ULLSTEIN 2000
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 21 Science-Fiction und Fantasy von Poul Anderson H. P. Lovecraft Neil R. Jones Michael Moorcock Paul Ernst Luigi de Pascalis
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2936 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ingrid Rothmann, Ute Seeßlen und Walter Ernsting
Umschlagillustration: Fawcett Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02936 1
Die galaktische Liga verkörperte ungeheure Macht, nur für einen Krieg war man nicht gerüstet, weder materiell, noch psychologisch. Dafür kannte man je doch einige Tricks, dem Gegner die Lust am Erobern gründlich zu verderben. DIPLOMATIE DER STÄRKE von Poul Anderson Sie kamen in Wolkenschiffen und spielten auf den höchsten Gipfeln der Berge. Kein Mensch hatte sie je erblickt und überlebt. DIE ANDEREN GÖTTER von H. P. Lovecraft Die Expedition zum Saturn war glatt verlaufen, bis das Schiff in den Nebel geriet, eine weiße Wolke, die sich von organischen Substanzen ernährte. DER WEISSE TOD von Neil R. Jones Chaos und Ordnung, zwei überirdische Mächte im Widerstreit, und ein Spaßmacher, der in Ungnade gefallen war und auf der Erde seine Possen trieb. DIE SINGENDE ZITADELLE von Michael Moorcock Alles verlief normal auf der Mondstation, bis das seltsame Ei vom Himmel fiel, dem ein allesfressendes Ungeheuer entschlüpfte, mit dem Clow Hartigan ganz allein fertig werden mußte. KEINE BESONDEREN VORKOMMNISSE von Paul Ernst
Der Turm barg ein schreckliches Geheimnis. Unergründliches und Vernunft in ewigem Widerstreit, mit abwechselnd vertauschten Rollen. DER TURM von Luigi de Pascalis
Poul Anderson DIPLOMATIE DER STÄRKE
Hurulta, der Arkazhik von Unzuvan, machte seinem Namen alle Ehre. Er war das Prachtexemplar eines männlichen Ulugers, zweieinhalb Meter groß, aber sehr breit gebaut, so daß er kürzer wirkte; er war ein Riese, verglichen mit dem schmächtigen rothaarigen Menschen, der vor ihm stand. Sein Gewand leuchtete in grellen Farben, einer Mischung aus Feuer und Regenbogen, und seine mächtige Stimme brachte die Kristallornamente im Audienzsaal zum Klingen. Doch seine Worte klangen hart und kalt. »Unser Entschluß steht in dieser Angelegenheit ein für allemal fest«, sagte er schroff. »Wenn die Liga deswegen einen Krieg beginnen will, dann wird es zu ihrem eigenen Schaden sein.« Wing Alak, Abgesandter der galaktischen Liga-Patrouille von Sol 3, sah zu dem unbehaarten blauen Gesicht auf und lächelte höflich. Die Uluger waren eine humanoide Rasse – sie hatten an jeder Hand sechs Finger, Krallen an den Füßen und spitz auslaufende Ohren. Das übrige fiel wenig ins Gewicht im Vergleich zu der phantastischen Vielfalt anderer intelligenter Lebewesen, die Alaks Zeitgenossen waren. Die Rasse der Uluger machte äußerlich einen etwas primitiven Eindruck – kleiner Kopf, wulstige Augenbrauen, flache Nase und vorspringendes Kinn –, aber sie war ebenso klug wie andere Rassen auch. Vielleicht sogar ein bißchen zu klug!
»Ich möchte Euer Exzellenz nicht langweilen, aber das Imperium von Unzuvan umfaßt nur ein Planetensystem, in dem nur der Planet Ulugan bewohnbar ist, während die galaktische Liga mindestens eine Million Sterne umfaßt«, sagte Alak. »Sie werden diese Tatsache sicher bei Ihren Überlegungen berücksichtigt haben. Aber ich muß sagen, daß Ihre Entscheidung mich unter den gegebenen Umständen ein wenig erstaunt; würden Euer Exzellenz vielleicht die Güte haben, mir Ihre Haltung zu erklären?« Hurulta schnaubte verächtlich und zeigte dabei sein prächtiges Gebiß. Während all der Jahre, in denen Alak als Abgesandter der Liga und Beauftragter der Patrouille hin und wieder einen Besuch auf Ulugan gemacht hatte, und vor allem während der letzten Monate, in denen er sich wegen der sich zuspitzenden Krise ständig hier aufgehalten hatte, war er zu der Ansicht gekommen, daß dieser Uluger nur ein schwacher, pedantischer Wichtigtuer sei. Doch jetzt schlug Hurulta mit seiner mächtigen blauen Faust in die geöffnete Handfläche der anderen Hand und grinste geringschätzig. »Wir wollen nicht viele Worte verlieren«, sagte er. »Die äußerste Grenze des Einflußbereiches der Liga ist fast tausend Lichtjahre von hier entfernt. Das heißt, Ihre Flotten müßten einen ziemlich langen Weg zurücklegen, wenn Sie uns angreifen wollen. Außerdem haben wir seit Jahren Agenten in Ihr Gebiet eingeschleust. Wir wissen, daß die Bevölkerung im Gebiet der Liga ein wenig… verweichlicht, oder freundlicher ausgedrückt, pazifistisch eingestellt ist. Sie würde keinem Krieg zustimmen, der ihr nur hohe Kosten und Leid bringen würde. Hinzu kommt, daß die Patrouille nur eine kleine Macht ist, hauptsächlich zu dem Zweck eingerichtet, innerhalb der Grenzen der Liga für Ordnung zu sorgen. Also eine reine Polizeitruppe. Wir dagegen sind für einen Krieg gerüstet.«
Er hob seine mächtigen Schultern. »Was soll ich Ihnen noch viel erklären?« dröhnte er. »Wir vertreten nur die angestammten Rechte von Ulugan. Sie gehen Ihren Weg, wir den unseren; wir suchen nicht den Krieg mit der Liga, aber wir fühlen uns andererseits auch nicht verpflichtet, die moralischen Leitlinien einer uns vollkommen fremden Zivilisation anzuerkennen. Falls man uns bedrängt, werden wir das als eine kleine Belästigung empfinden, die leicht zu beseitigen ist; und sollte sich diese Belästigung doch als schwerwiegender erweisen, dann sind wir dazu bereit, tausend Jahre Krieg zu führen, um zu unserem Recht zu kommen. Wir sind ein kriegerisches Volk, Sie nicht: Das ist der wesentliche Unterschied, und zahlenmäßige Überlegenheit ändert daran auch nichts.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und spielte mit einem juwelengeschmückten Dolch. Auch seine Stimme klang jetzt gelangweilt. »Sie können Ihrer Regierung berichten, daß Ulugan bereits die Besetzung von Tukatan und den übrigen Planeten in diesem System vorbereitet. Das ist alles. Sie können gehen.« Die Verabschiedung eines Gesandten in dieser Form war wie eine Ohrfeige. Alak mußte einen Augenblick mit sich ringen, um seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Schließlich glätteten sich seine hageren, scharfgeschnittenen Züge, und seine Stimme klang wie geölt, als er sagte: »Wie Euer Exzellenz befehlen. Guten Tag.« Mit einer Verbeugung verließ er den prachtvoll ausgestatteten Raum.
Schauplatz: Ein Büro des Geheimdienstes der Liga-Patrouille, Bereich Sol, Britn, Terra. Ein spärlich möblierter Raum, einige Sessel, ein Schreibtisch, eine Computerwand mit Tasten und Knöpfen. Die eine Wand ist ganz aus Glas und ermöglicht den
Ausblick auf eine freundliche, hügelige Landschaft, ein paar private Wohneinheiten, und etwas weiter entfernt eine Lebensmittelfabrik. Die Sonne scheint, weiße Wolken ziehen über den Himmel, und ab und zu blinkt das Metall einer Flugmaschine auf. Das alles scheint unendlich weit entfernt zu sein von den Spannungen und Schwierigkeiten galaktischer Politik. Akteure: Myrn Kaltro, Sektorchef, ein großer grauhaariger Mann in der schillernden Uniform eines terranischen Patrouillenoffiziers. Jorel Meinz, soziotechnischer Direktor im Sonnensystem Sol, klein, brünett, lebhaft, gekleidet in den konservativen Farben Gold und Purpur. Wing Alak, Weltraumagent, dandyhaft genug, um die neueste Zivilmode zu tragen – mattes Grau und Blau. Aber man muß dazu anmerken, daß er seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen war. Hintergrund: In einer Zivilisation, die annähernd eine Million verschiedener intelligenter Rassen umfaßt, wovon die meisten sich selbst regieren, einer Zivilisation, die sich noch dazu täglich erweitert, ist es selbst einem gutinformierten Verwaltungsbeamten unmöglich, über alle wichtigen Ereignisse Bescheid zu wissen. Jorel Meinz hatte bis zum heutigen Tag kaum den Namen Ulugan gekannt; und nun sollte er einer Aktion zustimmen, welche die gesamte galaktische Geschichte von Grund auf verändern konnte. Er zog umständlich eine Zigarre hervor, zündete sie an und sog daran, bis sie brannte. Er sprach schnell und abgehackt. »Was hat Sol damit zu tun? Das ist eine Angelegenheit für die Liga-Vollversammlung.« »Die erst wieder in zwei Jahren zusammentritt«, bemerkte Kaltro. »Und das weiß unser Freund Hurulta genau. Um eine beschlußfähige Sondersitzung zusammenzubekommen,
würden wir mindestens sechs Monate brauchen. O ja, sie haben einen guten Zeitpunkt gewählt, diese Uluger.« »Das Oberkommando der Patrouille besitzt umfassende Vollmachten«, sagte Meinz und verzog dabei das Gesicht. »Zu große vielleicht. Ich muß gestehen, mir hat nicht alles gefallen, was mir über Ihre Aktivitäten berichtet worden ist. Doch in diesem Fall – « »Das Oberkommando ist bereit zum Handeln«, sagte Kaltro. »Ich habe schon mit allen Mitgliedern Kontakt aufgenommen. Aber wir befinden uns in einer verzwickten Situation. Die Patrouille ist ursprünglich geschaffen worden, um den Frieden innerhalb der Liga zu sichern. Daß sie es eines Tages auch mit einer Macht außerhalb der Liga aufnehmen würde, davon war nie die Rede. Wenn wir gegen Ulugan etwas unternehmen, begeben wir uns rechtlich gesehen auf unsicheren Boden, und daraus könnte uns eines Tages ein Strick gedreht werden. Viele Politiker der kleinen Regierungen brennen nur darauf, der Patrouille eins auszuwischen und Gesetzesanträge durchzubringen, die ihre Macht beschneiden sollen. Sie könnten Erfolg damit haben, wenn es ihnen gelingt, viele davon zu überzeugen, daß die Patrouille zu einer unkontrollierbaren Maschinerie geworden ist, die auf eigene Faust Kriege anzettelt.« »Ich verstehe. Aber was kann ich in der Sache tun?« »Ihr Einfluß könnte das System-Parlament dazu bewegen, daß es der Patrouille die Vollmacht gibt, gegen Ulugan vorzugehen. Das würde etwa so aussehen: Im Namen von Sol räumen wir der Patrouille Sonderbefugnisse ein, die ab sofort in Kraft treten. Dann werden wir handeln.« »Aber dazu hat ein Sonnensystem allein nicht das Recht. Die Patrouille ist der Liga als Ganzes unterstellt.« »Ich bitte Sie!« Kaltro hob seine graugescheckten Brauen und lächelte, wobei sein Gesicht sich in lauter kleine Falten
legte. »Sie sind doch in der politischen Praxis zu Hause. Sie wissen so gut wie ich, daß Sol noch immer das führende System in der Liga ist. Wenn dieses System uns einen Rückhalt gibt, werden genügend andere Planeten seinem Beispiel folgen und uns bei der nächsten Vollversammlung unterstützen. Es wird praktisch auf eine nachträgliche Billigung hinauslaufen, aber das genügt. Das muß genügen!« »Ja.« Meinz blickte mit finsterer Miene auf die Zigarre hinab, die er zwischen seinen knochigen Fingern rollte. »Ja gut, ich verstehe Ihren Standpunkt. Aber Sie kennen meinen noch nicht. Weshalb sollte ich Ihre Aktionen gegen Ulugan unterstützen?« Er hob die Hand. »Nein, warten Sie, lassen Sie mich ausreden. Soweit ich verstanden habe, herrscht Ulugan über ein einziges Planetensystem, das ungefähr tausend Lichtjahre von der Grenze unseres Einflußbereichs entfernt ist. Und jetzt will es sich ein weiteres Planetensystem einverleiben. Die Bewohner dieses Systems protestieren natürlich dagegen und bitten uns um Hilfe. Aber ich kann mir kaum vorstellen, daß von allen Organisationen der Welt ausgerechnet die nüchterne Liga-Patrouille Interesse an einem Kreuzzug haben sollte. Ein Unternehmen mit dem Ziel, Ulugan zu vernichten, würde ungeheuer kostspielig werden. Selbst wenn es gelingen könnte, was ganz und gar nicht sicher ist, würde es sich allein schon wegen der Transportprobleme über Jahre ausdehnen. Die Uluger würden bestimmt mit Gegenangriffen auf unseren Bereich reagieren und vielleicht sogar bis Sol vordringen. Der interplanetarische Raum ist so unermeßlich groß, daß an eine Abwehrfront nicht zu denken ist. Sie wissen ja, was ein Angriff bedeutet, wieviel Zerstörung, welches Entsetzen – vor allem wenn es sich um einen Angriff mit den modernsten Vernichtungswaffen handelt.
Die Liga ist, wie Sie wissen, weder eine Nation noch ein Großreich oder ein Nationenbündnis. Sie wurde einzig und allein zu dem Zweck gegründet, interplanetarische Streitigkeiten zu schlichten und Kriege zu verhindern. Was sonst noch an Positivem abfällt, ist daran gemessen zweitrangig; die einzelnen Systeme sind politisch und wirtschaftlich so locker miteinander verknüpft, daß sich die Liga niemals zu einem einheitlich regierten Staatenbund entwickeln könnte. Ich will damit sagen, daß sie die Konzentration aller Kräfte, die ein Raumkrieg erfordert, nicht erbringen kann. Wenn Ulugan wirklich so entschlossen ist, wie Agent Alak sagt, könnte es die Liga dazu zwingen, seine Bedingungen anzunehmen, obwohl es als ein Planet gegen eine Million Planeten steht. Die Liga könnte zu dem Entschluß kommen, daß es die Sache nicht wert ist, ihretwegen einen Krieg zu führen. Und die Empörung darüber, in einen Krieg verwickelt worden zu sein, von dem neunzig Prozent der Bevölkerung bis zu dem Augenblick, in dem die Bomben auf sie herabfallen, noch nicht einmal gehört haben – diese Empörung könnte das Ende der Liga bedeuten!« Er führte die Zigarre zum Mund und stieß eine dicke Rauchwolke aus. »Das heißt folgendes, meine Herren«, schloß er. »Wenn Sie wollen, daß ich Ihr Vorhaben unterstützen soll, dann müssen Sie mir noch bessere Gründe liefern.« Kaltro zwinkerte Wing Alak zu. Der Weltraumagent nickte und nahm sich eine Zigarette. Er zündete sie an und begann dann erst zu sprechen. »Lassen Sie mich noch einmal kurz die Fakten aufzählen, Direktor Meinz. Ulugan ist ein fester metallischer Planet, der um eine kleine rote Sonne kreist. Die Bedingungen sind erdähnlich, das heißt, Menschen können dort zwar leben, aber nicht besonders angenehm – die Schwerkraft beträgt eins Komma fünf der Schwerkraft auf der Erde, der Luftdruck ist
hoch, und es ist sehr kalt und windig. Die Bewohner sind eine begabte Rasse, dabei aber wild und unzivilisiert; sie neigen dazu, einem starken Führer blindlings zu folgen. Das sind natürlich eher erworbene als angeborene Charaktereigenschaften, aber sie sitzen inzwischen ziemlich fest. Die Geschichte Ulugans ist eine Geschichte fortwährender Kriege zwischen den einzelnen Nationen, durch welche die technische Entwicklung rasch vorangetrieben wurde, andererseits aber auch die natürlichen Quellen des Planeten erschöpft wurden. Mit einem Wort, ihre Geschichte unterscheidet sich nicht wesentlich von der unsrigen, wie sie vor der Einigung verlief; sie haben jedoch nie eine wirklich psychologische Technologie entwickelt, und ihre Gesellschaft weist deshalb noch viele archaische Züge auf. Vor etwa zweihundert Jahren waren sie technisch so weit, daß sie mit Überlichtgeschwindigkeit reisen konnten, und sie begannen, die nächstgelegenen Planeten zu erforschen und dann rücksichtslos auszubeuten. Sie waren damals noch in Nationen aufgeteilt, und beim Streit um die Beute kam es zwischen ihnen zu einem gewaltigen interplanetarischen Krieg. Eine der Nationen, Unzuvan, besiegte schließlich alle übrigen und brachte sie unter ihre Herrschaft. Das war vor etwa dreißig Jahren. Nicht viel später stieß ein Erkundungsschiff der Liga, das die Sternennebel in der Nähe des galaktischen Zentrums erforschen sollte, auf diese Zivilisation. Natürlich wurden sie aufgefordert, sich der Liga anzuschließen, obwohl sie so weit außerhalb unseres Einflußbereichs leben. Alle ausreichend zivilisierten Rassen werden dazu aufgefordert, und bis dahin hatte noch keine das Angebot abgelehnt. Doch sie taten es. Obendrein noch mit einer ziemlichen Unverschämtheit. Sie gaben als Begründung an, daß sie sich alles, was wir ihnen anzubieten hätten, ebensogut auch selbst verschaffen könnten
und daß es dumm von ihnen wäre, wenn sie ihre Souveränität von uns auch nur im geringsten einschränken ließen.« »Hm. Eine ziemlich paranoide Rasse«, bemerkte Meinz. »Allem Anschein nach. Nun ja, die Liga – oder vielmehr ihr Exekutivorgan, die Patrouille – hat alles getan, was möglich war. Sie hat Botschafter und Kulturattaches dorthin geschickt in der Hoffnung, das Volk allmählich doch noch überzeugen zu können. Das war in den letzten fünfzehn Jahren mehr oder weniger meine Aufgabe, obwohl ich natürlich nur selten persönlich hinfahren konnte. Ich hatte noch soviel anderes zu tun. Jedenfalls hatten wir wenig Glück, außer – « Alak lächelte flüchtig. »Wir besitzen einen gutorganisierten Geheimdienst.« »Sie meinen Spione?« fragte Meinz ungeduldig. »Nein, niemals! Was, niemals? Kaum jemals!« Alaks klassische Anspielung ging bei Kaltro unter, doch Meinz lächelte. »Die politischen und militärischen Geheimnisse von Ulugan haben uns nicht so sehr interessiert«, fuhr der Weltraumagent fort. »Wir haben hauptsächlich die Nachbarplaneten erforscht. Gegen wissenschaftliche Untersuchungen dieser primitiven Planeten konnte ja schließlich niemand etwas einzuwenden haben. Ich werde Ihnen nachher unser gesamtes Material über die soziodynamische Struktur des Imperiums der Uluger geben, jetzt will ich sie nur einmal ganz kurz umreißen: Es gibt eine herrschende Klasse, eine militärische Aristokratie, an deren Spitze ein Alleinherrscher steht, dessen Macht durch Erbfolge weitergegeben wird, und eine dienende Klasse, die sich aus Bauern und Arbeitern zusammensetzt. Die Interessen der Aristokratie sind eng verknüpft mit den großen wirtschaftlichen Interessen – es handelt sich um eine Art Monopolkapitalismus, der einerseits vom Staat gelenkt wird, andererseits auch wieder die Staatsführung beeinflußt. Nein, das ist schlecht ausgedrückt. Sagen wir es lieber so: Die
Industriekonzerne und die Militärkaste zusammen sind der Staat. Die höchste Macht liegt in den Händen des Arkazhik, eine Art Personalunion von Premier- und Kriegsminister. Im Augenblick hat diesen Platz ein gewisser Hurulta inne, ein kluger, aggressiver Mann, der ehrgeizige Ruhmesträume hegt. Nun, Ulugan will sich unter der Führung von Hurulta ein riesiges Imperium erobern. Sie haben es vor allem auf Tukatan abgesehen, einen fruchtbaren Planeten mit einer ziemlich unterentwickelten Bevölkerung. Inzwischen werden sie schon mit der Eroberung begonnen haben – ich war schließlich einige Zeit unterwegs. Aber Sie können sich wohl denken, daß sie es dabei nicht bewenden lassen werden.« »Nein«, sagte Meinz nach kurzem Schweigen. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Und dann fuhr er rasch fort: »Aber was interessiert uns das? Tausend Lichtjahre entfernt – « »Diese tausend Lichtjahre sind keine konstante Größe, sie verringert sich zusehends«, sagte Kaltro. »Das Territorium der Liga dehnt sich immer weiter aus – Neuentdeckungen, Kolonien, Angliederungen neuer Systeme. Das Reich der Uluger wird sich ebenfalls weiter ausdehnen, und zwar auf uns zu. Unsere Analytiker schätzen, daß sich beide Gebiete in rund zweihundert Jahren berühren werden. Eine interplanetarische Zivilisation muß nicht nur in großen räumlichen, sondern auch in großen zeitlichen Dimensionen rechnen. Wir müssen an die Zukunft denken.« »Hm – « Meinz rieb sich nachdenklich das Kinn. »Meiner Ansicht nach werden uns nicht einmal diese zwei Jahrhunderte bleiben, wenn wir Ulugan nicht gleich jetzt Einhalt gebieten«, fuhr Alak fort. »Sie scheinen es direkt darauf abgesehen zu haben, Konflikte heraufzubeschwören. Ein richtiger Krieg würde ihr noch ziemlich junges Imperium besser als alles andere zusammenschweißen .«
Meinz nickte. »Das ist ein guter Gesichtspunkt. Aber kann man sie denn überhaupt aufhalten? Es zu versuchen und dann zu scheitern – das wäre eine Katastrophe.« »Mehr als es versuchen können wir nicht«, sagte Kaltro ernst. »Ich will Ihnen nicht verschweigen, daß ich die Situation für… nun ja, für riskant halte. Aber ich glaube nicht, daß wir uns leisten können, nichts zu tun.« »Trotzdem… ein Krieg« – Meinz verzog den Mund, so als hätte er auf etwas Saures gebissen. »Die Vernichtung ganzer Planeten. Die Ermordung von Millionen unschuldiger Zivilisten, nur um ein paar Aufwiegler zu bestrafen. Das Gesetz des Hasses, das überall die Herrschaft antritt. Die verderbliche Wirkung eines Sieges auf die sogenannten Sieger. Es war immer die Aufgabe der Patrouille, Kriege zu verhindern. Wenn sie jetzt selbst einen Krieg beginnt – « »Wir haben die Absicht, Ulugan Einhalt zu gebieten, ohne uns in einen Krieg verwickeln zu lassen«, sagte Kaltro. »Wie wollen Sie denn das anstellen?« »Das darf ich Ihnen nicht verraten. Es muß ein Geheimnis bleiben.« »Und wenn Sie die Uluger durch Ihr Vorgehen dazu provozieren, Ihnen den Krieg zu erklären?« Alak zuckte mit den Schultern. »Dieses Risiko müssen wir wohl eingehen.« »Ich warne Sie«, sagte Meinz. »Wenn Sie uns in Schwierigkeiten bringen, wird die Vollversammlung Sie dafür persönlich zur Verantwortung ziehen.« Darauf sagte keiner der beiden Patrouillen-Angehörigen etwas. Dann verließ der Direktor mit einem dicken Stoß von Berichten und soziodynamischen Analysen unterm Arm den Raum. Er hatte noch keine feste Zusage gemacht. Doch Kaltro
nickte seinem Agenten aufmunternd zu. »Er wird uns helfen«, meinte er. »Das sollte er auch«, antwortete Alak. »Ich sag Ihnen, die Situation ist schlimmer, als ich beschreiben kann. Man muß selbst auf so einem Planeten gewesen sein und gespürt haben, wie die Spannung und der Haß ständig anwachsen. Es ist wie – nun, man fühlt sich irgendwie klebrig und möchte sich dauernd waschen.« »Können Sie das Unternehmen allein durchführen?« fragte Kaltro. »Ich werde im Hintergrund bleiben müssen, um notfalls aufgeregte Gemüter zu beruhigen.« »Ich kann es versuchen«, sagte Alak. Um seinen Mund lag ein bitterer Zug. »Und dann noch eins, Wing«, sagte Kaltro. »Eine Situation wie diese hat es noch nie gegeben. Wir handeln ohne den Auftrag der Liga; es könnte sein, daß Sie in eine Notlage geraten, in der Sie sich vielleicht berechtigt fühlen, den ersten Grundsatz der Patrouille zu verletzen. Tun Sie es nicht.« »Ich weiß«, sagte Alak. »Jeder Angehörige der Patrouille, der das tut, wird sofort vom Dienst suspendiert und einer Gehirnwäsche unterzogen. Entschuldigungsgründe gibt es nicht. Nun, der Grundsatz wird auch diesmal eingehalten werden. Selbst wenn uns das um den Erfolg des Unternehmens bringen sollte.« Er ging nach einer Weile, um sich an die Schreibtischarbeit zu machen, die jeder großen Unternehmung im Weltraum voranging. Das war nicht bloß bürokratischer Kram, sondern die notwendige Planung und Organisation aller Einzelheiten, die ganz und gar nichts Glanzvolles an sich hatte. Helden mit langen Stiefeln, gepanzerte Kriegsschiffe und feuerspeiende Kanonen kamen dabei nicht vor. Aber mit solchen Dingen hatte die Liga-Patrouille sowieso wenig zu tun. Diejenigen, die den Krieg beenden wollen,
können nicht selbst zu den Mitteln des Krieges greifen, sonst würde der Haß, den Ungerechtigkeiten, Blutvergießen und Zerstörung erzeugen, zuletzt auf sie zurückfallen. Die Patrouille war aber darauf bedacht, den vollkommen ungerechtfertigten Ruf zu nähren, daß sie ein furchtbarer Feind sei; sie verbreitete Nachrichten von erfolgreich geschlagenen Schlachten und hielt immer eine Anzahl imposanter Kriegsschiffe zum Vorzeigen bereit. Wenn die Liga bei irgendwelchen Schlichtungsversuchen mit Vernunftgründen nicht weiterkam, begann die Patrouille zu bluffen; wenn das nicht half, versuchte sie es mit Bestechung, mit Erpressung oder sie zettelte Revolution an – jedes Mittel war ihr recht. Nur ihren ersten Grundsatz verletzte sie nie, der zugleich ihr bestgehütetes Geheimnis war: Unter keinen Umständen darf die Patrouille oder ein Mitglied derselben jemals ein mit Intelligenz begabtes Wesen töten.
Tausend Kriegsschiffe flogen durch die interplanetarische Nacht. Aufklärer bildeten die Vorhut, Kreuzer flankierten sie, und das Zentrum bildeten mächtige Schlachtschiffe, von denen jedes einzelne das gesamte Leben auf einem normal großen Planeten hätte auslöschen können. Ihnen folgten weitere tausend Raumschiffe: Transport- und Proviantschiffe, fliegende Werkstätten. Hinter ihnen lagen die Planeten der Liga, zu glänzenden Sternbildern zusammengerückt; vor ihnen die glühenden Sonnen des Sternhaufens, zu dem Ulugan gehörte. Der Kampfverband entdeckte den Planeten, nach dem er gesucht hatte, einen gelben Zwergplaneten, der etwa zehn Lichtjahre von Tumu entfernt war – Tumu ist nichts weiter als die Bezeichnung der Unzuvaner für Sonne –, und schwenkte in
eine Umlaufbahn um den von Nebeln eingehüllten Nachbarplaneten ein. Aufklärer ließen sich in die Atmosphäre hinab und durchdrangen mit Infrarotstrahlen die Nebeldecke und die Regenschleier; Bodensonden tasteten Tausende Kilometer Sumpfland, Dschungel und gezeitenloses Meer ab, bevor sie auf festen Boden stießen. Dann landeten die großen Werkschiffe. Wing Alak stand im phosphorisierenden Zwielicht und betrachtete die Arbeit, die um ihn herum getan wurde. Sprengladungen hatten eine große rote Wunde in den Dschungel gerissen. Jetzt fuhren im gleißenden Licht der Scheinwerfer automatisch gesteuerte Raupen hin und her und bereiteten ein Landefeld vor. Er konnte durch die beißenden Nebelschwaden nicht bis zu den vorgefertigten Baracken sehen, in denen seine Arbeiter wohnten. Die Lebensbedingungen auf dem Planeten waren für Menschen kaum erträglich. Die Kleider hingen Alak feucht am Leib, er fluchte mit müder Stimme und wünschte, daß die Luft ein wenig trockener wäre und er wenigstens schwitzen könnte. Das Summen des Entkeimers um seinen Hals, der Pilze und Bakterien in der Luft zerstörte, die ihn binnen kurzem töten konnten – dieses ständig gleichbleibende Geräusch machte ihn fast verrückt. Wenn ich bedenke, ging es ihm im Kopf herum, daß ich Techniker in einer Lebensmittelfabrik hätte werden können und jetzt gemütlich zu Hause sitzen könnte… Die schuppenhäutigen, mit Fühlern ausgestatteten Sarussier, die den größten Teil seiner Mannschaft bildeten, stapften fröhlich durch den Dreck. In dieser Hölle sah es fast so aus wie auf ihrem Heimatplaneten. Fast – denn es gab hier gefährliche wilde Tiere, die man draußen in den Fiebersümpfen brüllen hören konnte. Außerdem eine seltsame Sorte von Bäumen, die giftige Dornen abschossen und bereits zwei seiner Männer
getötet hatten. Werden diese dummen Uluger denn nie anbeißen? Daß die Meldung gerade in diesem Augenblick kam, war kein zufälliges Zusammentreffen, denn Alak hatte seit der Landung kaum an etwas anderes gedacht. Der lange, dünne Karkarier, mit dem Schnabelgesicht, der sein Adjutant war, kam vom Nachrichtenschuppen herüber und salutierte steif in dem Weltraumpanzer, den er hier tragen mußte. »Ein Raumgespräch für Sie. Von Tumu.« »Gut!« Alak konnte nicht mehr als nicken, so elend fühlte er sich, aber dann folgte er der hohen Gestalt im Metallpanzer mit neu erwachender Energie. Es begann zu regnen, und er war vollkommen durchnäßt, als er den Schuppen erreichte. Er würde auf dem Bildschirm keinen besonders würdevollen Eindruck machen. Er setzte sich und strich seinen roten Haarschopf zurück. Dieses Gesicht kannte er doch – ja, das war General Sevulan, einer von Hurultas persönlichen Beratern; sie hatten sich ein paarmal getroffen. Er sagte mit aller Munterkeit, die er aufbieten konnte: »Hallo.« Das allein war schon eine Beleidigung. »Sind Sie der Verantwortliche für dieses Unternehmen?« bellte Sevulan. »Mehr oder weniger ja«, antwortete Alak. »Ich verlange sofort eine offizielle Erklärung«, fuhr Sevulan fort. »Einer unserer Aufklärer, der Strahlen entdeckt hatte und sie untersuchen wollte, ist von Ihnen beschossen worden. Er wurde zwar nicht getroffen, aber – « »Schade«, sagte Alak, obwohl er selbst angeordnet hatte, daß das Schiff nicht abgeschossen werden dürfe. »Das ist bereits eine Kriegshandlung«, polterte Sevulan. »Ganz und gar nicht«, erwiderte Alak. »Dies hier ist Militärgebiet. Ihr Aufklärer hat seine Untersuchungen
weitergeführt, obwohl er über Funk aufgefordert worden ist, das Gebiet zu verlassen.« »Sie wollen also auf Garvish 2 einen Militärposten errichten!« »Ganz richtig. Paßt Ihnen daran etwas nicht?« »Garvish ist – « »Niemandsland«, ergänzte Alak kühl. »Wenn Ulugan sich gegen den Willen der Bewohner Tukatan einverleiben kann, dann kann die Liga doch wohl erst recht einen unbewohnten Planeten besetzen.« »Sie befinden sich in einem Umkreis von zehn Lichtjahren um Tumu. Meine Regierung muß diese Besetzung als einen unfreundlichen Akt betrachten.« »Nun, Ihre Regierung ist uns gegenüber auch nicht gerade freundlich gewesen«, meinte Alak. »Wir treffen nur Vorsichtsmaßnahmen.« »Ich stelle Ihnen ein Ultimatum«, sagte Sevulan. »Wir würden es direkt an das Liga-Sekretariat richten, wenn der Funk so weit reichen würde. Deshalb richte ich es nun an Sie: Wenn Sie Garvish nicht sofort verlassen, wird Ulugan Ihre Aggression als Kriegsgrund betrachten.« »Hören Sie – « begann Alak. »Ein Kampfverband ist bereits unterwegs, um Sie gewaltsam zu vertreiben, falls Sie Garvish nicht friedlich verlassen wollen«, sagte Sevulan. »Sie haben die Wahl.« Alak ließ eine Welle von Unsicherheit über sein ausdrucksfähiges Gesicht gleiten. »Ich… soviel Verfügungsgewalt besitze ich gar nicht«, sagte er zögernd. »Sie müssen mir Zeit lassen, bis ich mit meiner Regierung gesprochen habe.« »Nein!« »Ja dann – «
»Sie kennen das Ultimatum«, sagte Sevulan. Der Bildschirm wurde dunkel. Alak stand auf, umarmte seinen Adjutanten und tanzte vor Freude um den Schuppen.
Arkazhik Hurulta beugte sich drohend über seinen Schreibtisch, als hätte er die Absicht, Sevulan tätlich anzugreifen. Dann lockerte er langsam seine geballten Riesenfäuste und lehnte sich zurück. »Sie sind fort, haben Sie gesagt?« wiederholte er. »Ja, Euer Lordschaft«, bestätigte der General. »Als unser Kampfverband auf dem Planeten landete, war er verlassen. Wahrscheinlich haben sie Angst bekommen, als sie unsere Entschlossenheit gewahrten.« »Aber wohin sind sie geflogen?« Sevulan erlaubte sich, die Schultern zu zucken. »Ein Lichtjahr ist zu weit, als daß man das sagen könnte«, meinte er. »Sie könnten überall und nirgends sein, Euer Lordschaft. Ich nehme jedoch an, daß sie schnurstracks nach Hause fliegen.« »Eine Militärstation einfach so zu verlassen, die enorme Investitionen an Arbeitskraft und Material gekostet haben muß – « »Ja, Euer Lordschaft, erstaunlicherweise waren die Anlagen fast fertiggestellt. Sie müssen Arbeiter gehabt haben, denen die Lebensbedingungen auf Garvish 2 vertraut waren. Das ist einer der großen Vorteile der Liga: Unter ihren Bürgern befindet sich für jede vorstellbare Welt eine Rasse, die sich darin wie zu Hause fühlt.« Sevulan lächelte. »Ich schlage vor, daß wir den Stützpunkt selber ausbauen und benutzen. Die Hauptarbeit haben sie uns freundlicherweise ja schon abgenommen.« Hurulta strich sich über das gewaltige Kinn. »Uns bleibt wohl keine andere Wahl«, sagte er. »Wenn wir das Planetensystem
nicht befestigen, können sie jederzeit zurückkehren – es liegt schließlich gefährlich nahe, und ihre Leute lassen sich dort, wie Sie richtig bemerkten, besser einsetzen als die unseren.« Er fluchte vor sich hin. »Eigentlich ist es sehr dumm. Wir benötigen den Hauptteil unserer Truppen, um die Eroberung von Tukatan rasch und sicher abzuschließen. Aber es läßt sich wohl nicht ändern.« »Wir hätten Garvish sowieso eines Tages besetzt, Euer Lordschaft«, gab Sevulan höflich zu bedenken. »Ja, ja, natürlich. Diesen ganzen Planetenhaufen – und danach wer weiß wie viele noch. Trotzdem – « Hurulta war Realist und schob seinen Ärger deshalb rasch von sich. »Wie Sie ganz richtig sagten, wird es uns auf lange Sicht Zeit und Kosten ersparen.« »Ich – « Sevulan wurde durch das Summen des Sichttelefons unterbrochen. Hurulta schaltete es ein. »Ja?« knurrte er. »Hier spricht General Ulanho vom Geheimdienst.« »Ja, ich kenne Sie. Was ist los?« »Eben ist ein Aufklärer zurückgekommen, Euer Lordschaft. Er hat die Nachricht gebracht, daß die Patrouille auf Shang 5 gelandet ist. Offenbar wollen sie jetzt dort eine Militärstation errichten.« »Shang 5 – « »Zwölf Komma drei Lichtjahre von hier entfernt, Euer Lordschaft.« »Das weiß ich selbst! Bleiben Sie am Apparat.« Er schaltete aus und drehte sich energisch zu Sevulan um. »Was für eine Art Planet ist dieser Shang 5?« knurrte er. »Darüber ist wenig bekannt«, erwiderte der General zögernd. »Soweit ich mich erinnere, ist er sehr groß. Doppelt so hohe Schwerkraft wie bei uns, wasserstoffhaltige Atmosphäre,
heftige Stürme, vulkanische Erdbeben – ein richtiger Höllenplanet! Ich verstehe nicht, wie sie es wagen können – « »Die verlassen sich darauf, daß Frechheit siegt«, höhnte Hurulta. »Aber damit kommen sie bei uns nicht durch! Diesmal werden wir ihnen kein Ultimatum stellen. Schicken Sie sofort einen Kampfverband hin, der sie von dort vertreiben soll!«
Der Arkazhik war äußerst schlecht gelaunt, und seine Untergebenen suchten sich möglichst unsichtbar zu machen, wenn er an ihnen vorbeistapfte. Aber schließlich herrschte auf dem ganzen Planeten eine nervöse, gereizte Stimmung. Die Besetzungen von Garvish und Shang hatten sich als schwierige und kostspielige Unternehmungen erwiesen, die den gesamten Plan für die Eroberung Tukatans durcheinanderbrachten. Daß die Flotte der Patrouille Shang schon verlassen hatte, als die Uluganer dort ankamen, hatte ihnen zwar ein Gefecht erspart, war aber nicht gerade beruhigend; der Feind hielt sich noch immer irgendwo im Umkreis von Tumu auf und konnte jederzeit losschlagen und Tod und Vernichtung über die Uluganer bringen. Das bedeutete, daß sie ein wirksames Warnsystem um Tumu herum errichten mußten, das Hunderttausende ausgebildeter Raumfahrer in Anspruch nahm; es bedeutete ferner, daß die Bevölkerung in ständiger Verteidigungsbereitschaft leben mußte, Schutzstaffeln über den Städten, Lahmlegung des Verkehrs, Übungen zur Abwehr von Raumangriffen, Angst vor Spionen – kurz, eine allgemeine Nervosität, die leicht in Hysterie umschlagen konnte. Es bedeutete auch, daß das wenig lohnenswerte Planetensystem um Shang ebenfalls von uluganischen Truppen besetzt werden mußte, damit die Patrouille nicht dorthin zurückkehren konnte. Und es bedeutete Gereiztheit, Verzögerungen, hohe Ausgaben
und eine turbulente Kabinettssitzung, bei der Hurulta die ganze Autorität seiner Persönlichkeit hatte einsetzen müssen, um die unzufriedenen Kabinettsmitglieder noch einmal zu besänftigen. Er fuhr jetzt in einem Aufzugsschacht mehrere Geschosse in die Tiefe und stieg in einem Gang aus, der unter dem Palast in den Felsen gehauen war. In Begleitung seiner Leibwächter, deren schwere Schritte von den Wänden widerhallten, ging er bis zu einer Tür am Ende des Gangs. Er öffnete sie. Drinnen saß zwischen seinen Instrumenten ein Oberst vom Geheimdienst, der sich tief verbeugte. Auf einem Stuhl kauerte ein winziges Wesen. »Von welchem Planeten stammt es?« knurrte Hurulta. »Das hat mir keiner gesagt.« Es war ein mageres, vierarmiges Wesen mit grünlicher Haut und hervorquellenden Augen in einem riesigen Kopf, der für seinen Körper viel zu schwer schien. Es sprach mit flötender Stimme, die seine Angst jedoch nicht verbergen konnte. »Bitte sehr, Euer Lordschaft, ich komme von – « »Sie sind nicht gefragt worden«, bellte Hurulta das Wesen an. Der übergroße Kopf auf dem dünnen Hals zuckte zurück, und der Gefangene begann zu weinen. »Nun?« »Von Aldebaran 8, Euer Lordschaft«, antwortete der Colonel. »Ein Planet im Bereich der Liga. Sein Name ist Goln. Er ist Händler und betreibt seit Jahren in diesem Gebiet seine Geschäfte. Wir haben ihn Ihrer Weisung gemäß vor zwei Tagen zusammen mit den übrigen Fremden festgenommen. Körperliche Gewaltanwendung war nicht nötig – er hat vor Schreck gleich bei den üblichen Befragungsmethoden nachgegeben. Es hat sich herausgestellt, daß er ein Agent der Patrouille ist.« »Soweit bin ich auch schon informiert«, schnaubte Hurulta. »Aber was weiter? Weshalb sollte mich das interessieren? Er hat doch nichts Wichtiges erfahren, oder?«
»Nein, Euer Lordschaft, nicht über uns. Er war nebenbei tatsächlich auch Händler. Er hat Wing Alak nur von Zeit zu Zeit berichtet, was er so überall aufgeschnappt hat. Bei unserer Befragung stellte sich heraus, daß er den Eindruck hat, Alak sei stark an den Umung interessiert.« »Umung… hm… sind das nicht die Insektenwesen? Ungefähr dreißig Lichtjahre von hier am Rande unseres Planetensystems?« »Ganz recht, Euer Lordschaft. Er unterhält seit vielen Jahren Handelsbeziehungen zu ihnen. Es ist eine vollkommen durchorganisierte Rasse, die individuelle Persönlichkeit ist wenig entwickelt, aber die kollektive Intelligenz dafür um so höher. Außerdem sind sie wahrscheinlich die geschicktesten Arbeiter in der ganzen Galaxis.« »Ja, ich erinnere mich wieder. Hat Alak die Absicht, sie gegen uns zu mobilisieren?« »Wenn dieser Goln richtig informiert ist, nein. Es ist eine ganz und gar unkriegerische Rasse; die einzelnen besitzen viel zu wenig Tatkraft, um gute Soldaten zu sein. Goln hatte den Eindruck, daß die Patrouille unter der Hand gern Handelsbeziehungen zu ihnen aufnehmen würde, um Rohstoffe, die auf Umung selten sind, gegen Fertigprodukte einzutauschen. Das würde die feindlichen Versorgungsprobleme sicherlich vereinfachen.« »Ja… das… würde… es.« Hurulta stand einen Augenblick in Gedanken versunken da. Dann schnellte er zu Goln herum und brüllte: »Wie gut kennen Sie die Umung, hä?« Der Aldebaraner kreischte vor Entsetzen auf. Als er seine Stimme wieder in der Gewalt hatte, keuchte er: »Gut, Euer Lordschaft. Ich kenne die Umung g-g-g-ut.« »Sie werden uns Gehorsam leisten und dafür belohnt werden, oder wir reißen Sie Glied für Glied in Stücke. Was möchten Sie lieber?«
»Ich… gehorche, Euer Lordschaft. Die Lügendetektoren werden zeigen, wie gern ich gehorchen will – « »Gut. Ich wünsche, daß Sie mir ein Dossier über die Umung erstellen. Benutzen Sie unsere Computer, um Ihrer Erinnerung nachzuhelfen. Überprüfen Sie alles anhand der Informationen, die unser Geheimdienst bereithält. Ich erwarte den vollständigen Bericht in acht Tagen.« »Ich… ich werde mein Bestes tun, Euer Lordschaft – « Hurulta wandte sich zur Tür. Während er durch den Gang zurückging, wagte niemand ihn anzusprechen; aber er war viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um jemanden wahrzunehmen. Umung – ja. Da lagen echte Möglichkeiten. Nach allem, was er darüber gehört hatte, war der Planet Umung eine richtige Goldgrube. Er mußte unbedingt verhindern, daß Alak sich seiner Bewohner bediente. Doch da war die Patrouille! Solange sie sich in der Nähe aufhielt, konnte er der Liga nicht den Krieg erklären. Das würde ihnen vielleicht genau den Vorwand liefern, auf den sie warteten. Falls er sie irgendwo zu fassen bekam, wollte er gern gegen sie kämpfen, doch bis dahin war es sicherer, abzuwarten und die eroberten Planeten zu befestigen. Obwohl – es würde ja nicht viel kosten, auch Umung zu besetzen, zumal seine Bewohner so friedlich waren, wie es in allen Berichten verlautete. Und dann hätte er endlich etwas zum Vorzeigen, um diese fetten Geldbarone zu beruhigen. Dann würde sich zeigen, daß der Krieg sich lohnte, und sie würden ihn bei seinen weiteren Unternehmungen unterstützen und ihn seine Macht ausbauen lassen, bis er sie eines Tages gegen sie kehren würde, um sie zu stürzen. Umung, ja. Zum Henker noch mal, ja! Man stelle sich ein Wesen vor, das entfernt einer Ameise gleicht. Es ist einen Meter groß und steht auf zwei Beinen aus
Horn, deren gegeneinander geriebene Flimmerhärchen seine Stimme bilden. Es besitzt ein Paar Fühler, die in feinen, knochenlosen Fingern enden. Über diesen Fühlern sitzen die richtigen Arme, und an der Stelle, wo man das Handgelenk vermuten würde, wächst auf beiden Seiten ein Stiel hervor, dessen Ende ein mikroskopisch feines Auge bildet. Der Kopf hat kaum ein Gesicht, nur das Eßwerkzeug und ein zweites Paar Augen für normale Sicht. Dieses Wesen ist vollständig integriert in die Masse seines Volkes, es ist ein geduldiger, unermüdlicher und äußerst geschickter Arbeiter. Außer Nahrung und Schlaf braucht es nur seine Arbeit. Wenn man einmal das Massenbewußtsein – das in der Königin verkörpert ist – davon überzeugt hat, daß es zu seinem Besten ist, alles zu tun, was man ihm aufträgt, dann arbeiten sich hunderttausend kleine braune Handwerker für einen zu Tode. Umung ist kein sehr großer Planet. Seine Atmosphäre ist ziemlich dünn und trocken, die Oberfläche besteht zum größten Teil aus langweiligen Ebenen. Die Soldaten von Ulugan, die dort stationiert worden waren, klagten über Langeweile. Aber es wurden nicht viele gebraucht, und Soldaten haben noch immer gemurrt – das ist nur ein Zeichen von guter Gesundheit. Techniker brauchte man viel nötiger, um die Umung mit den Maschinen vertraut zu machen. Das Volk, das in Schwärmen lebte, lernte jedoch sehr rasch. Goln vom Aldebaran war eine unersetzliche Hilfe; er kannte die Eigenheiten der Bevölkerung genau. Es währte nicht lange, und ein großer Teil des Planeten war in der Lage, für Ulugan Produkte herzustellen. Und wie sie produzierten!
»Okay, Oberst, stehen Sie nicht so herum! Berichten Sie.« »Wenn Sie gestatten, Euer Lordschaft, möchte ich Mitteilung machen, daß eine Staffel Aufklärer weisungsgemäß das Junnuzhik-System durchforscht hat – « »Ich weiß! Wir müssen jetzt jeden Planeten in diesem Bereich beobachten; man kann nie wissen, wo die Patrouille sich als nächstes einnisten wird – Aber was ist nun? Erzählen Sie mir nicht, daß die Patrouille schon wieder versucht, eine Militärstation zu bauen!« »Nein, Euer Lordschaft. Unser Geheimdienst hat einige führende Männer von Ilwar festgenommen, um sie zu verhören – « »IIwar! Was glauben Sie – es gibt tausend bewohnte Planeten, und ich kann mir doch nicht den Namen von jedem kleinen Dreckhaufen merken.« »Der Planet heißt Junnzhik 3, Euer Lordschaft. Es ist der einzige bewohnte Planet in dem ganzen System. Die Bewohner sind Centauroide – große schuppenhäutige Wesen mit Schnäbeln, einem Federschopf – wie ich sehe, erinnern Sie sich jetzt wieder. Nun, die führende Nation auf diesem Planeten heißt Ilwar. Sie haben eine Petroleumtechnologie entwickelt, sind in der Metallurgie ziemlich weit fortgeschritten und so weiter. Mit ein bißchen Druck haben wir in Erfahrung gebracht, daß die Patrouille mit ihnen verhandelt hat. Sie sollten mehrere Millionen Mann stellen, vermutlich für eine Invasion auf unserem Planeten.« »Und – hatte die Patrouille Erfolg?« »Nun, Euer Lordschaft, die Bewohner sind ganz und gar antiuluganisch eingestellt. Sie glauben, daß wir ihren Planeten erobern werden, wenn man uns nicht aufhält.« »Ganz richtig. Aber… o verdammt! Wir werden den Planeten nehmen müssen.« »Es sind tapfere Krieger, Euer Lordschaft.«
»Ich weiß. Und es ist ein großes Unternehmen, einen ganzen Planeten zu besetzen. Aber wir können dort nicht einfach alles Leben auslöschen; wir werden es auf lange Sicht brauchen. Und dann müssen wir gleich das ganze System besetzen, Oberst. Zumindest müssen wir Tausende von Stützpunkten errichten, sonst landen die Raumschiffe der Patrouille irgendwo und nehmen Rekruten an Bord. Die würden das selbst dann noch fertigbringen!« »Euer Lordschaft – « »Schluß jetzt. Machen Sie einen vollständigen Bericht. Und jetzt verschwinden Sie. – Hallo, hallo, verbinden Sie mich mit dem Generalstab… Kommandeur Tuac? Sagen Sie Ihren Planern Bescheid. Wir werden noch eine Welt besetzen.«
»Tuac? Hören Sie gut zu.« »Jawohl, Euer Lordschaft.« »Sie kennen den Planeten Yarnaz 4?« »Hm… lassen Sie mich nachdenken.« »Versuchen Sie es gar nicht erst, Sie sind dazu doch nicht fähig – Sie und Ihre Planer!« »Euer Lordschaft, woher sollten wir wissen, daß die Ilwarer so gute Guerillakämpfer sind? Selbst unter den größten Schwierigkeiten treiben wir die Eroberung voran – es geht nur etwas langsamer, als wir erwartet hatten. Wenn wir nur mehr Truppen und mehr Nachschub bekommen könnten – « »Schweigen sie! Wir haben noch nicht einmal Tukatan fest in der Hand, alles nur wegen dieser Patrouille. Für Junnuzhik muß das genügen, was wir übrig haben. Jetzt hören Sie mir zu, oder ich lasse Sie einen Kopf kürzer machen. Yarnaz ist eine kleine rötliche Sonne, ungefähr fünfzehn Lichtjahre von Tumu entfernt. Ihr vierter Planet ist eine reine Wüstenei, die Luft ist voll giftiger Dämpfe. Trotzdem berichten unsere Beobachter,
daß die Patrouille dort gewesen ist. Aber nicht, um eine Station zu errichten. Sie haben in der Nähe des Äquators den Boden aufgebohrt. Warum?« »Das weiß ich nicht, Euer Lordschaft. Vielleicht haben sie nach Bodenschätzen gesucht – nach spaltbarem Material zum Beispiel – « »Das habe ich schon überprüfen lassen, Sie Idiot! Auf Yarnaz 4 gibt es fast so wenig Bodenschätze wie im leeren Raum.« »Könnte es vielleicht ein Täuschungsmanöver gewesen sein, Euer Lordschaft? Ein Mittel, um unsere Aufmerksamkeit von ihrem wirklichem Vorhaben abzulenken?« »Das wäre möglich. Aber wir wissen es nicht! Die Patrouille scheint die primitiven Planeten in unserer Nähe besser zu kennen als wir selbst. Außerdem stehen ihr die Bewohner Tausender von Welten zur Verfügung, aus denen sie ihre Mannschaften aussuchen kann. Zweifellos gibt es mindestens eine Rasse in der Liga, die sich auf Yarnaz 4 wie zu Hause fühlt. Woher sollen wir wissen, was sie dort wirklich vorhaben?« »Nun, Euer Lordschaft, es… es sieht so aus, als ob wir dort Truppen hinschicken müssen.« »Ich bin froh, daß Sie es endlich begriffen haben. Wann können Sie einen Verband hinschicken?« »Die Planung – Euer Lordschaft, wir haben schon langsam den Überblick verloren. Es wird einfach zuviel. Eine Welt stellt schon ein riesiges strategisches, taktisches und logistisches Problem dar – « »Egal, Yarnaz 4 muß in einem Monat besetzt sein. Oder möchten Sie, daß Ihr Kopf einen Pfahl auf dem Marktplatz ziert?«
Eine Welle von Angst lief Hurulta über den Rücken, als er das Wesen im Käfig ansah. Es schien ganz harmlos zu sein – ein kleines känguruhähnliches Säugetier, mit einem runden Kopf, großen Ohren und einer stumpfen Schnauze. Die feingliedrige vierfingerige Hand ließ auf hohe Intelligenz schließen, die wichtigste Voraussetzung für das Herstellen von Werkzeugen. Die sanften braunen Augen hatten nichts Bedrohliches. Trotzdem hatte Hurulta Angst. Er mußte all seine Selbstbeherrschung zusammennehmen, um dieses Wesen anzublicken und sich gleichzeitig keine Regung anmerken zu lassen. »Es wurde am Stadtrand von Dengavash aufgegriffen, Euer Lordschaft, gleich nach den Unruhen dort«, sagte der Polizist. »Offenbar war es der Anlaß zu diesen Unruhen. Es verbreitet um sich eine Aura von Angst und Schrecken.« Hurulta zwang sich, verständliche Silben zu bilden. »Woher stammt es?« »Wir haben das nachprüfen lassen, Euer Lordschaft. Es stammt von Gyreion, einem Planeten am Rande unseres Planetenhaufens, dessen Bedingungen den unseren nicht unähnlich sind. Die Bedingungen sind noch nicht sehr gründlich erforscht, aber es scheint sich um eine furchtsame paleolithische Rasse zu handeln. Sie besitzen telepathische Kräfte.« »Ich… verstehe. Und wenn sie erschreckt werden, was wohl ziemlich leicht passieren kann, strahlen sie Angstimpulse aus, die sich auf uns übertragen.« »Ja, Euer Lordschaft. Wir nehmen an, daß ein Patrouillenboot ein paar von ihnen aufgegriffen und heimlich hier auf Ulugan ausgesetzt hat. Wir werden die übrigen bald eingefangen haben, und dann sind wir wieder sicher.«
»Hm.« Hurultas großes bläuliches Gesicht zog sich finster zusammen. Es war schwer, mit klarem Kopf nachzudenken und gleichzeitig die Angst, die tief im Innern saß, niederzuhalten. »Eigentlich ein guter Einfall. Aber quantitativ nicht ausreichend. Die Patrouille kann unmöglich genügend viele hier einschmuggeln, um uns ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen.« »Nein, Euer Lordschaft. Es ist nichts weiter als ein kleines Ärgernis. Wie alles, was sie bisher getan haben, nicht wahr… wenn ich meine Meinung dazu äußern darf.« Hurulta drehte sich um und verließ den Raum. Gyreion – hm. Eine ganz besonders harte Nuß, diese Welt – aber es würde sich bestimmt lohnen, sie zu knacken. Wenn man eine genügende Anzahl dieser kleinen Springer auf einem feindlichen Planeten rauslassen könnte – das wäre der Höhepunkt psychologischer Kriegsführung! Die Bevölkerung der Liga-Planeten – ein Haufen Feiglinge. Sie würden einer solchen Beeinflussung durch Angst nicht lange standhalten können, und sich dem erstbesten Kriegsschiff, das vorbeikam, ergeben. Aber zuerst mußte man der Patrouille den Zugang zu Gyreion abschneiden. Eine Besetzung würde nicht allzu viele Truppen in Anspruch nehmen; es war schließlich kein kriegerisches Volk. Und wenn ihre Angst sich erst einmal gelegt hatte, würden sie ganz harmlos sein – für Ulugan jedenfalls. Diesmal, mein Freund, dachte er mit grimmiger Freude, diesmal bist du doch zu weit gegangen!
Wing Alak begann die Zeit lang zu werden. Er konnte jetzt nicht viel mehr tun, als in seinem Flaggschiff zu sitzen und die Berichte seiner Aufklärer zu studieren. Deshalb freute er sich über den Besuch, den das letzte Kurierschiff von zu Hause
brachte, obwohl er sich auf eine harte Auseinandersetzung gefaßt machen mußte. Jorel Meinz betrat das Schiff und folgte Alak durch einen langen Korridor. Er rümpfte die Nase bei den eigenartigen Gerüchen, die ihm entgegenschlugen. Die Mitglieder der Mannschaft stammten zwar alle von terrestroiden Planeten, aber jeder hatte seine charakteristische Ausdünstung und seine ganz bestimmte Art zu kochen; und auch das beste Ventilationssystem konnte die Luft nicht ganz reinigen. Aber dann sagte sich Meinz, daß ein Terraner für sie wohl auch nicht angenehmer roch. Alaks Kabine war sehr geräumig und luxuriös eingerichtet. Eine große Sichtscheibe zeigte die unheimliche Weite und Leere des Weltraums, und die anheimelnde Bequemlichkeit des Zimmers schien vor allem dazu da zu sein, um einen diesen trostlosen Anblick vergessen zu machen. Der Patrouillen-Agent wartete, bis er mit seinem Gast allein war, und schenkte dann Drinks ein. »Scotch«, sagte er. »Für Sie ist das vielleicht nichts Besonderes, aber für uns hier draußen ist es der höchste Luxus.« »Die Patrouille scheint es sich recht gutgehen zu lassen«, bemerkte Meinz spitz. Alak nickte. »Ziemlich gut. Wenn man monate- oder jahrelang hier draußen in einer völlig fremden Umgebung lebt, dann ist jede Art von Bequemlichkeit ein großer Trost. Es ist reiner Irrglaube, anzunehmen, daß Wesen mit einem niederen Lebensstandard besonders zäh sind.« Er hob sein Glas und schlürfte genußvoll. »Sind Sie sicher, daß Sie hier nicht entdeckt werden?« fragte Meinz. »Ich stelle mir vor, daß der Feind wie wild überall im Weltraum nach Ihnen sucht.«
Alak grinste und sah dabei mehr denn je einem Fuchs ähnlich. »Darauf können Sie Gift nehmen«, sagte er. »Und je mehr sie nach mir suchen, desto lieber ist es mir, denn sie vergeuden auf diese Weise sinnlose Zeit, Männer und Material. Ein Raum mit Ausmaßen von mehreren tausend Lichtjahren ist doch ein schönes Versteck. Und wenn sie durch einen verrückten Zufall doch einmal auf uns stoßen sollten, brauchen wir uns nur davonzumachen.« Meinz runzelte finster die Stirn. »Das ist der Grund, weshalb ich hier bin«, erklärte er schroff. »Ist man zu Hause mit meiner Art, das Unternehmen durchzuführen, nicht zufrieden?« »Offen gestanden, nein. Ich bin jetzt auf Ihrer Seite, Alak. Ich war derjenige, der die Sondergenehmigung Ihres Auftrags im Parlament durchgesetzt hat. Aber seitdem ist fast ein Jahr vergangen, und Sie konnten bis jetzt noch nicht den geringsten Erfolg melden. Ihre Berichte bestanden aus reinen Phrasen. Schließlich haben gewisse politische Gruppen auf eigene Faust eine Flotte ausgerüstet und Beobachter ausgesandt – « »Es ist ein Wunder, daß sie nicht geschnappt worden sind. Hurulta besitzt einen gutorganisierten Geheimdienst.« »Nun, sie sind nicht geschnappt worden. Sie haben genügend gesehen und sind blitzschnell wieder nach Hause geflogen, und jetzt ist auf Terra der Teufel los – « »Ach ja! Das erklärt alles. Hurulta muß das vorausgesehen haben, deshalb hat er den Beobachter freie Bahn gelassen. Ein schlauer Fuchs, dieses alte Blaugesicht.« »Aber Sie müssen zugeben, daß den Beschwerden eine gewisse Berechtigung zugrunde liegt«, sagte Meinz mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Die Vollmacht, die Ihnen das Parlament gegeben hat, ist rechtlich noch nicht abgesichert und müßte bei der nächsten Vollversammlung bestätigt werden, aber das ist doch nur möglich, wenn Sie
greifbare Erfolge vorzeigen können. Statt dessen aber vertrödeln Sie hier draußen nur Ihre Zeit – wie ein Drückeberger, könnte man sagen. Sie haben noch nicht eine einzige Schlacht geliefert, nicht einmal ein kleines Scharmützel. Sie haben tatenlos zugesehen, wie Ulugan nicht weniger als sieben Planeten besetzt hat – « »Nach den letzten Berichten sind es jetzt ungefähr zwanzig«, sagte Alak sanft. »Sehen Sie, wir haben sie verunsichert. Sie greifen wahllos nach allem, was für uns irgendwie von Bedeutung sein könnte.« »Mit anderen Worten, Sie treiben sie genau in die Richtung, die sie selbst eingeschlagen haben«, sagte Meinz. »Ganz richtig.« »Sehen Sie, Alak, ich habe persönlich diese lange, beschwerliche Reise unternommen, um Ihren Standpunkt zu erfahren. Ich werde zu Hause eine Erklärung abgeben müssen, oder man wird Sie trotz meines Einsatzes zurückbeordern. Und ich bin jetzt nicht einmal mehr sicher, ob ich mich einem solchen Beschluß widersetzen würde.« »Trauen Sie mir ein bißchen Verstand zu«, bat Alak. »Ich kann Ihnen nicht alles sagen. Der wirkliche Grund dafür, daß wir in dieser Weise verfahren, ist ein Geheimnis der Patrouille. Lassen Sie mich nur soviel sagen, daß ein offener Krieg grausam und kostspielig wäre und daß ich nicht einmal glaube, wir könnten ihn gewinnen.« »Aber was tun Sie denn nun wirklich, Mann?« »Ich sitze herum«, sagte Alak lachend. »Ich sitze herum, trinke Scotch und lasse den Dingen ihren Lauf.« Der Militärarzt blieb vor dem Zelteingang stehen. Unaufhörlicher Regen rann über seine Schultern herab und bildete um seine dreckbespritzten Schuhe eine Pfütze. Im Schein der Lampe, die innen brannte, bemerkte er, daß auch dieses Zelt schon von Pilzen befallen war. Noch bevor acht
Tage um waren, würde es sich in Lumpen aufgelöst haben. Doch in den Metallbaracken, die die Patrouille zurückgelassen hatte, konnte man sich auch nicht aufhalten – es war darin so heiß wie in einem Backofen, und die Klimaanlagen verrosteten so rasch, daß man sie gar nicht erst aufzustellen brauchte. Er salutierte müde. Der Kommandant des Stützpunktes Garvish blickte von seinem Galanzu-Solitaire-Spiel auf. »Was gibt’s?« fragte er teilnahmslos. »Weitere fünfzehn Männer liegen mit Fieber darnieder«, meldete der Militärarzt. »Und von den früheren Fällen sind zehn gestorben.« Der Kommandant nickte. Das Licht spiegelte sich auf seinem feuchten, kahlen Schädel. Sein blaues Gesicht sah abgezehrt und unnatürlich erhitzt aus, und die ehemals elegante Uniform hing feucht an seinem Körper herunter. »Die Entkeimer arbeiten nicht, was?« fragte er. »Fangen Sie nicht wieder damit an, Sir«, sagte der Arzt. »Es scheint sich um einen Virus zu handeln, dem die Schwingungen nichts ausmachen, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen, ihn zu isolieren.« »Wir sind für dieses Klima einfach nicht geschaffen.« Der Kommandant schüttelte den Kopf und griff mit zittriger Hand nach einer Flasche. »Wir sind eben Kaltzonenbewohner.« Draußen im Dschungel brüllte ein wildes Tier. »Außerdem sind in den letzten acht Tagen noch einige weitere Leute durch giftige Pflanzen umgekommen«, sagte der Arzt. »Ich weiß. Ich habe im Hauptquartier dringend darum nachgesucht, daß sie uns Luftkuppeln und Raumanzüge schicken. Aber man hat mir gesagt, diese Dinge würden anderswo nötiger gebraucht.«
In den Augen des Militärarztes regte sich ein Hoffnungsschimmer. »Wenn dieser Planet Umung erst anfängt zu produzieren.« »Ja, ja. Aber dann werden Sie und ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben sein.« Der Kommandant schüttelte sich. »Ich friere.« Seine Stimme klang auf einmal ganz hoch und dünn. »Sir – « Der Arzt trat aufgeregt einen Schritt vor. »Sir, lassen Sie mich einmal Ihr Gesicht anschauen – « Der Kommandant stand auf. Er stützte sich einen Augenblick auf den Tisch, dann krümmte er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und sank zu Boden.
Wälder, endlose Wälder, dahinter Ebenen und Berge und Meer, und überall drohte der Tod. Der Ulugertrupp kämpfte sich langsam durch die Wälder voran. Alle ihre Detektoren waren in Betrieb, um Metall, mentale Vibrationen oder die Hitzestrahlen lebender Körper anzuzeigen. Trotzdem schweiften ihre Blicke unruhig unter den großen viereckigen Helmen umher, und immer wieder zuckten ihre Hände zu den Waffen. In der Mitte der Kolonne saß in einem gepanzerten Wagen der Truppführer. »Es hat keinen Sinn«, sagte er zu seinem Adjutanten. »Die Ilwarer sind einfach zu zäh.« »Sie sind uns unterlegen«, meinte der Adjutant. »Jedenfalls im offenen Kampf.« »Dazu lassen sie es ja nicht kommen. Wie soll man gegen ein Volk kämpfen, das seine Häuser verläßt und seine Felder verbrennt, bevor wir überhaupt hinkommen? Welchen Sinn haben solche dummen kleinen Aktionen wie diese? Wenn wir ausziehen und zur Vergeltung eine Stadt niederbrennen – was kümmert das den Feind? Es gibt ihm nur Gelegenheit, uns noch ein bißchen mehr zu schikanieren.«
»Wir werden es ihnen schon noch zeigen, Sir«, sagte der Adjutant. »O ja, natürlich, auf die Dauer. Wenn wir genügend Truppen und Nachschub hier haben. Aber verdammt noch mal, ich bekomme einfach nicht mehr!« Vor ihnen explodierte eine Granate. Der Truppführer sah, wie drei seiner Männer zerrissen wurden. Eine Maschinenwaffe begann zu rattern. »Guerillas!« brüllte er. Er sah die großen grünen Gestalten, die aus dem Busch sprangen. Sie waren schnell wie der Wind, diese Teufel, und sie konnten soviel Munition auf dem Rücken tragen, wie auf einen kleinen Lastwagen ging. Das Kriegsgeschrei jagte ihm einen Angstschauer über den Rücken. Die Panzer eröffneten das Feuer auf den Feind. Eine der großen Maschinen war plötzlich in eine rote Rauchwolke gehüllt – eine Feuerbombe. Die uluganischen Fußsoldaten hatten sich in den Dreck geworfen und feuerten auf die herumlaufenden, schreienden Centauroiden. »Schlagt sie zurück!« brüllte der Truppführer. »Schlagt sie zurück!« Nach kurzem heftigen Kampf gelang es ihnen. Doch zuvor traf noch eine Bombe den Wagen des Truppführers und zerstörte alles, was darin war.
Der Oberst blickte durch die dicke Plastikluke und erschauerte. Draußen breitete sich eine unendlich düstere Landschaft aus. Giftige Nebel hingen wie eine Wand vor dem unsichtbaren Horizont. Er meinte, irgendwo im Nebel plötzlich den roten Feuerschein eines Vulkans zu sehen. Gleich darauf bebte der Boden unter seinen Füßen. »Sie Dummkopf!« schrie er. »Sie absoluter Versager!«
Der Geologe verteidigte sich. »Wir haben alles getan, was wir konnten, Sir. Nach allen unseren Erfahrungen hätte der Boden hier sicher sein müssen.« »Ein Stützpunkt ist bereits durch ein Erdbeben vernichtet worden. Reicht Ihnen das noch nicht?« Der Wind drückte gewaltig gegen die Kuppel. Sie hatten noch nie solche Stürme erlebt wie hier auf Shang 5. Ein Wirbel von Hagelkörnern prasselte wie eine Gewehrsalve von außen gegen die Luke. »Sir«, sagte der Geologe, »dieser Planet ist vollkommen verrückt. Die Werte unserer Messungen hätten in jeder normalen Welt einen felsenfest sicheren Boden bedeutet.« »Trotzdem ist eine der Kuppeln vor kurzem aufgerissen. Alle Männer, die sich darin aufgehalten haben, waren sofort tot. Sie und Ihr Team gehören vor ein Kriegsgericht.« Der Geologe nickte. »Wenn Sie meinen. Aber darf ich den Vorschlag machen, daß wir uns ein anderes Gelände suchen? Hier ist es offenbar doch zu gefährlich.« »Ist Ihnen denn nicht klar, was das bedeutet? Welchen Aufwand an Arbeit und Material es erfordert, wenn wir auf diesem Planeten das Lager wechseln?« »Das kann ich nicht ändern, Sir. Ich schlage hiermit offiziell vor, daß wir den Standort wechseln.« »Mich wird man im Hauptquartier auch zur Verantwortung ziehen«, sagte der Oberst finster. Er sah wieder hinaus auf die unheimliche Landschaft. »Woher sollten wir das wissen? Wer hätte ahnen können, daß es so sein würde?« Die Patrouille hat es gewußt! sagte eine Stimme in seinem Innern. Sie haben es gewußt! Alles, was ich jetzt tun kann, ist, den Vorschlag machen, daß wir hier so rasch wie möglich wieder abziehen. Die anderen Kommandeure hier werden das
unterstützen. Aber das wäre eine Einladung an den Feind, wiederzukommen. Der Boden bebte. Der Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch begann zu hüpfen. Draußen, keine fünf Meter weit entfernt, öffnete sich der Boden – langsam, gewaltig, unaufhaltsam. Feuer quoll aus der Öffnung, und eine Lavawelle kroch langsam auf die Kuppel zu.
Die Familie Elgash hatte sich von einem Bauerngeschlecht in einem kolonisierten Land langsam emporgearbeitet; sie war erst vor fünfzig Jahren geadelt worden. Hurulta verachtete sie schon allein deswegen, aber auch weil sie Besitzer des Munitionskonzerns war. Trotzdem unterschätzte er den Mann nicht, der jetzt ihm gegenüber vor dem Schreibtisch saß. Das gegenwärtige Oberhaupt der Familie Elgash war ein fettleibiger, asthmatischer und eitler Mann, aber er besaß einen kühl berechnenden Verstand und einen starken Willen. »Ich bin im Auftrag verschiedener anderer hier, Euer Exzellenz«, sagte er. »Ich brauche sie wohl nicht einzeln zu nennen.« »Die Geldbarone«, sagte Hurulta verdrießlich. »Die Industriebosse und Finanzmänner. Und was ist mit ihnen?« »Kann ich offen sprechen?« fragte Elgash. »Nur zu. Wir sind allein.« »Die Gruppe, in deren Namen ich spreche, ist mit der Art der Kriegsführung nicht einverstanden.« »Ach – und da haben Sie sich selbst zum neuen Generalstab ernannt?« »Lassen Sie den Sarkasmus, Euer Exzellenz. Es war geplant, daß Tukatan innerhalb von sechs Monaten unterworfen sein sollte. Jetzt ist fast ein Jahr vergangen, und wir kämpfen noch immer dort.«
»Wir hätten Tukatan vom Weltraum aus bombardieren können«, rechtfertigte sich Hurulta, »aber Sie wissen selbst, daß wir damit den Wert des Planeten zerstört hätten. Wir mußten langsam vorgehen. Und dann ist die Patrouille aufgetaucht und hat alles kompliziert.« »Das ist mir klar.« Elgashs Arroganz trat deutlicher zutage als je zuvor. »Aber statt sich darauf zu konzentrieren, Tukatan zu erobern und die Patrouille aus dem Weg zu schaffen, haben Sie und Ihr Ministerium nichts Besseres zu tun gewußt, als sich gleich auf den ganzen Planetenhaufen zu stürzen. Sie haben versucht, Planeten zu erobern, von denen vorher kaum jemand etwas gehört hatte.« »Um die Patrouille daran zu hindern, sie gegen uns einzusetzen.« Hurulta nahm sich zusammen. »Gut, ich gebe zu, daß wir Schwierigkeiten hatten. Aber wir machen Fortschritte. Auf lange Sicht steht unserem allgemeinen Führungsanspruch nichts mehr im Weg. Das heißt, der Erfolg kann nicht ausbleiben.« »Tatsächlich? Ich neige eher zu der Ansicht, daß selbst Ihre Erfolge von sehr zweifelhaftem Wert sind. Nehmen wir zum Beispiel diese verlassene kleine Sandinsel Yarnaz 4. Es war nicht weiter schwierig, sie zu erobern. Aber die Kosten, die nötig sind, um unter so extremen Lebensbedingungen dort Stützpunkte zu unterhalten, grenzen ans Phantastische. Dabei wird unser Volk durch Steuern aufs äußerste belastet, und die neue Besteuerung der herrschenden Klasse ist einfach unerhört.« »Das muß sein. Oder hätten Sie es lieber, wenn die Patrouille sich hier einschaltet und alles in die Hand nimmt?« Elgash ging darauf nicht ein. »Ihr gröbster Fehler war natürlich die Besetzung von Umung«, sagte er kühl. »Was?« Das verschlug Hurulta einen Moment lang die Sprache. Dann schluckte er langsam seine Wut hinunter, und
als er wieder sprach, klang seine Stimme knapp und beherrscht. »Das war das Unternehmen, das genau nach Plan ablief. Mit einem geringfügigen Aufwand an Arbeitskraft und Material haben wir unsere Rüstungsproduktion bereits verdoppeln können. In einem Jahr werden wir sie wahrscheinlich vervierfacht haben.« »Ich dachte bisher immer, Sie seien Realist, Euer Exzellenz«, sagte Elgash. »Ich dachte, Sie wüßten, auf welcher ökonomischen Grundlage das Imperium aufgebaut ist. Oder wollen Sie meine Klasse absichtlich ruinieren?« »Sind Sie nicht bei Verstand? Zuerst beklagen Sie sich über die Steuern, und wenn ich einen Weg finde, um die Produktion zu erhöhen, ohne daß es uns viel kostet, dann – « »Euer Exzellenz, wir besitzen eine bestimmte Anzahl von Soldaten, und das Kriegsmaterial, das sie verbrauchen können, ist deshalb irgendwo begrenzt. Wenn nun Umung alles produziert, was soll dann aus unseren eigenen Fabriken werden?«
Angst. Shamuvaz, Soldat des Imperiums, sah sich um. Er bewegte den Kopf ganz langsam aus Angst, er könne etwas hinter seinem Rücken entdecken. Aber da war nur die Landschaft – gekrümmte Bäume, das säuselnde rötliche Gras und in der Ferne ein Wasserfall, der das Echo auf sein wildes Herzklopfen zu sein schien. Er fühlte sich elend. Am liebsten hätte er sich übergeben. Wenn er seine Kameraden anblickte, kamen ihm ihre Gesichter fremd und unheimlich vor. Sie waren böse. Sie waren böse geworden durch Angst, die gleiche Angst, die auch ihn quälte, und er fürchtete, sie könnten sich in Panik auf ihn stürzen und ihn in Stücke reißen.
Shamuvaz wimmerte leise und dachte an seine Frau und seine Kinder. Sie waren so weit fort, Jahrhunderte weit, er würde sie nie wiedersehen. Er würde auf Gyreion sterben, sein Fleisch würde verrotten, der Wind würde durch seine Rippen streichen, und kleine Tiere würden in seinem leeren Schädel nisten. Sie behaupteten, daß es ganz harmlos sei. Sie sagten, die Eingeborenen hätten Angst – entweder waren sie durch die Patrouille so beeinflußt worden, daß man mit ihnen einfach nicht verhandeln konnte… oder spürten sie mit ihren telepathischen Fähigkeiten, daß Ulugan sie nur als Schachfiguren benutzen wollte? Jedenfalls hatten sie Angst, und man selbst fühlte und hörte diese Angst. Das sei aber nicht weiter schlimm. Man dürfe es nur nicht beachten. Es sei eines Soldaten des Imperiums unwürdig, sich vor einem Nichts zu fürchten. Die Generäle waren die einzigen, die nicht mit der Angst leben mußten. Sie brauchten sich nicht Nacht für Nacht zu quälen, um wachzubleiben aus Angst vor den Träumen, die sie schreiend hoch jagten, wenn sie trotz allem doch einmal kurz in Schlaf fielen. Sie mußten nicht mitansehen, wie ihre Kameraden einer nach dem andern durchdrehten und als kindliche Idioten heimgeschickt wurden, und sie brauchten sich nicht zu fragen, wann sie an die Reihe kommen würden. Angst, Panik, blindes Entsetzen. Shamuvaz stöhnte leise. Als eine Hand seine Schulter berührte, sprang er fluchend auf und schnellte herum. Er hatte seine Pistole gezogen, bevor er erkannte, daß es Armazan war. Armazan war früher sein bester Freund gewesen. Aber jetzt konnte man niemandem mehr trauen. Er hielt die Pistole auf Armazans Bauch gerichtet. »Mach das nicht«, keuchte er. »Mach das nie wieder.«
»Hör zu.« Armazan sprach rasch mit zitternder Stimme. »Hör zu, Sham, wir treffen uns nach dem Zapfenstreich unten am Fluß. Schleich dich aus der Baracke und komm zu uns.« »Was – was – was? Ich soll nach Anbruch der Dunkelheit ins Freie gehen? Du bist verrückt! Dieser Planet hat dir den Verstand geraubt.« »Nein, so nicht, so nicht. Paß auf! Etliche von uns haben beschlossen, daß wir das hier nicht mehr mitmachen. So etwas kann das Imperium nicht von uns verlangen. Das ist einfach zuviel. Den Offizieren können wir nicht vertrauen. Wir müssen sie aus dem Weg räumen – ein Schuß in den Rücken – es ist ganz einfach, wenn wir alle zusammenhalten – und dann nehmen wir das Raumschiff – « Hurulta hatte den ganzen letzten Monat schlecht geschlafen, und Aufputschmittel schienen seine alte Kraft auch nicht wiederherstellen zu können. Er stützte die Arme auf den Schreibtisch und preßte die Hände gegen seine hämmernden Schläfen. »Es hat keinen Sinn«, sagte er laut. »Wir müssen die Truppen von Gyreion abziehen. Jedes Regiment ist dort dienstuntauglich geworden. Es wird Monate dauern, bis wir sie wieder irgendwo einsetzen können.« »Aber die Patrouille, Euer Lordschaft – « wandte Sevulan zögernd ein. »Die Patrouille! Wir errichten einen Stützpunkt auf dem Nachbarplaneten und lassen einige Aufklärungssatelliten um Gyreion kreisen. Das hätten wir gleich machen sollen.« »Aber dann könnte die Patrouille leicht angreifen, unsere Truppen vernichten und das ganze Planetensystem besetzen – « »Ich weiß. Das Risiko müssen wir eben eingehen. Wenn diese Wichtigtuer nur aus ihren Verstecken herauskommen
würden, um zu kämpfen! Jetzt ist es so, wie wenn man sich mit Schatten herumschlägt.« »Euer Lordschaft, mir ist zu Ohren gekommen, daß der Generalstab vor hat, Sie zu überstimmen und den Abzug unserer Truppen von Garvish und Shang anzuordnen. Sie sagen, es sei zu kostspielig, diese Planeten zu halten; es sei ein Verschleiß an Männern, die anderswo nötiger gebraucht ! würden – « »Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen!« brüllte Hurulta. »Das weiß ich selbst, Sie Idiot! Ich weiß alles! Diese Trottel! Diese kurzsichtigen Esel – ach!« Er ballte die Fäuste. »Aber Umung geben wir nicht auf, zum Teufel noch mal. Sollen diese Geldsäcke nur schreien. Wenn sie sich noch länger aufregen, werde ich sie wegen Landesverrats anklagen.« Der Bildschirm summte. Hurulta drückte auf einen Knopf, und eine aufgeregte Stimme berichtete: »Euer Lordschaft, wir haben soeben eine Meldung aus dem Weltraum erhalten. Um Ustuban 7 sind Patrouillenschiffe gesichtet worden. Sie scheinen sich dort zu sammeln – « »Ustuban 7! Das ist doch nicht möglich! Das ist ein riesiger Planet, der von einem Meteoritengürtel umgeben ist. Das… nein!« »Euer Lordschaft, in der Meldung heißt es – « »Halten Sie den Mund! Schicken Sie mir sofort den vollständigen Bericht.« Hurulta drehte sich mit fieberglänzenden Augen zu dem General um. »Jetzt geht’s los«, keuchte er. »Jetzt werden wir Bewegung in die Sache bringen. Die Bevölkerung hat sich doch über unsere Rückzüge beklagt, nicht wahr? Die Kriegsmoral ist gesunken. Stimmt’s? Nun, dann wollen wir ihnen etwas geben, woran sie sich wieder aufrichten können. Wir senden unsere Flotte aus und erobern Ustuban 7, und wehe, wenn die Patrouille sich uns in den Weg stellen will!«
»Euer Lordschaft, das ist völlig unmöglich«, flüsterte Sevulan. »Unsere Truppen sind schon so dezimiert, daß wir ein solches Unternehmen nicht wagen können. Es ist nur ein Trick von ihnen, um uns herauszulocken – « »Wir werden den Spieß umdrehen!« Hurultas dröhnende Stimme hallte von den Wänden wider. »Schließlich bin ich hier noch immer der Oberbefehlshaber!« Sevulan sah seinen Chef an, und seine Augen verengten sich langsam. »Wir haben Ulugan natürlich propagandistisch beeinflußt«, sagte Wing Alak. »Mit den üblichen Methoden – Funk, VGeschosse, die Propagandamaterial abwarfen, und so weiter. Ich glaube, wir haben ihnen allmählich klargemacht, daß die Mitgliedschaft in der Liga zwar den Ruhm des Imperiums schmälern, dafür aber Sicherheit und materiellen Nutzen bringen würde.« »Ja, für die einfache Bevölkerung«, sagte Jorel Meinz. Er war verärgert; die drei Tage an Bord des Raumschiffs mit Alak, der damit beschäftigt war, irgendwelche obskuren Manöver zu leiten und der allen wichtigen Fragen auswich, hatten ihn mitgenommen. »Aber es sind schließlich die Aristokraten und die Industriellen, die alles bestimmen.« »Sicher. Sie sind jedoch nicht so dumm, wie man meint. Sie brauchen nur eine harte Lektion, um zu merken, daß ihr Imperialismus sich nicht auszahlt.« »Aber er hat sich für sie doch schon ausgezahlt.« »Natürlich, aber das war, bevor wir uns eingeschaltet haben. Solange es die Patrouille gibt, wird jede Eroberung ein finanzieller Verlust sein. Dafür werden wir sorgen. Wenn sie erst eingesehen haben, daß es für sie von Vorteil ist, sich mit uns zu einigen, werden sie es auch tun.« »Ich verstehe jetzt Ihre Strategie«, sagte Meinz. »Sie haben sie dazu gebracht, einen nutzlosen Planeten nach dem andern
einzunehmen. Ausgenommen dieser Planet Umung… Ich sehe nicht recht, weshalb ihnen das keinen Gewinn gebracht haben sollte.« »Ja, das war meine größte Leistung«, sagte Alak stolz. »Das hatte ich schon seit Jahren vorbereitet. Ein ängstlicher kleiner Händler, der Umung gut kannte, hat zeitweise als Agent für mich gearbeitet. Er mußte annehmen, daß die Patrouille Interesse an Umung hatte. Er wurde eines Tages in Ulugan festgenommen, wie ich erwartet hatte, und berichtete alles, was er wußte. Und natürlich mußte Ulugan uns zuvorkommen. Wissen Sie, ich habe mich mit der dortigen Wirtschaftsstruktur jahrelang beschäftigt. Es ist eine archaische Form des Kapitalismus, wie auf Terra während der ersten industriellen Revolution. Sie basiert auf dem Prinzip, billig einzukaufen und teuer zu verkaufen – und zwar Fabrikwaren. Das läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, daß eine Kolonie, die besser und billiger Waren produziert als das Mutterland, auf die Dauer nicht tragbar ist; sie muß entweder aufgegeben oder vernichtet werden, oder das gesamte wirtschaftliche System des Mutterlandes gerät aus den Fugen. Das haben Ulugans Finanzherren nach einer Weile eingesehen. Und sie besitzen sehr viel Macht.« Er zündete eine Zigarette an und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »In der Geschichte«, fuhr er fort, »hat sich immer wieder gezeigt, daß ein Reich nur dann stabil ist, wenn es eine natürliche sozio-ökonomische Einheit bildet. Die meisten der geschichtlich bekannten Großreiche sind langsam gewachsen; und wenn sie rasch erobert worden sind, dann mußten sie ebenso rasch neuorganisiert werden. Wir haben die Uluger dazu gebracht, mehr Land zu erwerben, als sie bewältigen konnten, wovon der größte Teil noch nicht einmal nutzbar war; und dann haben wir sie ständig in Atem gehalten, so daß sie keine Gelegenheit fanden, ihr Imperium richtig zu
organisieren. Ergebnis – eine konfliktreiche Situation, die sich jetzt rasch verschlimmert.« »Wollen wir sie überhaupt in die Liga aufnehmen?« fragte Meinz. »Sie scheinen nichts als Störenfriede zu sein.« »Ja, das sind sie. Aber auf die Dauer werden sie sich integrieren lassen. Der Kontakt mit anderen Kulturen wird ihre paranoide Haltung aufbrechen. Interplanetarische Großreiche sind wirtschaftlich sowieso unrentabel, die Belastung ist größer als der Gewinn. Wenn man gelernt hat, mit Überlichtgeschwindigkeit zu reisen, ist man auch in der Lage, die meisten Konsumgüter selbst herzustellen, und den Rest kann man einhandeln. Das werden sie schließlich auch noch einsehen.« Er warf einen Blick auf die Sprechanlage. »Ich erwarte jetzt stündlich eine Nachricht«, sagte er. »Das letzte Aufklärungsschiff hat ein paar interessante politische Neuigkeiten von Ulugan mitgebracht.« »So?« »Gedulden Sie sich noch ein wenig. Ich liebe dramatische Enthüllungen. Das müssen Sie mir schon gönnen. Dieses Jahr war in der Hinsicht ziemlich langweilig.«
Eine halbe Stunde später kündete der Bordfunker eine wichtige Botschaft von Ulugan an den Kommandeur der Patrouille an. Alak begab sich gemächlich zum Funkraum hinüber und ließ Meinz nervös hinter sich hertrippeln. Das blaue Gesicht auf dem Bildschirm zeigte nicht mehr die alte Arroganz, obwohl es sichtlich darum bemüht war. »Hallo, Sevulan«, sagte Alak, »was gibt’s Neues?« »In unserm Imperium hat es einen Regierungswechsel gegeben«, antwortete Sevulan steif.
»Sicher ein gewaltsamer Umsturz. Haben Sie Hurulta erschossen, oder haben Sie sich damit begnügt, ihn einzusperren?« »Der Arkazhik ist – sehr krank. Offen gestanden haben wir befürchtet, daß er geisteskrank war. Die meisten seiner überstürzten Aktionen werden von dem neuen Kabinett nicht gebilligt.« »Nun, wenn Sie verhandeln wollen«, sagte Alak freundlich, »hier sind meine Bedingungen.« Nachdem er sie aufgezählt hatte und einen Beauftragten entsandt hatte, um die Verhandlung mit einer Delegation von Ulugan fortzuführen, gähnte er herzhaft. »Das wär’s, glaube ich«, sagte er. »Jetzt wird es natürlich noch viel Hin und Her geben, und es wird bestimmt eine ganze Weile dauern, bis alle Truppen abgezogen sind. Aber wir haben jedenfalls erreicht, was wir wollten.« »Sie meinen – « Meinz lachte trocken. Dieser Erfolg würde seiner eigenen Karriere bestimmt nicht schaden. »Sie meinen, Sie haben sich von ihnen das geben lassen, was Sie haben wollten.« »O nein«, sagte Wing Alak, »ich habe mir gar nichts geben lassen. Ich habe Hurulta im Gegenteil die ganze Zeit über alles gegeben, was er haben wollte, auch den Strick, den er brauchte, um sich schließlich dran aufzuhängen – im übertragenen Sinne natürlich.«
Originaltitel: ENOUGH ROPE Copyright © 1953 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Juli 1953 Übersetzt von Ute Seeßlen
H. P. Lovecraft DIE ANDEREN GÖTTER
Auf dem höchsten Gipfel der Erde hausen die Götter der Erde und dulden nicht, daß ein Mensch sagen kann, er hätte auf sie herabgesehen. Einst bewohnten sie niedrigere Gipfel, doch die Menschen aus den Ebenen ließen nicht davon ab, die Fels- und Schneehänge zu erklimmen und die Götter auf immer höhere Berge zu treiben, bis ihnen nur mehr ein letzter Gipfel blieb. Immer, wenn sie ihre bisherigen Gipfel verließen, sollen sie alle Zeichen ihrer Anwesenheit mitgenommen haben, bis auf ein einziges Mal, als sie ein gemeißeltes Abbild auf dem Antlitz des Berges, den sie Ngranek nannten, zurückließen. Doch nun haben sie im unbekannten Kadath Zuflucht gefunden, in einer kalten Einöde, in die kein Mensch vordringt. Sie sind hart geworden, da sie keinen höheren Gipfel mehr haben, auf den sie vor der Annäherung der Menschen flüchten können. Sie sind unerbittlich geworden, und sie, die einst duldeten, daß die Menschen ihren Platz einnahmen, verbieten jetzt den Menschen, überhaupt zu kommen, und wenn sie schon kommen, wieder zu scheiden. Es ist gut für die Menschen, daß sie nichts von Kadath in der kalten Einöde wissen. Sonst würden sie in ihrem Unverstand danach streben, ihn zu besteigen. Manchmal, wenn die Erdengötter Heimweh überkommt, besuchen sie in stillen Nächten jene Gipfel, auf denen sie einst hausten, und sie weinen leise, wenn sie versuchen, wie einst, auf den unvergessenen Hängen zu spielen. Die Menschen haben diese Göttertränen auf dem weißgipfligen Thurai zu
fühlen bekommen, obgleich sie sie für Regen hielten. Und sie haben die Seufzer der Götter in den wehmütig klagenden Abendwinden des Lerion vernommen. In Wolkenschiffen pflegen die Götter zu segeln, und weise Bergbewohner kennen Legenden, die sie davon abhalten, in Wolkennächten gewisse Gipfel zu besteigen; denn die Götter sind nicht mehr so gütig wie einst. In Ulthar, das jenseits des Flusses Skai liegt, lebte einst ein alter Mann, der begierig war, die Erdengötter zu schauen. Ein Mann, der sich in die Schriften der sieben geheimen Bücher der Erde vertieft hatte und dem die Pnakotischen Schriften des fernen und eisigen Lomar vertraut waren. Er hieß Barzai der Weise, und die Dörfler berichten, wie er in der Nacht der seltsamen Verfinsterung einen Berg bestieg. Barzai wußte so viel über die Götter, daß er ihr Kommen und Gehen voraussagen konnte und eine große Zahl ihrer Geheimnisse ahnte, daß man ihn selbst als Halbgott ansah. Er war es, der die Bürger von Ulthar klug beriet, als sie ihr bemerkenswertes Gesetz gegen das Töten von Katzen erließen und der als erster dem jungen Priester Atal verriet, wohin die schwarzen Katzen am Johannisabend ziehen. Barzai war also in der Kunde über die Erdengötter sehr gelehrt, und es erwachte die Sehnsucht in ihm, einmal ihr Antlitz zu schauen. Er glaubte, sein großes geheimes Wissen um die Götter könne ihn vor ihrem Zorn schützen, und er beschloß daher, den Gipfeln des hohen und felsigen Hatheg-Kla zu erklimmen, in einer Nacht, in der, wie er wußte, die Götter dort oben weilen würden. Hatheg-Kla Hegt weit in der Steinwüste hinter Hatheg, nach dem er genannt ist, und erhebt sich wie eine Steinstatue in einem stillen Tempel. Immer umspielen Nebel seinen einsamen Gipfel, denn die Nebelschwaden sind die Erinnerungen der Götter, und die Götter liebten den Hatheg-
Kla, als sie in den alten Tagen noch dort hausten. Oft suchen die Erdengötter den Hatheg-Kla in ihren Wolkenschiffen auf und werfen fahle Dünste über die Hänge, wenn sie, in Erinnerungen schwelgend, unter klarem Mond auf dem Gipfel tanzen. Die Bewohner von Hatheg sagen, es sei von Übel, den Hatheg-Kla überhaupt zu ersteigen, jedoch unbedingt tödlich, wenn man ihn des Nachts besteigt, wenn fahle Nebel Gipfel und Mond verhüllen. Doch Barzai achtete ihrer nicht, als er aus dem benachbarten Ulthar mit dem jungen Priester Atal kam, der sein Schüler war. Atal war der einzige Sohn eines Schenkenwirtes und neigte manchmal zu Ängstlichkeit. Doch Barzais Vater war ein Landgraf gewesen, der auf einer alten Burg lebte. Deswegen hatte Barzai auch keinen bäurischen Aberglauben im Blut und verlachte die ängstlichen Dörfler. Barzai und Atal verließen Hatheg und zogen hinaus in die Steinwüste, ungeachtet der Gebete der Bauern, und sie sprachen des Nachts am Lagerfeuer von den Erdengöttern. Viele Tage waren sie unterwegs und sahen aus der Ferne den stolzen Hatheg-Kla mit seiner Aureole von Morgennebeln. Am dreizehnten Tag kamen sie an den einsamen Fluß des Berges, und Atal sprach von seinen Ängsten. Doch Barzai war alt und gelehrt und hatte keine Furcht und ging also kühn den Hang hinan, den kein Mensch erklommen hatte seit den Zeiten von Sansu, von dem in den vergilbten Pnakotischen Manuskripten Schreckliches zu lesen ist. Der Weg war felsig und wegen der Abgründe, Klippen und des drohenden Steinschlages gefährlich. Barzai und Atal glitten oft aus und fielen nieder, während sie sich mit Stöcken und Äxten ihren Weg in die Höhe bahnten. Schließlich wurde die Luft dünn, und der Himmel veränderte seine Farbe, und den Wanderern fiel das Atmen schwer. Doch immer noch mühten sie sich höher und höher hinauf, verwunderten sich über die Seltsamkeit ihrer Umgebung und erschauerten bei
dem Gedanken, was wohl auf dem Gipfel geschehen würde, wenn der Mond am Himmel stand und die fahlen Nebel sich ausbreiteten. Drei Tage lang stiegen sie immer höher, dem Dach der Welt entgegen. Dann lagerten sie, um die Verfinsterung des Mondes abzuwarten. Vier Nächte lang kamen keine Wolken, und der Mond schien kalt durch die dünnen, traurigen Nebel um den schweigenden Gipfel. Doch dann, in der fünften Nacht, die eine Vollmondnacht war, sah Barzai weit im Norden dichte Wolken und blieb mit Atal wach, um ihr Näherkommen zu beobachten. Gewaltig und majestätisch kamen sie einhergesegelt, langsam und voll Bedacht. Sie gruppierten sich hoch über den Beobachtern um den Gipfel und verbargen Mond und Gipfel vor ihren Augen. Eine lange Stunde sahen die zwei Wißbegierigen zu, wie die Dämpfe wallten und der Wolkenvorhang dichter und bewegter wurde. Barzai war in der Kunde von den Erdengöttern bewandert und lauschte angestrengt nach gewissen Geräuschen, doch Atal fühlte die Kälte des Dunstes und hatte große Angst. Und als Barzai höher zu steigen begann und ihm drängend zuwinkte, dauerte es lange, bis Atal ihm folgte. So dicht waren die Nebelschwaden, daß der Weg ihnen beschwerlich wurde. Obwohl Atal schließlich folgte, konnte er die graue Gestalt Barzais auf den dunklen Abhang über sich, im wolkendunstigen Mondlicht kaum sehen. Barzai war ihm weit voraus und schien trotz seines Alters müheloser zu klettern als Atal. Er fürchtete weder die steile Stelle, die nur von einem starken, kühnen und furchtlosen Mann zu bewältigen war, noch stockte er an breiten schwarzen Klüften, die Atal kaum überspringen konnte. Und so stiegen sie über Felsen und Schroffen, sie glitten aus, stolperten und erschauerten des öfteren vor der Größe und dem schrecklichen Schweigen kahler Eisspitzen und stummer Granithänge.
Plötzlich verlor Atal den Barzai aus den Augen. Dieser hatte einen bedrohlichen Felsblock erklommen, der sich in die Breite wölbte und den Pfad für jeden, den nicht die Erdengötter lenkten, versperrte. Atal war noch viel weiter unten und überlegte, was er tun sollte, wenn er selbst jene Stelle erreichte. Da bemerkte er überrascht, daß das Licht heller geworden war, als wären der wolkenlose Gipfel und die mondhellen Tummelplätze der Erdengötter schon sehr nahe. Und als er weiterkletterte, über den hochgewölbten Felsbrocken hinweg dem hellen Himmel entgegen, verspürte er Ängste wie nie zuvor im Leben. Denn durch die sich hebenden Nebel hörte er die Stimme des unsichtbaren Barzai, der in wilder Verzückung ausrief: »Die Götter habe ich vernommen! Bei ihrem Gelage auf dem Hatheg-Kla habe ich die Erdengötter singen gehört! Die Stimmen der Erdengötter sind Barzai, dem Propheten, wohlbekannt. Die Nebel sind dünn, und der Mond ist hell, und ich werde die Götter auf dem Hatheg-Kla bei ihrem wilden Tanz sehen, auf dem Hatheg-Kla, den sie in ihrer Jugend geliebt haben. Die Weisheit Barzais hat ihn größer werden lassen als die Erdengötter, und gegen seinen Willen sind deren Zauber und Verbote nichtig. Barzai wird die Götter sehen, die stolzen Götter, die geheimen Götter, die Erdengötter, die den Blick der Menschen verachten!« Atal konnte die Stimmen nicht hören, die Barzai vernahm, doch war er jetzt vor dem gewölbten Fels und suchte nach dem besten Weg, ihn zu erklimmen. Da hörte er Barzais Stimme, die schriller und lauter wurde: »Der Nebel hat sich gelichtet, und der Mond läßt Schatten auf dem Hang erscheinen. Die Stimmen der Erdengötter sind hoch und laut, und sie fürchten das Kommen Barzais des Weisen, der größer ist als sie… Das Mondlicht flackert, wenn die Erdengötter tanzen. Ich werde die tanzenden Gestalten der
Götter sehen, die im Mondlicht springen und heulen… Das Licht wird schwächer, und die Götter haben Furcht…« Während Barzai diese Worte rief, spürte Atal eine gespenstische Veränderung in der Luft, als beugten sich die Gesetze der Erde höheren Gesetzen. Obgleich der Weg steiler war als je zuvor, war der Pfad nun zusehends leichter zu erklimmen, und der große Felsen bildete kaum ein Hindernis, als Atal ihn erreicht hatte und einfach über die gewölbte Oberfläche kroch. Das Mondlicht hatte abgenommen, als Atal Barzai den Weisen aus dem Dunkeln kreischen hörte: »Der Mond ist dunkel, und die Götter tanzen in der Nacht. Am Himmel ist Schrecken, denn eine Mondfinsternis ist gekommen, die in den Büchern der Menschen und der Erdengötter nicht verzeichnet ist. Auf dem Hatheg-Kla herrscht eine unbekannte Zaubermacht, und die Rufe der entsetzten Götter haben sich in Gelächter verwandelt, und die Eisenhänge rasen endlos hinauf in die schwarzen Himmel, in die ich tauche… Hei! Hei! Endlich! Im trüben Licht sehe ich die Erdengötter!« Und Atal, der benommen über unwirklich wirkende Steilhänge glitt, hörte in der Dunkelheit ein abstoßendes, gräßliches Lachen und dann einen Schrei, wie ihn vor ihm kein Mensch je gehört hatte außer im Ton unbeschreiblicher Alpträume. Ein Schrei, in dem Schrecken und Pein eines ganzen besessenen Lebens in einen einzigen gräßlichen Augenblick zusammengeballt waren: »Die anderen Götter! Die anderen Götter! Die Götter der äußeren Höllen, die die schwachen Erdengötter beschirmen!… Seht nicht her… Geht zurück!… Seht nicht her! Nicht! Die Rache der unendlichen Abgründe… Dieser verfluchte, dieser verdammenswerte Abgrund… Gnädige Erdengötter, ich falle in den Himmel!«
Und als Atal die Augen schloß und sich die Ohren zuhielt und hinunterzuspringen versuchte, um dem schrecklichen Sog aus unbekannten Höhen entgegenzuwirken, erklang auf dem Hatheg-Kla jener ohrenbetäubende Donnerschlag, der die braven Bauern der Ebenen und die ehrsamen Bürger von Hatheg, Nir und Ulthar weckte und bewirkte, daß sie durch die Wolken die Mondfinsternis sahen, die in keinem Buch vorhergesagt war. Und als der Mond schließlich wieder hervortrat, befand sich Atal bereits auf den tieferen Schneehängen des Berges in Sicherheit, ohne daß er die Erdengötter oder die anderen Götter hätte sehen können. In den vergilbten Pnakotischen Manuskripten wird berichtet, daß Sansu außer stummem Eis und Fels nichts vorfand, als er im Jugendzeitalter der Erde den Hatheg-Kla erstieg. Doch als die Männer von Ulthar, Nir und Hatheg ihre Ängste begruben und die verwunschenen Höhen bei Tag erklommen, um Barzai den Weisen zu suchen, fanden sie im kahlen Stein des Gipfels ein geheimnisvolles, einem Zyklopen gleichendes Symbol, fünfzig Ellen breit, als hätte sich der Meißel eines Titanen in den Fels gegraben. Und das Symbol ähnelte einem anderen Symbol, das Gelehrte in jenen schrecklichen Abschnitten der Pnakotischen Manuskripte entdeckt hatten, die zu alt waren, als daß man sie hätte entziffern können. Das also war es, was sie fanden. Barzai den Weisen fand man nie, noch konnte der heilige Priester Atal je bewogen werden, für den Frieden von Barzais Seele zu beten. Weiter fürchten die Menschen in Ulthar, Nir und Hatheg bis zum heutigen Tag Finsternisse und beten des Nachts, wenn fahle Nebel den Gipfel und den Mond verhüllen. Und über den Nebeln des Hatheg-Kla tanzen die Erdengötter und ergehen sich in Erinnerungen.
Denn sie wissen, daß sie in Sicherheit sind, und sie kommen gern von ferne her, vom unbekannten Kadath, in Wolkenschiffen, und belustigen sich wie einst, als die Erde noch neu war und es den Menschen noch nicht gegeben war, nach unzugänglichen Gipfeln zu streben.
Originaltitel: THE OTHER GODS Copyright © 1938 by Popular Fiction Publishing Co. Aus WEIRD TALES Oktober 1938 Übersetzt von Ingrid Rothmann
Neil R. Jones DER WEISSE TOD
Jasper Jezzan strich sich mit fahriger Geste durch das bereits angegraute Haar, während er durch die Luke des Raumschiffes auf den immer näher herankommenden äußeren Ring des Saturn blickte. Gerade dieser Ring war das Ziel ihres Fluges. Jasper dankte dem Himmel für das große Glück, ein Mensch des 21. Jahrhunderts sein zu dürfen, eines Jahrhunderts, in dem die Grenzen des Universums immer weiter ausgedehnt und die Planeten des Sonnensystems einer nach dem anderen erobert wurden. In seinen jüngeren Jahren war Jasper einer jener Männer gewesen, die an der ersten Marsexpedition teilgenommen hatten. Heute waren sowohl Mars wie auch Venus kolonisiert und von Menschen der Erde bewohnt. Jasper hatte auf den Monden des Jupiter aufregende Abenteuer erlebt und kannte die Asteroiden wie die Taschen seines Raumanzuges. Saturn jedoch war für ihn, genau wie für die übrige Menschheit, völliges Neuland. Obwohl Jasper schon ein alter Mann war, brannte in seinen Adern immer noch die Sehnsucht nach dem Abenteuer. Er war glücklich, unter den ersten Menschen sein zu dürfen, die einen Blick auf die unbeschreibliche Schönheit des nahen Saturn werfen konnten, auf jenen Planeten, dessen eigenartiger Ring schon Galilei zum Dämon geworden war. So hatte er sich Grenards Expedition angeschlossen, der froh war, einen erfahrenen und gefuchsten Pionier bei sich zu haben. Ihr Ziel war, einen sicheren Weg durch die unzähligen Trümmer zu finden, die den äußeren Ring um den Planeten Saturn bildeten.
Die City of Fomar drang vorsichtig in diesen Ring ein, passierte hier und da einen der vereinzelt dahintreibenden Meteore, die sehr oft die Größe eines Raumschiffes erreichten. Ihre Form war unregelmäßig und eckig, meist drehten sie sich langsam um ihre eigene Achse. Es war so, als dringe man in einen Wald ein, an dessen Rand die Bäume weniger zahlreich sind als in der Mitte. Je mehr sie sich dem Zentrum des Ringes näherten, desto dichter waren die Trümmerstücke beieinander und um so rundlicher wurden ihre Formen, hervorgerufen durch die sich ständig wiederholenden Kollisionen. Die größeren Brocken besaßen eine winzige, aber trotzdem wirksame Gravitation, daher bot sich den Beschauern das seltsame Bild kleinerer Meteore, die regelrecht an größeren festklebten. Immer tiefer drang das Raumschiff in den Ring ein. Jeder Mann der Besatzung stand an seinem Platz, versuchte aber trotzdem, sich keine Phase des einmaligen Schauspiels entgehen zu lassen. Jaspers Posten trennte ihn von seinen Gefährten. Er hatte die Aufgabe, in der Lufterneuerungsanlage Wache zu schieben, ein Zufall, dem wir vorliegende Geschichte verdanken. Als er seinen Vorgänger dort abgelöst hatte, wußte Jasper noch nicht, daß er die Gesichter seiner Freunde zum letzten Mal gesehen hatte. Seine alten, aber immer noch scharfen Augen glitten über die vielen Skalen und Uhren, überprüften Instrumente und Funktionsanzeiger. Dann wandte er erneut seine Aufmerksamkeit dem grandiosen Schauspiel zu, das sich seinen Augen bot. Das Raumschiff der Grenard-Expedition suchte sich seinen Weg durch die langsam treibende Trümmermasse des Riesenplaneten. Die ferne Sonne verlor merklich an Kraft, Licht und Schatten jedoch blieben, wie überall im Weltraum, schroff voneinander durch messerscharfen Kontrast getrennt.
Die City of Fomar bewegte sich nur langsam, und mehr als einmal stieß sie sanft gegen einen der treibenden Meteore, der daraufhin mit einem Satz in unbestimmter Richtung davoneilte. Immer weiter drangen sie in den Ring ein. Ohne daß Jasper eine Aufforderung dazu erhielt, schaltete er den Bordfunk zur Zentrale ein, wo die Führer der Expedition versammelt waren. »Es muß hier Milliarden dieser kleinen Monde geben!« Das war Commander Grigsby. Die Stimme Grenards antwortete: »Wenn nicht mehr!« »Was ist das für ein weißlicher Nebel dort?« »Nebel? Sie meinen den großen Brocken?« »Nein, kein fester Körper. Es verändert seine Form. Es ist Nebel!« »Wieso – tatsächlich! Sieht aus wie Rauch. Außerdem scheint es uns entgegenzukommen.« »Jetzt streckt es sich, genauso, als wäre es lebend. Was kann das nur sein?« »Staub!« sagte einer der Offiziere. »Ohne eine tragende Atmosphäre?« wunderte sich Grigsby, nicht ohne einen gewissen Vorwurf in der Stimme. »Der Nebel teilt sich!« Jasper hatte sich zu lange im Weltraum herumgetrieben, um nicht gleich zu spüren, daß draußen etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Er trat ganz nahe an die Luke heran und preßte sein Gesicht gegen das kalte Panzerglas. Das Phänomen war direkt in der Flugrichtung, daher vermochte er nichts zu sehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterhin der Unterhaltung in der Zentrale zu lauschen. »Wie mag es kommen, daß es sich bewegt?« »Sagen Sie mir erst einmal, was es überhaupt ist!« »Auf keinen Fall etwas Lebendes!«
»Jedenfalls wird es vom Schiff angezogen, denn es teilt sich in verschiedene kleinere Teile.« Diesmal vermochte Jasper Einzelheiten zu erkennen. Kleine, schmale Rauchfahnen wirbelten wie Fangarme seitlich vor der Bugspitze des Schiffes. So etwas hatte Jasper noch nie gesehen, und er konnte sich nicht erklären, aus welcher Substanz dieser Nebel bestand oder warum er sich so eigenwillig bewegte. Obwohl der Gedanke absurd war, konnte er sich nicht des Eindruckes erwehren, einem lebenden Wesen gegenüberzustehen. Vielleicht eine seltene Zusammensetzung unbekannter oder auch bekannter Elemente? Schon der Ring des Saturn allein war merkwürdig genug, nun kam dieses Rätsel noch hinzu. Die Wolke wurde durchsichtiger, als sie sich ausdehnte. Jasper konnte durch sie hindurchsehen und erblickte leicht verschwommen die dahinterschwebenden Trümmerstücke des Ringes. Dann wieder verdichtete sie sich, wurde zu einem langen, schlangenförmigen Raucharm. »Dort – noch mehr Nebel!« rief eine Stimme aus der Zentrale. »Das stimmt! Wenn das nur Nebel ist – « Die Stimmen aus der Zentrale verrieten Besorgnis und Unruhe. Auch Jasper büßte einen Teil seiner sprichwörtlich gewordenen Ruhe ein, als er das Phänomen beobachtete. Sein Befremden steigerte sich noch mehr, als der geheimnisvolle Nebel sich dicht und fest um das ganze Schiff legte und der schwarze Weltraum verblaßte, regelrecht grau wurde. So mußte es gewesen sein, wenn ein alter Ozeandampfer in eine Nebelbank geriet. Aus der Zentrale kamen aufgeregte Stimmen. »Unsere Geschwindigkeit ist rapide gesunken!« sagte Commander Grigsby. Seine Stimme klang sehr unsicher. »Ob uns dieser verdammte Nebel etwa aufhält?«
»Keine Ahnung – aber wartet mal! Hier auf der einen Seite wird es wieder klarer.« Es folgte eine Pause. Jasper stellte fest, daß seine Luke immer noch undurchsichtig blieb. »Grigsby! Sehen Sie hier! Regelrechte Nebelkabel. Sie führen zu den größeren Trümmerstücken, scheinen dort befestigt zu sein. Man hat uns verankert!« »Befehl an Maschinenraum: Mehr Kraft!« sagte Grigsby ruhig. Das helle Singen der Aggregate verriet, daß man den Befehl ausführte. Für einen Augenblick wurde es vor der Luke klarer, und Jasper vermochte einen Blick in den Weltraum zu werfen. Was er zu sehen bekam, erschreckte ihn maßlos. Zwar bewegte sich die City of Fomar ein wenig schneller voran, aber die schmalen Raucharme gaben nicht nach. Die winzigen Monde, zu denen sie führten, folgten der Bewegung des Schiffes. Wenn auch ein wenig schwerfällig, so steigerte sich dennoch die Geschwindigkeit, mit der die City of Fomar dem Nebel zu entrinnen suchte. Wenige Sekunden später jedoch bedeckte erneut eine weiße Schicht die Luke. Erregte Stimmen aus der Zentrale bestätigten Jaspers Vermutung, daß auch dort das gleiche geschehen war. Und Sekunden später platzte eine neue Hiobsbotschaft in das Chaos: »Commander! Die Luftschleuse! Durch die Luftschleuse dringt ein schmaler Nebelschleier in den Schiffsmittelgang!« »Die Außentür muß ein winziges Leck haben«, vermutete Grigsby. »Ohne Druck in der Schleuse ist die Außentür niemals hundertprozentig dicht.« Jasper hörte, wie der Kommandant seinen Namen rief. »Sir?« »Luft in die Schleuse, Jasper! Aber schnell!«
Der alte Mann handelte blitzschnell. Zischend strömte die Luft in die Schleuse. Im Lautsprecher ertönten die Stimmen aus der Zentrale: »Das verdammte Zeug kommt immer noch herein.« »Aber nicht mehr so schnell.« »Dafür entweicht die Luft in den Weltraum.« »Vielleicht vertreibt sie den Nebel draußen.« »So – jetzt ist die Außentür dicht.« »Und der Nebel, der einmal eingedrungen ist, weitet sich aus.« Ein plötzliches Kommando veranlaßte Jasper, die Luftzufuhr zu drosseln. Er wußte nicht, warum. Und wenige Sekunden später lebte niemand mehr, der es ihm hätte erzählen können. Er hörte noch erregte und schreiende Stimmen in der Zentrale, aus denen entnommen werden konnte, daß die innere Schleusenluke gewaltsam von außen geöffnet worden war. Kurz darauf entwich die Luft in der Kammer mit einem gewaltigen Zischen in das Vakuum. Auch die Außenluke hatte sich geöffnet. Der weiße Nebel drang ungehindert in das Schiffsinnere, während die Atemluft sich explosionsartig in den Raum verflüchtigte. Jasper erkannte diese Tatsache aus dem rapiden Fall der Zeiger seiner Instrumente. Im Lautsprecher ertönten schrille und erstickte Schreie, die aber in wenigen Sekunden verstummten. Dann herrschte nur noch Schweigen im Schiff, grauenhaftes, furchtbares Schweigen. Der weiße Nebel hatte das ganze Schiff eingehüllt und drang ungehindert in sein Inneres vor. Jasper nahm seinen ganzen Mut zusammen, verließ seine Station und rannte den Korridor entlang, um diesen Teil des Schiffes mit der Schottentür abzuriegeln. Aber er kam zu spät. Der weiße Nebel ringelte sich in schmalen Schlangen durch die Gänge, kam ihm entgegen. Jasper hielt mitten im Lauf
inne, erstarrte zur Bewegungslosigkeit und fühlte das Vorbeiströmen der entweichenden Atemluft. Doch dann wandte er sich mit einem Ruck um und raste den gleichen Weg zurück, den er soeben gekommen war. Der weiße Nebel folgte ihm beharrlich und mit steigender Geschwindigkeit. In der Luftregulierungskammer angelangt, drehte er mit einer blitzartigen Bewegung die Zufuhr ab. Dann ergriff er einen bereithängenden Raumanzug, schlüpfte in einen leeren Luftbehälter und verschraubte den Deckel hinter sich. Eine unangenehme Kälte hatte sich verbreitet und drang so schnell in das Schiff ein, wie die Luft es verließ. Im Dunkeln erfühlte er den Regulierungshahn, öffnete ihn. Luft strömte ein, wenn auch die Kälte blieb. Jasper zog sich den Druckanzug über, um gegen die Kälte geschützt zu sein. Erst als er den Helm verschraubt und die Heizung eingestellt hatte, kehrte ein beruhigendes Gefühl zurück. Trotzdem konnte er sich der Schwäche nicht erwehren, die ihn übermannte, als er an das Schicksal seiner Gefährten dachte. Die ungeheure Müdigkeit und die furchtbare Gewißheit, in jedem Fall verloren zu sein, raubte ihm das Bewußtsein. Er sank mit dem Rücken gegen die gewölbte Wand des Luftbehälters und wußte dann nichts mehr von sich oder seiner Umgebung.
Jasper Jezzan hätte niemals zu sagen vermocht, wie lange er besinnungslos in dem Lufttank gelegen hatte. Es konnten Minuten gewesen sein, aber auch genausogut Stunden. Mit äußerster Willensanstrengung riß er sich zusammen und begann, ernsthaft über seine Lage nachzudenken. Ein grauenhaftes, unerklärliches Ereignis hatte der Expedition ein Ende bereitet. Die Mannschaft war tot. Daß noch ein anderer mit dem Leben davongekommen war, wagte Jasper kaum zu
erhoffen. Der weiße Nebel schien Herr der City of Fomar zu sein. Gleichzeitig stellte er sich die Frage, ob er in seinem Raumanzug vor dem Nebel sicher sein würde. Auf eine Probe wollte er es nicht eher ankommen lassen, bis ihm keine andere Wahl mehr blieb. Vorerst war er hier im Tank sicher, und auf irgendeine Weise spürte er die Anwesenheit des Nebels im Schiff. Er schaltete die kleine Lampe ein, die am Anzug befestigt war, und fühlte sich beruhigt, als die Finsternis einem wohlvertrauten Bild wich. Wie gut kannte er die Leitungen und Druckmesser, die Skalen und Stellräder im Innern der Tanks. Um im Notfall die Tür schnell öffnen zu können, ließ er die im Behälter vorhandene Luft absaugen. Dann ließ er sich in einer Ecke nieder und wartete. Als ihm die Glieder steif zu werden drohten, änderte er von Zeit zu Zeit seine Stellung. Und nach nicht allzu langer Zeit fühlte er das langsame Verschwinden des weißen Nebels, der das Schiff verließ. Es war, als habe er plötzlich einen bisher unbekannten sechsten Sinn entdeckt, der nur dazu diente, die Nähe dieses geheimnisvollen Nebels zu spüren. Vorsichtig öffnete Jasper die Tür des Luftbehälters um einen winzigen Spalt und spähte hinaus. Alle Lichter des Schiffes brannten. Mit einem schnellen Schritt eilte er zur nächsten Sichtluke und spähte hinaus in den Weltraum. Die City of Fomar trieb inmitten der Trümmer des Saturnringes, hier und da kollidierte sie mit einem kleineren Meteor, wurde aber durch den leichten Aufprall kaum erschüttert. Von dem geisterhaften Nebel, der die plötzliche Katastrophe verursacht hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Ohne es nachzuprüfen wußte er, daß in dem Schiff kein Rest von Atemluft mehr vorhanden war. Langsam und zögernd schritt Jasper durch den Längsgang der Zentrale zu. Er war darauf vorbereitet, alle seine Kameraden
tot vorzufinden und wappnete sich mit kaltblütiger Entschlossenheit, als er die Tür aufrollen ließ. Aber der Anblick, der sich ihm bot, übertraf alle seine Erwartungen. Die Besatzung der City of Fomar war nicht nur tot, sondern regelrecht in weiße, trockene Gerippe verwandelt, die in allen möglichen Stellungen in dem Raum herumlagen. Der weiße Nebel hatte sowohl Fleisch wie Kleider restlos absorbiert. Mit dem rechten Fuß berührte er einen der Knochen – er zerfiel zu Staub. Was war das für eine grausame, rätselhafte Lebensform, die sich im freien Weltraum im Ring des Saturn aufhalten konnte? Die weißen Skelette gaben keine Antwort auf diese Frage. Langsam wanderte Jasper weiter durch das Schiff, wich behutsam den Überresten seiner ehemaligen Gefährten aus und stand schließlich der zwar erwarteten, aber trotzdem niederschmetternden Tatsache gegenüber, daß er der einzige und letzte lebende Mensch auf der City of Fomar war. Er begab sich in den Kontrollraum, um den Antriebsmechanismus zu überprüfen, obwohl er sich noch nicht darüber klar war, wie er wohl allein das gewaltige Raumschiff zur Erde zurückbringen sollte. Aber er wurde dieser Sorge enthoben, denn sowohl die Instrumente wie sämtliche Kabel und elektrischen Einrichtungen waren restlos zerstört. Es war, als habe ein Blitz alles zerschmolzen. Mit einem Blick erkannte Jasper, daß er sich auf einem bewegungsunfähigen Wrack inmitten der unzähligen Meteoriten befand, die den Ring des Saturn bildeten. Nach dem ersten Schock beruhigte sich Jasper allmählich. So schlimm war seine Lage nun auch wieder nicht. Die Lufterneuerungsanlage war intakt und würde ihn nicht im Stich lassen. Lebensmittel und Wasser würden für sein ganzes restliches Leben reichen. Er konnte zwei Räume des Raumschiffes hermetisch abschließen und dort bequem leben.
Natürlich vermied Jasper, allzu genau über seine weitere Zukunft nachzudenken, aber immerhin überdachte er die Aussichten, daß das Wrack eventuell aufgefunden werden könnte. Es war bekannt gewesen, daß Grenards Expedition den Mond Dione erreichen wollte. Aber selbst dann, wenn man in einigen Jahren eine Suchexpedition aussenden würde, bestand kaum die Möglichkeit, daß man das Wrack der City sofort fand. Außerdem war die Funkeinrichtung zerstört, so daß ein Hilferuf unmöglich war. Er verspürte Hunger. Schnell fand er die Lebensmittelvorräte und schleppte einen Teil davon in den Luftbehälter, wo er sich vorerst häuslich niederlassen wollte, bis er sich kräftig genug fühlte, ein oder zwei Räume abzudichten. Er fand auch ein Heizgerät, das sowohl Wärme wie Licht spendete. Zum Schluß trug er auch noch eine Matratze und einige Decken in die Kammer, um wenigstens einigermaßen bequem schlafen zu können. Das Raumschiff besaß drei verschiedene Zellen, die hermetisch abgedichtet werden konnten. Diese Einrichtung war für den Notfall gedacht, aber die Plötzlichkeit des Überfalls hatte verhindert, daß sich auch nur ein Mitglied der überraschten Besatzung hätte in Sicherheit bringen können. Jasper beschloß, sobald wie möglich eine dieser Zellen – zu ihr gehörte auch die Lufterneuerungsanlage – raumdicht abzuschließen. Von Zeit zu Zeit warf er einen ängstlichen Blick hinaus in die schimmernde Welt des Trümmerringes und suchte nach den weißen Fetzen des vielleicht zurückkehrenden Nebels. Aber nichts Verdächtiges war zu bemerken. Die Lichter der City hatte er ausgeschaltet, um Energie zu sparen, außerdem erinnerte er sich der Tatsache, daß der weiße Nebel im Dunkel geleuchtet hatte. So würde er dessen Annäherung viel besser entdecken können.
Ganz so einfach, wie Jasper es sich gedacht hatte, war das hermetische Abschließen des erwähnten Schiffteils nicht. Der Nebel hatte sämtliche Stoffe organischen Ursprungs absorbiert, also auch Leder, Gummi und Tuch. Nur in einigen Kabinen und im Ersatzteillager fand er diese Dinge, und es kostete ihn eine Menge Zeit, die Schotten damit erneut abzudichten. Fast zwei irdische Wochen arbeitete er täglich mehrere Stunden, ehe er schließlich beruhigt den Raumanzug ausziehen und sich frei bewegen konnte. Doch Jasper gab sich nicht zufrieden. Weitere fünf Wochen arbeitete er, um einen Korridor und eine kleine Luftdruckschleuse dicht zu bekommen. Außerdem brachte er überall Alarmvorrichtungen an, damit der eventuell wieder auftauchende Nebel ihn nicht überraschte. Er hatte die stille Hoffnung, daß er das Heizgerät vielleicht als Waffe gegen den geheimnisvollen Feind benutzen konnte, war sich jedoch nicht sicher. Mit einem leichten Schauder dachte er kurz an die Holztür einer Bekleidungskammer, die restlos verschwunden war, ebenfalls absorbiert von dem gefräßigen Nebel. In der Kammer hatte er die Knochen von Holman gefunden, der nicht so glücklich gewesen war, einen starkwandigen Lufttank zur Verfügung zu haben.
Monate der Einsamkeit zogen sich dahin. Der weiße Nebel kehrte nicht zurück, und Jasper begann allmählich, sich wieder ein wenig sicherer zu fühlen. Oft verließ er in seinem Druckanzug das Schiff und machte Ausflüge in die nähere Umgebung. Er entfernte sich nie weit von der City, dessen Lichter ihm stets den Weg zurück zeigten. Um ihn herum war der Weltraum, aber nicht schwarz und voller Sterne, wie er ihn von seinen früheren Reisen her kannte. Hier war der Weltraum zwar auch dunkel, aber angefüllt mit unzähligen winzigen Monden, die scheinbar bewegungslos im Nichts hingen und
sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit um ihre eigene Achse drehten. Matt schimmerte der gewaltige Saturn zu ihm herüber, meist verdeckt von seinem eigenen Ring. Auf einem dieser Ausflüge machte er eine interessante Entdeckung. Als er auf einem größeren Brocken landete, um ihn auf seine Bestandteile hin zu untersuchen, stieß er versehentlich mit dem Helm auf den Boden des unregelmäßig geformten Körpers. Es gab einen seltsamen, hohlen Klang. Er stutzte, wiederholte das Experiment. Obwohl er sich in völliger Luftlosigkeit befand, leitete die vorhandene Luft innerhalb des Helmes den Schall bis an Jaspers Ohr. Kein Zweifel. Der mehr als dreißig Meter im Durchmesser betragende Meteor war hohl. Es konnte nur eine Erklärung dafür geben. Als der ehemalige Mond des Saturn unter der starken Anziehungskraft des Riesenplaneten zerbrach, mußte sein Inneres noch feuerflüssig gewesen sein. Dieser Meteor – und vielleicht noch viele andere – war eigentlich nichts anderes als eine hohle Erzblase. In dem Drang, sich eine Beschäftigung zu suchen, forschte Jasper nach weiteren Hohlkörpern und fand deren noch drei. Kurzentschlossen nahm er auf seinem nächsten Ausflug einen Atombohrer mit und begann, ein Loch in die Oberfläche des Zwergmondes zu treiben. Fast einen Meter tief mußte er gehen, ehe er die Kruste durchstoßen hatte. Und viele Tage dauerte es, ehe er eine Öffnung geschaffen hatte, durch die er sich hindurchzwängen konnte. Er befand sich im Innern des kleinen Mondes. Hier sah es nicht anders aus, als er es erwartet hatte: scharfe und unregelmäßige Wände, kantige Ecken und blasige Stellen. Jasper bekämpfte mit diesen Ausflügen die tödliche Langeweile. Er bedauerte es nur, daß er nicht in der Lage war, den Antrieb des Schiffes zu reparieren, denn er war davon überzeugt, daß es ihm in einem solchen Falle ohne weiteres
gelungen wäre, den Schwerbereich des Saturn zu verlassen, um in die Nähe der Erde zurückzukehren. Etwa ein Jahr nach der Katastrophe trat das Ereignis ein, auf das Jasper mit heimlichem Bangen gewartet hatte: Die weißen Wolken kehrten zurück! Sie schwebten von allen Richtungen heran und schienen die City of Fomar als ihr Ziel auserkoren zu haben. Jasper befand sich zu seinem Glück zufällig gerade im Innern des Schiffes. Das erste, was er bemerkte, war der weißliche Schimmer, der plötzlich von allen Seiten auf das Wrack zukam und es einzuhüllen begann. Bald konnte er durch die Sichtluken nichts anderes mehr erkennen als ein wogendes, milchiges Meer durcheinanderwirbelnder Nebelmassen, die sich anscheinend zu einem Angriff auf das verlassene Schiff vorbereiteten. Nachdem Jasper seinen ersten Schreck überwunden hatte, eilte er zu dem Auslösemechanismus seiner selbst konstruierten Waffe, dem Hitzestrahler. Mit zitterndem Finger drückte er auf den Knopf, der die Strahlen in jeder gewünschten Richtung in den Raum schickte. Nach wenigen Sekunden konnte er eine Veränderung bemerken. In die weißen Schwaden fraß sich eine Lücke hinein, trichterförmig und mit zunehmender Entfernung größer werdend. Es war offensichtlich, daß Energiestrahlen den tödlichen Nebel regelrecht auflösten. Mit wilder Freude vernichtete Jasper so viel des weißen Nebels, wie es ihm möglich war. Doch als er die ersten feinen Schleier durch den Gang des Schiffes schweben sah, erstarrte er vor Schreck. Eine eisige Faust griff nach seinem Herzen. Eine Stelle des Schiffes mußte undicht geworden sein, obwohl er auch die Hauptschleuse im Laufe des langen Jahres wieder abgedichtet hatte. Er griff nach dem kleinen Handstrahler, den er für den Notfall zusammengebaut hatte, schloß das lange Kabel an
einer Energiesteckdose an und machte sich auf die Suche nach dem Leck. Wie erwartet, befand es sich an der Hauptluke. In dünnen Schleiern drang der widerlich-gefährliche Nebel in das Schiff ein. Jasper zögerte keine Sekunde. Er richtete den Strahler auf den Feind und setzte ihn in Betrieb. In Sekundenschnelle verschwand der Nebel, als sei er nie vorhanden gewesen. Der alte Mann atmete auf. Wenn er sich nicht auf dieses Ereignis vorbereitet hätte… Ein plötzlicher Gedanke ließ ihn zusammenfahren. War seine zweite Druckschleuse hermetisch geschlossen? Jene Schleuse, die er zusätzlich eingerichtet hatte, um die Lufterneuerungskammer zu verschließen. Er warf einen schnellen Blick auf die feinen, immer wieder aufs neue eindringenden Nebelschleier, ehe er sich entschlossen umwandte und durch den Gang zu seinem Versteck rannte. Es dauerte über zehn Minuten, bis es ihm gelang, den bereits eingedrungenen Feind restlos zu vernichten. Die Energiestrahlen saugten den Nebel regelrecht auf, ließen ihn spurlos verschwinden. Dann verschloß Jasper sorgfältig die Schleuse und eilte zur Haupteinstiegluke zurück, die er unmöglich völlig abdichten konnte, da ihm das Material hierzu fehlte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ständig auf der Hut zu sein und unaufhörlich den beharrlich eindringenden Nebel mit seinem Strahler zu absorbieren. Die folgenden Stunden und Tage waren für Jasper eine furchtbare Qual. Seine automatische Uhr zeigte an, daß der Angriff der Todeswolke mehr als 62 Stunden dauerte. Während dieser Zeit war er unfähig, auch nur eine Minute zu ruhen. Unaufhörlich und ohne Pause drang der weiße Nebel durch die undichten Stellen und wurde ebenso unaufhörlich vernichtet. Doch dann endlich ließ der Strom allmählich nach
und hörte schließlich ganz auf. Jasper wartete eine weitere halbe Stunde, ehe er es wagte, zur nächsten Luke zu laufen, um einen Blick in den Weltraum zu werfen. Von dem weißen Nebel war keine Spur mehr zu sehen. Jasper atmete auf. Instinktiv wußte er, daß der geheimnisvolle und grausige Feind vorerst nicht wiederkehren würde.
Nach einem langen, erquickenden Schlaf untersuchte Jasper das Schiff. Mit leichtem Bedauern kam er schließlich zu dem Schluß, daß es keinen Sinn hatte, den nächsten Angriff auf der City abzuwarten. Er würde die gleiche Anstrengung nicht noch einmal durchhalten können. Die hohlen Zwergmonde, die in fast immer gleicher Entfernung neben dem Wrack hertrieben, weckten in ihm einen Gedanken: Er würde einen von ihnen mit einer absolut dichten Luftschleuse versehen und somit eine Zuflucht finden, die hundertprozentige Sicherheit bot. Die meterdicken Wände des Hohlkörpers würden auch dem weißen Nebel genügend Widerstand bieten. Die nun folgenden Wochen und Monate waren damit ausgefüllt, die wichtigsten Einrichtungen, die er zum Leben benötigte, in den großen Meteoriten zu schaffen. Er erweiterte den bereits vorhandenen Eingang, baute zwei dicke Metalluken ein und schuf somit eine einwandfrei arbeitende Luftdruckschleuse, indem er den entstehenden Raum mit der ebenfalls überführten Lufterneuerungsanlage verband. Er teilte den genügend Platz bietenden Hohlkörper in verschiedene Räume ein, brachte Lebensmittel, Ersatzteile und die Atombatterie in drei Räumen unter, während er den letzten als Wohn- und Schlafstelle einrichtete. Acht Monate waren seit dem letzten Angriff des Nebelfeindes vergangen, und Jasper hatte seine Übersiedlung
abgeschlossen. Da sich infolge der unterschiedlichen Anziehungskraft der vielen ungleichen Weltkörper eine kleine Verschiebung bemerkbar machte, verband Jasper das ausgeräumte Wrack des Raumschiffes durch ein Tau mit seinem Wohnasteroiden, um es nicht ganz zu verlieren. Er war somit ein kosmischer Robinson Crusoe, ein Schiffbrüchiger im Weltall. Sehr oft dachte Jasper darüber nach, ob man ihn wohl eines Tages hier fände. Vielleicht würde das erst in einigen hundert Jahren geschehen, wenn man den Saturn erforschte und die Monde besiedelte. Der Gedanke, hier nun allein den Rest seines Lebens zu verbringen, einsam zu sterben, hatte nichts Erschreckendes mehr für ihn. Er hatte sich damit abgefunden, wenn er auch den kleinen Hoffnungsschimmer in seinem Herzen nicht zu bekämpfen wagte. Vielleicht wollte es der Zufall, daß eines Tages ein anderes irdisches Expeditionsschiff in seine Nähe kam und das Wrack der City of Fomar fand. Die Lebensmittel waren reichhaltig und unerschöpflich. Er würde damit noch mehr als zwanzig Jahre lang auskommen. Atemluft würde noch länger reichen, ebenso das Trinkwasser. Sehr oft verließ Jasper auch seinen sicheren Zufluchtsort, um im Raumanzug auf dem Wrack umherzustreifen. Er bastelte im Maschinenraum mit den vorhandenen Ersatzteilen und versuchte immer wieder vergeblich, den Antrieb auf irgendeine Weise wieder in Tätigkeit zu setzen. Die Zeit verlief eintönig und langsam, obwohl ihm alle Bücher und Mikrofilme zur Verfügung standen. Schließlich kannte er sie in- und auswendig. Und wieder vergingen mehr als sechs Monate.
Ein scharfer Stoß ließ Jasper aus seinem Schlaf hochschrecken. Er überwand das aufkommende Gefühl unheimlicher Furcht
und eilte zu dem nachträglich installierten Fenster aus vier einzelnen Sichtluken der City. Was er sah, ließ sein Herz wieder ruhiger schlagen. Durch die bisher scheinbar unbeweglich schwebenden Meteore und auch durch die City ging eine leichte Bewegung. Ein Körper stieß den anderen an, versetzte ihn somit in ein wenig schnellere Gangart. Daraufhin stieß dieser Körper logischerweise gegen den nächsten, verlangsamte seinen Flug daher wieder zur alten Geschwindigkeit, während der angestoßene Meteorit das gleiche Spiel wiederholte. Diese Anstoßbewegung, ähnlich wie beim Billardspiel, mochte sich durch den ganzen Saturn ring fortsetzen. Die Frage war nur: Wer hatte den ersten Anstoß gegeben? Das Raumschiffwrack war näher gekommen, das Verbindungskabel hing in seltsam geformten Schleifen bewegungslos im Nichts. Jasper konnte erkennen, daß die Anstoßbewegung weiterlief und sich immer mehr entfernte. Das gleiche Spiel würde sich unaufhörlich wiederholen und vielleicht eines Tages wiederkehren. Nach einer Weile hatten sich die benachbarten Körper beruhigt und das altgewohnte Bild war wiederhergestellt. Mit einem befreiten Aufatmen legte sich Jasper auf sein Bett, um den unterbrochenen Schlummer fortzusetzen. Als er erwachte und einen ernsten Blick durch das Fenster werfen wollte, konnte er das erschreckte Zusammenzucken nicht vermeiden, obwohl er doch dieses Ereignis eigentlich erwartet hatte. Die Sicht wurde durch den weißen Nebel völlig verdeckt, er konnte nicht erkennen, was außerhalb seines Meteors vor sich ging. Die geschickt angebrachten Energiestrahler bewährten sich jedoch; nach wenigen Minuten hatte er den weißen Nebel in der näheren Umgebung des hohlen Meteoriten vernichtet.
Was er erblickte, war unheimlich und zugleich beruhigend: Das ganze Wrack der City of Fomar war mit einer weißen Schicht bedeckt, als sei es von Rauhreif überzogen. Jasper vermeinte sogar eine gewisse Bewegung bemerken zu können und wußte, daß der Nebel dabei war, ins Innere des Schiffes einzudringen, um auch die letzten Reste organischer Stoffe zu absorbieren. Sogar das Verbindungstau schien vollkommen eingeschneit zu sein. Jasper fürchtete den weißen Nebel nicht mehr länger, er fühlte sich vollkommen sicher. Er beschloß sogar, mit diesem geheimnisvollen Stoff ein Experiment anzustellen. Denn bisher war dieser immer nur dann aufgetaucht, wenn Ungewohntes geschehen war. Als nach vielen Stunden alles wieder klar wurde, zog Jasper den Raumanzug an und schwebte zur City of Fomar hinüber. In einem Lagerraum fand er Treibraketen, die er an verschiedenen mittleren Meteoriten befestigte. Anschließend versah er sie mit einer elektrischen Zündung und verband sie untereinander mit einem Stromkabel. Dann jagte er den Impuls durch die Hauptleitung. Die Raketen zündeten und trieben die Meteoriten vorwärts. Sobald sie gegen einen Widerstand stießen, setzten sie auch diesen in schnellere Bewegung und bald hatte Jasper das gleiche Ereignis künstlich hervorgerufen, das ihn noch vor einigen Stunden auf Grund der unbekannten Ursache so beunruhigt hatte. Einige Stunden später war der weiße Nebel wieder an Ort und Stelle, blieb einen ganzen Tag lang und verschwand wieder. Damit hatte Jasper den Beweis, daß dieser teuflische und tödliche Nebelstoff mit einer gewissen Intelligenz ausgestattet war und somit als »Lebewesen« angesprochen werden konnte.
In dem verlassenen Raumschiff hatte Jasper eine Falle eingebaut, um ein wenig des geheimnisvollen Nebels zu fangen. Er bewegte sich daher, sobald keine Spur des Todfeindes mehr zu entdecken war, zum Schiff hinüber und stellte zu seiner Freude fest, daß seine List geglückt war. In dem durchsichtigen Glasbehälter wand und drehte sich eine weiße Spirale, suchte vergeblich nach einem Ausweg. Jasper ergriff den Behälter und kehrte damit in seinen sicheren Zufluchtsort zurück. Die nun folgenden Tage waren die interessantesten seit dem Schiffbruch vor nun fast drei Erdenjahren. Er untersuchte den seltsamen Stoff, dessen Gefangennahme ihm gelungen war, und erzielte merkwürdige Ergebnisse. Vorsichtig vermied er jede Berührung, denn er kannte ja die furchtbare Eigenschaft des Nebels. Aber er schüttete ihn von einem Gefäß ins andere, und beobachtete die Wirkung. Und bald wußte er positiv: Der weiße Nebel lebte und dachte! Er war nur in gasförmigem Zustand aktiv und gefährlich, verwandelte sich im Ruhezustand jedoch in eine gallertartige Flüssigkeit von ziemlich hohem Gewicht. Außerdem waren sowohl Gas wie auch Flüssigkeit hoch radioaktiv. Wenn er das Gefäß, in dem sich die Flüssigkeit befand, schüttelte, wurde diese sofort gasförmig und scheinbar wachsam. Und noch drei andere Eigenschaften fand Jasper heraus, nachdem er genügend Versuche angestellt hatte. Er fügte organische Stoffe in den Glasbehälter, ein wenig Leder und Holz, die sofort von dem Gas absorbiert wurden. Dabei vergrößerte sich die Masse des Gases. Mit Schaudern dachte Jasper daran, was wohl geschehen konnte, wenn dieser Stoff auf die Erde gelangen würde. Sicher, Energiestrahlen vernichteten den Stoff, ebenso große Hitze. Aber trotzdem war der Gedanke einer Invasion dieses Nebels mehr als nur grauenhaft.
Abgesehen von künstlicher Vernichtung schien das Gas unsterblich. Und drittens: Der Weltraum war die natürliche Heimat dieses Lebewesens. Wie dem auch sei, viele Wochen nach diesen erregenden Experimenten verlor Jasper allmählich das Interesse an dem seltsamen Nebel. Die ewige Einsamkeit bedrückte ihn mehr denn je, ließ sein Leben allmählich wertlos scheinen. Er achtete weniger auf seine Sicherheit als darauf, Zerstreuung zu finden, und wurde sorgloser. Weiter und weiter dehnte er seine Ausflüge in das Innere des Saturnringes aus, und mehr als einmal verlor er die Lichter der City aus den Augen. Aber immer wieder kehrte er wohlbehalten und ungehindert zu seinem Heim zurück. Er begann sich nach einer menschlichen Stimme zu sehnen, er vermißte den gewohnten Anblick des Sternenhimmels, der hier nur aus einem undeutlichen Schimmer verwischter Konstellationen bestand. Die überall schwebenden Meteore und Trümmerstücke des zerplatzten Satelliten erinnerten ihn an Särge. Das Gefühl der Einsamkeit verwandelte sich allmählich in ein Gefühl der Angst und der Gleichgültigkeit. Mehr als einmal stand er in der City of Fomar vor den längst zerfallenen Gebeinen seiner unglücklichen Gefährten und wünschte sich, ihr Schicksal geteilt zu haben. Er beneidete sie um ihre Ruhe und um ihren Frieden, den er vergeblich suchte. Diese Betrachtungen führten ihn schließlich zu einer grausigen Schlußfolgerung, die ihm mit einem Schlag die Gefahr klarmachte, in der er sich befand. Er riß sich zusammen und erkannte, daß er nur dann sein Leben retten konnte, wenn er diese und ähnliche Gedanken aus seinem Gehirn verbannte. Solange er seelisch gesund blieb, bestand für ihn keine Lebensgefahr. Jasper teilte sich sein Leben in Tag und Nacht ein. Löschte er die Lichter, so war es für ihn Nacht, und er schlief. Doch in
dieser Nacht schloß er kein Auge. Eine merkwürdige Unruhe hatte ihn gepackt, hielt ihn wach. Es war wie damals, als der weiße Nebel in der Nähe war und seinen unerklärlichen Einfluß geltend machte. Jasper sprang plötzlich auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Aber er erblickte nicht den erwarteten Nebel, sondern nur das altgewohnte Bild der treibenden Trümmer und der nahe liegenden City. Doch das Unruhegefühl blieb. Als Jasper die Tür zum Vorratsraum öffnete, blieb er wie erstarrt stehen. Der ganze Raum war angefüllt mit weißem Nebel, von dem aus sich sofort ein langer Arm auf ihn zubewegte. Jasper warf die Tür zu; verriegelte sie hermetisch. Was war geschehen? Der Glasbehälter mußte auf irgendeine Art und Weise zerbrochen sein; sei es durch eine unbedachte Bewegung, oder auch durch die Eigenkraft des Gases. Das Gas war über die vorhandenen Lebensmittel hergefallen, die ja aus organischem Grundstoff bestanden, und hatte sich unaufhörlich vermehrt. Es war so viel geworden, daß Jasper sich nicht getraute, ihm mit dem Strahler zu Leibe zu rücken. Der Feind in der eigenen Burg! Der Gedanke ließ Jasper kalte Schauer den Rücken herab rieseln. Was sollte er unternehmen? Nach einigen mit Panik erfüllten Minuten beruhigte sich Jasper. Seine Überlegung kehrte zurück. Den Strahler wollte er innerhalb des Meteoriten nicht benutzen, da die Wirkung nicht gerade erfreulich sein würde. Er hatte das an der Luftschleuse des Schiffes feststellen können. Also mußte er versuchen, den Nebel aus dem Vorratsraum hinaus in den Weltraum zu locken, um ihn dort mit dem großartigen Strahler zu absorbieren. Er ging sofort an die Verwirklichung dieses Planes. Nachdem er den Raumanzug übergestreift hatte, öffnete er die Luftschleuse und ließ künstliche Atmosphäre wie auch
Wärme in das Vakuum entweichen. Dann ergriff er den kleineren Strahler, ließ die Tür zum Vorratsraum aufgleiten und zog sich in eine geschützte Ecke zurück, um den Erfolg abzuwarten. Vorerst geschah gar nichts. Erst als er einen vorsichtig dosierten Strahl in die weißwogende Masse schickte, streckten sich die ersten schlangenförmigen Fühler nach ihm aus. Blitzschnell verschwand er wieder in seinem Versteck. Ein Teil des sich um das Mehrfache vergrößerten Wolke schwebte in den Wohnraum Jaspers und schien ihn zu suchen. Der Alte jedoch stand beobachtend in der dunklen Ecke und hoffte, der Nebel würde die einladend offene Luke bemerken, die zum eigentlichen Lebensbereich des Feindes, zum Weltraum führte. Seine Hoffnung wurde nicht betrogen. Die Vorhut des Nebels erreichte die Öffnung, schwebte langsam hinaus. Mehr von dem Nebel folgte, langsam und zögernd. Jasper warf einen schnellen Blick in den Vorratsraum, wo immer noch der grauweiße Feind unentschlossen über unförmig entstellten Konzentratpaketen hockte. Doch dann, zur großen Freude von Jasper, schwebte auch dieser Teil in den Raum hinaus. Doch dann geschah etwas, das seinen Atem stocken ließ. Zuerst hielt es für eine Täuschung, für ein gelegentliches Zurückwallen des noch zögernden Nebels. Aber als breite und dicke Ströme des weißgrauen Stoffes immer schneller und mächtiger in das Innere seines hohlen Meteoriten drangen, blieb kein Zweifel mehr: Auf telepathischem Wege mußte der eingeschlossene Rest Hilfe herbeigerufen, ihm den Weg gezeigt haben, den er, Jasper, selbst geöffnet hatte. Ehe er auch nur eine einzige Bewegung der Abwehr machen konnte, war der ganze Raum angefüllt mit leicht phosphoreszierendem Nebel, dessen weißlicher Schimmer der Schimmer des Todes war.
Jasper raffte sich zusammen, sprang mit einem entschlossenen Satz auf die Luftschleuse zu, um diese zu schließen. Es war, als pralle er auf eine feste Mauer, als er den dichten Todesnebel berührte. Er wurde regelrecht zurückgeschleudert, taumelte gegen die Wand. Hier fand er Halt, hob den Strahler und drückte auf den Auslöseknopf. Die weißen Fangarme streckten sich nach ihm aus, wurden jedoch durch die Strahlen in Nichts aufgelöst. Sie verschwanden einfach, als seien sie niemals dagewesen. Aber was bedeutete das schon? Immer neue Schwaden strömten durch die offene Luke, füllten den Raum mit widerlich schweigsamen Todesboten und versuchten, Jasper regelrecht einzukreisen. Jasper kämpfte einen verzweifelten, hoffnungslosen Kampf. Der schwere Strahler drohte seinen verkrampften Fingern zu entgleiten, nur mit letzter Kraft gelang es ihm, immer wieder auf den Knopf zu drücken und den am weitesten vorgedrungenen Feind zu vernichten. Wenn der weiße Nebel seinen Raumanzug berührte, durchfuhr Jasper ein unheimliches Gefühl, ähnlich so, als träfe ihn ein elektrischer Schlag. Aber es mußte etwas ganz anderes sein, hing irgendwie mit Hypnose zusammen, denn seine Willenskraft wurde durch solche Berührungen stark gelähmt. Er mußte folglich solche Berührungen tunlichst vermeiden. Er begann zu schwitzen. Der Raumhelm füllte sich mit heißer, verbrauchter Luft, und er fand nicht die Zeit, die Zufuhr neu zu regeln. Manchmal schien es, als verfärbe sich der weiße Nebel, er bekam eine rote Färbung. Aber Jasper wußte, daß seine überreizten und erschöpften Sinne ihn täuschten. Seine Bewegungen wurden immer schwächer. Langsam sackte er in die Knie, nur mühsam gelang es ihm, sich aufrecht zu halten und nicht hinzufallen. Die rauhe Wand im Rücken
bot einigen Halt. Er wunderte sich flüchtig, daß er immer noch kämpfte, seine Qual unnötig verlängerte. Dann aber, kurz bevor ihm die Sinne schwanden, bemerkte er etwas Seltsames: Der weiße Nebel zog sich zurück, schwebte deutlich hinüber zur offenen Luke und verflüchtigte sich in den Weltraum. Mit letzter Energie sandte Jasper einen Strahl hinter der Nachhut her, ehe das Gerät seinen kraftlosen Fingern entglitt.
Jasper hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange er hilflos dagelegen hatte, ein leichtes Opfer für den eventuell zurückkehrenden Todesnebel. Das ruhige Atmen während seiner Ohnmacht ließ die Atemluftzufuhr seines Raumanzuges sich selbst regeln. Die beiden Luken standen weit offen, in dem hohlen Asteroiden herrschten Weltraumbedingungen. Langsam kam Jasper wieder zu sich. Taumelnd erhob er sich, schritt hinüber zum Vorratsraum und stellte fest, daß auch nicht der leiseste Hauch des kannibalischen Nebels zurückgeblieben war. Leider waren aber die meisten Lebensmittelvorräte verschwunden. Damit hatte sich die voraussichtliche Lebenszeit Jaspers erheblich verkürzt, aber das war diesem im Augenblick völlig gleichgültig. Lieber verhungern, als von dem Nebel absorbiert werden. Was er nicht begreifen konnte war die Tatsache, daß der Nebel ihn verlassen hatte, als der Kampf für ihn bereits verloren war. Noch wenige Sekunden, und der Feind hätte ihn überwältigt. Aber dieser seltsame Stoff war so rätselhaft und voller Geheimnisse, daß diese Frage offenblieb. Wenigstens vorerst! Oder für immer! Er nahm den atomaren Brenner und machte sich daran, eine Füllung für eine dritte Luke zu schmelzen, damit die künftige
Sicherheit vergrößert würde. Der weiße Nebel würde noch oft genug angreifen, und die Lebensmittel reichten immerhin für noch mindestens ein Jahr. Das helle Leuchten außerhalb des Asteroiden fiel Jasper schließlich auf. Er konnte sich nicht entsinnen, die Lichter der City of Fomar eingeschaltet zu haben. Was war es denn, was da leuchtete? War der Nebel zurückgekehrt? Er ließ den Schweißer stehen und ergriff das Strahlgerät. Mit hastigen Schritten eilte er an die Außenluke und spähte hinaus in Richtung des bewegungslosen Wracks. Neben der City of Fomar hing majestätisch und hell erleuchtet ein gewaltiges Raumschiff. Kleine Gestalten in Raumanzügen schwebten hin und her, waren damit beschäftigt, das Wrack mit Tauen an der Riesenrakete zu befestigen. Jasper spürte einen scharfen Stich in der Herzgegend. Er ließ den Strahler sinken, stellte ihn einfach auf den Fußboden. Darum also hatte der weiße Nebel seinen Asteroiden verlassen? Er hatte eine neue Störung bemerkt und war geeilt, den Grund zu suchen. Vielleicht bereitete der intelligente Nebel einen neuen Angriff vor? Oder konnte er sich immer nur in einer bestimmten Region aufhalten und würde erst dann wiederkehren, wenn der Ring des Saturn sich einmal um seinen Planeten gedreht hatte? Fragen über Fragen, keine konnte beantwortet werden. Aber Jasper vergaß seine Fragen sofort wieder, als ihm die Tatsache des plötzlich aufgetauchten fremden Raumschiffes so recht zu Bewußtsein gekommen war. Er stieß einen erstickten Schrei aus, lief einfach aus der gähnenden Öffnung des Asteroiden hinaus und stieß sich mit dem Fuß ab. Schwerelos schwebte er über den schwarzen, unendlichen Abgrund auf das fremde Schiff zu, erreichte es mit einem harten Stoß. Wenige Handbewegungen brachten ihn zu der offenen Einstiegluke, in die er einfach eindrang. Sekunden später schloß sich die
schwere Metalluke hermetisch, Luft strömte mit immer lauter werdendem Zischen ein. Dann öffnete sich die Innenluke, Männer betraten die Luftschleuse. Sie führten Jasper in den Schiffsgang, brachten ihn zur Zentrale. Dort nahmen sie ihm den Helm ab, betrachteten mit ehrfürchtigem Erschauern die naßgeschwitzten und vollkommen ergrauten Haare Jaspers. Ihre Gesichter waren fragend und neugierig, und zugleich freundlich. Jasper stöhnte auf. Er brachte kein Wort über die Lippen. Seine gestammelten Laute waren unartikuliert und voller Geheimnisse. Der Kommandant des unbekannten Raumschiffes lächelte gütig. »Beruhigen Sie sich erst einmal. Ich nehme an, Sie sind ein Überlebender der vermißten und von uns gefundenen City of Fomar. Ihr Schicksal war bis heute unbekannt geblieben. Und wir wissen noch nicht, was mit ihr geschehen ist. Keine Spur einer Katastrophe. Vielleicht werden wir durch Sie endlich erfahren, was passierte.« Jasper verstand die Worte. Er wußte nicht, in welcher Sprache sie gesprochen wurden; er kannte viele Sprachen. Er wußte nur: Es war die Sprache der Menschen! Er war wieder heimgekehrt, hatte zu seinen menschlichen Gefährten zurückgefunden. Der weiße Nebel lag wie ein böser Traum hinter ihm. Es würde die Aufgabe kommender Generationen sein, das Geheimnis dieses unheimlichen Weltallbewohners zu lösen, ein sicheres Mittel zu seiner Vernichtung zu finden.
»Menschen!« stöhnte Jasper schließlich und sank in die breit geöffneten Arme des Kommandanten. »Ihr seid richtige Menschen! Endlich wieder einmal Menschen!« Dann verließ ihn das Bewußtsein.
Originaltitel: HERMIT OF SATURN’S RINGS Copyright © 1940 by Fiction House, Inc. Übersetzt von Walter Ernsting
Michael Moorcock DIE SINGENDE ZITADELLE
Einführung
Zehntausend Jahre lang herrschte das Lichte Reich von Melnibone über die Welt, kraft seiner zauberkundigen Könige, seiner Drachenhorden und der goldenen Kriegsschiffe. Von Imrryr, der Träumenden Stadt, der Hauptstadt der Insel Melnibone, strahlte die Macht der Lichten Kaiser über alle Länder der Menschheit, obgleich die Melniboneer selbst keine richtigen Menschen waren. Sie waren hochgewachsen, mit geisterhaften Gesichtszügen. Sie waren stolz, arglistig, empfindsam und künstlerisch begabt und in Zaubereien sehr bewandert. Die Melniboneer waren mit vielen der übernatürlichen Reiche der Höheren Welten vertraut und wußten, daß sich die Wunder der Erde mit jenen der Höheren Welten nicht messen konnten. Sie sahen auf ihre nachgeborenen Vettern aus den Jüngeren. Königreichen mit überheblicher Verachtung herab, die einzig dazu geeignet schienen, ausgeplündert oder versklavt zu werden. Doch schließlich, nach hundert Jahrhunderten, begann die Macht Melnibones abzunehmen, als das Reich durch üble Prophezeiungen erschüttert und von Mächten angegriffen wurde, die überlegen waren, bis vom Lichten Reich nur mehr die Insel selbst und ihre einzige Stadt übriggeblieben war, die Stadt Imrryr. Noch immer mächtig, noch immer gefürchtet,
noch immer das Handelszentrum der Welt – aber längst nicht mehr die ruhmreiche Macht, die sie einst war. Und dabei hätte es bleiben können – nur war es nicht die Absicht der Vorsehung, es dabei zu belassen. In den nächsten Jahrhunderten, die man das Zeitalter der Jungen Königreiche nannte, stiegen kleine Reiche auf und zerfielen wieder, und die neuen Völker hatten Zeiten ihrer Macht: Sheegith, Maidak, Ilmiora und andere. Und dann gab es große Bewegung auf der Erde und über ihr. Das Schicksal der Menschen und Götter wurde auf dem Amboß des Schicksals geschmiedet, furchtbare Kriege wurden gebraut und gewaltige Taten vollbracht. Und während dieser Zeit entstanden viele Helden. Erster unter ihnen war Elric, der letzte Herrscher von Melnibone, der das runenverzierte schwarze Schwert, Sturmbringer genannt, trug. Vielleicht ist ›Held‹ für Elric nicht die passende Bezeichnung, denn er war es, der sich gegen das eigene Geschlecht auflehnte und die Seeherren der Jungen Königreiche bei ihrem großen Angriff auf Imrryr anführte – ein Angriff, der mit der Zerstörung Imrryrs und der Vernichtung der Seeherren endete! Doch das alles gehörte zum Plan des Schicksals, obwohl Elric das viele Jahre nicht erfahren sollte. Elric von Melnibone, stolzer Fürst der Ruinen, letzter Herr eines sterbenden Geschlechtes, wurde ein Wanderer, verachtet und gefürchtet in allen Ländern der Jungen Königreiche. Elric vom Schwarzen Schwert, Zauberer und Sippenmörder, Plünderer seiner Heimat, rotäugiger Albino, der in sich eine größere Bestimmung trug, als er ahnte… Aus der Chronik des Schwarzen Schwertes
Türkisfarben schimmerte die friedliche See im goldenen Schein des frühen Abends, und die zwei Männer an der Reling standen schweigend da und sahen gen Norden, zum dunstigen Horizont hin. Der Große, Schlanke war in einen schwarzen Umhang gehüllt, dessen Kapuze zurückgeworfen war und sein langes, milchweißes Gesicht freigab. Der andere war klein und rothaarig. »Sie war eine gute Frau, und sie hat dich geliebt«, sagte schließlich der Kleinere. »Warum habt Ihr sie so plötzlich verlassen?« »Sie war eine gute Frau«, erwiderte der Große, »doch ihre Liebe wäre zu ihren Lasten gegangen. Soll sie ihr eigenes Land suchen und dort bleiben! Ich habe bereits eine Frau, die ich liebte, getötet, Moonglum! Ich will nicht noch eine töten.« Moonglum zuckte die Achseln. »Manchmal frage ich mich, Elric, ob Euer grausames Schicksal das Produkt Eurer düsteren Gedanken ist.« »Vielleicht«, erwiderte Elric. »Doch mir liegt nichts daran, diese Theorie zu überprüfen. Sprechen wir nicht mehr davon!« Das Meer schäumte, während die Ruder die Wasseroberfläche peitschten und das Schiff mit Windeseile auf den Hafen von Dhakos zutrieben, der Hauptstadt Jharkors, eines der mächtigsten der Jüngeren Königreiche. Vor knapp zwei Jahren war der König Jharkors, Darmit, bei dem unter einem Unglücksstern stehenden Überfall auf Imrryr ums Leben gekommen, und Elric hatte gehört, daß die Einwohner von Jharkor ihm – ganz zu Unrecht – die Schuld am Tode des jungen Königs gaben. Ihn kümmerte es nicht, ob sie ihn für schuldig hielten oder nicht, denn er hegte noch immer Verachtung für den größten Teil der Menschheit. »Die nächste Stunde bringt uns die Nacht, und des Nachts werden wir wohl nicht weitersegeln«, sagte Moonglum. »Ich lege mich zur Ruhe.«
Elric wollte antworten, als ihn ein schriller Ruf vom Ausguck herab unterbrach. »Segel achtern backbord!« Der Mann im Ausguck mußte im Halbschlaf dahingedämmert haben, denn das Schiff, das auf sie zuhielt, war bereits mit Leichtigkeit von Deck her auszumachen. Elric trat beiseite, als der Kapitän, ein dunkeläugiger Tarkoshite, das Deck entlanggelaufen kam. »Was für ein Schiff ist das, Kapitän?« rief Moonglum. »Eine Trireme aus Pan-Tang, ein Kriegsschiff. Sie nehmen direkt Kurs auf uns und wollen uns rammen.« Der Kapitän lief weiter und schrie dem Steuermann seine Befehle zu. Elric und Moonglum überquerten das Deck, um von dort aus die Trireme besser sehen zu können. Es war ein schwarzes, reich geschmücktes Schiff mit schwarzen Segeln, drei Mann an jedem Ruder, während sie selbst nur je zwei hatten. Es war groß und doch wendig, mit hochgewölbtem Deck und niederem Bug. Jetzt konnten sie auch sehen, wie das Wasser vor seinem hohen, metallumkleideten Rammsporn aufschäumte. Das Schiff hatte zwei Segel, und der Wind war ihnen gewogen. Die Ruderleute waren in heller Verzweiflung, als sie sich abmühten, das Schiff den Befehlen ihres Steuermannes folgend zu wenden. In gestörtem Rhythmus wurden Ruder gesenkt und hochgehoben. Moonglum wandte sich mit bitterem Lächeln an Elric. »Sie schaffen es doch nicht. Macht Eure Klinge bereit, Freund!« Pan-Tang war die Insel der Zauberer, die völlig menschlich waren und der alten Macht von Melnibone nachzueifern trachteten. Ihre Flotte gehörte zu den besten in den Jungen Königreichen und führte ihre Überfälle ziemlich wahllos aus. Der Priesterkönig von Pan-Tang, Haupt der
Priesteraristokratie, war Jagreen Lern, von dem berichtet wurde, daß er mit den Mächten des Chaos einen Pakt geschlossen hätte und daß er die Weltherrschaft an sich reißen wolle. Elric betrachtete die Einwohner von Pan-Tang als Emporkömmlinge, die nie hoffen durften, den Ruhm seiner Vorfahren zu erreichen, doch selbst er mußte zugeben, daß dieses Schiff eindrucksvoll war und in einem Kampf mit der Galeere aus Tarkeshit leicht gewinnen würde. Bald hatte sich ihnen die Trireme auf ganz knappe Entfernung genähert, und Kapitän und Steuermann verstummten, als ihnen klar wurde, daß sie dem Rammstoß nicht mehr ausweichen konnten. Unter dem ächzenden Geräusch splitternden Holzes stieß der Rammsporn ins Heck und riß die Galeere unter der Kiellinie auf. Elric blieb unbeweglich stehen und sah zu, wie die Enterhaken der Trireme auf das Deck der Galeere geschleudert wurden. Halben Herzens liefen die Tarkeshiten nach achtern und machten sich bereit, den an Bord Kletternden Widerstand zu leisten. Sie wußten wohl, daß sie der geübten und gutausgerüsteten Besatzung aus Pan Tang nicht gewachsen waren. Moonglum rief drängend: »Elric, wir müssen eingreifen!« Zögernd nickte Elric. Er verabscheute es, das Runenschwert zu ziehen. Die Klinge war übernatürlichen Ursprungs, mit Halb-Bewußtsein ausgestattet. Elric, der eine besondere Form des Albinoismus darstellte, hätte das Schwert im Normalfall zum Dasein eines Schwächlings verdammt. Zwischen ihm und dem Schwert bestand jedoch eine symbiotische Partnerschaft – das Schwert brauchte ihn, um zum Kampf geführt zu werden, und es saugte als Gegenleistung die Energien der Getöteten auf und nährte damit sich und Elric. Elric hatte schon oft über die wahre Natur des Schwertes nachgegrübelt und sich gefragt,
welche Grenzen dieser Eigenheit des Schwertes wohl gesetzt sein mochten. Und er hatte es gehaßt dafür, was es aus ihm gemacht hatte – und hatte es doch gleichzeitig zum Überleben gebraucht. Nun hieben die rotgerüsteten Krieger auf die sie erwartenden Tarkeshiten ein. Die erste Welle mit Breitschwertern und Kriegsäxten bewaffnet, stürzte auf die Seeleute und trieb sie zurück. Jetzt glitt Elrics Hand auf das Heft des Sturmbringers. Als er danach faßte und das Schwert zog, gab die Klinge ein seltsam beunruhigendes Stöhnen von sich, und eine unheimliche schwarze Strahlung schien die Klinge zu umgeben. Nun pulsierte es in Elrics Hand wie etwas Lebendiges. Der Albino lief los, um den Seeleuten beizustehen. Schon war die Hälfte der Verteidiger niedergehauen, und als die übrigen zurückwichen, drang Elric, dem Moonglum auf den Fersen war, vor. Die Mienen der Rotgepanzerten wechselten von grimmigem Triumph zu Betroffenheit, als Elrics große, schwarze Kampfklinge auf und nieder zischte und die Rüstung eines Kriegers von der Schulter bis zur letzten Rippe hinunter spaltete. Offenbar erkannten sie ihn und sein Schwert, denn beide besaßen sagenhaften Ruhm. Obgleich auch Moonglum ein geübter Schwertkämpfer war, schenkten sie ihm kaum Beachtung, weil sie wußten, daß sie, wollten sie davonkommen, sich mit aller Kraft darauf konzentrieren mußten, Elric zu schlagen. Die alte, wilde Mordlust seiner Ahnen erfüllte Elric, als die Klinge Seelen erntete. Er wurde eins mit dem Schwert, und es war das Schwert und nicht Elric, das die Führung innehatte. Überall fielen die Männer. Sie schrien, mehr aus Entsetzen als aus Schmerz, als sie merkten, was das Schwert ihnen angetan. Vier kamen mit kreisenden Äxten auf ihn zu. Dem einen
schlug er den Kopf ab, dem zweiten hieb er tief ins Zwerchfell, hackte dem dritten einen Arm ab und stieß die Klinge, mit der Spitze voran, in das Herz des letzten. Jetzt brachen die Tarkeshiter in Jubel aus und folgten Elric und Moongum und säuberten das Deck der sinkenden Galeere von den Angreifern. Mit Wolfsgeheul faßte Elric nach einem Seil – ein Teil der schwarzen und goldenen Takelung der Trireme – und schwang sich auf das Deck des gegnerischen Schiffes. »Ihm nach!« schrie Moonglum. »Es ist unsere einzige Chance – unser Schiff ist verloren!« Die Trireme hatte erhöhte Decks. Auf dem Vorderdeck stand der Kapitän, herrlich in Rot und Blau. Er war ob der Wendung der Ereignisse entsetzt, denn er hatte erwartet, die Prise würde ihm mühelos zufallen, und jetzt hatte es den Anschein, als würde er selbst aufgebracht werden. Sturmbringer sang sein jammerndes Lied, während sich Elric zum Vorderdeck durchkämpfte, ein Lied, das zugleich triumphierend und ekstatisch war. Die übrigen Krieger stürzten sich nicht mehr auf ihn, sondern konzentrierten sich jetzt auf Moonglum, der die tarkeshitische Besatzung anführte. Damit war der Weg Elrics zum Kapitän frei. Der Kapitän, ein Angehöriger der Priesterkönigskaste, würde nicht so leicht zu schlagen sein wie seine Leute. Als Elric näher kam, merkte er, daß die Rüstung des Kapitäns merkwürdig glühte – sie war verzaubert worden. Der Kapitän war typisch für Leute seines Schlages – untersetzt, bärtig, heimtückische, schwarze Augen über einer Hakennase. Er lächelte mit dicken roten Lippen, als er mit der Axt in der einen, dem Schwert in der anderen Hand Elric erwartete, der die Stufen hinaufstürmte. Elric packte Sturmbringer mit beiden Händen und schnellte gegen den Körper des Kapitäns vor, doch der Mann wich seitlich aus, parierte mit seinem Schwert und schwang die Axt
mit der Linken gegen den ungeschützten Kopf Elrics. Der Albino mußte zur Seite ausweichen, taumelte und fiel aufs Deck nieder. Er rollte sich weg, während sich das Breitschwert knapp neben seiner Schulter ins Deck bohrte. Sturmbringer schien sich aus eigenem Antrieb zu heben und parierte einen zweiten Axthieb. Dann führte er einen Schlag, um die Axt des Gegners vom Stiel zu trennen. Der Kapitän warf fluchend den Stiel weg, packte dann das Breitschwert mit beiden Händen und hob es hoch. Wieder kam Sturmbringer um den Bruchteil einer Sekunde der Reaktion Elrics zuvor. Er trieb die Klinge nach oben, gegen das Herz des Mannes. Der mit Zauberei zurechtgemachte Panzer hielt sie eine Sekunde lang auf, doch dann ließ Sturmbringer ein schauerlich klagendes Lied schrill erklingen. Er erbebte, als sammle er Kräfte, und dann stach er durch den Panzer. Und da splitterte der Zauberpanzer wie eine Nußschale, und Elrics Gegner stand mit barer Brust da, die Arme noch zum Schlag erhoben. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Er wich zurück, vergaß sein Schwert und hielt den Blick starr auf die unheilbringende Runenklinge gerichtet, die ihn unter dem Brustbein traf und tief eindrang. Er schnitt eine Grimasse, winselte, ließ das Schwert fallen und faßte statt dessen nach der Klinge, die seine Seele aussaugte. »Bei Chardrios – nicht – nicht – ahhhh!« Er starb mit dem Wissen, daß nicht einmal seine Seele vor der Höllenklinge des wolfsgesichtigen Albino verschont geblieben war. Elric wand Sturmbringer aus dem Leichnam und spürte, wie seine eigene Lebenskraft sich steigerte, als das Schwert die geraubte Energie weitergab. Auf dem Deck der Galeere ließ man nur die Galeerensklaven am Leben. Doch das Deck neigte sich gefährlich, weil der
Raumsporn und die Enterhaken das Schiff mit dem sinkenden tharkeshitischen Schiff noch immer verbanden. »Enterhaken kappen und dann rasch wegrudern!« rief Elric. Die Seeleute, die merkten, was ihnen bevorstand, sprangen herbei, um seinen Befehlen Folge zu leisten. Die Sklaven legten sich in die Riemen, und der Ramm wurde unter Ächzen splitternd befreit. Die Enterhaken wurden gekappt, und die dem Untergang geweihte Galeere trieb fort. Elric zählte die Überlebenden. Nicht einmal die Hälfte der Besatzung war noch am Leben, und ihr Kapitän war beim ersten Ansturm getötet worden. Elric sprach zu den Sklaven: »Wollt ihr eure Freiheit haben, dann rudert mit aller Kraft auf Dhakos zu!« Die Sonne war schon im Untergehen, doch da er jetzt den Befehl führte, entschloß er sich, die Fahrt bei Nacht fortzusetzen. Moonglum rief ungläubig aus: »Warum bietest du ihnen die Freiheit? Wir könnten sie in Dhakos verkaufen und uns dadurch für die heutige Anstrengung entschädigen!« Elric zuckte die Achseln. »Ich biete ihnen die Freiheit, weil es mir so paßt, Moonglum.« Der Rothaarige seufzte und wandte sich ab, weil er das Überbordwerfen der Toten und Verwundeten überwachen mußte. Er würde den Albino wohl nie verstehen, entschied er. Und das war vielleicht besser so. Und so kam es, daß Elrics Ankunft in Dhakos unter großem Aufsehen vor sich ging, obwohl er ursprünglich geplant hatte, sich unerkannt in die Stadt zu schleichen. Er überließ es Moonglum, den Verkauf der Trireme in die Wege zu leiten und der Besatzung den ihr zustehenden Anteil auszuzahlen. Elric selbst zog sich die Kapuze über den Kopf und drängte sich durch die Menge, die sich inzwischen angesammelt hatte. Er machte sich auf den Weg zu einer Schenke am westlichen Stadttor.
Später am Abend, als Moonglum sich schon zur Ruhe begeben hatte, saß Elric noch immer in der Schenke und zechte. Auch die ausdauerndsten Zecher waren gegangen, als sie bemerkten, mit wem sie den Raum geteilt hatten. Und jetzt saß Elric allein da. Die einzige Lichtquelle war eine tropfende Riedfackel über der Schenkentür. Da ging die Tür auf, und ein reichgekleideter Jüngling stand da und sah herein. »Ich suche den weißen Wolf«, sagte er, sich fragend mit geneigtem Kopf umsehend. Er konnte nämlich Elric nicht deutlich erkennen. »In dieser Gegend gibt man mir manchmal diesen Namen«, sagte Elric gelassen. »Sucht Ihr Elric von Melnibone?« »So ist es. Ich bringe eine Botschaft.« Der Jüngling trat ein und raffte den Mantel um sich, denn der Raum war kalt, obgleich Elric es nicht spürte. »Ich bin Graf Yolan, stellvertretender Kommandant der Stadtwache«, sagte der Jüngling hochmütig und trat an Elrics Tisch. Er starrte den Albino unverschämt an. »Ihr beweist Mut, da Ihr so offen herkommt. Glaubt Ihr, das Volk von Jhalangor hat ein so kurzes Gedächtnis, daß es vergäße, wie Ihr vor kaum zwei Jahren unseren König in eine Falle gelockt habt?« Elric schlürfte seinen Wein und sagte hinter dem Rand seines Bechers hervor: »Das ist bloß Rederei, Graf Yolan. Wie lautet Ihre Botschaft?« Yolans selbstsichere Art verließ ihn. Jetzt machte er eine ziemlich ratlose Handbewegung. »Geschwätz – für Euch. Vielleicht. Aber mir zum Beispiel geht die Sache sehr nahe. Wäre denn König Darmit heute nicht hier, wenn Ihr nicht geflohen wäret aus jenem Kampf, der die Macht der Seeherren und Eures eigenen Volkes gebrochen hat? Habt Ihr denn Eure Zauberkunst nicht dazu benutzt, Eure Flucht zu
bewerkstelligen, statt sie zum Beistand für die Männer zu nutzen, die glaubten, Eure Gefährten zu sein?« Elric seufzte. »Ich weiß, Eure Aufgabe ist es nicht, mich hier auf diese Weise zu quälen. Darmit starb an Bord seines Flaggschiffes, während des ersten Angriffes auf Imrryr, und nicht in der darauffolgenden Schlacht.« »Ihr spottet über meine Fragen und bietet mir sodann lahme Lügen, um Eure feige Tat zu bemänteln«, sagte Yolan verbittert. »Wenn es nach mir ginge, würde man Euch Eurer eigenen Höllenklinge vorwerfen. Ich habe vernommen, was sich vor kurzem zugetragen hat.« Elric erhob sich gemessen. »Eure Sticheleien öden mich an. Wenn Ihr bereit seid, Eure Botschaft zu überbringen, dann überbringt sie dem Schankwirt.« Er ging um den Tisch herum und wollte zur Treppe, als er von Yolan aufgehalten wurde, der ihn am Ärmel faßte. Elrics leichenweißes Gesicht starrte auf den jungen Edelmann nieder. Die roten Augen flackerten vor gefährlicher Erregung. »Junger Mann, solche Vertraulichkeiten bin ich nicht gewohnt!« Yolan ließ die Hand sinken. »Vergebt mir! Ich habe mich hinreißen lassen und hätte meinen Gefühlen nicht gestatten dürfen, alle Gebote der Diplomatie außer acht zu lassen. Ich bin in geheimen Sachen hier – eine Botschaft von Königin Yishana. Sie sucht Euren Beistand.« »Ich bin ebensowenig geneigt, anderen beizustehen, wie ich keine Aufklärungen über meine Taten gebe«, sagte Elric ungeduldig. »Die Vergangenheit hat gezeigt, daß mein Beistand denen, die ihn suchten, nicht immer zum Vorteil gereichte. Darmit, der Halbbruder Eurer Königin, mußte das am eigenen Leibe erfahren.« Düster sagte Yolan: »Ihr seid das Echo meiner Warnungen, die ich schon der Königin gegenüber geäußert habe. Trotzdem
wünscht sie, Euch heimlich zu treffen – heute nacht…« Er runzelte die Stirn und sah beiseite. »Ich möchte betonen, daß ich Euch festnehmen könnte, solltet Ihr Euch weigern.« »Vielleicht«. Elric ging zur Treppe. »Richtet Yishana aus, daß ich die Nacht hier verbringe und erst bei Morgengrauen aufbreche. Sie kann mich hier aufsuchen, wenn ihr Anliegen so dringend ist.« Er ging die Treppe hinauf und ließ Yolan offenen Mundes allein in der Stille des Schankraumes zurück.
Theleb K’aarnas Miene war düster. Denn trotz seiner Beherrschung der Schwarzen Künste war er in der Liebe ein Narr. Und Yishana, die auf ihrem üppigen Lager ausgestreckt lag, wußte es… Es gefiel ihr, Macht über einen Mann zu haben, der sie mit einem simplen Zauberspruch vernichten konnte, hätte ihn nicht seine Liebe zu ihr zum Schwächling gemacht. Obgleich Theleb K’aarna in der Hierarchie PanTangs sehr hoch stand, war es ihr klar, daß sie von dem Zauberer nichts zu befürchten hatte. Vielmehr sagte ihr die Intuition, daß dieser Mann, der andere gern beherrschte, selbst die Beherrschung durch einen Menschen brauchte. Und dieses Bedürfnis stillte sie mit Behagen. Er sah sie düster an. »Wie könnte dieser entartete Zaubermacher dir helfen, da ich es nicht vermag?« murmelte er. Er setzte sich zu ihr auf das Lager und streichelte ihren perlenverzierten Fuß. Yishana war weder jung noch schön. Doch ihr hochgewachsener üppiger Körperbau, das volle schwarze Haar und das sinnliche Gesicht übten eine hypnotische Anziehungskraft aus. Nur wenige der Männer, die sie sich zu ihrem Vergnügen erwählt hatte, waren imstande gewesen, ihr zu widerstehen.
Sie war auch weder gutherzig, noch gerecht, weise oder aufopfernd. Die Historiker würden ihrem Namen kein schmückendes Beiwort anfügen. Und doch war an ihr etwas so Selbstherrliches, etwas, das die üblichen Maßstäbe, mit denen Menschen gemessen werden, überstieg, so daß alle sie bewunderten und sie von ihren Untertanen sogar geliebt wurde. Zwar wie ein eigenwilliges Kind, jedoch mit unwandelbarer Treue. Nun lachte sie ihrem zauberkundigen Geliebten leise und spöttisch zu. »Wahrscheinlich hast du recht, aber Elric ist eine Legende – jener Mann, von dem die ganze Welt am meisten spricht und von dem man am wenigsten weiß. Dies ist meine Gelegenheit zu entdecken, was andere nur vermutet haben, seinen wahren Charakter.« Theleb K’aarna strich sich mit einer verlegenen Handbewegung den langen schwarzen Bart. Er trat zu einem mit Früchten und Wein beladenen Tisch und schenkte für beide Wein ein. »Falls du mich wieder eifersüchtig machen willst, wird es dir natürlich nicht gelingen. Doch habe ich für dein Anliegen wenig Hoffnung. Elrics Ahnen waren Halbdämonen, sein Geschlecht ist nicht menschlich und kann nicht mit unseren Maßstäben gemessen werden. Wir lernen die Zauberei nach jahrelangen Studien und unter großen Opfern. Bei Elric ist die Zauberei intuitiv, naturgegebenen Ursprungs. Du wirst vielleicht nicht lange genug leben, um hinter seine Geheimnisse zu kommen. Cymoril, seine geliebte Base, ist von seiner Klinge gestorben – und sie war ihm anverlobt!« »Deine Besorgnis ist rührend!« Lässig nahm sie den angebotenen Becher in Empfang. »Doch ich gebe meinen Platz trotzdem nicht auf. Schließlich kannst du kaum behaupten, daß du mit viel Erfolg die Natur dieser Zitadelle ergründet hast.«
»Es gibt da Feinheiten, die ich noch nicht gründlich erforscht habe!« »Dann wird vielleicht Elrics Intuition Antworten finden, die dir versagt bleiben«, sagte sie lächelnd. Sie erhob sich und sah durch das Fenster hinaus zum wolkenlosen Himmel, an dem der Vollmond über den Türmen von Dhakos hing. »Yolan hat sich verspätet. Wenn alles gut gegangen wäre, müßte er mit Elric schon da sein.« »Yolan war eine Fehlentscheidung. Du hättest keinen so guten Freund Darmits aussenden sollen. Er kann Elric gefordert und ihn getötet haben.« Wieder konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken. »Ach, deine geheimen Wünsche vernebeln deinen Verstand. Ich habe Yolan geschickt, weil ich weiß, daß er dem Albino rüde gegenübertreten und damit seine übliche Gelassenheit brechen und seine Neugierde wecken wird. Yolan war ein Köder, der Elric zu uns bringen sollte.« »Dann hat Elric dies vielleicht gespürt?« »Übermäßig klug bin ich nicht, Geliebter, doch glaube ich, daß mich mein Instinkt kaum trügt. Wir werden es bald erfahren.« Ein wenig später war ein leises Scharren an der Tür zu hören, und eine Dienerin trat ein. »Eure Hoheit, Graf Yolan ist zurückgekehrt.« »Nur Graf Yolan?« Auf Theleb K’aarnas Gesicht erschien ein Lächeln. Es sollte kurz darauf verschwinden, als Yishana, bereits für die Straße gekleidet, das Gemach verließ. »Du bist eine Närrin!« rief er ihr nach, als die Tür ins Schloß fiel. Er warf den Becher weg. Schon bei der Sache mit der Zitadelle hatte er versagt, und falls Elric an seine Stelle trat, konnte er alles verlieren. Er begann nachzudenken, sehr tief und sehr sorgfältig.
Obwohl er immer so tat, als hätte er kein Gewissen, strafte ein gequälter Blick diese Behauptung Lügen. Er saß am Fenster seiner Kammer, trank schweren Wein und dachte über die Vergangenheit nach. Seit der Plünderung von Imrryr hatte er an der Welt gezweifelt und nach dem Sinn seines Lebens gefragt. Vor kurzem hatte er die Antwort in dem Buch des toten Gottes gesucht, in einem sagenhaften umfangreichen Buch, von dem es hieß, daß es alle Geheimnisse des Universums enthielte. Er hatte entdecken müssen, daß das Buch zu Staub zerfallen war. Elric hatte versucht, Shaarilla aus Myyrrhn, die Frau mit den verkümmerten Flügeln, zu lieben und Cymoril zu vergessen, die immer noch seine Alpträume heimsuchte. Doch es hatte nichts gefruchtet, und er hatte Shaarilla verlassen. Friede, das war es, was er suchte – so glaubte er wenigstens. Doch sogar der Friede im Tod war ihm versagt geblieben. Elrics Stimmung war so düster, daß er immer tiefer in Brüterei versank, bis seine Gedanken schließlich durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurden. Sofort verhärtete sich seine Miene. Die roten Augen blickten wachsam. Er straffte die Schultern, so daß er, hoch aufgerichtet dastehend, kühl und stolz wirkte. Er stellte den Becher auf den Tisch und sagte gelassen: »Herein!« Eine Frau trat ein. Sie war in einen dunkelroten Mantel gehüllt und wegen der im Raum herrschenden Dunkelheit nicht sofort zu erkennen. Sie schloß die Tür hinter sich und blieb reglos und ohne ein Wort zu sagen stehen. Als sie schließlich das Schweigen brach, klang ihre Stimme beinahe zögernd, doch war auch versteckte Ironie herauszuhören. »Ihr sitzt im Dunkeln, Lord Elric? Und ich dachte, Euch im Schlaf zu stören…«
»Schlaf, meine Gnädigste, ist jene Tätigkeit, die mich am meisten langweilt. Doch will ich euch eine Fackel entzünden, falls Euch die Dunkelheit nicht genehm sein sollte.« Er trat an den Tisch und hob den Deckel von der kleinen Holzkohlenschale. Er langte nach einem Holzspan, legte ihn mit einem Ende in die Schale und blies leicht hinein. Die Holzkohle glühte auf, der Span fing Feuer, und Elric hielt ihn an eine Riedfackel, die in einer Klammer an der Wand über dem Tisch steckte. Die Fackel flammte auf und ließ Schatten durch den Raum tanzen. Jetzt warf die Frau ihre Kapuze zurück, und das Licht spielte auf ihren dunklen sinnlichen Zügen und der Haarfülle, die das Gesicht umrahmte. Die Besucherin bildete einen starken Kontrast zu dem schlanken ästhetischen Albino, der sie um einen Kopf überragte. Er sah sie unbewegt an. Gleichgültige Blicke waren für sie etwas Ungewohntes, und die neue Erfahrung gefiel ihr. »Lord Elric, Ihr habt nach mir gesandt – und Ihr seht, daß ich gekommen bin.« Sie machte spöttisch einen Knicks. »Königin Yishana!« Er erwiderte den Knicks mit einer leichten Verbeugung. Jetzt, da sie ihm gegenüberstand, fühlte sie seine Macht – eine Macht, die stärker sein mochte als ihre eigene. Wie er auf sie reagierte, ließ er sich nicht anmerken. Es war eine Ironie, daß diese Situation, von der sie erwartet hatte, sie würde höchst interessant sein, sich als unbefriedigend erwies. Yishana fand das sogar recht amüsant. Elrics Interesse begann sich zu regen. Seine abgestumpften Gefühle gaben ihm ein Zeichen, daß es Yishana vielleicht gelingen könnte, sie von neuem zu schärfen. Das erregte und beunruhigte ihn gleichermaßen. Elrics Spannung ließ nach. Er zuckte die Achseln. »Ich habe von Euch vernommen, Königin Yishana, in anderen Ländern als Jharkor. Nehmt Platz, wenn es Euch
beliebt.« Er deutete auf eine Bank und setzte sich selbst auf die Bettkante. »Ihr seid artiger, als eure Aufforderung an mich. Euch aufzusuchen, vermuten ließ.« Lächelnd setzte sie sich. Sie schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. »Soll das heißen, daß Ihr mir für den Vorschlag, den ich Euch unterbreiten werde, Euer Ohr leihen wollt?« Er erwiderte ihr Lächeln. Dieses Lächeln war bei ihm sehr selten. »Ich denke ja. Ihr seid eine ungewöhnliche Frau, Königin Yishana. Wüßte man es nicht besser, so könnte man in der Tat glauben, in Euren Adern fließt das Blut von Melnibone.« »Nicht alle Emporkömmlinge in den Jungen Königreichen sind so ungehobelt, wie Ihr es zu glauben scheint, mein Herr.« »Mag sein.« »Da ich Euch jetzt von Angesicht zu Angesicht sehe, kann ich die düstere Legende, mit der man Euch umgibt, kaum glauben – und doch, andererseits«, sie sah ihn mit schräggeneigtem Kopf aufmerksam an, »scheint es mir, berichtet die Legende von einem unkomplizierteren Menschen als von dem, der mir jetzt gegenübersteht.« »Das haben Legenden so an sich.« »Ach«, sie flüsterte beinahe, »welche Macht wir gemeinsam darstellen würden. Ihr und ich…« »Solche Überlegungen wecken meinen Zorn, Königin Yishana. Mit welcher Absicht seid Ihr gekommen?« »Gut also. Ich hätte gar nicht erwartet, daß Ihr mich anhören wollt.« »Ich höre – doch darüber hinaus erwarte ich nichts.« »Hört also. Ich denke, meine Geschichte wird Euer Interesse wecken.« Elric lauschte, und – Yishana hatte ganz richtig vermutet – ihre Geschichte fesselte ihn.
Vor einigen Monaten, so erzählte Yishana, berichteten Bauern in der Provinz Gharavian von geheimnisvollen Reitern, die Jünglinge und Mädchen aus den Dörfern verschleppten. Da sie Räuber dahinter vermutete, hatte Yishana eine Abteilung ihrer Weißen Leoparden, der besten Krieger Jharkors, in die Provinz entsandt, um die Briganten niederzuwerfen. Kein einziger der Weißen Leoparden war wiedergekehrt. Eine zweite Expedition hatte von ihnen keine Spur entdecken können, war aber in einem Tal nahe der Stadt Thokora auf eine geheimnisvolle Zitadelle gestoßen. Die Beschreibungen der Zitadelle waren verwirrend. Der Befehlshaber der Suchexpedition, der vermutete, daß die Weißen Leoparden bei einem Angriff auf die Zitadelle getötet worden waren, hatten sich selbst nicht weiter vorgewagt. Statt dessen hatte er einige Krieger zurückgelassen, die die Zitadelle beobachten und alles Gesehene berichten sollten. Er selbst war unverzüglich nach Dhakos zurückgekehrt. Nur eines stand fest – vor einigen Monaten hatte in dem Tal noch keine Zitadelle gestanden. Yishana und Theleb K’aarna hatten eine große Streitmacht in das Tal geführt. Die Männer der Suchexpedition, die man zurückgelassen hatte, waren verschwunden. Als Theleb K’aarna die Zitadelle sah, hatte er Yishana vor einem Angriff gewarnt. »Es war ein wundervoller Anblick, Lord Elric«, fuhr Yishana fort. »Die Zitadelle funkelte in leuchtenden Regenbogenfarben – Farben, die sich dauernd änderten, verschoben, ineinanderflossen. Die ganze Festung schien unwirklich – bald konnte man sie klar sehen, bald war sie so verschwommen, als würde sie sofort zerfließen. Theleb K’aarna hatte behauptet, die Zitadelle wäre zauberischen Ursprungs, und wir hegten keinen Zweifel an seinen Worten. Sie stamme aus dem Reich des Chaos, und das schien einleuchtend.« Yishana erhob sich.
Elric lehnte sich auf das Bett zurück. »Weiter!« Sie breitete die Hände aus. »So großartige Zauberwerke kennen wir hier nicht. Theleb K’aarna ist schließlich mit der Magie vertraut – er stammt aus der Stadt der Schreienden Statuen auf Pan-Tang, und dergleichen Dinge kann man dort des öfteren sehen. Doch auch er war entsetzt.« »Und deswegen habt Ihr den Rückzug angetreten«, ergänzte Elric ungeduldig. »Wir waren nahe daran – tatsächlich hatten Theleb K’aarna und ich an der Spitze der Truppen bereits kehrtgemacht, als die Musik ertönte… süß, herrlich, unirdisch, sehnsüchtig. Theleb K’aarna rief mir zu, ich sollte so rasch als möglich davonreiten. Die Musik lockte mich, und ich wollte mir Zeit lassen, doch er peitschte mein Pferd, und wir ritten schnell wie Drachen davon, weg von diesem Ort. Diejenigen, die sich um uns geschart hatten, konnten ebenfalls entkommen, doch wir sahen, daß alle übrigen wendeten und zurück zur Zitadelle ritten – von der Musik verführt. Fast zweihundert Mann ritten zurück – und verschwanden.« »Und was habt Ihr daraufhin unternommen?« fragte Elric, als Yishana durch den Raum auf ihn zukam und sich neben ihn setzte. Er rückte beiseite und machte ihr Platz. »Theleb K’aarna hat versucht, die wahre Natur der Zitadelle zu ergründen – ihren Zweck und ihren Herren. Bis heute haben ihm seine Zauberkünste wenig mehr verraten als das, was er ohnehin ahnte: daß nämlich das Reich Chaos die Zitadelle ins Reich der Erde entsandt hat und mit der Zeit ihren Einflußbereich erweitern wird. Immer mehr unserer jungen Leute werden von den Dienern des Chaos verführt.« »Und diese Diener?« Diesmal war Elric nicht abgerückt, als Yishana sich ihm wieder genähert hatte. »Bis jetzt ist es niemandem geglückt, sie in die Schranken zu weisen – und nur wenige haben den Versuch überlebt.«
»Und was erwartet Ihr von mir?« »Hilfe.« Sie sah ihn an, faßte hilfesuchend nach seiner Hand. »Eure Kenntnis von Chaos und Ordnung ist altes Wissen, instinktives Wissen, wenn man Theleb K’aarna glauben will. Schließlich sind Eure Götter die Herren von Chaos.« »Ihr habt recht, Yishana. Eben weil unsere Schutzgötter aus dem Reich Chaos stammen, kann es nicht mein Interesse sein, gegen einen von ihnen zu kämpfen.« Jetzt war er es, der näherrückte. Er sah ihr lächelnd in die Augen und nahm sie dann unvermittelt in die Arme. »Vielleicht wirst du allein stark genug sein«, sagte er rätselhaft, bevor sich ihre Lippen trafen. »Und was das andere betrifft – das können wir später besprechen.«
In den grünen Tiefen eines dunklen Spiegels konnte Theleb K’aarna einiges von der Szene in Elrics Kammer beobachten. Voll ohnmächtiger Wut mußte er tatenlos zusehen. Er raufte sich den Bart, als zum wiederholten Mal die Szene verblaßte. Doch diesmal vermochten seine Beschwörungen nicht, sie wieder zum Vorschein zu bringen. Der Zauberer lehnte sich in seinem Sessel aus Schlangenschädeln zurück und gab sich Racheplänen hin. Schließlich entschied er, daß er sich mit der Rache Zeit lassen konnte. Sollte Elric sich in der Sache mit der Zitadelle als nützlich erweisen, hatte es keinen Sinn, ihn schon jetzt zu vernichten…
Am nächsten Nachmittag machten sich drei Reiter auf den Weg nach der Stadt Thokora. Elric und Yishana ritten knapp nebeneinander, doch der dritte Reiter, Theleb K’aarna, hielt mit düsterer Miene Abstand. Falls Elric vom Benehmen des Mannes, den er in der Gunst Yishanas ausgestochen hatte,
unangenehm berührt war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Elric, der Yishana mehr als nur anziehend fand, hatte sich trotz seiner Vorbehalte bereiterklärt, die Zitadelle zu besichtigen, um sich über deren Ursprung und die Gegenmaßnahmen ein Bild machen zu können. Sie ritten über das herrliche Grasland von Jhakor, das unter der heißen Sonne golden schimmerte. Bis nach Thokora war es ein Ritt von zwei Tagen, und Elric war fest entschlossen, den Ritt zu genießen. Er, der sich noch schlechter als nur elend fühlte, galoppierte mit Yishana einher und scherzte angeregt mit ihr. Doch tiefer als gewöhnlich bohrte eine böse Vorahnung in seinem Herzen, als sie der geheimnisvollen Zitadelle immer näher kamen und er feststellen mußte, daß Theleb K’aarna manchmal sehr zufrieden wirkte, wo ihm Besorgnis besser zu Gesicht gestanden wäre. Hin und wieder rief Elric dem Zauberer zu: »He, du alter Hexenmeister, spürst du denn keine freudige Erleichterung, von den Lasten des Hofes befreit, hier draußen mitten in der schönen Natur? Dein Gesicht ist lang, Theleb K’aarna, atme die unberührte Luft und lache mit uns!« Darauf pflegte der Zauberer düster vor sich hin zu brummen, und Yishana lachte ihn aus und strahlte Elric an. So kamen sie nach Thokora und fanden die Stadt als schwelenden Trümmerhaufen vor, der wie höllischer Unrat zum Himmel stank. Elric sagte: »Das ist das Werk von Chaos. Du hast recht gehabt, Theleb K’aarna. Welches Feuer auch immer eine so große Stadt verzehrt haben mag, es war kein natürliches Feuer. Wer immer dafür verantwortlich ist, er nimmt offenbar an Macht zu. Wie du weißt, Zauberer, sind die Herren von Ordnung und Chaos gewöhnlich vollkommen im
Gleichgewicht und mischen sich nicht direkt in die Vorgänge auf unserer Erde ein. Offenbar hat sich aber das Gleichgewicht ein wenig nach einer Seite verschoben, wie es manchmal vorkommt – und zwar zugunsten der Herren der Unordnung –, und damit haben sie Zutritt zu unserem Reich. Gewöhnlich gelingt es einem der irdischen Zauberer, für kurze Zeit den Beistand von Chaos oder Ordnung zu erwirken, doch kommt es sehr selten vor, daß sich eine der zwei Seiten so festigen kann, wie es unser Freund in der Zitadelle offenbar getan hat. Was weit beunruhigender ist – jedenfalls für Euch in den Jungen Königreichen –, ist die Tatsache, daß, wenn eine solche Macht einmal gefestigt ist, sie sich ausweiten kann. Die Herren des Chaos können mit der Zeit das Reich der Erde erobern, indem sie hier ihre Macht allmählich mehren.« »Eine schreckliche Möglichkeit«, murmelte der Zauberer, der ehrlich betroffen war. Auch wenn es ihm manchmal gelungen war, von Chaos Hilfe zu erwirken, konnte doch kein Mensch Interesse daran haben, daß sich Chaos auf der Erde festsetzte. Elric stieg wieder in den Sattel. »Wir reiten schleunigst in das Tal!« »Seid Ihr sicher, daß das klug gehandelt wäre, nachdem Ihr das hier gesehen habt?« Der Zauberer hatte die Nerven verloren. Elric lachte: »Was? Du willst ein Zauberer aus Pan-Tang sein? Von jener Insel, die sich rühmt, ebensoviel von Zauberei zu verstehen wie meine Ahnen, die Lichten Kaiser? Nein. Nein – und außerdem bin ich heute nicht in ängstlicher Stimmung!« »Ich auch nicht!« rief Yishana und schlug ihrem Roß auf die Flanken. »Vorwärts, meine Herren – zur Zitadelle des Chaos!«
Am späten Nachmittag hatten sie den Hügelzug erklommen, der das Tal umgab, und sie sahen hinunter auf die geheimnisvolle Zitadelle. Yishana hatte sie gut beschrieben, aber nicht genau. Elrics Augen schmerzten, als er hinuntersah, denn die Zitadelle schien sich über das Reich der Erde hinaus in eine andere Ebene – vielleicht sogar in mehrere Ebenen – zu erstrecken. Die Zitadelle schimmerte und glänzte und zeigte alle Farben der Erde und auch solche Farben, die Elric als anderen Welten zugehörig erkannte. Sogar die Umrisse der Zitadelle waren unscharf. Im Gegensatz dazu war das umgebende Tal ein Meer dunkler Asche, die manchmal ins Wirbeln geriet, Wellen schlug und sprühende Staubgeysire hochschleuderte, als wären die Grundelemente der Natur durch die Gegenwart der übernatürlichen Zitadelle gestört und verändert. »Nun?« Theleb K’aarna versuchte sein nervöses Tier zu beruhigen, das angesichts der Zitadelle scheute. »Habt Ihr dergleichen schon auf der Welt gesehen?« Elric schüttelte den Kopf. »In dieser Welt gewiß nicht. Doch ich habe sie zuvor schon gesehen. Während der abschließenden Einführung in die Künste von Melnibone, hat mich mein Vater in astraler Gestalt ins Reich Chaos geführt, um mich dort meinem Schutzgott Arioch der Sieben Finsternisse vorzustellen…« Theleb K’aarna schauderte. »Ihr wart in Chaos? Also ist das hier Ariochs Zitadelle?« Elric lachte verächtlich. »Das hier? Nein! Das ist eine elende Hütte, verglichen mit den Palästen der Herren von Chaos!« Ungeduldig fragte Yishana: »Wer aber wohnt hier?« »Soviel ich mich erinnere, war der Bewohner der Zitadelle – als ich das Reich Chaos in meiner Jugend durchwanderte – keiner der Herren von Chaos, sondern eine Art Gefolgsmann
dieser Herren. Jedoch«, er runzelte die Stirn, »kein eigentlicher Diener…« »Ach, Ihr sprecht in Rätseln.« Theleb K’aarna wandte sein Pferd, um wieder bergab zu reiten – weg von der Zitadelle. »Ich kenne euch Melniboneer! Noch knapp vor dem Hungertod ist euch ein Paradoxon lieber als ein Stück Brot.« Elric und Yishana folgten ihm in einigem Abstand, und dann hielt Elric an. Er wies hinter sich. »Der dort drüben ist wirklich ein Paradoxon. Er fungiert am Hof von Chaos als eine Art Hofnarr. Die Herren von Chaos achten ihn, vielleicht fürchten sie ihn sogar ein wenig, obwohl er ihrer Unterhaltung dient. Er unterhält sie mit seinen kosmischen Rätseln, mit possenhaften Satiren, die die Natur der kosmischen Hand erklären sollen, welche Chaos und Ordnung im Gleichgewicht hält. Er spielt mit Rätseln wie mit Tand, verlacht alles, was Chaos teuer ist, und nimmt ernst, worüber Chaos spottet…« Er machte eine Pause und zuckte die Achseln. »Das habe ich wenigstens vernommen.« »Warum sollte er hier sein?« »Warum sollte er überhaupt irgendwo sein? Ich könnte eine Vermutung über die Motive von Chaos oder Gesetz aufstellen und hätte damit vielleicht recht. Doch nicht einmal die Herren der Höheren Welt können die Motive von Balo, dem Hofnarren, verstehen. Man sagt, er sei der einzige, dem es gestattet ist, sich nach Belieben zwischen den Reichen von Chaos und Ordnung zu bewegen, obwohl ich noch nie gehört habe, daß er ins Reich der Erde eingedrungen wäre. Noch nie habe ich gehört, daß ihm solche Verheerungen zugeschrieben werden wie die, deren Zeugen wir geworden sind. Das ist für mich ein Rätsel – und das würde ihn zweifellos freuen, wenn er es wüßte.«
»Es gibt einen Weg, den Zweck seines Besuches zu ergründen«, sagte der Zauberer mit der Andeutung eines Lächelns. »Wenn jemand die Zitadelle beträte…« »Aber, aber, Zauberer!« spottete Elric. »Ich hänge nicht sehr an meinem Leben, doch solange es Dinge gibt, die ich schätze – meine Seele, zum Beispiel, um eines zu nennen…« Theleb K’aarna ritt hügelabwärts, Elric blieb nachdenklich stehen, wo er war, Yishana an seiner Seite. »Elric, die Sache scheint dich mehr zu beunruhigen, als nötig«, sagte sie. »Es ist auch beunruhigend. Das hier ist ein Hinweis, daß wir – sollten wir die Zitadelle näher erforschen – in einen Zwist zwischen Balo und seinen Herren verwickelt werden, in einen Zwist, an dem vielleicht sogar die Herren der Ordnung beteiligt sind. Das könnte unsere Vernichtung bedeuten, da die beteiligten Kräfte gefährlicher und mächtiger sind als alles andere, was wir auf Erden kennen.« »Aber wir können doch nicht einfach zusehen, wie dieser Balo unsere Städte verwüstet, unser Liebstes raubt und damit droht, in Kürze ganz Jharkor zu beherrschen.« Elric seufzte, gab aber keine Antwort. »Elric, weißt du keinen Zauber, mit dem man Balo zurück ins Reich des Chaos schicken könnte, dort, wohin er gehört, um den Frieden in unserem Reich wieder herzustellen, den er gebrochen hat?« »Nicht einmal die Melniboneer können sich mit der Macht der Herren der Höheren Welten messen – und meine Vorfahren verstanden von Zauberei mehr als ich. Meine besten Verbündeten dienen weder Chaos noch Ordnung, sie sind vielmehr Mächte der Elemente: Herren von Feuer, Erde, Luft und Wasser, Wesenheiten, die den Tieren und Pflanzen ähnlich sind. Es sind gute Verbündete in einem irdischen Kampf, aber von geringem Nutzen, wenn es gegen Balo geht. Ich muß
überlegen… Wenn ich mich gegen Balo wende, würde ich mir vielleicht nicht unbedingt den Zorn meiner Schutzherren zuziehen. Ich nehme an, etwas…« Die Hügel senkten sich grün und üppig zu dem Weideland zu ihren Füßen. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel auf die Unendlichkeit der bis zum Horizont reichenden Grasfläche. Über ihnen kreiste ein großer Raubvogel. Und Theleb K’aarna war zu einer winzigen Figur geworden, die sich im Sattel umdrehte und ihnen mit dünner Stimme etwas zurief, das sie nicht verstanden. Yishana schien entmutigt. Sie ließ die Schultern hängen und sah Elric nicht an, während sie ihr Pferd langsam hügelabwärts lenkte, hinter dem Zauberer von Pan-Tang her. Elric folgte ihr. Er war sich ihrer Unentschlossenheit wohl bewußt, und doch machte er sich weiter keine Gedanken darüber. Was kümmerte es ihn, wenn… Die Musik setzte ein, schwach zunächst, dann immer mehr anschwellend, mit einer einschmeichelnden, eindringlichen Süße, die sehnsüchtige Erinnerungen weckte, Frieden verhieß und dem Leben einen deutlichen Sinn gab – und das alles auf einmal. Falls die Musik von Instrumenten stammte, dann waren diese nicht irdischer Herkunft. Sie riefen in Elric ein Sehnen hervor, sich umzudrehen und die Quelle der Klänge zu erforschen, doch widerstand er der Lockung. Yishana jedoch konnte der Musik nicht so leicht widerstehen. Sie hatte sich umgedreht, ihr Gesicht war verzückt, ihre Lippen bebten, Tränen glitzerten in ihren Augen. Elric hatte während seiner Wanderungen in unterirdischen Reichen solche Musik schon vernommen – sie klang an so manche der bizarren Symphonien des alten Melnibone an – und zog ihn daher nicht so magisch in ihren Bann wie Yishana. Er erkannte sogleich, daß Yishana in Gefahr war, und als sie
an ihm vorbeiritt und ihrem Pferd die Sporen gab, faßte er nach ihrem Zügel. Ihre Peitsche schlug auf seine Hand. Fluchend ob des unerwarteten Schmerzes ließ er die Zügel los. Sie ritt an ihm vorbei, galoppierte den Hügel hinauf und verschwand hinter dem Kamm. »Yishana!« Er rief ihr verzweifelt nach, doch seine Stimme konnte die rhythmischen Wogen der Musik nicht übertönen. Er blickte zurück, in der Hoffnung, der Zauberer würde ihm beistehen, doch dieser ritt eiligst davon. Offenbar war er, als die Musik ertönte, zu einem Entschluß gekommen. Elric jagte hinter Yishana her und rief ihr beschwörend zu, doch umzukehren. Als er mit seinem Pferd die Hügelkuppe erreicht hatte, sah er, daß Yishana, tief über den Hals ihres Pferdes gebeugt, auf die Zitadelle zuritt. »Yishana, du gehst ins Verderben!« Jetzt hatte sie die äußere Begrenzung der Zitadelle erreicht, und die Hufe ihres Rosses schienen schimmernde Farbwellen zu schlagen, als sie den von Chaos aufgewühlten Boden um die Zitadelle berührten. Obwohl Elric wußte, daß es zu spät war, sie zurückzuhalten, fuhr er fort sie zu verfolgen, in der Hoffnung, sie noch zu erreichen, ehe sie die Zitadelle selbst betrat. Doch als er den Regenbogenwirbel durchritt, sah er ein Dutzend Yishanas durch ein Dutzend von Toren die Zitadelle betreten. Seltsame Brechungen des Lichtes – schufen dieses Trugbild und machten es unmöglich zu unterscheiden, welches die echte Yishana war. Mit Yishanas Verschwinden verstummte die Musik, und Elric vermeinte jetzt, ein leises, flüsterndes Gelächter zu hören. Sein Pferd wurde immer widerspenstiger und unbezähmbarer. Er traute sich nicht mehr zu, es in der Gewalt zu halten. Elric stieg ab – seine Beine tauchten in strahlenden Nebel – und ließ
das Pferd laufen. Mit ängstlichem Schnauben galoppierte es davon. Elrics Linke griff nach dem Heft seines Schwertes, doch er zögerte, es zu ziehen. Einmal gezogen, würde es Seelen fordern, bevor es sich wieder in die Scheide zurückstecken ließ. Es war aber seine einzige Waffe. Elric nahm die Hand weg, und die Klinge an seiner Seite schien wütend zu erzittern. »Noch nicht, Sturmbringer. Da drinnen könnten Kräfte sein – stärker als du!« Er begann, die nur schwach Widerstand bietenden Lichtwirbel zu durchwaten. Er wurde von den irisierenden Farben rings um ihn fast geblendet, die bald dunkelblau, silbern und rot schimmerten, dann wieder golden, hellgrün und bernsteinfarben. Er verspürte ein krankhaftes Schwinden jeder Orientierungsmöglichkeit – Entfernung, Tiefe und Breite hatten jede Bedeutung verloren. Elric erkannte wieder, was er nur in astraler Form einst erlebt hatte – die seltsame Zeit- und Raumlosigkeit, die ein Reich der Höheren Welten kennzeichnet. Er trieb dahin und stieß seinen Körper in die Richtung, in der er Yishana vermutete; denn mittlerweile hatte er das Tor und die wunderlichen Trugbilder aus den Augen verloren. Ihm war klar, daß er Sturmbringer ziehen mußte, wenn er hier nicht bis zum Verhungern umhertreiben wollte. Denn nur die Runenklinge, von Chaos selbst geschmiedet, konnte den Einwirkungen von Chaos widerstehen. Als er diesmal nach dem Schwertgriff faßte, spürte er, wie ein Schock seinen Arm entlanglief und seinen Körper mit Lebenskraft durchdrang. Das Schwert fuhr wie von selbst aus der Scheide. Aus der riesigen, mit geheimnisvollen alten Runenzeichen bedeckten Klinge strömten schwarze Strahlen, trafen auf die sich ständig ändernden Farben von Chaos und zerstreuten sie.
Da stieß Elric den uralten Kampfruf seines Volkes aus und drang weiter gegen die Zitadelle vor, während er auf die nicht erfaßbaren Bilder einhieb, die überall umherschwirrten. Das Tor lag vor ihm, und Elric erkannte es jetzt als das wirkliche Tor, denn sein Schwert hatte ihm gezeigt, welche der Tore bloße Trugbilder gewesen waren. Es stand offen, als Elric das Portal erreichte. Er blieb einen Augenblick stehen und bewegte die Lippen, da ihm eine Beschwörungsformel einfiel, die er vielleicht später würde brauchen können. Arioch, Herr von Chaos, Schutzgott und Dämon von Elrics Vorvätern, war eine säumige Macht und obendrein launenhaft – Elric konnte mit dem Beistand Ariochs hier nicht mit Sicherheit rechnen, es sei denn… Mit langsamen, anmutigen Sätzen sprang ein goldenes Tier, mit Augen aus Rubinfeuer, die Treppe herunter, die zum Portal führte. Obwohl die Augen schimmerten, schienen sie blind zu sein. Die riesige hundeähnliche Schnauze war geschlossen. Offenbar strebte es auf Elric zu, denn als es näherkam, klaffte plötzlich das Maul auf und zeigte Korallenfänge. Lautlos hielt es an, auch jetzt seine blinden Augen nicht auf Elric gerichtet. Und dann setzte es zum Sprung an. Elric taumelte zurück und hob abwehrend sein Schwert. Das Gewicht des Tieres warf ihn nieder, und er spürte, wie ihn dessen Leib bedeckte. Das Tier war kalt, so furchtbar kalt – und es machte keinen Versuch, ihm etwas anzutun. Es blieb einfach auf ihm liegen und ließ seine Kälte in Elrics Körper dringen. Elric wurde von Schauern erfaßt, während er den frostigen Leib des Tieres wegschieben wollte. In seiner Hand ächzte und murmelte Sturmbringer, und dann durchstieß er den Tierleib an einer einzigen Stelle, und ein schrecklich kalter Kraftstrom drang in den Körper des Albino ein. Gestärkt durch die Lebenskraft des Tieres versuchte er, es wegzustemmen. Das
Tier lastete weiter auf ihm, und jetzt entströmte dem Tierleib ein feines, kaum hörbares Geräusch. Elric vermutete, daß die Wunde, die Sturmbringer beigebracht hatte, das Tier plagte. Verzweifelt, weil er vor Kälte bereits zitterte und stöhnte, stieß Elric mit dem Schwert abermals zu. Wieder durchflutete ihn Kälte, und wieder stemmte er mit aller Kraft gegen den Tierleib. Diesmal konnte er das Tier von sich wälzen. Es kroch auf das Portal zu. Elric sprang auf, hob Sturmbringer und zielte mit dem Schwert auf den Schädel des goldenen Wesens. Der Schädel zersplitterte wie Eis. Elric lief in einen Gang hinein. Drinnen angelangt, hörte er Gebrüll und Schreie, die widerhallten und immer lauter wurden. Es war, als würde die Stimme, die dem kalten Tier draußen gefehlt hatte, hier seine Todesqual herausschreien. Der Gang führte jetzt aufwärts und ging in eine spiralenförmige Rampe über, auf der Elric hinauflief. Beim Hinabsehen schauderte er, denn er sah in einen unendlichen Abgrund heimtückischer, gefährlicher Farben, die auf solche Weise umherschwebten, daß er seinen Blick kaum abwenden konnte. Er spürte sogar, wie sein Körper die Rampe verlassen und sich in den Abgrund stürzen wollte. Er griff jedoch fester nach seinem Schwert und zwang sich, weiter emporzusteigen. Als er in die Höhe blickte, bot sich ihm derselbe Anblick wie beim Herabschauen. Nur die Rampe bildete ein ruhendes Element. Sie begann die Erscheinungsform eines feingeschliffenen Juwels anzunehmen, durch das hindurch er den Abgrund sehen konnte, der sich wiederum in ihm spiegelte. Grüne, blaue und gelbe Töne herrschten vor, doch sah er auch Spuren von Dunkelrot, Schwarz und Orange, aber auch andere Farben, die in einem gewöhnlichen irdischen Spektrum nicht enthalten sind.
Elric wußte, daß er sich in einer Provinz der Höheren Welt befand, und vermutete, daß in Kürze neue Gefahren vor ihm liegen würden. Es schien ihn aber keine Gefahr zu erwarten, als er schließlich das Ende der Rampe erreicht hatte und eine Brücke ähnlicher Beschaffenheit betrat, die über den irisierenden Abgrund zu einem Bogengang hinführte, der in einem beständigen blauen Licht schimmerte. Vorsichtig schritt er über die Brücke und betrat ebenso vorsichtig den Bogengang. Auch hier war alles blau getönt, sogar er selbst schimmerte blau. Und als er weiterging, wurde das Blau immer intensiver. Da fing Sturmbringer zu summen an, und Elric, vom Schwert oder einem sechsten Sinn gewarnt, drehte sich blitzschnell nach rechts. Ein anderer Bogengang war aufgetaucht, aus dem ein Licht schien, das ebenso tief rot war, wie das andere blau. Wo die zwei Farben sich trafen, entstand ein Purpur von fantastischer Tönung, und Elric empfand einen ähnlichen hypnotischen Zwang, wie beim Besteigen der Rampe. Wieder war sein Wille stärker, und er zwang sich, den roten Torbogen zu betreten. Sofort erschien zu seiner Linken ein neuer Torbogen, der einen grünen Strahl aussandte, der sich wiederum mit dem roten vermischte. Ein nächster Bogen strahlte Gelb aus, ein anderer Lila, bis Elric in einem Durcheinander von Strahlen gefangen schien. Er hieb mit Sturmbringer auf sie ein, und die schwarze Strahlung des Schwertes zerschnitt die bunten Strahlungen zu Lichtbahnen, die sich sogleich wieder zu ihrem früheren Zustand formierten. Elric schritt weiter voran. Durch das Farbengewirr wurden jetzt Umrisse sichtbar, und Elric glaubte, einen Menschen vor sich zu haben. Ein Mensch war es der Gestalt, jedoch nicht der Größe nach. Und doch, als das Wesen näherkam, war es kein Riese – es war
kleiner als Elric. Trotzdem hatte man den Eindruck riesiger Ausmaße. Es kam auf Elric zu und ging durch ihn hindurch. Dabei war es nicht so, daß der Mensch nicht greifbar gewesen wäre. Elric spürte das Wesen. Die Masse des Wesens schien von unglaublicher Dichte. Es drehte sich, streckte die Riesenhände aus und zog eine spöttische Grimasse. Elric hieb mit Sturmbringer auf die Gestalt ein und staunte, als das Runenschwert auf Widerstand stieß, ohne an der Gestalt eine Spur zu hinterlassen. Als das Wesen jedoch nach Elric griff, gingen dessen Hände durch Elric hindurch, und Elric sprang mit erleichtertem Lächeln zurück. Dann sah er mit einigem Entsetzen, daß auch das Licht durch ihn hindurchschien. Er hatte also recht behalten – er selbst war der Geist! Wieder streckte das Wesen die Hand nach ihm aus, wollte ihn greifen, konnte ihn aber nicht fassen. Elric erkannte, daß ihm das Ungeheuer keinen körperlichen Schaden zufügen konnte, wußte aber gleichzeitig, daß sein Geist in Gefahr war, dauernden Schaden davonzutragen. Er wandte sich um und floh. Plötzlich kam er in eine Halle, deren Wände aus denselben verschwimmenden und sich dauernd ändernden Farben bestanden. Mitten in der Halle jedoch saß eine kleine Gestalt auf einem Stuhl. Sie hielt ein paar winzige Lebewesen in der Hand, die auf ihrer Handfläche auf- und abliefen. Die Gestalt sah zu Elric auf und lächelte fröhlich. »Willkommen, König von Melnibone! Wie ist es dem letzten Herrscher des liebsten meiner Erdengeschlechter ergangen?« Die Gestalt war mit einem schimmernden Narrengewand bekleidet. Auf dem Kopf trug sie eine hohe gezackte Krone – Zerrbild und Verspottung der Kronen der Mächtigen. Das Gesicht war eckig, der Mund breit.
»Ich grüße Euch, Lord Balo!« Elric verbeugte sich spöttisch. »In Eurem Willkomm liegt seltsame Gastfreundschaft.« »Hahaha – hat also das alles Euch nicht amüsiert? Die Menschen sind nicht so einfach zu unterhalten wie die Götter – kaum glaublich, nicht?« »Die Vergnügungen der Menschen sind selten so erlesen wie die der Götter! Wo ist Königin Yishana?« »Laß mir meine Vergnügungen, Sterblicher! Da ist sie, glaube ich.« Balo zupfte an einem der winzigen Wesen auf seiner Handfläche. Elric trat vor und sah, daß es Yishana war, mit vielen ihrer verschwundenen Krieger. Balo sah augenzwinkernd zu ihm auf. »In dieser Größe sind sie wesentlich einfacher zu behandeln.« »Das bezweifle ich nicht, obzwar ich mich frage, ob wir wirklich die Größeren sind als sie, die kleiner sind…« »Sterblicher, du bist klug. Kannst du dir vorstellen, wie das alles möglich ist?« »Euer Tier da draußen, Eure Abgründe, Farben und Bogengänge – sie verzerren etwas. Aber was?« »Die Materie, König Elric. Aber solche Begriffe würdet Ihr nicht verstehen. Sogar die Herren von Melnibone, die gottähnlichsten und klügsten der Sterblichen, lernten nur, wie man die Elemente mit Beschwörung und Zauberei handhabt. Doch sie haben nie begriffen, was sie eigentlich damit handhaben. In dieser Hinsicht sind die Herren der Höheren Welten Euch überlegen, was immer für andere Unterschiede noch bestehen mögen.« »Aber ich habe überlebt und habe dazu keiner Zauberei bedurft. Ich habe überlebt, indem ich meinen Verstand fest in der Hand hielt!« »Das hat Euch geholfen – gewiß. Ihr vergeßt jedoch Euren größten Vorteil – Eure verheerende Klinge. Ihr nehmt sie bei kleinen Problemen zu Hilfe, ohne Euch klarzumachen, daß Ihr
damit gleichsam schwere Kriegsschiffe zum Fang einer Sprotte einsetzt. Dieses Schwert bedeutet Macht in jedem Reich, König Elric!« »Ja, das mag sein. Es interessiert mich aber nicht. Und warum seid Ihr hier, Lord Balo?« Balo lachte. Sein Gelächter war wohlklingend und musikalisch. »Ach, ich bin in Ungnade gefallen. Ich hatte Streit mit meinen Herren, die an einem meiner Scherze Anstoß nahmen, der ihre Unwichtigkeit und ihrem Egoismus, ihre Bestimmung und ihren Stolz aufs Korn nahmen. Für sie ist jeder Hinweis auf ihre Schwächen ein geschmackloser Scherz. Und ich hatte eben einen schlechten Scherz gemacht. Ich floh aus den Höheren Weiten auf die Erde, wo die Herren von Ordnung oder Chaos sich kaum einmischen können, es sei denn, sie werden um Beistand angerufen. Elric, Euch wird meine Absicht sicher gefallen, wie sie jedem Melniboneer gefallen würde. Ich habe die Absicht, mein eigenes Reich auf der Erde zu errichten – das Reich der Paradoxa: Ein wenig vom Gesetz, ein wenig vom Chaos – ein Reich der Gegensätze, der Seltsamkeiten und Scherze.« »Ich glaube, eine Welt, wie Ihr sie beschreibt, Lord Balo, haben wir bereits. Wir brauchen Euch nicht, um eine solche zu schaffen.« »Ernste Ironie, König Elric, für einen unbekümmerten Mann aus Melnibone.« »Ja, mag sein. Bei solchen Gelegenheiten wie diesen bin ich unbeholfen. Werdet Ihr Yishana und mich freilassen?« »Aber Ihr und ich, wir sind doch Riesen – ich habe Euch den Rang und die Erscheinung eines Gottes verliehen. Wir beide könnten bei meinem Unternehmen Partner sein!« »Unglücklicherweise, Lord Balo, besitze ich nicht Euren Sinn für Humor und bin für eine so erhabene Rolle nicht geeignet. Außerdem – «, plötzlich mußte Elric lachen – »habe ich das
sichere Gefühl, daß die Herren der Höheren Welten Euren Ehrgeiz nicht so einfach hinnehmen werden, da er doch mit dem ihren so stark in Konflikt zu stehen scheint.« Balo lachte und sagte nichts. Auch Elric lächelte, doch war dies nur ein Versuch, seine sich überstürzenden Gedanken zu verbergen. »Was wollt Ihr tun, wenn ich ablehne?« »Aber Elric, Ihr werdet nicht ablehnen! Ich könnte mir viele, spitzfindige Possen ausdenken, die ich Euch spielen könnte…« »Ach so? Und das schwarze Schwert?« »Ach je…« »Balo, in Eurem Überschwang und Eurer Besessenheit habt Ihr nicht alles bedacht. Ihr hättet Euch mehr Mühe geben sollen, mich zu bezwingen, ehe ich hierherkam.« Jetzt blitzten Elrics Augen angriffslustig, und er hob das Schwert mit dem Ausruf: »Arioch! Meister! Ich rufe dich an, Herr des Chaos!« Balo fuhr auf. »Haltet ein, König Elric!« »Arioch, hier ist eine Seele, die Euch gebührt!« »Still, sage ich!« »Arioch! So höre mich!« Elrics Stimme klang laut und verzweifelt. Balo ließ seine menschlichen Spielsachen fallen, erhob sich eilig und hüpfte auf Elric zu. »Deine Anrufung findet keine Erhörung!« Er lachte und wollte Elric fassen, doch Sturmbringer ächzte und zitterte in Elrics Hand, und Balo zog seine Hand weg. Seine Miene wurde ernst und nachdenklich. »Arioch der Sieben Finsternisse – Euer Diener ruft Euch!« Die Flammenmauern bebten und begannen zu schwinden. Balo rollte die entsetzten Augen. »Oh, Lord Arioch, kommt und fordert Euren abtrünnigen Balo!«
»Das könnt Ihr nicht!« Balo hetzte durch den Raum zu einer Stelle, wo ein Teil der Flamme völlig verloschen war und darunter Dunkelheit enthüllt hatte. »Traurig für Euch, kleiner Hofnarr, daß er es kann…« Die Stimme war spöttisch und doch wohlklingend. Aus der Dunkelheit trat eine hohe Gestalt. Es war unter den Herren der Höheren Welten Brauch, sich bei Erdenbesuchen in menschlicher Verkleidung zu zeigen. Die große Schönheit des Ankömmlings, die ein Zusammenklang von Mitleid, Stolz, Grausamkeit und Kummer war, zeigte sogleich, daß er nicht irdischer Herkunft sein konnte. Er war in ein Wams aus irisierendem Rot gekleidet, dazu Beinkleider von sich dauernd ändernder Tönung, an der Hüfte ein goldenes Schwert. Er hatte große schrägstehende Augen, langes Haar, das golden war wie das Schwert. Die Lippen waren voll und das Kinn markant, ebenso die Ohren. »Arioch!« Balo geriet rücklings ins Taumeln, als der Herr des Chaos sich näherte. »Das war Euer Fehler, Balo«, sagte Elric, der jetzt hinter dem Hofnarren stand. »Habt Ihr denn nicht gewußt, daß nur die Könige von Melnibone Arioch anrufen und ihn ins irdische Reich bringen dürfen? Das war ihr uraltes Vorrecht.« »Und das haben viele mißbraucht«, sagte Arioch und lächelte unmerklich, als Balo sich vor ihm niederwarf. »Der Dienst, den Ihr uns erwiesen habt, Elric, macht aber vergangenen Mißbrauch wieder wett.« Auch Elric fühlte sich durch die unglaublich kraftvolle Gegenwart des Herren von Chaos eingeschüchtert. Daneben war er auch sehr erleichtert, denn er hatte nicht sicher sein können, daß Arioch sich in eigener Person anrufen ließ. Mehr als einmal hatte er Ariochs Beistand angerufen, und manchmal war er erhört worden – doch war es das erste Mal, daß der Herr der Höheren Welten geruht hatte, persönlich zu erscheinen.
Jetzt streckte Arioch einen Arm nach Balo aus und hob den Hofnarren am Kragen hoch, so daß dieser in der Luft zappelte und kämpfte und das Gesicht vor Angst und Verblüffung verzog. Arioch faßte nach Balos Kopf und drückte ihn zusammen. Elric sah verwundert, daß der Kopf zu schrumpfen begann. Arioch nahm Balos Arme und beugte sie, faltete den ganzen Balo zusammen und knetete ihn mit seinen schlanken überirdischen Händen, bis aus ihm ein kleiner Ball geworden war. Sodann steckte Arioch den Ball in den Mund und verschluckte ihn. »Ich habe ihn nicht verspeist, Elric«, sagte er mit einem feinen Lächeln. »Es ist bloß die einfachste Art, ihn in jene Gefilde zurückzubringen, aus denen er gekommen ist. Er hat die Grenze des Erlaubten überschritten, und er wird seine Strafe finden. All das« – seine Geste umschrieb die ganze Zitadelle – »ist von Unglück und widerspricht den Plänen, die wir im Reiche Chaos mit der Erde haben – Pläne, die Euch, unseren Diener, miteinbeziehen und Euch mächtig machen werden.« Elric verneigte sich vor seinem Herrn. »Ich fühle mich geehrt, Lord Arioch, obgleich ich Eure Gunst nicht suche.« Ariochs silberne Stimme hatte an Klang eingebüßt, und sein Gesicht schien sich zu umwölken: »Elric, Ihr seid verpflichtet, Chaos zu dienen! Es kommt bald die Zeit, da Ordnung und Chaos um das Reich der Erde kämpfen werden – und Chaos soll siegen! Die Erde wird unserem Reich einverleibt, und Ihr werdet in die Hierarchie von Chaos aufgenommen und unsterblich werden, gleich uns!« »Unsterblichkeit bietet mir keinen Anreiz, mein Herr und Meister!« »Aber Elric, sind auch die Menschen von Melnibone zu Halbaffen geworden wie die anderen, die mit ihrer
schwächlichen Zivilisation die Erde beherrschen? Seid Ihr denn nicht besser als diese Emporkömmlinge in den Jungen Königreichen? Bedenkt, was wir Euch bieten!« »Das werde ich, wenn die Zeit, von der Ihr sprecht, gekommen ist.« Elric hielt den Kopf noch immer gesenkt. »Das sollst du wirklich tun!« Arioch hob die Arme. »Und jetzt wird dieses Spielzeug Balos in sein angestammtes Reich überführt und der Schaden, den er angerichtet hat, wiedergutgemacht, damit kein Hinweis an unsere Gegner gelangt, ehe die rechte Zeit gekommen ist.« Ariochs Stimme schwoll an wie das Klingen einer Million eherner Glocken, und Elric steckte sein Schwert in die Scheide und hielt sich die Ohren zu, um den Schmerz zu mildern. Dann spürte Elric, daß sein Körper in Stücke zerfetzt zu werden schien. Er schwoll an und wurde gestreckt, bis er wie in der Luft treibender Rauch wurde. Und dann geschah es – diesmal jedoch schneller –, daß der Rauch zusammengezogen und immer dichter wurde. Jetzt war ihm, als würde er schrumpfen, dabei umgeben von rotierenden Farben, Blitzen und unbeschreiblichen Geräuschen. Dann trat totale Finsternis ein, und er schloß die Augen vor den Bildern, die sich in der Schwärze zu spiegeln schienen. Als er die Augen öffnete, stand er im Tal, und die singende Zitadelle war verschwunden. Nur Yishana und ein paar verwundert dreinblickende Soldaten standen da. Yishana lief auf ihn zu. »Elric, warst du es, der uns gerettet hat?« »Ich kann mir nur einen Teil der Rettung zugute halten«, sagte er und musterte die Männer. »Wo sind die übrigen, die Dorfbewohner, die schon früher verführt wurden?« »Wenn die Geschmäcker Balos denen seiner Herren gleichen, dann fürchte ich, daß sie jetzt die Ehre haben, Teil eines Halbgottes zu sein. Die Herren von Chaos sind natürlich keine
Fleischfresser, da sie aus den höheren Welten stammen, doch an den Menschen finden sie Geschmack.« Yishana schlug mit den Armen um sich, als würde sie frieren. »Er war so riesengroß – ich kann es nicht glauben, daß seine Zitadelle seine Körpermassen fassen konnte.« »Die Zitadelle war mehr als nur eine Wohnung, das war klar. Irgendwie wechselte sie Größe und Form – und andere Dinge, die ich nicht beschreiben kann. Arioch aus dem Reich Chaos hat die Zitadelle samt Balo dorthin zurücktransportiert, wohin sie gehören.« »Arioch! Das ist doch einer der Größten Sechs! Wie ist er denn zur Erde gekommen?« »Dank eines alten Paktes mit meinen fernen Ahnen. Indem sie ihn anrufen, gestatten sie ihm, kurze Zeit in unserem Reich zu verbringen, und er zeigt sich mit gewissen Vergünstigungen erkenntlich. Und das ist eingetroffen.« »Elric, komm!« Sie nahm seinen Arm. »Fort aus diesem Tal!« Elric war von den Anstrengungen, Arioch herbeizurufen und dem, was er vor und während dieser Episode erfahren mußte, so geschwächt, daß er kaum gehen konnte. Yishana mußte ihn stützen, und sie kamen nur langsam voran. Die verwirrten Soldaten folgten ihnen ins nächste Dorf, wo sie Rast machen und Pferde für den Ritt nach Dhakos bekommen konnten. Als sie an den Brandruinen von Thokora vorbeiritten, wies Yishana plötzlich zum Himmel. »Was ist das?« Eine Riesengestalt kam in ihre Richtung geflogen. Sie hatte das Aussehen eines Falters, eines Falters allerdings, dessen Flügel so groß waren, daß sie die Sonne verdeckten. »Könnte das ein Wesen aus der Hinterlassenschaft Balos sein?« fragte Yishana.
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte Elric. »Es sieht eher wie ein Ungeheuer aus, das ein menschlicher Zauberer geschaffen hat.« »Theleb K’aarna!« »Er hat sich selbst übertroffen«, erwiderte Elric. »Elric, das ist seine Rache an uns.« »Das scheint mir einleuchtend. Yishana, ich bin geschwächt, und Sturmbringer braucht Seelen, wenn er meine Kräfte anreichern soll.« Elric sah die Krieger hinter sich, die offenen Mundes das Falterwesen bestaunten, abschätzend an. Jetzt konnte man bereits sehen, daß es einen Menschenleib hatte, der mit Härchen oder Federn in Pfauenfarben bedeckt war. Als das Wesen sich herniedersenkte, ertönte ein Pfeifton. Zwischen den Riesenschwingen von fünfzig Fuß Spannweite wirkten Kopf und Rumpf, die nur sieben Fuß maßen, winzig. Aus dem Kopf wuchsen zwei gekrümmte Hörner, die Arme liefen in langen Klauen aus. »Wir sind verloren, Elric«, rief Yishana. Sie sah, daß ihre Truppen die Flucht ergriffen, und rief den Soldaten nach, sie sollten ausharren. Elric blieb tatenlos stehen. Allein auf sich angewiesen, konnte er es mit dem Falterwesen nicht aufnehmen. »Yishana, für dich ist es am besten, wenn du mit deinen Soldaten gehst«, murmelte er. »Ich denke, das Wesen wird sich mit mir zufriedengeben.« »Nein!« Elric ließ Yishana stehen und ging dem Wesen entgegen, das inzwischen gelandet war und über den Boden auf ihn zugekrochen kam. Elric zog den stummen Sturmbringer, der schwer in seiner Hand lag. Er spürte zwar, daß ein wenig Kraft in ihn einströmte, doch das reichte bei weitem nicht aus. Eine Hoffnung blieb ihm – vielleicht glückte es ihm, ein
lebenswichtiges Organ des Wesens zu treffen und dessen Lebenskraft aufzusaugen. Die Stimme des Wesens schrillte ihm entgegen, und das sonderbare, wahnsinnkündende Gesicht verzerrte sich. Elric erkannte, daß es kein echtes übernatürliches Wesen der Niederen Welten war, sondern ein vordem menschliches Wesen, das Theleb K’aarnas Zauberkünste verändert hatten. Also war es sterblich, und Elric hätte nur gegen physische Kraft anzukämpfen brauchen. In besserer Verfassung wäre ihm das ein Leichtes gewesen, aber so… Die Schwingen peitschten die Luft, als die Klauen nach Elric griffen. Er nahm Sturmbringer in beide Hände und schwang die Runenklinge gegen den Nacken des Wesens. Sofort wurden die Schwingen zurückgeklappt, um damit den Nacken zu schützen, und Sturmbringer blieb im zähen Gewebe stecken. Eine Klaue riß Elrics Arm bis zum Knochen auf. Er schrie vor Schmerz und zerrte an dem Schwert, das im Flügel steckengeblieben war. Elric trachtete für einen zweiten Hieb das nötige Gleichgewicht zu finden, doch das Ungeheuer packte seinen verwundeten Arm und zog ihn zu sich heran, zu dem leicht geneigten Kopf – und den Hörnern, die sich darauf krümmten. Mit Kräften, die aus seiner Todesangst erwuchsen, kämpfte Elric und führte unermüdliche Hiebe gegen die Arme des Falterwesens. Da hörte er plötzlich hinter sich einen Schrei und sah aus den Augenwinkeln, daß eine Gestalt, in jeder Hand ein Schwert, auf das Wesen zusprang. Die Schwerter trafen die Klauen, und das Wesen wandte sich aufkreischend gegen den Retter Elrics. Es war Moonglum. Elric ließ sich fallen und rang nach Atem, während er zusah, wie sein kleiner rothaariger Freund es mit dem Ungeheuer aufnahm. Doch Moonglum würde ohne Hilfe nicht lange durchhalten.
Elric zermarterte sich das Hirn nach einem wirkungsvollen Zauberspruch. Doch er war zu schwach, um übernatürliche Hilfe zu erflehen, selbst wenn ihm ein passender Spruch eingefallen wäre. Und dann kam ihm die Erleuchtung! Yishana! Sie war lange nicht so erschöpft wie er. Doch würde sie es schaffen? Die Luft schien unter den Flügelschlägen des Wesens zu stöhnen. Moonglum schaffte es nur mit Aufbietung aller Kräfte, sich das Ungeheuer vom Leibe zu halten. Die zwei Schwerter sprühten Funken, als Moonglum einen neuerlichen Angriff abwehrte. »Yishana!« rief der Albino mit rauher Stimme. Sie eilte an seine Seite und faßte nach seiner Hand. »Wir könnten fliehen und uns vielleicht vor dem Ungeheuer verstecken«, sagte sie. »Nein. Ich muß Moonglum helfen. Hör gut zu – du weißt, daß unsere Lage verzweifelt ist. Das mußt du dir immer vor Augen halten, während du diese Beschwörung mit mir zusammen sprichst. Zusammen können wir es vielleicht schaffen. In diesem Gebiet gibt es doch sicher viele Eidechsenarten?« »Ja, sehr viele.« »Dann also sprich – und denke daran, daß diese Kreatur Theleb K’aarnas uns vernichten wird, wenn die Beschwörung mißlingt.«
In jenen Zwischenwelten, in denen die Herren aller nichtmenschlichen Lebewesen lebten, führte sich ein Wesen, das hörte, wie sein Namen gerufen wurde. Das Wesen hieß Haashaastaak. Es war mit Schuppen bedeckt und kalt, ohne richtigen Verstand, wie ihn Menschen und Götter besitzen, dafür aber mit einem Bewußtsein ausgestattet, das ihm
ebensogut, wenn nicht gar besser diente. Es war auf dieser Ebene der Bruder solcher Wesen wie Meerclar, Herr der Katzen, Roofdrak, Herr der Hunde, Nuruhah, Herr der Rinder, und vieler anderer. Es war Haashaastaak, Herr der Eidechsen. Wörter im eigentlichen Sinne verstand er nicht. Er reagierte vielmehr auf einen gewissen Rhythmus, ohne zu wissen warum. Die Rhythmen wurden wiederholt, doch schienen sie zu schwach, um beachtet zu werden. Das Wesen rührte sich und gähnte, doch es blieb untätig… Haashaastaak, Herr der Echsen, Deine Kinder waren Väter der Menschen. Haashaastaak, Fürst der Reptile, Steh einem Enkel bei! Haashaastaak, Vater der Schuppen, Kaltblütiger Lebensspender… Es war eine bizarre Szene. Verzweifelt sangen Elric und Yishana die Beschwörung, während Moonglum kämpfte und seine Kräfte abnahmen. Haashaastaak erzitterte. Seine Neugier war geweckt. Die Rhythmen waren zwar nicht lauter geworden, doch sie schienen ihm drängender. Er würde sich also an die Seite seiner Schutzbefohlenen begeben. Er wußte, wenn er einmal auf die Rhythmen reagiert hatte, mußte er ihnen gehorchen, ganz gleich, von welcher Quelle sie ausgingen. Natürlich wußte er nicht, daß diese Entscheidung ihm vor Urzeiten eingepflanzt worden war – in jener Zeit vor Erschaffung der Erde, als die Herren von Ordnung und Chaos, damals noch Bewohner eines einzigen Reiches und unter anderem Namen bekannt – die Ausformung aller Dinge überwachten und Art und Weise festlegten, wie alles ablaufen sollte. Dabei waren sie dem großen Erlaß der Stimme des Kosmischen Gleichgewichts gefolgt – einer Stimme, die seither niemals wieder gesprochen hatte.
Also begab sich Haashaastaak ein wenig träge auf die Erde. Heiser sangen Elric und Yishana die Beschwörung, als Haashaastaak plötzlich erschien. Er hatte die Gestalt einer Riesenechse angenommen. Die Augen waren vielfarbige, reichfacettierte Edelsteine, die Schuppen aus Gold, Silber und anderen edlen Metallen. Die Umrisse waren leicht verschwommen, als hätte er die Bedingungen seiner üblichen Umgebung mitgebracht. Yishana staunte offenen Mundes, und Elric stieß einen tiefen Seufzer aus. Als Kind hatte er die Sprache aller Herren des Tierreiches erlernt und mußte sich jetzt die einfache Sprache des Echsenherrn ins Gedächtnis rufen. Die Not befeuerte sein Gedächtnis, und die Worte fielen ihm ganz plötzlich ein. »Haashaastaak!« rief er und wies auf das Falterwesen. »Mokik ankkuh!« Der Eidechsenherrscher wandte seine Juwelenaugen dem Falter zu. Plötzlich ließ er seine lange Zunge vorschnellen und schlang sie um das Ungeheuer. Dieses schrie vor Angst, als es in den Riesenrachen des Eidechsenherrschers gezerrt wurde. Arme und Beine zappelten, als das Maul sich um das Wesen schloß. Ein paar Schluckbewegungen, und Haashaastaak hatte Theleb K’aarnas Meisterwerk verschlungen. Dann wackelte er mit dem Kopf und verschwand wieder. In Elrics verletztem Arm bohrte der Schmerz. Moonglum schwankte mit erleichtertem Grinsen auf ihn zu. »Ich bin Euch in einem gewissen Abstand gefolgt, wie Ihr befohlen habt«, sagte er, »da Ihr von Theleb K’aarna Verrat befürchten mußtet. Ich habe gesehen, daß der Zauberer diesen Weg eingeschlagen hat und bin ihm in eine Höhle jenseits der Hügel gefolgt. Doch als der teure Verstorbene«, er lachte zittrig, »aus der Höhle auftauchte, entschied ich mich, diesen
zu verfolgen, denn ich hatte das Gefühl, er würde in Eure Richtung fliegen.« »Wie gut, daß du so klug gehandelt hast«, sagte Elric. »Das ist in Wahrheit Euer Verdienst«, erwiderte Moonglum. »Wenn Ihr nicht Verrat von seiten des Zauberers vermutet hättet, wäre ich vielleicht gar nicht im richtigen Augenblick zur Stelle gewesen.« Moonglum ließ sich ganz plötzlich ins Gras sinken, lehnte sich lächelnd zurück und verlor das Bewußtsein. Elric fühlte sich sehr benommen. »Ich glaube nicht, daß wir jetzt von deinem Zauberer noch etwas zu befürchten haben, Yishana. Laß uns rasten und uns laben. Vielleicht kommen deine feigen Soldaten inzwischen zurück, und wir können sie in ein Dorf schicken, damit sie für uns Pferde besorgen.« Sie legten sich ins Gras und schliefen engumschlungen ein.
Elric war erstaunt, in einem Bett, einem weichen Bett, zu erwachen. Er schlug die Augen auf und sah, daß Yishana und Moonglum sich über ihn beugten. »Wie lange liege ich hier?« »Über zwei Tage. Als die Pferde kämen, bist du nicht aufgewacht, also ließ ich von den Soldaten eine Tragbahre machen, auf der sie dich nach Dhakos getragen haben. Du befindest dich hier in meinem Palast.« Vorsichtig bewegte Elric seinen steifen, verbundenen Arm. Er schmerzte immer noch. »Sind meine Habseligkeiten noch in der Herberge?« »Wahrscheinlich schon, wenn sie nicht gestohlen wurden. Warum?« »Darunter ist nämlich ein Beutel mit Kräutern, die den Arm rasch heilen lassen und mir Kraft verleihen werden.«
»Ich werde nachsehen, ob noch alles vorhanden ist«, sagte Moonglum und ging hinaus. Yishana strich über Elrics milchweißes Haar. »Ich habe dir viel zu verdanken, du Wolf«, sagte sie. »Du hast mein Königreich gerettet – vielleicht sogar alle Jungen Königreiche. In meinen Augen ist damit die Schuld am Tod meines Bruders getilgt.« »Oh, vielen Dank, Euer Majestät«, sagte Elric spöttisch. Sie lachte. »Du bist immer noch ein Melniboneer.« »Ja, immer noch.« »Eine seltsame Mischung jedenfalls. Empfindsam und grausam, voller Ironie und doch voller Treue deinem Freund Moonglum gegenüber. Ich werde mich freuen, Euch näher kennenzulernen, mein Herr.« »Ich bin nicht sicher, ob du dazu viel Gelegenheit haben wirst.« Sie warf ihm einen wilden Blick zu. »Warum?« »Deine Aufzählung meiner Charaktereigenschaften war unvollständig, Yishana – du hättest hinzufügen sollen gleichgültig der Welt gegenüber und doch rachsüchtig! Ich möchte mich an deinem Lieblingszauberer rächen.« »Er hat keine Macht mehr – das hast du selbst gesagt.« »Wie du ganz richtig gemerkt hast, bin ich noch immer ein Melniboneer! Mein stolzes Blut ruft nach Rache an einem Emporkömmling!« »Denk nicht mehr an Theleb K’aarna. Ich werde ihn von meinen Weißen Leoparden jagen lassen. Gegen diese Wilden vermag auch seine Zauberkunst nichts auszurichten.« »Ihn vergessen? Nein!« »Elric, Elric – ich möchte dir mein Königreich geben und dich zum Herrscher von Jhakor ausrufen, wenn du mir gestattest, deine Gemahlin zu werden.« Er streichelte mit der heilen Hand ihren Arm.
»Königin, Ihr denkt unrealistisch! Wenn du diesen Schritt tust, gibt es offenen Aufruhr im ganzen Land. Für dein Volk bin ich noch immer der Verräter von Imrryr.« »Jetzt nicht mehr – jetzt bist du der Held von Jhakor.« »Wieso das? Sie haben von der Gefahr nichts geahnt und werden daher keine Dankbarkeit fühlen. Am besten wäre es, ich würde meine Rechnung mit dem Zauberer begleichen und meiner Wege ziehen. Inzwischen hat sicher das Gerücht die Runde gemacht, daß du den Mörder deines Bruders ins Bett genommen hast. Deine Beliebtheit bei den Untertanen muß auf einem Tiefpunkt angelangt sein.« »Das kümmert mich nicht.« »Es wird dich kümmern, wenn deine Edlen das Volk zum Aufruhr verleiten und dich nackt auf dem Marktplatz kreuzigen.« »Unsere Sitten sind dir also vertraut.« »Wir Melniboneer sind ein gebildetes Volk, Königin.« »In allen Künsten bewandert?« »In allen.« Wieder fühlte er sein Blut durch die Adern jagen, als sie sich erhob und die Tür verriegelte. In diesem Augenblick spürte er kein Verlangen mehr nach den Kräutern, die Moonglum bringen sollte.
Als er sich in jener Nacht auf Zehenspitzen aus dem Gemach stahl, fand er Moonglum geduldig im Vorraum sitzen. Augenzwinkernd reichte Moonglum ihm den Kräuterbeutel. Doch Elric war nicht nach Scherzen zumute. Er suchte jene Kräuter heraus, die er für den Arm brauchte. Moonglum schnitt eine Grimasse, während er zusah, wie Elric das Zeug zerkaute und schluckte. Gemeinsam stahlen sie sich aus dem Palast.
Mit Sturmbringer bewaffnet und hoch zu Roß, ritt Elric dicht hinter seinem Freund. Moonglum hielt auf die Hügel hinter Dhakos zu. »Wenn ich die Zauberer von Pan-Tang richtig kenne«, murmelte der Albino, »dann ist Theleb K’aarna jetzt erschöpfter, als ich es war. Mit etwas Glück könnten wir ihn im Schlaf überraschen.« »In diesem Fall werde ich lieber vor der Höhle warten«, sagte Moonglum, denn er hatte Elrics Rache schon erlebt und hatte kein Verlangen, Theleb K’aarnas langsamen Tod mit ansehen zu müssen. Es dauerte nicht lange, und sie hatten die Hügel erreicht. Moonglum zeigte Elric den Eingang zur Höhle. Elric ließ sein Pferd vor der Höhle stehen und schlich sich auf leisen Sohlen, das Runenschwert gezückt, hinein. Nervös wartete Moonglum auf Theleb K’aarnas erste Schreie, doch es rührte sich nichts. Er wartete, bis die Morgendämmerung das erste schwache Licht brachte. Da tauchte Elric mit vor Zorn verfinstertem Gesicht wieder auf. Wild faßte er nach den Zügeln seines Pferdes und schwang sich in den Sattel. »Seid Ihr befriedigt?« fragte Moonglum forschend. »Befriedigt – nein! Der Hund ist verschwunden.« »Weg! Aber…« »Er ist doch gerissener, als ich dachte. Da drinnen gibt es mehrere Höhlen, und ich habe ihn überall gesucht. In der hintersten Höhle habe ich Spuren zauberischer Runen an Wänden und Boden entdeckt. Er hat sich an einen anderen Ort begeben. Wohin, das konnte ich nicht entdecken, obwohl ich die meisten Runen entziffert habe! Vielleicht ist er nach PanTang?«
»Ach, dann war unsere Suche also vergebens. Laßt uns nach Dhakos zurückkehren und noch ein wenig von Yishanas Gastfreundschaft genießen.« »Nein – wir gehen nach Pan-Tang.« »Aber Elric! Dort hausen die Zaubergefährten Theleb K’aarnas und sind sehr mächtig. Und Jagreen Leen, der Priesterkönig, läßt Fremde nicht ein!« »Egal! Ich möchte die Sache mit Theleb K’aarna zu einem Ende bringen.« »Ihr habt keinen Beweis, daß er dort ist!« Elric gab seinem Pferd die Sporen und ritt wie ein Besessener oder ein vor großer Gefahr Fliehender davon – vielleicht war er beides, besessen und auf der Flucht. Moonglum folgte ihm nicht sofort, sondern sah seinem davongaloppierenden Freund eine Weile nachdenklich nach. Er, der sonst nicht zum Grübeln neigte, fragte sich, ob Yishana den Albino doch mehr beeindruck hatte, als diesem lieb war. Er glaubte nämlich nicht, daß das Verlangen nach Rache an Theleb K’aarna der Hauptgrund für Elrics Ablehnung war, nach Dhakos zurückzukehren. Achselzuckend tat Moonglum diese Gedanken ab und stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Er ritt los und hatte Elric noch vor Tageseinbruch eingeholt. Er war neugierig, ob sie wirklich nach Pan-Tang ziehen würden, wenn erst Dhakos in weiter Ferne lag. Elrics Kopf hingegen war aller Gedanken bar. Er wurde ausschließlich von Gefühlen beherrscht – von Gefühlen, die er nicht näher untersuchen wollte. Hinter ihm wehte das weiße Haar, sein tödlich-blasses hübsches Gesicht wirkte gelassen. Fest umklammerten die schmalen Hände die Zügel. So ritt er dahin. Und nur die sonderbaren roten Augen spiegelten Kummer und inneren Widerstreit wider.
Im Palast von Dhakos blickte an diesem Morgen ein anderes Augenpaar betrübt in die Welt, doch das sollte nicht lange so bleiben. Yishana war eine nüchterne Herrscherin.
Originaltitel: THE SINGING CITADEL Aus THE FANTASTIC SWORDSMEN, herausgegeben von L. Sprague de Camp Copyright © 1967 by L. Sprague de Camp Übersetzt von Ingrid Rothmann
Paul Ernst KEINE BESONDEREN VORKOMMNISSE
Der leuchtende Ball der voll von der Sonne beschienenen Erde schwebte gleich einer schimmernden Perle zwischen den spitzen, scharfen Mondgebirgen. Vollerde. Wieder war ein Monat vergangen. Clow Hartigan wandte sich langsam von der kleinen Sichtluke neben der Luftschleuse ab und ging hinüber zu dem Sender. »RC3 – RC3 – « Keine Antwort. Stacey in New York ließ sich wie gewöhnlich Zeit, den Ruf von der Mondbasis zu beantworten. Warum sollte er sich auch beeilen? Station R C 3 hatte noch niemals etwas Außergewöhnliches melden können. Auf dem Mond geschah nichts, was nicht vollkommen normal und alltäglich war. Nichts! Ohne es zu wissen, starrte Hartigan geistesabwesend auf das Titelblatt der bereits sechs Monate alten Radio Gazette, das sorgfältig auf der Holzwand über der Sendeanlage aufgeklebt war. Ein Pin-up-girl mit unwahrscheinlich blondem Haar lächelte ihn an. »RC3 – RC3!« Aha, das war Stacey! »Hier spricht Hartigan. Der Monatsbericht!« »Schieß los, Hartigan!« Es war eine bissige, hastige Stimme. Sicherlich warteten wichtigere Gespräche auf Stacey, Nachrichten von Venus,
Jupiter und Mars. Was sollte da schon der monatliche Bericht vom Mond, der – wie immer – nichts Besonderes brachte. Beeile dich, Hartigan, erzähle ihnen, daß immer noch alles beim alten ist. Hartigan gab sich selbst einen Ruck. »Bedingungen hier die gleichen. In der Zwischenzeit weder Schiffslandungen noch Reparaturanforderungen. Der Hangar ist in Ordnung, keine undichten Stellen. Alles in allem: keine besonderen Vorkommnisse!« »Okay!« gab Stacey lahm zurück. »Vorräte?« »Schick mir ‘ne Blondine rauf!« sagte Hartigan. »Mach keine Witze! Wird etwas benötigt?« »Danke! Was macht New York, Kollege?« Die nüchterne Stimme von Stacey war wie eine kalte Dusche: »Keine Zeit für private Auskünfte, mein Lieber. Schwer beschäftigt. Das nächste Mal! Wenn du was brauchst, rufe mich. Ende!« Der Summton war schwach und verstummte ganz. Hartigan stieß einen kräftigen Fluch aus und trat den Stuhl mit dem Fuß beiseite. Er war ein breitgebauter Mann mit rotem Haar und verbitterten, harten, blauen Augen. Er war einer jener Typen, die von der Raumgesellschaft gerne auf so verlassene Außenposten, wie der Mond ohne Zweifel einer ist, geschickt wurden. Es gab mehr als ein halbes Dutzend solcher Außenposten, Notlandehäfen für in Schwierigkeiten geratene Raumschiffe; aber die beiden unbeliebtesten waren die vollkommen isolierten Kuppeln auf Merkur, und dieser verfluchte Hangar auf dem Mond. Und ausgerechnet dahin schickte die Gesellschaft ihre erfahrensten Leute; starke junge Männer. (Und auch solche, die das Pech hatten, einen einflußreichen Onkel im Direktorium sitzen zu haben, der für seinen Neffen die ungefährlichsten Jobs heraussuchte.) Doch die Gesellschaft
ließ diese Männer nie sehr lange auf ihren einsamen Posten. Denn zu oft hatte es Selbstmorde gegeben, oder ein Mann war wahnsinnig geworden und hatte die ganze Einrichtung demoliert. Hartigan ging langsam wieder zu der kleinen Luke, und während er durch die Kabine schritt, sprach er mit sich selbst, wie es die Angewohnheit vieler Menschen ist, die lange allein sein müssen. »Hätte ich mir doch bloß damals einen Hund mitgebracht, oder eine Katze! Ich wünschte, jetzt würde ich von unbekannten Wesen oder meinetwegen auch von Piraten angegriffen – ganz egal, was geschieht – wenn bloß mal was passiert!« Trübsinnig stand er vor der Luke und betrachtete die kontrastreiche Mondlandschaft, die an eine scharfe Schwarzweißfotografie erinnerte. Nichts bewegte sich. Seine Blicke wanderten höher, suchten den tief schwarzen Himmel ab – und er stutzte. Da war ein heller Lichtpunkt, wo eigentlich keiner sein durfte. Er eilte zu dem nahen Teleskop und suchte den wandernden Punkt. Und dann atmete er enttäuscht und doch erleichtert auf: Der Lichtpunkt war ein Passagierschiff, das in geringer Höhe den Mond überflog. Ganz gewiß befand es sich nicht auf normalem Kurs. Vielleicht hatte es Maschinenschaden und kam nach RC3, um Ersatzteile zu holen. »Ich wünsche keinem Menschen was Schlechtes«, murmelte Hartigan nervös und voller Hoffnung, »aber gebe Gott, daß ihnen eine Düse ausgebrannt ist!« Doch seine Hoffnung wurde zerschlagen. Das große Raumschiff strich in einer Höhe von vielleicht 100 Kilometer langsam über die Plastikkuppel der Station hinweg und verschwand allmählich am Horizont.
Hartigan fluchte erneut. Sicher so ein Vergnügungsraumer, der im System herumgondelte. Man hatte – der Abwechslung halber – auch dem Mond einen Besuch abgestattet, aber eine Landung nicht der Mühe für wert befunden. Wozu auch? Was gab es hier denn schon zu sehen? »In diesem gottverlassenen Krater passiert aber auch rein gar nichts!« schimpfte Hartigan und nahm den Raumanzug vom Haken. Der schmiegsame Metallstoff war nicht schwer, aber er isolierte großartig. Mit geübter Fertigkeit stieg Hartigan in die plumpe Form des Anzuges und klappte den durchsichtigen Helm zu. Die Sauerstoffzufuhr regelte sich von selbst. Sonst war ja wohl nichts zu tun? Nein, der automatische Sender würde ihn schon alarmieren, sollte etwas Besonderes geschehen, was kaum zu erwarten war. Er war durch Helmradio mit der Sendestation verbunden. Schnell gelangte er durch die kleine Nebenschleuse hinaus auf die Oberfläche des Mondes. Mit weiten Sprüngen bewegte er sich fort, eilte auf einen einsam stehenden Felsgrat zu, auf dem er oft zu sitzen pflegte, um alle Direktoren der Raumgesellschaft heimlich mit den unflätigsten Namen zu belegen. Das beruhigte ihn ungemein. Zwischen dem Hangar und diesem Felsgrat befand sich eine Stelle, an der die staubfeine Lavaasche einen regelrechten See bildete. Hartigan kannte diese Stelle ganz genau, denn sie war lebensgefährlich. Er wußte nicht, wie tief dieser Staubsee eigentlich war, aber er wußte, daß man in ihm versinken konnte, ohne jemals wieder herauszukommen. Gewöhnlich umging er diesen gefährlichen Mondsand schnell, aber gerade heute verharrte er, um einen Blick zurück zur Station zu werfen, die gleich einer riesigen Halbkugel zwischen den Kratern des Mondes lauerte. Wie ein phosphoreszierendes Schild rundete sich die Kuppel hinein in den schwarzen Himmel. Deutlich hob sich die Luftschleuse ab,
die so groß war, daß ein normales Passagier-Raumschiff durch sie hindurch in den Hangar gelangen konnte. Doch vor der Station war die gezackte und scharf umrissene Oberfläche des Mondes. Grell leuchteten die Ebenen, tief schwarz hoben sich die Krateröffnungen und die feinen, unregelmäßigen Spalten ab. Eine hoffnungslose Wüste! Hartigan begann sich wieder in Bewegung zu setzen. Die feine Asche des »Sees« neben ihm schien plötzlich zu explodieren, völlig lautlos, aber mit unheimlicher Gewalt. Mehr als 30 Meter hoch wurde eine Fontäne geschleudert, hing für Sekunden reglos und begann dann wieder abzusinken. Ein Meteor! Der Splitter mußte eine ganz erhebliche Größe gehabt haben, sonst wäre er nicht fähig gewesen, eine solche Staubfontäne aufzuwirbeln. »Bißchen nahe«, murmelte Hartigan erschrocken. »Noch ein wenig näher, und sie hätten einen neuen Mann nach RC3 schicken müssen.« Doch so schlimm war es nicht. Ein Meteor hier auf dem Mond war das gleiche wie der Blitz auf der Erde. Entweder sie trafen, oder sie trafen nicht. Und wenn sie trafen, dann merkte man es sowieso nicht mehr. Hartigan stolperte fast über den Gegenstand, der sanft – zusammen mit der Staubwolke – vor ihm niedergefallen war. Als er seine Augen auf diesen Gegenstand richtete, glaubte er, jemand habe ihm einen Streich gespielt. Glatt und vollkommen rund lag vor seinen Füßen eine fast kopfgroße Kugel. »Der Meteor«, knurrte er mißbilligend. »Er muß also bis auf den Grund der Lavaasche gekommen und zurückgeprallt sein. Ist also nicht sehr tief, der Staubsee. Aber immerhin scheint es seltsam…« Seine Stimme verstummte und er bückte sich. Mit seiner rechten »Hand«, die nur aus Greiferzangen bestand, versuchte
er, den runden Ball zu packen, was ihm mit einiger Mühe gelang. In Meteoren fand man oft wertvolle Metalle. Platin und Iridium. So ein Ding konnte gut seine 100 Dollar wert sein, wenn man Glück hatte. Und warum sollte man nicht den Reichtum aufheben, wenn er einem vor die Füße fiel? In vorsichtigen Sprüngen machte er sich auf den Rückweg. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie einen solch merkwürdigen Meteor gesehen. Schon allein die äußere Form! Der Brocken war eine symmetrisch geformte Kugel. Dabei sollte ein Meteor wenigstens gezackt sein. »Sieht aus wie so eine altmodische Kanonenkugel«, sann Hartigan vor sich hin, während er das Ding betrachtete. Er hatte es auf der Werkbank liegen. »Oder wie ein Ei…« Seine Augenbrauen vollführten einen aufgeregten Tanz, blieben schließlich stehen. Das war eine Idee! »Ein Ei! Aber was für ein Ei! Wiegt mindestens 100 Pfund oben auf der Erde. Und verdammt hart! Kein einziger Kratzer, obwohl es doch wuchtig aufgeprallt ist. Verflucht, ich möchte es nicht zum Frühstück serviert bekommen.« Als nächstes erregte seine Aufmerksamkeit die merkwürdige Farbe des runden Gegenstandes. Oder besser: die Art, in der er ständig die Farbe wechselte. Als er es fand, war es schwarzverbrannt gewesen, dann dunkelgrün. Und jetzt verfärbte es sich immer heller, je kühler es wurde. Die automatische Uhr gab einen Summton von sich. Aha, es wurde Zeit, die tägliche Inspektion auszuführen! Mit einem bedauernden Blick auf den hellgrünen Meteor, der allmählich durchsichtig zu werden schien, zog Hartigan seinen Druckanzug aus und schritt hinüber zur großen Luftschleuse. Mit einem Griff schaltete er die Stromzufuhr ein, die drahtlos von der Erde gesendet wurde. Auf dem Mond gab es keine Energiequelle. Mit leisem Summen speicherten sich die
ungeheueren Kräfte, die notwendig waren, die schweren Metallplatten zu bewegen. Krach…! Der Knall ertönte scharf und kurz, hallte von den Wänden des geräumigen Hangars wider und verklang schließlich in der äußersten Ecke. Hartigan wurde weiß im Gesicht, entsann sich des Meteors auf seiner Werkbank und eilte in Richtung des Knalls. Und dieser Knall war offensichtlich von der Werkbank gekommen. Ob ein größerer Meteor aufgeschlagen war? Aber die Plastikkuppel war praktisch unzerstörbar. Auch größere Brocken konnten ihr nicht viel anhaben. Aber schon der kleinste Spalt bedeutete sofortigen Tod, denn die Luft würde entwichen sein, ehe er seinen Raumanzug anziehen konnte. Seine suchenden Blicke entdeckten keinen Riß, und seine ängstlich lauschenden Ohren hörten nicht das Zischen der in das Vakuum entweichenden Atmosphäre. Dann starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf die Werkbank und stieß einen erschreckten Laut aus. Dort, wo der Meteor gelegen hatte, lag nichts mehr. Die Werkbank war leer. »Er muß heruntergerollt sein«, murmelte er zwischen zusammengepreßten Lippen hervor. »Aber wenn er heruntergerollt ist, warum sehe ich ihn nicht?« Er erstarrte plötzlich in seinen Bewegungen, blieb reglos stehen. War da hinter ihm nicht ein Geräusch gewesen? Ein leises, kaum zu hörendes Geräusch? Wer aber sollte außer ihm ein solches verursachen? Er wirbelte herum – und sah nichts, außer, was schon immer da gewesen war: Der glatte Metallfußboden, die Wand und die grellen Lampen. Langsam wandte er sich wieder um und begann, die Oberfläche der Werkbank mit den Händen abzutasten, als könne er seinen eigenen Augen nicht mehr glauben. Und der
Schrei, den er diesmal ausstieß, unterschied sich wesentlich von dem vorherigen. Es war ein schriller Schrei des Schreckens und der Ungläubigkeit. Seine Finger hatten etwas Hartes und Rundes berührt. Den Meteor! Aber der Meteor war in zwei gleiche Hälften zerbrochen – und er war jetzt unsichtbar! »Das ist – «, sagte Hartigan und fühlte den kalten Schweiß auf seiner Stirn stehen – »das ist das Verrückteste, was sich je in meinem Leben ereignet hat!« Er nahm eine der unsichtbaren Hälften und hielt sie dicht vor die Augen. Obwohl der Gegenstand fest in seiner Hand lag, konnte er mit den Augen nicht das geringste wahrnehmen. Er sah durch ihn hindurch die dahinterliegende Wand. Langsam kroch kalte Furcht in ihm hoch, als er schließlich noch feststellte, daß das Innere der beiden Kugelhälften hohl war. So schwer der Meteor gewesen war, jetzt bestand er nur noch aus einer leeren Schale, deren Stärke kaum fünf Zentimeter betrug. Was aber in dieser Schale gesteckt hatte… »Es muß etwas drin gewesen sein… und es ist herausgekrochen!« Aber das war ja lächerlich! »Blödsinn! Das Ding ist ein ganz gewöhnlicher hohler Metallbrocken.« Hartigan redete laut, um sich besser überzeugen zu können. »Als er sich abkühlte, sprang er auseinander. Klarer Fall von Kontraktion bei Abkühlung. Nur eines bleibt seltsam: Er wurde unsichtbar!« Instinktiv ergriff er mit der zweiten Hand die andere Hälfte des Meteors. In jeder Hand eine der unsichtbaren Schalen tragend, machte er sich auf den Weg zum Vorratsraum, um die merkwürdigen Dinger zu verschließen. Sein Verstand sagte ihm, daß sie womöglich einen unschätzbaren Wert besaßen. Wenn er zur Erde zurückkam und hatte einen Stoff, der
unsichtbar machte, so würde er unter Umständen einer der reichsten Männer des Universums werden können. Er bot dem unbefangenen Auge eines eventuellen Zuschauers ein fast lächerlich seltsames Bild, wie er so daherging, beide Hände vorgestreckt, als trügen sie etwas – und in Wirklichkeit schien gar nichts vorhanden. Am Oberarm waren die Muskeln angeschwollen, er trug also eine Last. Aber zu sehen war wirklich nichts. »Was zum Teu – « Mit einem hohlen Klang fielen die beiden Meteorstücke hart auf den metallenen Boden. Hartigan hatte sie einfach fallen lassen. Diesmal war er sicher, sich nicht getäuscht zu haben: Er hatte unzweifelhaft ein Geräusch gehört. Es war aus der Richtung der großen Türen gekommen und hatte wie schleichende Schritte geklungen. Trotz der erneut aufkommenden Angst eilte er zu den Türen und blieb lauschend stehen. Es war vollkommen still. Nichts konnten seine angestrengten Sinne vernehmen. Doch dann, Sekunden später, war es wieder da. Diesmal genau aus der Richtung, aus der er soeben gekommen war. Aber keine Schritte, sondern etwas anderes hörte er. Es klang fast wie ein Knirschen und Schleifen, so als würden Felsbrocken in einer Zerkleinerungsmaschine verarbeitet. Und dann ein richtiges Schmatzen und Schlucken. Mit wenigen Sätzen raste er wieder zu der Stelle zurück, an der er die Meteorhälften fallengelassen hatte. Seine Blicke hasteten hin und her, suchten einen Gegenstand, der nicht in die Halle gehörte. Aber er sah nichts anderes als glatte Metallwände, kalte Beleuchtungskörper, Ventilationsöffnungen, Instrumententafeln und farbige Hebel. Er erreichte die Stelle und bückte sich. Die beiden Hälften waren spurlos verschwunden. Sie waren nicht nur unsichtbar, sondern im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden. Auf
Händen und Knien kroch er auf dem Boden herum, aber seine tastenden Hände fanden keinen Widerstand. Mitten in seinen Bewegungen verharrte er, und seine Lippen murmelten leise Worte. »Entweder bin ich etwas völlig Neuem begegnet, etwas, das die Welt noch nie gesehen hat, oder ich werde verrückt. Ganz genauso verrückt wie Stuyvesant angeblich geworden ist.« Seine Stirn hatte sich mit dicken Tropfen bedeckt, die langsam seine Wangen herabliefen. Die Gefahr, in dieser unvorstellbaren Einsamkeit verrückt zu werden, war mehr als nur eine vage Möglichkeit. Mehr als nur einmal war man an die Raumgesellschaft mit der Bitte herangetreten, auf diese abseits gelegenen Posten zwei Männer statt nur einen zu senden, aber die Gesellschaft hatte achselzuckend abgelehnt. Warum sollten sie zwei Mann bezahlen, wenn einer die Arbeit auch verrichten konnte. Die Stille in der weiten Halle war vollkommen. Um seine gräßliche Furcht zu betäuben, erhob sich Hartigan und eilte zu der großen Tür, um in seiner täglichen Routinearbeit Vergessen zu finden. Er mußte diesen Blödsinn vergessen! Immer noch summte die gestrahlte Energie im Empfänger. Mit einem Hebeldruck löste er sie aus. Die innere Riesenluke begann sich zu öffnen, und wenige Sekunden später befand sich Hartigan in der gewaltigen Luftschleuse. Nun galt es noch, die Außenluke zu überprüfen. Er schloß die Innentür und begab sich in die kleine Zelle innerhalb der Schleuse, die man deshalb angebracht hatte, um dem Operateur das Anlegen eines Raumanzuges bei jeder Überprüfung zu ersparen. Es war kalt, obwohl die Heizapparate angestellt waren. Die Mondoberfläche war nur einige Zoll entfernt. Entschlossen schob er den Hebel vor, der die Energie freigab.
Die gigantische Außenluke schwang auf, zischend strömte die Luft in das Vakuum. Sie würde erneuert werden und für einen weiteren Tag reichen. Natürlich, der Mechanismus arbeitete reibungslos, alles war in Ordnung. Warum sollte es auch nicht in Ordnung sein? Doch Befehl war Befehl, und er war dazu da, um täglich das Funktionieren der Luftschleusen zu kontrollieren. Hartigan zog den Hebel wieder zurück. Gehorsam begann die Außenluke sich zu schließen. Jetzt dreiviertel, jetzt bereits halb, dann nur ein kurzes Stück… Luft strömte ein, noch bevor sich die Tür schloß. Und in dieser Sekunde fühlte Hartigan mehr als er es hörte den schrillen, gräßlichen Schrei. Es war ein Schrei, fast an der oberen Grenze der Hörbarkeit, der auch dem kaltblütigsten Mann einen Schauder des Grauens den Rücken herabgejagt hätte. Dann hatte sich die Außenluke geschlossen. Was immer auch den Schrei ausgestoßen hatte, es war nicht groß und kräftig genug gewesen, dem Druck der sich schließenden Tür zu widerstehen. »Heiliger Jupiter!« stöhnte Hartigan, als er die kleine Kontrollkabine verlassen konnte und wieder in der Schleuse stand. »Heiliger Jupiter!« Er setzte sich einfach auf den glatten, kalten Boden und begann, über seine bisherigen Erlebnisse nachzudenken. Er hoffte, vielleicht auf diese Art und Weise einen Hinweis zu finden. Da fällt ein runder, glatter Meteor vom Himmel, sieht aus wie ein Ei, ist jedoch offensichtlich Metall. Während er abkühlt, färbt er sich heller und heller, bis er schließlich vollkommen unsichtbar wird. Mit einem lauten Knall platzt das Ding in zwei Hälften, und gleichzeitig höre ich schleichende Geräusche. Ich lasse die beiden Hälften des Meteors fallen und
eile einige Schritte weg. Dann höre ich ein Geräusch, als sei jemand damit beschäftigt, die beiden leeren Halbkugeln zu fressen. Ich komme zurück und finde nichts mehr vor, alles ist verschwunden. Dann mache ich den Routinetest und öffne die Türen. Als sich die Außentür schließt, höre ich ein Geräusch, als sei ein Stein zwischen Mühlräder geraten, dann ein furchtbarer, schriller Schrei. Wie ein Tier in Todesnot! Ja, genauso! Verdammt, alles führt nur zu dem einen unmöglichen Schluß, daß der Meteor gar kein Meteor war, sondern eine – eine Hülle, in der sich etwas befand, was ins Freie gelangen wollte – und auch gelangte. Nein! Unmöglich! Nein! Es gab keine Lebensform, die den Aufprall auf die Mondoberfläche überstanden hätte! Selbst die weiche Lavaasche konnte diesen Aufprall nicht genügend dämpfen. Keine Lebensform hätte die wahnsinnige Hitze ertragen, die beim Zusammenstoß erfolgte. Keine Art irgendwelchen organischen Lebens konnte Meteorerz verspeisen. Es war einfach unmöglich… … oder sollte es doch möglich sein? Nachdenklich kaute er an den Knöcheln seiner Hand und dachte plötzlich an Stuyvesant. Stuyvesant hatte ein halbes Jahr lang den Nothafen auf Merkur zu verwalten. Mein Gott, Merkur! Der Planet war die Hölle! Nur durch ein Wunderwerk aus Isolationsstoffen und Kühlungssystemen hatte man den Hangar dort einigermaßen erträglich machen können. Doch selbst der beste Raumanzug hätte nicht verhütet, daß jeder Mensch, der die Oberfläche des Planeten für mehr als fünf Minuten betrat, bei lebendigem Leibe gebraten wurde. Man fand dort keine andere Beschäftigung, als sechs Monate lang innerhalb der gekühlten Glocke zu leben und auf die Ablösung zu warten.
Das war es, was Stuyvesant getan hatte. Und allmählich empfingen die Erdstationen seltsame Nachrichten vom Merkur. Stuyvesant funkte, er habe dicht vor dem Hangar – in der Nahe des Landefeldes – ein sich bewegendes Objekt gesehen. So etwas Ähnliches wie einen Felsen. Kriechende Felsen! Als der dritte Bericht dieser Art einging, hatte die Gesellschaft ihn ablösen und von einer Ärztekommission untersuchen lassen. Der arme Kerl entging der Einlieferung in eine Irrenanstalt um Haaresbreite. Die Gesellschaft warf ihn natürlich hinaus. Ein schwaches Glied in ihrer Mannschaft war genauso gefährlich wie ein schwaches Glied in einer Kette. »Sobald ein Mann beginnt, kriechende Felsen zu sehen, wird es allerhöchste Zeit, daß man ihn feuert!« lautete die inoffizielle Version der Gesellschaft. Die Ärztekommission hatte das gleiche gesagt, nur in wesentlich kultivierterer Form: »Kein Leben, so wie wir es kennen, kann auf der Oberfläche des Merkur ohne Schutzvorrichtung existieren. Daher sind wir zu der Diagnose gelangt, daß Benjamin Stuyvesant Halluzinationen zum Opfer gefallen ist.« Hartigan blickte ein wenig scheu und unsicher zu der Werkbank hinüber, auf der dieser verfluchte Meteor gelegen hatte. In seinem Schädel brummte es: »Kein Leben, so wie wir es kennen…« Das war der springende Punkt! Schließlich lagen die Anfänge der Raumfahrt noch keine 70 Jahre zurück. Wer sollte wissen, wieviel unbekannte und ungelöste Rätsel der Weltraum noch barg. Hartigan dachte an die »Verbotenen Asteroiden«, die selbst bei äußerster Gefahr nicht angeflogen werden durften. Aus dem einfachen Grunde, weil dort bereits Schiffe, die ahnungslos landeten, spurlos verschwunden waren. Immer und immer wieder. Kein Mensch wußte, was dort geschehen war.
Und so gab es keine andere Möglichkeit, als diese Asteroiden, es waren mehr als zwei Dutzend, einfach für tabu zu erklären. Kein Leben, so wie wir es kennen! Nur mal angenommen – sinnierte Hartigan weiter –, auf jenen Asteroiden existierten große, wilde und unsichtbare Lebewesen. Vielleicht krochen sie aus Eiern. Und vielleicht verbreiteten sie sich, indem sie ihre Eier mit noch unbekannten Mitteln durch den Raum jagten, hin zu anderen Himmelskörpern. Irgendein Tier, das sein Leben damit begann, das eigene Ei zu fressen – und somit seine Ernährung auf mineralischer Grundlage begann. Irgend etwas, das in jeder Temperatur und in jeder Art von Atmosphäre – und auch ohne – leben und atmen konnte. »Nein, ich werde verrückt!« sagte Hartigan laut. In Panik stürzte er sich auf die Bücher und Magazine, die haufenweise im Schrank herumlagen, und versuchte, sein seltsames Erlebnis zu vergessen. Aus Minuten wurden Stunden, diese zu Tagen und Wochen, und schließlich war wieder ein Monat vergangen. Die Erde, die immer an der gleichen Stelle des schwarzen Himmels hing, wurde voll, dann nahm sie wieder regelmäßig ab. Mit sturer Gleichmäßigkeit verrichtete Hartigan seine »tägliche« Routinearbeit, überprüfte die Schleusen, die Energieempfänger und den Hangar. Um sechs Uhr New Yorker Zeit stand er auf, wusch sich mit wenigen Tropfen wertvollen Wassers. Dann frühstückte er. Danach las er ein wenig. Kurzer Spaziergang. Dann wurde wieder gelesen. Routinegang durch den Hangar. Dann erneutes Lesen. »Das ist doch kein Leben für einen normalen Menschen!« sagte er einmal ganz laut vor sich hin. Und doch mußten Menschen so leben, nachdem sie den ersten Schritt zu den Sternen gewagt hatten.
Fast schon hatte er jenen seltsamen Meteor vergessen, der in den See aus Asche gefallen war, als er mit grausamer Härte wieder an ihn erinnert wurde. Er hatte den Raumanzug angezogen und wanderte über die Mondoberfläche, diesmal in einer ganz anderen Richtung als gewöhnlich. Und so fand er den Krater. Krater gibt es auf dem Mond unzählige, der ganze Satellit bestand eigentlich aus solchen Kratern. Aber sie sind normalerweise an der Innenseite glatt abfallend, und der Boden ist flach und eben. Dieser Krater jedoch sah aus, als habe ihn jemand gegraben. Hartigan war der unumstößlichen Meinung, er kenne jeden Krater in einer Entfernung von zwei Kilometern um den Hangar herum. Aber er konnte sich nicht entsinnen, dieses Loch jemals gesehen zu haben. Er stand dicht davor und schaute hinein. Auf dem Grund gewahrte er einige lose Felsbrocken, die den Eindruck erweckten, als seien sie frisch herausgebrochen worden. Doch das war nicht besonders verwunderlich, denn schon ein einziger Fußtritt konnte hier Schwingungen hervorrufen, daß ganze Krater einstürzten. Kleinere natürlich nur. Trotzdem fühlte Hartigan, wie sich seine Nackenhaare zu sträuben begannen, wie ein unbekanntes, unheimliches Gefühl von ihm Besitz ergriff. Und dann starrte er mit ungläubigentsetzt aufgerissenen Augen in das Loch… Ein Felsen auf dem Grunde des Kraters bewegte sich! Nicht etwa, daß er kroch. Nein, es war so, als schöbe ihn eine unsichtbare Kraft voran. Und noch während Hartigan verzweifelt nach Atem rang, schwebte der Felsbrocken in die Höhe, blieb etwa zweieinhalb Meter über dem Grund hängen. Dann tanzte er auf und ab. Und – Hartigan stieß einen erschreckten Schrei aus – plötzlich verschwand eine Ecke des Felsens. War einfach nicht mehr da! Ein zweiter Brocken folgte, als sei er abgebrochen und unsichtbar geworden.
»Teufel!« Hartigan zweifelte nicht mehr länger. Ein lebendes Etwas war vor einem Monat aus dem Meteor-Ei gekrochen und trieb sich nun auf der Mondoberfläche herum. Und nun fraß es Felsen! Und dieser Felsbrocken, an dem es gerade nagte, schwebte mehr als zwei Meter über dem Boden. Wie groß war das Wesen innerhalb von acht Wochen geworden? Hartigan dachte an die »Verbotenen Asteroiden«. In dieser Sekunde fiel der bereits halb verschwundene Felsbrocken plötzlich zu Boden, blieb dort liegen. Es war so, als habe das unsichtbare Wesen Hartigan erblickt. Und eine Sekunde später spritzten Steine und Geröll explosionsartig zur Seite, als mache sich dieses Wesen daran, den Abhang zu erklimmen. Hartigan zögerte nicht. Er stieß einen Schrei des Entsetzens aus und raste auf den nahen Hangar zu. Mit fantastischen Sprüngen von mehr als zwanzig Metern hetzte Hartigan über die zerklüftete Oberfläche. Aber so sehr er sich auch beeilte, er fühlte instinktiv, daß das Wesen hinter ihm schneller war. Obwohl er es weder sehen noch hören konnte, wußte er, daß es näher und näher kam. Der Mensch in dem runden, prallen Raumanzug bot einen merkwürdigen Anblick, wie er scheinbar vor nichts davonrannte, in grotesken Sprüngen über Kraterhindernisse hinwegfliegend. Und über der etwas schaurigen Szene stand schimmernd und nicht mehr ganz voll der grünblaue Ball der Erde. Hartigan fühlte den Verfolger und auch, daß er niemals vor ihm den schützenden Hangar erreichen konnte. Seine Augen suchten die Oberfläche ab, versuchten eine Rettungsmöglichkeit zu finden. Ein Stück vor sich wußte Hartigan eine Spalte von fast 30 Meter Breite und – soweit er glaubte – grundlos. Wenn er seine
starken Muskeln anstrengte, konnte ihm der gewagte Sprung glücken. Dann kam es nur darauf an, ob das Wesen hinter ihm die gleiche Kraft aufbieten konnte, oder ob es den längeren Umweg machen mußte. Während des Sprunges sah er sich um. An der anderen Seite der Spalte gewahrte er aufwirbelnden Staub! Dann landete er glücklich auf der anderen Seite, raste weiter, ohne sich umzudrehen. Die Luftschleuse war dicht vor ihm, als er doch noch einmal zurückblickte. Er sah, wie am diesseitigen Rand der Schlucht Staub aufwirbelte. Das Ding mußte den Sprung gewagt haben. Mit einem Satz war er in der Schleuse, schloß die Luke hinter sich. Noch während die Luft zischend einströmte, ertönte an der Metallaußenwand ein lautes Dröhnen. Hartigan versuchte ein höhnisches Grinsen, aber es wurde nur eine schauerliche Grimasse. Doch das konnte ja keiner sehen; selbst er nicht. Schnell öffnete er die Innenluke und schritt in den weiten Hangar. Mochte das Ding da draußen machen, was es wollte, hier war er sicher. Wenigstens nahm er das an. Er überlegte trotzdem. Zweieinhalb Meter hoch mindestens ist dieses Geistertier, es besteht nicht aus Fleisch und scheint unzerstörbar. Wenn es so weiterwächst wie bisher, ist es im Laufe von sechs Monaten so groß wie ein Raumschiff. Falls man es nicht vorher vernichtet. Man würde RC3 aufgeben müssen. »Ich werde Stacey um einen Zerstörer bitten!« Er näherte sich dem Sender. Endlich war sein Wunsch in Erfüllung gegangen: Es war etwas geschehen! Endlich konnte er melden: besondere Vorkommnisse! Und diese besonderen Vorkommnisse würden beweisen, daß Stuyvesant ein gesunder Mensch war, viel gesünder jedenfalls als jene ziegenbärtigen Ärzte der Kommission.
Allerdings war es nun aus mit den Spaziergängen auf dem Mond, bis der Zerstörer eintraf. Nachträglich schauderte er zusammen, als er daran dachte, wie oft er mit knapper Mühe dem sicheren Tod entgangen war bei seinen letzten Ausflügen. Wie oft war er nur wenige Meter von dem unsichtbaren Kannibalen entfernt gewesen? Er war noch einige Schritte vom Sendegerät entfernt, als ein lautes Dröhnen erscholl. Es hallte von den Wänden wider, rollte durch die weite Halle und erstarb schließlich in den äußersten Ecken. Hartigan war stehengeblieben. Seine Augen drohten, aus den Höhlen zu fallen, als er die Einbeulung in der Wand sah. Mein Gott, das war doch unmöglich! Solche Kräfte konnte doch das Wesen nicht haben! Es mußte ihm gefolgt sein, vielleicht geführt von einem unbekannten Instinkt oder durch die Schwingungen seiner Schritte. Ein erneuter dröhnender Knall ließ ihn zusammenzucken. Gleichzeitig wurde die Beule in dem Metall größer. Und ein drittes Mal! Hartigan bewegte sich langsam wieder rückwärts. Er schlich auf die Luftschleuse zu. Dann blieb er stehen, lauschte. Und dann war der Aufprall wieder da, direkt neben ihm. Eine zweite Beule erschien. Alle Farbe wich aus Hartigans Gesicht. Natürlich war es sinnlos, jetzt noch zu funken. Bis man hier ankam, war er längst tot. Der kleinste Riß in der Wandung, und die Luft entwich. Krach…! Wer hätte das gedacht? Ein unsichtbares Lebewesen, das in diesem Vakuum existieren und die dicken Metallwände eines Hangars demolieren konnte? Hartigan versuchte sich
vorzustellen, wie er einer wissenschaftlichen Kommission die Dinge erklären sollte. »So, ein unsichtbares Tier? Und es versuchte, die Wandung des Hangars einzudrücken? Aha…« Krach…! Die Beleuchtungskörper schwankten leicht unter der Wucht des Aufpralls. Dieser war so stark gewesen, daß die Schutzfarbe von der nach innen gedrückten Wand absprang. »Was, zum Teufel, soll ich machen?« Ihm fiel im Augenblick nur eine einzige Lösung ein: Er mußte ständig in Bewegung bleiben, damit das Biest seine ganzen Kräfte nicht auf eine und dieselbe Stelle konzentrierte. Er machte einige Schritte, blieb stehen. Eine Weile war nichts zu hören, dann bumste es dicht neben ihm. Eine neue Beule erschien, diesmal aber größer als die vorherigen beiden. Das Material mußte unterschiedlich stark sein. Und diesmal hatte das Ding eine schwache Stelle getroffen. Hastig eilte Hartigan weiter. Seine Gedanken überschlugen sich. Was sollte er tun? Wie lange konnte er das Ding irreführen? Wann würde es endlich doch eindringen? Seine Augen suchten verzweifelt nach einem Gegenstand, mit dem er sich verteidigen konnte. Waffen waren in Mengen vorhanden, aber er wußte, daß jede Waffe gegen dieses Wesen nutzlos sein würde. Seine Schritte führten ihn zu der gewaltigen Luftschleuse für die zur Reparatur einlaufenden Raumschiffe. In früheren Tagen hatten sich diese Schleusen als die gefährdeten Stellen der Hangars erwiesen, somit hatte man nach einigen Überlegungen die Innen- und Außenwände dieser Schleusen wesentlich verstärkt. Sie erreichten fast die doppelte Dicke der anderen Wände.
Bums…! Dicht neben der Schleuse erschien eine neue Beule. Aber Hartigan achtete kaum darauf. Die Ahnung einer rettenden Idee regte sich in ihm. »Wenn ich das Biest zwischen den dicken Schleusenwänden einfangen könnte…« »Ja, was dann?« fragte er sich selbst. Er konnte sich keine Antwort geben, aber es erschien ihm sicherer, das Wesen eingeschlossen zu haben, als daß es weiterhin versuchte, schwache Stellen der Hangarwand anzugreifen. »Wenn ich es nur hereinlocken könnte«, dachte er und schob den Hebel vor, der die Außenluke betätigte. Und in dieser Sekunde durchzuckte ihn ein Gedanke. Die Außenluke schwang auf. »Ob es die Falle wittert?« fragte er sich gespannt. »Oder ob es so dumm ist, hereinzukommen?« Rumms…! Die innere Schleusenluke erzitterte unter einem wuchtigen Aufprall. Das Biest war eingedrungen, war in die Falle gegangen. »Falle…?« murmelte Hartigan zweifelnd. »Ist vielleicht nicht der rechte Ausdruck. Wenn ich es unbehelligt lasse, wäre es in einer guten halben Stunde im Hangar. Aber ich werde es nicht unbehelligt lassen – bei Gott nicht!« Er zog den Hebel wieder vor, und die Außentür schloß sich langsam. Wenige Sekunden später war das unsichtbare Etwas in der Schleuse gefangen. Hartigan lächelte mühsam, während er sich daran machte, seine spontan aufgetauchte Idee in die Tat umzusetzen. Er drückte auf einen Knopf. Die Empfangsgeräte begannen zu summen, speicherten ungeheure Energien in den dafür bestimmten Batterien. Genügend gesammelt und im rechten
Augenblick befreit, waren diese Energien die tödlichste Waffe, die es auf dem Mond geben konnte. Hartigan warf einen letzten Blick auf die tanzenden Zeiger der Skalen und wandte sich um, raste zurück zum Lagerraum, wo er nach einigem Suchen eine große Kabelrolle fand. Mit gewaltiger Anstrengung bewegte er die Rolle, die er auf der Erde keinen Meter weit fortgebracht hätte, zur Schleuse. Dort verharrte er sekundenlang, denn seine nächste Handlung erforderte kaltblütige Überlegung und eine gewisse Verzweiflung. Wenn sein Plan gelingen sollte, mußte er die innere Tür um wenige Zentimeter öffnen. Gleichzeitig mußte er schnell seine Absicht ausführen, ehe das Ding merkte, daß die Tür überhaupt geöffnet war. Denn das Untier besaß Kräfte genug, um das Tor dann mit Gewalt weiter aufzustoßen. Das aber würde den Tod bedeuten. Geschwindigkeit – davon hing alles ab. Unter anderem auch sein eigenes Leben. Geschwindigkeit – und die Hoffnung, daß die Energiespeicher die notwendige Überladung aushielten. Mit kaum merklich zitternder Hand bewegte Hartigan den Hebel zurück, der die innere Tür betätigte. Kaum verstärkte sich das Summen, als er auch den Hebel schon wieder vorzog. Die innere Tür hatte sich um etwa zehn Zentimeter geöffnet. Hartigan schaltete die Zuleitung der Energie zum Bewegungsmechanismus der Schleusentüren ab, löste das Zuführungskabel und verband es mit dem einen Kabelende der Rolle. Während er mit fliegenden Fingern die Drähte miteinander verband, warf er einen schnellen Seitenblick zu der Tür. Sie hatte sich um weitere 20 Zentimeter aufgeschoben. »Ich schaffe es nicht – verflucht!« stieß er zwischen den Lippen hervor. »Es ist zu spät!« Trotzdem ließ er sich nicht beirren.
Er ergriff das andere lose Ende des Kabels und warf es mit aller Kraft durch die schmale Schleusenöffnung. Wie eine Riesenschlange rollte es sich auf, blieb dann liegen. Gleichzeitig sprang er mit einem Satz zurück zur Instrumententafel, legte die Hand auf den Energiezufuhrhebel. Immer noch lag der sichtbare Teil des Kabels unbeweglich, führte hinein in die gewaltige Schleusenkammer. Seinen ganzen Plan hatte er auf die blinde Angriffswut des unsichtbaren Gegners aufgebaut, seine ganze Hoffnung bestand in der Zuversicht, daß der Angreifer sich wie wild auf das plötzlich auftauchende Kabel stürzen würde… Das Kabel streckte sich plötzlich, als zöge am unsichtbaren Ende jemand. Es hing frei in der Luft, die von den automatisch arbeitenden Pumpen bei Schließen der Außenwände erneuert worden war. Hartigans Hand schob den Hebel mit einem Ruck auf die äußerste Stellung. Die aufgespeicherte Energie mußte sich jetzt mit einer blitzartigen Reaktion entladen. Mit hämmerndem Herzen verließ Hartigan seinen Platz und eilte zu der Lukenöffnung, folgte den wild hin und her zuckenden Windungen des Kabels. Und da erblickte er inmitten der Schleusenkammer ein Ding, einen Gegenstand, der durch die flammende Energie und durch die zuckenden Blitze blaugefärbter Kraftströme sichtbar geworden war. Er griff sich entsetzt an sein Herz und stieß einen erstickten Schrei unsagbaren Grauens aus. Seine aufgerissenen Augen gewahrten den massiven Block eines Kopfes ohne Ohren oder Augen. Er sah undeutlich fünf Gliedmaßen, und ein sechstes Glied, das jedoch verstümmelt zu sein schien. »Das ist das Bein, das vor einem Monat zwischen die Türen geriet«, hörte er sich selbst sagen.
Das Ding war mehr als drei Meter hoch und sieben Meter lang. Seine schattenhaften Konturen waren mehr zu ahnen, als zu sehen. Die zuckenden Blitze entströmten nach allen Seiten seinem massiven, aber unsichtbaren Körper und zeigten seine Umrisse. Dann begann das Ungeheuer zu schreien, genauso, wie es damals geschrien hatte, als es mit dem Bein zwischen die Tür geriet. Nur war das gräßliche Geräusch diesmal lauter und dröhnender, gellte in Hartigans Ohren wie eine überdimensionale Trompete. Noch während er bewegungslos dem Schauspiel zusah, begann die massige Figur zusammenzuschrumpfen, wie eine Wachskerze schmilzt, wenn man sie ins Teuer wirft. Auch das Kabel schmolz, rollte sich dabei zuckend auf, als sei es ein lebendiges Wesen. Dann spritzte der unsichtbare Körper auseinander, zerplatzte in tausend unsichtbare Fragmente. Mit letzter Kraft stellte Hartigan die Energiezufuhr ab.
Der leuchtende Ball der voll von der Sonne beschienenen Erde schwebte gleich einer schimmernden Perle zwischen den spitzen, scharfen Mondgebirgen. Vollerde. Wieder war ein Monat vergangen. Clow Hartigan wandte sich langsam von der kleinen Sichtluke neben der Luftschleuse ab und ging hinüber zum Sender. »R C 3 – R C 3 – « Keine Antwort. Stacey in New York ließ sich wie gewöhnlich Zeit, den Ruf von der Mondbasis zu beantworten. Warum sollte er sich auch beeilen? Station R C 3 hatte noch niemals etwas Außergewöhnliches melden können. Auf dem
Mond geschah nichts, was nicht irgendwie vollkommen normal und alltäglich war. Nichts! Ohne es zu wissen, starrte Hartigan geistesabwesend auf das Titelblatt der jetzt sieben Monate alten Radio Gazette. »RC3 – RC3!« Aha, das war Stacey! »Hier spricht Hartigan. Der Monatsbericht!« » Schieß los, Hartigan!« »Bedingungen hier die gleichen. In der Zwischenzeit weder Schiffslandungen, noch Reparaturanforderungen. Der Hangar ist in Ordnung, keine undichten Stellen.« »Okay«, sagte Stacey. »Vorräte?« »Schick’ mir ‘ne Blondine rauf!« sagte Hartigan. »Mach keine Witze! Wird etwas benötigt?« »Vielleicht bei nächster Gelegenheit eine Rolle neues Stromkabel. Aber es eilt nicht.« »Mit dem nächsten Schiff, Hartigan. Sonst noch was?« Hartigan zögerte eine Sekunde. Er wußte, daß der Metallboden der Luftschleuse mit einer blauen, undefinierbaren Substanz bedeckt war, die keinerlei Hinweise auf ein unbekanntes, unglaubliches Lebewesen aus dem Weltraum gab. In den Hangarwänden waren einige beachtliche Beulen – aber die konnten genausogut von Meteoren verursacht worden sein. Das Ei, aus dem das Ding gekrochen war, existierte nicht mehr. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke an Stuyvesant. Was hatte man von ihm gesagt? Daher sind wir zu der Diagnose gekommen, daß Benjamin Stuyvesant Halluzinationen zum Opfer gefallen ist! Wie gern hätte er Stuyvesant geholfen. Aber der hatte schließlich eine neue Stelle bei der Gesellschaft erhalten und war ganz zufrieden mit der Verwaltung eines Ersatzteillagers. »Nun…?« erinnerte Stacey ungeduldig.
Hartigan starrte immer noch geistesabwesend auf das Bild der hübschen Blondine. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er schließlich sagte: »Nein, sonst nichts, Stacey. Wie immer: Keine besonderen Vorkommnisse.«
Originaltitel: NOTHING HAPPENS ON THE MOON Copyright © 1939 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Februar 1939 Übersetzt von Walter Ernsting
Luigi de Pascalis DER TURM
Ein wütender Wind, der einem den Atem verschlug, fegte von den dunklen, salzigen Gewässern des Sees herein und peitschte die unermeßlich weite, felsige Ebene. Vom Kobalthimmel strahlte ein leuchtendes Gestirn – eine Sonne erster Ordnung – und tobte sein Ungestüm an der versengten Ebene aus. Zum Geheul des Windes gesellten sich als einzige die Stille störender Geräusche, vereinzelte kreischende Rufe eines Raubvogelschwarmes, der hoch in den Lüften bewegungslos mit ausgebreiteten Schwingen kreiste. Die Vögel ließen sich von der aufsteigenden heißen Thermik tragen, als hätte langes Hungern und die erstickende Hitze ihren Willen und ihre Energie gebrochen. Nahe dem See, der unbewegt wie eine Metallscheibe dalag, erhob sich ein hoher, halbverfallener Turm. Die Fenster glichen leeren Augenhöhlen, die seltsame Ovalform der Tür und die Torflügel aus rostigem Metall ließen an die gezackte Mundhöhle eines Totenschädels denken. Im obersten Gemach des Turmes, nahe dem einzigen Fenster, das dem Raum Licht spendete, saß ein hagerer, vertrockneter Greis, nur mit einer langen weißen Leinentunika bekleidet. Vor ihm auf einem Pult lag ein großes Buch, in dem er las. Dabei murmelte er die Worte in einem Singsang vor sich hin. Häufig aber blickte der Mann zum Fenster und warf einen hastigen Blick hinaus übers Land, als erwarte er jemanden. Der lange Schatten des Turmes senkte sich auf den Boden, als der Greis, der sich zum letzten Male nach vielen Malen
zum Fenster wandte, am Horizont einen dunklen, sich bewegenden Punkt erblickte – vermutlich einen Wanderer oder Reiter. In den Augen des Mannes blitzte es auf, als der Punkt allmählich größer wurde und Gestalt annahm. Der Reiter – denn ein solcher war es – wischte sich wiederholt den Schweiß von der Stirn. Die Sonne hatte seine Rüstung so glühend heiß werden lassen, daß er fast versengt wurde. Obwohl es hieß, mit dem Tod zu spielen, wenn man in dieser Hitze Eisen trug, erlaubten es die strengen Regeln der Ritterschaft bei Todesstrafe nicht, die Rüstung abzulegen. Überdies hätte er keine Möglichkeit gehabt, seinen Panzer zu transportieren, wenn er ihn abgelegt hätte. Er behalf sich also damit, den Helm abzunehmen, und lenkte sein Roß auf direktem Wege zum Turm. Es war der Turm des alten Hakon, des Zauberers. Beide, Mann und Turm, genossen einen üblen Ruf, und manch ein Wanderer hätte die Öde der Wüste einer Begegnung mit Hakon vorgezogen. Nach einer Weile, die endlos schien, hielt der Reiter vor den Toren des Turmes an und stieß dreimal in sein Silberhorn. Als Hakon sich zeigte, rief der Ritter mit Donnerstimme: »Im Namen aller Götter bitte ich, Urok von Eanna, Sohn Ungnads des Furchtlosen, Bezwinger des Zhut, Ritter des Heiligen Ordens der Erwählten, Euch um Herberge für diese Nacht!« Und Hakon erwiderte voll Spott: »Welcher Eurer Götter, kühner Urok, ist Euch so übel gesinnt, daß er Euch in diese Wüstenei gestellt hat?« Der Ritter tat, als bemerkte er den Spott nicht. Zu dringend suchte er Schutz vor den Strahlen der heimtückischen Sonne und Wasser, um seine rissigen Lippen zu erfrischen. Also zwang er sich zu Gleichmut und Höflichkeit und antwortete:
»In diese Gefilde hat mich kein Gott gestellt, Zauberer, sondern die Notwendigkeit, auf kürzestem Weg in das Land meines teuren Freundes, des Herrn von Lugalbenga, zu gelangen.« Mit dieser Antwort gab sich der Alte zufrieden. Leise vor sich hinmurmelnd, öffnete er das Tor. Rostiges Eisen quietschte. Müde stieg Urok ab. Er entledigte sich seiner Rüstung und der Tunika. Als er sich entkleidet und ein wenig erholt hatte, führte er sein Roß in die Stallung, die ihm der Magier gezeigt hatte, und versorgte das Tier. Sodann nahm er im Brunnen, in der Hofmitte, ein Bad. Er planschte und stöhnte vor Behagen und drehte den Körper unter einem in den Brunnen fließenden Wasserstrahl hin und her. Er dankte Hakon überschwenglich, der in einiger Entfernung seinem Gast mit seltsamem Lächeln zusah. Als der Ritter sein Bedürfnis nach einem Bad gestillt hatte, raffte er Waffen und Kleider zusammen und folgte, ohne sich die Mühe zu machen, sich abzutrocknen, dem Zauberer auf einer steilen, dunklen und glitschigen Treppe. Nachdem er sich angekleidet, ausgeruht und gelabt hatte, fragte er seinen seltsamen Gastgeber, ob er den Turm erforschen dürfe, da er die wenigen Stunden Tageslicht noch nützen wolle. »Geht allein, wenn Ihr wollt«, sagte der Alte mit einem vieldeutigen Lächeln. »Ich selbst werde das Tageslicht noch nützen und ein paar Seiten lesen.« Und er vertiefte sich in sein Buch. Der Turm war viel größer, als es von außen den Anschein hatte. Er enthielt viele Räume, Hallen, schmale, niedrig gewölbte Gänge und eine bemerkenswerte Anzahl von Treppen. Doch alles in allem ein rohes und einsames Bauwerk, in dem, außer dem wütenden Pfeifen des Windes, kein Laut zu hören war. Etwas Dunkles und Düsteres an den staubigen, von
der Zeit verwitterten Steinen, den riesigen Mauern, dem unheimlichen Zwielicht, veranlaßte den Ritter, die Hand an das Heft seines Schwertes zu legen. Er hatte fast den ganzen Bau durchstreift, als er vor einer kleinen Tür, die von einem schweren, dunklen Vorhang fast verdeckt wurde, stehenblieb. Seine Neugier erwachte. Er versuchte die Tür zu öffnen. Sie war versperrt. Als er das Ohr an die Tür preßte, war kein Laut zu vernehmen. Als er durch das Schlüsselloch spähte, sah er nichts als Dunkelheit. Die Tür hatte zweifellos etwas Geheimnisvolles, Magisches an sich. Gleichzeitig rief sie dem Ritter auch ein Gerücht ins Gedächtnis, das unter den Wüstenkarawanen und Pilgern umging. Dieser Mär zufolge sollte Hakon eine geheimnisvolle Frau, die er durch Zauberei für alle anderen unsichtbar gemacht hatte, im Turm gefangen halten. Das sollte auch – abgesehen davon, daß Hakon von Natur aus zur Gereiztheit und Unfreundlichkeit neigte – der eigentliche Grund dafür sein, daß er Fremden nur widerwillig den Eintritt in seine Behausung gewährte. Die Ausnahme, die er in seinem Falle gemacht hatte, schrieb Urok seiner Stellung und Eigenschaft als einer der Erwählten zu. Die Tür jedoch gab ihr Geheimnis nicht preis.
Als sich die ersten Abendschatten niedersenkten, schlug die Witterung plötzlich um. Die Luft wurde kalt. Der Wind, der von Norden gekommen war, wurde eisig und beißend. Der Turm, dessen grob zusammengefügte Massen mit dem Kälteeinbruch ein anderes Gesicht annahmen, war dunkel und voll knarrender und raschelnder Geräusche. Hunderte von Schatten schienen in ihm zu hausen.
Als der erste Stern am Himmel stand, zeigte der Alte Anzeichen von Unruhe und Nervosität. Er sah sich dauernd um und achtete kaum der Worte des Ritters. Was diesen betraf, so hatte er nur einen einzigen Gedanken: den seltsamen Raum und sein Geheimnis. Seiner Narrheit nachgebend, – daß es eine solche war, wußte er – fragte er mit dem unschuldigsten Ton, den er zuwege brachte: »Sagt mir, Hakon, welches Wunder haltet Ihr hinter der versperrten Tür am Fuße der Treppe verborgen?« »Mein Laboratorium«, sagte der Alte und wandte den Blick ab, als wäre er plötzlich verlegen geworden. »Wunderbar!« rief der Ritter begeistert. »Warum gestattet Ihr mir nicht das Betreten des Raumes?« Mit einer einfachen Ablehnung wäre seiner Frage Genüge getan gewesen. Statt dessen jedoch schien der Alte plötzlich in Wut zu geraten und den Verstand zu verlieren, so wild sprach er darauf an. Die Zwei gerieten in einen Streit, der immer heftiger wurde, als wären ihre Seelen mit unvernünftigem Zorn erfüllt. »Ihr seid so dumm und neugierig wie eine Dirne«, kreischte Hakon schließlich. »Fürwahr, niemand soll jemals den Fuß über jene Schwelle setzen!« Im Verlauf des Streites hatte sich Uroks Gesicht gerötet. Mit zornigem Blick sprang er auf und rief: »So hat mich noch niemand beleidigt, alter Irrer! Du sollst deine Worte büßen, magst du selbst der König aller Götter sein!« Damit faßte er nach seinem Schwert. Der alte Magier schien diese Worte in seiner Wut nicht gehört zu haben. Mit einem Blick, aus dem tödliche Gefahr blitzte, stieß er einen langen, trillernden Pfiff aus. Auf das Geräusch flatterten zwei, drei, vier große Raubvögel, ähnlich jenen, die Urok in der Nahe des Turmes hatte am Himmel
kreisen gesehen, durch das Fenster herein und stürzten sich unter heiserem Kreischen auf den Ritter. Überrascht wollte sich der Ritter mit dem Schwert verteidigen. Er bereute es schon, daß er seinen Harnisch nicht angelegt hatte. Zwischendurch erhob sich das schrille, haßerfüllte Gelächter Hakons über dem Kampflärm. Das rußende, flackernde Fackellicht beschien eine Szene, die etwas Unwirkliches, ja Teuflisches an sich hatte. Die Vögel waren stark, wild und wendig, mit scharfen Schnäbeln und gierigen Krallen ausgerüstet. Vom Gewicht seiner Waffe behindert, die für einen solchen Kampf gar nicht geeignet war, blutete der Ritter aus vielen kleinen Wunden. Er war ins Taumeln geraten, sein Lebenswille jedoch spornte ihn zu verzweifelter Gegenwehr an. Er war nicht gewillt, sich zu ergeben. Und schließlich war der Sieg sein. Die vier Raubvögel wälzten sich in ihrem Blut am Boden. Die Schwingen zuckten im Todeskampf. In eine Ecke gedrängt, stand der Zauberer blaß und zitternd da. Das hämische Lächeln war von seinen Lippen verschwunden. Er schien wie betäubt, als fasse er es nicht, was geschehen war, oder als könne er es nicht glauben. Nein, der Sieg war noch nicht vollständig. Der Ritter machte einen Sprung auf den Greis zu. Noch ehe er sich in der Gewalt halten konnte, stieß sein Arm, wie von einem eigenen Willen bewegt, die lange Klinge dem Gegner in den Leib. Mit einem Todesseufzer sank dieser zu Boden und griff nach seiner gräßlichen Wunde, im vergeblichen Versuch, den Blutstrom aufzuhalten. Erst jetzt stieß Urok, der rückwärtstaumelnd an der Wand lehnte, einen Seufzer der Erleichterung aus. Als er sich beruhigt und gefaßt hatte, sah er sich um. Obgleich er an den Anblick von Grausamkeit in vielen Spielarten gewohnt war, stieß ihn dieser Ort des Grauens ab. Vogelkadaver bedeckten
den Boden, Blut besudelte die Steine, und noch immer flatterten Federn wie schwarze Falter in der kalten, raucherfüllten Luft. Hastig, als wollte er fliehen, sammelte er seine Habseligkeiten und stieg die steile, dunkle Treppe hinunter zur ebenen Erde. Der Wind, der ächzend und heulend durch die Scharten des Turmes strich, wirbelte Sand und trockenen Wüstenstaub auf. Endlich – fast unbewußt – blieb er vor der rätselhaften Tür stehen, der Ursache des Streites mit dem alten Hakon. Mehr um eine menschliche Stimme zu hören, als aus einem anderen Grund, stieß er einen lauten Ruf aus. Aber seltsam – seine Stimme war in dem kläglichen Heulen des Windes kaum vernehmbar. Hatte ein Zauberspruch oder übersteigerte Leidenschaft seine Stimme erstickt? Vielleicht beides… Er riß sich zusammen und versuchte die Tür mit der Schulter aufzubrechen. Sie war zu massiv. Er mußte zu seiner Kriegsaxt greifen. Das letzte Stöhnen des Zauberers, der Wind im Turm, das Wirbeln des Sandes, die dumpfen Schläge von Stahl auf Holz, das alles vermischte sich in seinem Bewußtsein. Schließlich gab die Tür nach. Die flackernde Fackel in der blutbefleckten Hand – so stand er da. War das der Grund, warum der Wind so ächzte? Hinter der aufgebrochenen Tür lag stygische Finsternis. Von einer seltsamen Vorahnung erfaßt – einer undeutlichen Angst –, zögerte Urok einen Augenblick. Dann trat er über die Schwelle, das Schwert in der einen, die Fackel in der anderen Hand. Das erste, was ihm drinnen auffiel, war die Stille – eine unendlich tiefe, unnatürliche Stille. Ein paar Schritte zurück, und das Heulen des Windes wäre klar zu hören gewesen. Mit der Länge des einen Schrittes hatte er offenbar die Schwelle zu
einer anderen Welt überschritten – einer Welt der Stille und Dunkelheit. Er näherte sich einer Wand und hielt die Fackel vor sich. Er war betroffen, als er vor sich – so still wie der Schatten eines Nachtspuks – ein gemeißeltes Antlitz sah. Es war ein eingeschrumpftes, schreiendes Gesicht. Starrende Augen und ein gaffender Mund verliehen dem Relief einen sehr lebensechten Ausdruck. Erschrocken überlegte Urok, daß er noch nie zuvor Ähnliches gesehen hatte. In der Tat – soviel menschliches Leid und Schrecken hatte er nirgends erblickt. Er hatte Zweifel, ob überhaupt jemand solche Qualen hätte erdulden können. Welches Gebet oder welches Flehen hatte diese erhobene Hand ausdrücken sollen? Obgleich er kein Künstler war und von Kunst nichts verstand, schien es ihm, als ob die Skulptur bitte, oder vielmehr befehle, es möge die ganze Menschheit ihre grausamen Qualen miterdulden. Erschrocken und überwältigt fragte sich der Ritter: Welcher Genius konnte je ein solch ausdrucksstarkes Abbild geschaffen haben? War es möglich, daß an diesen häßlichen alten Mauern noch andere Skulpturen waren? Plötzlich erfaßte ihn wieder Neugier. Nachdem er sich von der ersten Überraschung erholt hatte, widmete er sich der Untersuchung des Raumes und tastete sich vorsichtig an der Wand entlang. Während er sich vorwärts bewegte, um in die Geheimnisse der Kammer einzudringen, erhellte der flackernde Fackelschein die Dunkelheit nur in einem kleinen Umkreis. Nach und nach stieß der Ritter auf weitere Reliefs. Als er den großen Raum abgeschritten hatte, hatte er herausgefunden, daß die Wände neun Reliefs trugen. Jedes einzelne schreiend und bittend, irgendwie heimtückisch und widerwärtig. Er hatte auch herausgefunden, daß an drei Wänden je zwei dieser Figuren waren, an der längsten, ihm
gegenüberliegenden Wand jedoch drei solcher Figuren eingemeißelt waren. Von den letzteren drei Figuren erweckte eine – die in der Mitte – seine Gefühle und Aufmerksamkeit in höherem Maße. Obzwar die dargestellte Gestalt zwei Augen, eine Nase und einen Mund besaß, war er davon überzeugt, daß sie nicht menschlich war. Sie hatte etwas Monströses, Schleimiges und Falsches an sich, wie ein nächtliches Schreckgespenst. Überdies war sie so realistisch gestaltet, mit einer solchen übertriebenen Beachtung aller Einzelheiten, daß sich der Ritter fragte, welches böse, entartete Hirn sich dieser Kreatur wohl erdacht haben mochte. Gewiß, die anderen Skulpturen waren Abbilder von Menschen. Doch auch diese hatten etwas an sich, das aus ihnen wahre Ungeheuer machte. Lange blieb Urok stehen, betrachtete die Figuren und zermarterte sein Gedächtnis nach einem möglichen Vergleich, nach einer Spur, die ihm zu einem Verständnis verhelfen könnten. Nach langem Grübeln bemerkte der Mann einen seltsamen Zufall – wenn es ein solcher war. Alle neun Figuren richteten ihren Blick auf denselben Punkt an der Wand. Dort war über dem Boden ein geheimnisvolles Wort gemeißelt, das zu entziffern er sich noch nicht Zeit genommen hatte. Er stellte sich vor die Wand und hieb mit der Faust auf das Zeichen. So merkte er sehr rasch, daß die Wand an dieser Stelle hohl klang und damit anzeigte, daß dahinter eine Gruft oder Höhle verborgen war – vielleicht der Eingang zu einem in den gewachsenen Fels gehauenen Gewölbe. Er spürte jedoch, daß hier etwas Finsteres, Unmenschliches herrschte. Eine dunkle, unheimliche Macht schien an den Wänden mit ihren Steingesichtern und den zu Stein erstarrten Schreien zu hängen. Dieselbe entartete Macht, die die ungeheuerlichen Gestalten geschaffen und diese schmerzverzerrten Gesichter
erdacht und entmenschlicht hatte, trieb jetzt den Mann dazu, nach seiner Streitaxt zu greifen, um die Mauer an dieser Stelle einzuschlagen. Von einem Beweggrund getrieben, den er weder begreifen noch zergliedern konnte, näherte er sich der Wand. Vielleicht gierte er nach Abenteuern, vielleicht trieb ihn etwas anderes, eine morbide Neugier, das Streben nach Wissen oder der Zauber eines bösen Geistes. Mit überraschender Kraft führte er mit der Axt einen Streich, dann den nächsten, wieder und immer wieder – während die Steinwesen ihm zusahen. Mitleid, Triumph, Gleichgültigkeit – waren seine Handlungen wirklich das, als was sie ihm erschienen? Vielleicht war alles nur Einbildung. Übrigens hatte er keine Zeit für solche Überlegungen. In einem entfernten Winkel seines Bewußtseins wuchs die Überzeugung, daß er einen alten Schatz entdeckt hätte. Hinter der Wand würden Gold, Edelsteine, ganze Truhen voll, haufenweise warten – genug, um sich darin zu wälzen, genug, um die Augen zu blenden. Und er, der bis dahin keinen Gedanken an Reichtum verschwendet hatte, ertappte sich dabei, daß ihn diese Aussicht merkwürdig erregte. Schließlich war die Wand durchbrochen. Zuerst gab es nur einen Spalt, durch den ein kalter, übelriechender Luftzug drang. Dann war die Öffnung für einen Menschen genügend groß. Die neun Ungeheuer an der Wand – die neun schrecklichen Ungeheuer – sahen mit verkrampften Gliedern und grinsenden Mündern zu. Erfolg? Nein – es war Torheit, Unmögliches. Weil er sich durch die Grübelei über weitere schreckliche Dinge nicht in den Wahnsinn treiben lassen wollte, beschloß Urok, jene improvisierte Schwelle, die die Grenzen der Logik durchbrochen hatte, zu überschreiten – sie zu überschreiten, um sich selbst zu beweisen, daß hier kein unmenschliches
Ungeheuer lauerte. Dann wollte er das Loch wieder verschließen und alles zu vergessen suchen. Er hielt ein Ohr in die Öffnung, bemüht, auch nur das leiseste Geräusch wahrzunehmen. Die Minuten vergingen in völliger Stille. Dann glaubte er, das Geräusch von Tropfen zu hören, einer nach dem anderen, vielleicht aus einem schon unter dem salzigen Wasser gelegenen Teil des Gemaches. Vernahm er Musik, eine Wehklage, das Scharren von Füßen, ein ersticktes Lachen, einen Tanz der Schatten – oder nur eine Folge von Tropfen, die in eine Lache fielen? Er entschied, daß es Tropfen waren, die von der Decke fielen. Inzwischen war die Luft durch den Gestank, der durch das Loch in der Wand drang, unerträglich geworden. Nie zuvor hatte er solchen Geruch verspürt. Weder ein verwesender Leichnam oder Unrat, noch eine Schwefelquelle oder ein Haufen faulenden Seetangs konnte solchen Gestank hervorbringen. Er wußte, daß der Gestank jenseits der Mauer noch unerträglicher sein würde. Er konnte sich also nicht in die dunkle Höhle wagen, ohne ernsthaft Gefahr zu laufen, von diesen giftigen Dünsten erstickt zu werden. Doch wenn er schon draußenbleiben mußte, so wollte er wenigstens einen flüchtigen Blick hineinwerfen. Er ging zur Wand und steckte langsam den Arm mit der Fackel durch den Spalt. Dann versuchte er, den Kopf durchzustecken. Doch in seiner Erregung stieß er mit dem Kopf gegen die Mauerkante. Er ließ die Fackel fallen und diese rollte ein Stück weg und verlöschte. Da geschah es. Das Schwert des Lichtes zerschneidet die Finsternis. Blut hat einen durchdringenden Geruch. Mit einem Fluch, der sich in der Dunkelheit und Stille verlor, beugte sich der Mann in den Spalt und tastete nach der erloschenen Fackel. Er konnte sie nicht finden.
Statt dessen ertasteten seine Finger etwas Klebriges, sich Windendes, Feuchtes und Kaltes. Den Bruchteil einer Sekunde später ließ ein starkes brennendes Gefühl seinen Arm zurückzucken. Inzwischen jedoch hatte bereits etwas Undefinierbares und Ungeheuerliches den Arm erfaßt und die Knochen von Hand und Unterarm zerquetscht. Er hatte nicht einmal Zeit gefunden aufzuschreien, denn eine bestialische, dämonische Kraft zog ihn mit aller Gewalt in das Loch. Zum zweiten Male prallte seine Stirn gegen die Kante, diesmal mit solcher Wucht, daß das Hirn aus seinem geborstenen Schädel spritzte und seine Halsknochen zerbrachen. Ihm blieb keine Zeit mehr, das Aufbrüllen zu hören, das vielleicht Gelächter, vielleicht Triumphgeschrei ausdrücken sollte. Er fühlte auch nicht mehr, wie sich sein Leib in scheußliche Fäulnis auflöste, berührt von dem Ding, welches gurgelte, gleitend schlitterte, spottete und sich an ihm bewegte – und das alles in einem gleichzeitigen Nebeneinander. Er konnte auch nicht mehr sehen, wie sich still und geheimnisvoll der Riß in der Wand wie eine heilende Wunde schloß, daß sich, was noch seltsamer war, eine zehnte Figur auf einer der Wände ausbildete. Und daß gleichzeitig die verstreuten und zerhauenen Türbalken, wie von unsichtbarer Hand wiederhergestellt, sich zusammenfügten und eine neue Tür bildeten, die mit der zerstörten Tür völlig gleich war. Der Wind ächzte und pfiff durch die Scharten des Turmes.
Im obersten Gemach des Turmes, nahe dem einzigen Fenster, das dem Raum Licht spendete, saß ein hagerer, vertrockneter Greis, nur mit einer langen, weißen Leinentunika bekleidet. Vor ihm auf einem Pult lag ein großes Buch, in dem er las. Dabei murmelte er die Worte in einem Singsang vor sich hin.
Häufig aber blickte der Mann zum Fenster und warf einen hastigen Blick hinaus übers Land, als erwarte er jemanden. Der lange Schatten des Turmes senkte sich auf den Boden, als der Greis, der sich zum letzten Mal nach vielen Malen dem Fenster zuwandte, am Horizont einen dunklen, sich bewegenden Punkt erblickte – vermutlich ein Wanderer oder Reiter. In den Augen des Mannes blitzte es auf… Als nach endlos scheinender Zeit der Ritter (denn ein solcher war es) vor dem Tor des Turmes anhielt und dreimal in sein Silberhorn stieß, hörte der Mann, der sich aus dem Fenster beugte, den Ankömmling mit Donnerstimme rufen: »Im Namen aller Götter, ich, Hakon von Teilet, Sohn von Belzod dem Großen und Ritter des Heiligen Ordens der Erwählten, bitte dich um Herberge für die Nacht!« Und Urok erwiderte spöttisch: »Welcher Eurer Götter, kühner Hakon, will Euch übel, daß er Euch in diese Wüstenei gestellt hat?« Ein Schwarm von Raubvögeln schwebte mit gespreizten Schwingen bewegungslos hoch in der Luft. Sie ließen sich von der aufsteigenden Thermik tragen, als hätte langes Fasten und die erstickende Hitze ihre Energie gebrochen. Urok seufzte. Wieder einmal wiederholte sich alles von neuem, so, wie es sich noch jedesmal vorher zugetragen hatte. Wie viele Male? Er wußte es nicht. Vielleicht zehnmal, vielleicht zwölfmal, vielleicht viel öfter. Das einzige, was sich bei diesem tragischen Spiel änderte, waren die Rollen, die er und sein Unglücksrabe abwechselnd spielten. »Aber warum?« fragte der Mann verzweifelt. »Wer bin ich in Wirklichkeit?« Bohrender Kopfschmerz ließ ihn taumeln. Dann ertönte plötzlich eine gebieterische Stimme in seinem Schädel: »Solche Fragen zu stellen ist nutzlos! Diesmal, sage ich dir, bist du der Zauberer des Turmes!«
Mit starrem Blick und starren Gliedern, die zitterten, als vollbrächten sie eine Tat gegen den Willen ihres Herrn, stieg der Mann die Treppen hinunter und ließ den Reiter ein. In der Höhle am Fuße des Turmes gurgelte ein absurdes und schreckliches Wesen sein Vergnügen an der Vorstellung, die eben begonnen hatte und die wieder einmal bis zu ihrem dramatischen Ende fortschreiten würde.
Nachwort des Autors
Der Turm stellt den Menschen dar. Zauberer und Ritter sind Instinkt und Vernunft in ewig wechselndem Widerstreit. Das Ungeheuer ist das menschliche Unbewußte, das immer ins Bewußtsein eindringt. Die Raubvögel stellen die Hindernisse dar, die sich dem Verstand in den Weg stellen. Zusammenfassend meine ich, daß sich während unseres Lebens, sowie in der Geschichte der Zivilisation, der Konflikt zwischen dem ›Urok‹ und dem ›Hakon‹ in uns ständig wiederholt. Bei der Beschreibung der Höhle des Ungeheuers erwähne ich neun Skulpturen. Nach dem Tod des Ritters sind es zehn. Die Tragödie hat sich bereits bei anderen Gelegenheiten abgespielt, und niemand weiß, wie oft sie sich noch wiederholen wird. Zauberer und Ritter bilden die gegensätzlichen Elemente. Die zwei Personen der Handlung, die durch den Willen des Ungeheuers praktisch der Unsterblichkeit ausgeliefert werden, sind gezwungen, ihre immer wechselnden Rollen auszuspielen. Diese Erzählung wurde von L. Sprague de Camp mit Genehmigung des Autors ins Englische übertragen. Sie
erschien in dem Band THE FANTASTIC SWORDSMEN, herausgegeben von L. Sprague de Camp. Copyright © 1967 by L. Sprague de Camp. Ins Deutsche übertragen von Ingrid Rothmann.