, wie es vor seinen Augen flimmernd verschwand wie ein Bild in einem Zeichentrickfilm. »Nicht so, wie Clarissa verschwunden ist«, sagte er tastend zu Dyke. »Sie hat sich deutlich sichtbar in immer kleiner werdenden Ringen entfernt. Aber diesmal verschwamm das Bild und löste sich dann auf. Eben war es noch da, im nächsten Augenblick – « Er machte eine auslöschende Handbewegung. Dyke hatte unbewegt zugehört. Sein klarer, durchdringender Blick war fest auf Lessing gerichtet. »Was hat Clarissa dazu gesagt?« Lessing rieb sich nachdenklich das Kinn. »Sie hat es ebenfalls gesehen. Ich… ich glaube, sie sagte so etwas wie: ›Na, jetzt sitzen wir ganz schön in der Patsche. Aber das macht nichts. Ich geh’ ganz gern im Regen spazieren, du auch?‹ So wie wenn sie es gewohnt wäre, solche Sachen zu erleben.
Vielleicht war sie es – es hat sie nicht im geringsten überrascht.« »Und Sie haben auch bei dieser Gelegenheit nicht mit ihr darüber gesprochen?« »Ich konnte nicht. Als ich sah, wie ruhig sie es aufnahm, konnte ich es einfach nicht. Aber es war eine Erleichterung für mich zu wissen, daß sie es ebenfalls gesehen hatte. Das bedeutete doch, daß ich es mir nicht bloß eingebildet hatte. Mittlerweile hatte ich – « Lessing hielt plötzlich inne. Bis zu diesem Augenblick war er so damit beschäftigt gewesen, seine Erinnerungen festzuhalten, die sich ihm immer wieder entziehen wollten, daß ihm gar nicht klar wurde, an was eigentlich er sich da erinnerte. Auf einmal jedoch wurde ihm das Unwahrscheinliche dessen, was er eben erzählt hatte, bewußt, und er starrte Dyke mit entsetzten Augen an. Konnte es für solche Einbildungen eine andere Erklärung geben als die, daß er tatsächlich verrückt war? All das konnte sich unmöglich in jenen Monaten ereignet haben, die in seinem Unterbewußtsein ausgelöscht gewesen waren. Es war schon sehr eigenartig, daß er überhaupt etwas vergessen haben sollte, aber was er da vergessen hatte und die unwahrscheinliche Theorie, die er Dyke gerade auseinandersetzen wollte, so als handele es sich um etwas ganz Natürliches, und dabei war das alles der reinste Wunderglaube – »Fahren Sie fort«, sagte Dyke ruhig. »Mittlerweile hatten Sie was?« Lessing holte tief Luft. »Ich glaube… mittlerweile hatte ich angefangen, die Vorstellung fallenzulassen, daß es Halluzinationen waren.« Er hielt wieder inne; es war ihm unmöglich, weiter so offenkundige Unwahrscheinlichkeiten vorzubringen.
Dyke drang weiter in ihn. »Fahren Sie fort, Lessing. Sie müssen so lange weitermachen, bis wir auf etwas stoßen, womit wir arbeiten können. Es muß irgendwo eine Erklärung geben. Suchen Sie weiter. Wie sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß es keine Halluzinationen waren?« »Ich… ich nehme an, weil das eine zu einfache Erklärung gewesen wäre«, brachte Lessing niedergeschlagen vor. Es war lächerlich, auf dem Boden des Wahnsinns noch vernünftig argumentieren zu wollen, aber dann überlegte er noch einmal und kam auf eine ziemlich irrationale Erklärung. »Wahnsinn schien irgendwie nicht die richtige Antwort zu sein«, sagte er. »Ich erinnere mich jetzt, daß ich das Gefühl hatte, hinter all dem, was geschehen war, stecke eine bestimmte Absicht. Clarissa wußte es nicht, aber ich war aufmerksam geworden.« »Eine Absicht? Was für eine Absicht?« Lessing runzelte die Stirn. Gegen seinen Willen hatte das immer noch Unbekannte ihn wieder in seinen Bann geschlagen, und er suchte in der Nacht der Vergessenheit nach der Antwort, die er, vor Jahren einmal, ergriffen und wieder losgelassen hatte. »Es war für sie so natürlich, daß sie das Ungewöhnliche daran nicht einmal bemerkt hat. Es war vielleicht ärgerlich, aber man mußte es eben akzeptieren. Man sollte einfach naß werden, wenn man vom Regen überrascht wurde, ohne daß ein Obdach in der Nähe war, und wenn dieses Obdach wie von Zauberhand berührt verschwand – nun gut, dann wurde dadurch nur um so deutlicher, daß man eben durchnäßt werden sollte. Eine Art Bestimmung, verstehen Sie?« Er zögerte, unsicher, wohin dieser Faden ihn führen würde; aber dieses Wort war aus seiner Erinnerung heraufgeschwemmt worden und erwies sich als sehr bedeutungsvoll, als er es genauer betrachtete. Die Enthüllung war nicht mehr weit.
»Sie wurde naß«, fuhr er fort. »Ich erinnere mich jetzt ganz genau. Sie ging klatschnaß nach Hause und erkältete sich dabei, und dann hatte sie einige Tage sehr hohes Fieber – « Er überflog in Gedanken noch einmal die ganze Kette der Ereignisse und zog daraus die unglaublichsten Schlüsse. Wurde Clarissas Leben von irgendeiner Macht bestimmt, die sogar die Naturgesetze ausschalten konnte, um sie in den beabsichtigten Bahnen zu leiten? War sie von dieser Macht zeitlich und räumlich ein Stück entfernt worden, damit ihr der Unfall erspart bliebe? Andererseits war ihr vielleicht bestimmt gewesen, naß zu werden und sich diese fieberhafte Erkältung zuzuziehen, und deshalb – mußte das Sommerhaus verschwinden. Durfte es einfach nicht mehr existieren. Mußte es ebenso natürlich, wie der Regen kam, verschwinden, damit Clarissa ihr Fieber bekommen konnte…
Lessing schloß die Augen und drückte seine Handflächen dagegen. Wollte er sich in der Erinnerung wirklich noch weiter vorwagen? In welche Unwahrscheinlichkeiten würde es ihn wohl noch führen? Sommerhäuser, die plötzlich verschwanden, Mädchen, die verschwanden, Eingriffe von… von – außerhalb? Er faßte diesen Gedanken erschrocken ins Auge und schob ihn gleich wieder von sich. Tief unten aus dem Dunkel der Vergessenheit lockte ihn noch immer der Glanz des einmal Gewußten, aber er tastete sich jetzt langsamer vorwärts, war nicht mehr sicher, ob er die Tiefe ausloten und das Verborgene deutlich sehen wollte. Als sein Geist zu erschlaffen begann, schaltete sich Dyke wieder ein. »Sie bekam Fieber? Erzählen Sie weiter, was geschah dann?« »Ich sah sie zwei, drei Wochen lang nicht mehr. Und alles um mich herum begann seinen Glanz zu verlieren – «
Nur ihre Gegenwart konnte ihn wiederbringen, diesen seltsamen Glanz, der alle Farben leuchten, alle Umrisse deutlicher hervortreten ließ und allen Geräuschen eine musikalische Qualität verlieh, wenn er mit ihr zusammen war. Und während er spürte, wie dieser Glanz langsam schwand, begann er sich danach zu sehnen. Im Rückblick kam ihm diese Zeitspanne unerträglich schal und leer vor. Damals war ihm wahrscheinlich zu Bewußtsein gekommen, daß er liebte. Und Clarissa hatte es in der Zwischenzeit ebenfalls entdeckt. Ja, er erinnerte sich. Es strahlte ihm aus ihren großen schwarzen Augen entgegen, als er sie das erstemal wieder besuchte. Bei jenem ersten Treffen nach ihrer Krankheit hatte er sie allein vorgefunden. Wo war die Tante gewesen? In der Wohnung jedenfalls nicht. Sie waren ganz allein in dieser seltsamen, fensterlosen Wohnung gewesen. Fensterlos? Verwundert versuchte er, sie sich deutlich vorzustellen. Es stimmte tatsächlich – in der Wohnung hatte es keine Fenster gegeben. Aber viele Spiegel. Und sehr dicke dunkle Teppiche. Das war der Haupteindruck, den er von der Wohnung hatte, daß man auf weichen Teppichen ging, die jeden Laut verschluckten, und daß die Spiegel ringsherum an den Wänden ein Gefühl der Endlosigkeit vermittelten. Er hatte neben Clarissa gesessen, ihre Hand gehalten und leise mit ihr gesprochen. Sie hatte zärtlich gelächelt, und ihre Augen hatten so gestrahlt, daß man beinahe davor erschrecken konnte. Sie waren sehr glücklich gewesen an jenem Nachmittag. Selbst jetzt noch begann sein Herz schneller zu schlagen bei der Vorstellung, wie glücklich sie gewesen waren. Er wollte noch nicht daran denken, daß ihnen nichts als Schmerz daraus entstehen sollte. Während sie nebeneinander saßen und sich unterhielten, hatte alles um ihn herum wieder zu leuchten begonnen, und die Welt
schien ihm wunderbar geordnet zu sein. Das Zimmer, in dem sie saßen, war der Mittelpunkt eines vollkommenen Universums, und um sie herum ertönte Sphärenmusik. »An jenem Nachmittag war ich Clarissa näher als ich es je wieder sein sollte«, sagte Lessing wie zu sich selbst. »Das war ihre Welt – schön, friedlich und strahlend. Die Maschinerie des Ganzen war so vollkommen aufeinander abgestimmt, daß man ihren Lauf fast als Gesang wahrnehmen konnte. So war das Leben Clarissa immer erschienen. Nein, ich bin ihr nie wieder so nah gewesen.« Maschinerie – Weshalb war ausgerechnet dieses Bild in seiner Vorstellung aufgetaucht? Es gab nur eins, was ihn in dieser Wohnung störte. Er hatte ständig das Gefühl, daß er beobachtet wurde, daß alles, was er sagte oder dachte, registriert wurde. Wahrscheinlich waren es nur die vielen Spiegel, aber er fühlte sich trotzdem unbehaglich. Er fragte Clarissa, weshalb es in ihrer Wohnung so viele Spiegel gäbe. Sie lachte. »Damit ich dich besser sehen kann, Liebling.« Aber dann schwieg sie, so als sei ihr unerwartet ein Gedanke gekommen, und sie sah verwirrt in die Spiegel, die ihr Gesicht von allen Seiten zurückwarfen. Lessing hatte sich inzwischen daran gewöhnt, in ihrem Gesicht Regungen zu sehen, die mit den normalen Bedingungen von Ursache und Wirkung nichts zu tun hatten, und ging der Sache nicht weiter nach. Clarissa war ein seltsames Geschöpf, auf sehr vielfältige Weise. Zwei und zwei, dachte er in einer Aufwallung von zärtlicher Belustigung, ergab für sie selten weniger als sechs, und oftmals fiel sie über den trivialsten Dingen in ein unverhältnismäßig tiefes, nachdenkliches Schweigen. Er hatte schon am Anfang seiner Bekanntschaft eingesehen, daß es vollkommen nutzlos war, sie nach dem Grund zu fragen.
»Inzwischen«, sagte er wie zu sich selbst, »stellte ich überhaupt keine Fragen mehr. Ich wagte es nicht. Ich lebte am Rande einer Welt, die zwar nicht normal war, aber es war Clarissas Welt, und ich stellte keine Fragen.« Clarissas heiteres, helles und unglaublich geordnetes Universum. So geordnet, daß selbst die Sterne, wenn es notwendig war, ihre Bahnen verließen, um Clarissas Heiterkeit aufrechtzuerhalten. Und die harmonische Maschinerie des Weltganzen, die die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verletzte, um ihr das Erlebnis eines Autounfalls zu ersparen, oder die etwas, das materiell existierte, einfach auslöschte, damit Clarissa durchnäßt wurde und ihr Fieber bekam… Das Fieber hatte einem bestimmten Zweck gedient. Er war jetzt ganz sicher, daß Clarissa nichts zustieß, was nicht einer Absicht entsprach. Der Zufall hatte in ihrer abgeschirmten kleinen Welt nichts zu suchen. Das Fieber hatte sie in ein Delirium versetzt, und in der seltsamen Klarheit des Deliriums hatte sie – vielleicht die Wahrheit erblickt? Gab es denn eine Wahrheit? Ihre Augen strahlten jetzt in einem unnatürlichen Licht, wie im Fieberglanz oder… wie wenn sie in eine Zukunft blickten, die so unglaublich hell und schön war, daß ihr Glanz sich ständig in ihren Augen widerspiegelte, in einer Schwärze, die strahlender war als das hellste Licht. Sie ahnte nicht, daß die Welt für sie anders aussah als für andere Menschen und daß nicht jeder Wunder erlebte und sich in dem gleichen Zauberkreis bewegte wie sie. (Und ein- oder zweimal kehrten sich ihm die Maßstäbe sogar um, und er fragte sich verwirrt, ob nicht sie recht hätte und er unrecht, selbst wenn alle so wären wie er.) Jene Tage lagen in einem ganz besonderen Glanz, der ihnen allein gehörte. Sie liebte ihn; daran zweifelte er nicht. Aber sie befand sich in einem Zustand der Ekstase, der darüber hinauswies. Ihr Verhalten deutete ständig an, daß sie etwas
ganz Wunderbares erwartete, obwohl sie seltsamerweise selbst nicht zu wissen schien, was. Sie erinnerte ihn an ein Kind, das am Weihnachtsmorgen aufwacht und noch im Bett liegenbleibt und schlaftrunken davon träumt, welche Herrlichkeiten es erwarten, wenn es aufsteht. »Aber sie sprach nie darüber?« fragte Dyke. Lessing schüttelte den Kopf. »Es war etwas, das unter der Oberfläche lag. Und wenn ich versuchte, Fragen zu stellen, dann schienen sie irgendwie abzuprallen. Es war nicht so, daß sie mir bewußt auswich. Ich hatte eher den Eindruck, als würde sie mich nicht richtig verstehen – « Er zögerte. »Und dann begann alles schiefzulaufen«, sagte er langsam. »Etwas – « Diese Dinge ließen sich besonders schwer im Gedächtnis aufspüren. Es war so, als ob die schlechten Erinnerungen noch tiefer verborgen lagen als die schönen, durch ein paar zusätzliche Barrieren vom Bewußtsein abgeschirmt. Was war geschehen? Er wußte, daß Clarissa ihn liebte; sie hatten Heiratspläne geschmiedet, und ihrem Glück stand eigentlich nichts mehr im Wege. »Die Tante«, sagte er zweifelnd. »Ich glaube, sie ist dazwischengetreten. Ich glaube… Clarissa schien mir irgendwie zu entgleiten. Wenn ich anrief, war sie meistens beschäftigt, oder die Tante sagte, sie sei nicht zu Hause. Ich war ziemlich sicher, daß sie mich anlog, aber was konnte ich machen?« Als sie sich dann wieder trafen, wollte Clarissa nicht wahrhaben, daß sie ihn vernachlässigt hatte, und sie versicherte ihm mit strahlenden Blicken und zärtlichen Liebkosungen ihrer Zuneigung. Aber sie war so beschäftigt. Sie tat in Wirklichkeit sehr wenig, und doch schien sie immer furchtbar beschäftigt zu sein. »Und wenn sie nur einem Spatzen dabei zusah, wie er Brotkrumen aufpickte«, sagte er zu Dyke, »oder zwei
Männern, die sich auf der Straße stritten, dann wandte sie ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit zu, so daß für mich nichts mehr übrigblieb. Nach einiger Zeit – ich glaube, es war eine ganze Woche vergangen, ohne daß ich sie überhaupt zu Gesicht bekommen hatte – beschloß ich deshalb, mit der Tante ein ernstes Wort zu reden.« Seine Erinnerung wurde lückenhaft. Das einzige, woran er sich deutlich erinnerte, war, daß er in dem hellen Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür stand und klingelte. Die Tür ging leise knarrend einen Spalt breit auf. Nur einen Spalt breit. Gerade so weit, wie die Kette es zuließ, die von innen davorhing. Drinnen war es ziemlich dunkel, nur die vielen Spiegel an den Wänden reflektierten ein Licht, dessen Quelle er nicht sehen konnte. Aber er sah, daß sich drinnen eine Gestalt bewegte, verzerrt und vervielfältigt durch die Spiegel, eine Gestalt, die irgendeiner geheimnisvollen Tätigkeit nachging und sein Klingeln nicht beachtete. »Hallo«, rief er. »Bist du’s, Clarissa?« Er bekam keine Antwort. Drinnen rührte sich nichts. Er gewahrte nur die lautlosen Bewegungen der Gestalt, die ab und zu in den Spiegeln sichtbar wurden. Dann hatte er die Tante beim Namen gerufen. »Sind Sie es, Mrs. – « Wie hieß sie noch? Er konnte sich jetzt nicht mehr an ihren Namen erinnern. Aber er hatte immer wieder nach ihr gerufen und war dabei ganz ärgerlich geworden, weil die Gestalt sich weiter bewegte, ohne ihn zu beachten. »Ich kann Sie sehen«, hatte er gesagt und dabei sein Gesicht gegen den Spalt gepreßt. »Ich weiß, daß Sie mich hören können. Weshalb antworten Sie mir nicht?« Er bekam noch immer keine Antwort. Drinnen hörten die Bewegungen einen Augenblick auf, die Gestalt stand still. Er konnte nicht sehen, wessen Schatten an den Wänden widergespiegelt wurde. Eine dunkle Gestalt, die lautlos über
die dicken Teppiche ging und die Stimme an der Tür nicht beachtete. Was für eine äußerst merkwürdige Person diese Tante sein mußte… Plötzlich kam ihm die Unwirklichkeit der ganzen Situation zu Bewußtsein; die schattenhafte Gestalt in dem angrenzenden Raum, und er selbst, der vor der Tür stand und sich lächerlich machte, indem er durch den Spalt rief. Was zum Henker bezweckte die Frau mit ihrem geheimnisvollen Gebaren? Es war unerträglich, wie sie sich aufspielte. Wut kochte in ihm auf, eine plötzliche, unerwartete Reaktion. »Clarissa!« rief er. Und als sich in den Spiegeln wieder eine Bewegung zeigte, drückte er seine Schulter gegen die Tür und stemmte sich mit aller Gewalt dagegen. Der Riegel der Kette mußte sehr locker gewesen sein. Er sprang mit einem knackenden Geräusch auf, und Lessing taumelte vorwärts. Der dunkle Raum mit den vielen Spiegeln drehte sich um ihn. Er sah von Clarissas Tante nicht mehr als einen flüchtigen Schatten im Spiegel, aber dann trat das Unerklärliche ein. Er verlor das Gleichgewicht. Während er noch vorwärtstaumelte, begann er mit traumhafter Langsamkeit in spiralenförmig sich erweiternden Kreisen hinabzufallen – so wie Alice im Wunderland ins Kaninchenloch gefallen war; es war wie eine Narkose, ebenso unwahrscheinlich und trotzdem gar nicht befremdlich. Die seltsame Art, in der er fiel, nahm ihn gefangen. Er war ganz allein; es gab keine Spiegel mehr; es gab keinen Raum mehr. Körperlos, eine einfache Gleichung, ein bloßes Ich, fiel er hinab auf – Da war Clarissa. Dann sah er goldenes Licht aufflammen, eine Wolke von Gold, die Clarissa einhüllte und davontrug. Irgendwo in seinem Bewußtsein sagte ihm eine Stimme, daß er eigentlich verwundert sein müßte. Aber er war wie im Halbschlaf. Es war so einfach, die Dinge so zu nehmen, wie sie
waren, und er war viel zu träge, um aufwachen zu wollen. Er sah Clarissa wieder, mal vor einem Hintergrund, der ihm nur ein wenig fremd vorkam, dann wieder in einer ganz phantastischen Umgebung – Dann fiel ein Mann in einer Rüstung durch die sonnendurchwärmte Luft auf die Terrasse, und im Hintergrund war ein Park, und ganz in der Ferne erhoben sich Berge. Eine Frau wich vor ihm zurück, zwei Männer standen vor ihr. Clarissa war auch da. Er konnte die Sprache der Männer verstehen, obwohl er nicht wußte, wieso er sie verstehen konnte. Der Mann in der Rüstung hatte eine Waffe erhoben und rief: »Zurück, Hoheit! Ich kann nicht feuern – es ist zu dicht – « Ein junger Mann in einem langen, grellfarbenen Gewand sprang zurück und zerrte an der gerollten roten Peitsche, die ihm als Gürtel diente. Doch keiner von ihnen schien ernsthaft zum Angriff bereit; sie starrten Lessing mit erstaunten Gesichtern und weit geöffneten Augen an. Die große Frau mit dem herrschsüchtigen, grimmigen Gesicht, die hinter ihnen stand, war vom gleichen Erstaunen gepackt. Lessing sah verwirrt von einem zum andern und begegnete den fassungslosen Blicken einiger Mädchen, die sich hinter der Frau scharten. Unter ihnen befand sich Clarissa, und neben ihr – neben ihr – jemand, an den er sich nicht richtig erinnern konnte. Eine dunkle Gestalt, geheimnisvoll, ein wenig vornübergebeugt… Alle waren wie gelähmt. (Alle bis auf Clarissa vielleicht und die Person neben ihr – ) Der Mann in der Rüstung hatte seine Waffe halb erhoben, und die Peitsche des jungen Mannes hing locker herab. Sie alle trugen phantastische Gewänder, deren Herkunft Lessing unbekannt war, und auf ihren Gesichtern lag unter der Maske des Erstaunens ein unglücklicher, leidvoller Ausdruck, wie wenn sie lange Zeit unter dem Druck äußerster
Angst gelebt hätten. Er sollte nie erfahren, was es damit auf sich hatte. Clarissa war die einzige, die so heiter und gelassen aussah wie immer. Und sie war auch die einzige, die nicht erstaunt war. Ihre schwarzen Augen sahen ihn unter einer seltsamen, kunstvoll gelegten Frisur mit dem vertrauten Glanz an, und sie lächelte ihm zu, ohne etwas zu sagen. Die Mädchen begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln. Der Mann in der Rüstung sagte unsicher: »Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Treten Sie zurück, oder ich – « »Aus der Luft!« sagte der junge Mann mit dem prächtigen Gewand schwer atmend und ließ seine Peitsche zischend durchs Gras sausen. Lessing öffnete den Mund, um – um irgend etwas zu sagen. Die Peitsche sah sehr gefährlich aus. Aber Clarissa schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Du brauchst nichts zu erklären. Weißt du, sie werden es vergessen.« Wenn er tatsächlich etwas hatte sagen wollen, dann brachte ihn das ganz aus der Fassung. Es war so erstaunlich vertraut… wie… ganz vertraut. Alice, ja das war’s. Wieder Alice, diesmal bei der Gartengesellschaft der Herzogin. Die seltsamen Gewänder, das glänzende grüne Gras, die gleiche bedrohliche Atmosphäre. Und gleich würde jemand befehlen: »Schlagt ihm den Kopf ab!« Der Mann mit dem langen Gewand trat einen Schritt zurück und stemmte sich gegen das Gewicht der Peitsche, die er mit einem Schwung zurückschnellen ließ. Lessing sah, wie das rote Ende aufzüngelte. (»Schlangen! Schlangen! Sie lassen sich nicht besänftigen!« schoß es ihm durch den Kopf.) Und dann begann die ganze Welt sich mit der Umdrehung der Peitsche zu drehen. Der Garten wirbelte mit dieser roten Peitschenspitze herum, schneller und immer schneller. Er
verlor den Boden unter den Füßen und wurde hinweggeschleudert, und dann setzte sein Bewußtsein aus. In seinem Kopf war ein heftiger Schmerz. Er kam langsam vom Fußboden hoch und stützte sich dabei gegen die Flurwand. Um ihn drehte sich noch alles, aber die Wände blieben stehen, als er sich endlich aufgerichtet hatte und den Schmerz an seiner Stirn fühlte. Sein Geist brauchte etwas länger, um sich wieder zu fangen, aber als er ihn endlich unter Kontrolle hatte, konnte er recht deutlich erkennen, was geschehen war. Die Kette an der Tür hatte gar nicht nachgegeben. Er war niemals in diesen dunklen, mit Spiegeln versehenen Raum getaumelt, in dem der Schatten der Tante sich lautlos hin und her bewegt hatte. Die Tür war in Wirklichkeit gar nicht geöffnet worden. Zumindest war sie jetzt geschlossen. Und die Lage der Fußmatte und der lange dunkle Streifen vor der Tür ließen darauf schließen, daß er versucht hatte, die Tür mit Gewalt zu öffnen, und daß er dabei ausgeglitten war. Er mußte ziemlich hart mit dem Kopf gegen den Türknauf geprallt sein. Er fragte sich, ob ein solcher Stoß Halluzinationen auslösen konnte, die vom Augenblick des Aufpralls aus gesehen zeitlich sowohl vor wie auch zurück führten. Er wußte genau, daß er geträumt hatte – er mußte es geträumt haben –, daß die Tür offen war und daß sich drinnen ein lautloser Schatten bewegt hatte. Als er an diesem Abend in Clarissas Wohnung anrief, war er fest entschlossen, mit ihr zu sprechen, notfalls wollte er der Tante Gewalt androhen, daß er sie einsperren würde oder so etwas. Er wußte, wie lächerlich solche Drohungen klingen würden, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er mußte Clarissa unbedingt sehen, vor allem nach diesem seltsamen Wunderlandtraum von heute nachmittag. Er wollte ihr davon erzählen und malte sich aus, welche Wirkung die Geschichte
auf sie haben würde. In seiner Verwirrtheit erwartete er fast, daß sie sich an die Rolle, die sie in seinem Traum gespielt hatte, erinnern würde, obwohl er genau wußte, wie unsinnig diese Erwartung war. Es brachte ihn etwas aus der Fassung, daß nicht die Tante, für die er sich schon Drohungen zurechtgelegt hatte, sondern Clarissa sich am Telefon meldete. »Ich komme ‘rüber«, sagte er niedergeschlagen und voller Anklage. »Ja, natürlich.« Ihre Stimme klang so, als hätten sie sich erst vor wenigen Stunden getrennt. In seiner Ungeduld schien ihm die Fahrt durch die Stadt ungewöhnlich lange zu dauern. Er dachte an das, was er ihr erzählen würde, sobald sie allein sein würden. Der Traum war so lebendig und wirklich gewesen, obwohl er nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben konnte, den Augenblick, nachdem er mit dem Kopf gegen den Türknauf geschlagen war und bevor seine Knie den Boden berührten. Was würde sie dazu sagen? Er glaubte, obwohl er nicht wußte weshalb, daß sie ihm vielleicht eine Antwort auf seine Fragen geben könnte, wenn er es ihr erzählte. Er drückte ungeduldig auf die Klingel. Drinnen war kein Laut zu hören, genau wie heute nachmittag. Er klingelte noch einmal. Keine Antwort. Ein unheimliches Gefühl erfaßte ihn, so als sei die Zeit zurückgedreht worden und als solle er den seltsamen Traum noch einmal erleben. Er drückte gegen die Tür und war ganz erstaunt, als sie nachgab. Diesmal hing keine Kette davor. Die Tür ging weit auf, und er blickte in den vertrauten dämmrigen Raum mit den vielen Spiegeln. Während er auf der Schwelle stehenblieb und überlegte, ob er rufen oder noch einmal klingeln sollte, sah er in den Spiegeln, daß sich weiter hinten in der Wohnung etwas bewegte.
Die Vorstellung, daß er die Vergangenheit noch einmal erleben sollte, bewirkte, daß sich einen Augenblick lang alles um ihn drehte. Dann sah er, daß es Clarissa war. Clarissa, die ganz ruhig dastand und mit einem Ausdruck freudiger Erwartung nach oben sah. Es war dieser Weihnachtsmorgenausdruck, den er schon früher auf ihrem Gesicht gesehen hatte, aber noch nie so deutlich wie jetzt. Er konnte nicht sehen, auf was sie blickte, doch der Ausdruck war unverkennbar. Etwas Wunderbares würde geschehen, sagte ihr Gesicht. Etwas ganz Wunderbares, und es war schon sehr nahe – Die Luft um sie herum leuchtete. Lessing blinzelte. Die Luft wurde ganz golden, und ein glänzender Regen begann auf sie herabzufallen. Das war doch der Traum, dachte er verwirrt. Er hatte das alles schon einmal gesehen. Clarissa, die ruhig mit erhobenem Gesicht dastand und den glänzenden Regen auf sich herabfallen ließ. Wenn es der Traum war, würde sich alles wiederholen. Er wartete darauf, daß der Boden unter seinen Füßen sich zu drehen beginnen würde – Nein, es war Wirklichkeit. Er war Zeuge, wie sich in der stillen Wohnung ein Wunder ereignete. Er hatte es in einem Traum gesehen; jetzt geschah es vor seinen Augen. Clarissa… eingehüllt von einem Regen aus… Sternen? Oder von einem Goldregen wie Danae – Wie Danae, die abgeschnitten von der Welt in einem Turm lebte. Ihre Ähnlichkeit mit Danae traf ihn wie ein Schlag. Der Goldregen, und ihr entzückter Gesichtsausdruck. Was ließ diese glänzende Flut auf sie herabfallen? Was hatte Clarissa von den übrigen Menschen so abgesondert? Was setzte die Naturgesetze außer Kraft, um sie zu schützen und damit sie in Einklang leben konnte mit der Harmonie des allmächtigen Ganzen? Allmächtig – ja, allmächtig wie einst Zeus, der in einem Goldregen zu seiner Auserwählten gekommen war.
Lessing stand ganz still und starrte auf das entfernte Bild im Spiegel; seine Gedanken überstürzten sich und führten ihn zu einem so unglaublichen Schluß, daß er vor Betroffenheit den Atem anhielt. Er glaubte, daß er endlich die Antwort gefunden hatte. Eine ganz und gar unwahrscheinliche Antwort. Er konnte nicht mehr daran zweifeln, daß Clarissa auf irgendeine Weise Verbindung zu einer anderen Welt als der seinen hatte. Und wo immer diese beiden Welten aufeinandertrafen, hatte die andere Welt den Vorrang. Es war kaum anzunehmen, daß eine allgemeine objektive Kraft sich so fürsorglich um sie kümmerte. Die wenigen Einblicke, die ihm vergönnt gewesen waren, sprachen eher dafür, daß ein bestimmtes subjektives Wesen jeden ihrer Schritte beobachtete. Ein Wesen, das die Menschen so gut verstand, daß es selbst fast menschlich war. Jemand, der die Rolle eines Schutzengels spielte, um Clarissa auf einen ganz bestimmten Weg zu leiten – wohin? Es war nicht etwas, sondern jemand, der nicht gewollt hatte, daß Clarissa den Unfall sah, der sie räumlich und zeitlich in sichere Entfernung versetzt und einen schützenden Schleier um sie gehüllt hatte, so daß sie nicht einmal ahnen konnte, was geschehen war. Jemand hatte gewollt, daß sie die Erfahrung des Fieberdeliriums machte, und hatte deshalb das Sommerhaus ausgelöscht. Ihm wurde langsam klar, daß jemand sie Tag und Nacht bei der Hand führte, ihr den Weg glättete und einen solchen Glanz über sie warf, daß alle, die in ihre Nähe kamen, daran teilhatten. Wessen Stimme war es, die in den langen Augenblicken, in denen sie gebannt auf nebensächliche Dinge starrte, unhörbar in ihr Ohr flüsterte? Und welche Funktion hatte Lessing selbst in dem Ganzen? Vielleicht hatte er eine kleine, aber irgendwie wichtige Rolle zu spielen, dachte er. Jemand ließ sie beide sich harmlos miteinander amüsieren, und nur ab und zu streckte sich die
allmächtige Hand aus, um sie wieder sanft auf die richtige Bahn zu lenken. Clarissas Bahn, nicht seine. Nur Clarissa wurde beschützt, wenn sich etwas Außergewöhnliches ereignete. Sie wußte nichts von der Zeitlücke bei dem Unfall; sie hatte das Verschwinden des Sommerhauses kaum bemerkt. Aber Lessing wußte es. Lessing war erschrocken und verwirrt. Doch – Lessing sollte wieder vergessen. Zu welchem Zeitpunkt ihres Lebens mochte Clarissa in dieses Gefängnis mit den Spiegelwänden und der seltsamen Tante als Aufpasserin gekommen sein, um ohne es zu ahnen den Pfad zu beschreiten, den jemand für sie vorbereitet hatte? Wer flüsterte ihr etwas zu, wenn sie so verträumt herumging, wer ergoß sich in einem Goldregen über diese neue Danae, wenn sie allein in ihrem Spiegelturm stand? Niemand konnte das beantworten. Es gab so viele mögliche Antworten, die sich die Phantasie ausmalen konnte. Wie konnte ein Mensch die Antwort auf etwas finden, das in der menschlichen Erfahrung ohne Beispiel war? Nein – nicht ganz ohne Beispiel. Es gab die Legende von Danae. Lessing sagte sich, daß es vollkommen lächerlich war, aus einer zufälligen Ähnlichkeit auf eine tatsächliche Verbindung zu schließen. Und trotzdem – wie war denn die Legende von Danae entstanden? Hatte irgendein Eindringling wie er vor zweitausend Jahren vielleicht zufällig eine andere Danae dabei überrascht, wie sie entzückt und hingerissen in einem Regen von Sternen stand? Und wenn das möglich war, mit welchem Recht durfte Lessing dann annehmen, daß der Anfang der Legende von Danae so wahr war wie das, was er vor Augen hatte, und der Rest nur Erfindung? Es gab so unzählig viele Legenden über Sterbliche, die von den Göttern auserwählt wurden. Für einige davon gab es sicher eine ganz natürliche Erklärung, aber die Griechen waren kein naives Volk, und
hinter der Allegorie mochte möglicherweise eine reale Erfahrung verborgen sein. Es mußte eine reale Erfahrung dahinterstecken, dachte Lessing, wie sollte man sich sonst die unzähligen Geschichten erklären, die alle so eindringlich auf die Existenz einer Realität jenseits der Phantasie hinwiesen? Aber weshalb diese lange Zeit der Vorbereitung, der Clarissa unterworfen wurde? Er fragte sich nach dem Grund, und dann fiel ihm plötzlich die Legende von Semele ein, die ihren Geliebten aus dem Olymp in der unverhüllten Glorie seiner Gottheit erblickt hatte und bei dem unerträglichen Anblick gestorben war. War es möglich, daß diese lange, behutsame Vorbereitung nur dazu diente, Clarissa vor einem ähnlichen Schicksal wie dem der Semele zu bewahren? Wurde sie sanft, aber unerbittlich von einer Erfahrung zur nächsten geleitet, damit sie, wenn der Gott schließlich in all seiner Macht und Glorie zu ihr herabstieg, ihr auserwähltes Geschick ertragen konnte? War das die Erklärung für den Ausdruck strahlender Erwartung, den er so oft auf ihrem Gesicht erblickt hatte? Plötzlich überflutete ihn brennende Eifersucht. Clarissa tat bereits ohne es zu ahnen Einblicke in ihre glänzende Zukunft, in der kein Platz für ihn war… Lessing klopfte laut gegen die Tür und rief: »Clarissa!« Er sah im Spiegel, wie sie leicht zusammenzuckte und sich dann umdrehte. Der Goldregen begann sich aufzulösen. In den Spiegeln war nur noch ein goldenes Flackern zu sehen, während sie auf die Tür zukam. Lessings Verwirrung war so ungeheuer, daß er bebte und Schweißausbrüche bekam. Er wußte, daß seine Folgerungen lächerlich und unwahrscheinlich waren. Er glaubte selbst nicht daran. Aus Voraussetzungen, die so willkürlich waren, daß man sie bei gesundem Verstand überhaupt nicht erwägen würde, zog er Schlüsse, die vollkommen abwegig und unglaubhaft waren. Selbst wenn man eingestand, daß sich
unerklärliche Dinge ereignen konnten, gab es noch keinen vernünftigen Grund, die Gegenwart eines göttlichen Liebhabers anzunehmen. Aber jemand, ein Jemand stand hinter all diesen Ereignissen, und auf diesen Jemand, wer immer und was immer er sein mochte, war Lessing furchtbar eifersüchtig. Denn seine Absichten schlossen ihn nicht mit ein. Das wußte er. Er wußte – »Hallo«, sagte Clarissa mit sanfter Stimme. »Wartest du schon lange? Die Klingel muß kaputt sein – ich hab’ dich nicht läuten hören. Komm ‘rein.« Er starrte sie an. Ihr Gesicht war so heiter und gelassen wie immer. In ihren Augen lag vielleicht noch ein Abglanz der Verzückung, aber der goldene Regen war verschwunden, und man konnte ihrem Verhalten nicht entnehmen, ob sie sich daran erinnerte. »Was hast du gerade gemacht?« fragte er mit etwas unsicherer Stimme. »Nichts«, antwortete Clarissa. »Aber ich hab’ dich gesehen!« stieß er hervor. »Ich hab’ dich im Spiegel gesehen! Clarissa, was – « Sanft legte sich etwas – eine Hand? – über seinen Mund. Es war nichts Greifbares, nichts Wirkliches. Aber er konnte nicht weitersprechen. Es war das Schweigen selber, das wie ein Knebel seine Lippen verschloß. Einen quälenden Augenblick lang drückte es gegen seinen Mund, dann wußte Lessing, daß er nicht sprechen durfte, daß es falsch und grausam wäre, das auszusprechen, was er hatte sagen wollen. Im nächsten Augenblick war es vorbei, so rasch, daß Lessing hinterher nicht mehr wußte, ob tatsächlich ein Knebel seinen Mund verschlossen hatte, oder ob es nur in seinem Geist geschehen war. Aber er wußte, daß er nichts sagen durfte, weder von dem Ereignis von vorhin noch von dem seltsam
realen Traum, in dem er Clarissa gesehen hatte. Sie ahnte es nicht. Sie durfte es nicht wissen – noch nicht. Er fühlte, wie ihm der Schweiß von der Stirn rann; seine Knie zitterten, und sein Kopf war ganz benebelt. Er sagte wie aus weiter Ferne: »Ich… ich fühl’ mich nicht gut, Clarissa. Ich glaube, ich geh’ besser – «
Durch das offene Fenster, vor dem der Rolladen heruntergelassen war, kam ein leichter Windstoß, der die Lampe über Dykes Schreibtisch hin- und herschwingen ließ. Jenseits des Militärgeländes ertönte das Pfeifen eines Zuges, das in der Dunkelheit ungewöhnlich weit entfernt klang. Lessing richtete sich in seinem Stuhl auf und blickte ein wenig benommen um sich; der abrupte Übergang aus der Erinnerung in die Gegenwart hatte ihn erschreckt. Dyke beugte sich vor über seine Arme, die er auf dem Schreibtisch verschränkt hatte. »Und – sind Sie gegangen?« fragte er behutsam. Lessing nickte. Er war jetzt weit davon entfernt, seine Erinnerungen zu bezweifeln oder abzulehnen. Sie waren wirklicher als dieser Schreibtisch und der Mann dahinter. »Ja, ich mußte fort aus ihrer Nähe, um meine Gedanken zu ordnen. Es war wichtig, daß sie verstand, was mit ihr geschah, aber ich konnte es ihr nicht sagen. Sie war – wie im Schlaf. Aber sie mußte aufgeweckt werden, bevor es zu spät war. Ich fand, daß sie ein Recht darauf hatte, zu wissen, was auf sie zukam, und ich hatte ein Recht darauf, es sie wissen zu lassen, damit sie wählen konnte zwischen mir und – ihm. Ihm. Ich hatte das Gefühl, daß sie ihre Wahl bald treffen mußte, sonst würde es zu spät sein. Er wollte natürlich verhindern, daß sie es erfuhr. Er hatte vor, im richtigen Augenblick zu ihr zu kommen, und sie sollte ahnungslos und ohne Fragen für ihn
bereit sein. Es war meine Aufgabe, sie aufzuwecken und sie über ihr Schicksal aufzuklären, bevor dieser Augenblick eintrat.« »Sie glaubten also, daß er nahe war?« »Ja, sehr nahe.« »Und was taten Sie?« Lessings Blick schweifte ab, als er sich wieder in die Vergangenheit versenkte. »Ich lud sie zum Tanzen ein«, sagte er. »Am nächsten Abend…« Sie saß ihm gegenüber an einem Tisch neben der kleinen Tanzfläche, drehte ein Glas Sherry zwischen den Fingern und hörte der lauten Musik zu, die eine ziemlich schlechte Band in dem kleinen, verräucherten Lokal von sich gab. Lessing wußte nicht zu sagen, weshalb er sie gerade hierher gebracht hatte. Vielleicht hoffte er, daß, wenn er ihr schon nicht mit Worten seinen Verdacht und seine Angst mitteilen konnte, es ihm doch wenigstens gelänge, sie so weit aus ihrer heiteren Ahnungslosigkeit herauszureißen, daß sie selbst den Unterschied zwischen ihrer Welt und der normalen feststellen würde. In diesem kleinen Raum, der von heißen Rhythmen dröhnte und angefüllt war mit Leuten, die sich der Wirkung der Musik und des Alkohols überließen, würde der glänzende Panzer, der Clarissa umgab, vielleicht einen Sprung bekommen, so daß man hindurchsehen konnte. Lessing ließ die Eisstücke in seinem dritten Glas Whisky klirren und genoß die angenehm benebelnde Wirkung, die der Alkohol und Clarissas Gegenwart auf ihn ausübten. Mehr wollte er auf keinen Fall trinken. Er war zwar beileibe nicht betrunken, aber es lag etwas Berauschendes in der Luft heute abend, selbst in diesem kleinen, zweitrangigen Nachtklub. Bei der Musik fühlte man sich wie in eine Art Marihuanarausch versetzt; und die Paare auf der überfüllten Tanzfläche glühten vor Begeisterung.
Clarissa ließ sich davon anstecken. Ihre großen schwarzen Augen leuchteten, und ihr Lachen klang hell und lebendig. Sie tanzten im Gedränge und merkten gar nicht, daß sie ständig angestoßen wurden, weil der Rhythmus der Musik sie gepackt hatte. Clarissa redete heute viel mehr als sonst; während er ihren biegsamen Leib in den Armen hielt, plauderte sie fröhlich vor sich hin. Und er selbst stellte fest, daß er doch betrunken war, ob nun von den drei Drinks oder von einem anderen, mächtigeren Rauschmittel, das wußte er nicht zu sagen. Aber er glitt langsam in einen herrlichen Zustand der Unverantwortlichkeit hinein. Jetzt konnte ihm niemand mehr etwas anhaben. Er hatte vor niemandem und nichts mehr Angst. Er würde Clarissa entführen – weg von New York, der Tante und diesem Jemand, der mit jedem Atemzug näherkam.
Jetzt tauchten in seinem Gedächtnis Lücken auf. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie den Nachtklub verlassen hatten und in sein Auto gestiegen waren oder wohin sie hatten fahren wollen, er erinnerte sich nur daran, daß sie den Henry Hudson Parkway entlangfuhren, unter ihnen schimmerte dunkel der Fluß, und die Lichter von Jersey lagen wie Girlanden über den Palisades. Sie versuchten, den festgelegten Plan zu durchbrechen. Er hatte das Gefühl, daß sie beide wußten, worum es ging. Diese wilde Fahrt den Hudson hinauf, bei der die Querstraßen wie die Speichen eines sich rasch drehenden Rades dahinschossen, war nicht im Plan vorgesehen. Clarissa hatte sich in seinen freien Arm geschmiegt und war auf ihre Weise ebenso betrunken wie er, von nichts weiter als zwei Glas Sherry und der Musik, der aufwühlenden Atmosphäre dieses Abends. Es war vielleicht die Trunkenheit der Auflehnung, weil sie
endlich flohen. Vor etwas – vor jemand. (Das war natürlich unmöglich. Er war sich dessen trotz seiner Trunkenheit bewußt. Aber sie konnten es immerhin versuchen – – ) »Schneller«, forderte Clarissa ihn auf und bewegte dabei den Kopf in seiner Armbeuge. Er hatte sie noch nie so erlebt wie heute abend, so sprühend vor Leben. Fast schon wach. Fast schon soweit, daß er ihr sagen konnte, was endlich ausgesprochen werden mußte. Die Warnung – Einmal hielt er unter einer Straßenlaterne an und nahm sie in die Arme. Ihre Augen funkelten, ihr Lachen klang heute abend hell und fröhlich, und Lessing, der sie schon vorher geliebt hatte, fand diese neue Clarissa so bezaubernd, daß… ja, daß selbst ein Gott aus dem Olymp sie hätte begehren müssen. Er küßte sie mit einer solchen Leidenschaft, daß die Stadt sich um sie zu drehen begann. Es war herrlich, trunken und verliebt zu sein und Clarissa unter den Augen der eifersüchtigen Götter zu küssen… Als sie weiterfuhren, spürte er, daß etwas nicht stimmte. Es war so, als sollten sie wieder auf den vorherbestimmten Pfad zurückgedrängt werden. Lessing fühlte, wie eine Macht sich gegen seinen Willen stemmte. Er merkte, wie der Verkehrsfluß ihn langsam in eine Richtung drängte, die zu der Wohnung zurückführte. Also bog er ab, nur um feststellen zu müssen, daß die Straße, die nach Norden führte, wegen Bauarbeiten gesperrt war und er einen Umweg fahren mußte, der ihn wieder in südliche Richtung brachte. Mehrmals merkte er an den Nummernschildern, daß er sich wieder der Innenstadt von New York näherte, und dann fuhr er in wilder Entschlossenheit um den Block herum, um nur nicht wieder zurückzukehren. Der Plan mußte durchbrochen werden. Er mußte es schaffen. Verschwommen tauchte der Gedanke auf, daß er sein Ziel schon erreicht hätte, wenn er der gewaltigen Macht nur in einem kleinen Punkt erfolgreich Widerstand leisten würde.
Doch allein hätte er es niemals geschafft. Die allmächtige Maschinerie hätte ihren Lauf genommen – und er wäre ihm gefolgt, ohne überhaupt zu merken, daß er ihm folgte –, hätte Clarissa ihn heute abend nicht in seinem Widerstand unterstützt. In ihr schien eine Kraft zu sein, die der Kraft jener Allmacht verwandt war, so als hätte sie dadurch, daß sie der Quelle nahegewesen war, selbst etwas davon in sich aufgenommen. Oder hielt dieser Jemand nur seine Hand zurück, um Clarissa nicht gewaltsam in ihre Rolle innerhalb des Plans zurückzudrängen, um sie das Ausmaß seiner Macht – noch – nicht spüren zu lassen? »Abbiegen«, sagte Clarissa. »Du mußt abbiegen. Wir fahren schon wieder in die verkehrte Richtung.« Er kämpfte mit dem Steuer. »Ich kann nicht… ich kann’s einfach nicht«, sagte er atemlos. Sie warf ihm einen dunklen Blick zu, beugte sich dann vor und nahm selbst das Steuer in die Hand. Auch für sie war es nicht einfach. Aber langsam bekam sie das Steuer herum, während hinter ihnen ein Hupkonzert anhob, und langsam bogen sie in eine Straße ein, die sie wieder in nördliche Richtung führte, und entzogen sich damit erneut dem Zugriff. Vor ihnen verschwammen die Lichter von Jersey im Nebel ihrer Trunkenheit. Es war keine normale Trunkenheit. Sie verstärkte sich in unregelmäßigen Schüben. Das ist sein nächster Schritt, dachte Lessing benommen. Er will nicht erkennen lassen, was er tut, aber er weiß, wenn er uns jetzt nicht aufhält, dann brechen wir aus dem Plan aus und beweisen damit unsere Unabhängigkeit. Die hohen, schmalen Gebäude, die zu beiden Seiten der Straße aufragten, sahen aus wie Bäume in einem Wald, und ihre Fenster waren die Blätter. Alle Fenster befanden sich auf verschiedener Höhe, und keines glich dem andern. Es war eine
unendliche Vielfalt von Fenstern, die schimmernd an ihnen vorüberglitten, während sie immer weiter durch den Wald aus Stein fuhren. Jetzt konnte Lessing zwischen den Bäumen und durch die Bäume hindurchsehen, aber nicht so, als ob sie durchsichtig wären, sondern so als hätte er eine neue Dimension gewonnen. Er konnte die Straßen sehen, die diesen Wald in Quadrate und Rechtecke aufteilten, und dabei mußte er an einen anderen Wald denken, der ebenfalls in Quadrate aufgeteilt war – der Wald im Spiegelland. Er fuhr jetzt wieder in südlicher Richtung durch den Wald. »Clarissa – hilf mir«, sagte er, während er mit dem Steuer kämpfte. Ihre schmalen weißen Hände kamen aus der Dunkelheit und legten sich auf die seinen. Aus einem flimmernden Fenster ergoß sich ein Lichtstrahl über sie, hüllte Clarissa ein wie einst Zeus Danae eingehüllt hatte. Der eifersüchtige Gott, der eifersüchtige Gott – Lessing lachte und schlug in sinnlosem Triumph aufs Steuerrad. Vor ihm schimmerte zwischen den Bäumen ein Licht. Er sagte sich, daß er ganz vorsichtig auftreten müsse, und dann ging er auf Zehenspitzen über die… die gepflasterte Straße. Es überraschte ihn nicht im mindesten, daß er im Dunkeln zu Fuß durch einen Wald ging, ganz allein. Er war noch immer betrunken. Betrunkener, als er je gewesen war, dachte er mit einem Anflug von Stolz, vielleicht betrunkener, als Sterbliche es sein können. Die Götter aber – Vor ihm tauchten zwischen den Bäumen Leute auf. Er wußte, daß er von ihnen nicht gesehen werden durfte. Sein Anblick würde sie erschrecken; ihm fielen die bunt gekleideten Gestalten aus seinem anderen Traum ein, und der junge Mann mit der Peitsche. Nein, es war besser, wenn er sich diesmal versteckt hielt. Um ihn herum drehte sich der Wald, und er sah alles ganz verschwommen. Das Klingen in seinen Ohren kam
wahrscheinlich von seiner Trunkenheit und war in Wirklichkeit gar nicht da. Die Leute waren alle in Schwarz gekleidet und trugen schwarze Kapuzen, die ihr Haar bedeckten und ihre bleichen, strengen Gesichter umrahmten. Sie bewegten sich in einem langen Zug durch den Wald. Einige der Frauen trugen Taschen und strickten im Gehen. Ein paar Männer lasen in kleinen Büchern und stolperten dabei ab und zu über die Pflastersteine. Man sah keinen von ihnen lachen. Clarissa kam ziemlich am Ende des Zuges. Ihr kleines Gesicht unter der schwarzen Kapuze sah fröhlich und unbekümmert aus, so fröhlich, wie er es in dieser… in dieser Welt noch nicht gesehen hatte. Sie ging leicht und beschwingt und fiel ab und zu in eine Art Tanzschritt, was ihr von den Leuten, die hinter ihr gingen, ein strenges Stirnrunzeln eintrug. Aber das schien sie nicht zu bekümmern. Lessing wollte sie rufen. Er hatte ein solches Bedürfnis, sie zu rufen, daß sie es anscheinend spürte, denn sie ging langsamer und ließ zuerst eine und dann die nächste Gruppe an sich vorüber, bis sie ganz am Schluß des Zuges ging. Aus einer Gruppe junger Mädchen drehten sich einige ein paarmal nach ihr um und kicherten, sagten aber nichts. Sie blieb weiter zurück. Dann bog der Zug um eine Ecke, und Clarissa blieb mitten auf der Straße stehen und sah ihm nach. Als er verschwunden war, lachte sie und drehte eine kleine Pirouette, wobei ihr schwarzer Rock sich weit aufbauschte. Lessing trat hinter seinem Baum hervor und ging einen Schritt auf sie zu, um sie anzusprechen. Aber er kam zu spät. Jemand anderes war ihr schon näher als er. Jemand anderes – Clarissa rief etwas in einer Sprache, die er nicht verstand, und dann tauchte zwischen den Bäumen etwas Rotes auf; eine Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in einen roten Umhang gehüllt war, trat auf sie zu und schloß sie in die Arme, und die
weiten Falten des Umhangs hüllten beide ein. Clarissas glückliches Lachen erstickte, als die Gestalt ihren von einer Kapuze bedeckten Kopf zu ihr hinabbeugte. Lessing rührte sich nicht. Er versuchte sich einzureden, daß es vielleicht eine Frau war. Eine Schwester oder Tante. Doch wahrscheinlich war es ein Mann. Oder – Er blinzelte – in seinem Zustand verschwamm alles vor seinen Augen, und wenn er einen Gegenstand fixieren wollte, dann glitt er seitlich aus seinem Blickfeld – aber jetzt war er sich dessen, was er sah, ziemlich sicher. Er sah, wie in der Dämmerung des Waldes ein Lichtschein auf Clarissas erhobenes Gesicht fiel. Ein Lichtschein, der aus der Kapuze kam, die sich über sie beugte. Danae im Goldregen. Der Wald kippte zur Seite und drehte sich, so daß alles auf dem Kopf stand. Und Lessing fiel wirbelnd durch die Dunkelheit und entfernte sich immer weiter von Clarissa und dem Wald. Er ließ sie zurück in der Umarmung mit dem Gott. Als das Wirbeln endlich aufhörte, fand er sich in seinem Auto wieder, an dem zur Linken der Verkehr vorbeiströmte. Es war irgendwo geparkt, an einer Stelle, wo man nicht parken durfte. Und der Motor lief. Er blinzelte. »Ich steig’ hier aus«, erklärte Clarissa. »Nein, laß nur, du findest doch keinen richtigen Parkplatz, und ich bin so müde. Gute Nacht, Liebling. Ruf mich morgen früh an.« Ihr strahlendes Lächeln und der Glanz in ihren Augen blendeten ihn, und er war noch immer so benebelt, daß es ihm nicht gelang, ihr Gesicht zu fixieren. Aber er sah genug, um festzustellen, daß sie an genau der Stelle standen, wo sie abends losgefahren waren, neben dem Gehsteig vor ihrem Wohnhaus. »Gute Nacht«, sagte Clarissa noch einmal, und dann klappte hinter ihr die Wagentür zu.
Nachdem Lessing geendet hatte, blieb es eine Weile still im Büro. Dyke saß wartend da, die Augen auf Lessings Gesicht gerichtet, und nur sein Schatten bewegte sich unter der schwingenden Lampe auf dem Schreibtisch hin und her. Nach einiger Zeit sagte Lessing fast trotzig: »Also?« Dyke lächelte flüchtig und bewegte sich in seinem Stuhl. »Also?« wiederholte er. »Was halten Sie davon?« Dyke schüttelte den Kopf. »Soweit sind wir noch nicht – es sei denn, Ihre Geschichte hört hier auf. Aber das tut sie doch nicht, oder?« »Nein«, sagte Lessing nachdenklich. »Nicht ganz. Wir haben uns noch einmal getroffen.« »Nur einmal noch?« Dykes Augen leuchteten auf. »Das muß da gewesen sein, als Sie Ihr Gedächtnis verloren haben. Das ist der interessanteste Teil der Geschichte. Erzählen Sie weiter – was geschah da?« Lessing schloß die Augen. Er sprach ganz langsam, so als erinnere er sich Stück für Stück an die Episode, die nun folgte. »Am nächsten Morgen wurde ich vom Läuten des Telefons geweckt«, sagte er. »Es war Clarissa. Als ich ihre Stimme hörte, wußte ich, daß nun der Augenblick gekommen war, um die Dinge ein für allemal zu klären – wenn ich konnte. Ich nahm zwar nicht an, daß er mich einfach mit ihr über alles würde reden lassen, aber ich mußte es versuchen. Sie schien verstimmt zu sein, wollte aber nicht sagen, weshalb. Sie wollte, daß ich sofort zu ihr käme.« Als er aus dem Aufzug trat, stand sie an der offenen Tür, hinter ihr die vielen Spiegel, in denen sich heute nichts bewegte. Sie sah frisch und ausgeruht aus, und Lessing wunderte sich wie schon beim Erwachen darüber, daß die ungewöhnliche Trunkenheit vom letzten Abend bei beiden anscheinend keine Nachwirkungen hinterlassen hatte. Aber sie
machte auch einen bekümmerten Eindruck; ihre schwarzen Augen hatten einen fiebrigen Glanz, und die liebliche Heiterkeit, die sonst auf ihren Zügen ruhte, war verschwunden. Er war froh darüber. Es war ein Zeichen, daß sie endlich aus dem langen, langen Traum erwachte. Er folgte ihr in die Wohnung und fragte dort als erstes: »Wo ist deine Tante?« Clarissa sah sich geistesabwesend um. »Oh, ich glaube, sie ist ausgegangen. Das soll uns nicht weiter kümmern. Jim, sag mir – haben wir gestern abend etwas Falsches getan? Kannst du dich noch an alles erinnern? An alles?« »Ach… ich glaube schon.« Er versuchte Zeit zu gewinnen. Obwohl er den Entschluß schon gefaßt hatte, war er noch nicht bereit, so rasch auf dieses Thema zu kommen. »Dann sag mir, was ist geschehen? Weshalb bin ich so beunruhigt? Weshalb kann ich mich nicht daran erinnern?« Ihre bekümmerten Augen forschten in seinem Gesicht. Er nahm ihre Hände. Sie waren kalt und zitterten ein wenig. »Komm, setz dich her«, sagte er. »Was hast du denn, Liebling? Es ist nichts Schlimmes geschehen. Wir haben ein wenig getrunken und sind dann lange herumgefahren, erinnerst du dich nicht? Und dann habe ich dich zurückgebracht, und du hast gute Nacht gesagt und bist ins Haus gegangen.« »Das ist nicht alles«, sagte sie voller Überzeugung. »Wir haben gegen etwas angekämpft. Es war falsch, dagegen anzukämpfen – ich habe es noch nie getan. Bis gestern abend, als ich mich dagegen wehrte, wußte ich noch nicht einmal, daß es da ist. Aber jetzt weiß ich es. Was ist das, Jim?« Er blickte ernst auf sie hinunter; in seinem Innern begann sich eine ungeheure Hoffnung zu regen. Vielleicht war es ihnen gestern abend irgendwie gelungen, den Zauber zu brechen. Vielleicht hatte sein Zugriff sich gelockert, nachdem sie sich ihm für kurze Zeit entzogen hatten.
Aber jetzt war nicht der Augenblick, um lange Überlegungen anzustellen. Jetzt, wo die Zügel locker hingen, mußte er zuschlagen und sie ein für allemal durchtrennen. Morgen war Clarissa vielleicht schon wieder zurückgeschlüpft in ihre gewohnte Entrücktheit, in der kein Platz für ihn war. Er mußte jetzt zu ihr sprechen. Gemeinsam konnte es ihnen vielleicht gelingen, die Stricke, die sich langsam und unerbittlich immer fester um sie legten, noch abzustreifen. »Clarissa«, sagte er und wandte sich dabei auf dem Sofa zu ihr, »Clarissa, ich glaube, ich muß dir etwas sagen.« Dann befiel ihn plötzlich ein unerklärlicher Zweifel, und er fragte unvermittelt: »Liebst du mich auch wirklich?« Es war ganz unsinnig, aber er brauchte gerade jetzt eine Bestätigung. Er wußte nicht, warum. Clarissa lehnte sich lächelnd vor und legte ihre Wange an seine Schulter. Dort murmelte sie, ohne daß er sie dabei sehen konnte: »Ich werde dich immer lieben, Jim.« Er sagte einige Zeit nichts. Dann begann er zu sprechen, wobei er sie im Arm hielt und ihr Gesicht nicht ansah. »Seit wir uns das erstemal begegnet sind, Clarissa, mein Liebes, sind einige Dinge geschehen, die – mich bekümmert haben. Es betrifft dich. Ich werde dir alles erzählen, wenn ich kann. Ich glaube, daß es etwas oder jemanden sehr Mächtiges gibt, der über jeden deiner Schritte wacht und dich auf eine Bahn lenkt, über deren Ziel ich nur Vermutungen anstellen kann. Ich will versuchen, dir genau zu erklären, weshalb ich das denke, und wenn ich mittendrin aufhöre, dann mußt du wissen, daß ich es nicht mit Absicht tue. Dann hindert mich jemand.«
Lessing hielt inne; er war ein wenig erstaunt über seinen Mut, diesem Jemand zu trotzen, dessen mächtige Hand ihn schon
einmal zum Schweigen gebracht hatte. Doch diesmal schob sich kein Knebel zwischen seine Lippen, und er fuhr fort, immer in der Erwartung, daß jedes Wort, das er sprach, das letzte sein würde. Clarissa lag ruhig atmend an seiner Schulter. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Und so berichtete er ihr alles in einfachen Worten, ohne dabei seine eigene Bestürzung und die abwegigen Schlüsse, zu denen er gekommen war, zu erwähnen. Er erzählte ihr von dem Augenblick im Park, als sie durch einen Tunnel leuchtender Ringe entrückt worden war. Er erinnerte sie an das Verschwinden des Sommerhauses. Er erzählte ihr von der traumähnlichen Episode hier im Flur ihrer Wohnung, wo er in die von geheimnisvollen Spiegeln durchbrochene Dunkelheit hineingerufen hatte oder zumindest geglaubt hatte, es zu tun. Und von ihrer seltsamen Fahrt durch die Stadt gestern abend, bei der die Straßen sich unter den Rädern ihres Wagens in eine andere Richtung gedreht hatten. Er berichtete ihr von seinen beiden so lebendigen Träumen, durch die sie – und doch nicht sie – sich so sicher bewegt hatte. Und dann fragte er sie, ohne eine Schlußfolgerung daraus zu ziehen, was sie davon hielte. Sie blieb einen Augenblick lang still in seinen Armen liegen. Dann richtete sie sich langsam auf, strich ihr dunkles Haar zurück und sah ihn mit ihren fieberglänzenden Augen an. »Das ist es also«, sagte sie verträumt und schwieg dann. »Was?« fragte er beinahe gereizt, aber auch triumphierend, weil dieser Jemand ihn nicht zum Schweigen gebracht hatte, weil endlich einmal alles ausgesprochen worden war. Vielleicht würde er nun doch noch die Wahrheit erfahren. »Dann hatte ich also recht«, fuhr Clarissa fort. »Ich habe gestern abend tatsächlich gegen etwas angekämpft. Es ist komisch, aber ich habe bis zu dem Moment, wo ich mich dagegen gewehrt habe, nichts von seiner Existenz gewußt.
Jetzt weiß ich, daß es schon immer da war. Ich möchte wissen –« Als sie nicht weitersprach, fragte Lessing ganz direkt: »Ist dir schon aufgefallen, daß du… daß die Welt für dich anders aussieht? Sag mir, Clarissa, woran denkst du, wenn du so dastehst und etwas ganz Gewöhnliches so lange anstarrst?« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und sah ihn lange ernst und schweigend an; Worte hätten ihm nicht besser zu verstehen geben können, daß der Zauber noch immer nicht ganz gebrochen war. Statt auf seine Frage zu antworten, sagte sie: »Ich weiß nicht, weshalb, aber mir fällt immer wieder ein Märchen ein, das meine Tante mir erzählt hat, als ich noch ganz klein war. Es geht mir nicht aus dem Sinn, obwohl die Geschichte nicht besonders interessant ist. Weißt du – « Sie hielt inne, und ihre Augen begannen zu leuchten, als wären in einem Spiegelzimmer Lichter entzündet worden. Der erwartungsvolle Ausdruck, den er schon so gut kannte, legte sich einen Augenblick lang auf ihre Züge, und sie lächelte entzückt, anscheinend ohne Grund und ohne sich dessen bewußt zu sein. »Ja«, fuhr sie fort, »ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte mitten im Wald in einem Königreich. Alle Menschen, die in diesem Land wohnten, waren blind. Die Sonne strahlte so hell, daß keiner sehen konnte. Deshalb ging das kleine Mädchen auch mit geschlossenen Augen umher, denn es konnte sich nicht einmal vorstellen, daß es so etwas wie das Augenlicht gab. Eines Tages, als sie allein im Wald spazierenging, hörte sie neben sich eine Stimme. ›Wer bist du?‹ fragte sie die Stimme, und die Stimme antwortete: ›Ich bin dein Beschützer.‹ Das kleine Mädchen sagte: ›Aber ich brauche gar keinen Beschützer. Ich finde mich in diesen Wäldern sehr gut allein
zurecht. Ich bin hier geboren und die Stimme sagte: Ja, du bist hier geboren, aber du gehörst nicht hierher, Kind. Du bist nicht blind wie die andern.‹ – ›Blind?‹ rief das kleine Mädchen. ›Was ist das?‹ ›Das kann ich dir noch nicht sagen‹, antwortete die Stimme. ›Aber du mußt wissen, daß du die Tochter eines Königs bist und unter diesen einfachen Leuten zur Welt gekommen bist wie andere Kinder unseres Königs auch. Meine Aufgabe ist es, dich zu beschützen und dir dabei zu helfen, die Augen zu öffnen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Aber es ist noch nicht soweit. Du bist noch zu jung – die Sonne würde dich blenden. Geh nur weiter deinen Geschäften nach, Kind, und denk daran, daß ich immer hier neben dir bin. Der Tag wird kommen, an dem du die Augen öffnen und sehen wirst.‹« Clarissa schwieg. Lessing fragte ungeduldig: »Und tat sie das auch?« Clarissa seufzte. »Meine Tante hat mir die Geschichte nie bis zu Ende erzählt. Vielleicht habe ich sie deswegen so gut in Erinnerung behalten.« »Ich glaube nicht – « begann Lessing, aber dann hielt ihn eine Veränderung in Clarissas Gesicht davon ab, weiterzusprechen. Es war der verzauberte Ausdruck eines Kindes am Weihnachtsmorgen, das den Schlaf abgeschüttelt hat und sich daran erinnert, welch silberglänzende Lichterpracht unten auf es wartet. Sie sagte mit klarer Stimme: »Dann ist es wahr! Natürlich ist es wahr! Alles, was du mir erzählt hast, und das Märchen auch. Ich bin die Tochter des Königs. Aber natürlich, das bin ich!« Und sie legte mit einer kindlichen Geste beide Hände auf die Augen, so als glaube sie, daß das Bild von der Blindheit wörtlich zu verstehen sei. »Clarissa!« sagte Lessing.
Sie sah ihn aus großen, verwirrten Augen an, und er spürte, daß sie ihn kaum erkannte. Zugleich stieg eine seltsame Erinnerung in ihm auf, die ihn erschreckte. Ihm fiel Alice ein, die mit dem Faun durch den verzauberten Wald ging, in dem nichts einen Namen hatte; sie gingen freundschaftlich nebeneinander, und Alice hatte ihren Arm um den Hals des Fauns gelegt. Und dann die Worte des Fauns, als sie an den Rand des Waldes kamen und bei beiden die Erinnerung zurückkehrte. Wie er da zurückwich und ihren Arm abschüttelte, und wie die alte Wildheit in seine Augen zurückkehrte, die Alice vorher so gelassen angeschaut hatten – so wie Clarissa ihn, Lessing. »Aber ich bin doch ein Faun«, sagte er verwundert. »Und du bist ein Menschenkind!« Eine fremde Rasse. »Mich wundert, daß ich gar nicht überrascht bin«, murmelte Clarissa. »Ich muß es wohl schon immer gewußt haben. Oh, ich möchte wissen, was als nächstes kommt.« Lessing starrte sie entsetzt an. Sie glich jetzt sehr einem Kind, das von einer Erwartung so erfüllt ist, so daß es an die möglichen Folgen nicht mehr denkt. Es erschreckte ihn, zu sehen, wie sicher sie war, daß die Zukunft ihr nur Glanz und Freude und nichts als Gutes bringen würde. Er wollte den Ausdruck lieblicher Erwartung auf ihrem Gesicht nicht gern zerstören, aber er mußte es tun. Er hatte gehofft, sie würde ihm dabei helfen, die ungeheuerliche Möglichkeit, die auf sie wartete, abzuwehren, falls sie diese Vorstellung überhaupt fassen konnte. Womit er nicht gerechnet hatte, war, daß sie sofort entzückt darauf eingehen würde. Sie mußte dagegen ankämpfen – »Clarissa«, sagte er eindringlich, »überleg doch! Wenn es wahr ist… wir können uns natürlich auch irren… siehst du denn nicht, was das für uns bedeuten würde? Er… sie…
würden es nicht zulassen, daß wir zusammenbleiben, Clarissa. Wir könnten nicht heiraten.« Sie sah ihn mit freudestrahlenden Augen an. »Aber natürlich werden wir heiraten, Liebling. Sie beschützen mich nur, verstehst du? Sie passen auf mich auf, aber sie tun mir nicht weh. Ich bin sicher, daß sie mir nie weh tun würden. Außerdem könntest du ebensogut auch einer von uns sein, Liebling. Das ist sogar ziemlich wahrscheinlich, findest du nicht? Weshalb sollten sie sonst zugelassen haben, daß wir uns ineinander verlieben? Ach, Liebling – « Er spürte auf einmal, daß jemand hinter ihm stand. Jemand. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er, daß der eifersüchtige Gott selbst gekommen sei, um Clarissa für sich zu beanspruchen, und er wagte nicht, den Kopf zu wenden. Aber als Clarissas Augen sich ohne Erstaunen auf das Gesicht über ihm hefteten, beruhigte er sich etwas. Er blieb ganz ruhig sitzen. Er wußte, er hätte sich doch nicht umdrehen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Er schaute nur auf Clarissa und sah, daß sich ihr Gesicht veränderte, obwohl kein Wort gesprochen worden war. Der Ausdruck entzückter Freude schwand langsam daraus. Sie schüttelte verwirrt und ungläubig den Kopf. »Nein?« sagte sie zu der Person, die hinter ihm stand. »Aber ich dachte – O nein, das darfst du nicht! Das kannst du nicht! Das ist ungerecht!« Und ihre schönen schwarzen Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Das kannst du nicht, das kannst du nicht!« schluchzte Clarissa und warf sich an Lessings Brust; sie umklammerte mit ihren Armen seinen Nacken und legte weinend den Kopf an seine Schulter. Er legte geistesabwesend die Arme um sie, während er verzweifelt versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Was war geschehen? Wer –
Jemand strich an ihm vorbei. Die Tante. Das zu wissen war ihm keine Erleichterung, obwohl er halbwegs auf den noch furchtbareren Jemand gefaßt gewesen war, für dessen Existenz er noch immer keine Beweise hatte. Die Tante beugte sich über sie und faßte Clarissas bebende Schulter. Und gleich darauf ließ Clarissa seinen Nacken los und setzte sich folgsam auf, obwohl ihr Atem noch immer von unregelmäßigem tiefem Schluchzen unterbrochen wurde, das Lessing in der Seele weh tat. Er wünschte sich verzweifelt, irgend etwas zu sagen oder zu tun, das sie trösten konnte, aber sein Geist und sein Körper waren auf seltsame Weise gelähmt, so als wirke eine Kraft im Raum, die er nicht verstehen konnte. Ihm kam es so vor, als bewege er sich gegen den Lauf der harmonischen Maschinerie, deren Walten er so oft gespürt hatte – als kämpfe er dagegen an, während die beiden anderen ohne Anstrengung davon getragen wurden. Clarissa ließ sich fortziehen. Sie ließ willenlos wie ein Kind alles mit sich geschehen und gab sich ganz ihrem Schmerz hin, hatte für nichts anderes Sinn. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, und sie ließ betrübt die Schultern hängen. Sie hielt bis zuletzt Lessings Hand fest, doch als er fühlte, wie ihre Finger den seinen entglitten, wußte er, daß dieser Abschied endgültig war. Sie standen einander gegenüber, zwischen ihnen lagen nur wenige Zentimeter, aber es war, als ob Meilen sie trennten. Ein Abstand von Meilen, der sich mit jeder Sekunde vergrößerte. Clarissa sah ihn aus tränenverschleierten, unerträglich glänzenden Augen an, ihre Lippen zitterten, und ihre Hände waren noch immer ausgestreckt und gekrümmt, so wie er sie gehalten hatte. Das ist alles. Du hast deinen Zweck erfüllt – geh jetzt. Geh und vergiß.
Er wußte nicht mehr, wessen Stimme das gesagt hatte und welche Worte sie gebraucht hatte. Aber der Sinn war ihm ganz deutlich in Erinnerung. Geh und vergiß. Er hörte Musik erklingen. Einen letzten Augenblick lang stand er noch in einer Welt, die vor Schönheit und Farbenpracht glitzerte, selbst in dieser dunklen Wohnung mit den vielen, vielen Spiegeln – die glitzerte, weil es Clarissas Welt war. Um sich herum in den Spiegeln sah er überall Clarissa, wie sie in ihrem Abschiedsschmerz die Hände sinken ließ. Er sah es ein dutzendmal, wie sie die Hände sinken ließ – aber er sah nicht mehr, wie sie herabfielen. Ein letzter Blick auf Clarissas tränenüberströmtes Gesicht, und dann… und dann – Lethe – Vergessen.
Dyke stieß einen langen Seufzer aus. Er lehnte sich in seinem knackenden Stuhl zurück und blickte Lessing unter seinen farblosen Augenbrauen ausdruckslos an. Lessing blickte geistesabwesend vor sich hin. Vor einem Augenblick noch hatte er in Clarissas Wohnung gestanden; er spürte noch, wie ihre Finger in seinen Händen lagen. Er hörte ihren zitternden Atem und sah ihr Bild, das von den Spiegeln zurückgeworfen wurde – »Einen Augenblick«, sagte er. »Spiegel – Clarissa – mir ist gerade etwas aufgefallen.« Er setzte sich gerade hin und starrte Dyke mit gerunzelten Brauen an, ohne ihn wahrzunehmen. »Spiegel«, wiederholte er. »Clarissa – viele Clarissas – aber keine Tante! Im Spiegel habe ich zwei Frauen gesehen, aber nicht die Tante! Ich habe sie nicht gesehen – nicht ein einziges Mal! Und trotzdem… warten Sie… die Lösung liegt ganz nahe, wenn es mir nur gelänge – «
Dann kam ihm plötzlich die Erkenntnis. Clarissa hatte es vor ihm gesehen; die ganze Antwort steckte in der Legende, die sie ihm erzählt hatte. Das Land der Blinden! Wie konnten die blinden Bewohner annehmen, den Boten des Königs zu sehen, der über die Prinzessin wachte, während sie durch den verzauberten Wald ging? Wie konnte er sich an etwas erinnern, das zu begreifen sein Geist nicht stark genug gewesen war? Wie konnte er den Beschützer überhaupt wahrgenommen haben, außer als eine gestaltlose Kraft, eine Stimme ohne Worte, als ein Wesen, das sich in seiner eigenen Sphäre bewegte, in welche die Blinden keinen Einblick hatten? »Zigarette?« fragte Dyke und beugte sich dabei in seinem knarrenden Stuhl vor. Lessing griff gedankenlos über den Schreibtisch. Eine Zeitlang war nichts weiter zu hören als das Rascheln von Papier und das Geräusch, das beim Anreißen eines Streichholzes entsteht. Sie rauchten schweigend und beobachteten einander. Draußen hörte man das Knirschen von Schritten auf dem Kies. Weiter entfernt Männerstimmen, die sich etwas zuriefen. Und überall in der Dunkelheit das Zirpen von Grillen. Dyke kippte jetzt geräuschvoll seinen Stuhl nach vorn und beugte sich vor, um seine halb aufgerauchte Zigarette auszudrücken. »Nun gut«, sagte er. »Sind Sie noch zu nahe dran, oder können Sie es jetzt schon einigermaßen objektiv betrachten?« Lessing zuckte mit den Schultern. »Ich kann es versuchen.« »Also, als erstes wollen wir mal voraussetzen – vorerst jedenfalls –, daß solche Dinge einfach nicht geschehen. Die Geschichte ist voller Lücken und Widersprüche. Wir könnten in zehn Minuten alles zerpflückt haben, wenn wir wollten.« Lessing sah ihn verständnislos an. »Vielleicht denken Sie – «
»Ich habe noch gar nicht angefangen zu denken. Wir sind natürlich noch nicht bis zum Grund der Sache vorgedrungen. Ich glaube nicht, daß alles genau so gewesen ist, wie Sie es in Erinnerung haben. Das ist ja gar nicht möglich, Mann! Die ganze Geschichte ist noch in einer Art Allegorie verhüllt, und wir müssen noch tiefer eindringen, wenn wir die tatsächlichen Geschehnisse freilegen wollen. Aber so, wie es sich jetzt darstellt – welch ein Problem! Ich frage mich – « Er brach ab, nahm sich noch eine Zigarette und riß abwesend ein Streichholz an. Er sog den Rauch ein, stieß ihn wieder aus und fuhr dann fort. »Stellen Sie sich einen Augenblick vor, Sie hätten das alles gelesen. Überlegen Sie, was sich hinter der Allegorie verbirgt – die Königstochter, die im Land der Blinden geboren ist. Wissen Sie, Lessing, mich wundert, daß Ihnen eins noch nicht aufgefallen ist. Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, wie kindlich einem Clarissas Verhalten erscheinen muß? Zum Beispiel, daß sie sich in triviale Dinge so vertiefen konnte. Oder daß sie den Kräften, die auf sie einwirkten, ohne weiteres beschützende, väterliche Eigenschaften zuschrieb. Ja, und dann der Glanz, der auf allem lag, was Sie sahen und hörten, wenn Sie mit ihr zusammen waren. Das ist die Welt der Kindheit. Kräftige, leuchtende Farben. Nichts ist häßlich, weil die Grundlage für den Vergleich fehlt. Schönheit und Häßlichkeit bedeuten einem Kind noch nichts. Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit an die seltsame Verzauberung, die über allem lag, was mich interessierte. Wordsworth, Sie wissen schon – In unserer Kindheit ist der Himmel um uns, und so weiter. Aber sie war doch erwachsen, nicht wahr? Über zwanzig?« Er hielt inne und betrachtete das Ende seiner Zigarette. »Es klingt wie ein ganz einfacher Fall von Infantilität, nicht wahr? Nein, nein, warten Sie. Ich hab’ doch nur gesagt, es klingt wie.
Ich weiß genau, daß Sie sofort merken würden, wenn jemand geistig zurückgeblieben ist. Ich behaupte nicht, daß Clarissa das war, ganz und gar nicht. Ich wollte auf etwas anderes hinaus – Ich denke an meinen kleinen Sohn. Er ist jetzt elf und paßt sich ganz gut an, aber als er zur Schule kam, hatte er einen Intelligenzquotienten, der weit über dem Durchschnitt seiner Klasse lag, und die anderen Kinder langweilten ihn schrecklich. Er hatte keine Lust, mit ihnen zu spielen. Er hockte immer zu Hause herum und las, bis meine Frau und ich fanden, daß man dagegen etwas unternehmen müsse. Hohe Intelligenz oder nicht, ein Kind muß mit anderen Kindern spielen. Es wird niemals lernen, sich gesellschaftlich anzupassen, wenn es nicht früh anfängt. Es muß unter seinen Altersgenossen aufwachsen, sonst verkümmert es psychisch. Später kann ein hoher Intelligenzquotient ihm von großem Nutzen sein, aber für ein Kind ist er eher eine Belastung.« Er zögerte. »Verstehen Sie, was ich meine?« Lessing schüttelte den Kopf. »Ich versteh’ überhaupt nichts. Ich bin noch ganz benommen.« »Clarissa könnte – im übertragenen Sinn natürlich – die Tochter des Königs sein«, sagte Dyke langsam. »Sie könnte… sagen wir mal, von königlicher Abstammung sein, aber unter dem einfachen Volk aufgewachsen sein, ohne etwas von ihrer Herkunft zu ahnen, bis sie eines Tages begonnen hat, sich über ihre Umgebung hinauszuentwickeln. Vielleicht hatte der… der König das gleiche Gefühl wie ich gegenüber meinem Sohn – daß sie die Gesellschaft von Gleichaltrigen brauchte… von Kindern, während sie heranwuchs. Sie konnte sich nicht richtig entwickeln unter Erwachsenen. Erwachsene, die so weit über alles das, was wir wissen, hinaus entwickelt sind, daß man sich nicht einmal daran erinnern kann, wie sie aussahen, obwohl man mit ihnen im gleichen Raum war.«
Nachdem Dyke geendet hatte, brauchte Lessing eine volle Minute, um zu begreifen, was er gemeint hatte. Dann richtete er sich jäh auf und sagte: »O nein! Das kann nicht sein. Das hätte ich doch gemerkt – « »Sie sollten meinen Sohn mal beim Baseballspielen beobachten«, meinte Dyke. »Wenn er spielt, ist der Ball für ihn das wichtigste auf der Welt. Die anderen Kinder ahnen nicht, daß er vielleicht auch noch Gedanken hat, die über das Spiel hinausgehen.« »Aber… aber der Goldregen«, wandte Lessing ein. »Und die Anwesenheit des Gottes… und dann – « »Warten Sie! Warten Sie noch einen Augenblick. Sie sagten selbst, daß sie nur durch übereilte Schlüsse auf den Gott gekommen sind. Der Anblick von etwas, das wie ein Goldregen aussah, und die Erinnerung an die Legende von Danae, und dazu das Gefühl, daß alles, was geschah, einer höheren Absicht entsprach – das alles hat Sie dazu verführt, die Existenz eines Gottes anzunehmen. Wenn Sie statt des Goldregens etwas gesehen hätten, das einem brennenden Busch ähnlich gewesen wäre, dann hätten Sie mir eine ganz andere Theorie erzählt, in der vielleicht Moses vorgekommen wäre. Und was die Anwesenheit des Gottes und die Visionen anbelangt – « Dyke zögerte einen Moment und sah ihn prüfend an. »Darauf werde ich später noch zurückkommen. Meine Ansicht darüber wird Ihnen sicher nicht gefallen. Aber zuerst möchte ich diese… diese Allegorie noch weiter verfolgen. Ich möchte voll ausschöpfen, was noch alles hinter dieser Theorie über Clarissa liegen könnte. Wohlgemerkt, ich nehme sie nicht ernst. Aber ich möchte sie auch nicht einfach so in der Luft hängenlassen. Sie ist an sich faszinierend. Sie scheint ganz klar auf die Existenz einer Gattung von höher gearteten Wesen – Homo superior – hier unter uns hinzuweisen.«
»Supermenschen?« sagte Lessing. Er nahm mit augenscheinlicher Anstrengung seine Gedanken zusammen, richtete sich auf und sah Dyke stirnrunzelnd an. »Vielleicht. Oder vielleicht auch – Leutnant, haben Sie schon mal was von Cabell gelesen? In einem seiner Bücher spricht er von Wesen einer Art Super-Rasse, die in unsere Welt immer nur mit einer Facette ihrer Natur hereinreichen. Er gebraucht einen Vergleich aus der Geometrie und meint, man müsse sich diese Wesen als Würfel vorstellen, die auf der zweidimensionalen Oberfläche unserer Welt nur als Vierecke sichtbar würden, obwohl sie in ihrer eigenen Welt eine räumliche Ausdehnung besäßen, die wir uns nicht einmal vorstellen könnten.« Er zog die Stirn noch tiefer in Falten und schwieg. Dyke nickte. »Ja, so etwas Ähnliches vielleicht. Vierdimensionalität und so – Wesen, die sich zeitweise und zu einem bestimmten Zweck an die Bedingungen unserer Welt anpassen.« Er zupfte an seiner Unterlippe und wiederholte: »Zu einem bestimmten Zweck. Das ist demütigend! Ich bin froh, daß ich es nicht wirklich glaube. Selbst wenn man es rein wissenschaftlich betrachtet, ist es entwürdigend genug. Homo superior, der seine Kinder eine Zeitlang zum Spielen zu uns schickt.« Er lachte. »Na, dann amüsiert euch gut, Kinder! Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Ich bin selbst nicht ganz sicher. Es ist schwer zu fassen. Mein Geist ist menschlich und deshalb begrenzt. Mein Denken verläuft in anthropomorphen Bahnen und ist durch meine Verhaltensmuster geprägt. Der Mensch muß sich als wichtig empfinden. Das ist eine psychologische Binsenwahrheit. Das ist auch der Grund, weshalb man Mephisto von jeher nachsagt, er sei daran interessiert, menschliche Seelen zu kaufen. Dabei hätte er in Wirklichkeit gar nichts damit anfangen können. Für
einen Dämon mit Dämonenkräften wären diese unsichtbaren, körperlosen Seelen vollkommen nutzlos gewesen.« »Was haben Dämonen mit meiner Geschichte zu tun?« »Gar nichts. Ich rede nur so. Den Homo superior müßte man sich als eine andere Rasse vorstellen, für die menschliche Maßstäbe nicht mehr zutreffen – jedenfalls nicht in erwachsenem Zustand. In der Literatur sind den Dämonen immer menschliche Züge und Empfindungen zugeschrieben worden. Weshalb? Verwaschenes Denken. Sie brauchen sie einfach nicht, ebensowenig wie ein Supermensch sie braucht. Werkzeug!« schloß Dyke bedeutungsvoll und starrte vor sich hin. »Werkzeug?« »Diese… diese Welt.« Er deutete um sich. »Was wissen wir überhaupt davon? Wir haben Mikroskope und Kernreaktoren entwickelt. Und viele andere Dinge. Spielzeug. Mein Sohn kann mit einem Mikroskop umgehen und damit Wasserflöhe in einem Tümpel entdecken. Ein Arzt benutzt das gleiche Mikroskop, um mit Hilfe eines Färbemittels einen bestimmten Bazillus festzustellen und dann etwas gegen die Krankheit zu unternehmen. Das ist Reife. Die ganze Welt, all diese Materie um uns herum ist vielleicht nur Werkzeug, das wir wie Kinder handhaben. Eine Super-Rasse – « »Eine Super-Rasse – das hieße doch, daß sie unbegreiflich wäre, oder?« »Ja, im großen und ganzen. Ein Kind kann einen Erwachsenen nie ganz verstehen. Aber ein Kind kann ein anderes Kind mehr oder weniger verstehen, für das man dieselbe Formel aufstellen könnte wie für es selbst. Ein Supermensch müßte heranwachsen. Er würde nicht gleich die volle Reife besitzen. Setzen wir einmal für einen erwachsenen Menschen das Zeichen x. Dann ist ein erwachsener Supermensch gleich xy. Ein Super-Kind,
das noch unreif und unentwickelt ist, wäre eines. Mit anderen Worten, es wäre einem erwachsenen Exemplar der Gattung Homo sapiens gleichzusetzen. Der Homo sapiens wird alt und stirbt. Der Homo superior tritt in den Reifezustand ein und wird ein echter Supermensch. Und dieser Reifezustand – « Sie schwiegen eine Zeitlang. »Es wäre denkbar, daß sie ab und zu in unsere Welt eingreifen, während sie auf ihre Kinder aufpassen«, fuhr Dyke schließlich fort. »Sie könnten jemandem Vergessen auferlegen, der zu nahe an sie herangekommen ist, wie Sie – vielleicht – sind. Erinnern Sie sich noch an den Fall Charles Fort? Oder an die vielen Fälle von mysteriösem Verschwinden, Feuerbälle, Fliegende Untertassen, die Teufel von Jersey? Aber das führt jetzt zu weit. Ich wollte nur sagen, daß ein Kind der SuperRasse ohne weiteres jetzt und hier unter uns leben könnte. Es würde allen als ein ganz normaler erwachsener Mensch erscheinen. Und wenn doch irgend etwas passiert, könnte man gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.« Er schwieg wieder und spielte auf dem Tisch mit seinem Bleistift. »Aber das ist natürlich unvorstellbar«, meinte er schließlich. »Reine Theorie. Ich hätte eine viel vernünftigere Erklärung, aber wie ich Ihnen schon sagte, wird sie Ihnen bestimmt nicht gefallen.« Lessing lächelte flüchtig. »Wie sieht sie denn aus?« »Sie erinnern sich noch an Clarissas Fieber?« »Ja, natürlich. Danach war alles anders – viel offenkundiger. Vielleicht hat sie im Delirium zum erstenmal Dinge gesehen, die sie in normalem Zustand nicht sehen durfte. Das Fieber schien irgendwie notwendig gewesen zu sein. Aber natürlich – « »Warten Sie. Es wäre doch vielleicht möglich, daß Sie das Ganze vom falschen Ende her sehen. Blicken Sie noch mal zurück. Sie wurden beide vom Regen überrascht, und Clarissa
bekam danach Fieber, stimmt’s? Und danach wurden die Dinge immer seltsamer. Lessing, ist Ihnen bewußt, daß Sie beide vom Regen überrascht wurden? Sind Sie auch ganz sicher, daß nicht Sie es waren, der das Delirium hatte?« Lessing saß ganz ruhig und starrte ihn einen Augenblick lang an. Dann schüttelte er sich leicht. »Ja«, sagte er, »ich bin sicher.« Dyke lächelte. »Na gut. Ich wollte nur fragen. Es wäre natürlich eine Möglichkeit.« Er wartete. Nach einiger Zeit blickte Lessing auf. »Es kann sein, daß ich Fieber hatte«, gab er zu. »Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet. Doch das wäre noch immer keine Erklärung dafür, daß ich alles vergessen hatte. Aber lassen wir das. Ich weiß eine Möglichkeit, wie ich zumindest einen Teil des Rätsels aufklären kann.« Dyke nickte. »Ich frag’ mich nur, ob Sie das jetzt schon tun sollten.« »Warum nicht? Ich kenne den Weg. Ich könnte ihn im Schlaf finden. Vielleicht hat sie die ganze Zeit über auf mich gewartet! Nichts wird mich davon abhalten, gleich morgen dorthin zurückzugehen.« »Sie brauchen nur eine Ausgeherlaubnis«, sagte Dyke. »Ich glaube, die kann ich Ihnen besorgen. Aber wollen Sie wirklich so schnell dorthin, Lessing? Ohne daß Sie sich noch einmal alles in Ruhe überlegt haben? Wissen Sie, es wird ein furchtbarer Schock für Sie sein, wenn Sie weder die Wohnung noch Clarissa finden. Und alles andere würde mich ehrlich gesagt überraschen. Ich glaube, diese ganze Geschichte ist ein Gleichnis, das wir noch nicht vollständig entschlüsselt haben. Vielleicht wird es uns nie gelingen. Aber – « »Ich muß hingehen«, sagte Lessing entschlossen. »Können Sie das nicht verstehen? Wir werden in der Sache keinen Schritt weiterkommen, solange wir nicht die einfachste
Erklärung ausgeschaltet haben. Und vielleicht ist das, was ich Ihnen erzählt habe, auch einfach wahr?« Dyke lachte und zuckte leicht mit den Schultern. Lessing stand vor der vertrauten Tür und zögerte noch, auf die Klingel zu drücken. Bis jetzt hatte sein Gedächtnis ihn nicht getrogen. Dies war der Hausflur, den er kannte. Dies war die Tür. Dahinter lagen die Räume, in denen Clarissa gewohnt hatte, dessen war er ganz sicher. Inzwischen konnte sie natürlich fortgezogen sein. Er durfte nicht enttäuscht sein, wenn jemand Unbekanntes ihm öffnete. Das würde gar nichts besagen. Schließlich waren zwei Jahre vergangen. Und Clarissa hatte sich die letzten Male, die er sie gesehen hatte, sehr verändert. Das Fieber schien diese Veränderung beschleunigt zu haben. Angenommen, es war tatsächlich alles wahr, angenommen, sie gehörte wirklich einer Super-Rasse an und hatte nur mit einer Facette ihrer vierdimensionalen Natur in Lessings Welt hineingereicht. Auf dieser Seite ihres Lebens hatte sie ihn geliebt – das war ihre gemeinsame Basis. Mochte sie auch ein tieferes Selbst haben, das er nie würde verstehen können; ganz konnte sie jedenfalls noch nicht in ihre Welt hineingewachsen sein, und solange sich noch ein Teil ihrer selbst in seiner einfachen Welt aufhielt, liebte sie ihn vielleicht auch noch immer. Er hoffte es. Er dachte an ihre Tränen. Er hörte ihre liebliche Stimme, die ihm versicherte: »Ich werde dich immer lieben – « Er drückte fest auf die Klingel. Der Raum sah verändert aus. Die Wände waren noch immer mit Spiegeln bedeckt, aber nicht so, wie Lessing es in Erinnerung hatte. Die Spiegel waren mehr als bloße Spiegel. Ihm blieb keine Zeit, sich über die Veränderung Gedanken zu machen, denn vor ihm bewegte sich etwas.
»Clarissa – « sagte er. Und dann erkannte er in dem kurzen Moment von Bewußtheit, der ihm gewährt wurde, wie sehr er sich geirrt hatte. Er hatte vergessen, daß vier Dimensionen nicht die äußerste Grenze vorstellbarer Ausdehnung waren. Cabell hatte ihn irregeführt: Es gibt Dimensionen, in denen ein Würfel weit mehr als sechs Seiten haben kann. Clarissas Dimensionen zum Beispiel – In diesen Dimensionen sind Ausdehnungen möglich, die räumlich nicht mehr zu fassen sind – oder vielmehr, der Raum ist nur ein Medium, in dem diese Ausdehnungen stattfinden können. Und weil die Menschen auf einem dreidimensionalen Planeten leben und die Bewegung aller Planeten in diesem Raum-Zeit-Kontinuum dreidimensional ist, deshalb ist die Bildung eines psychischen Gesamtwesens nur durch Ausdehnung in andere Dimensionen möglich. Das heißt, aus einer bestimmten Anzahl von Chromosomen und Genen allein, die hier auf der Erde erzeugt und empfangen worden sind, kann noch kein Supermensch entstehen. Ebensowenig wie eine Batterie mehr Strom liefern kann, als ihr Potential beträgt. Aber wenn drei oder sechs oder ein Dutzend Batterien vom gleichen Potential miteinander verbunden werden – Bis sie vollständig miteinander verbunden sind, ist jedes ein Individuum. Jedes hat seine Grenzen. Sie tasten sich suchend durch die Dunkelheit voran, und Führer bemühen sich, dem verstreuten Organismus dabei zu helfen, sich zu vereinen. Deshalb kann der menschliche Geist die Existenz eines SuperWesens nur bis zu dem Punkt verstehen, wo die Verbindung hergestellt wird und die Batterien zu einer Einheit von ungeheurer potentieller Kraft verschmelzen. Auf der Erde gab es eine Clarissa und ihre angebliche Tante – die überhaupt nicht zu fassen war.
Auf einem weit entfernten Planeten im Bereich von Cygnae Taurus gab es noch eine Clarissa, aber dort hieß sie so ähnlich wie Ezandora, und ihr Mentor war ein rätselhaftes Wesen, das von den Bewohnern für einen Abkömmling der Götter gehalten wurde. Auf dem Planeten Siebenmillionen-Vier-Zwanzig-Acht von Center Galaxis gab es eine Jandav, die einen kleinen Kristall bei sich trug, durch den sie ihre Führung erhielt. In Atmosphären von Oxygen und Halogen, in Bereichen, die vom Flimmern neugeborener Sterne erleuchtet werden und zu denen unsere Teleskope nicht mehr reichen – – unter Wasser und an kalten, dunklen Orten bildete sich der gleiche Mutterboden, und die unvorstellbare psychische Kraft des Homo superior ließ den biologischen Zyklus einer übermenschlichen Rasse anlaufen und sich vollenden und von neuem beginnen. Nach ihren Gesetzen wurde zur gleichen Zeit in vielen Welten das Muster, das Clarissa war, empfangen und wuchs heran. Die Leistung der Batterien verstärkte sich. Oder, um bei Cabells Vergleich zu bleiben, das Muster Clarissa war mit einer Facette seiner Natur auf der Erde sichtbar, doch diese Facette war nicht eine von nur sechs, sondern eine von einer Unendlichkeit von Facetten. Und jede Facette dieser unvorstellbaren geometrischen Form war eine Clarissa, die als Individuum lebte und langsam heranwuchs. Sie lernte und wurde geführt. Sie bewegte sich auf das Zentrum dieser geometrischen Form zu, welches die vollständige Clarissa war – oder eines Tages sein würde. Eines Tages, wenn der letzte Spiegel das gereifte Abbild des Ganzen ins Zentrum werfen oder wenn die vielen Clarissas sich sozusagen die Hände reichen und zu ihrem vollkommenen Wesen verschmelzen würden. Soweit können wir es verfolgen. Aber nicht bis über den Punkt hinaus, wo die vielen Einheiten sich zu dem
unvorstellbaren Wesen zusammengeschlossen haben, zu dem sich die Clarissas in den vielen, vielen Welten hinentwickeln. Danach ist der Homo superior dem Verständnis des Homo sapiens entrückt. Wir kannten sie als Kinder. Und sie verschwanden. Sie haben ihr Spielzeug weggelegt. »Clarissa – « sagte er. Dann schwieg er und blickte unbewegt über die Schwelle in den dämmrigen Spiegelraum – auf das, was er sah. Im Treppenhaus war es dunkel. Die Treppen führten nach oben und nach unten, es war dunkel und still. Keine Bewegung in der Stille, absolute Ruhe. Das war Kraft, die auf den Ausdruck von Kraft verzichten konnte. Er drehte sich um und ging langsam die Treppe hinunter. Der Schmerz und die nagende Ungewißheit, die ihn so lange gequält hatten, waren jetzt verschwunden. Draußen vor dem Haus zündete er sich eine Zigarette an, winkte ein Taxi herbei und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Das Taxi hielt. Weiter unten an der Biegung der Straße floß das glitzernde dunkle Wasser des East River hinunter zum Sound. Aus der anderen Richtung erklang das Rattern einer Hochbahn. »Wohin, Sergeant?« fragte der Chauffeur. »Ins Zentrum«, sagte Lessing. »Wo kriegt man denn jetzt noch was Anständiges geboten?« Er lehnte sich entspannt auf dem Polstersitz zurück; sein Geist war jetzt ganz frei und unbeschwert. Diesmal war das Vergessen endgültig. Er würde sein Leben glücklich und zufrieden weiterleben, sich an den Genüssen des Daseins freuen und mit großem Vergnügen das Spielzeug der Erde benutzen. »Wollen Sie in einen Nachtklub gehen?« fragte der Taxifahrer. »Das neue Cabana soll sehr gut sein.«
Lessing nickte. »Okay. Ins Cabana.« Er lehnte den Kopf zurück und sog genußvoll den Rauch ein. Es war die Stunde der Kinder.
Originaltitel: THE CHILDREN’S HOUR Copyright © 1944 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION März 1944 Übersetzt von Ute Seeßlen
Theodore Sturgeon BESUCH BEI MRS. BINNS
»Reich bitte Mr. Magruder den Maisbrei, Chris!« Die sanfte, müde Stimme seiner Mutter drang endlich an sein Ohr. »Mein Gott, wie oft soll ich es dir noch sagen – « Doch Tess Milburn kam ihm zuvor, streckte ihren blassen, mageren Arm aus und reichte dem Pensionsgast die Schüssel mit Grütze. Mr. Magruder sagte nichts. Er sprach überhaupt nie. Er aß auch niemals von der Maisgrütze, aber darum ging es nicht. Wenn es bei Mrs. Binns Abendessen gab, dann mußte eben alles herumgereicht werden, egal, ob es jemand wollte oder nicht. Chris seufzte und murmelte eine Entschuldigung. Dann kehrten seine Gedanken wieder zu dem Drei-Körper-Problem zurück. Er wußte, daß er es nicht lösen konnte, aber er wollte sich auch nicht damit zufriedengeben, daß es unlösbar sei. Chris Binns war Computertechniker, und zwar ein sehr guter, und worum es ihm eigentlich ging, war (a) die richtige Frage an (b) die richtige Art von Maschine zu stellen. Er runzelte die Stirn, als könne er dadurch eine Antwort aus seinem Kopf herausquetschen, und es war ihm auch schon fast gelungen, als er bemerkte, daß er ohne es zu wissen die ganze Zeit über mit seinem finsteren Blick zu Tess Milburn hinübergestarrt hatte. Sie lächelte, entblößte statt zu erröten leicht die Zähne, was sie immer tat, wenn sie verlegen war. Statt dessen errötete Chris, aber nur ein wenig, denn er war in Gedanken schon wieder bei seinem Problem und weit, weit
weg vom Abendbrottisch und jenseits solcher Gefühle wie Verlegenheit und der Pflicht, sich zu entschuldigen. Die Lösung, dachte er, muß ungefähr so aussehen: Wenn die Umlaufbahnen aller drei Körper Ellipsen sind, dann müßte das Ergebnis eine bestimmte Beziehung zwischen den drei Fokusachsen sein. Er sah deutlich einen Nocken vor sich, der eine parabolische Bahn beschrieb, und die Verbindung dreier solcher Nockenbahnen zeichnete sich schon irgendwo in seinem Geist undeutlich ab und mußte nur noch ein wenig klarer hervortreten – Wumm! Die Verandatür schlug krachend gegen die Außenwand, und gleichzeitig landete ein schwerer Koffer neben dem Tisch. »Achtung! Macht alles klar – ich setze zur Landung an!« dröhnte eine Baritonstimme. »Billy! O mein Billy!« rief Mrs. Binns. Sie war aufgesprungen und hatte die Arme ausgebreitet, aber der lachende Riese, der mit einem Satz ins Zimmer gesprungen war, kam ihr zuvor, hob sie hoch und wirbelte sie herum. Tess Milburn saß starr vor Staunen da, wie eine Maschine, deren vielfältige Funktionen durch den Hauptschalter auf einen Schlag abgestellt worden waren: die Kaubewegungen, der Atem, das Wimpernzucken, vielleicht der Herzschlag, auf jeden Fall aber die Gehirntätigkeit – alles setzte auf einmal aus angesichts einer Erscheinung, für die ihr die Reflexe fehlten. Mr. Magruder gab einen grunzenden Laut von sich und bückte sich, um seine heruntergefallene Gabel wieder aufzuheben. Er wischte sie mit seiner Serviette ab und fuhr dann mit unverändertem Gesichtsausdruck fort zu essen. Chris Binns saß mit geschlossenen Augen da, allem Anschein nach ebenso erstarrt wie das Mädchen; dabei suchte er verzweifelt nach der verschwundenen Lösung, mühte sich ab, zumindest ihre Form und Struktur wiederzufinden, nur um
etwas zu haben, woran er sich halten und womit er weiterarbeiten könnte. Aber es gelang ihm nicht; das Licht in seinem Innern war erloschen, das Gebilde zerflossen. Er stieß die Luft durch die Nase aus und nahm sich vor, es ein andermal zu versuchen. Dann öffnete er die Augen. »Hallo, Bill.« Der Kadett stellte seine Mutter auf die Füße. »Verbindung, Maat!« sagte er mit dröhnender Stimme. Sein krauses Haar war von der Sonne gebleicht; breite Schultern wölbten sich unter dem kurzen Cape seines blauen Raumfahrermantels. Die vier Knöpfe in den Farben Gold, Weiß, Grün, Rot, die für die inneren Planeten standen, blinkten auf dem nachtblauen Untergrund, als Bill sich auf seinen Bruder stürzte. Chris wehrte den gezielten, heftigen Schlag, mit dem der Kadett ihn begrüßen wollte, ab, rückte mit seinem Stuhl zurück, beugte sich zur Seite und begann plötzlich albern zu kichern. »He, he.« »Und da ist ja auch unsere liebe kleine Tessie Heartburn«, röhrte Billy und gab Tess Milburn einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Und unser alter getreuer Pensionsgast, einer der brillantesten Unterhalter – « Er wollte seine schwere Hand auf die Schulter des alten Mannes hinabsausen lassen, aber ein kurzer Aufblick von Mr. Magruder hielt ihn anscheinend davon ab. Er hob die Hand nochmals zu einem scherzhaften, ein wenig herausfordernden Salut. »Mr. Magruder.« Mr. Magruder nickte kurz und aß weiter. Mrs. Binns flatterte wie eine aufgeregte Henne hin und her und gackerte dabei: »O Billyboy, das ist zu schön, dich – warum hast du uns denn nicht gesagt, daß du – hast du denn überhaupt schon etwas – Tess, wenn du vielleicht ein bißchen weiterrücken würdest, und Chris auch, dann stell’ ich dir noch einen – «
»Im Telegramm stand, daß du morgen früh kommen würdest«, sagte Chris. »Wenn Billyboy ins Zimmer tritt, dann geht immer die Sonne auf«, grinste der Kadett. »Aber Spaß beiseite, Maat, ich konnte in einem Proviantwagen mitfahren. Ich habe die letzte Inspektion sausen lassen und bin abgehauen.« Er sah sich rasch um. »Wo ist denn diese schreckliche Horrocks?« »Billy!« piepste seine Mutter. »Miss Horrocks ist an eine andere Schule versetzt worden«, sagte Chris. »Haben wir dir nichts davon geschrieben?« »Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Den Klatsch von zu Hause überfliege ich meistens ziemlich rasch«, meinte Billy unbekümmert. Mrs. Binns sagte: »Mr. Magruder hat uns für ihr frei gewordenes Zimmer einen neuen Gast besorgt. Eine Miss Gerda Stein. Wir hatten damit gerechnet, daß sie bei deiner Ankunft schon eingezogen wäre. Aber nun bist du ja gar nicht morgen früh angekommen, nicht wahr?« Billy lachte und küßte sie. »Nein, ich bin ganz gewiß nicht morgen früh angekommen. Ich werde vor zehn Minuten angekommen sein.« »Ach, du weißt doch, was ich… dummer Billy. – Komm, Chris, hilf mir mal.« Chris sah sie einen Augenblick benommen an, stand dann auf und stieß dabei gegen den Tisch. Billy sagte lachend: »Wie ich dich kenne, Mama, brauchst du gar keine Hilfe. Du hast bestimmt Geheimnisse.« Er drehte sich grinsend zu Tess Milburn um. »Die wollen sicherlich über dich reden.« »O Billy, du bist schrecklich, ganz einfach schrecklich«, sagte seine Mutter errötend. Mr. Magruder hielt nur sein Wasserglas fest, als Chris gegen den Tisch stieß, und begann dann Butter auf sein Brot zu schmieren. Tess Milburn zeigte ihr verlegenes Lächeln, und Mrs. Binns sagte: »Hör nicht auf
das, was dieser böse Junge sagt, Tess.« Dabei drohte sie lächelnd mit dem Zeigefinger zu Billy hinüber. Sie nickte abrupt und verschwand in der Küche. Chris folgte ihr. Sie wartete am Kücheneingang, und als er eingetreten war, hob sie geübt den Arm und unterbrach das Schwingen der Tür. Mit einer anscheinend nur Müttern eigenen Unkenntnis von Akustik begann sie eindringlich, aber vollkommen lautlos auf ihn einzuflüstern, fuchtelte dabei mit den Armen, deutete zum Eßzimmer hinüber und bewegte dabei die ganze Zeit die Lippen, ohne daß ein verständliches Wort herauskam. »Was?« fragte er nicht gerade leise. Er war leicht irritiert. Sie erhob anklagend die Augen zum Himmel und bedeutete ihm energisch, leise zu sein. Sie zog ihn am Arm weiter in die Küche hinein und blickte dabei über seine Schulter zurück, als fürchtete sie, daß alle im Eßzimmer das Ohr an die Küchentür gepreßt hielten. »Ich hab’ gesagt, warum du sie ausgerechnet heute abend zum Essen einladen mußtest, wo doch Billy nach Hause kommen wollte und so.« »Wir waren verabredet. Außerdem wußte ich nicht, daß Billy – « »Das war sehr rücksichtslos«, klagte sie. »Also, was soll ich denn tun?« »Ich meine, wir sollten nur im engsten Familienkreis Zusammensein, wenn dein Bruder von der Raumfahrtakademie nach Hause kommt.« Chris’ Gereiztheit steigerte sich bis zu ihrem Höhepunkt, was sich bei ihm immer in erträglichen Grenzen hielt. »Dann dürfte Mr. Magruder auch nicht dabeisein.« »Das ist etwas anderes, das weißt du genau.« Er wußte es. Mr. Magruder lebte zwischen ihnen wie unter einer Glasglocke, aus der er nie heraustrat. Er beschäftigte sich mit sich selbst und mit seinen Zeitungen und hatte seine festen
Gewohnheiten, die niemanden mehr zu irgendwelchen Mutmaßungen veranlaßten, nachdem sie einmal bekannt waren. Er konnte sich mit ihnen unterhalten, aber er brauchte es nicht. Sie nahmen ihn kaum wahr und schlossen daraus, daß er ebensowenig Notiz von ihnen nahm. »Na gut«, meinte Chris. »Dann erkläre ich es ihr eben, bringe sie heim und komme dann gleich wieder zurück.« »Aber das geht doch nicht, das geht doch nicht«, jammerte sie. Es war genau das, was sie wünschte, aber aus eben dem Grund war es ausgeschlossen; sie wollte ihr Gewissen nicht damit belasten. Er zuckte die Schultern und sagte: »Weshalb hast du mich dann überhaupt herausgerufen?« Die Frage war nicht böse gemeint, er wollte nur Bescheid wissen. »Es ist eine Schande«, antwortete sie. Sie preßte die Hände zusammen und blickte mit leidvoller Miene darauf nieder. Es gab nichts, was er darauf hätte sagen können, und tun konnte er erst recht nichts. Er drehte sich um und wollte wieder ins Eßzimmer gehen, aber sie hielt ihn zurück mit der Frage: »Warum ist sie eigentlich so oft hier, Chris?« »Ich weiß nicht, Mama. Sie – « Er machte eine vage Handbewegung. Er wußte es wirklich nicht. Tess schaute ab und zu bei ihnen herein – war sie nicht anfangs sogar gekommen, um Mrs. Binns zu besuchen? Und da sie nun einmal so oft da war, unterhielt er sich mit ihr. Über was eigentlich? Auch das war ihm nicht ganz klar. Über alles mögliche. Was ihm so durch den Kopf ging und worüber er reden konnte. Über seine Arbeit – wenigstens einen kleinen Teil davon; das meiste ließ sich nicht in Worten ausdrücken; es waren technische oder mathematische Probleme. Dann über seine Empfindungen – oder wenigstens einen Teil davon; sie ließen sich meistens auch nicht in Worten ausdrücken; sie waren entweder zu undeutlich und nebelhaft oder zu schwierig.
»Wir gehen manchmal ins Kino«, sagte er schließlich. »Es ist nett, wenn man ab und zu mal zu jemandem sprechen kann.« Er sagte nicht: »mit jemandem«. Er hätte sich sicher gefragt, weshalb er es so ausgedrückt hatte, aber er wurde wie gewöhnlich in seinen Gedanken unterbrochen. »Ich weiß, das ist nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden«, flüsterte seine Mutter eindringlich, »aber was will sie eigentlich? Ich meine, willst du – hast du die Absicht – du weißt schon.« »Darüber hab’ ich noch nie nachgedacht.« »Dann wird’s aber Zeit. So wie sie sich aufführt.« »Na gut. Aber du hast ganz recht, Mama, jetzt ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt dafür.« Seine Gereiztheit war wieder zurückgekehrt. Er wandte sich zur Tür, die in dem Moment aufgestoßen wurde und ihm einen schmerzhaften Stoß gegen die rechte Hüfte versetzte. »Na, was wird denn hier gespielt?« dröhnte Billy. »Müßt ihr Ingenieure schon wieder an meinem Kompaß herumbasteln?« »Erzähl’ Mama, was du zu essen haben möchtest«, sagte Chris unter Schmerzen. Er ging steif zum Eßtisch zurück und setzte sich. Verstohlen rieb er sich die Hüfte. Er sah Tess Milburn nicht an. Er konnte es nicht. Chris stocherte in seinem Essen herum. Tess stocherte in ihrem Essen herum. Mr. Magruder, der zu den Mahlzeiten Tee nahm, trank seinen Tee. Und die ganze Zeit über waren aus der Küche Stimmen zu hören. Chris war äußerst verlegen, aber er wunderte sich zugleich über den eigenartigen Filtereffekt der Schwingtür, die zwar die Zischlaute von Mrs. Binns eindringlichem Geflüster und Billys dumpfe Antwortlaute durchließ, aber so, daß nicht eine Silbe davon zu verstehen war. Doch als Billy lachte, verstand er es wohl. Er kannte dieses Lachen.
Billy stieß die Tür auf und kam heraus, ohne sie zu berühren. Die Tür schwang zurück, und seine Mutter hielt sie innen fest, schaute heraus und sagte in weinerlichem Ton: »O nein, Billy, nein!« Billy lachte wieder und sagte: »Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf darüber, Mama. Billy bringt das schon in Ordnung.« Mrs. Binns stand in der Tür, preßte verzweifelt die Hände zusammen, seufzte dann und ging zurück in die Küche, um das Abendessen für Billy fertigzumachen. Billy ließ sich am Tisch nieder und blinzelte Chris zu. »Na, Tess«, sagte er gedehnt, »wir haben uns lange nicht gesehen. Du hast dich ganz nett entwickelt. Bist wohl oft hier, was?« Er nahm ihr ängstliches Lächeln nicht zur Kenntnis. »Du fühlst dich bestimmt eingesperrt hier. Ein bißchen frische Luft würde dir sicher guttun. Wie wär’s, wenn wir beide nach dem Essen abhauen und uns einen lustigen Abend machen?« Betroffen schaute sie Chris an. Chris sagte: »Sieh mal, Billy, wir – « In dem Augenblick kam Mrs. Binns mit einem gefüllten, dampfenden Teller herein. Dem lieben kleinen Billy kann man doch keine Schüssel vorsetzen, dachte Chris verbittert. »Weißt du was, Mama, Tess und ich wollen nachher noch ein bißchen ausgehen«, gab Billy bekannt. »Aber, Billy!« sagte Mrs. Binns in halb vorwurfsvollem, halb zärtlichem Ton. »Das ist dein erster Abend zu Hause, und wir konnten noch nicht einmal miteinander reden. Wo du doch nur so wenig Zeit hast und – « »Ach, Mama«, meinte der Kadett munter, »du und ich, wir beide haben doch jetzt zwei Wochen lang genügend Zeit, um uns auszuschwatzen, tagsüber, wenn anständige Leute arbeiten. Heute abend kannst du mich ruhig gehen lassen, Mama. Sei nicht so geizig. Das ist doch okay, nicht wahr, Chris?«
Das ist doch okay, nicht wahr, Chris? Wie oft schon in seinem Leben hatte er dieses bestimmte Lachen und dann diese Frage gehört. Eine Zeitlang, als er neun und Billy sieben war, hatte er jedesmal zu heulen angefangen, wenn er diese Frage hörte. In der Zeit davor und danach hatte er darauf mit einem energischen »Nein!« geantwortet. Und noch später hatte er es mit Einwänden und Erklärungen versucht oder einfach nur schweigend den Kopf geschüttelt. Aber es hatte nie etwas genützt. Billy hatte fröhlich lächelnd seine Gegenmaßnahmen übersehen und sich dann ohne weiteres das genommen oder das getan, was er wollte und was nichts für Chris war. Seit er vier Jahre alt war, hatte er Chris stets übertrumpft. Aber dieses Mal, dieses verdammte eine Mal sollte er nicht damit durchkommen. Chris blickte auf das besorgte Gesicht seiner Mutter und dann zu Tess hinüber, auf deren blassen Wangen sich rosa Flecken gebildet hatten und in deren Augen ein Glanz lag, den er noch nie darin gesehen hatte. Nein, verdammt noch mal, nein. Er holte tief Luft, um es laut zu sagen, als etwas Unglaubliches passierte. Eine harte Hand schloß sich unter dem Tisch um sein linkes Handgelenk. Und eine Stimme sagte leise, aber bestimmt in sein linkes Ohr: »Laß ihn!« Er sah auf die Hand nieder, doch sie war schon wieder zurückgezogen worden. Er blickte auf das Gesicht seines linken Nachbarn; Mr. Magruder goß sich mit gleichmütiger Miene Tee nach. Sonst schien es niemand gehört zu haben. Es war also Mr. Magruder gewesen, der mit seinen schmalen, trockenen Lippen ganz bewußt zwei Silben gebildet hatte, die nur für Chris’ Ohr bestimmt waren. Es war äußerst ungewöhnlich, daß der alte Mann überhaupt jemals etwas anderes sagte als: »Könnte ich bitte das Salz haben.« Und es war noch nie vorgekommen, daß er sich in eine Unterhaltung eingemischt und einen Rat gegeben hatte.
Chris sah Tess an, sah die rosa Flecken auf ihren Wangen, den Glanz in ihren Augen und den gequälten, fast flehenden Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Möchtest du gehen?« Sie blickte zu Billy hinüber, dann wieder zu ihm und schlug die Augen nieder. Chris sah oder spürte eher, wie Mr. Magruder seinen Fuß bewegte. Er berührte Chris nicht, aber diese Bewegung war ein weiterer Befehl, darüber gab es bei Chris keinen Zweifel. »Geh nur, wenn du möchtest.« Mr. Magruder nickte, oder er senkte auch einfach nur den Kopf, um zuzusehen, wie seine Hände die Serviette zusammenfalteten. Mrs. Binns sagte: »Ich finde, du bist schrecklich, Billy«, und hielt das »Lieber Junge« zurück. Tess Milburn kicherte. Billy begann mit großem Appetit zu essen, und über den Raum legte sich lastendes Schweigen, das zum Glück unterbrochen wurde, bevor es unerträglich werden konnte. Die Haustürklingel schellte. »Ich mach’ auf«, sagte Chris erleichtert. Er stand auf und ging zu der offenen Eingangstür, die nur durch das Fliegengitter abgeschirmt war. Das muß eine Täuschung sein, die nur durch das Licht hervorgerufen wird, schoß es ihm durch den Kopf, aber er hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. »Ja?« »Ich bin Gerda Stein. Mr. Magruder – « »Oh, das ist Miss Stein!« rief seine Mutter. »Kommen Sie doch herein.« Es war keine Lichttäuschung. Chris öffnete die Gittertür und blieb sprachlos stehen. Er hatte gewußt, daß es solche Wesen gab. Es gab sie beim Film und im Fernsehen, sie lächelten von Titelblättern herunter und machten Werbung für Kaffee, Geschirr und Kosmetik. Das war der angestammte Platz für solche Wesen; es konnte einfach nicht wahr sein, daß eines davon in atemberaubender Schönheit an einem warmen
Sommerabend vor der Haustür stand und mir nichts, dir nichts ins Haus hereinspaziert kam. Jemand weckte ihn mit einem Rippenstoß aus seiner Erstarrung – es war Mrs. Binns. »Wir sind gerade beim Essen, ich kann Ihnen etwas aufwärmen. Ihr Zimmer ist – mein Sohn ist gerade von der Raumfahrtakademie – nein, das ist Chris. Billy ist derjenige – « »Guten Abend, Chris«, sagte Gerda Stein. »Hm«, machte Chris. Er folgte dem Mädchen und seiner Mutter durch die Eingangshalle ins Eßzimmer. »Mr. Magruder kennen Sie ja bereits, und dies, dies ist Billy.« Billy schoß wie eine Rakete von seinem Stuhl hoch, und Mr. Magruder mußte wieder sein Glas festhalten. »Hui«, machte Billy. Es klang wie die letzten Töne einer mächtigen Sirene. Gerda Stein lächelte ihn an, und Chris konnte sehen, wie Billy blinzelte. »Nein, danke«, antwortete sie auf etwas, das Mrs. Binns gesagt hatte. »Ich habe schon gegessen.« Chris ging um den Tisch herum, und seine Augen fielen auf Tess Milburns Gesicht. Sie sah niedergeschlagen aus. »Und das ist Tess Milburn«, platzte er heraus. In seinem Bemühen, sich für das vernachlässigte Mädchen einzusetzen, das durch den Glanz des neuen Gastes so in den Schatten gedrängt worden war, schrie er beinahe. Er benahm sich wie ein Tor, und er wußte es. Gerda Stein lächelte freundlich und reichte Tess die Hand. Überraschenderweise lächelte Tess ebenfalls, und das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht haften – ein echtes Lächeln, das nicht Ersatz für etwas anderes war. Chris sah es mit einem Gefühl von Verlegenheit – einer seltsamen Verlegenheit, die damit begann, daß er merkte, wie seine Ohren brannten, und die ihn zu der Einsicht brachte, daß
er immer verlegen war, wenn er jemanden glücklich gemacht hatte, und weiter, daß dies sehr selten vorkam, und daß es sich deswegen gelohnt hatte, darüber nachzudenken, und schließlich, daß jemand, der so selten andere glücklich machte, nicht viel wert sein konnte. Was ihn natürlich wieder dazu veranlaßte, auf seinen jüngeren Bruder zu blicken. Als Gerda Stein hereinkam, hatte Billy zu kauen aufgehört und ganz vergessen zu schlucken. Er schien sekundenlang so nachdenklich zu sein, wie Chris es meistens war, und sein zwischen Tess und Gerda Stein hin- und hergleitender Blick zeigte den Grund seiner Verwirrung. Und plötzlich sah Chris es deutlich wie mit Buchstaben geschrieben über die gebräunte Stirn des Kadetten gleiten. Wenn Billy jetzt auf der Verabredung mit Tess bestand, würde diese Vision hierbleiben bei Chris und Mama und Mr. Magruder und – Mr. Magruder und Mama würden sich nun bald zurückziehen und… Andererseits hatte Billy die gleiche Abneigung dagegen wie seine Mutter, jemand anderen mit: »Hau ab, ich brauch’ dich nicht mehr« oder einem ähnlichen Satz vor den Kopf zu stoßen. Chris setzte sich wieder vor sein kalt gewordenes Essen und wartete. In seinem Gefühl klärte sich einiges. Er dachte, daß es gut war, sich einmal in einer Situation zu befinden, in der Billy nicht gewinnen konnte. Wenn Billy seine Verabredung fallenließ, würde Chris mit Tess gehen; wenn nicht, dann nicht; und daraus schloß Chris, daß ihm an der Verabredung nicht besonders viel gelegen war. Er war darüber sehr erleichtert. Die Fragen seiner Mutter hatten ihn mehr verstört, als ihm bewußt gewesen war.
Billy schnaubte durch die Nase und schluckte endlich seinen Bissen herunter. »Ich bin bereit zum Countdown«, sagte er zu Tess. Chris bemerkte, wie ein leichtes Erstaunen über Gerda Steins Gesicht huschte. Mrs. Binns sagte: »Das ist seine Art zu reden. Er meint, daß er und Tess jetzt ausgehen werden. Astronautenjargon.« Chris hatte das Gefühl, daß sie sich gleich auf Billy stürzen und ihn umarmen würde, aber sie beherrschte sich mit sichtlicher Anstrengung und sagte zu Miss Stein: »Kommen Sie, setzen Sie sich doch ins Wohnzimmer, bis ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen kann.« »Viel Spaß, ihr beiden«, sagte Chris, stand auf und ging ebenfalls ins Wohnzimmer. Auf dem Flur drehte er sich um und sah zurück. Er begegnete dem durchdringenden Blick von Mr. Magruder. Es war eine eigenartige Erfahrung für jemanden, der es gewohnt war, den alten Mann nur mit gebeugtem Kopf und niedergeschlagenen Augen zu sehen. Er wünschte sich, eine Botschaft, irgendeine Nachricht aus seinem Blick entnehmen zu können, aber es gelang ihm nicht. Er hatte ein seltsames Gefühl, so als gäbe es für ihn nur noch zwei Alternativen: entweder Chaos oder Gehorsam gegenüber einem unbekannten Befehl. Er wußte, daß er den Gehorsam gewählt hatte, und er war unbeschreiblich aufgeregt.
»Ich hab’ mir immer einen Astronauten in gewünscht«, sagte Mrs. Binns stolz zu Gerda wollte schon von klein auf Astronaut werden, sehen – « Von der Couch her antwortete Gerda Stein scheint seine Sache ja gut zu machen.«
der Familie Stein. »Billy und wie Sie höflich: »Er
»Gut? Er zählt zu den Besten seiner Klasse, keiner tut es ihm gleich, außer dem Sohn eines Luftwaffengenerals. Billy ist einfach dafür geboren, ja, er ist geboren dafür.« »Seit seinem zweiten Lebensjahr läuft er in Raumfahrerkluft herum«, bemerkte Chris. Als Gerda Stein seine Stimme hörte, drehte sie sich lächelnd zu ihm um. »Hallo.« »Ich weiß gar nicht, wie ich zu zwei so verschiedenen Söhnen gekommen bin«, sagte Mrs. Binns. »Ich habe jahrelang nicht gewußt, wofür Chris sich entscheiden würde, aber jetzt hat er einen ganz ordentlichen Job. Er bringt Rechenmaschinen in Ordnung.« »Computer«, verbesserte Chris sanft. »Tatsächlich? Das muß sehr interessant sein. Ich benutze auch einen Computer.« »Welches Modell?« »KCI. Es ist nur ein sehr einfacher, kleiner Computer.« »Ich kenne ihn. Binäres System. Ganz brauchbare Maschine«, sagte Chris und merkte zu seiner Verärgerung, daß er wieder rot geworden war. »Na, da haben Sie und mein Sohn ja etwas gemeinsam«, sagte Mrs. Binns. »Ich geh’ nur rasch nach oben und sehe nach, ob Ihr Zimmer in Ordnung ist. Du unterhältst Miss Stein so lange, Chris.« »Machen Sie sich keine besonderen – « begann das Mädchen, aber Mrs. Binns war schon hinausgeeilt. Wir haben etwas gemeinsam, stimmt das? dachte Chris. Es war ihm absolut unmöglich, ein Wort herauszubringen. Du unterhältst Miss Stein solange, hah! Er warf einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber und bemerkte mit Schrecken, daß sie ihn betrachtete. Er schlug die Augen nieder, befeuchtete seine Lippen, saß unbehaglich da und wünschte nur, daß irgend jemand etwas sagen möge.
Billy sagte etwas. Er ließ Tess im Vorraum stehen, kam ins Wohnzimmer, blinzelte Gerda Stein zu und sagte zu Chris: »Ich hab’ deinen letzten Treffer mitgekriegt, Maat – ›Viel Spaß!‹ Ich wünsche euch viel Spaß.« Er sah Gerda Stein mit unverhohlener Bewunderung an. »Denk ans Schachspielen – der, der den ersten Zug hat, muß nicht unbedingt gewinnen; er ist nur im Vorteil. Das hast du mir selbst gesagt.« »Quatsch«, antwortete Chris. »Ich sehe Sie bald wieder«, sagte Billy und wies dabei mit dem Zeigefinger auf sie. »Gute Nacht«, sagte Gerda Stein höflich. Billy verließ das Zimmer und dröhnte: »Komm, meine Venus, auf ins Verderben.« Tess Milburn kicherte, und sie gingen hinaus. Mrs. Binns kam gerade die Treppe herunter und blieb an der Haustür stehen. »Du, Tess Milburn«, rief sie in, wie sie hoffte, scherzhaftem Ton, »halt den Jungen nicht die ganze Nacht munter!« Aus der Dunkelheit erklang Billys schallendes Lachen. »Dieser Junge«, seufzte Mrs. Binns, als sie ins Wohnzimmer kam. »Ich sag’ ja immer, das ist ein Bursche. Wenn Sie wollen, können Sie jetzt mit nach oben kommen und sich Ihr Zimmer anschauen, Miss Stein. Ist das da draußen auf der Veranda Ihr Gepäck? Chris, komm, sei ein Kavalier und trag Miss Steins Sachen nach oben.« »Ja, Mama.« Er war froh, etwas zu tun zu haben. Er ging nach draußen und fand das Gepäck, einen großen Koffer und eine Tasche. Den großen Koffer aufzuheben war kein Problem, aber die Tasche wog mindestens fünfzig Pfund, und er ächzte, als er sie hochhob. »Hier«, rief Mrs. Binns, »ich kann dir – « »Nein!« bellte er. »Ich schaffs auch allein.« Mama konnte oder wollte nicht lernen, daß ein Mann vor Fremden keine Demütigungen vertragen konnte.
Er riß das Gepäck mit einem Ruck hoch. Chris stellte sich vor, wie Bill oder irgendein anderer Bursche damit singend die Treppe hinaufgegangen wäre, es auf dem Absatz kurz niedergesetzt und dann mühelos ganz nach oben getragen hätte. Er machte einen Schritt, schwankte, verfing sich in der Drahttür und stieß mit der Tasche geräuschvoll gegen den Pfosten; seine Arme und sein Rücken wollten nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Und so trug er das Gepäck nicht leichtfüßig und singend nach oben, sondern schleppte und wuchtete es hoch und brachte es schließlich unter Schnaufen und Ächzen in das freie Zimmer. Er hoffte inständig, daß er Gerda Stein nicht lächeln sehen würde. Aber Gerda Stein lächelte. Er stellte das Gepäck neben dem Bett nieder und lief blindlings die Treppe hinunter. Mr. Magruder ging gerade bedächtigen Schritts mit der Zeitung unterm Arm ins Wohnzimmer hinüber, und Chris wurde sich bewußt, wie heftig er noch schnaufte, und fragte sich, was das wohl für einen Eindruck machte. Er unterdrückte sein Keuchen und flüchtete sich ins Eßzimmer. Er stand lange Zeit gegen den Tisch gelehnt und versuchte, seine Haltung zurückzugewinnen. Und während sein starrer Blick auf dem kalten Maisbrei ruhte, glitt Chris allmählich in die vertraute Einsamkeit seiner Vorstellungswelt zurück. Maisbrei besteht aus Maiskörnern, die vor dem Kochen trocken sind, Feuchtigkeit aufsaugen, weich werden, sich ausdehnen, dampfen, kalt werden, Feuchtigkeit verlieren, klebrig werden, und wenn man sie lange genug stehen läßt, werden sie hart wie Beton, falls nicht noch mehr Feuchtigkeit hinzukommt. In einer tieferen Schicht sah er die hydroskopischen Molekulargeflechte vor sich, die Wasser aufnahmen, aufgingen und dann wieder Wasser abgaben, um den Kreislauf von neuem zu beginnen. Und noch eine Schicht
tiefer hinab, wo er überall um sich herum die stillen Kräfte der Kapillaranziehung spürte, die unberechenbare Logik der Osmose. Wasser, Wasser, überall… in den Tischbeinen und in der Tischdecke, Wasser, das von den Rändern eines Soßenflecks in die Poren eines Kekses fließt, die ganze Welt, ob trocken oder feucht, hart oder matschig, besteht aus Wasser.
Auf dieser Ebene gab es keine ungeschickten Arme, keine zugeschnürten Kehlen und kein Bemühen um die richtigen gesellschaftlichen Verhaltensweisen, die jedermann mühelos beherrschte, nur Christopher Binns nicht, und er fühlte sich getröstet. »Woran denkst du denn schon wieder, Junge!« Er erwachte aus seinen Träumen und sah sie an. Es ging ihm viel besser. »Ich werde dir beim Abwaschen helfen, Mama.« »Nein, Chris, das brauchst du nicht. Geh ins Wohnzimmer und unterhalte dich ein bißchen mit Mr. Magruder.« Chris lachte bei der Vorstellung leise vor sich hin und begann die gebrauchten Teller aufzustapeln. Seine Mutter ging kopfschüttelnd in die Küche, um das Spülbecken zu säubern. Ihr bekümmerter Ausdruck war nur etwas Äußerliches, eine reine Gewohnheitssache; er spürte die tiefe innere Freude, mit der Billys Anwesenheit sie wie immer erfüllte. Billy kann nichts Schlechtes tun; Billy macht alles gut; ergo: Billy macht nichts Schlechtes gut. Er trug die Teller in die Küche. »Ich geh’ zu Bett, Chris.« »Gute Nacht, Mama.« »Vielen Dank für deine Hilfe, Chris – « Er sah sie fragend an.
»Du bist doch nicht böse auf Billy – ich meine, wegen Tess?« »Weswegen sollte ich böse sein?« »Na, dann ist ja alles gut.« Sie nahm es als Antwort. »Weißt du, er meint es nicht so.« »Klar, Mama.« Er überlegte, wie man diese Bemerkung in einen sinnvollen Zusammenhang mit der Situation bringen könnte, gab aber seine Bemühungen bald auf. Was ihn mehr interessierte, war die Frage, woher er wußte, daß Gerda Stein wieder heruntergekommen und ins Wohnzimmer gegangen war, während er sich in der Küche aufhielt, und daß Mr. Magruder zu Bett gegangen war. Er fragte sich auch, was jemand wie er, der vom Sadimzauber verhext war, mit einer solchen Kenntnis anfangen sollte. Sadimzauber war eine Bezeichnung, die er öfter für sich gebrauchte; Sadim war Midas rückwärts buchstabiert und bedeutete, daß alles, was er anrührte, vor allem Gold, sich sogleich verwandelte in – »Quatsch.« »Was hast du gesagt?« »Nichts. Gute Nacht, Mama.« Sie küßte ihn abwesend und stieg dann müde die Treppe hinauf. Er blieb am Eßzimmertisch stehen und blickte hinunter auf die Zuckerschüssel aus Kristallglas, die auf ihre alten Tage als Behälter für zwei Dutzend Teelöffel diente; sie standen mit den Stielen nach unten darin und sahen aus wie der Brautstrauß einer Roboterbraut aus einem Cartoon. Er betrachtete den ordentlich gedeckten Tisch, die Tassen, die ringsherum mit der Öffnung nach unten auf den Untertassen standen, die Henkel immer genau in einem Winkel von sechzig Grad zur Tischkante; die flachen Frühstücksteller mit dem hundertprozentig reinen Goldrand. In diese Gegenstände konnte er sich nicht versenken. Er konnte nirgendwo unter die Oberfläche dringen. Sein gewohnter Rückzug war durch irgend etwas versperrt, und ihn
ergriff eine seltsame Panik. Er war es nicht gewohnt, auf das Hier und Jetzt beschränkt zu sein, es sei denn, er befand sich in Gesellschaft. Na gut, dachte er. Er ging langsam durch den Vorraum ins Wohnzimmer. Gerda Stein saß auf der Couch. Sie strickte nicht, sie las nicht, sie tat einfach nichts. Sie saß da, als wartete sie auf etwas. Worauf konnte sie nur warten? Er sah sich nach einem geeigneten Platz um, einem Sessel, der nicht zu dicht an der Couch stand (nicht weil er Angst hatte, er könnte aufdringlich sein, sondern weil er sich absolut hilflos fühlen würde, falls sie das annehmen würde) und der auch wieder nicht zu weit entfernt stand (weil es schon spät war und alles schlief und sie leise sprechen mußten, falls sie überhaupt miteinander sprechen würden). »Hier«, sagte sie und legte ihre Hand auf das Kissen neben sich. »Danke, vielen Dank«, sagte er – in seinem eigenen Vaterhaus. Als ihm das Schweigen unerträglich wurde, sah er sie an. Sie blickte ernst zurück, und er wandte den Kopf und betrachtete den Druck mit dem Wächter vor Pompeji, der schon vor seiner Geburt dort an der Wand gehangen hatte. »Woran denken Sie?« Daß Sie das schönste Wesen sind, das ich je gesehen habe. Aber laut sagte er: »Fühlen Sie sich wohl?« Und als der Satz im Raum verklungen war, fügte er mit einer gewissen Hysterie hinzu: »Ich meine, in Ihrem Zimmer?« Sie zuckte die Schultern. Das war sehr vielsagend. Es bedeutete: »Wie ich’s erwartet hatte« und »Ich kann mich nicht beklagen« und »Das ist doch nicht wichtig« und vor allem »Ich werde sowieso nicht so lange hierbleiben, daß ich irgendeine Beziehung zu dem Zimmer entwickeln könnte«.
Hätte irgend jemand auch nur einen von diesen Sätzen laut ausgesprochen, dann hätte er bestimmt protestiert. Bei ihr wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. So schweigend mitgeteilt, wußte er allerdings nichts darauf zu antworten. Er legte die Hände zwischen die Knie und preßte sie unglücklich und aufgeregt zusammen. »Warum ist Ihr Bruder auf die Raumfahrtakademie gegangen?« fragte sie. »Der Kongreßabgeordnete Shellfield hat sich für ihn eingesetzt.« »Das meinte ich nicht.« »Ach so«, sagte er, »Sie meinten, weshalb.« Er sah sie an und mußte wieder den Blick abwenden. »Er wollte es gern, denke ich mir. Er hat es sich immer gewünscht.« »Man kann sich nicht etwas immer gewünscht haben«, sagte sie freundlich. »Wann hat es angefangen?« »Das weiß ich nicht. Vor vielen Jahren. Als wir noch klein waren.« »Und Sie?« »Ich?« Er lachte unsicher. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich jemals etwas Besonderes werden wollte. Mama sagt – « »Ich frag’ mich, wie er darauf gekommen ist.« Er nahm an, daß sie oben in ihrem Zimmer über Billy nachgedacht hatte und heruntergekommen war, um mehr über ihn zu erfahren, und daß sie hier gesessen und darauf gewartet hatte, daß er ihr etwas über ihn erzählte. Unwillkürlich sanken seine Hände mutlos herab. Dann fiel ihm wieder ein, daß sie ihn etwas gefragt hatte. Weshalb wartete sie einfach so, wenn er ihre Fragen nicht beantwortete? »Bevor Billy noch sprechen konnte, haben wir schon Astronauten gespielt«, erinnerte er sich. Er sah zu ihr hinüber und lachte. »Das hatte ich ganz vergessen, ehrlich.«
»Was waren das für Spiele?« »Ach, die üblichen. Raketenflug zum Mond und so. Ich war der Kommandant und er die Mannschaft. Das heißt, zuerst war ich… Ich weiß nicht mehr. Oder ich war das außerirdische Wesen und er der Raumfahrer. Solche Spiele eben.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere mich an die Starts. Wir legten uns auf die Couch und kreischten, wenn die Fahrtbeschleunigung uns den Atem nahm. Mama hatte etwas gegen unser Kreischen.« Sie lachte. »Das kann ich mir vorstellen. Sagen Sie, reden alle Astronauten so wie er?« »Sie meinen sein Gerede von Countdown, Maat, zur Landung ansetzen und so?« Er schwieg lange, bis sie leise fragte: »Wollen Sie es mir nicht erzählen?« »O doch, doch. Ich hab’ nur nachgedacht. Letztes Jahr zu Ostern hat er einen Kadetten von der Akademie mit hierhergebracht, einen Burschen namens Davies. Ein netter Kerl, ruhig, mit pechschwarzem Haar, ein bißchen vornübergebeugt. Ich hatte Billy früher schon so reden hören und dachte, sie sprechen alle so. Aber als ich mit Davies so redete, hat er mich ganz komisch angeschaut« – er machte unwillkürlich Davies’ verdutzten Gesichtsausdruck nach – »so als ob ich nicht alle beisammen hätte.« Er lachte leise vor sich hin. »Wahrscheinlich habe ich es nicht richtig gemacht. Man muß diese Wörter sicher auf eine ganz bestimmte Art aussprechen. Und das kann man wohl nur, wenn man selbst Kadett ist.« »Tatsächlich? Dann sprechen alle Kadetten so?« »Davies nicht. Jedenfalls nicht bei uns. Sonst habe ich noch niemanden von der Weltraumakademie kennengelernt.« »Vielleicht ist Billy der einzige, der so redet.«
An diese Möglichkeit hatte Chris niemals gedacht. »Das würde auf der Akademie sicher einen komischen Eindruck machen.« »Vielleicht macht er es dort nicht.« Chris bewegte den Kopf, wie um diese Vorstellung abzuschütteln. Sie blieb hartnäckig haften. Immerhin wäre es eine Erklärung für das seltsame Verhalten von Kadett Davies, die sein Verstand akzeptieren konnte. An sich hatte er nichts dagegen, ihm gefielen nur die Schlüsse nicht, die er daraus über seinen Bruder ziehen mußte. Er sprach es aus: »Ich möchte nicht so von Billy denken, daß er – daß er so spricht, wie wir mit sieben, acht Jahren gesprochen haben.« »Warum nicht? Wie möchten Sie denn von ihm denken?« »Er erreicht alles, was er will. Er macht, was er will. Das war immer so.« »Und Sie?« »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.« Oder weshalb Sie das fragen und überhaupt all das wissen wollen. Er stellte seine Füße anders, wandte den Kopf und begegnete ihrem offenen, freundlichen, beunruhigenden Lächeln. »Was soll ich Ihnen darauf antworten?« fragte er mit einer Spur Gereiztheit in der Stimme. Sie lehnte sich zurück. Er wußte, weshalb; sie würde ruhig warten. Er war dem nicht gewachsen, deshalb sagte er rasch: »Billy ist nun mal so. Er kann Dinge tun, die ich – oder ein anderer nicht tun kann. Ich bin ihm deswegen nicht böse. Warum sollte man ihm auch böse sein? Das wäre so, als wollte man einem Vogel deswegen böse sein, weil er Flügel hat. Er ist eben einfach anders.« Er merkte, daß er sich von ihrer Frage entfernt hatte, hielt inne, dachte zurück, stellte sie noch einmal. Billy erreicht alles, was er will – und Sie!
Er begann noch einmal: »Es ist ganz in Ordnung, daß Billy alles erreicht, was er sich wünscht, selbst wenn es etwas ist, das ich mir zufällig auch wünsche und nicht bekomme… Wie soll ich das erklären?« Er stand auf und begann im Zimmer herumzugehen, ohne sie dabei anzusehen. Es war so, als ob ihr Anblick ihm Fesseln anlegte, und wenn er die Augen abwandte, waren seine Gedanken wieder frei. »Es ist so, als wäre Billy nicht eine eigene Person, sondern nur die andere Seite von mir. Ein Teil von mir möchte zum Beispiel auf die Weltraumakademie gehen – Billy tut es. Ein Teil von mir möchte mit Tess ausgehen, nicht einfach nur ins Kino, sondern so, daß sie etwas erlebt – Sie wissen schon. Na ja, und dann tut Billy es. Oder dieser Teil von mir möchte so sprechen wie er, so aussehen wie er, ebensoviel Wirbel machen.« Er lachte. Seine Stimme klang fast so zärtlich und stolz wie die seiner Mutter, wenn sie von Billy sprach. »Manchmal kann er einem schon auf die Nerven gehen, aber meistens macht es mir nichts aus. Es gibt so viele andere Dinge, die ich tue und Billy nicht. Der andere Teil von mir tut diese Dinge.« Er warf einen kurzen Blick zu Gerda Stein hinüber. Sie hatte den Kopf gewendet und folgte ihm mit den Augen. Er stand in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, und sie hatte die Wange auf ihren bloßen Arm gebettet wie auf ein Kissen, und ihr schweres glänzendes Haar fiel über die Lehne der Couch. »Was für Dinge sind das?« fragte sie. Er ging zurück und setzte sich wieder neben sie. »Das ist schwer zu erklären. Das ist sehr schwer zu erklären.« Er saß lange Zeit da und versuchte all die Gedanken und Gefühle, die bisher stumm und nur ihm bekannt in seinem Innern gewesen waren, in Worte zu fassen; all die Dinge, die er beiseite geschoben hatte, wenn er mit Tess sprach, all die
Dinge, mit denen er sich den größten Teil seiner Zeit beschäftigte, wenn er mit anderen sprechen mußte und sich nicht mitteilen konnte. Er saß da und bemühte sich, Worte dafür zu finden, während sie geduldig wartete. Ihr Warten war für ihn keine Qual mehr. Aber darüber machte er sich jetzt noch keine Gedanken. »Am ehesten läßt es sich wohl so ausdrücken«, sagte er schließlich. »Ich habe etwas herausgefunden, das allem, worüber man jemals nachdenkt, zugrunde liegt, woran alles Denken früher oder später stößt und wovon es ausgeht. Ein ganz einfacher Satz… Warten Sie.« Er sagte sich seinen einfachen Satz im Geiste vor und wägte ihn lange prüfend ab. Dann sagte er bedächtig: »Nichts ist immer so, wie es ist.« Er wandte sich zu ihr. Sie nickte ihm aufmunternd zu, sagte aber nichts. »Das ist eine große Hilfe«, sagte er. »Ich weiß nicht, wann ich zum erstenmal darauf gekommen bin. Es muß schon lange her sein. Es hilft einem im Umgang mit den Leuten. Ich meine, die ganze Welt besteht aus Vorstellungen, von denen die Leute sagen, sie seien so, wie sie sind, und die meisten Schwierigkeiten entstehen dadurch, daß die Leute entdecken, daß irgend etwas in ihrer Umgebung eben nicht so ist. Oder nicht mehr so ist. Oder annähernd so, aber nicht genau so, wie sie es sich vorgestellt hatten.« Nachdem Gerda Stein ihm wieder ermunternd zugenickt hatte, fuhr er fort: »Nichts ist immer so, wie es ist. Wenn man das einmal weiß, ganz sicher weiß, kann man Dinge tun oder in Regionen gelangen, an die man vorher nie gedacht hat. Alles, was existiert, zeigt einem einen Punkt, an den man gelangen, etwas, worüber man nachdenken kann. Alles. Nehmen Sie – einen Messingnagel beispielsweise. Er ist aus Messing; damit beginnen Sie. Was für Messing? Eine Legierung. Welche Veränderung des Anteils welchen Metalls
würde bewirken, daß es nicht mehr Messing ist? Oder würde, wenn die Zeit lang genug ist, der radioaktive Zerfall eines der Metalle die ganze Legierung so verändern, daß man nicht mehr von Messing sprechen kann? Oder betrachten wir die Größe des Nagels. Wie groß ist er? Hängt das nicht von den Umständen ab? Wenn er gebraucht worden ist, dann ist er kleiner als vorher, als er noch neu war. Welche Farbe hat er? Das hängt auch wieder von den Umständen ab. Mit anderen Worten, wenn Sie mir diesen Nagel genau beschreiben wollen, dann müssen sie ihn charakterisieren und definieren und tausend Spekulationen darüber anstellen. Und dann brauche ich nur einen Schweißtropfen auf diesen Nagel fallen zu lassen und vierundzwanzig Stunden zu warten, und Sie müssen mit Ihren Spekulationen von vorn anfangen. Oder gehen wir eine Ebene tiefer. Lassen Sie elektrischen Strom durch meinen Nagel. Kupfer hat einen Widerstand von einer bestimmten Stärke, Zink einen anderen und Eisen wieder einen anderen. Mit welcher Geschwindigkeit wird sich elektrischer Strom durch dieses Durcheinander bewegen, und wie verhalten sich die einzelnen Atome? Oder stellen Sie den Nagel in ein starkes magnetisches Feld. Weshalb ist das Kupfer in einer Messinglegierung so wenig und in einer Aluminiumlegierung so stark magnetisch? Man sagt einfach: ›So ist es eben‹ und fragt nicht weiter.« Er hielt inne, um Atem zu holen. Er atmete schwer. Das erinnerte ihn daran, wie sie gelächelt hatte, als er mit ihrem Gepäck in ihr Zimmer gekommen war. Ihm wurde plötzlich klar, daß er dieses Lächeln vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Er hatte Angst davor gehabt, weil er dazu neigte, vor jedem Lächeln Angst zu haben. Jetzt wußte er, daß es kein gewöhnliches Lächeln war, sondern ein ganz
bestimmtes – freundlich, ermutigend, so ähnlich wie das Lächeln, das Tess Milburn heute abend gezeigt hatte. »Wenn ich sage, nichts ist immer so, wie es ist, dann meine ich damit folgendes: Man braucht eigentlich die Gesellschaft von Leuten und das ganze Drumherum gar nicht: Kino, Fernsehen, Unterhaltung. Jedenfalls stundenlang und tagelang nicht. Man braucht die Menschen deswegen nicht gleich zu hassen; ganz und gar nicht. Ihre Sorgen und Probleme sind nur einfach nicht so wichtig. Man antwortet ihnen darauf nur: ›Nichts ist immer so, wie es ist‹ und wendet sich etwas anderem zu. Doch wenn man sieht, daß die nasse Hälfte eines Handtuchs dunkler ist als die trockene Hälfte, oder wenn das Geräusch einer herabfallenden Bombe immer tiefer wird, obwohl der gesunde Menschenverstand einem sagt, daß es eigentlich höher werden müßte, und wenn man weiß, wo man damit beginnt ›Warum?‹ zu fragen und wo man damit endet, sich zu sagen ›Nichts ist immer so, wie es ist‹, und sich dann zwingt, eine vernünftige Beziehung zwischen Anfang und Ende herzustellen – dann hat man genug zu tun und weiß, wohin man gelangen kann.« »Ist das nicht eine Art Flucht?« fragte das Mädchen ruhig. »Das hängt davon ab, wo man gerade steht. Wenn man sich mit den Problemen der Menschen herumschlägt, könnte das eine Flucht vor diesen Dingen sein. Obwohl diese anderen Dinge auch menschliche Probleme sind.« »Meinen Sie?« »Es hat sich herausgestellt, daß die Formel E = MC2 richtig ist. Zuerst mußte es gedacht werden, wobei das Denken selbst die einzig greifbare Belohnung für die Anstrengung war, danach mußte es angewandt werden, aber sagen Sie nicht, das ist kein menschliches Problem! Jemand muß beispielsweise zum allererstenmal Ananasscheiben auf ein Stück Schinken
gelegt haben, bevor er es gebacken hat! Oder eine rohe Auster probiert haben. Das ist die Art zu denken, von der ich spreche!« Um das zu betonen, ließ er seine Hand auf die Lehne der Couch herunterfallen – genau auf ihre Hand. »Und deshalb ist Billy auf dieser Raumfahrtakademie, weil nämlich zuerst ein Mensch und dann einige wenige und dann die ganze Menschheit nach mehr Raum verlangten.« Sie legte ihre Finger um seine Hand und blickte nachdenklich darauf nieder. »Eine gute Hand«, sagte sie mit unpersönlicher Stimme und ließ sie wieder los. »Hm? Mit all den Brandspuren und dem eingewachsenen Schmutz…« Er hielt seine Hand so, als ob sie nicht mehr ganz ihm gehörte. Und so ist es auch, dachte er überrascht. »Sagen Sie mir, ist die Weltraumakademie das richtige, wenn man Raumfahrer werden will?« »Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte er bestimmt, und nach einiger Überlegung fügte er hinzu: »Im Augenblick jedenfalls.« Sie richtete sich plötzlich auf und beugte sich vor. Und als sie sich zu ihm wandte, warf sie ihr Haar zurück – eine Geste, die er nie vergessen würde. »Das finde ich erstaunlich«, sagte sie. »Ich finde es erstaunlich, daß man Männer körperlich trainiert, bis sie ganz Muskeln und Energie sind, nur um sie dann monatelang in eine enge Kabine einzupferchen. Ich finde es seltsam, daß man sie in Navigation schult, wo die einfachsten Computer diese Aufgabe besser erfüllen, aber nicht in Konversation, wofür es noch keine Maschinen gibt. Ich frage mich, was man sich dabei gedacht hat, nur Männer als Besatzung für diese Raumschiffe auszuwählen. Ich frage mich, wozu es gut ist, Männer IOG-Stress-Tests zu unterwerfen, die an die Schwerelosigkeit gewöhnt werden müssen, bevor sie überhaupt daran denken können, eine wirkliche Raumfahrt zu
unternehmen. Und vor allem wundert es mich, daß man gerade extravertierte Männer für solche Unternehmen auswählt.« Sie lehnte sich wieder zurück und sah ihn fragend an. »Na gut«, sagte er, »spielen wir das einmal durch. Alles, was Ihnen mißfällt, wäre genau umgekehrt. Wollen Sie Ihre Raumschiffe vielleicht mit schwächlichen Bücherwürmern bemannen? Wollen Sie sie in Philosophie und Konversation im Stil des achtzehnten Jahrhunderts unterrichten? Ihnen beibringen, sich vollkommen auf ihre Computer zu verlassen und niemals zu wissen, was die Maschinen tun? Wollen Sie der Besatzung Frauen mitgeben, damit die Männer eifersüchtig werden und anfangen, sich um sie zu schlagen? Wollen Sie wirklich grübelnde Introvertierte mitsamt ihren Neurosen in die Raumschiffe stecken?« »Neurosen«, wiederholte sie. »Gut, daß Sie das erwähnt haben. Sie sind sicher der Ansicht, daß die Menschheit insgesamt ziemlich neurotisch ist.« »Ja, wenn Sie Ihre Definition – « »Ach, lassen wir die Bestimmungen und Modifikationen«, unterbrach sie ihn. Ihre Stimme hatte jetzt etwas Knappes, Gedrängtes, das ihn ebenso betroffen machte wie der erste Blick in ihr Gesicht, als sie unter der Verandatür gestanden hatte. Er schwieg. »Ja, die Menschen sind neurotisch«, beantwortete sie ihre eigene Frage. »Unsicher, richtungslos, unbefriedigt, ängstlich, voll Aggressionen gegeneinander, sie fürchten ständig, angegriffen zu werden, ständig, mißverstanden zu werden, immer hin- und hergerissen zwischen dem Drang, sich wie ein Vogel in die Luft zu erheben, und dem anderen, sich wie ein Maulwurf in die Erde einzugraben. Woher mag das kommen?« Er schüttelte nur verwirrt den Kopf. »Sie haben eine sehr eigenartige Denkweise, Chris, mit all Ihren Hypothesen und tieferen Ebenen und gegensätzlichen
Atomen. Können Sie eine ganz große Hypothese nach vollziehen?« »Ich kann es versuchen.« »Hypothese«, sagte sie; es klang wie der Titel einer Geschichte. »Nehmen wir eine Rasse von hochzivilisierten Wesen an, die die Raumfahrt entdeckt haben, weil sie von allen Wesen am geeignetsten dafür waren. Diese Rasse hat zuerst in einem Sonnensystem, dann im nächsten und so immer weiter über ganze Galaxien hinweg ein Verkehrs- und Kommunikationsnetz eingerichtet. Sie besaß subätherische Kommunikationsmittel, die Fähigkeit, schwerelos und mit Überlichtgeschwindigkeit zu reisen, Mittel, die Angehörigen ihrer Rasse nach Bedarf in Scheintod zu versetzen – aber wozu soll ich alle ihre Errungenschaften aufzählen? Es war eine technisch hochbegabte Rasse, und diese Begabung war nur ein Teil ihrer allgemeinen Bestimmung zur Raumfahrt. Da diese Wesen ihren Wirkungsbereich immer mehr ausdehnten, mußten sie sich entsprechend verstreuen. Sie versuchten das zu verhindern, indem sie lernten, sich rascher zu vermehren, und indem sie ihre Raumschiffe besser ausrüsteten und die Besatzung so klein wie möglich hielten. Aber alle diese Maßnahmen führten nur dazu, daß sie sich noch mehr verstreuten; im Universum gibt es ungeheuer viel zu tun für diese Rasse, die für diese Aufgabe allein berufen ist. Der einzige Ausweg bestand darin, daß sie Planeten ausfindig machten, die den Bedingungen ihres Heimatplaneten entsprachen, und sie besiedelten. Auf diese Weise konnten sie überall im erforschten Universum neue Mannschaften heranbilden. Das beste Mittel war, auf geeigneten Planeten mit großen Raumschiffen zu landen, die mit allem ausgerüstet waren, was nötig war, um sechs oder sieben Generationen großzuziehen und sich in dieser Zeit an die neuen Bedingungen anzupassen. Danach sollten die Kolonien in der
Lage sein, sich selbst zu erhalten. So sieht es überall aus, ich meine, das ist die Hypothese. Können Sie mir folgen?« »Nein«, sagte Chris benommen, »aber fahren Sie fort.« Sie lachte. »Angenommen, eines dieser großen Raumschiffe käme in Schwierigkeiten – eine unwahrscheinliche Anzahl unglücklicher Zufälle würde dazu führen, daß bei Überlichtgeschwindigkeit und während die gesamte Besatzung im Scheintod ruht der Kontrollmechanismus versagt, so daß das Raumschiff orientierungslos im All herumgetrieben würde. Jahrhunderte vergehen. Wenn das Raumschiff auf eine Galaxis treffen würde, dann würde ein anderer Mechanismus sofort den richtigen Planeten aussuchen, aber es trifft auf keine, bis schließlich – « Ihre Stimme versagte. Chris sah sie an, beugte sich näher zu ihr. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete ganz tief und langsam. Als hätte sie seine Nähe gespürt, öffnete sie plötzlich die Augen und lächelte schmerzlich. »Entschuldigung«, murmelte sie und nahm seine Hand, damit er nicht wieder wegrückte. »Jetzt kommt der Teil der Geschichte, an den ich gar nicht gern denke.« Einen Augenblick flossen alle Empfindungen in Chris’ Hand zusammen und strömten in ihre über. Dann begann sie wieder zu sprechen. »Das Raumschiff war inzwischen schon sehr alt und seine Maschinen in schlechtem Zustand. Es stieß auf eine Galaxis und nach einiger Zeit auf einen geeigneten Planeten. Es verlangsamte seine Geschwindigkeit, setzte die Gestatoren in Betrieb…« »Gestatoren?« wiederholte er verständnislos. »Das sind künstliche Plazentas. Es ist leichter, befruchtete Eier und Nährboden durch den Weltraum zu befördern als Kinder oder Erwachsene. Doch die Wiederbelebungsgeräte für die Scheintoten versagten – zu achtundneunzig Prozent etwa.«
Sie seufzte traurig. »Keiner weiß, was tatsächlich geschehen ist. Das Raumschiff war für eine harte Landung nicht ausgerüstet. Aber die wenigen, die vom Scheintod wiedererwacht waren, landeten es schließlich doch irgendwie. Beim Aufprall kamen noch mehr um – fast alle wohl. Die Erkundungsschiffe, die Fähren – alles wurde vernichtet. Vorräte, Bücher – sagen wir ruhig, Bücher, das ist einfacher – alles ging verloren. Und alles, was übrigblieb… waren ein paar hundert hilflose, hungrige Babys und ein paar verletzte Erwachsene, die für sie sorgen sollten. Das Raumschiff blieb nicht lange erhalten; seine Oberfläche war gegen die ätzende Wirkung der Sauerstoffatmosphäre nicht gefeit. Die ungeschützten Erkundungsboote waren ebenfalls in wenigen Wochen zerstört. Aber diese Rasse ist zäh. Von denen, die auf diesem Planeten gelandet waren, gingen die meisten zugrunde, aber nicht alle. Dieser Fall mag manchem als ein schönes Studienobjekt erscheinen, an dem sich der alte Streit, ob Vererbung oder Umwelteinfluß den Vorrang haben, gut exemplifizieren ließe; ich persönlich hätte nicht die Nerven dazu. Sie hatten alles verloren – ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Überlieferungen und ihre jahrhundertelang geübten Fähigkeiten. Nur ihre Erbanlagen blieben erhalten. Und nach einiger Zeit zeichneten diese Wilden sich durch zwei Hauptmerkmale aus, die sie ihrer Vererbung verdankten: Sie vermehrten sich in erstaunlichem Maß, und sie griffen nach den Sternen. Im Unterschied zu allen bekannten zivilisierten Rassen vermehrten sie sich so rasch, daß das Land, auf dem sie lebten, sie nicht mehr zu ernähren vermochte, vermehrten sich immer weiter, bis sie einander umbringen mußten, um überleben zu können. Diese Fähigkeit, die ihre Rasse entwickelt hatte, weil ihr Lebensraum unbegrenzt war, erwies sich als verderblich für sie, die nun auf einen Planeten beschränkt waren. Sie
vermehrten sich, brachten sich gegenseitig um und vermehrten sich dafür um so rascher, so daß sie in ziemlich kurzer Zeit – in zwanzig- bis zweiundzwanzigtausend Jahren – von einem Dutzend zu Milliarden geworden waren und den Planeten mit ihren Körpern zu bedecken drohten. Inzwischen hatte ihr selbstmörderischer Drang, sich zu vermehren, sich in ihren Sitten und in ihrer Literatur niedergeschlagen und eine Kultur geschaffen, die unter den galaktischen Kulturen einzigartig war. Doch sie hörten nicht auf, nach den Sternen zu greifen. Sie fanden für ihre Sehnsucht tausend Entschuldigungen, und als sie für Entschuldigungen zu vernünftig geworden waren, ließen sie sie sein und strebten weiter nach den Sternen. Und heute sind sie dicht an die Grenze gelangt, ganz aus eigener Kraft, quälen sich in ihrer ängstlichen und beängstigenden Art ab, ohne etwas von ihrem Ursprung zu wissen und ohne den dunklen Drang, der sie zu den Sternen treibt, enträtseln zu können… ja, Chris, eine neurotische Rasse.« Nach einiger Zeit sagte Chris: »Woher wissen Sie – äh, wo haben Sie das gelesen…« Sie lachte und blickte wieder auf seine Hand nieder. Sie legte ihre freie Hand darauf und hielt sie einen Augenblick so fest. »Das war doch nur eine Hypothese, nicht wahr?« Er erschauerte; ihre eindringliche Stimme und die Bilder, die sie beschworen hatte, taten nachträglich ihre Wirkung. Es war eine angenehme Empfindung. »Werden sie… haben sie ihre Stammrasse jemals wiedergefunden?« »Sie sind gefunden worden. Die Verbindung wurde – äh, vor vierhundert Jahren hergestellt.« Chris stieß geräuschvoll den Atem aus. »Dann handelt es sich also nicht – « Er blickte forschend in ihr Gesicht. Selbst jetzt
hatte er noch Angst davor, wie ihr Lachen klingen würde. »… um die Erde?« schloß er leise. »Nein?« »Vierhundert Jahre… jeder würde es wissen.« Sie schüttelte ernst den Kopf. »Überlegen Sie mal: Zwanzigtausend Jahre lang sind die ursprünglichen Anlagen Mutationen und Anpassungsprozessen unterworfen gewesen. Die alten Anlagen sind vielleicht noch da – statistisch gesehen. Aber rechnen Sie sich selbst aus, wie groß die Chance ist, nach so langer Zeit noch auf einen hundertprozentigen Weltraumeroberer zu stoßen. Bei den Massen werden die nötigen Anlagen nur noch schwach, bei einigen wenigen werden sie auch stärker ausgeprägt sein. Und nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung müßten auch einzelne zu finden sein, bei denen sie voll ausgebildet sind. Aber wenn Sie Kapitän wären und nach einer Mannschaft suchten, wie würden Sie es anstellen, den richtigen Mann herauszufinden?« »Sie haben ihn doch schon charakterisiert – als Neurotiker.« »Das reicht nicht aus. Es muß eine ganz spezielle Neurose sein. Das ist nicht so leicht herauszufinden.« »Dann müßte man damit eben an die Öffentlichkeit treten, eine Werbekampagne starten, Trainingsprogramme entwerfen – « »Und was glauben Sie würde passieren, wenn die Öffentlichkeit von der Existenz des Weltraummenschen erfährt?« »Wahrscheinlich würde es einen Aufruhr geben – alle würden mitmachen wollen.« »Stimmt, es würde einen Aufruhr geben«, sagte sie traurig, »aber nicht so, wie Sie denken. Die Menschen haben große Angst vor dem Unbekannten. Diese Angst hat sich während ihrer langen Entwicklung auf einem fremden, gefährlichen
Planeten herausgebildet, wo sie all ihre Klugheit gebrauchen mußten, um sich zu behaupten.« »Angst vor – « » – dem Fremden. Xenophobia – eine Krankheit der gesamten Menschheit. Sie läuft wie ein roter Faden durch die Geschichte, mal offen, mal verdeckt, aber immer bereit, wie ein schwelendes Feuer erneut auszubrechen. Zuerst würde man die Weltraummenschen angreifen, und dann würde eine Hexenjagd beginnen, wie sie selbst auf diesem Planeten noch nicht vorgekommen ist. Zuerst würde man nur diejenigen verfolgen, in denen sich die Anlagen zum Weltraumeroberer rein erhalten haben, obwohl sie auf der Erde geboren sind; dann alle, bei denen sich Reste dieser Anlagen zeigen – und das kann praktisch jeder sein!« »Das glaube ich einfach nicht«, protestierte Chris. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Menschen so dumm sind.« »Die Menschen haben bisher noch nie etwas unternommen, um ihrem Elend zu entkommen«, sagte Gerda Stein bekümmert. »Nein, öffentlich geht es nicht.« »Was hat man denn in diesen vierhundert Jahren gemacht?« »Man hat die Erde beobachtet«, sagte sie. »Die Weltraummenschen brauchen dringend neue Mannschaften, vor allem in dieser Galaxis, die für sie praktisch noch Neuland ist. Deshalb leben einige Weltraummenschen hier unter euch, und ab und zu stoßen sie auf einen brauchbaren Kandidaten. Er wird solange beobachtet, bis sich herausstellt, ob er wirklich geeignet ist.« »Wie muß er denn sein?« fragte er: »Sie haben ihn vorhin ganz gut beschrieben.« »Der introvertierte Neurotiker?« »Mit computertechnischen Fähigkeiten und einem ausgeprägten Innenleben, so daß er weder Bücher noch
Fernsehen, noch Vergnügungen oder Ausschweifungen braucht, um sich die Langeweile zu vertreiben.« »Und was geschieht, wenn so einer gefunden wird?« »Der – Agent erstattet Bericht, und nach einiger Zeit taucht der Kapitän eines Raumschiffs bei ihm auf. Wenn der Kandidat einverstanden ist, geht er mit. Er verschwindet einfach von der Erde.« »Er muß also einverstanden sein.« »Selbstverständlich! Welchen Nutzen hätte es wohl, jemanden gegen seinen Willen zu entführen?« »Es wäre doch immerhin denkbar – jedenfalls ist es sehr beruhigend«, sagte Chris steif. Sie begann zu lachen. Es war kein verletzendes Lachen. Er war davon so entwaffnet, daß er ihr, ohne es beabsichtigt zu haben, noch eine Frage stellte. »Warum wollten Sie das alles über Billy wissen?« »Können Sie sich das nicht denken?« Er sah auf seine Hände nieder und sagte ein wenig mürrisch: »Sie scheinen zu glauben, daß Billy nie etwas aus eigenem Antrieb gemacht hat. Sie glauben anscheinend, daß er das nicht kann. Sie – ich hab’ das Gefühl, Sie glauben, er läßt sich durch andere bestimmen.« Er sah kurz zu ihr hin. »Zum Beispiel durch mich!« »Und Sie glauben das nicht?« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Wenn ich das glauben würde, dann – könnte ich auch alles übrige, was Sie gesagt haben, glauben.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Warum versuchen Sie nicht herauszufinden, wer von uns beiden recht hat?« Er dachte lange Zeit schweigend nach. »Das werde ich«, flüsterte er schließlich. »Das werde ich.« Er hob den Kopf und sah sie an. »Gerda, wo kommen Sie eigentlich her?«
Sie stand auf und reckte sich. »Von einem kleinen Ort namens Port Elizabeth«, sagte sie. »Nicht sehr weit von hier, Port Elizabeth in New Jersey.« »Oh.« Sie lachte wieder und gab ihm die Hand. »Gute Nacht, Chris. Können wir uns morgen weiter darüber unterhalten?« Er schüttelte den Kopf. »Erst wenn ich richtig darüber nachgedacht habe.« »Das werden Sie.« Er sah ihr nach, wie sie durch den Vorraum zur Treppe ging. Sie legte eine Hand auf das Geländer und winkte ihm mit der anderen; dabei blinzelte sie ihm in einer Art zu, die er ebensowenig würde vergessen können wie das plötzliche Zurückwerfen ihres Haars, als sie sich zu ihm gewandt hatte. Er war nicht in der Lage, ihr zuzuwinken oder sonst etwas zu tun. Lange nachdem sie oben ihre Tür geschlossen hatte, stand er noch reglos im Wohnzimmer und starrte zur Treppe. Schließlich riß er sich los, schaltete im Wohnzimmer das Licht aus und knipste für Billy die Verandabeleuchtung an. Dann ging er nach oben in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Er zog sich langsam und abwesend aus und betrachtete dabei das Zimmer, als sähe er es zum erstenmal. Das Planetarium, das er mit zehn Jahren zu bauen angefangen hatte und das Billy ihm dann weggenommen und fertiggebaut hatte, alles bis auf die Ausmalung, die Chris zu Ende geführt hatte, weil Billy die Lust verloren hatte. Die beiden Karten, auf denen das Sonnensystem abgebildet war, die nördliche Himmelskarte über Billys Bett und die südliche über seinem. Und die Mondkarte des Smithsonian Instituts, die Chris an die Decke geklebt hatte und die Billy, wohl weil er nicht um Rat gefragt worden war, wieder abgenommen und an eine andere Stelle geklebt hatte, so daß
Chris die erste Stelle übertünchen mußte. Die Raumschiffe und Billys Raumfahrerhelm. (Hatte Chris ihn nicht zu seinem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen? Aber irgendwie war aus »deinem« Helm »unser« Helm und später »mein« Helm geworden.) Jedenfalls hatte alles, worauf das Auge fiel, mit Raumfahrt zu tun, und da Raumfahrt Billy bedeutete, war alles in diesem Zimmer irgendwie Billy. Und Billy war erst so kurz zurück, daß er noch nicht einmal seine Tasche geöffnet hatte. Chris fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen, ein bißchen spät allerdings. Jahre zu spät. Er legte sich auf seinem Bett zurück und grinste, dann stand er auf und knipste die Schreibtischlampe an. Er ging ins Bad, holte sich ein großes Stück weiße Seife, breitete eine Zeitung über den Schreibtisch und begann mit dem Taschenmesser die Seife zu bearbeiten und daraus den Kopf einer Katze zu modellieren.
Billy kam gegen zwei heim. Er trampelte laut gähnend die Treppe herauf, riß die Tür auf und stieß sie achtlos zu. »Du hättest nicht auf mich zu warten brauchen, Maat«, sagte er scherzend. »Das hab’ ich nicht.« Chris stand auf, legte das Taschenmesser auf den Schreibtisch und ging zu seinem Bett. Billy nahm sein Cape ab und warf es auf einen Stuhl. »Also, die Kleine hab’ ich sauber aus der Umlaufbahn herausgebracht, Maat. Du kannst deinen Meteoritensichtschirm abschalten. Die kann dir nicht mehr in die Quere kommen.« »Weshalb machst du dir meinetwegen soviel Umstände?« fragte Chris müde. »Du meinst, wegen Mama«, sagte Billy, während er seine Raumfahrerstiefel abstreifte. »Du hättest Mama nicht so aufregen sollen.«
»So – wie?« »Ihrer Berechnung nach wärst du unweigerlich mit der kleinen Heartburn zusammengeprallt. Aber Billy hat das in Ordnung gebracht. Sie wird auf ihrem Sichtschirm von nun an nur noch Raumfahrerblau sehen.« Er ging zu seinem Cape und hängte es sorgfältig über die Stuhllehne. »Es ist gar nicht meine Person, verstehst du, Maat. Es ist nur einfach so, daß kein Mann mit einen: Kadetten des Raumfahrerkorps’ konkurrieren kann. Jedenfalls nicht, wenn Venus das Ziel ist«, sagte er mit schwer erkämpfter Bescheidenheit. Chris merkte, daß er im Geist schon ein anderes Thema ansteuerte, bevor er den Satz noch zu Ende geführt hatte. »Was hast du denn zuwege gebracht?« »Zuwege gebracht? Oh – Miss Stein.« »Oh – Miss Stein. Sei gewarnt, Maat – das ist das nächste Ziel.« Chris legte sich zurück und schloß die Augen. »Bist du eigentlich nie zufrieden?« »Sieh mal, Maat«, sagte Billy über die Schulter gewandt, »das Wort zufrieden hat es an Bord bis jetzt noch nicht gegeben. Ich erledige diese Dinge sauber und ehrlich, den Kompaß nach der Längsachse des Raumschiffs ausgerichtet, die Nadel in Fahrtrichtung. So ist es kurz und schmerzlos. Die heutige Unternehmung war für dich und für Mama. Die morgige wird zu meinem eigenen Vergnügen stattfinden. Aus und vorbei.« Er klappte geräuschvoll seinen Koffer auf und zog einen Pyjama heraus. In diesem Augenblick entdeckte er das geschnitzte Stück Seife. »Was hast du denn damit vor, Maat?« »Nichts«, antwortete Chris mit ebenso müder Stimme wie zuvor, doch er beobachtete seinen Bruder dabei wachsam wie ein Luchs.
»Ach, du hast Seife geschnitzt. Ich wollte schon immer gern wissen, wie man das macht.« Er beugte sich über die Figur und begann plötzlich zu lachen. Es war dieses ganz bestimmte Lachen. »Höchste Zeit, daß wir uns ein neues Hobby zulegen. Gar nicht so schlecht für den Anfang.« Er rückte die Schreibtischlampe vor und zurück, um die Schattenwirkung auszuprobieren. »Ich glaub’, man muß es noch etwas abrunden. Das ist doch okay, wenn ich das mache, nicht, Chris?« »Ich wollte es eigentlich morgen zu Ende – « »Ach, das macht nichts. Du wirst gar nicht merken, daß ich es überhaupt angerührt habe.« Er hatte Chris schon nicht mehr zugehört, während Chris noch sprach, hörte sich selbst nicht mehr zu, während er seinen Satz beendete. Er beugte sich vor und berührte die Schnitzerei mit der Messerspitze, dann noch einmal. Er beugte sich tiefer hinab und überlegte. Dann setzte er sich plötzlich nieder, stützte die Ellbogen fest auf die Tischplatte, rückte die Lampe etwas näher heran und begann zu arbeiten. Hinter ihm nickte Chris und überließ sich dann lächelnd seinen Gedanken. Er wußte nun, wer von ihnen mit allen Sachen angefangen (und sie normalerweise auch zu Ende geführt) hatte. Bald darauf war er eingeschlafen.
Mr. Magruder hatte die Gewohnheit, ohne Frühstück das Haus zu verlassen und mit seinem alten, prunkvollen und etwas lächerlich wirkenden Buick Baujahr 1961 in die Stadt zu fahren, wo er sich den Tee im Büro servieren ließ. Er tat das zu so unglaublich früher Morgenstunde, daß sein stillschweigendes Angebot, jeden mitzunehmen, der in die Stadt wollte, gewöhnlich von keinem in Anspruch genommen wurde.
Aber heute war ein Ausnahmetag. Mrs. Binns protestierte zwar höflich gegen diese Veränderung, doch innerlich freute sie sich. Billy schlief noch, weil er sich in seinem Zimmer bis in den Morgen hinein mit etwas beschäftigt hatte, und nun konnte sie sich Zeit lassen und für ihn ein wirklich prächtiges Frühstück zusammenstellen. Und Chris, der heute morgen ungewöhnlich strahlend und frisch aussah, reichte Gerda Stein den Arm, als sie die Eingangsstufen hinunterging, und öffnete ihr die chromglänzende Tür des altmodischen Buick. Sobald sie angefahren waren, holte Chris tief Luft und sagte: »Ich bin sicher, daß Sie Miss Stein heute nicht brauchen werden, Mr. Magruder.« Der alte Mann antwortete nicht, sondern fuhr in gleichmäßig langsamem Tempo weiter. Gerda Stein sah Chris prüfend an. Zwei Häuserblocks lang sagte keiner von ihnen etwas. »Außerdem«, fuhr Chris mit sicherer Stimme fort, »wäre es sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie jemandem in Ihrem Büro den Auftrag geben würden, so um viertel nach neun in meinem Betrieb anzurufen und zu sagen, daß ich heute nicht komme. Ich könnte es auch selber tun, aber ich möchte nicht mehr daran denken müssen.« Mr. Magruder nahm den Fuß vom Gaspedal und ließ den Wagen langsam am Rinnstein ausrollen, bevor er auf die Bremse trat. Währenddessen herrschte Schweigen. Chris öffnete die Wagentür und half Gerda Stein heraus. Er schloß die Tür. »Vielen Dank, Mr. Magruder.« Sobald der Wagen außer Sicht war, begann Chris wie verrückt zu lachen. Gerda Stein hielt sich an ihm fest oder stützte ihn und begann nach einiger Zeit ebenfalls zu lachen. »Was ist eigentlich los?« fragte sie, als sie wieder reden konnte.
Chris wischte sich die Augen. »Ich weiß auch nicht. Es war wohl einfach zuviel… zuviel von allem.« Er streckte impulsiv die Hand aus und strich ihr über die Wange. Sie hielt still, während er das tat, und als er seine Hand zurückzog, sagte sie: »Guten Morgen, du.« Er hätte auch gern etwas Entsprechendes gesagt, aber nach zwei vergeblichen Versuchen brachte er nur heraus: »FFrühstück« und sie lachten gemeinsam und marschierten los. Chris hielt ihre Hand fest unter seinen Arm geklemmt. Sie hielt mit ihm Schritt. »Kann man in einem Raumschiff auch tanzen?« fragte er. »Mit langsamen Umdrehungen«, antwortete sie und blinzelte ihm zu. Sie bestellten Waffeln mit Sirup und Kaffee. Er hing seinen Gedanken nach und lächelte, und sie betrachtete sein Gesicht. Nachdem sie fertig waren und neuen Kaffee bestellt hatten, sagte er: »Und jetzt ein paar Fragen.« »Nur zu.« »Du hast gesagt, daß das Raumschiff vor fünfundzwanzigtausend Jahren hier gelandet ist. Aber wie erklärst du dir den Pekingmenschen und den Australopithecus und so weiter?« »Die sind auf der Erde entstanden.« Sie berührte emphatisch seine Hand. »Chris, wenn du in galaktischen oder noch weiteren Dimensionen denkst, dann wirst du es verstehen. Wenn so ein Planet wie dieser ausgesucht wird, dann weiß man darüber auch genau Bescheid. In multigalaktischen Dimensionen gesehen, gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Der Homo sapiens oder so etwas ähnliches wie er existiert auf vielen dieser Planeten, wenn nicht gar auf den meisten. Auf der Erde haben sie sich vielleicht sogar vermischt. Wir wissen es nicht genau, aber so etwas ist schon vorgekommen. So oder so, jedenfalls hat die
Anwesenheit des Raummenschen den anderen Rassen nicht gerade gutgetan. Wenn so ein Raummensch in seinem Element lebt, ist er sehr nett und umgänglich, aber in großen Massen können sie sehr unangenehm sein.« »Na gut, und jetzt noch einmal zu dieser Neurosensache. Weshalb sollte ein Raummensch, der auf einem Planeten lebt, so gestört sein? Ich stelle ihn mir eigentlich ziemlich anpassungsfähig vor.« »Das ist er auch! Er hat ja schließlich fünfundzwanzigtausend Jahre hier überlebt. Aber die Neurosen sind leicht zu verstehen, wenn man seine Urtriebe kennt. Sieh mal: Ein Drang, der mehr als alle anderen Triebe des Menschen, mehr sogar noch als die Sexualität verlacht, verhöhnt und abgelehnt wird, ist die Sehnsucht, sich in den Mutterleib zurückzuflüchten. Introspektion und Introversion, Agoraphobie und was weiß ich noch alles, von der lächerlichsten Form – daß ein Mann zum Beispiel nur dann in seinem Büro arbeiten kann, wenn er mit dem Rücken zur Wand sitzt – bis hinauf zu der sublimsten – der Nirwana-Vorstellung beispielsweise –, das alles läßt sich zurückführen auf die Sehnsucht nach der schützenden und nährenden Geborgenheit des Mutterleibs. Sobald man erkannt hat, daß der Mutterleib selbst nur ein Symbol für diesen anderen Urtrieb ist, dann braucht man keine weiteren Erklärungen mehr, nicht wahr?« »Verdammt«, flüsterte Chris. »Ein weiterer Konflikt betrifft das Verhältnis zu anderen Menschen, obwohl einige von uns in bewundernswerter Weise mit sich allein auskommen können. Aber welches ist die idealste Form des Zusammenlebens für die meisten Menschen? Die Familie – die abgegrenzte, vertraute Familieneinheit, in der einer den andern versteht und auf ihn eingehen kann. Nur durch Fremde kann die Verständigung gestört werden; nur auf Außenseiter kann man sich nicht verlassen. Daher unsere
Xenophobie, die Angst vor jedem Fremden. Der Weltraummensch lebt in kleinem Familienverband, die Jungen bekommen ein eigenes Schiff und einen eigenen Partner, mit dem sie dann durch das Universum fliegen.« »Verdammt, verdammt«, sagte Chris. »So ein Weltraummensch muß auf der Erde einfach neurotisch werden, ebenso wie jemand, der von Geburt an nur auf gespanntem Drahtseil gegangen ist und plötzlich auf festem Boden steht. Er würde ständig unnötige kompensatorische Reflexbewegungen ausführen und sich damit kaputtmachen. Der echte Weltraummensch braucht keinen Zeitvertreib, er möchte sein Wissen vergrößern. Auf äußeren Druck hin zieht er sich nach innen zurück – in sein Raumschiff (so wie du in deinen Beruf); dann zu seinen Gedanken und den Möglichkeiten, die darin liegen (wie du in deiner Freizeit). Und dann braucht er eine – « Chris sah auf, und ihre Augen begegneten sich. »Sprich weiter«, sagte er freundlich. »Er braucht nicht viele Frauen, sondern eine Gefährtin«, sagte sie. »Ja.« Sie schwiegen eine Weile, dann sagte sie lächelnd: »Hast du noch mehr Fragen?« »Ja… Was wird aus Billy werden?« »Oh, der kommt schon zurecht«, meinte sie zuversichtlich. »Leute wie er kommen immer zurecht. Er wird seine Abschlußprüfung machen und noch ein bißchen weiterlernen und dann noch eine Prüfung machen. Vielleicht bleibt er dort, wo er jetzt ist, und unterrichtet später selbst. Oder er bekommt eine großartige Stellung als Kommandant einer Mondfähre oder auch als zweiter Offizier auf der ersten Rakete zum Mars. Das Gefühl, im Weltraum zu fliegen, wird ihm immer unangenehm sein und ihm Angst einjagen, aber er wird sich
tapfer zeigen und es durchstehen. Und nach einer gewissen Zeit wird er sich mit hohen Ehren und einer schönen Pension aus der Raumfahrt zurückziehen.« »Und er wird es nie erfahren?« »Das wäre doch zu grausam… Noch mehr Fragen?« »Noch eine sehr wichtige – ich hab’ sie noch gar nicht richtig zu Ende denken können. Eine Urangst des Menschen – manche behaupten sogar, es sei die einzige Angst, mit der wir schon geboren werden und die wir nicht erst erlernen – ist die Angst zu fallen. Wie kommt der Weltraummensch damit zurecht?« Sie lachte. »Kannst du dir das nicht denken?« Er schüttelte den Kopf. Sie beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. »Du fühlst dich im Weltraum mit all der Unendlichkeit um dich herum geborgen und wohl, du lebst hier, arbeitest, schläfst… und plötzlich, da, unter dir, taucht ein Planet auf!« Es traf ihn mit einer solchen Wucht, daß er keuchte und seinen Körper nach oben reckte, um vom Boden wegzukommen, dieser großen, drückenden Masse Erde. »Du fällst nicht«, flüsterte sie. »Er fällt höchstens auf dich.« Er schloß die Augen, hielt sich am Tisch fest und zwang sich, die Orientierung wiederzugewinnen. Dann öffnete er langsam die Augen, sah sie an und lächelte. »Da hast du deinen Mann«, sagte er. »Laß uns aufbrechen, Kapitän.« Lieber Chris, liebe Gerda, ich muß schon sagen, in meinem ganzen Leben hat sich mein Leben nicht von heute auf morgen so plötzlich verändert. Daß Ihr auch so überraschend geheiratet habt und daß Mr. Magruder gleich diesen tollen Job für Dich gefunden hat, obwohl ich eigentlich noch immer nicht so recht weiß, was an Neuseeland so toll sein soll. Aber wenn Ihr dort glücklich seid?!
Und daß Billy obendrein nichts Besseres zu tun hatte, als Tess Milburn zu heiraten, nur weil Ihr beide geheiratet habt – ich verstehe das nicht, ich dachte immer, Billy hätte seinen eigenen Kopf und ließe sich nicht lenken, aber anscheinend braucht nur jemand auf einen Knopf zu drücken, und bums, schon setzt er sich in Bewegung. Wenn ich mir’s recht überlege, war es mit der Weltraumakademie genau das gleiche, und wie er sagt, warst Du es auch, der ihn auf dieses Seifenschnitzen gebracht hat. Und dann soll die Heirat auch noch geheimgehalten werden, bis er seinen Abschluß hat, und woher soll ich all die Seife nehmen, ständig sucht er im Haus nach frischer Seife, ich weiß wirklich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Und was Mr. Magruder betrifft, er wohnt nicht mehr bei mir, er hat die Miete für den vollen Monat bezahlt und ist ohne eine Erklärung ausgezogen. Wie ich höre, wohnt er jetzt bei Mrs. Burnett in der Cecil Street. Alles, was sie besitzt, ist das winzige Haus und diesen komischen Sohn, der Kameras oder was weiß ich entwirft und sich den ganzen Tag in seinem Zimmer versteckt. Jedenfalls war das nicht gerade nett von ihm, wo ich doch acht Jahre lang treu für ihn gesorgt habe. Nun, meine Lieben, laßt es Euch gutgehen und schickt mir doch ein paar Fotos von Euch und Euren Schafen oder Ziegen oder mit was immer Ihr Euch dort beschäftigt. In Liebe Mama.
Nachschrift von Funker Grout X 3115 Kommandant Gerda Stein Erster Offizier Christopher Stein Ich habe den dritten der vorgefertigten Briefe an Mrs. Binns abgeschickt. Weisungsgemäß habe ich die Fotos von der
Schaffarm beigelegt. Magruder läßt Sie grüßen. Er sagt, er habe in dem Burnettjungen einen neuen entdeckt. Sie möchten die Nachricht bitte weitergeben. Wir sehen uns hoffentlich in zehn Jahren oder so wieder. Grout Auckland, New Zealand Terra (Sol 3) Terc 348 Quad 196887 Oct 384 (Unübersetzbar) 13996462597
Eric Frank Russell DAS HERRENVOLK
Sie kamen aus dem Sternenraum aus der Umgebung einer hellen Sonne mit der Bezeichnung Sigma Octantis und näherten sich der Erdkugel von Süden: zehn mächtige, kupferfarbene Raumschiffe. Kein Mensch sah sie landen. Sie waren so umsichtig, eine Zeitlang in der sturmgepeitschten Schneewüste der Antarktis zu verweilen, Erkundigungen anzustellen und alle zwanzig Mitglieder der Internationalen Südpol-Expedition zu ergreifen. Selbst dann schöpfte die Erde noch keinen Verdacht. Die Fremden, die sich selbst Raidaner nannten, wagten die Vermutung anzustellen, daß sich spätestens nach vierzehn Tagen die Erde fragen würde, was denn aus den inzwischen Eingefangenen geworden sei. Aber es kam ganz anders. Und womit man überhaupt nicht gerechnet hatte: die ridischen Gefangenen entpuppten sich als wahre Musterknaben an Unterwürfigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Mit Zeichen und Gesten machten die Raidaner deutlich, was zur Tarnung und Irreführung zu geschehen hatte: »Funkt, daß alle wohlauf sind!« Die Gefangenen folgten bereitwillig, ohne Hintergedanken, ohne falsche Absicht, ja sie überboten sich sogar gegenseitig in ihrem Eifer, es ihren Häschern recht zu machen. So geschah es, daß Funkstationen in Australien, Neuseeland und Chile routinemäßig ausgesandte Signale der Polarexpedition empfingen, ganz genau so wie bisher auch. Und niemand hatte Grund zu der beunruhigenden Annahme, daß tief im Süden,
jenseits der Eisbarriere, wo während der langen Polarnacht die Eisstürme nicht zu toben aufhörten, irgend etwas nicht in Ordnung sein könnte. Im Laufe der nächsten elf Wochen erlernten die Fremden die Sprache der Erdenbewohner. Sie scheuten weder Zeit noch Mühen, sie nicht nur flink zu erlernen, sondern sie auch flüssig zu beherrschen. Sie nahmen diese Mühsal auf sich und verlangten nicht von ihren Gefangenen, raidanisch zu lernen, da sie sich in ihrer Muttersprache verständigen wollten, ohne riskieren zu müssen, daß die Erdenmenschen mithörten. Also lernten sie lieber die fremde Sprache und behielten ihre eigene für sich. In der zwölften Woche nach der Landung bestellte Flottenadmiral Zalumar seinen persönlichen Adjutanten Lakin zu sich. »Lakin«, sagte er, »es besteht keine Veranlassung, noch mehr Zeit damit zu verschwenden, diese Tiersprache zu erlernen. Wir beherrschen sie inzwischen so gut, daß wir uns verständlich machen können. Es ist an der Zeit, diesen Eiskeller zu verlassen und uns an einem gemütlicheren Ort niederzulassen.« »Jawohl«, stimmte Lakin zu, aufs wohligste angetan von der Aussicht auf bevorstehenden Sonnenschein und Wärme. »Der Anführer der Gefangenen heißt Gordon Fox. Ich möchte mit ihm sprechen. Bring ihn zu mir.« »Jawohl«, rief Lakin, eilte hinaus und kehrte bald mit dem Gefangenen zurück. Es war ein großgewachsener, schlanker Erdenbewohner mit dünnem Haupthaar und einem struppigen Vollbart. Mit grauen Augen musterte er Zalumar; er registrierte die breiten Schultern, lange, knochenlose Arme, gelbe Augen und den seltsamen grünen Flaum auf der Haut. Zalumar empfand diese Musterung nicht als anmaßend, denn das Benehmen des Gefangenen ließ Unterwürfigkeit und Bewunderung erkennen.
»Ich habe dir etwas zu sagen, Fox.« »Ja, Herr?« »Du hast dich zweifellos gefragt, warum wir hier hergekommen sind, welches unsere Absichten sein mögen und was in der nahen Zukunft geschehen wird. Wie?« Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, fuhr der Admiral fort: »Die Erklärung ist kurz und eindeutig: wir haben vor, von eurem Planeten Besitz zu ergreifen.« Er beobachtete den Gesichtsausdruck des Erdenbewohners, wartete auf Zeichen der Angst, des Schocks, des Zorns oder anderer Gefühle, die unter diesen Umständen angebracht gewesen wären. Aber er bemerkte nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil, Fox schien diese Enthüllung mit Dankbarkeit zur Kenntnis zu nehmen. Er reagierte weder wütend noch trotzig, sondern schien lediglich selbstzufriedenes Wohlwollen auszudrücken. Hatte der Kretin nicht kapiert, um was es ging? »Wir werden uns die Erde mit allem was auf, unter und in ihr ist unterwerfen«, sagte Zalumar nachdrücklich und blickte den Gefangenen dabei unverwandt an. »Wir werden eure Welt konfiszieren, weil die Früchte dieses Lebens denjenigen gehören, die sie am meisten verdienen. Das ist unsere Einstellung. Und wir haben die Macht, sie zur einzig gültigen Einstellung zu erheben. Verstehst du mich, Fox?« »Jawohl, Herr.« »Und du findest die Aussichten nicht beunruhigend?« Fox zuckte ergeben mit den Schultern. »Entweder ihr seid klüger als wir, oder ihr seid es nicht. Es kann das eine oder das andere der Fall sein; was anderes gibt’s nicht. Und wenn ihr nicht klüger seid als wir, dann werdet ihr diesen Planeten auch nicht erobern, ganz gleich, was ihr behauptet.« »Wenn wir nun die Klügeren sind?«
»Dann, so glaube ich, werden wir unter eurer Herrschaft nur Vorteile haben. Ihr könnt uns nicht regieren, ohne uns Dinge zu lehren, die wissenswert sind.« Das versetzte Zalumar in Erstaunen. »Dies«, sagte er verwundert, »ist der erste Fall in unserer Geschichte, daß wir einer solch vernünftigen Einstellung begegnen. Ich hoffe, die anderen Erdenbewohner werden auch so denken wie du. Falls dem so ist, wird dies unsere bisher leichteste Eroberung sein.« »Meine Landsleute werden Ihnen keine Schwierigkeiten machen«, versicherte ihm Fox. »Ihr müßt eine ungemein friedfertige Rasse sein«, sagte Zalumar. »Wir haben so unsere eigenen und eigentümlichen Ansichten darüber, was zu geschehen hat und wie.« »Die sich allerdings so gründlich von denen anderer unterscheiden, daß sie fast widernatürlich erscheinen.« Zalumar lächelte dünn. »Wie dem auch sein mag, von Bedeutung ist es nicht. Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden deine Landsleute weder eigene noch eigentümliche, sondern unsere Ansichten haben, und alles wird geschehen wie wir es wollen. Andernfalls werdet ihr aufhören zu existieren.« »Die sind nicht scharf aufs Sterben«, sagte Fox. »Wenigstens zeigen sie in diesem Punkt eine normale Reaktion. Ich habe dich hierher bringen lassen, um dir zu sagen, was wir planen, und, was noch wichtiger ist, um dir zu zeigen, warum es für deine Landsleute vorteilhafter sein wird, uns ohne Widerrede und Widersetzlichkeit gewähren zu lassen. Ich werde dich und deine Mitgefangenen als Kontaktleute einsetzen, und es ist daher von Wichtigkeit, daß ihr erkennt, welche Wahl eure Welt hat: unbedingten Gehorsam oder vollständige Ausrottung. Sobald ihr dies eingesehen habt, wird es eure Aufgabe sein, auf die Exponenten der Erdenregierungen einzuwirken, alle unsere Anweisungen
genau zu befolgen. Lakin wird dich in den Vorführraum bringen und dir einige sehr interessante Aufnahmen vorführen.« »Aufnahmen?« »Ja. Dreidimensional und farbig. Sie dokumentieren, was auf dem Planeten K14 geschah, dessen Bewohner so einfältig waren zu glauben, sie könnten sich uns widersetzen und damit auch noch Erfolg haben. Wir statuierten ein Exempel an ihnen als warnendes Beispiel für andere. Was wir mit ihrer Welt angerichtet haben, können wir auf jedem anderen Planeten wiederholen, einschließlich diesem hier.« Er machte eine lässige Handbewegung. »Führ ihn weg und zeig’s ihm, Lakin.« Nachdem sie hinausgegangen waren, lehnte er sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Wieder einmal wurde der Beweis erbracht, daß Lebewesen auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe sich selbst behindern mit Problemen der Ethik und Moral, mit Fragen wie Recht oder Unrecht. Es mangelte ihnen am Verstand zu begreifen, daß Besitzgier, Brutalität und Rücksichtslosigkeit nichts anderes sind als abfällige Bezeichnungen für Tüchtigkeit. Es schien, als besäßen nur die Raidaner die Klugheit, das Gesetz der Natur zu erkennen und anzuwenden, daß der Sieg nur dem gehört, dessen Arm stark und dessen Waffen scharf sind.
Im Vorführraum war Lakin dabei, einige Einstellungen vorzunehmen. Eine große Kugel begann in gräulichem Licht zu schimmern. Im Zentrum schwebte eine kleine Perle intensiver Helligkeit. Dicht unterhalb der Kugelschale schwebte eine weitere, aber kleinere und dunklere Perle, deren eine Seite von der Helligkeit im Zentrum der Kugel silbrig angestrahlt wurde.
»Paß auf!« Sie starrten in die Kugel. Es dauerte nicht lange, da schien die äußere und dunklere Perle sich plötzlich auszudehnen und in hellem Licht zu erstrahlen, fast so hell wie die im Zentrum der Kugel. Lakin drehte an einigen Knöpfen. Die beiden strahlenden Perlen verschwanden. Die große Kugel schimmerte wieder in stumpfem Grau wie zu Beginn der Demonstration. »Dies«, sagte Lakin, der so viel Taktgefühl zu besitzen schien, sich jetzt nicht die Lippen zu lecken, »ist die Aufzeichnung des Abgangs von zweitausend Millionen Dummköpfen von der Bühne des Lebens. Man wird sie im Kosmos nicht vermissen. Sie wurden geboren, erfüllten ihren vorbestimmten Zweck und verschwanden – für immer. Willst du wissen, was für ein Zweck das war?« »Ich bitte darum«, sagte Fox sehr höflich. »Sie wurden geboren zu dem Zweck, damit ihre restlose Vernichtung andere in jenem Abschnitt des Kosmos zur Besinnung bringe.« »Mit Erfolg?« »Unbedingt.« Lakin lachte kalt. »Auf sämtlichen benachbarten Planeten prügelten sich die Eingeborenen, uns die Füße küssen zu dürfen.« Er blickte Fox mit seinen gelben Augen abschätzend an. »Wir erwarten nicht, daß du das glaubst, jedenfalls nicht gleich.« »Nein?« »Natürlich nicht. Jeder ist in der Lage, die dreidimensionale Aufzeichnung einer kosmischen Katastrophe zu fälschen. So naiv kannst du nicht sein, die Eroberung deines Planeten unwidersprochen geschehen zu lassen, bloß weil wir dir ein dreidimensionales Bild gezeigt haben.«
»Ob echt oder Fälschung, ist es nicht unwichtig?« entgegnete Fox. »Ihr wollt uns erobern. Wir haben nichts dagegen. Das ist alles.« »Wir haben Beweise, die die Echtheit unserer Aufnahmen bestätigen. Wir können euren Astronomen auf ihren eigenen Sternenkarten genau die Stelle zeigen, wo eine kleine stabile Sonne zu einem veränderlichen Stern geworden ist. Wir können das genaue Datum, wann dies geschah, nennen und die Exaktheit belegen. Wenn ihnen das noch nicht genügt, können wir irgendeinen Satelliten dieses Sonnensystems, den sie uns nennen, in eine glühende Gaswolke verwandeln. Wir können ihnen vorführen, wie wir es getan haben und was wir getan haben.« Er blickte Fox an, und seine Verblüffung war unverkennbar. »Soll das wirklich heißen, daß es solcher Beweise nicht bedarf?« »Nein, ich glaube nicht. Die Mehrheit wird euch widerspruchslos glauben. Es wird ein paar Skeptiker geben, aber auf die hört niemand.« Lakin war unzufrieden. Das sah man ihm deutlich an. »Das verstehe ich nicht. Man könnte fast glauben, deine Landsleute seien ganz scharf darauf, erobert zu werden. Das ist doch keine normale Reaktion.« »Normal im Vergleich zu was?« fragte Fox. »Für euch sind wir Fremde. Da müßt ihr schon damit rechnen, daß wir eine fremdartige Mentalität haben, fremdartige Ansichten vertreten.« »Ich habe es nicht nötig, mir von dir eine Vorlesung über fremdartiges Verhalten anhören zu müssen«, sagte Lakin etwas gereizt. »Wir Raidaner sind schon mit allem möglichen Fremdartigem fertig geworden. Wir haben mehr Lebensformen unterworfen, als du dir mit deinem kleinen Hirn vorstellen kannst. Und ich behaupte nach wie vor, daß deine Einstellung unnatürlich ist, nicht normal. Falls der Planet Erde so reagiert,
wie du sagst, ohne Beweise gesehen und ohne begründeten Anlaß zur Angst zu haben, dann müßt ihr hier einer wie der andere eine Rasse von Sklaven sein.« »Ist dagegen etwas einzuwenden?« konterte Fox. »Wenn die allgewaltige Natur in ihrer Weisheit euch als Herrenrasse geschaffen hat, warum sollte sie dann nicht auch mein Volk als Sklaven geschaffen haben?« »Ich finde es widerlich, wie du dich an deinem Sklaventum berauschst«, brüllte Lakin auf einmal. »Wenn ihr Erdenbewohner glaubt, ihr könntet uns überlisten, dann steht euch eine herbe Enttäuschung bevor. Hast du verstanden?« »Aber gewiß habe ich verstanden«, bestätigte Fox so besänftigend wie möglich. »Dann geh zu deinen Gefährten zurück und erzähle ihnen, was du gesehen hast und was man dir gesagt hat. Falls einer von ihnen noch weitere Beweise sehen möchte, bringst du ihn unverzüglich zu mir. Ich werde alle Fragen beantworten und in keinem Punkt, den man anschneidet, den Beweis schuldig bleiben.« »Sehr wohl.« Lakin saß auf der Tischkante und sah dem andern nach, wie er den Raum verließ. Zehn lange Minuten verharrte er so. Fünf weitere Minuten lang rutschte er nervös auf der Tischplatte herum. Dann begann er rastlos im Raum auf und ab zu gehen. Endlich schaute Fox zur Tür herein. »Sie akzeptieren alles, was ich ihnen berichtet habe.« »Ist da keiner, der noch etwas mehr erfahren möchte?« Lakin wollte das einfach nicht glauben. »Nein.« »Sie glauben alles, ohne Fragen zu stellen?« »Ja«, bestätigte Fox. »Ich sagte vorhin schon, daß es wahrscheinlich so sein würde.«
Lakin zog es vor, auf diese Antwort nicht zu reagieren. Mit einer herrischen Geste schickte er Fox weg, verließ den Vorführraum und ging zurück in die Kommandozentrale. Zalumar befand sich im Gespräch mit Heisham, dem Ersten Ingenieur des Flottenverbandes. Zalumar wandte sich an Lakin. »Wie war’s? Bekam das bärtige Unter-Wesen die üblichen hysterischen Anfälle?« »Nein. Vielmehr schien es ihn zu freuen, daß er und seine Landsleute unterworfen werden sollen.« »Überrascht mich nicht«, entgegnete Zalumar. »Diese Erdenbewohner haben eine philosophische Einstellung, die schon fast an Schwachsinn grenzt.« Seinem scharfen Blick war der Gesichtsausdruck des Adjutanten nicht entgangen. »Was machst du für ein saures Gesicht?« »Mich stört die Einstellung dieser Fremden, Herr Admiral.« »Warum denn? Das erleichtert uns doch die Sache ungemein. Oder hast du es lieber, wenn wir alles erzwingen müssen?« Lakin blieb die Antwort schuldig. »Beglückwünschen wir uns selbst, daß wir es so gut getroffen haben«, sagte Zalumar aufmunternd, mit zufrieden wirkendem Selbstvertrauen. »Sieg ohne Kampf ist billiger als der mit Blutzoll errungene. Und ein unterworfener Planet ist unendlich viel mehr wert als eine vernichtete Welt.« Lakin war zu einem spontanen Entschluß gekommen und sagte: »Wenn wir berücksichtigen, was in den Büchern steht, die wir bei unseren Gefangenen gefunden haben, und was wir durch unsere ersten, oberflächlichen Erkundungen erfahren haben, so steht fest, daß die Zivilisation der Erdenbewohner nur ein paar wenige Längen hinter der unseren zurückliegt. Ihre Kurzstrecken-Raumschiffe verkehren im Liniendienst zu den äußeren Planeten ihres Sonnensystems. Wir haben festgestellt, daß sie in dem ihnen am nächsten gelegenen Sternensystem eine kleine Niederlassung gegründet haben.
Dies alles hat seinen Ursprung und seine Weiterentwicklung in einer Technologie, die kein Werk von Schwachsinnigen sein kann.« »Dem stimme ich zu«, schaltete sich Heisham ein, den dieses Thema als Ingenieur natürlich besonders am Herzen lag. »Ich habe mir die Konstruktion ihrer Schiffe angesehen. Es heißt, daß diese Erdenbewohner als Rasse etwa zwanzigtausend Jahre nach der unsrigen entstanden sind. Auf technischem Gebiet ist der Abstand jedoch wesentlich geringer. Folglich müssen sie – « »Ruhe!« brüllte Zalumar. Er ließ die nun folgende Stille eine Weile wirken, ehe er mit normaler Lautstärke fortfuhr: »Alle intelligenten Lebewesen sind mit dem behaftet, was sie Tugenden nennen. Das wissen wir aus persönlichen Erfahrungen. Dieser Bazillus der sogenannten guten Eigenschaften ist bei den verschiedenen Lebensformen unterschiedlich. Zufällig ist dies der erste Planet, auf dem wir gelandet sind, wo die Haupttugend seiner Bewohner der Gehorsam ist. Sie verfügen zwar über Spuren von Gehirnsubstanz, aber sie alle sind in dem Geist erzogen worden, daß derjenige Respekt verdient, der ihnen überlegen ist – in welcher Art auch immer.« Er blickte seinen Adjutanten höhnisch an. »Und du, als erfahrener Weltraumeroberer, läßt dich dadurch überraschen, ja beunruhigen! Was ist überhaupt mit dir los?« »Ihre Unterwürfigkeit geht mir instinktiv gegen den Strich.« »Aber natürlich, mein lieber Lakin, natürlich. Wir unterwerfen uns niemandem. Und es ist doch wohl ganz offensichtlich, daß Erdenbewohner keine Raidaner sind, es niemals waren und auch nie sein werden.« »So ist es«, pflichtete Heisham bei. Lakin, von zwei Seiten unter Beschuß genommen, gab nach. Aber innerlich war er nicht zufrieden. Ein sechster Sinn sagte
ihm, daß an dieser besonderen Situation etwas erheblich aus dem Lot war.
Der große Schritt erfolgte am nächsten Tag. Zehn Schiffe erhoben sich von der Eiswüste. An Bord befanden sich die zwanzig Mitglieder der Internationalen Südpol-Expedition. Pünktlich wie vorausberechnet landeten sie auf dem Raumflugfeld außerhalb einer ausgedehnten Stadt, die, so hatte Fox versichert, genausogut geeignet sei wie irgendeine andere Stadt, der Welt die traurige Kunde von den Sternen zu überbringen. Zalumar ließ Fox zu sich kommen und sagte: »Ich begebe mich nicht zu den Führern der Eingeborenen. Sie kommen zu mir.« »Jawohl, Herr.« »Geh und hole sie. Alle deine Gefährten sollen dich begleiten, damit sie deine Worte bekräftigen können, falls man an ihnen zweifeln sollte.« Sein Blick begegnete hart dem seines Gefangenen. »Unsere Macht erlaubt es uns, auf Geiseln zu verzichten. Jeder gegen uns geführte heimtückische Angriff wird von uns ums Hundertfache gesteigert erwidert werden und jeden treffen, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter. Verstanden?« »Jawohl, Herr.« »Dann geh! Und wenn du klug bist, läßt du den Tag nicht ungenutzt verstreichen.« Durch das offene Tor der Luftschleusenkammer seines Flaggschiffes beobachtete er die zwanzig Menschen, wie sie über den heißen Beton eilends auf die Stadt zustrebten. Sie waren noch immer unrasiert und trugen trotz der strahlenden Sonne ihre Kälteschutzausrüstung. Vier glattrasierte Erdenbewohner, in der Jahreszeit angemessenen Uniformen,
kamen herangefahren und hielten ihren Wagen am Fuß der Leiter an. Einer stieg aus, legte die Handfläche über die Augen, um die Sonne abzuschirmen, und blickte zu der fremdartigen Gestalt in der Luftschleusenöffnung hinauf. Ohne eine Spur von Erstaunen zu zeigen, rief der Mann herauf: »Sie haben ihre Landung nicht angekündigt. Wir mußten zwei Schiffe zu einem anderen Hafen umleiten. Unvorsichtigkeiten wie diese können zu Katastrophen führen. Wo kommt ihr her?« »Erwartet ihr wirklich, daß wir eure Sprache sprechen und mit euren Bestimmungen vertraut sind?« fragte Zalumar neugierig. »Ja. Ihr hattet zwanzig von unseren Leuten bei euch. Die kennen ^ie Bestimmungen, wenn ihr schon keine Ahnung habt. Warum habt ihr eure Landung nicht angekündigt?« »Weil«, entgegnete Zalumar, der sich köstlich amüsierte, »uns eure Bestimmungen gleichgültig sind. Soweit sie uns betreffen, sind sie ab sofort außer Kraft gesetzt.« »Meinen Sie?« entgegnete der Mensch. »Darüber werden Sie schon sehr bald anders denken.« »Ganz im Gegenteil«, sagte Zalumar. »Ihr seid es, die umdenken werdet, und wir sind es, die es euch beibringen.« Nach diesen Worten kehrte er in seine Wohnkabine zurück. Während er sich mit einigen Akten beschäftigte, lächelte er leicht vor sich hin. Drei Stunden später wurde er von einem Besatzungsmitglied seines Flaggschiffs in die Luftschleusenkammer gerufen. Er trat an den Rand und erblickte unten die vier Männer von vorhin. Ihr Sprecher sagte ausdruckslos und ohne Erregung: »Ich habe Befehl, mich bei Ihnen zu entschuldigen, daß ich es gesagt habe, Ihr Recht in Zweifel zu ziehen, ohne vorherige Ankündigung hier landen zu dürfen. Ich bin darüber hinaus beauftragt worden, Ihnen mitzuteilen, daß gewisse
Persönlichkeiten, die Sie zu sprechen wünschen, auf dem Wege hierher sind.« Zalumar machte ein abfälliges Geräusch und kehrte in die Kommandozentrale zurück. Ein Raketenflugzeug flog dröhnend über das Raumschiff hinweg. Zalumar schenkte ihm keine Beachtung. Wahrscheinlich reckten einige von den Besatzungsmitgliedern die Hälse und starrten gespannt zum Himmel hinauf, ob nicht doch etwas langes, schwarzes und sehr Tödliches herunterfallen könnte. Aber er verschwendete keinen Gedanken daran. Sein Urteil über diese Erdenbewohner stand fest: sie würden es nicht wagen. Und genau so war es. Sie wagten es nicht. Das Dröhnen erstarb am Horizont, und nichts war geschehen. Etwas später kam Fox mit zwei Leuten seiner Expedition zurück. Sie hießen McKenzie und Vitelli. Zwölf Zivilisten befanden sich in ihrem Gefolge und drängten in die Kommandozentrale. Das Dutzend wich gegen die Wand zurück und musterte den Befehlshaber der Raidaner mit offener Neugierde, aber ohne jegliche Animosität. Fox erklärte: »Dies, Herr, sind zwölf gewählte Anführer der Erdenbewohner. Es gibt noch dreißig weitere, die ziemlich weit verstreut residieren. Ich bedaure sagen zu müssen, daß es nicht möglich ist, Verbindung mit ihnen aufzunehmen und sie noch heute hierher zu rufen.« »Macht nichts.« Zalumar lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte das Dutzend Männer verächtlich. Sie wurden unter seinem Blick weder nervös, noch reagierten sie trotzig. Alle zwölf blickten ihm so gelassen ins Auge wie Eidechsen. Ihm fiel dabei auf, daß es fast unmöglich war, an ihrem Mienenspiel zu erkennen, was sie dachten. Wozu auch! Nach altbewährter Methode machte man den Auftakt, indem man ihnen einen Tritt in die Zähne versetzte.
»Eines steht von vornherein fest«, herrschte Zalumar die zwölf Abgesandten an. »In unseren Augen seid ihr Tiere. Niedere Tiere. Kühe. Meine Kühe. Wenn ich befehle, daß ihr Milch zu geben habt, dann habt ihr Milch zu geben. Wenn ich euch befehle, zu blöken, dann blökt ihr im Chor mit den dreißig anderen, die nicht hier sind.« Keiner sagte etwas, keinem schwoll der Kamm vor Zorn, kein einziger schien sich einen individuellen Dreck draus zu machen. »Wer von euch Befehle nicht befolgt oder einen Mangel an Begeisterung bei ihrer Befolgung erkennen läßt, geht seiner weltlichen Existenz verlustig und wird durch einen anständigen, vertrauenswürdigen, angenehmen Muhrufer ersetzt.« Schweigen. »Noch Fragen?« Es irritierte ihn ein wenig, daß sie es so gelassen hinnahmen, zu den Vierfüßlern gerechnet zu werden. Ein finsteres Gesicht, selbst ein halb unterdrücktes ängstliches Stirnrunzeln eines einzigen von ihnen hätte ihm eine geheime Freude bereitet, hätte es ihm ermöglicht, den Triumph der Eroberung richtig auszukosten. Das Ausbleiben jeglicher Reaktion ließ den Sieg schal und abgestanden schmecken. Der Triumph war gar keiner, weil es über nichts zu triumphieren gab. Sie verweigerten ihm sogar die Genugtuung, auf ihre Fragen mit vernichtenden Erwiderungen zu reagieren, sie mit Entgegnungen zu zerschmettern, die geeignet gewesen wären, ihnen ihre individuelle und kollektive Dämlichkeit noch deutlicher zu dokumentieren. Da standen sie in einer Reihe an der Wand und warteten schweigend und ohne Fragen auf seine nächsten Befehle. Wie er sie so anschaute, hatte er plötzlich das seltsame Gefühl, daß, wenn er jetzt »Muh!« gerufen hätte, sie alle zusammen und so laut sie nur gekonnt hätten mit
»Muh!« geantwortet – und sich auf unergründliche Art im stillen noch dazu über ihn lustig gemacht hatten. Er langte nach dem Bordtelefon und verlangte, daß Kapitän Arnikoj kommen solle, und als dieser dann eintraf, befahl er ihm: »Bring diese zwölf Schwachköpfe in die Registratur auf Kreuzer sieben. Von den Haarspitzen bis zu den Fußnägeln ist alles aufzuzeichnen. Holt aus ihnen alle Einzelheiten über die dreißig anderen heraus, die hier noch zu erscheinen haben. Wenn einer nicht auftauchen sollte, wollen wir wenigstens wissen, wer das ist.« »Zu Befehl, Admiral«, sagte Kapitän Arnikoj. »Das ist noch nicht alles«, fuhr Zalumar fort. »Wenn das geschehen ist, suchst du das am wenigsten schwachsinnig wirkende Exemplar aus und bringst es aufs Flaggschiff zurück. Es soll hier festgehalten werden. Wenn ich es wünsche, wird er die anderen zu rufen haben.« »So soll es geschehen«, Admiral. Zalumar wandte sich nun wieder an die zwölf. »Nach der Registrierung kehrt ihr an eure Plätze in der Stadt zurück. Eure erste Amtshandlung wird sein, daß ihr dieses Raumflugfeld zum alleinigen und ausschließlichen Eigentum der es besetzt haltenden Raidanischen Flotte erklärt. Alle Organe der Erdenbehörde haben das Gelände zu verlassen. Niemand darf es ohne meine ausdrückliche Genehmigung betreten.« Sie nahmen das so schweigend entgegen wie alles andere zuvor auch. Er sah zu, wie sie im Gänsemarsch hinausgingen, einer stur hinter dem anderen, geführt von Arnikoj. Großer Gott im Unendlichen! Was für geistlose Tiere! Fox, McKenzie und Vitelli waren geblieben. Zalumar blickte sie mürrisch an. »Wo sind die übrigen siebzehn Mitglieder eurer Expedition?« »In der Stadt geblieben, Herr«, erklärte Fox.
»Sie sind in der Stadt geblieben? Wer hat ihnen erlaubt, dort zu bleiben? Sie haben hier zu sein. Hier!« Wütend hieb er mit der Faust auf den Tisch. »Ohne entsprechende Anweisungen ist es nicht erlaubt, sich zu entfernen. Für wen halten die sich überhaupt. Ich werde ihnen im Handumdrehen zeigen, wie wir mit solchen umgehen, die glauben, sie könnten tun, was ihnen so paßt. Ich werde – « »Herr«, unterbrach Fox den Redeschwall von Drohungen, »sie haben um Erlaubnis gebeten, sich waschen und umziehen zu dürfen. Ich sagte ihnen, Sie würden es sogar befürworten, daß sie etwas für ihre äußere Erscheinung tun. Die Annahme schien mir nicht unberechtigt, daß Sie an ihren Bemühungen, Ihnen zu gefallen, Anstoß nehmen könnten.« Zalumars Geist war von einer vorübergehenden Verwirrung befallen. Wenn sich ein Soldat unerlaubt von der Truppe entfernt, um seinem Vorgesetzten einen goldenen Orden zu besorgen, was tut dieser dann? Zum erstenmal verspürte er einen Hauch des schwer zu deutenden Gefühls von Mißbehagen, das den beunruhigten Lakin zu quälen schien. Es war nicht alles so, wie es hätte sein sollen. Dieser Fox zum Beispiel hatte ihn in Anwesenheit von zwei Zeugen in Verlegenheit gebracht, und es gab nichts, was er, der Admiral, dagegen hätte tun können. »Also gut«, sagte er, und man hörte fast seine Zähne knirschen. »Räumen wir ein, daß ihre Rücksichtnahme auf meine Gefühle löblich und folglich entschuldbar ist. Warum hast dann du und diese beiden da nicht auch den Wunsch gehabt, mir zu gefallen? Warum seid ihr in diesen schmutzigen, sackähnlichen Gewändern und unrasiert zurückgekommen? Soll das heißen, daß siebzehn Rücksicht nehmen und drei nicht?« »Aber nein, Herr«, sagte Fox. »Jemand mußte gleich zurückkommen. Wir hofften, Sie würden uns die gnädige
Erlaubnis geben, uns ebenfalls entfernen, waschen und umziehen zu dürfen, sobald die anderen siebzehn wieder hier sind.« »Das will ich euch auch raten«, sagte Zalumar. »Wir erkennen Tiere auf den ersten Blick. Es ist unnötig, daß ihr auch wie welche ausseht und so riecht.« Er beobachtete die anderen beiden, suchte nach einer Andeutung unterdrückten Zorns wie dem Zusammenziehen der Augenlider oder dem Spannen eines Kinnmuskels. Aber er suchte umsonst. Hinter dem Vollbart blieb der Gesichtsausdruck von Fox hölzern und unbeweglich. McKenzie schien völlig taub zu sein. Vitelli grinste noch genau so idiotisch wie am ersten Tag der Gefangennahme. »Hinaus«, befahl er. »Meldet euch bei Arnikoj. Sagt ihm, ich hätte euch erlaubt, die Stadt zu besuchen, nachdem die anderen zurückgekommen sind. Bei Einbruch der Nacht seid ihr wieder da!« »Und dann, Herr?« »Ihr untersteht Arnikojs Kommando. Ich schicke nach euch, sobald ich euch brauche.« Nachdem sie gegangen waren, stellte er sich an ein Bullauge und blickte zu der grauen Stadt hinüber. Langsam und mit der Pedanterie eines Geizhalses begann er die Hochhäuser, Türme, Hochstraßen und Brücken zu zählen. Das gehört jetzt mir, dachte er, alles gehört mir. Der Preis dem, dem er gebührte. Der Sieg dem Stärkeren, die Beute dem Kühnen, Tapferen. Da kam Lakin hereingeschlichen und sagte, nachdem er etwas herumgedruckst hatte: »Ich habe nachgedacht, Admiral. Wir sitzen zu dicht aufeinander. Zehn Schiffe mehr oder weniger eins hinter dem anderen. Wäre es nicht besser, wir verteilten uns mehr? Könnten wir nicht vier Schiffe hier behalten und je drei von den anderen auf zwei weiteren Raumhäfen stationieren?«
»Warum?« »Wir wissen noch nicht, wie wirkungsvoll ihre stärksten Waffen sind. Wir wissen aber, daß eine einzige gezielt abgeworfene Bombe uns alle verdampfen könnte.« »Drei Bomben könnten das auch. Welchen Vorteil hätte es also, wenn wir an drei verschiedenen Stellen präsent wären?« »Sofern sie die Bomben nicht gleichzeitig abwerfen, könnte der erste Schlag die anderen unserer Leute warnen. Einige von uns könnten entkommen und zurückschlagen.« »Angenommen, sie bringen überhaupt den Mut auf, Bomben zu werfen«, sagte Zalumar, »dann kannst du verdammt sicher sein, daß sie sie gleichzeitig werfen werden. Bei ihnen geht es doch um alles oder nichts. Ich bin davon überzeugt, daß sie alles unternehmen würden, uns auszulöschen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprächen. Aber sie wissen, daß dem nicht so ist. Sie wissen, daß unsere Streitmacht einen furchtbaren Vergeltungsschlag führen würde. Sie würden sich rächen.« »Vorläufig wäre dies gar nicht möglich«, widersprach Lakin. »Bis zum heutigen Tag haben sie zu Hause keine Ahnung, wo wir sind und was wir tun. Ich habe vorhin Shaipin gefragt, ob er unsere Position schon durchgegeben hat. Er hat es nicht getan. Und bis das der Fall ist, und wir die Empfangsbestätigung von Raidan erhalten, sind wir nichts anderes als ein Flottenverband, unterwegs irgendwo im Weltraum.« Zalumar lächelte finster. »Mein lieber Pessimist Lakin, nur wir wissen, daß wir keine Verbindung mit unserem Heimatplaneten haben. Die Erdenbewohner wissen das nicht. Und sie werden sich hüten, etwas zu unternehmen, was die vollständige Vernichtung ihres Planeten zur Folge hätte. Der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen genau so groß wie bei
anderen Lebewesen. Sie wollen am Leben bleiben. Verstehst du?« »Ich habe Shaipin gefragt, warum er unsere Position noch nicht durchgegeben hat«, fuhr Lakin unbeeindruckt fort. »Er sagte, er hätte von Ihnen noch keinen Befehl dazu erhalten. Wünschen Sie, daß ich ihm den Auftrag überbringe, unsere Position durchzugeben?« »Auf keinen Fall!« Zalumar wandte seinem Adjutanten den Rücken zu und vertiefte sich in die Betrachtung der Stadtsilhouette. »Admiral, die Raumflottendienstvorschrift verlangt, daß wir unsere Position melden, unmittelbar nachdem wir jeglichen Widerstand gebrochen und die Situation unter Kontrolle haben.« Zalumar drehte sich herum und fuhr seinen Adjutanten an: »Glaubst du, ich, der Befehlshaber dieses Flottenverbandes, kennt sich mit den Bestimmungen nicht aus? Shaipin wird eine entsprechende Meldung durchgeben, wenn ich es wünsche, und keinen Augenblick früher. Und ich bin der einzige, der darüber zu entscheiden hat, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist.« »Jawohl«, sagte Lakin bestürzt. »Und dieser Zeitpunkt ist noch nicht eingetreten.« Das sagte er in einem Ton, als ob dieser Zeitpunkt auch nie eintreten werde. Und er ahnte nicht, daß in diesem Augenblick der Prophet aus ihm sprach.
Einen Monat später hatte Shaipin den Befehl seines Admirals noch nicht erhalten. Er erhielt ihn auch nicht während der nächsten drei Monate. Ein halbes Jahr später wartete er immer noch. Es kam ihm nie in den Sinn, an der Klugheit dieser offensichtlichen Unterlassung zu zweifeln. Sollte er das doch getan haben, so behielt er seine Bedenken für sich. Nach
seinem Dafürhalten hatte Zalumar die Verantwortung für alles auf sich genommen, und wenn er sich damit wohl fühlte, dann sollte er sie auch ganz allein behalten. In den der Besetzung des Planeten folgenden Wochen hatte sich alles zur schönsten Zufriedenheit der Besatzer entwickelt. Die Erdenbewohner arbeiteten mit der Besatzungsmacht aufs vorbildlichste zusammen. Zwar legten sie keine große Begeisterung an den Tag, aber alles funktionierte reibungslos. Wann immer Zalumar Lust verspürte, der Führungsequipe Beine zu machen, ließ er seine zweiundvierzig Marionetten antreten und an den Fäden tanzen. Sein Wort war ihnen Befehl, seine ausgefallenste Laune bekam Gesetzeskraft. Er zweifelte nicht daran, daß sie auch den Boden, auf dem er ging, verehrt und seine Fußstapfen geküßt hätten, wenn er sich zu solchen Kindereien verstiegen und es von ihnen verlangt hätte. Es war die eindrucksvolle Darstellung, was man erreichen konnte, wenn dem anderen die Wahl blieb zwischen Gehorsam und totaler Vernichtung. Die Folge war, daß er, Zalumar, zum erstenmal seit langer, langer Zeit die Enge seines Flaggschiffes verlassen hatte. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann dies zum letzten Mal der Fall gewesen war. Er war nicht mehr immer nur von Metall umgeben, wie ein marinierter rashim. Kein einziges Mal hatte es Schwierigkeiten gegeben. Es hatte noch nicht einmal eines Zauberstabes bedürft. Er hatte nur zu fragen brauchen, und er hatte alles bekommen. Und fragen war nicht der richtige Ausdruck. Er hatte befohlen. »Der größte und schönste Palast auf eurem Planeten ist zu enteignen und mir zur Verfügung zu stellen. Wer ihn zur Zeit bewohnt, fliegt hinaus. Eventuell erforderliche Reparaturen werden unverzüglich ausgeführt. Der Palast wird neu eingerichtet. Einrichtung und Stil haben dem Status eines Planetengouverneurs angemessen zu sein. Bestens
ausgebildetes Bedienungspersonal hat in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stehen. Sobald die Vorbereitungen getroffen sind, werde ich den Palast besichtigen. Und in eurem eigenen Interesse rate ich euch, dafür zu sorgen, daß alles meinen Beifall findet!« Und dafür sorgten sie tatsächlich. Selbst auf dem Heimatplaneten Raidan gab es niemand, der von größerer Pracht umgeben gewesen wäre und der nur halb so luxuriös gewohnt hätte. Er kannte eine ganze Reihe von hochgestellten Militärs in seinem Rang, die vor Neid mit den Zähnen knirschen würden, wenn sie Nordis Zalumar, Befehlshaber über mickrige zehn Schlachtschiffe, hier hätten sehen können, wie er Hof hielt gleich einem König von Gottes Gnaden. Ach was, König! Kaiser! Der Palast war unermeßlich groß. Das Hauptgebäude allein hatte die Ausdehnung einer kleinen Stadt, ganz zu schweigen von den beiden Seitenflügeln. Und die Unterkünfte der Dienstboten lagen in einem Gebäude, das so groß war wie ein internationales Mammuthotel. Zweitausend Hektar Grund umgaben den Palast, jeder Quadratmeter davon gepflegt und parkähnlich angelegt. Mitten darin war ein See, in dem sich bunte Fische tummelten und auf dessen Oberfläche buntgefiederte Wasservögel schwammen. Es war nicht zu übersehen, daß man den Palast ohne Rücksicht auf die Kosten für ihn hergerichtet hatte. Man hatte die Schätze einer ganzen Welt zusammengetragen, um der Person Ehrerbietung zu erweisen, die in der Lage war, den Planeten von den Polen bis zum Kern in glühende Dämpfe zu verwandeln. Dreitausend Millionen Tiere hatten zusammengearbeitet, um die hohe Prämie für eine Feuerversicherungspolice zu bezahlen. Zalumar war beeindruckt. Trotz seiner hochgeschraubten Ansprüche fand er nicht das geringste daran auszusetzen. Die
Sache hatte nur einen Nachteil: Der Palast lag dreitausend Kilometer vom Raumflugfeld und der Stadt, dem Sitz der Planetenregierung, entfernt. Es gab nur eine Lösung. Er befahl, daß hinter seinem Palast ein neuer Raumflughafen gebaut wurde. Als dies geschehen war, verlegte er seine zehn Schlachtschiffe auf dieses neue Flugfeld. Als nächstes befahl er der Planetenregierung, sich unmittelbar am Rande seines streng bewachten Palastgeländes anzusiedeln. Keiner seufzte, stöhnte oder maulte oder blickte ihn auch nur einmal kurz finster an. Vorgefertigte Häuser wurden zu den angewiesenen Plätzen gebracht, und eine neue Stadt entstand, mit allem, was eine Stadt benötigte, mit einem weitverzweigten Fernsehsprechnetz und einer Sendestation mit unermeßlicher Reichweite. Inzwischen hatte Zalumar von seinem Palast Besitz ergriffen. Das geschah ohne große Zeremonie. Er betrat das Palasttor mit einer Selbstverständlichkeit, als habe ihm der Planet schon immer gehört. Seine erste Amtshandlung in der neuen Umgebung bestand darin, seinen Stabsoffizieren Gemächer im Westflügel zuzuweisen. Der untergeordnete Offizierskader zog in den Ostflügel, zusammen mit den einundzwanzig einheimischen Hiwis. Auf diese Weise erreichte er, daß die gähnende Leere des Palastes mit Leben erfüllt wurde und er das Gefühl hatte, nicht allein, sondern von einer Schar Bewunderern umgeben zu sein oder zumindest von widerspruchslosen Duldern. »Aye!« seufzte er mit Vergnügen. »Ist das nicht angenehmer als tagein tagaus in einem stickigen Metallkanister zu hocken und immer nur zum Wohle anderer beizutragen, nie aber zu seinem eigenen?« »Jawohl, Admiral«, unterstützte ihn Heisham pflichtbewußt. Lakin schwieg.
»Nun ernten wir die Früchte unserer Strebsamkeit«, fuhr Zalumar fort. »Wir werden hier leben wie… wie – « Er suchte in den Taschen seiner Jacke und zog ein kleines Buch hervor, in dem er nachschaute: »Wie der Kaiser von China.« »Diesen Begriff habe ich von den Erdenbewohnern schon einmal gehört«, sagte Heisham. »Ich glaube, der hätte in genau so einem Palast gewohnt.« Er bewunderte die Einrichtung des Raumes und schloß mit der Frage: »Wem dieser Palast wohl gehört haben mag und was aus ihm geworden ist?« »Das können wir schnell erfahren«, sagte Zalumar. »Draußen ist gerade ein Erdenbewohner vorübergegangen. Hol ihn zurück und bring ihn hierher.« Heisham eilte hinaus und kehrte mit Vitelli zurück. »Wem hat dieser Palast gehört?« fragte Zalumar. »Niemandem«, antwortete Vitelli und grinste idiotisch. »Niemandem?« »Nein, Herr. Bis vor dem Umbau war dies das größte und modernste internationale Krankenhaus dieses Planeten.« »Und was ist ein Krankenhaus?« Das idiotische Lächeln verschwand. Vitelli machte die Augen ein paarmal zu und auf und erklärte es ihm dann. Zalumar hörte mit wachsendem Unglauben zu. »Ein Einzelwesen, das krank oder verletzt ist, muß in der Lage sein, sich zu erholen. Oder es ist das nicht? Es erhält entweder seine Leistungsfähigkeit zurück, oder es bleibt für alle Zeiten unnütz. Entweder das eine oder das andere. Eine Alternative dazu gibt es nicht. Das ist doch logisch, oder?« »Vermutlich«, sagte Vitelli mit Zurückhaltung. »Du hast gar nichts zu vermuten«, widersprach Zalumar mit erhobener Stimme. »Du weißt es und akzeptierst es als Tatsache, daß es logisch ist, weil ich es gesagt habe. Und sprich mich mit Herr an, wenn du antwortest.« »Ja, Herr!«
»Wenn ein Einzelwesen in der Lage ist, sich zu erholen, so soll es dies aus eigenen Kräften tun. Das Wissen um die Konsequenz des Mißlingens ist Ansporn genug. Falls es unfähig ist, sich selbst zu erholen, sollte es auf orthodoxe Art eliminiert werden, vergast und verbrannt. Es würde eine ungeheuerliche Verschwendung von Zeit und Energie bedeuten, wenn die Lebenstüchtigen die Lebensuntüchtigen durchbringen wollten.« Er blickte Vitelli drohend an, der darauf kein Wort sagte. »Es widerspricht dem Naturgesetz, daß die Lebenstüchtigen den Untüchtigen helfen, die man ihrem Schicksal überlassen sollte. Wie viele Krüppel hat man hier in diesem… äh… Krankenhaus bemuttert?« »An die sechstausend«, sagte Vitelli und vergaß wieder das ›Herr‹. »Wo sind die jetzt?« »Sie wurden in andere Krankenhäuser verlegt. In einigen herrscht jetzt ein ziemliches Gedränge, aber mit der Zeit wird das schon besser werden.« »Aha!« Zalumar schien zu überlegen. Er sah aus, als suche er nach einer drastischen Entgegnung, überlegte es sich dann offensichtlich anders und sagte: »Du kannst gehen.« Nachdem Vitelli hinausgegangen war, wandte sich Zalumar an seine Offiziere: »Ich könnte die sofortige Eliminierung dieses unnützen Abschaums veranlassen. Aber warum sich darüber Gedanken machen? Die Erdenbewohner werden damit beschäftigt sein, sich um ihre geistig und körperlich verkrüppelten Anhängsel zu kümmern. Solange die Leute geschäftig sind, kommen sie auf keine dummen Gedanken. Nur wer Zeit im Überfluß hat, kann einem gefährlich werden.« »Jawohl, Admiral«, stimmte Heisham mit Bewunderung zu. »Nun, jetzt haben wir eine weitere interessante Feststellung gemacht. Die Eingeborenen sind nicht nur feige und dumm, sie
sind auch noch weich. Weich und nachgiebig wie das Zeug, das sie Knetmasse nennen.« Lakin sprach, und es hörte sich an, als meditiere er laut. »Wie weit kommt man, wenn man ein Schwert in ein Faß mit Knetmasse stößt. Was sticht, schlägt oder zerstört man wirklich?« Zalumar beobachtete ihn verblüfft, dann herrschte er ihn an: »Lakin, ich verbiete dir, mich weiterhin mit diesem albernen Gewäsch zu ärgern.« Zwei Jahre lang ging alles glatt. Abgesehen von einigen Ausflügen in andere Regionen seines Planeten, saß Zalumar in seinem Palast wie die Spinne in ihrem Netz. Der Planet Erde unterstand seiner absoluten Befehlsgewalt. Alles geschah nach seinen Anordnungen. Es gab keine Schwierigkeiten, es sei denn, sie beruhten auf ganz gewöhnlichen Mißverständnissen. In keiner geschichtlichen Epoche hatte es einen Regenten gegeben, dessen Thron weniger gewackelt hätte als der von Kaiser Nordis Zalumar. Auf sein Geheiß hin hatten sich drei Gruppen seiner Offiziere auf eine Besichtigungsreise zu den Kolonien der Erdbewohner auf der Venus, dem Mars und dem Jupitermond Callisto begeben. Es brauchte nicht befürchtet zu werden, daß ihnen von den rauhbeinigen Pionieren die Hälse durchgeschnitten würden. Das Leben der Bewohner eines ganzen Planeten war Garantie für ihre Sicherheit. Diese drei Gruppen wurden in Kürze zurückerwartet. Eine vierte Gruppe hatte sich aufgemacht, die kleine Niederlassung im Sternbild des Zentaur zu besuchen. Dies war der erste Versuch der Erdenbewohner, in einem anderen Sonnensystem Fuß zu fassen. Auf ihre Rückkehr würde man noch lange warten müssen. Man hatte für diese Ausflüge kein raidanisches Schiff herangezogen, sondern planeteneigene Konstruktionen verwendet, großräumige Linienschiffe, die
bequemes Reisen erlaubten, wie es den Organen einer Besatzungsmacht zustand. Von den sechzehnhundert Offizieren und Mannschaften des Flottenverbandes versahen nur mehr weniger als zweihundert militärische Aufgaben. Die Palastwache bestand aus einhundert Mann. Achtzig Bewaffnete waren zur Bewachung der Schiffe eingeteilt. Der Rest war auf dem Planeten unterwegs. Sie kamen und gingen, wie es ihnen beliebte, und alles völlig gratis. Jeder einzelne fühlte sich als Prinz, und Zalumar war der König der Könige. Jeder ein Prinz, ohne Übertreibung. Wer etwas sah, das ihm gefiel, ging einfach hin und nahm es sich, zum Beispiel aus Schaufenstern und Läden. Teure Präzisionskameras, Brillanthalsbänder, Rennmotorräder, die neuesten Mondjachten. Man brauchte bloß die Hand aufzuhalten und bekam es. So besaßen zum Beispiel zwei junge Navigationsleutnants eine Insel in der Südsee, auf dem ein prächtiges Herrenhaus stand. Sie waren mit einer enteigneten Hochseejacht unterwegs gewesen, hatten die Insel gesichtet, waren an Land gegangen und hatten zu den Eigentümern gesagt: »Verschwindet.« Zu den Dienstboten hatten sie gesagt: »Ihr bleibt.« Die Besitzer waren sofort abgezogen, das Personal war geblieben. Zwanzig Maschinenwarte machten Ferien auf ihre Weise. Sie hatten eine Zweitausend-Tonnen-Luxusjacht konfisziert, die Passagiere einfach an Land geschickt, der Besatzung befohlen, Anker zu lichten. Jetzt befanden sie sich auf hoher Fahrt rund um die Welt. Unter diesen Umständen schien es unmöglich, daß bei den Besatzern Unzufriedenheit aufkommen könnte. Aber Lakin, der unverbesserliche Querulant und Pessimist, gab keine Ruhe mit seinen Befürchtungen und Bedenken. Er gehörte offensichtlich zu denen, die auch dann etwas zu bemängeln
haben, wenn man ihnen den Kosmos auf einem silbernen Tablett serviert. »So kann es nicht ewig weitergehen«, gab er zu bedenken. »Ist auch gar nicht vorgesehen«, erwiderte Zalumar. »Wir sind nicht unsterblich. Aber so lange wir leben haben wir allen Grund, zufrieden zu sein.« »So lange wir leben?« Lakins Ausdruck verriet, daß sich bei ihm ein langgehegter Verdacht zur Gewißheit verdichtet hatte. »Soll das heißen, daß unser Heimatplanet von dieser Eroberung nichts erfahren hat und keine Verbindung mit zu Hause aufgenommen werden soll?« Zalumar ließ sich auf seine Ruhestatt zurücksinken, die eine raffiniert konstruierte Kombination zwischen einem Bett und einem Herrscherthron war. Er faltete die Hände über dem Unterleib, der fülliger geworden war und mit jedem Monat einen weiteren Ring zulegte. »Mein lieber hirnloser Lakin. Eine solche Meldung hätte bereits vor zweieinhalb Jahren erfolgen müssen. Wo stünden wir jetzt, wenn wir in stumpfem Gehorsam, wie ihn diese Erdenkreaturen an den Tag legen, die Meldung durchgegeben hätten?« »Keine Ahnung«, gab Lakin zu. »Ich weiß es auch nicht. Aber eines ist gewiß: wir würden nicht mehr hier sein. Wir Kampftruppen wären längst von Verwaltungseinheiten abgelöst worden. Wie die Heuschrecken wären sie über diesen Planeten hergefallen, die Schreibtischstrategen, Aufseher, Ausbeuter, Sklaventreiber, Bürokratenschreiberlinge, Formularfetischisten und die vielen anderen Parasiten, die nur darauf warten, die Früchte zu verschlingen, die ihnen die kämpfende Truppe von den Bäumen geholt hat.« Lakin schwieg. Es fiel ihm kein überzeugender Einwand ein.
»Uns würde man befehlen, in unseren Metallkanister zu verschwinden und auf die Suche nach neuer, fetter Beute zu gehen. Anstatt hier zu sein, wären wir jetzt draußen in der sterndurchlöcherten Schwärze auf der Suche nach bewohnten Planeten, ständig in Lebensgefahr und allen nur möglichen Unbequemlichkeiten ausgeliefert und stets vor Augen, wie der Dank dafür aussehen würde.« Er blies die Luft durch die geschürzten Lippen, und ein leises Blubbern unterbrach die Stille. »Und weißt du wie, mein einfältiger Freund? Der Dank wäre eine Brust voller Orden, die man weder essen noch zu Geld machen kann, eine bescheidene Pension, eine Frau, eine Horde Kinder, allmähliches Altern, Senilität und schließlich das Ende im Krematorium.« »Das mag wohl so sein, Admiral, aber – « Zalumar winkte ab und fuhr fort: »Ich bin dafür, daß die Parasiten ihre eigene Beute suchen und somit ihre Existenzberechtigung nachweisen. In der Zwischenzeit wollen wir uns an den Früchten des Sieges erfreuen, den wir errungen haben. Wenn Habgier und Rücksichtslosigkeit Tugenden für viele sind, dann sind sie es genau so für wenige. Und seit ich auf diesem Planeten gelandet bin, halte ich sehr viel von Tugendhaftigkeit, und dir empfehle ich, es auch zu tun. Bedenke, mein lieber pessimistischer Lakin, daß man auf unserem Heimatplaneten eine alte Redensart kennt.« Er machte eine Pause und zitierte mit großem Behagen: »Geh du hin und streiche den langen Zaun, Jehofas, denn siehe, ich ruhe in der Hängematte.« »Ja, Admiral, aber – « »Und ich finde es hier sehr gemütlich«, schloß Zalumar und tätschelte seinen Bauch. »Laut Dienstvorschrift ist die Unterlassung einer Positionsmeldung Verrat und wird mit dem Tode bestraft. Die werden uns alle vergasen und verbrennen.«
»Sofern sie uns finden; falls sie uns überhaupt jemals finden«, sagte Zalumar, schloß die Augen und lächelte sanft. »Ohne Positionsmeldung, ohne Funksignal, ohne Hinweis auf unseren Verbleib werden sie tausend Jahre brauchen. Wahrscheinlich sogar zweitausend. Und wenn sie dann diesen Planeten wiederentdecken, falls sie ihn überhaupt finden, gibt es uns längst nicht mehr. Und nichts könnte mir gleichgültiger sein ais die Frage, wie viele Beamte mehrere Jahrhunderte nach meinem Tod einen Wutanfall bekommen.« »Die Mannschaften glauben, eine Meldung an den Heimatplaneten sei bislang aus strategischen Gründen, die nur den Stabsoffizieren bekannt sei, unterblieben«, sagte Lakin. »Wenn sie die Wahrheit erfahren, werden sie wenig erbaut darüber sein.« »Tatsächlich? Warum denn nicht? Ist ihre patriotische Begeisterung so groß, daß sie es vorziehen, auf einem Raketenofen durchs Weltall zu zischen, statt hier zu bleiben und ein Leben zu führen, wie sie es verdient haben?« »Das ist es nicht, Admiral.« »Was ist es dann?« »Etwa ein Viertel unserer Leute steht kurz vor der Ausmusterung, Admiral.« »Sie haben längst ausgemustert«, erwiderte Zalumar. »Für uns alle ist die Dienstzeit um.« Er seufzte wie einer, dessen Geduld über Gebühr strapaziert wird. »Wir befinden uns im Zustand der vorzeitigen Pensionierung. Wir leben von der Altersunterstützung, deren die Erdenbewohner uns teilhaftig werden lassen, und die ist so üppig bemessen, daß sie alles in den Schatten stellt, was man auf Raidan für die Helden der Nation zu tun pflegt.« »Das mag sein, aber ich fürchte, das reicht nicht aus.« »Was wollen die denn noch mehr?«
»Frauen und Kinder, ein eigenes Häuschen, ein Leben unter ihresgleichen.« »Pah!« »Eine geschlechtliche Vereinigung ist nur mit Wesen unserer Rasse möglich«, fuhr Lakin fort. »Dieses Recht wird unseren Leuten vorenthalten, wenn wir sie über ihre Dienstzeit hinaus hier behalten. Alle Schätze dieses Planeten sind kein angemessener Ersatz dafür. Und was man umsonst bekommen kann, schätzt man im Laufe der Zeit immer geringer ein. Es langweilt einen, nur verlangen zu müssen und alles zu bekommen.« »Mich langweilt’s nicht«, versicherte ihm Zalumar. »Mir gefällt das prächtig.« »Jeden Tag sehe ich die Auslagen voll goldener Uhren«, sagte Lakin. »Aber das reizt mich nicht. Ich besitze eine goldene Uhr, die ich mir geben ließ. Ich brauche nicht fünfzig goldene Uhren. Noch nicht einmal zwei. Was nützen mir die anderen?« »Lakin, ist deine Dienstzeit bald um?« »Nein, Admiral. Ich habe noch zwölf Jahre zu dienen.« »Dann hast du auch keinen Anspruch auf eine Familie. Und du brauchst dir nicht den Kopf der Männer zu zerbrechen, die bald Anspruch darauf haben werden.« »Wir werden unsere Köpfe schon zerbrechen müssen, wenn die anfangen, Schwierigkeiten zu machen.« In Zalumars gelben Augen begann es zu wetterleuchten. »Die ersten Meuterer werden massakriert, als abschreckendes Beispiel für die anderen. Das ist geltendes Flottenrecht, und ich als Befehlshaber kann entsprechende Anordnungen treffen. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich nicht zögern werde, den Befehl zu geben, falls er sich als notwendig erweisen sollte.« »Ja, Admiral, aber – «
»Aber was?« »Ich frage mich, ob wir es uns leisten können, so weit zu gehen?« »Hör endlich auf, in Rätseln zu sprechen, Lakin.« »Vor drei Jahren«, erklärte Lakin, »hatten wir eine Stärke von sechzehnhundert Mann. Heute sind es weniger.« »Sprich weiter.« »Zweiundvierzig starben an der Grippe, weil sie keine natürlichen Abwehrstoffe im Körper hatten. Achtzehn kamen ums Leben, als sie mit einem konfiszierten Flugzeug abstürzten. Dreiundzwanzig haben sich buchstäblich zu Tode gefressen. Zwei verschwanden auf einem Tiefseetauchausflug. Heute früh starben drei, als sie mit ihrem Superrennwagen einen Unfall hatten, den die Erdenbewohner auf ihre Anweisungen hin hatten konstruieren müssen. Etwa vierzig weitere sind auf andere Weise ums Leben gekommen. Unsere Stärke nimmt langsam, aber unerbittlich ab. Wenn das so weiter geht, wird bald keiner mehr von uns übrig sein.« »Mein dummer armer Lakin«, sagte Zalumar. »Ganz gleichgültig, wo wir uns befinden, unsere Zahl nimmt mit der Zeit so oder so ab, sei’s nun hier auf der Erde, oder auf unserem Heimatplaneten.« »Wenn dies auf Raidan geschieht, Admiral, dann würde dadurch nicht unser Untergang näherrücken und der Sieg der Erdbewohner.« Zalumar grinste seinen Adjutanten gallig an. »Der Tod kennt weder Niederlage noch Sieg.« Mit einer lässigen Handbewegung entließ er Lakin. »Geh du hin und streiche den langen Zaun…« Nachdem Lakin hinausgegangen war, ließ Zalumar seinen Nachrichtenoffizier kommen. »Shaipin, ich habe gerade erfahren, daß einige Leute in der Mannschaft unruhig werden. Weißt du etwas darüber?«
»Es gibt immer welche, die unzufrieden sind, Admiral. In jeder Truppe gibt es eine Minderheit von Querulanten. Am besten ist es, man beachtet sie nicht.« »Jedes Schiff verfügt über sechs Funker. Das macht zusammen sechzig Männer. Sind unter diesen solche Querulanten?« »Nicht daß ich wüßte, Admiral.« »Vor über zwei Jahren habe ich dir befohlen, alle Sendeanlagen außer Betrieb zu setzen und dafür zu sorgen, daß sie nicht heimlich betriebsbereit gemacht werden können. Ist das noch der Fall? Hast du es in letzter Zeit nachgeprüft?« »Ich inspiziere sie alle sieben Tage, Admiral. Sie sind nicht einsatzbereit.« »Kannst du das beschwören?« »Ja«, sagte Shaipin mit Überzeugung. »Ausgezeichnet! Besteht die Möglichkeit, daß eines der Geräte in weniger als sieben Tagen einsatzbereit gemacht werden könnte. Daß also jemand zwischen deinen Inspektionen etwas senden könnte?« »Auf gar keinen Fall, Admiral. Es würde mindestens einen Monat dauern, auch nur ein Gerät einsatzbereit zu machen.« »Gut. Ich mache dich auch weiterhin dafür verantwortlich, dafür zu sorgen, daß niemand etwas mit den Sendeanlagen anstellt. Wer dabei erwischt wird, ist auf der Stelle zu töten. Dafür haftest du mir mit deinem Kopf.« Sein Blick verriet dem anderen, daß er es ernst meinte. »Ist Heisham hier, oder macht er irgendwo Urlaub?« »Er ist vor drei, vier Tagen von einem Ausflug zurückgekehrt, Admiral. Wahrscheinlich befindet er sich in seiner Wohnung im Westflügel.« »Richte ihm aus, daß er umgehend zu mir kommen soll. Und dann suchst du Fox und schickst ihn ebenfalls zu mir.«
Heisham und Fox trafen gleichzeitig ein. Der eine trug ein breites Lächeln zur Schau, der andere wirkte gleichgültig wie immer. Zalumar wandte sich an Heisham. »Wie groß ist unsere augenblickliche Stärke?« »Vierzehnhundertundsiebzig Mann, Admiral.« »Also hundertdreißig weniger als bei der Landung, wie?« fragte Zalumar und beobachtete dabei Fox. Der schien nicht darauf zu reagieren. »Ja, Admiral«, entgegnete Heisham fröhlich, den die nüchternen statistischen Daten wenig beeindruckten. »Dein grinsendes Gesicht ist wenigstens eine Abwechslung zu Lakins griesgrämiger Visage«, bemerkte Zalumar bissig. »Worüber freust du dich so?« »Ich habe den Schwarzen Gürtel verliehen bekommen«, erklärte Heisham, und der Stolz schien ihm förmlich die Brust zu schwellen. »Verliehen hast du ihn bekommen? Von wem denn?« »Von den Erdenbewohnern, Admiral.« Zalumar machte ein finsteres Gesicht. »In einer Welt, wo alles konfisziert werden kann, gibt es nichts zu verleihen.« »Der schwarze Gürtel bedeutet nichts, wenn man ihn sich selber nimmt«, erläuterte Heisham. »Sein Wert liegt in der Tatsache, daß man ihn sich verdienen muß. Ich habe mir meinen erworben, indem ich mein Leben riskierte.« »Jetzt sind wir schon hundertdreißig Mann weniger als zu Anfang, und du hast nichts anderes im Sinn, als die Zahl auf hunderteinunddreißig zu bringen. Kein Wunder, daß die Mannschaftsgrade leichtsinnig werden, wenn ihre Offiziere ein solch schlechtes Beispiel geben. Was ist denn das für ein Unsinn, den man dir verliehen hat?« »Das muß ich erklären, Admiral«, sagte Heisham eifrig. »Vor einem Jahr erzählte ich einer Gruppe von Erdenbewohnern,
daß wir Krieger auch wie Krieger aufgezogen werden. Daß wir keine solch alberne Spiele kennen wie Schach und so. Die bei uns bevorzugte Sportdisziplin ist das Ringen. Schon als Kindern wird uns beigebracht, wie man den Arm seines Gegners am besten bricht. Die Folge ist natürlich, daß jeder Raidaner ein ausgezeichneter Ringer ist und eine entsprechend schlagkräftige Kampfmaschine.« »Na und?« fragte Zalumar. »Ein etwas mittelgroßer Erdenbewohner aus der Gruppe zeigte sich interessiert und erkundigte sich nach dem Stil unserer Ringkämpfe. Ich erbot mich, es ihm zu zeigen. Ja, und als ich dann wieder zu mir – « »Was?« brüllte Zalumar. »Als ich wieder zu mir kam«, fuhr Heisham unbeeindruckt fort, »stand er an die Wand gelehnt und beobachtete mich. Ein Haufen Zeugen war auch da, lauter Erdenbewohner, und unter den gegebenen Umständen hätte ich nichts anderes tun können, als den Kerl an Ort und Stelle umzubringen.« »Sehr richtig«, sagte Zalumar und nickte nachdrücklich. »Ich griff ihn mir zum zweiten Mal, diesmal mit der Absicht, ihn zu töten, und als sie mir dann wieder vom Boden aufhalfen, fragte ich – « »Häh?« »Ich fragte ihn, ob er mir zeigen könnte, wie er das gemacht hatte. Er sagte, ich müsse Unterricht nehmen. Ich traf eine Vereinbarung mit ihm und ging auch zu jeder Unterrichtsstunde. Ich habe alle Wettkämpfe und Leistungsproben mitgemacht und es bis zur Perfektion gebracht.« Heisham machte eine Pause und blies seinen Brustkorb zu einem beachtlichen Umfang auf. »Und jetzt habe ich den Schwarzen Gürtel verliehen bekommen.« Zalumar wandte sich an Fox. »Steckst du auch hinter dieser Geschichte?«
»Nein, Herr.« »Dein Glück. Torheit ist schlimm genug. Ich würde es nicht dulden, wenn die Anregung dazu auch noch von eurer Seite käme.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Heisham. »Wir brauchen uns von anderen nichts beibringen zu lassen. Und du, ein Offizier aus meinem Stab, erniedrigst dich und nimmst Unterricht bei einem Besiegten.« »Das ist doch nicht weiter schlimm, Admiral«, entgegnete Heisham unverdrossen. »Und warum nicht?« »Ich habe ihre Technik gelernt, verstehe sie zu beherrschen und übe sie besser aus als sie selbst. Um die Trophäe zu erwerben, mußte ich hintereinander zwanzig von ihnen besiegen. Man kann also mit Recht behaupten, daß ich sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen habe.« Zalumar räusperte sich. Er hatte sich etwas beruhigt, aber sein Mißtrauen war noch nicht restlos ausgeräumt. »Woher willst du wissen, daß sie sich nicht freiwillig von dir haben besiegen lassen?« »Den Eindruck haben sie nicht gemacht, Admiral.« »Eindrücke können täuschen«, entgegnete Zalumar, und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, fuhr er fort: »Wie kam es eigentlich, daß ein mittelgroßer Erdenmensch beim erstenmal mit dir fertiggeworden ist!« »Seine außergewöhnliche Technik hat mich überrascht. Diese irdischen Ringkämpfe sind sehr eigentümlich.« »Inwiefern?« Heisham suchte in Gedanken nach einem leicht zu erklärenden Vergleich und sagte: »Wenn ich Ihnen einen Stoß versetzte, würden Sie ganz natürlich darauf reagieren, indem Sie zurückstoßen. Aber wenn Sie einen Erdenmenschen anstoßen, dann packt er ihr Handgelenk und zieht in dieselbe Richtung, in die Sie stoßen. Er hilft Ihnen praktisch dabei. Und
es ist außerordentlich schwierig, gegen einen zu kämpfen, der einem dabei hilft. Das bedeutet, daß alles, was man unternimmt, über die ursprüngliche Absicht hinaus verstärkt wird.« »Darauf gibt es doch eine ganz einfache Antwort«, sagte Zalumar in verächtlichem Tonfall. »Dann stößt man ganz einfach nicht mehr, sondern man zieht.« »Wenn man vom Stoßen zum Ziehen übergeht, wechselt er sofort die Taktik und beginnt zu stoßen statt wie bisher zu ziehen«, antwortete Heisham. »Er bleibt einfach bei einem und hilft einem. Dagegen kommt man nicht an, es sei denn, man macht sich diese Methode zu eigen.« »Klingt idiotisch. Aber es ist schließlich nicht ungewöhnlich, wenn fremdartige Wesen für uns unverständliche Handlungen begehen. Von mir aus, Heisham, geh und freue dich über deinen soeben gewonnenen Preis. Aber daß du mir bloß nicht andere dazu verführst, deinem schlechten Beispiel zu folgen. Wir verlieren immer mehr Leute. Das geht mir zu schnell.« Er wartete, bis Heisham hinausgegangen war. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Fox. »Fox, dich kenne ich schon eine ganze Weile. Stets hast du dich als gehorsam, ehrlich und wahrheitsliebend erwiesen. Ich schätze dich also von allen Erdenwesen am höchsten ein.« »Danke, Herr«, sagte Fox und strahlte vor Dankbarkeit. »Es wäre schade, wenn du meine Hochschätzung verlieren und dich in die Tiefen meiner Ungnade stürzen würdest. Ich verlasse mich darauf, daß du mir auf ein, zwei Fragen klare Antworten gibst. Du hast nichts zu befürchten und nichts zu verlieren, wenn du mir die reine Wahrheit sagst.« »Was wünschen Sie zu wissen, Herr?« »Fox, ich will von dir wissen, ob du wartest, ganz einfach wartest.« Ratlos fragte Fox: »Das verstehe ich nicht, Herr.«
»Ich will wissen, ob ihr Erdenbewohner euch aufs Warten verlegt habt und nur darauf lauert, daß wir aussterben.« »Oh nein. Das ist nicht so.« »Und was würde euch daran hindern, es doch zu tun?« fragte Zalumar. »Zwei Dinge«, entgegnete Fox. »Zum einen müssen wir annehmen, daß wahrscheinlich eines Tages eine weitere und wahrscheinlich stärkere raidanische Streitmacht die augenblickliche ersetzen wird. Sie werden Sie wahrscheinlich nicht bis ans Ende Ihrer Tage hier bleiben lassen.« »Nun, das wird sich weisen«, dachte Zalumar. Er lächelte in sich hinein und fuhr fort: »Und zweitens?« »Wir sind eine Kolonie von Raidan. Das bedeutet, daß Ihr Planet für die Erde voll verantwortlich ist. Falls uns jemand angreifen sollte, sind die Raidaner gezwungen, um uns zu kämpfen – oder uns zu verlieren. Und das gefällt uns ganz gut so. Ein unbequemer, aber vertrauter Zustand ist besser als einer, den man nicht kennt.« Das klang einfach und plausibel – zu einfach und plausibel. Es mochte die Wahrheit sein, allerdings nur ein ganz kleiner Zipfel der ganzen Wahrheit. Aus irgendeinem undefinierbaren Grund wußte Zalumar, daß man ihm die ganze Wahrheit vorenthielt. Etwas sehr Wichtiges wurde verschwiegen. Was das sein mochte, konnte er nicht einmal raten. Genausowenig gab es für ihn eine Möglichkeit, es aus ihnen herauszuzerren. Was blieb war ein ungutes Gefühl. Vielleicht waren das auch nur die Folgen von Lakins krankhaftem Verfolgungswahn. Zum Teufel mit Lakin, diesem Propheten des Unheils. Mangels einer besseren Taktik wechselte er das Thema. »Einer meiner Experten, Marjamian, hat mir einen interessanten Bericht geliefert. Er ist Anthropologe oder Soziologe oder so etwas ähnliches. Jedenfalls ist er Wissenschaftler, und das bedeutet, daß er lieber eine
Hypothese unterstützt, als einer Idee zustimmt. Ich möchte wissen, was du dazu zu sagen hast.« »Betrifft es uns Erdenbewohner?« »Ja. Er sagt, eure Vergangenheit sei blutig gewesen und ihr wäret drauf und dran gewesen, euch selber auszurotten. In eurer Verzweiflung habt ihr Übereinstimmung erzielt über das einzige Thema, dem alle von euch zustimmen konnten. Ihr habt den permanenten Frieden geschaffen, indem ihr auf Gegenseitigkeit anerkannt habt, daß jede Rasse und jedes Volk das Grundrecht haben soll, so zu leben wie es will.« Er blickte seinen Zuhörer an. »Stimmt das?« »Mehr oder weniger«, antwortete Fox ohne Begeisterung. »Später, als ihr zu den Planeten vorstießt, saht ihr voraus, daß es notwendig sein würde, diese Vereinbarung auszuweiten. Also erklärtet ihr euch bereit, das Recht einer jeglichen Form von Leben anzuerkennen, ihr Leben nach eigenem Wunsch einzurichten und zu leben.« Ein weiterer fragender Blick. »Richtig?« »Mehr oder weniger«, war die etwas gelangweilte Antwort von Fox. »Dann kamen wir«, fuhr Zalumar fort. »Unser Lebensinhalt ist der rücksichtsloser Eroberung. Ihr saßet in einer gedanklichen und moralischen Zwickmühle. Trotzdem erkanntet ihr unser grundlegendes Recht an, selbst wenn es große Opfer für euch bedeutete.« »Es blieb uns kaum eine andere Wahl, wenn man die Konsequenzen bedenkt«, sagte Fox. »Außerdem bringen uns diese Opfer nicht um. Wir haben einigen hundert Raidanern ein Leben im Luxus ermöglicht. Unsere Bevölkerung zählt dreitausend Millionen Menschen. Das ergibt eine Pro-KopfBelastung von jährlich zwei Cents.« Zalumar hob erstaunt die Augenbrauen. »So kann man es natürlich auch ansehen.«
»Und zu diesem Preis«, fuhr Fox fort, »wird unser Planet nicht verwüstet, und wir genießen den Schutz der Raidaner.« »Ich verstehe. Ihr betrachtet die Lage also als für beide Seiten gleichermaßen nützlich. Wir bekommen, was wir haben wollen, und ihr genau so.« Er gähnte zum Zeichen, daß das Interview beendet war. »Nun ja, der Kosmos ist unendlich und beherbergt die seltsamsten Erscheinungen.« Aber nachdem Fox gegangen war, gähnte er nicht mehr. Er saß da und starrte ohne etwas zu sehen auf die bestickten Vorhänge vor der Tür und versuchte stirnrunzelnd zu ergründen, wo der Haken bei der Geschichte sein könnte, falls es überhaupt einen gab. Eigentlich hatte er gar keine Veranlassung zu befürchten, daß es einen Haken geben könnte. Es rührte lediglich von einem vagen Gefühl der Unruhe her, das ihn von Zeit zu Zeit überkam. Und von dem unangenehmen Kribbeln unter seiner Kopfhaut.
Weitere dreieinhalb Jahre gingen ins Land. Die Raidaner waren nun schon sechs Jahre auf dem Planeten Erde. Da kam der Haken plötzlich zum Vorschein. Die erste Warnung, die Zalumar erhielt, daß der Anfang vom Ende gekommen sei, bestand in einem langgezogenen Brüllen, das irgendwo östlich des Palastes einsetzte und mit einem schrillen Pfeifen in den Höhen des Himmels verklang. Zalumar lag gerade im Bett und schlief, als es losging. Das Geräusch riß ihn aus dem Schlaf, und er saß da und überlegte, ob er es geträumt haben könnte. Eine Weile schaute er zu dem großen Fenster des Schlafgemaches hinüber, konnte aber nur ein paar Fetzen sternbesetzte Schwärze zwischen den Wolken erkennen. Draußen herrschte jetzt Totenstille, so als stehe die aus dem
Schlaf gerissene Welt noch unter dem Eindruck dieses infernalischen Heulens. Dann zuckte ein grellroter Blitz auf, der die Unterseite der Wolken beleuchtete. Drei weitere Blitze folgten. Nach einer Weile brachte die Schallwelle das dumpfe Donnern der Detonationen. Der Palast erzitterte in seinen Grundfesten. Die Fensterscheiben schepperten. Zalumar sprang aus dem Bett und rannte zu einem der Fenster, blickte hinaus, lauschte. Er sah zwar noch immer nichts, hörte nun aber deutlich metallisches Hämmern und das Geräusch von Stimmen in der Ferne. Er rannte zurück zum Bett, griff nach dem Telefon, drückte ungeduldig auf den Rufknopf, während er mit den Blicken den Dienstplan dieser Nacht überflog. Natürlich, Arnikoj war OvD der Palastwache. Er fluchte vor Ungeduld, bis sich eine Stimme meldete. »Arnikoj, was ist passiert? Was geht da vor?« »Ich weiß nicht, Admiral. Es scheint irgend etwas auf dem Raumhafen passiert zu sein.« »Stelle fest, was geschehen ist. Du hast doch eine direkte Leitung zum Raumhafen.« »Die Verbindung ist unterbrochen, Admiral. Es meldet sich niemand. Ich glaube, die Leitung ist zerschnitten worden.« »Zerschnitten?« Sein Unwillen stieg. »Unsinn, Mann. Es kann sich nur um eine versehentliche Unterbrechung handeln. Niemand würde wagen, die Leitung zu zerschneiden!« »Zerschnitten oder versehentlich unterbrochen, jedenfalls bekomme ich keine Verbindung«, sagte Arnikoj. »Ihr habt doch Funkgeräte. Stellt sofort eine Verbindung her. Oder hast du plötzlich den Verstand verloren, Arnikoj?« »Wir haben es auf dem Funkwege versucht, Admiral, und sind noch immer dabei. Es meldet sich niemand.«
»Schicke sofort eine bewaffnete Patrouille hin. Sie sollen ein tragbares Funkgerät mitnehmen. Ich brauche unverzüglich genaue Informationen.« Er warf den Telefonhörer auf die Gabel und zog sich hastig an. Keine hundert Meter von seinem Fenster entfernt wurden Stimmen im Garten laut. Dann setzte ein heftiges Rattern ein. Er wollte zur Tür rennen, da läutete das Telefon. Er riß den Hörer hoch. »Ja?« »Zu spät, Admiral«, schrie Arnikoj ihm ins Ohr. »Sie sind bereits – « Ein lautes Rattern übertönte die Worte. Aus dem Hörer drang nur ein Gurgeln und Stöhnen, das leiser wurde und aufhörte. Zalumar rannte aus dem Schlafzimmer und durch den Palastgang. Seine Gedanken überschlugen sich. »Sie«, wer waren »sie«? Eine raidanische Expedition, die das Versteck der Deserteure auf diesem Planeten entdeckt hatten? Verbündete der Erdenbewohner, von denen niemand etwas gewußt hatte und die gekommen waren, um die Okkupanten zu vertreiben? Meuterer aus den eigenen Reihen, angeführt von Lakin? Er rannte so schnell um die Ecke, daß es aussichtslos war, den drei bewaffneten Erdenbewohnern zu entkommen, die den Gang entlanggestürmt kamen. Sie ergriffen ihn noch mitten im Laufen. Es waren drei bärenstarke zähe Burschen mit Stahlhelmen und Kampfausrüstung. Sie trugen automatische Feuerwaffen. »Was soll das?« brüllte Zalumar. »Wißt ihr überhaupt, was – « »Halt’s Maul«, sagte der größte der drei. »Dafür werden Köpfe – « »Maul halten, hab’ ich gesagt!« Eine große, schwielige Hand traf Zalumar mitten auf den Mund. Der Schlag war so heftig
gewesen, daß Zalumar ganz benommen davon wurde. »Schau nach, ob er bewaffnet ist, Milt.« Ein anderer tastete Zalumar ab. »Hat nichts bei sich.« »Okay. Steck ihn in die Kammer. Du bewachst die Tür. Schlag ihm die Zähne ein, falls er frech wird, Milt.« Die beiden Männer verschwanden um die Ecke des Ganges, die Waffen im Anschlag. Etwa zwanzig weitere bewaffnete und ausgerüstete Erdenbewohner erschienen und stürmten hinter den beiden ersten her, ohne den Gefangenen auch nur eines Blickes zu würdigen. Milt öffnete eine Tür und stieß Zalumar die Hand ins Kreuz. »Rein da!« »Weißt du überhaupt, mit wem du – « Milt versetzte ihm einen Tritt gegen den Steiß mit seinen klobigen Nagelschuhen und schrie: »Tu, was man dir sagt!« Zalumar betrat den Raum. Er war klein und enthielt einen langen Tisch und acht Stühle. Er ließ sich auf den nächsten sinken und blickte Milt finster an, der neben der Tür lässig an der Wand lehnte. Kurze Zeit später wurde die Tür aufgestoßen und Lakin taumelte in den Raum. Sein Gesicht war verfärbt und geschwollen, und er blutete aus einer Platzwunde am Kinn. »Arnikoj ist tot«, sagte Lakin. »Dremith, Vasht und Marjamian und die Hälfte der Palastwache leben auch nicht mehr.« Er betastete behutsam sein Gesicht. »Ich habe Glück gehabt. Sie haben mich nur verprügelt.« »Das werden sie büßen«, prophezeite Zalumar. Er musterte den anderen neugierig. »Ich hatte schon den Verdacht, du hättest mich verraten. Das scheint aber nicht der Fall zu sein.« »Es gibt Schwierigkeiten, die lassen sich voraussehen. Ich ahnte schon eine ganze Weile, daß Heisham etwas plante. Es war offensichtlich, daß früher oder später – « »Heisham?«
»Ja. Seine Dienstzeit endete vor zwei Jahren, aber er konnte nicht nach Hause. Und Heisham ist keiner, der sich so etwas gefallen läßt, ohne etwas zu unternehmen. Er hat also auf eine Gelegenheit gewartet.« »Was denn für eine Gelegenheit?« »Wir unterhalten eine Schiffswache rund um die Uhr von achtzig Mann Stärke. Es kommt jeder einmal an die Reihe. Heisham brauchte also nur zu warten, bis er an der Reihe war – er und eine Anzahl Leute, die ebenso dachten wie er. Wenn das der Fall war, konnte er mit den Schiffen machen was er wollte.« »Das würde ihm nichts nützen. Er könnte nicht mit achtzig Mann und zehn Schiffen abhauen.« »Aber mit zwei Schiffen zu je vierzig Mann Besatzung«, sagte Lakin. »Der Mann ist wahnsinnig geworden«, schäumte Zalumar. »Sobald er auf Raidan landet, wird man ihn und die anderen Verhören unterziehen, notfalls mit Folterungen. Und wenn sie alles gesagt haben, was sie wissen, wird man sie als Verräter und Deserteure hinrichten.« »Heisham glaubt das nicht«, entgegnete Lakin. »Er wird die ganze Schuld Ihnen in die Schuhe schieben. Er wird sagen, Sie hätten es verhindert, daß die Lageberichte durchgegeben werden, weil Sie sich die Siegesbeute und den Ruhm nicht nehmen lassen wollten.« »Man wird seiner Aussage, die durch nichts bestätigt ist, nicht glauben.« »Er hat achtzig Leute bei sich, die werden alle dasselbe sagen. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig. Außerdem haben sie die Erdenbewohner dazu gebracht, ihren Bericht zu bestätigen. Sobald eine Untersuchungskommission von Raidan hier eintrifft, werden die Erdenbewohner zu Heishams Gunsten aussagen. Er ist restlos davon überzeugt, daß er auf diese
Weise nicht nur nicht bestraft, sondern vielmehr ausgezeichnet wird.« »Woher weißt du das alles?« fragte Zalumar. »Er hat mir von seinen Plänen berichtet. Hat mich aufgefordert, mit ihm zu kommen.« »Und warum hast du es nicht getan?« »Ich teilte seinen Optimismus nicht. Heisham war mir schon immer etwas zu optimistisch.« »Warum hast du mich dann nicht von der Verschwörung unterrichtet?« Lakin spreizte die Finger zum Zeichen seiner Hilflosigkeit. »Hätte es denn etwas genützt. Wenn Sie ihm Anstiftung zur Verschwörung vorgeworfen hätten, würde er alles abgestritten haben. Schließlich wußte er, was Sie von meinen Besorgnissen hielten. Würden Sie mir denn geglaubt haben?« Zalumar ging nicht auf diese unbequeme Frage ein, sondern verfiel ins Grübeln und meinte nach einer Weile: »Die Erdenbewohner werden seine Aussage nicht bestätigen. Sie gewinnen nichts, wenn sie das tun. Ihnen kann es doch völlig gleichgültig sein, ob Heisham und seine Bande am Leben bleiben oder sterben.« »Die Erdenbewohner sind einverstanden, alles zu bestätigen, was er behauptet – zu einem bestimmten Preis.« Zalumar beugte sich vor und fragte mit mühsam beherrschtem Zorn in der Stimme: »Zu einem Preis? Welchen?« »Die acht Schiffe, die Heisham nicht mitnehmen konnte.« »Einsatzbereit und mit allen Vernichtungswaffen?« »Ja.« Lakin dachte eine Weile nach und fügte hinzu: »Selbst Heisham wäre nicht auf diesen Handel eingegangen, wenn die Erdenbewohner gewußt hätten, wo Raidan liegt. Aber sie wissen es nicht. Sie haben keine Ahnung.«
Zalumar hörte gar nicht mehr zu. Sein Atem ging schwer, und sein Gesicht verfärbte sich zusehends. Plötzlich sprang er auf und brüllte den Wachtposten an: »Du Stück Dreck! Du schmutzige niedrige Kreatur!« »Aber, aber«, sagte Milt und schien lediglich leicht amüsiert. »Deshalb brauchst du dich doch nicht so aufzuregen.« Die Tür ging auf. Fox, McKenzie und Vitelli kamen herein. Der letztere lächelte Zalumar genau so idiotisch an wie die letzten sechs Jahre. Alle drei trugen Uniformen und waren bewaffnet. Jetzt sahen sie auf einmal ganz anders aus. Eine Härte und Entschlossenheit ging von ihnen aus, die Zalumar bisher nicht aufgefallen war. Es war eine andere Härte als die eines raidanischen Soldaten. Da war noch etwas mehr: eine Art geduldige Schläue. Zalumar hatte noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Ohne ihnen Gelegenheit zum Sprechen zu geben, spielte er ihn aus. »Die Schiffe werden euch wenig nützen. Ihr werdet nie erfahren, wo Raidan liegt.« »Nicht nötig«, entgegnete Fox, »wir wissen es schon.« »Lügner. Keiner meiner Männer würde dir diese Auskunft geben, nicht einmal ein so selbstsüchtiges Schwein wie Heisham.« »Es hat uns auch niemand gesagt. Wir haben es von dem abgeleitet, was sie uns nicht gesagt haben.« »Unsinn! Ich – « »Es war zwar eine langwierige und komplizierte Aufgabe, aber wir haben es schließlich geschafft«, unterbrach ihn Fox mit seiner Erklärung. »Ihre Leute fühlten sich einsam und fern der Heimat, obwohl wir sie wie Könige behandelten. Sie waren dankbar, wenn man sich mit ihnen unterhielt. Das nutzten wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus. Keiner hat je gesagt, wo sein Heimatplanet liegt, aber es hat auch keiner behauptet,
von einem anderen Ort zu kommen, wenn wir danach gefragt haben. Im Zeitraum von sechs Jahren fanden achtzigtausend solcher Gespräche statt. Die haben wir analysiert. Auf dem Wege der negativen Auslesen sind wir schließlich auf das System Sigma Octantis gestoßen.« »Falsch«, sagte Zalumar, dem es schwerfiel, sich im Zaume zu halten. »Völlig falsch.« »Das wird sich herausstellen. Aber wir können nicht warten. Vielleicht könnten wir eine Superflotte bauen, die die Vorzüge unserer und eurer Schiffe miteinander verbindet. Aber damit sollen wir uns nicht aufhalten. Es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Noch ein Tag, und wir wissen, wie man mit euren Schiffen umgeht.« »Mit acht Schiffen gehen die Tausende, über die Raidan verfügt?« fragte Zalumar mit einem harten Lachen. »Ihr könnt gar nicht gewinnen.« »Es wird keine Tausende von Schiffen von Raidan geben. Wir werden mit unseren acht Schiffen hinter Heisham herfliegen. Selbst wenn sie ihn nicht einholen können, werden sie in so kurzem Abstand hinter ihm auf Raidan landen, daß die Behörden keine Zeit zu einer Abwehr haben werden.« »Und was geschieht dann?« »Eine neue Binary wird entstehen.« Eine kurze Stille entstand, dann knirschte Zalumar mit dem ganzen Sarkasmus, den er aufbieten konnte: »Und ihr predigt von Grundrechten einer Rasse!« »Sie sitzen zwar im richtigen Boot, nur steuern Sie in die falsche Richtung«, sagte Fox. »Wir erkennen das Recht jeder Rasse an, ihrer eigenen Vorstellung gemäß zur Hölle zu fahren.« »Wie?« »Als ihr ankamt, waren wir bereit, euch dabei zu helfen. Der Fall lag ziemlich klar auf der Hand. Man erwartet vom
Habgierigen und Brutalen nichts anderes als daß er sich habgierig und brutal aufführt. Ihr habt euch in dieser Hinsicht mustergültig benommen.« Fox zog seine Pistole aus der Pistolentasche und legte sie auf den Tisch genau in die Mitte. »Dies ist eine weitere Hilfe unsererseits.« Nach diesen Worten gingen sie: Fox, McKenzie, Vitelli und der Soldat Milt. Die Tür fiel mit lautem Schlag hinter ihnen zu. Das Schloß rastete ein. Von draußen drang das Geräusch von Nagelstiefeln herein, die monoton auf und ab patrouillierten. Zalumar und Lakin saßen da und rührten sich nicht. Die Nacht verging und der darauf folgende Tag auch. Sie starrten auf die Tischplatte, ohne sie zu sehen, und sagten nichts. Als es Abend wurde, drang vom Raumhafen ein mächtiges Dröhnen herüber, gefolgt von einem schrillen Heulen, das allmählich verklang. Dieses Geräusch wiederholte sich noch sieben Mal. Als die Sonne wie ein roter Ball hinter dem Horizont verschwand, stand Zalumar mit aschfahlem Gesicht auf, trat an den Tisch und nahm die Pistole. Kurz darauf entfernten sich die Schritte draußen vor der Tür.
Originaltitel: BASIC RIGHT Copyright © 1958 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION April 1958 Übersetzt von Walter Spiegl