Schweißüberströmt richteten sie sich auf. Der Boden erzitterte, die Kuppel schwankte und schien abzusacken. Wieder tanz...
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Schweißüberströmt richteten sie sich auf. Der Boden erzitterte, die Kuppel schwankte und schien abzusacken. Wieder tanzte Libra ihre schreckliche Polka, ihren Totentanz. Obwohl sie erst aufging, schien die Sonne größer und röter zu werden; Gas und Staub mußten in die dünne Atmosphäre emporgeschleudert worden sein. »Was fehlt ihm denn, Owen?« »Ich glaube, er stirbt mit den anderen.« »Die anderen… die sind doch schon tot.« »Neun von ihnen. Neun sind tot; sie wurden erdrückt oder erstickten. Sie alle waren er, und er ist sie alle. Sie starben, und nun stirbt er alle ihre Tode.« »Barmherziger Gott!« sagte Martin. NEUN TODE STIRBT DER LETZTE von Ursula K. LeGuin und weitere ungewöhnliche Science-Fiction-Stories von Harlan Ellison, Bruce McAllister und Fritz Leiber.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 3060 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Mühlstrasser Umschlagillustration: ACE Alle Stories aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1970 Copyright © 1970 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck‐ und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03060 2
Science‐Fiction‐Stories 38 von Harlan Ellison Bruce McAllister Ursula K. LeGuin Fritz Leiber Herausgegeben von Walter Spiegl ein Ullstein Buch
INHALT Harlan Ellison
SEIN BESTER FREUND
6
Bruce McAllister HÖRT DIE STIMMEN
52
Ursula K. LeGuin NEUN TODE STIRBT DER LETZTE Fritz Leiber SCHIFF DER SCHATTEN
99
66
Harlan Ellison
SEIN BESTER FREUND 1 Mit Blood, meinem Hund, war ich ausgegangen. Es war eine der Wochen, in denen er mich zu ärgern pflegte: dauernd nannte er mich Albert. Er hielt das für unerhört lustig; wie von Payson Terhune: ha ha. Ich hatte ein paar Wasserratten für ihn gefangen, die großen grünen und ockerfarbenen, und einen manikürten Pudel, der irgendwie von der Leine gekommen war; er hatte ganz gut gegessen, aber er war mürrisch. »Los, du Hundesohn«, sagte ich, »such mir 'ne Biene.« Blood lachte nur in sich hinein. »Du bist komisch, wenn's dich überkommt«, sagte er. Komisch genug vielleicht, um ihm einen Tritt in den Hintern zu verpassen, dieser Ausgeburt eines Abfallhaufens. »Such was! Es ist mein Ernst!« »Schäm dich, Albert. Es heißt nicht ›Such was‹, sondern ›Suche etwas‹, das habe ich dir schon beigebracht.« Er wußte, daß ich mit meiner Geduld am Ende war. Mißmutig setzte er sich auf die brüchigen Reste des Randsteins; seine Augenlider flatterten und gingen dann zu, sein haariger Körper spannte sich. Nach einer Weile rutschten seine Vorderpfoten kratzend nach vorne, bis er flach dalag, den Kopf auf den ausgestreckten Pfoten. Die Spannung war gewichen, und er begann zu zittern, fast so, wie er immer zitterte, bevor er einen Floh zu fangen versuchte. So ging es fast eine Viertelstunde weiter; schließlich rollte er sich herum und lag auf dem Rücken, seinen nackten Bauch zum dunklen Nachthimmel gekehrt, die Vorderpfoten aneinandergelegt, die Hinterbeine weit von sich gestreckt. »Tut mir leid«, sagte er. »Es ist nichts da.« Ich hätte böse werden und ihn treten können, aber er hatte doch wenigstens einen Versuch gemacht. Glücklich war ich nicht. Mir war wirklich nach einem Mädchen, doch was konnte ich machen? »Gut«, sagte ich resigniert, »vergessen wir's.«
Er wälzte sich auf die Seite und sprang auf. »Was willst du tun?« fragte er. »Da kann man nicht viel tun, oder?« sagte ich sarkastisch. Unverschämt demütig setzte er sich wieder zu meinen Füßen nieder. Ich lehnte mich an den geschmolzenen Stummel eines Laternenpfostens und dachte an Mädchen. Es war schmerzlich. Blood sah sich auf der Straße um, betrachtete die Tümpel in den unkrautüberwucherten Kratern, und sagte nichts. Er wartete darauf, daß ich sagen würde: Okay, gehen wir. Kino mochte er genauso gern wie ich. »Okay, gehen wir.« Er sprang auf und folgte mir mit hängender Zunge, schwer atmend vor Glück. Na los, lach nur, du Eiersauger. Popcorn kriegst du nicht. »Our Gang« war der Name eines Roverpaks, das mit simplem Plündern nie zurechtgekommen war; sie hatten sich für Komfort entschieden, den sie sich auf gerissene Weise verschafften. Die Burschen standen auf Kino, und sie hatten sich das Gebiet genommen, wo das MetropolTheater stand. Niemand machte es ihnen streitig, denn wir alle brauchten das Kino, und solange »Our Gang« an Filme herankam und für die Vorführung sorgte, war sie ein Segen, sogar für Einzelgänger wie mich und Blood. Besonders für Einzelgänger wie uns, die zu keiner Gruppe gehörten. Am Eingang mußte ich meine .45er und die Browning .22 lang abgeben. Ich kaufte die Karten; es kostete eine Büchse Oscar Meyer Philadelphia Scrapple für mich und eine Dose Sardinen für Blood. Dann sah ich an der Decke Wasser aus einem geborstenen Rohr tropfen, und ich sagte dem Kerl an der Garderobe, einem Burschen mit großen Warzen überall im Gesicht, er solle meine Waffen an eine trockene Stelle legen. Er reagierte nicht. »He, du Armleuchter, leg mein Zeug auf die andere Seite… das rostet schnell… wenn da Flecken dran sind, Mann, ich brech dir die Knochen!« Er wollte mopsig werden, schaute zu den Wachtposten mit den Maschinenpistolen hin; wenn die mich hinauswarfen, war mein Eintrittspreis futsch, das wußte er, ob ich nun drinnen war oder nicht. Aber den Wachen war nicht nach Krawall zumute; sie gaben ihm ein Zeichen, nachzugeben und zu tun, was ich ihm sagte. Also stellte der Armleuchter
meine Browning ans andere Ende des Regals und hängte meine .45er darunter auf. Blood und ich gingen in den Vorführsaal. »Ich möchte Popcorn.« »Kommt nicht in Frage.« »Los, Albert, kauf mir Popcorn.« »Ich bin blank. Du kannst ohne Popcorn leben.« »Du bist ein Scheißkerl.« Ich zuckte nur die Achseln: wenn schon. Wir traten ein. Es war gerammelt voll. Ich war froh, daß die Wachen mir nur die Kanonen weggenommen hatten. Das Messer und das Stilett, die in ihren geölten Scheiden auf meinem Rücken unter meinem Hemd hingen, fühlten sich beruhigend an. Blood fand zwei Plätze nebeneinander, und wir zwängten uns in die Reihe, stiegen auf Füße. Jemand fluchte; ich kümmerte mich nicht drum. Ein Dobermann knurrte. Bloods Haare sträubten sich, aber er beruhigte sich wieder. Irgendwelche Stänkerer gab es immer, selbst auf so neutralem Gebiet wie dem Metropol. (Ich hatte mal von einer Schlägerei im alten Loew's Granada gehört, im Süden der Stadt. Zum Schluß waren zehn oder zwölf Rover mitsamt ihren Kötern tot, das Theater brannte nieder, und ein paar gute JamesCagney-Filme gingen dabei drauf. Damals haben sich die Roverpaks geeinigt, daß in Kinos nichts vorkommen darf. Jetzt war es besser, aber irgend jemand spielte immer mal wieder verrückt.) Es gab drei Filme. Raw Deal mit Dennis O'Keefe, Claire Trevor, Raymond Burr und Marsha Hunt war der älteste. Er stammte aus dem Jahr 1948 und war jetzt sechsundsiebzig Jahre alt; ein Wunder, daß der verdammte Streifen immer noch zusammenhielt. Die Perforation war völlig ausgefranst; dauernd mußten sie den Film anhalten, um ihn wieder einzufädeln. Aber es war ein guter Film. Es ging um diesen Solo, den sein Roverpak übers Ohr gehauen hatte und der sich jetzt rächen wollte. Gangster, Banden, Schlägereien. Wirklich dufte. Der zweite Film war aus der Zeit des dritten Weltkriegs. Er war gedreht im Jahr '07, zwei Jahre vor meiner Geburt, und hieß »Stinkender Chinese«. Hauptsächlich Nahkampf mit Bauchaufschlitzen und so. Eine
tolle Szene gab es mit Windhunden, die Napalmwerfer aufgeschnallt hatten; die brannten eine Chinesenstadt nieder. Blood gefiel das sehr, obwohl wir den Film schon früher gesehen hatten. Er hatte so eine blöde Idee, daß das seine Vorfahren waren. »Möchtest du auch ein Baby grillen, du Held?« flüsterte ich. Er reagierte nicht, rutschte nur auf seinem Sitz herum und schaute gespannt zu, wie die Hunde sich durch die Stadt arbeiteten. Ich fand alles sterbenslangweilig. Ich wartete auf den Hauptfilm. Endlich war es so weit. Es war ein prima Film aus den späten siebziger Jahren. Hieß »Schwarzes Leder, blondes Haar«. Ging gleich gut los. Da waren zwei nackte Blondinen in schwarzen Lederkorsetts und Schnürstiefeln bis ganz hinauf, die hatten Masken und Peitschen und schmissen so einen Kerl um, und eine hockte sich auf seinen Kopf, und die andere machte sich über ihn her. Das brachte mich richtig auf Hundert. Überall um mich herum manipulierten Einzelgänger an sich selbst. Gerade wollte ich mich auch ein bißchen aufschaukeln, als Blood sich herüberlehnte und mir, leise wie immer, wenn er etwas Besonderem auf der Spur war, zuflüsterte: »Hier ist 'ne Biene drin.« »Du spinnst«, sagte ich. »Ich sag dir, daß ich sie wittere. Sie ist in diesem Raum, Mann.« Unauffällig schaute ich mich um. Fast jeder Platz war von Solos oder ihren Hunden besetzt. Hätte sich 'ne Biene hier 'reingeschlichen, dann wäre die Hölle los gewesen. Bevor irgendeiner sie sich hätte schnappen können, hätte man sie in Stücke gerissen. »Wo?« fragte ich leise. Um mich herum stöhnten die Solos auf, als die Blondinen ihre Masken abnahmen und die eine von ihnen diesen mageren Kerl mit einem künstlichen Pimmel bearbeitete, den sie sich um die Hüften geschnallt hatte. »Laß mir eine Minute Zeit«, sagte Blood. Er war jetzt ganz konzentriert, sein Körper gespannt wie ein Drahtseil. Seine Augen waren zu, seine Lefzen zitterten. Es war möglich. Vielleicht war es wirklich möglich. Ich wußte, daß es manchmal wirklich öde Filme gab, das Zeug, das die zwischen 1930 und 1940 gemacht hatten, so furchtbar saubere Stücke, wo sogar verheiratete
Leute in getrennten Betten schliefen. Diese Filme mit Myrna Loy und George Brent zum Beispiel. Und ich wußte, daß manchmal eine Biene aus den besseren Bezirken hierher kam, um mal zu sehen, was ein wirklich haariger Film ist. Davon hatte ich gehört, aber selbst gesehen hatte ich so was noch nicht. Und daß eine ins Metropol käme, war besonders unwahrscheinlich. Ins Metropol kam eine Menge schräger Vögel. Nicht, daß ich ein besonderes Vorurteil hätte gegen Jungs, die auf Jungs scharf sind… verdammt, ich kann's verstehen. 's gibt einfach zu wenig Bienen. Aber ich kann's nun einmal nicht leiden, wenn sich so ein Bürschchen an dich hinhängt, ständig eifersüchtig ist und laufend neue Wünsche hat, die du ihm erfüllen mußt, bloß damit er dann den Hintern hinhält. Das ist genauso schlimm wie wenn dir 'n Mädchen am Bein hängt. Hat auch viel böses Blut und Kampf in die Roverpaks gebracht. Drum hab ich mich auch immer da 'rausgehalten. Na, nicht immer, aber lange Zeit. Jedenfalls, bei so viel warmer Luft im Metropol – ich glaubte nicht, daß sich ein Mädchen da 'reinwagen würde. Käme nur darauf an, wer sie zuerst auseinandernehmen würde, die Verkehrten oder die Normalen. Und wenn sie wirklich da war, warum konnte sie keiner von den anderen Hunden wittern? »Drei Reihen vor uns«, sagte Blood. »Eckplatz. Klamotten wie ein Solo.« »Wieso kannst du sie schnuppern, wenn's kein anderer Hund kann?« »Du vergißt, wer ich bin, Albert.« »Ich hab's nicht vergessen; ich kann's nur nicht glauben.« Vielleicht; und im Grunde glaubte ich's wahrscheinlich doch. Wenn man so doof gewesen war wie ich und von einem Hund wie Blood soviel beigebracht bekommen hatte, dann glaubte man ihm schließlich alles. Man streitet sich nicht mit seinem Lehrer. Jedenfalls nicht, wenn er einem Lesen und Schreiben beigebracht hat und Zusammenzählen und Abziehen und auch sonst noch alles, was man früher wissen mußte, wenn man für schlau gehalten werden wollte. Heutzutage bedeutet das alles nicht mehr sehr viel, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn man so was weiß.
(Lesen ist ja 'ne recht nützliche Sache. Sehr praktisch, zum Beispiel wenn man irgendwo Konservendosen findet, sagen wir in einem ausgebombten Supermarkt; da ist es leichter, das Richtige 'rauszufinden, wenn nicht zufällig Bilder auf den Etiketten sind. Sonst hätte ich 'n paarmal schon rote Rüben genommen. Mann, ich hasse rote Rüben.) Also hab ich ihm wohl wirklich geglaubt, daß er diese Biene riechen konnte und kein anderer Köter. Hunderttausendmal hatte er mir das alles erzählt. Geschichte nannte er das. Mensch, so blöd bin ich nicht. Ich wußte, was Geschichte ist. All das Zeug, was früher passiert ist. Aber ich mochte es, wenn er mir aus der Geschichte erzählte, sonst hätte ich es in einem von diesen dämlichen Büchern lesen müssen, die er dauernd angeschleppt brachte. Und die spezielle Geschichte handelte nur von ihm, und so kriegte ich das immer und immer wieder zu hören, bis ich's auswendig konnte, Wort für Wort. Und wenn so ein Köter dir alles beigebracht hat, was du weißt, und er sagt dir was so in vollem Ernst, dann glaubt man es auch schließlich. Aber wenn mich dieser Beinheber direkt danach gefragt hätte, zugegeben hätt ich's nie.
2 Erzählt hatte er mir folgendes: Vor über fünfzig Jahren, bevor der dritte Weltkrieg überhaupt richtig in Gang kam, gab es in Los Angeles einen Mann namens Buesing. Er züchtete alle Arten von Wach- und Spürhunden, Dobermanns, Dänische Doggen, Schnauzer, Japanische Akitas. Er hatte eine vierjährige Deutsche Schäferhündin, die Ginger hieß. Sie arbeitete in Los Angeles für die Drogenfahnder. Konnte Marihuana riechen. Ganz gleich, wie gut es versteckt war. Einmal machten sie einen Test mit ihr: In einem Geschäft für Autozubehör gab es 25.000 einzelne Packungen und Schachteln. In fünf davon hatte man Marihuana getan, in Kunststoff eingeschweißt, dann in Alu-Folie und Packpapier eingewickelt. In sieben Minuten hatte Ginger alle fünf Päckchen gefunden. Zur selben Zeit hatten Zytologen in Santa Barbara, hundertfünfzig Kilometer weiter nördlich, Delphinen Rückenmarksflüssigkeit abgezapft und sie Chacma-Pavianen und Hunden injiziert. Umwandlungstherapien und
Gewebsaufpflanzungen waren vorgenommen worden. Das erste gelungene Produkt dieses zytologischen Experiments war ein zweijähriger männlicher Puli namens Ahbu, der Sinneseindrücke telepathisch übertragen konnte. Kreuzungen und fortgesetzte Experimente hatten zu den ersten Kampfhunden geführt, gerade rechtzeitig für den dritten Weltkrieg. Telepathiefähig auf kurze Distanzen, gelehrig, fähig, in Verbindung mit ihren menschlichen Führern Benzin, Truppen, Giftgas oder radioaktive Strahlung aufzuspüren, waren sie die gefürchteten Kommandotrupps einer neuen Art von Kriegsführung geworden. Die Züchtung hatte ihre sensorischen Fähigkeiten verstärkt. Dobermanns, Greyhounds, Akitas, Pulis und Schnauzer entwickelten immer stärkere telepathische Anlagen. Ginger und Ahbu waren Bloods Vorfahren gewesen. Tausendmal hatte er mir das erzählt, genau in der Art und mit den Worten, wie es ihm erzählt worden war. Bis zu diesem Augenblick, hier im Kino, hatte ich ihm das nie richtig geglaubt. Vielleicht war wirklich was Besonderes an diesem kleinen Bastard. Angestrengt versuchte ich, zu erkennen, was da drei Reihen vor uns auf dem Eckplatz saß, aber es war fast nichts zu unterscheiden. Der Solo hatte seine (ihre?) Kappe weit nach unten, die Kunstpelzjacke weit nach oben gezogen. »Bist du sicher?« »Ganz sicher. Es ist ein Mädchen.« »Wenn sie eins ist, dann fummelt sie aber genauso an sich herum wie ein Junge.« Blood kicherte. »Welche Überraschung«, sagte er sarkastisch. Der rätselhafte Solo sah sich Raw Deal noch einmal an. Wenn es ein Mädchen war, leuchtete das ein. Die meisten Solos und alle Mitglieder von Roverpaks verließen das Kino nach dem Hauptfilm. Neue Besucher kamen nicht viele, die Straßen würden sich leeren, und er/sie konnte dahin zurückgehen, woher auch immer er/sie gekommen war. Ich sah mir Raw Deal auch nochmal an. Blood schlief ein. Als der mysteriöse Solo aufstand, gab ich ihm/ihr Zeit, Waffen abzuholen, falls welche abgegeben worden waren, und das Haus zu verlassen. Dann zog ich Blood
an seinem großen, zottigen Ohr und sagte »Los geht's!« Hinter mir schlurfte er den Mittelgang entlang. Ich holte meine Kanonen und schaute auf die Straße hinaus. Leer. »So, du Spürnase«, sagte ich, »wo ist er hingegangen?« »Sie. Nach rechts.« Ich lud die Browning durch und ging los. In den ausgebombten Ruinen war niemand zu sehen. Dieser Teil der Stadt war lausig, wirklich mies. Aber »Our Gang« betrieb ja das Metropol, und so brauchten sie keine anderen Gebäude zu reparieren, um einen Lebensunterhalt zu haben. Es war direkt komisch: Die »Dragons« mußten ein ganzes Kraftwerk am Laufen halten, um Tribute von den andren Roverpaks kassieren zu können; »Ted's Clique« hatte sich um das Wasserreservoir zu kümmern; die »Bastinados« arbeiteten in den Marihuanagärten; die »Barbados Blacks« verloren bei der Beseitigung der radioaktiven Abfälle jedes Jahr ein paar Dutzend Mitglieder; und »Our Gang« mußte dieses Kino betreiben. Wer auch immer ihr Anführer gewesen war, damals vor vielen Jahren, als sich die plündernden Solos zu Roverpaks zusammengeschlossen hatten, eines mußte man diesem Anführer lassen: er war ein verdammt schlauer Kopf gewesen. Er wußte, was die Leute brauchen. »Hier ist sie abgebogen«, sagte Blood. Ich folgte ihm, als er auf den Stadtrand und die bläulich-grüne Strahlung zuzutrotten begann, die immer noch von den Hügeln herüberflackerte. Jetzt wußte ich, daß er recht hatte. Das einzige, was es hier gab, war der Zugangsschacht zum Untergrund. Es war wirklich ein Mädchen. Meine Hinterbacken zogen sich zusammen, wenn ich daran dachte. Ich würd 'ne Nummer schieben. Fast einen Monat war es jetzt her, daß Blood diese Solo-Braut in einem Kaufhauskeller aufgespürt hatte. Sie war schmutzig und verlaust gewesen, aber jedenfalls eine Frau, und nachdem ich sie gefesselt und ihr ein paar über den Schädel gegeben hatte, war sie sogar beinahe vernünftig geworden. Es hatte ihr sogar gefallen, wenn sie auch auf mich spuckte und schrie, daß sie mich umbringen würde, wenn sie je wieder loskäme. Ich ließ sie gefesselt zurück, nur
zur Sicherheit. Als ich vorletzte Woche wieder hinging und nachsah, war sie nicht mehr da. »Vorsicht«, sagte Blood und lief um einen Krater, der in der Dunkelheit fast unsichtbar war. Im Krater rührte sich etwas. Während wir durch das Niemandsland streiften, wurde mir klar, warum fast alle Solos oder Mitglieder von Roverpaks Jungen waren. Die meisten Mädchen waren im Krieg getötet worden, so wie das in Kriegen immer ging… zumindest hatte Blood mir das erzählt. Was jetzt geboren wurde, war nur in seltenen Fällen entweder männlich oder weiblich; man mußte es an die Wand schmettern, sobald es das Licht der Welt erblickte. Die wenigen Mädchen, die nicht mit der Mittelschicht in den Untergrund gegangen waren, waren harte Einzelgängerinnen wie die im Kaufhauskeller, und statt dich 'reinzulassen, konnten sie dir genauso gut mit 'nem Rasiermesser was abschneiden. 'ne Braut zu finden wurde schwerer und schwerer, je älter ich wurde. Aber von Zeit zu Zeit bekam es eine satt, Roverpak-Eigentum zu sein; oder fünf oder sechs Roverpaks machten einen Raubzug und erwischten ein ahnungsloses Weib aus dem Untergrund; oder eine MittelstandsBiene aus dem Untergrund kriegte heiße Hosen und wollte mal 'nen scharfen Film sehen, wie dieses Mal. Ich würde 'ne Braut haben. Junge, ich konnte es kaum erwarten!
3 Hier draußen gab es nichts als die Fassaden zerstörter Häuser. Ein ganzer Block war zermalmt worden, wie wenn eine Stahlpresse sich vom Himmel heruntergesenkt hätte und mit lautem Krachen alles zu Pulver zermahlen hätte. Das Mädchen war ängstlich und scheu, das merkte ich. Sie ging vorsichtig und zögernd, schaute nach links und rechts und über die Schulter zurück. Sie wußte, daß sie sich in gefährlichem Gelände bewegte. Mann, wenn sie nur gewußt hätte, wie gefährlich. Ein einzelnes Gebäude stand am Ende des zerstörten Blocks, als ob irgendein Zufall es übriggelassen hätte. Sie huschte hinein, und nach einer
Minute sah ich einen Lichtstrahl, der sich bewegte. Taschenlampe? Vielleicht. Blood und ich überquerten die Straße und kamen in die Finsternis des Gebäudeschattens. Es war der Rest eines Hauses des CVJM. Das bedeutete »Christlicher Verein Junger Männer.« Blood hatte mir das Lesen beigebracht. Aber was zum Teufel war ein christlicher Verein junger Männer? Wer lesen konnte, sah sich manchmal rätselhafteren Problemen gegenüber als ein Analphabet. Ich wollte nicht, daß sie wieder herauskam; da drinnen war gerade der rechte Platz, um sie zu vernaschen, und so ließ ich Blood gleich neben der Eingangstreppe Wache halten und ging hinter zur Rückseite. Durch die Explosion waren keine Türen und Fenster mehr da; es war kein großes Kunststück, hineinzukommen. Ich zog mich zu einer Fensterleiste hinauf und ließ mich innen zu Boden gleiten. Es war dunkel; nichts war zu hören außer den Geräuschen von ihr, als sie jetzt auf der anderen Seite in dem alten Gebäude herumschlich. Ich wollte alle Risiken ausschalten, hängte die Browning am Tragriemen über die Schulter und holte die .45er Automatik heraus. Vorsichtig ging ich durch den Raum. Es schien ein Umkleideraum gewesen zu sein. Glas und Trümmer aller Art waren über den Boden verstreut, und von einer Reihe metallener Spinde hatte sich die Farbe in Blasen gelöst; vor vielen Jahren hatte der Explosionsblitz sie durchs Fenster erwischt. Auf lautlosen Gummisohlen schlich ich weiter. Die Tür hing nur noch an einer Angel; ich stieg darüber und stand vor dem Swimmingpool. Das große Becken war leer, am flachen Ende waren die Kacheln aufgerissen. Es stank fürchterlich; kein Wunder. Entlang der Wand lagen tote Kerle, oder was von ihnen noch übrig war. Irgend jemand hatte sie aufgeschichtet, aber nicht begraben. Ich hielt mein großes Taschentuch vor Nase und Mund und ging weiter. Hinüber zur anderen Seite des Beckens und dann durch einen Korridor mit geborstenen Leuchtröhren an der Decke. Die Sicht war jetzt besser: Mondlicht fiel durch die Fenster und ein Loch in der Decke. Ich konnte sie jetzt gut hören, gleich hinter der Tür am Ende des Korridors. Ich hielt mich ganz nahe an der Wand und kam bis zur Tür. Sie stand einen Spalt offen,
steckte jedoch am Boden in einem Haufen von Holztrümmern und Putz fest. Wenn ich sie zu öffnen versuchte, würde das Krach machen, soviel war sicher. Ich mußte den richtigen Augenblick abwarten. An die Wand gepreßt, versuchte ich zu ergründen, was sie da drinnen tat. Es war eine große Turnhalle; Kletterseile hingen von der Decke herab. Auf einem Seitpferd hatte sie eine große, achtzellige Handlampe abgestellt. Da waren Barren und ein zweieinhalb Meter hohes Reck, dessen Stahlstange schon ganz verrostet war. Dann gab es Ringe, ein Trampolin und einen großen hölzernen Schwebebalken. Auf einer Seite waren Kletterstangen, Gymnastikbänke, horizontale und senkrechte Leitern und ein Stapel Sprungkästen. Diesen Ort wollte ich mir merken. Er war besser zum Training geeignet als das, was ich mir auf einem alten Schrottplatz zusammengebaut hatte. Man muß in Form bleiben, wenn man ein Solo sein will. Jetzt hatte sie ihre Verkleidung abgelegt und stand fröstelnd da. Ja, es war kalt, und ich konnte sehen, daß sie überall eine Gänsehaut hatte. Sie war vielleicht fünf, sechs oder sieben, mit hübschen Brüsten und etwas dünnen Beinen. Sie bürstete ihr Haar aus, das ihr weit über den Rücken hinunterhing. Im Schein der Handlampe war nicht genau zu erkennen, ob es rot oder brünett war, aber blond war es nicht, und das war gut, weil ich auf Rothaarige stand. Aber hübsche Brüste hatte sie. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen; ihr Haar hing weich und wellig herab und verdeckte ihr Profil. Die Klamotten, die sie getragen hatte, lagen auf dem Boden, und was sie jetzt anziehen wollte, lag auf dem Seitpferd. Sie stand in kleinen Schuhen mit irgendwie komischen Absätzen. Ich konnte mich nicht bewegen. Plötzlich merkte ich, daß ich mich nicht bewegen konnte. Sie war hübsch, wirklich hübsch. So wie sie dastand, wie sich ihre Hüften nach außen wölbten und ihr Bauch nach innen, wie die Muskeln an den Seiten ihrer Brüste spielten, wenn sie die Arme hob, um ihr Haar herabzubürsten, gefiel sie mir überaus gut. Es war einfach ein verrücktes Gefühl, ihr so zuzusehen. Sah eben so richtig nach Frau aus. Gefiel mir großartig. Tagelang hätte ich ihr so zuschauen können. Dagegen waren alle anderen Weiber, die Blood für mich aufgespürt hatte, Vogelscheuchen gewe-
sen. Auch die großen Bienen in den scharfen Filmen. Die hier war anders, irgendwie sanft und weich, sogar mit ihrer Gänsehaut. Ich hätte ihr die ganze Nacht zusehen können. Sie legte die Bürste weg, nahm ein Höschen von dem Kleiderhaufen und schlüpfte hinein. Dann nahm sie ihren BH und legte ihn an. Ich hatte nicht gewußt, wie das gemacht wird. Sie zog in verkehrt herum an und machte einen Haken zu. Dann drehte sie ihn herum, bis die Körbchen vorn waren, rutschte hinein, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite, und zog dann die Träger über die Schultern. Dann griff sie nach dem Kleid, und ich schob etwas von dem Holz und dem Putz auf dem Boden beiseite und packte die Tür, um sie aufzureißen. Sie hatte die Arme erhoben, das Kleid über dem Kopf, und als sie hineinschlüpfen wollte und sich für eine Moment im Stoff verfing, riß ich die Tür auf. Polternd fielen Holz- und Mörtelstücke herab. Ich sprang in die Turnhalle und war über ihr, bevor sie das Kleid herunterziehen konnte. Sie begann zu schreien; mit einem Ruck riß ich ihr das Kleid herunter. Für sie kam alles so schnell, daß sie nicht wußte, was das Knirschen der Tür und das Krachen zu bedeuten hatte. Ihr Gesicht war wild. Einfach wild. Große Augen: die Farbe konnte ich nicht erkennen, weil sie im Schatten waren. Wirklich schöne Gesichtszüge, ein großer Mund, kleine Nase, Backenknochen genau wie meine, richtig hoch und vorstehend, und ein Grübchen in ihrer rechten Wange. Völlig erschreckt starrte sie mich an. Und dann – und das ist wirklich verrückt – hatte ich das Gefühl, daß ich etwas zu ihr sagen sollte. Ich weiß nicht was. Einfach irgend etwas. Daß ich sie so erschreckt hatte, war mir unangenehm, aber was zum Teufel sollte ich dagegen tun. Ich meine, immerhin war ich ja drauf und dran, sie zu vergewaltigen, und ich konnte doch nicht gut zu ihr sagen, sie solle sich nichts daraus machen. Außerdem war sie aus eigenem Antrieb ins Metropol gekommen. Trotzdem, irgendwie wollte ich sagen: hab keine Angst, ich möcht dich nur vernaschen. (Das war mir noch nie passiert. Ich hatte nie was zu 'nem Mädchen sagen wollen, nur drauf, das war alles.) Aber das ging vorüber, und ich stellte mein Bein hinter ihres und schubste sie nach hinten, und sie ging zu Boden. Ich legte die .45er auf
sie an, und ihr Mund öffnete sich wie ein kleines o. »Ich werde jetzt 'rübergehen und eine von diesen Bodenmatten holen, damit es besser ist, bequem, ja? Eine Bewegung, und ich schieß' Dir ein Bein weg, und dann passiert genau das Gleiche, nur daß du ein Bein weniger hast.« Ich wartete, bis sie ein Zeichen gab, daß sie verstanden hatte, und schließlich nickte sie ganz langsam. Ich hielt die Automatik auf sie gerichtet, ging hinüber zu dem staubigen Mattenstapel und zog eine herunter. Ich schleifte sie zu ihr hinüber und drehte die Matte um, so daß die sauberere Seite oben war, und bedeutete ihr mit einer Bewegung meiner .45er, sie solle darauf gehen. Dann saß sie auf der Matte, die Hände hinter dem Rücken, die Knie angezogen, und starrte mich an. Ich machte meine Hose auf und begann sie herunterzuziehen, als ich ihren seltsamen Blick bemerkte. Ich nahm die Hände von den Jeans. »Was schaust du denn so?« Ich war sauer. Ich weiß nicht warum, aber ich war wirklich sauer. »Wie heißt du?« fragte sie. Ihre Stimme war sehr sanft, sehr weich, als käme sie aus einem Hals, der mit Pelz besetzt war. Sie schaute mich immer noch an und wartete auf eine Antwort. »Vic«, sagte ich. Sie sah drein, als wartete sie auf noch etwas. »Und wie noch?« Einen Moment wußte ich nicht, was sie meinte, dann verstand ich. »Vic. Nur Vic. Das ist alles.« »Ich meine, wie hießen dein Vater und deine Mutter?« Da begann ich zu lachen und fing wieder an, meine Jeans herunterzuziehen. »Mann, bist du ein dummes Luder«, sagte ich und lachte nochmal. Das schien sie zu kränken. Und das machte mich wieder sauer. »Schau nicht so, oder ich schlag' dir die Zähne ein!« Sie faltete die Hände auf ihrem Schoß. Ich hatte die Hose bis zu den Knöcheln unten. Über die Schuhe gingen sie nicht. Ich mußte auf einem Bein balancieren und den Schuh vom anderen Fuß herunterziehen. Es war nicht einfach, mit der .45er auf sie zu zielen und gleichzeitig den Schuh herunterzubekommen. Aber ich brachte es fertig.
Jetzt war ich nackt bis zum Nabel, und sie beugte sich etwas nach vorn, die Beine gekreuzt, die Hände auf ihrem Schoß. »Zieh dich aus«, sagte ich. Einen Moment lang rührte sie sich nicht, und ich glaubte schon, daß sie Schwierigkeiten machen würde. Aber dann griff sie nach hinten und öffnete ihren BH. Dann lehnte sie sich zurück und schlüpfte aus dem Höschen. Plötzlich sah sie nicht mehr erschreckt aus. Sie schaute mich eindringlich an, und jetzt konnte ich sehen, daß sie blaue Augen hatte. Und nun kommt das wirklich Verrückte… Ich konnte es nicht tun. Ich meine, nicht so. Ich meine, ich wollte es tun, aber sie war so weich und hübsch und sah mich immer noch so an, und kein Solo würde mir das glauben, aber ich stand da wie ein Trottel und hörte mich zu ihr sprechen, mit nur einem Schuh an und die Hose um die Knöchel. »Wie heißt du denn?« »Quilla June Holmes.« »Komischer Name.« »Meine Mutter sagt, hinten in Oklahoma ist er gar nicht so ungewöhnlich.« »Kommen deine Leute von dort her?« Sie nickte. »Vor dem dritten Krieg.« »Die müssen schon ganz schön alt sein.« »Ja, aber sie sind in Ordnung. Glaube ich.« Ich sah, daß sie fror, denn sie zitterte. »Na«, sagte ich und wollte mich neben ihr niederlassen, »jetzt sollten wir wohl…« Zum Teufel! Der verdammte Blood! Genau in diesem Moment kam er hereingeschossen, fegte durch den Dreck und wirbelte Staub auf, bis er vor uns mit Mühe zum Stehen kam. »Was soll das?« fragte ich. »Mit wem redest du?« wollte das Mädchen wissen. »Mit ihm. Blood.« »Mit dem Hund!?!«
Blood starrte sie an und beachtete sie dann nicht mehr. Er wollte etwas sagen, aber das Mädchen unterbrach ihn. »Dann stimmt es also, was man hört… Ihr könnt alle mit Tieren reden…« »Wollen wir sie die ganze Nacht quatschen lassen, oder möchtest du wissen, warum ich hier bin?« »Okay, warum bist du hier?« »Es ist dicke Luft, Albert.« »Mach schon; tu nicht wie 'ne Mickymaus. Was gibt's?« Blood drehte seinen Kopf und schaute zur Eingangstür hin. »Roverpak. Haben das Haus umstellt. Es sind fünfzehn oder zwanzig, vielleicht mehr.« »Woher zum Teufel wußten sie, daß wir hier sind?« Blood ließ den Kopf hängen und sah betrübt drein. »Also?« »Irgendein anderer Köter muß sie im Kino gewittert haben.« »Großartig.« »Was jetzt?« »Wir halten sie uns vom Leib. Oder hast du einen besseren Vorschlag?« »Eigentlich schon.« Ich wartete. Er grinste. »Zieh die Hose hoch.«
4 Das Mädchen, diese Quilla June, war mehr oder weniger in Sicherheit. Aus dem Stapel Ringermatten hatte ich ihr eine Art Unterstand gebaut. Da würde sie nicht von einer verirrten Kugel getroffen werden, und wenn sie nicht direkt nach ihr suchten, würden sie sich auch nicht finden. Ich kletterte an einem der Seile hinauf, die von den Querträgern herunterhingen, und legte mich oben mit der Browning und einer Handvoll Magazine auf die Lauer. Ich wünschte, ich hätte ein Schnellfeuergewehr gehabt oder eine Maschinenpistole oder eine Thompson. Ich über-
prüfte die .45er, vergewisserte mich, daß das Magazin voll war, lud durch und legte die Reservemagazine vor mir auf den Träger. Ich hatte nach allen Richtungen freies Schußfeld. Blood lag im Schatten gleich neben der Eingangstür. Er hatte gemeint, ich solle, wenn möglich, zuerst die Hunde des Roverpaks ausschalten, falls sie welche dabei hatten. Das würde ihm freies Operationsfeld verschaffen. Das war die geringste meiner Sorgen. Ich hätte mich lieber in einem anderen Raum mit nur einem Eingang verschanzt, aber da ich nicht wußte, ob die Rovers nicht schon im Gebäude waren, mußte ich das Beste aus meiner jetzigen Lage machen. Alles war ruhig. Sogar diese Quilla June. Es hatte mich wertvolle Minuten gekostet, sie davon zu überzeugen, daß es für sie nur eines gab: sich zu verkriechen und keinen Mucks zu machen; schließlich war sie mit mir immer noch besser dran als mit zwanzig von denen. »Wenn du Mama und Papa je wiedersehen willst«, hatte ich sie gewarnt. Daraufhin machte sie keine Schwierigkeiten mehr und verzog sich unter ihren Mattenstapel. Stille. Dann hörte ich zwei Dinge gleichzeitig. Hinten beim Swimmingpool knirschten Stiefelsohlen auf dem Mörtel. Ganz leise. Und von der Eingangstür her hörte ich, wie mit einem metallenen Gegenstand gegen Holz geschlagen wurde. Sie wollten es also von zwei Seiten her versuchen. Nun, ich war bereit. Wieder Stille. Ich visierte mit der Browning die Tür zur Schwimmhalle an. Sie war noch offen von vorhin. Angenommen, er war eins fünfundsiebzig groß; wenn ich nicht ganz einen halben Meter tiefer hielt, würde ich ihn in die Brust treffen. Vor langer Zeit schon hatte ich gelernt, daß man nicht auf den Kopf zielt. Man muß auf den breitesten Teil des Körpers halten: die Brust und den Bauch. Auf den Rumpf. Plötzlich hörte ich draußen einen Hund bellen, und aus der Dunkelheit löste sich etwas und bewegte sich in die Halle herein. Dicht an Blood vorbei. Meine Browning bewegte sich nicht. Der Rover schob sich an der Wand entlang. Dann holte er aus und warf irgend etwas – einen Stein
oder ein Eisenstück – in den Raum, um mein Feuer darauf zu lenken. Meine Browning bewegte sich nicht. Als der Gegenstand auf dem Boden aufgeschlagen war, sprangen zwei Rover durch die Tür zur Schwimmhalle, auf jeder Seite einer, die Gewehre schußbereit zum Streufeuer. Bevor sie loslegen konnten, drückte ich ab, zielte erneut und verpaßte auch dem anderen eine Kugel. Beide stürzten zu Boden. Es waren Kerntreffer, genau ins Herz. Peng, peng – da lagen sie schon; keiner bewegte sich. Der Kerl bei der anderen Tür fuhr herum, und schon war Blood über ihm. Einfach so, aus der Dunkelheit heraus, riiiip! Blood sprang über den Lauf seines im Anschlag gehaltenen Gewehrs hinweg und grub seine Fänge in den Hals des Rovers. Der Kerl schrie auf, Blood ließ sich wieder zurückfallen und hatte einen Brocken Fleisch von ihm im Maul. Der Bursche gab ein furchtbares Röcheln von sich und ging in die Knie. Ich jagte ihm eine Kugel in den Kopf, und er fiel nach vorn. Nicht schlecht. Wirklich gar nicht übel. Drei erledigt, und noch kannten die anderen unsere Position nicht. Blood hatte sich wieder in seine Stellung neben der Tür zurückgezogen. Er sagte nichts, aber ich wußte, daß er überlegte: vielleicht waren es drei von siebzehn, oder drei von zwanzig oder zweiundzwanzig. Wie sollte man das wissen; selbst wenn wir eine Woche hier festsaßen, würden wir nicht wissen, ob wir alle erwischt hatten, oder einige, oder sozusagen keine. Sie konnten wieder weggehen und sich vollaufen lassen, und mir konnten Munition und Verpflegung ausgehen, und das Mädchen, diese Quilla June, würde vielleicht weinen und mich ablenken, und das Tageslicht… und immer noch würden sie draußen liegen und warten, bis wir hungrig genug waren, um eine Dummheit zu begehen, oder bis uns die Munition ausging, und dann würden sie aufspringen und über uns herfallen. Ein Rover kam, so schnell er konnte, durch die Vordertür gerannt, machte einen Hechtsprung, landete auf den Schultern, überschlug sich, sprang wie ein Hase in eine andere Richtung und ließ drei Salven aus seinem Schnellfeuergewehr in verschiedenen Richtungen los, bevor ich ihn im Visier hatte. Dann war er so günstig unter mir, daß ich keine Gewehrpatrone zu verschwenden brauchte. Lautlos nahm ich die .45er und
schoß ihm in den Hinterkopf. Die Kugel drang ein, kam vorn wieder heraus und riß einen Großteil seines Gesichts mit. Er brach sofort zusammen. »Blood! Das Gewehr!« Er kam aus der Dunkelheit geschossen, packte es mit dem Maul und schleppte es hinüber zu dem Mattenhaufen in der entfernteren Ecke. Ein Arm wurde sichtbar, eine Hand ergriff das Gewehr, zog es hinein. Na, da war es wenigstens sicher, bis ich es brauchte. Tapferer kleiner Bastard. Blood lief wieder zu dem Toten und begann ihm den Munitionsgurt vom Leib zu zerren. Das dauerte einige Zeit; man hätte ihn durch die Tür oder durch eines der Fenster erwischen können, aber er schaffte es. Tapferer kleiner Bastard! Wenn wir hier je wieder 'rauskamen, mußte ich ihm was Gutes zu Fressen kaufen. Ich lächelte hier oben auf meinem Platz in der Dunkelheit: wenn es vorbei wäre, würde es kein Problem sein, ihm etwas Zartes zu besorgen. Das lag überall auf dem Boden der Halle verstreut. Gerade als Blood den Patronengurt in den Schatten schleifte, versuchten es zwei von ihnen mit ihren Hunden. Sie kamen durch eins der unteren Fenster, sprangen auf den Boden und liefen dann in entgegengesetzten Richtungen weiter, während die Hunde – ein erzscheußlicher Akita, so groß wie ein Haus, und ein scheißfarbener Dobermann – durch die Vordertür hereinschossen und in die anderen beiden Richtungen liefen. Ich erwischte einen, den Akita, mit der .45er. Der Dobermann hatte inzwischen Blood gepackt. Das Mündungsfeuer hatte meine Position verraten. Einer der Rover schoß aus der Hüfte, und .30-06 Stumpfspitzgeschosse spritzten von den Querträgern um mich her. Ich legte die Automatik weg, und als ich nach der Browning langte, wollte die Automatik vom Träger rutschen. Hastig griff ich danach, und das war meine Rettung. Als ich mich nach vorn bewegte, fiel die Pistole in die Tiefe, und der Rover feuerte auf die Stelle, wo ich eben noch gewesen war. Ich lag inzwischen mit hängenden Armen flach auf dem Träger, und der Aufschlag der Pistole auf dem Fußboden erschreckte ihn. Er feuerte auf das Geräusch, und genau in dem Augenblick hörte ich einen weiteren Schuß, aus einer Winchester, und der andere Rover, der sich in den Schatten geflüchtet hatte, fiel mit ei-
nem Riesenloch in der Brust nach vorn. Diese Quilla June hatte ihn von ihrem Versteck aus erledigt. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir darüber klar zu werden, was zum Teufel hier los war… Blood und der Dobermann wälzten sich übereinander und machten schreckliche Geräusche… der Rover mit der .30-06 feuerte noch einmal und traf die Mündung meiner Browning, die über den Träger hinausragte, und das Gewehr war weg. Jetzt lag ich waffenlos hier oben, und unten wartete im Schatten dieser Schweinekerl auf mich. Ein Schuß aus der Winchester, und der Rover feuerte in die Matten. Quilla June zog den Kopf ein, und ich wußte, daß ich vorläufig nicht mehr auf sie zählen konnte. Aber das war auch nicht nötig; in der Sekunde, während seine Aufmerksamkeit auf die Matten gerichtet war, packte ich das Kletterseil, schwang mich über den Träger und rutschte brüllend in die Tiefe. Das Seil war ins Pendeln geraten, und ich schwang mich hin und her, zappelnd wie ein Fisch an der Angel, was meinen Pendelbewegungen immer wieder eine andere Richtung gab. Der Hurenbock schoß weiter, versuchte mich zu treffen, aber ich entkam ihm immer wieder. Dann war sein Magazin leer, und ich schwang mich zurück, so weit ich nur konnte, sauste hinüber in sein Schattenversteck, ließ plötzlich das Seil los und sauste in die Ecke, und da war er, und ich stürzte auf ihn zu, warf mich über ihn und drückte meine Daumen in seine Augenhöhlen. Er heulte auf, und die Hunde heulten, und das Mädchen heulte, und ich schlug den Kopf dieses Kerls gegen den Boden, bis er sich nicht mehr rührte, und dann packte ich die leere .30-06er und schlug auf ihn ein, bis ich sicher war, von ihm nichts mehr befürchten zu müssen. Dann fand ich die .45er und erschoß den Dobermann. Blood rappelte sich auf und schüttelte sich. Er hatte ziemlich viel abbekommen. »Danke«, murmelte er und legte sich in der Ecke nieder, um seine Wunden zu lecken. Als ich nach Quilla June schaute, weinte sie. Wegen der Kerle, die wir getötet hatten. Hauptsächlich wegen dem, den sie getötet hatte. Sie wollte einfach nicht mit dem Flennen aufhören; schließlich knallte ich ihr eine und sagte, daß sie mein Leben gerettet habe, und das half ein bißchen.
Blood kam herübergehumpelt. »Wie sollen wir aus diesem Schlamassel wieder 'rauskommen, Albert?« »Laß mich überlegen.« Ich dachte nach und wußte, daß es hoffnungslos war. Wie viele wir auch erledigten, es würden immer neue kommen. Denn jetzt ging es um Macho. Um ihre Ehre. »Wie wär's mit einem Feuerchen?« meinte Blood. »Und wir hauen ab, wenn es brennt?« Ich schüttelte den Kopf. »Die haben sicher alles umstellt. Hat keinen Zweck.« »Und wenn wir nicht abhauen? Wenn wir verbrennen?« Ich schaute ihn an. Mutig, der Bursche… und gerissen wie ein Fuchs.
5 Wir sammelten alles Kleinholz und die Matten, die Leitern, die Sprungkästen, die Bänke, alles, was brennbar war, und türmten es an einer hölzernen Trennwand an einem Ende der Halle auf. Quilla June fand in einem Abstellraum etwas Petroleum, und wir zündeten den ganzen Haufen an. Dann folgten wir Blood zu der Stelle, die er uns im Gebäude ausfindig gemacht hatte. Es war der Kesselraum, tief unten im Keller. Wir kletterten alle in den leeren Kessel und schlossen die Klappe, ließen aber ein Entlüftungsloch offen. Eine Matte hatten wir mitgenommen und Munition, soviel wir schleppen konnten, und die Gewehre und Faustfeuerwaffen der Rover. »Kriegst du irgendwas mit?« fragte ich Blood. »Ein wenig. Nicht viel. Das Gebäude brennt nicht schlecht.« »Kannst du es feststellen, wenn sie sich teilen?« »Vielleicht. Sofern sie sich überhaupt teilen.« Ich sank zurück. Quilla June zitterte vor Aufregung und Angst. »Nur die Ruhe«, sagte ich zu ihr. »Bis zum Morgen fällt uns die Bude hier um die Ohren, und dann werden sie durch die Ruine gehen und eine Menge totes Fleisch finden, und vielleicht schauen sie nicht so genau nach, ob
ein Mädchen dabei ist. Und dann sind wir aus dem Schneider… wenn wir nicht hier drin ersticken.« Sie lächelte matt und versuchte, tapfer auszusehen. Sie war schon in Ordnung. Sie schloß die Augen, streckte sich auf der Matte aus und versuchte zu schlafen. Ich war hundemüde. Auch ich machte die Augen zu. »Kommst du zurecht?« fragte ich Blood. »Ich denke schon. Schlaf jetzt.« Die Augen immer noch geschlossen, nickte ich, und fiel auf die Seite. Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, war ich weg. Als ich wieder zu mir kam, hatte sich das Mädchen, diese Quilla June, unter meine Achsel gekuschelt, den Arm in tiefem Schlaf um meinen Körper gelegt. Ich konnte kaum atmen. Es war wie in einem Ofen, zum Teufel, wir saßen ja auch in einem Ofen. Meine Hand ging zur Wand des Kessels, aber die war so heiß, daß ich sie nicht berühren konnte. Blood war bei uns auf der Matratze. Diese Matte war das einzige, was uns davor bewahrte, regelrecht gebraten zu werden. Er schlief, den Kopf zwischen den Pfoten. Sie schlief auch, immer noch unbekleidet. Ich legte eine Hand auf ihre Brust. Sie war warm. Sie rührte sich und schmiegte sich noch enger an mich. Mein Blut begann zu pochen. Ich zog meine Jeans 'runter und rollte mich auf sie. Als sie merkte, daß ich ihre Beine auseinanderdrückte, wachte sie auf, doch da war es schon zu spät. »Nicht… nein… was tust du da… nein, bitte…« Aber sie war noch im Halbschlaf und geschwächt, und ich glaube sowieso nicht, daß sie sich widersetzen wollte. Als ich in sie eindrang, weinte sie ein bißchen, aber dann war es gut. Auf der Matte war Blut. Und Blood schlief ruhig weiter. Es war wirklich anders. Sonst, wenn Blood ein Weib für mich aufgespürt hatte, ging alles ruck, zuck! und ich haute ab, bevor was Schlimmes passieren konnte. Doch als sie kam, bäumte sie sich von der Matte auf und umarmte mich so fest, daß ich glaubte, sie würde mir die Rippen brechen, und dann ließ sie sich so langsam wieder nieder, so wie ich es mache, wenn ich in meiner selbstgebastelten Trainingshalle auf dem Schrottplatz Beinvorhalten übe. Und ihre Augen waren geschlossen, und sie sah gelöst aus. Und glücklich. Da gab's keinen Zweifel.
Wir taten es immer wieder, und nach einer Weile war sie die treibende Kraft, aber ich sagte nicht nein. Und dann lagen wir Seite an Seite und sprachen miteinander. Sie fragte mich, wie das denn mit Blood war, und ich erzählte ihr, wie die Kampfhunde telepathisch geworden waren und daß sie sich nicht mehr selbst ihre Nahrung erjagen konnten, so daß Solos und Roverpaks es für sie tun mußten, und wie geschickt Hunde wie Blood waren, Mädchen für Solos wie mich aufzuspüren. Sie sagte nichts dazu. Ich fragte, wie es im Untergrund sei, wo sie lebte. »Recht nett. Aber es ist immer sehr ruhig. Jedermann ist sehr höflich zu allen anderen. Es ist einfach eine kleine Stadt.« »Wo lebst du?« »In Topeka. Es ist ganz in der Nähe.« »Ja, ich weiß. Der Zugangsschacht ist keine tausend Meter von hier entfernt. Ich bin einmal hingegangen, um mich umzusehen.« »Bist du jemals unten gewesen?« »Nein. Aber ich glaube nicht, daß ich das tun möchte.« »Warum? Es ist sehr schön. Es würde dir gefallen.« »Schit.« »Das ist sehr grob.« »Ich bin sehr grob.« »Nicht immer.« Ich wurde allmählich böse. »Hör mal, was ist mit dir eigentlich los? Ich hab dich gepackt und schlecht behandelt und ein halbdutzendmal vergewaltigt; was also soll so gut an mir sein, äh? Was ist los mit dir? Hast du nicht genug Grips, um zu merken, wenn jemand…« Sie lächelte mich an. »Es hat mir nichts ausgemacht. Hat sogar Spaß gemacht. Möchtest du nochmal?« Ich war wirklich geschockt. Ich rutschte etwas weg von ihr. »Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir? Weißt du nicht, daß es einem Mädchen aus dem Untergrund bei den Solos wirklich übel ergehen kann? Weißt du
nicht, daß die Eltern dort unten ihre Töchter warnen: ›Geh nicht hinauf, sonst schnappen dich die dreckigen, schmierigen, haarigen Solos?‹ Weißt du das nicht?« Sie legte ihre Hand auf mein Bein und streichelte es aufwärts; ihre Fingerspitzen berührten mich nur ganz leicht, aber es erregte mich wieder. »Meine Eltern haben nie so was über Solos gesagt«, meinte sie. Dann zog sie mich wieder über sich und küßte mich, und wie von selbst war ich wieder in ihr. So ging es stundenlang. Nach einiger Zeit drehte Blood sich herum und sagte: »Ich werde jetzt nicht mehr so tun, als ob ich schliefe. Ich habe Hunger. Und alles tut mir weh.« Ich schob sie von mir und untersuchte ihn. Der Dobermann hatte ein Stück aus seinem rechten Ohr gerissen; er hatte eine lange Rißwunde am Maul, und sein Fell war auf einer Seite blutverkrustet. Es sah fürchterlich aus. »Meine Güte, Mann, du siehst schauderhaft aus«, sagte ich. »Du bist auch nicht grade eine Augenweide, Albert!« knurrte er. Ich ließ ihn zufrieden. »Kommen wir hier wieder 'raus?« fragte ich. Er überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Ich kann nichts wahrnehmen. Es muß ein Haufen Schutt über diesem Kessel liegen. Ich werde 'rausgehen und nachsehen müssen.« Wir beratschlagten eine Weile und kamen dann zu dem Schluß, daß die Rover, wenn das Gebäude niedergebrannt und etwas abgekühlt wäre, inzwischen wohl die Überreste durchstöbert hatten. Die Tatsache, daß sie nicht auf den Kessel gestoßen waren, ließ vermuten, daß wir ganz gut zugedeckt waren. Oder aber das Gebäude über uns brannte noch. In diesem Fall würden sie immer noch draußen sein und darauf warten, alles durchwühlen zu können. »Glaubst du, du kommst zurecht, so wie die Dinge nun mal liegen?« »Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben«, sagte Blood. Er war wirklich sauer. »Ich meine, nachdem ihr euch hier das Hirn aus dem Kopf vögelt, wird für hinterher ohnehin nicht mehr allzuviel übrigbleiben, oder?«
Das konnte kritisch werden. Er mochte Quilla June nicht. Ich ging um ihn herum und entriegelte den Verschluß der Luke. Sie ließ sich nicht öffnen. Ich stemmte mich mit der Schulter dagegen und drückte, so fest ich konnte. Was auch immer von außen auf die Klappe gefallen war, nach einer Minute begann es nachzugeben und fiel polternd irgendwohin. Ich machte auf und sah hinaus. Die oberen Stockwerke waren auf das Kellergeschoß gestürzt, aber was heruntergefallen war, war nur noch Asche und leichtes Zeug gewesen. Alles war voller Rauch. Durch den Qualm hindurch sah ich Tageslicht. Ich schlüpfte hinaus und verbrannte mir die Hand an der Außenseite der Luke. Blood folgte. Ich sah, daß der Kessel fast vollständig verschüttet war. Es war gut möglich, daß die Rover kurz nachgesehen hatten, geglaubt hatten, wir seien hier verschmort, und dann verschwunden waren. Doch ich wollte, daß Blood uns Gewißheit verschaffte. Er lief los, aber ich rief ihn zurück. Er kam. »Was denn noch?« Ich blickte auf ihn hinunter. »Sag' ich dir gleich, mein Lieber. Du benimmst dich saumäßig.« »Wenn schon.« »Verdammt, du Hund, was ist bloß in dich gefahren?« »Sie. Die Krabbe, die du da drin hast.« »Na und? Was ist dabei… ich hab schon öfter welche gehabt.« »Ja, aber keine, die sich so an dich gehängt hat. Ich warne dich, Albert, sie wird uns noch in Teufels Küche bringen.« »Sei kein Idiot.« Er gab keine Antwort. Sah mich nur verärgert an und lief dann davon, um die Lage zu erkunden. Ich kroch wieder hinein und verschloß die Luke. Sie wollte es wieder tun. Ich sagte, ich hätte keine Lust. Blood hatte mich aus der Fassung gebracht. Ich wußte nur nicht, auf wen von den beiden ich wütend sein sollte. Doch, mein Gott, sie war hübsch. Sie schmollte etwas und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Erzähl mir mehr; wie ist es da unten?« sagte ich.
Zunächst gab sie sich mürrisch und wollte nicht viel sagen, doch nach einer Weile wurde sie gesprächiger. Ich erfuhr eine Menge. Vielleicht konnte mir das irgendwann mal von Nutzen sein. Es gab nur einige hundert dieser unterirdischen Städte in dem Gebiet, das von den Vereinigten Staaten und Kanada übriggeblieben war. Man hatte sie angelegt, wo es Quellen oder Bergwerke oder andere Arten tiefer Löcher gab. Im Westen waren ein paar von ihnen in natürlichen Grotten und Höhlen. Sie gingen so acht bis zehn Kilometer in die Tiefe. Wie große aufrecht stehende Caissons. Und die Leute dort waren Spießer schlimmster Sorte. Baptisten, Fundamentalisten, Law-and-OrderFanatiker, richtige Mittelstandsspießer ohne Sinn für das wilde Leben. Und sie pflegten eine Art von Dasein, wie man es seit einhundertfünfzig Jahren nicht mehr gekannt hatte. Sie hatten die letzten Wissenschaftler dazu gebracht, die erforderliche Vorarbeit zu leisten und die nötigen Erfindungen zu machen und sie dann davongejagt. Sie wollten keinen Fortschritt mehr, sie wollten keinerlei Meinungsverschiedenheiten, sie wollten nichts, was irgendwie Wellen schlagen konnte. Sie hatten die Nase voll davon. Am besten war es auf der Welt in der Zeit vor dem ersten Krieg gewesen, und sie stellten sich vor, daß sie in Ruhe existieren und überleben könnten, wenn sie diesen Stand der Dinge aufrechterhielten. Schit, dort unten würde ich den Verstand verlieren! Quilla June lächelte und schmiegte sich wieder an mich, und dieses Mal wies ich sie nicht ab. Ihre Hand berührte mich wieder, dort unten und überall, und dann sagte sie: »Vic?« »Mhm.« »Bist du schon mal verliebt gewesen?« »Was?« »Verliebt? Bist du schon mal in ein Mädchen verliebt gewesen?« »Du lieber Himmel, bestimmt nicht.« »Weißt du, was Liebe ist?« »Sicher. Ich denke schon.« »Aber wenn du nie verliebt warst…?« »Laß den Quatsch. Ich meine, ich hab nie 'ne Kugel in den Kopf bekommen, und ich weiß trotzdem, daß mir's nicht guttun würde.«
»Du weißt nicht, was Liebe ist, da möchte ich wetten.« »Also wenn es bedeutet, daß man im Untergrund lebt, dann möchte ich's auch gar nicht rausfinden.« Danach führte unser Gespräch nicht mehr viel weiter. Sie zog mich zu sich hinunter, und wir trieben es wieder. Und als wir fertig waren, hörte ich Blood an der Luke kratzen. Ich öffnete die Klappe und sah ihn draußen stehen. »Die Luft ist rein«, sagte er. »Bist du sicher?« »Ja, ja, ganz sicher. Zieh deine Hose an«, sagte er mit Hohn in der Stimme, »und komm 'raus. Wir müssen was besprechen.« Ich sah ihn an; er meinte es ernst. Ich zog Jeans und Schuhe an und kletterte aus dem Kessel. Er trottete voraus, weg vom Kessel, über einige verkohlte Balken, aus der Halle hinaus. Das Gebäude war eingestürzt. Sah aus wie ein verfaulter Stockzahn. »Also, was gibt's?« fragte ich. Er kletterte auf einen Betonbrocken, bis er fast in Kopfhöhe mit mir war. »Du möchtest mich wohl für dumm verkaufen? Vic?« Ich wußte, daß er es ernst meinte. Nicht mehr der Quatsch mit Albert. Richtig Vic. »Wieso?« »Gestern abend, Mann. Wir hätten uns hier davonmachen und sie für die zurücklassen können. Das wäre schlau gewesen.« »Ich wollte sie haben.« »Ja, ich weiß. Genau davon rede ich. Jetzt ist heute, nicht gestern abend. Du hast sie jetzt ein paar dutzend Mal gehabt. Worauf warten wir also noch?« »Ich will noch mehr.« Da wurde er zornig. »Jetzt hör mal gut zu, Freund… Ich möchte auch so einiges. Ich brauch was zu Futtern, und ich möchte diese Schmerzen in der Seite loswerden, und ich möchte hier weg. Vielleicht geben sie doch nicht so schnell auf.«
»Nur mal langsam. Das kriegen wir schon hin. Es steht doch nirgends, daß sie nicht mit uns gehen kann.« »Ah, so ist das also jetzt. Wir sind zu dritt. Stimmt's?« Allmählich wurde ich selbst ziemlich sauer auf ihn. »Jetzt quatschst du wirklich wie ein Pudel!« »Und du hörst dich an wie ein Boxer.« Ich holte aus, um ihm eine zu knallen. Er zuckte mit keiner Wimper. Ich ließ die Hand sinken. Ich hatte Blood noch nie geschlagen. Jetzt wollte ich damit auch nicht anfangen. »Tut mir leid«, sagte er leise. »In Ordnung.« Aber wir sahen einander nicht an. »Vic, Mann, du hast eine Verantwortung mir gegenüber.« »Das mußt du mir nicht eigens sagen.« »Nun, vielleicht tu ich das. Vielleicht muß ich dich an einige Dinge erinnern. Zum Beispiel wie der Krüppel aus dem Strahlungskrater hinter dir her war.« Ich schauderte. In mir kam alles hoch, wenn ich bloß daran dachte. Der Kerl war grün gewesen, giftgrün von der Strahlung. »Und ich hab ihn gepackt, stimmt's?« Ich nickte. »Und ich hätte dabei Strahlungsverbrennungen bekommen und davon draufgehen können, nicht wahr?« Wieder nickte ich. Mir hing das alles zum Hals heraus. Dankbar sein zu müssen, das hatte ich nicht gern. Eine Hand wäscht die andere, so war es auch bei Blood und mir. Blood wußte das. »Also, ich hab's getan. Stimmt's?« Ich hörte noch, wie das grüne Ungeheuer aufgeschrien hatte. Schön war das nicht gewesen, der ganze Schleim und so. »Schon gut, schon gut. Halt keine Predigt, sonst können wir das ganze Scheißabkommen vergessen.« Da geriet Blood außer sich. »Ja, vielleicht sollten wir das, du blöder dämlicher Putz.«
»Was heißt hier Putz, du Scheißkerl… ist das was Schlechtes… ja, muß es wohl sein… sieh dich bloß vor, sonst tret ich dir in den Arsch!« Eine Viertelstunde saßen wir da und sagten nichts. Keiner von uns wußte, wie es weitergehen sollte. Schließlich steckte ich etwas zurück. Ich redete langsam und leiser. Ich hätte ihn zwar satt bis sonstwohin, aber ich würde ihn schon anständig behandeln, wie ich es immer getan hätte. Er drohte damit, daß mir gar nichts anderes übrig bleibe, weil er in der Stadt ein paar Solos kenne, die glücklich wären, einen scharfen Schnüffler wie ihn bei sich zu haben. Ich sagte ihm, daß ich mich nicht gern unter Druck setzen ließ und daß er gut aufpassen sollte, sonst würde ich ihm sämtliche Knochen brechen. Er wurde wütend und schob ab. Ich sagte, er könne mich sonstwo lecken und ging zurück zu dem Kessel, um mich wieder um Quilla June zu kümmern. Aber als ich meinen Kopf durch die Luke steckte, wartete sie schon mit der Pistole eines der toten Rover. Sie schlug mich wuchtig auf die rechte Schläfe, und ich fiel vornüber durch die Luke und war weg.
6 »Ich hab dir doch gesagt, daß sie nichts taugt.« Er beobachtete mich, wie ich die Verletzung mit einem Desinfektionsmittel aus meinem Beutel auswischte und den Riß dann mit Jod betupfte. Als ich zusammenzuckte, grinste er hämisch. Ich legte das Zeug weg und suchte im Kessel herum, sammelte soviel Munition ein, wie ich tragen konnte, und nahm statt der Browning die schwere .30-06er. Dann fand ich etwas, was sie verloren haben mußte. Es war eine kleine Metallplakette, etwa acht Zentimeter breit und drei Zentimeter hoch. Es war eine ganze Reihe von Zahlen darauf; Löcher waren in scheinbar regelloser Anordnung eingestanzt. »Was ist das denn?« fragte ich Blood. Er schaute das Ding prüfend an und beschnüffelte es. »Muß irgendeine Art Identitätsplakette sein. Vielleicht brauchte sie das, um den Untergrund zu verlassen.«
Nun war mein Entschluß gefaßt. Ich steckte die Plakette in die Tasche und machte mich auf den Weg zum Zugangsschacht. »Wo zum Teufel willst du hin?« rief Blood mir nach. »Komm zurück, draußen werden sie dich erschießen!« »Ich hab Hunger, verdammt nochmal!« »Albert, du Mistkerl! Komm sofort zurück!« Ich ging weiter. Ich würde dieses Luder finden und es ihr besorgen. Selbst wenn ich in den Untergrund gehen mußte. Bis zum Zugangsschacht nach Topeka brauchte ich eine Stunde. Ich glaubte Blood zu sehen, wie er mir folgte, aber in gehörigem Abstand. Mir war das egal. Ich war vor Wut außer mir. Dann war ich da. Eine glatte, gerade Metallröhre, vielleicht sieben Meter im Durchmesser, die oben flach abgedeckt war und vertikal nach unten führte. Es war nur die Haube, sonst nichts. Ich fischte nach der Plakette in meiner Tasche. Dann zupfte mich etwas am rechten Hosenbein. »Hör mal, du Trottel, hier kannst du nicht 'runter!« Ich stieß ihn weg, aber er kam sofort wieder zurück. »Jetzt hör' doch mal!« Ich drehte mich um und starrte ihn an. Blood setzte sich in den Staub. »Albert…« »Mein Name ist Vic, du kleiner Eiersauger…« »Schon gut, schon gut, Spaß beiseite. Vic.« Sein Ton wurde sanfter. »Vic, komm doch zur Vernunft, Mann.« Ich kochte innerlich, aber er hatte vielleicht recht. Ich zuckte die Achseln und setzte mich neben ihn. »Versteh doch, Mensch«, sagte Blood, »diese Biene hat dich ganz meschugge gemacht. Du weißt, daß du hier nicht 'runter kannst. Da gibt es nichts zu rütteln und zu deuteln; sie kennen jeden. Sie hassen Solos. Genug Roverpaks sind in den Untergrund eingedrungen und haben ihre Weiber vergewaltigt und ihre Vorräte geklaut. Jetzt setzen sie sich zur Wehr. Sie werden dich umbringen, Mensch!« »Was zum Teufel geht dich das an? Du sagst doch immer, ohne mich wärst du besser dran.« Das traf ihn sichtlich.
»Vic, seit drei Jahren sind wir jetzt zusammen. Im Guten und im Bösen. Aber das hier kann das Ende bedeuten. Mann, ich hab Angst, Angst, daß du nicht zurückkommst. Und ich bin hungrig, und ich werde irgend 'nen Kerl finden müssen, der mich nimmt… und du weißt, daß die meisten Solos jetzt in den Paks leben. Was wird dann aus mir; so jung bin ich auch nicht mehr. Und meine Verletzungen.« Das leuchtete mir ein; er hatte nicht unrecht. Und doch konnte ich keinen anderen Gedanken fassen, als daß mir diese Kröte, diese Quilla June, eins übergebraten hatte. Und dann sah ich ihre zarten Brüste vor mir und hörte wieder ihr leises Stöhnen wenn ich in ihr war, und ich schüttelte den Kopf und wußte, daß ich quitt werden mußte. »Ich muß es tun, Blood. Ich muß ganz einfach.« Er holte tief Atem und sank noch mehr in sich zusammen. Er wußte, daß es nutzlos war. »Du erkennst nicht einmal, was sie mit dir angestellt hat, Vic.« Ich stand auf. »Ich werde versuchen, es kurz zu machen. Willst du warten…?« Geraume Zeit schwieg er, und ich wartete. Endlich sagte er: »Eine Weile. Vielleicht werde ich hier sein, vielleicht auch nicht.« Ich verstand. Ich wandte mich um und ging um die schwarze Metallröhre herum. Schließlich fand ich einen Schlitz in der Wand und steckte die Plakette hinein. Ein leises Summen, und dann schob sich ein Sektor der Wand zur Seite. Ich hatte nicht einmal Fugen bemerkt. Ich trat durch eine kreisförmige Öffnung. Ich schaute zurück, und da war Blood und sah mir zu. Wir blickten einander an, bis das Summen aufhörte. »Mach's gut, Vic.« »Paß auf dich auf, Blood.« »Sieh zu, daß du bald wieder da bist.« »Werd mein Möglichstes tun.« »Ja. Okay.« Ich drehte mich um und ging hinein. Die Luke hinter mir schob sich zu.
7 Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es ahnen sollen. Natürlich, von Zeit zu Zeit kam ein Mädchen herauf, um zu sehen, wie es oben war und was aus den Städten geworden war. Sicher, das kam vor. Warum hatte ich ihr geglaubt, als sie mir in dem Heizkessel erzählte, daß sie sehen wollte, wie es war, wenn ein Mädchen es mit einem Mann trieb, daß alle Filme, die sie in Topeka gesehen hatte, süß und simpel und langweilig waren, und daß die Mädchen in ihrer Klasse von scharfen Filmen gesprochen hatten, und daß eine davon ein kleines Büchlein hatte, das sie mit großen Augen verschlungen hatte… sicher, ich hatte ihr geglaubt. Es war logisch. Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, als sie die metallene Identitätsplakette liegen ließ. Das war zu einfach. Blood hatte es mir klarmachen wollen. Dämlich? O ja! In dem Moment, da die Luke hinter mir zuging, war das Summen wieder stärker geworden. An den Wänden leuchtete ein kühles Licht. Wände? Es war ein kreisförmiger Raum, dessen Wände nur zwei Seiten hatte: innen und außen. Das Licht an der Wand pulsierte, das Summen wurde noch lauter, und dann öffnete sich der Fußboden, auf dem ich stand, genau wie vorhin die Eingangsluke. Und ich hing in der Luft wie eine Maus in einem Trickfilm, und solange ich nicht hinuntersah, war ich ruhig. Dann ging es abwärts. Ich fiel durch den Boden, der sich über mir schloß, fiel durch die Röhre hinab, wurde schneller, aber nicht zu sehr, fiel gleichmäßig weiter. Es ging immer tiefer und tiefer. Von Zeit zu Zeit sah ich Zeichen wie E 10 oder ANTIPOLL 55 oder BRÜTER ST oder PUMPE SE 6 an der Wand oder eine kaum wahrnehmbare irisartige Fächerung… aber ich fiel immer weiter. Schließlich war ich ganz unten angekommen; an der Wand stand STADTGRENZE TOPEKA – EINW. 22.860, und ich setzte ohne besondere Schwierigkeit auf; etwas mußte ich in die Knie gehen, um den Aufprall abzufangen, aber selbst das war kaum nennenswert. Wieder benützte ich die Plakette; eine irisartige Konstruktion – diesmal viel größer – öffnete sich, und zum ersten Male sah ich eine unterirdische Stadt.
Sie erstreckte sich vor mir dreißig Kilometer weit bis zu einem schwach metallisch schimmernden Horizont; die Wand hinter mir wölbte sich in einem sanften, alle umschließenden Kreis und führte wieder zurück zu der Stelle, wo ich stand. Ich stand auf dem Grund eines mächtigen großen Metallkessels, der etwa zweihundert Meter nach oben ging und dreißig Kilometer Durchmesser hatte. Und auf dem Boden dieser überdimensionalen Blechdose hatte jemand eine Stadt gebaut, die genauso aussah wie die Fotos in einem der mit Wasser vollgesogenen Bücher in der Bibliothek oben. So eine Stadt hatte ich in den Büchern gesehen. Genau das war es. Nette kleine Häuser, gewundene kleine Straßen, gemähter Rasen, ein Geschäftsviertel, und alles andere, was so ein Topeka haben mußte. Außer einer Sonne, außer Vögel, außer Wolken, außer Regen, außer Schnee, außer Kälte, außer Wind, außer Ameisen, außer Dreck, außer Bergen, außer Ozeanen, außer großen Kornfeldern, außer Sternen, außer dem Mond, außer Wäldern, außer freilebenden Tieren, außer… Außer Freiheit. Hier unten waren sie konserviert wie tote Fische. Eingedost. Mich überkam ein beklemmendes Gefühl. Ich wollte wieder weg. Bloß raus hier! Ich begann zu zittern. Meine Hände waren eiskalt. Auf meiner Stirne stand Schweiß. Es war Wahnsinn, hier herunterzukommen. Ich mußte weg. Weg! Ich wandte mich um und wollte zum Schacht zurück, und dann ging mir ein Licht auf. Diese Kröte Quilla June! Ich hätte es mir denken können! Das Ding war niedrig, grün wie ein kleiner Kasten, hatte Drahtkabel mit handartigen Enden statt Armen, lief auf Raupenketten und packte mich. Es hob mich auf seine quadratische Oberseite und hielt mich mit seinen Händen an den Kabelenden fest. Ich konnte mich kaum bewegen, versuchte zwar, mit dem Absatz das große Glasauge an der Stirnseite einzuschlagen, aber es half nichts. Das Ding war nur etwas über einen Meter hoch, und ich konnte mit den Schuhen fast den Boden erreichen, aber nicht ganz, und dann begann es sich zu bewegen, auf Topeka zu, und schleppte mich mit.
Überall waren Leute zu sehen. Sie saßen in Schaukelstühlen auf ihren Veranden, arbeiteten im Garten, standen an Tankstellen herum, steckten Pennys in Kaugummiautomaten, malten Leitlinien auf Straßen, verkauften Zeitungen an der Ecke, hörten einer Blaskapelle in einem Park zu, spielten Sackhüpfen, oder Blindekuh, polierten das Feuerwehrauto, saßen auf Bänken und lasen, putzten Fenster, schnitten Hecken, lüfteten Strohhüte vor Damen, sammelten Milchflaschen in Drahtkörben, striegelten Pferde, ließen Hunde weggeworfene Stöcke apportieren, tauchten in einem Schwimmbad, schrieben Gemüsepreise auf Tafeln neben einem Ladeneingang, spazierten Hand in Hand mit Mädchen dahin – und sahen mich alle auf diesem metallenen Scheißkarren vorbeifahren. Ich konnte Blood noch hören, wie er sagte, bevor ich den Schacht betrat: Da gibt es nichts zu rütteln und zu deuteln; sie kennen jeden. Sie hassen Solos. Genug Roverpaks sind in den Untergrund eingedrungen und haben ihre Weiber vergewaltigt und ihre Vorräte geklaut. Jetzt setzen sie sich zur Wehr. Sie werden dich umbringen, Mensch! Danke, Köter. Leb wohl.
8 Der grüne Kasten fuhr durch das Geschäftsviertel und hielt dann auf ein Gebäude zu, auf dessen Schaufensterscheibe stand: BÜRO FÜR ABSATZFÖRDERUNG. Er rollte durch die offene Tür; drinnen war ein halbes Dutzend Männer und alte Männer und sehr alte Männer, die warteten auf mich. Ein paar Frauen waren auch da. Der grüne Kasten hielt. Einer der Männer kam herüber und nahm mir die Plakette aus der Hand. Er sah sie sich an, drehte sich dann und und gab sie dem ältesten der alten Männer, einem verschrumpelten Kerl in ausgebeulten Hosen. Er trug einen grünen Augenschirm; um die Oberarme hatte er Gummibänder, welche die Ärmel seines gestreiften Hemds hochhielten. »Quilla June, Lew«, sagte der Jüngere zu dem Alten. Lew nahm die Plakette und legte sie in die linke obere Schublade eines Schreibtischs. »Nimm ihm die
Kanonen weg, Aaron«, sagte der alte Knacker. Und der Kerl, der mir die Plakette genommen hatte, durchsuchte mich. »Laß ihn los, Aaron«, sagte Lew. Aaron ging zur Rückseite des grünen Kastens; etwas knackte, und die Kabelhände fuhren in den Kasten zurück. Ich konnte heruntersteigen. Meine Arme waren eingeschlafen, wo das Ding mich festgehalten hatte. Ich rieb den einen, dann den andern und schaute die Männer nicht gerade freundlich an. »Nun, mein Junge…« begann Lew. »Halt die Luft an, Arschloch!« Die Frauen wurden blaß. Die Mienen der Männer verfinsterten sich. »Ich hab doch gesagt, daß es nicht geht«, sagte ein nicht ganz so alter Mann zu Lew. Lew beugte sich in seinem Lehnstuhl nach vorn und zeigte mit einem krummen Finger auf mich. »Nun sei mal vernünftig, mein Junge.« »Alle eure verdammten Kinder sollen Hasenscharten kriegen.« »Es hat keinen Zweck, Lew!« sagte ein anderer Mann. »Gassenjunge!« stieß eine der Frauen hervor. Lew starrte mich an. Sein Mund war eine häßliche, dünne, schwarze Linie. Ich wußte, daß der Hundesohn keinen Zahn in seinem Mund hatte, der nicht verfault und stinkig war. Er starrte mich mit bösen kleinen Augen an. Gott, war er häßlich. Wie ein Vogel, der das Fleisch von meinen Knochen picken wollte. Er machte sich daran, etwas zu sagen, was mir nicht gefallen würde. »Aaron, vielleicht sollten Sie ihn wieder der Wache übergeben.« Aaron ging zu dem grünen Kasten. »Also gut«, sagte ich und hob meine Hand. Aaron blieb stehen und schaute Lew an. Der nickte. Dann lehnte er sich wieder nach vorn und streckte diese Vogelkralle nach mir aus. »Also du willst dich ordentlich benehmen?« »Ja, ich glaube schon.« »Da solltest du verdangt sicher sein.« »Schon gut. Ich bin verdangt sicher. Scheißsicher.«
»Sieh dich vor, was du redest.« Ich gab keine Antwort. Alter Trottel. »Du stellst eine Art Experiment für uns dar, mein Junge. Wir haben schon auf andere Art und Weise versucht, einen von euch hier herunterzukriegen. Wir haben gute Leute hinaufgeschickt, um einen Stutzschwanz wie dich einzufangen, aber die sind nie zurückgekehrt. War wohl das beste, dich auf diese Weise 'runterzulocken.« Ich grinste höhnisch. Diese Quilla June. Der würde ich's besorgen. Eine der Frauen, sie war etwas jünger, kam zu mir und sah mir ins Gesicht. »Lew, mit dem werden Sie nie zurande kommen. Er ist ein dreckiger kleiner Killer. Sehen Sie sich bloß mal seine Augen an.« »Möchtest mal 'nen Gewehrlauf in den Arsch gestoßen kriegen, du Nutte?« Sie fuhr zurück. Lew schaute wieder böse drein. »Tut mir leid«, sagte ich, »ich mag's nun einmal nicht, wenn jemand solche Scheußlichkeiten zu mir sagt. Macho, verstehen Sie?« Er lehnte sich wieder zurück und fuhr die Frau an: »Mez, lassen Sie ihn in Ruhe. Ich möchte hier mal ein paar vernünftige Worte reden. Sie machen alles nur noch schlimmer.« Mez ging wieder zu den anderen zurück. Büro für Absatzförderung! Eine schöne Gesellschaft war das. »Wie ich schon sagte, mein Junge. Du stellst ein Experiment für uns dar. Seit fast zwanzig Jahren sind wir nun hier unten in Topeka. Bei uns läßt sich's leben. Wir sind ruhige, ordentliche, nette Leute, die einander respektieren, die Ehrfurcht vor den Älteren haben; es gibt keine Verbrechen, alles ist prima, wo du auch hinschaust. Wir wachsen und gedeihen.« Ich wartete. »Ja, also, es zeigt sich jetzt, daß einige unserer Leute keine Kinder mehr kriegen, und bei den Frauen, die welche kriegen, sind es meistens Mädchen. Wir brauchen ein paar Männer. Eine ganz spezielle Art von Männern.«
Ich begann zu lachen. Das war ja zu schön, um wahr zu sein. Die wollten mich also als Zuchthengst. Ich konnte vor Lachen kaum mehr an mich halten. »Ungezogenheit!« rief erbost eine der Frauen. »Für uns ist das peinlich genug, Junge. Mach's nicht noch ärger«, sagte Lew ziemlich verlegen. Da hatten Blood und ich den größten Teil unserer Zeit auf der Mädchenjagd verbracht, und hier unten lud man mich förmlich dazu ein, die örtliche Damenwelt zu bedienen. Ich setzte mich auf den Boden und lachte, bis mir die Tränen kamen. Schließlich stand ich wieder auf und sagte »Gut, in Ordnung. Aber wenn ich da mitmache, gibt es auch einige Dinge, die ich gerne möchte.« Lew sah mich gespannt an. »Da wäre erst mal diese Quilla June. Die werd' ich in Fetzen vögeln, und dann kriegt sie genauso ein Ding über'n Kopf wie sie mir verpaßt hat.« Sie steckten die Köpfe zusammen, und dann verkündete Lew: »Gewalt können wir hier nicht dulden, aber warum solltest du nicht mit Quilla June beginnen. Sie ist befähigt, nicht wahr, Ira?« Ein dürrer, gelbhäutiger Mann nickte. Sehr glücklich sah er nicht aus. Quilla Junes alter Herr, vermutete ich. »Na, fangen wir an«, sagte ich. »Holt sie 'rein.« Ich wollte schon meinen Reißverschluß öffnen. Die Frauen kreischten, die Männer packten mich und schleppten mich zu einem Wohnhaus, wo sie mir ein Zimmer gaben. Bevor ich an die Arbeit ginge, sagten sie, sollte ich erst einmal Topeka kennenlernen, denn es sei – äh – nicht ganz so einfach, und sie müßten den Leuten in der Stadt erst beibringen, was nun zu geschehen habe… was wohl auch bedeutete, daß sie, wenn ich mich bewähren würde, noch ein paar junge Bullen von oben importieren und uns dann auf ihre jungen Weiber loslassen wollten. Also verbrachte ich einige Tage in Topeka, lernte die Leute näher kennen, sah was sie machten und wie sie lebten. Es war nett, wirklich nett. Sie saßen in Schaukelstühlen auf ihren Veranden, arbeiteten im Garten,
standen an der Tankstelle herum, steckten Pennys in Kaugummiautomaten, malten Leitlinien auf Straßen, verkauften Zeitungen an der Ecke, hörten im Park einer Blaskapelle zu, spielten Sackhüpfen oder Blindekuh, polierten das Feuerwehrauto, saßen auf Bänken und lasen, putzten Fenster, schnitten Hecken, lüfteten Strohhüte vor Damen, sammelten Milchflaschen in Drahtkörben, striegelten Pferde, ließen Hunde weggeworfene Stöcke apportieren, tauchten in einem Schwimmbad, schrieben Gemüsepreise auf Tafeln neben einem Ladeneingang, spazierten Hand in Hand mit den häßlichsten Kleiderständern dahin, die ich je gesehen hatte, und langweilten mich bis zum Wahnsinn. Bevor eine Woche vorbei war, hätte ich laut schreien können. Die Decke dieser Konservenbüchse fiel mir förmlich auf den Kopf. Ich spürte das Gewicht der Erde über mir. Sie aßen künstliches Zeug: künstliche Erbsen und Ersatzfleisch und falsches Huhn und Brotersatz, und mir schmeckte das alles wie Kalk und Staub. Höflich? Heiland, von dem heuchlerischen, lügnerischen Getue, das sie Höflichkeit nannten, konnte einem speiübel werden. Hallo Mister Soundso und Hallo Missis Soundso. Und wie geht es Ihnen? Und wie geht es der kleinen Janie? Und wie geht das Geschäft? Und gehen Sie zu der Zusammenkunft am Donnerstag? Und ich begann selbst, in meinem Zimmer so zu quasseln. Diese saubere, freundliche, nette, angenehme Art zu leben konnte einen regelrecht umbringen. Kein Wunder, daß den Männern keiner mehr stand und statt Nummern nur noch Nieten schoben. Die ersten paar Tage sahen mich alle an, als ob ich gleich platzen und ihre schönen weißgestrichenen Zäune mit Scheiße bekleckern würde. Doch nach einer Weile gewöhnten sie sich an mich. Lew nahm mich mit zu einem Kaufhaus und ließ mich mit einem Lätzchen-Overall und einem Hemd ausstaffieren. Jedem Solo wäre bei diesem Anblick die Kotze hochgekommen. Diese Mez, die mich einen Killer genannt hatte, begann um mich 'rumzuschleichen und sagte schließlich, sie wolle mir die Haare schneiden, damit ich anständig aussähe. Aber bei mir konnte sie nicht landen. Hatte so gar nichts Flottes an sich.
»Was ist los, du Schnecke«, stichelte ich. »Steckt's dir dein Mann nicht richtig?« Sie biß sich auf den Finger, und ich lachte wie ein Verrückter. »Wenn du schon schnipseln willst, schneid deinem Mann was ab. Mein Haar bleibt wie es ist.« Da schob sie ab. So ging das einige Zeit. Ich trieb mich halt so 'rum, sie kamen und brachten mir was zu essen; aber alles Junge und Knusprige hielten sie von mir fern, bis sie der Stadt beigebogen hatten, was ihr in Form meiner Wenigkeit bevorstand. So eingesperrt, fühlte ich mich eine Weile gar nicht wohl. Ich bekam richtig Platzangst und setzte mich oft im Dunkeln unter die Veranda meines Hauses. Dann ging das auch vorüber. Ich wurde hundsgemein, schnauzte sie nur noch an; dann wurde ich säuerlich, dann ruhig, dann einfach völlig schlapp. Ruhig. Schließlich begann ich mir zu überlegen, wie ich da wieder fortkommen konnte. Zuerst erinnerte ich mich an den Pudel, den ich Blood zum Fraß vorgeworfen hatte. Der hatte aus dem Untergrund gestammt. Und er konnte nicht durch den Schacht hinausgelangt sein. Das hieß, daß es andere Ausgänge geben mußte. Sie jagten mich ziemlich viel in der Stadt herum, und ich gab mich immer gleich gelangweilt und tat nichts Überraschendes. Der grüne Kasten war immer irgendwo in der Nähe. So fand ich den Ausgang. Das war kein besonderes Kunststück; es mußte einfach einen geben, und ich fand ihn. Dann stellte ich fest, wo sie meine Waffen aufbewahrten, und somit war ich bereit. Fast.
9 Eines Tages kamen Aaron und Lew und Ira, um mich zu holen. Zu dem Zeitpunkt war ich schon ziemlich verblödet. Ich saß ohne Hemd hinter dem Haus in der Sonne und rauchte eine Maiskolbenpfeife. Nur war da gar keine Sonne. Einfach blöd.
Sie kamen ums Haus herum. »'n Morgen, Vic«, grüßte mich Lew. Er kam mit 'nem Spazierstock an, der alte Furz. Aaron lächelte mich strahlend an, wie einen großen schwarzen Bullen, den man zu einer guten Zuchtkuh führt. Iras Blick hätte man abhacken und im Ofen verfeuern können. »Na, wie geht's, Lew. Morgen, Aaron, Ira.« Lew schien das sehr zu gefallen. Oh, ihr lausigen Lumpen, wartet nur! »Bist du einsatzbereit für deine erste Dame?« »Könnte nicht bereiter sein, Lew«, sagte ich und stand auf. »Prima Tabak, was?« sagte Aaron. Ich nahm den Maiskolben aus dem Mund. »Das schiere Vergnügen«, lächelte ich. Ich hatte das Ding nicht mal angezündet. Sie gingen mit mir zur Ringelblumenstraße, und als wir zu einem kleinen Haus mit gelben Fensterläden und einem weißgestrichenen Zaum drum 'rum kamen, sagte Lew: »Das ist Iras Haus. Quilla June ist seine Tochter.« »Na, es ist für einen guten Zweck«, sagte ich. Iras Kaumuskeln krampften sich zusammen. Wir gingen hinein. Auf der Couch saß Quilla June mit ihrer Mutter, einer älteren Ausgabe von ihr, dünn wie ein abgezehrter Muskel. »Miz Holmes«, sagte ich und machte einen kleinen Knicks. Sie lächelte. Angestrengt, aber sie lächelte. Quilla June saß da, die Knie ganz dicht beisammen, die Hände auf ihrem Schoß gefaltet. In ihrem Haar war ein Band. Es war blau. Paßte zu ihren Augen. Mich durchlief es heiß und kalt. »Quilla June«, sagte ich. Sie sah auf. »Morgen, Vic.« Dann standen sie alle irgendwie ratlos herum, und schließlich stotterte Ira irgendwas von Schlafzimmer und bringen wir diese unnatürliche und schmutzige Angelegenheit hinter uns, so daß wir in die Kirche gehen
und zu Gott beten können, daß er uns nicht strafe durch einen Blitz in den Arsch, oder irgend so'n Geseire. Also streckte ich meine Hand aus, und Quilla June ergriff sie ohne aufzublicken, und wir gingen hinüber in ein kleines Schlafzimmer, und da stand sie mit gesenktem Blick. »Du hast ihnen nichts erzählt, nicht wahr?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Und plötzlich wollte ich sie durchaus nicht mehr umbringen. Ich wollte sie umarmen, sie fest in meinen Armen halten. Und das tat ich. Und dann weinte sie an meiner Brust und machte kleine Fäuste und hämmerte auf meinen Rücken, und dann schaute sie zu mir auf, und ihre Worte überstürzten sich: »O Vic, es tut mir leid, so leid, ich wollte nicht, ich mußte, man hat es mir befohlen, ich war so verängstigt, und ich liebe dich, und jetzt haben sie dich hier unten, und es ist nicht schmutzig, nicht wahr, es ist nicht so, wie Papa sagt, nicht wahr?« Ich drückte sie an mich und küßte sie und sagte, daß alles in Ordnung sei, und dann fragte ich sie, ob sie mit mir fortgehen wolle, und sie sagte ja, ja, ja, das wolle sie wirklich. Also sagte ich ihr, daß ich vielleicht ihrem Papa was antun müßte, um wegzukommen, und ihr Blick verriet mir nur zu genau, was ich wissen wollte. Bei all ihrer Anständigkeit mochte Quilla June ihren stets Gebete murmelnden Papa doch nicht so sehr. Ich fragte sie, ob sie etwas Schweres habe, einen Kerzenleuchter oder einen Schlagstock zum Beispiel, und sie sagte nein. Also durchstöberte ich das Zimmer und fand ein Paar von Papas Socken in einer Schreibtischschublade. Ich schraubte die großen Messingkugeln vom Kopfende des Bettgestells und steckte sie in eine der Socken. Ich wog das Ding in meiner Hand. Ja, das war gut. Sie starrte mich mit großen Augen an. »Was willst du tun?« »Möchtest du hier raus?« Sie nickte. »Dann stell dich nur hinter die Tür. Oder halt, ich hab 'ne bessere Idee. Leg dich aufs Bett.«
Sie tat es. »Gut«, sagte ich, »jetzt zieh deinen Rock hoch, schlüpf aus dem Slip und spreiz die Beine.« Voller Schreck sah sie mich an. »Tu, was ich dir sage. Wenn du hier 'raus willst.« Sie gehorchte, und ich sorgte dafür, daß ihre Knie angezogen und ihre Schenkel gespreizt waren. Dann stellte ich mich neben die Tür und flüsterte: »Ruf deinen Papa. Nur ihn.« Sie zögerte einen langen Moment, und dann rief sie mit einer Stimme, die sie nicht zu verstellen brauchte: »Papa, Papa, komm herein, bitte.« Dann kniff sie die Augen zu. Ira Holmes kam durch die Tür herein, warf einen Blick auf seine geheime Begierde, sein Mund öffnete sich, ich stieß die Tür hinter ihm zu und hieb drauf, so fest ich nur konnte. Blut spritzte und färbte das Bettuch. Sie öffnete die Augen, als sie ihn fallen hörte, und als sie das Blut sah, wurde ihr übel. Den Aaron würde sie wohl kaum hereinlocken können, das wußte ich; ich öffnete also die Tür, streckte meinen Kopf hinaus, sah besorgt drein und sagte: »Aaron, könnten Sie vielleicht einen Augenblick herkommen?« Er schaute fragend Lew an, der gerade mit Mrs. Holmes beratschlagte, was wohl im Schlafzimmer vorgehen mochte, und als er nickte, kam Aaron herein. Er warf einen Blick auf Quilla, auf das Blut an der Wand und Bettwäsche, auf Ira, der am Boden lag, und als er schreien wollte, schlug ich zu. Es brauchte noch zwei Hiebe, bis er auf dem Boden lag. Quilla June erbrach sich immer noch. Ich packte sie beim Arm und zog sie vom Bett herunter. Wenigstens war sie still, aber Mann, es roch nicht gut. »Los, komm!« Sie wollte nicht, doch ich gab nicht nach und öffnete die Schlafzimmertür. Als ich sie hinauszerrte, erhob sich Lew, auf seinen Stock gestützt. Ich trat ihm die Krücke mit dem Fuß weg, und der alte Furz fiel um wie ein Sack. Mrs. Holmes starrte uns an und wunderte sich, wo ihr Alter geblieben war. »Er ist da drinnen«, sagte ich und eilte zur Haustür. »Der liebe Gott hat ihn am Kopf erwischt.« Dann waren wir draußen auf der Straße; hinter mir stolperte schluchzend und stöhnend Quilla June.
Meine Waffen lagen im Büro für Absatzförderung in einem verschlossenen Schrank, und wir machten einen Umweg und gingen erst zu meinem Wohnhaus; dort holte ich ein Brecheisen, das ich in einer Tankstelle geklaut hatte. Dann gingen wir zum Geschäftsviertel, geradewegs zum BfA. Ein Angestellter versuchte mich aufzuhalten, aber ich gab ihm mit der Brechstange eins auf den Kürbis. Dann sprengte ich die Beschläge von dem Schrank in Lews Büro und holte mir die .30-06 und meine .45er und die ganze Munition und mein Stilett und mein Messer und meine Tasche. Quilla June fand allmählich ihre Sprache wieder. »Wo sollen wir hin, wo sollen wir denn hin, o Papa, Papa…!« »Jetzt hör mal, Quilla June, genug von deinem Papa. Du wolltest doch bei mir bleiben… also, ich geh jetzt hinauf, Baby, und wenn du mit willst, dann halte dich dicht bei mir.« Sie hatte zu viel Angst, um zu widersprechen. Ich trat vor die Tür, und da sah ich diesen grünen Kasten, der wie ein Windhund daherkam. Die Kabel standen heraus, aber die Fäustlinge waren weg. Jetzt waren da Haken. Ich ging in die Knie, legte den Tragriemen der .30-06 um meinen Unterarm, zielte genau, und feuerte mitten in das große Auge an der Stirnseite. Ein Schuß, peng! Das Ding explodierte in einem Funkenregen. Der grüne Kasten kam vom Weg ab und fuhr durch ein Schaufenster. Drinnen heulte und kreischte er und füllte den Raum mit Funken und Flammen. Hübsch. Ich drehte mich um, um Quilla June zu packen, aber sie war fort. Ich schaute die Straßen hinunter, und da kamen alle diese Nachtwächter. Lew hüpfte mit seinem Stock daher wie eine verrückte Heuschrecke. Und dann fielen die Schüsse. Lautes, dröhnendes Knallen. Die .45er, die ich Quilla June gegeben hatte. Ich schaute nach oben, und da stand sie auf dem Balkon im ersten Stock, die Automatik auf das Geländer gestützt als wäre sie ein Profi, und zielte auf die Menge und ballerte los wie vielleicht Wild Bill Elliott in einem alten Western. Aber dämlich, Mann, wie dämlich! Darauf Zeit zu verschwenden, wo wir abhauen mußten!
Ich fand die Außentreppe, die zum Balkon hinaufging, und nahm drei Stufen auf einmal. Sie grinste und lachte, und jedesmal, wenn sie auf einen der Trottel unten zielte, sah ich ihre Zunge aus dem Mundwinkel spitzen, und ihre Augen wurden feucht und glänzend, und peng! da hatte sie ihn schon. Sie war richtig in Fahrt. Als ich bei ihr ankam, zielte sie gerade auf ihre zaundürre Mutter. Ich verpaßte ihr eines auf den Hinterkopf, der Schuß ging daneben, und die alte Dame machte einen kleinen Tanzschritt und kam weiter auf uns zu. Quilla June fuhr herum, und ich sah Mordlust in ihren Augen. »Wegen dir hab ich vorbeigeschossen.« Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich nahm ihr die .45er weg. Doof, so Munition zu verschwenden. Ich zog sie auf den Balkon hinter mir her zur Rückseite des Gebäudes, fand dort einen Schuppen, sprang auf ihn hinunter und forderte sie auf, nachzukommen. Erst hatte sie Angst, aber ich sagte: »Wer so leicht wie du auf seine alte Mutter schießen kann, sollte sich wegen einem so kleinen Sprung keine Gedanken machen.« Sie kam an den Rand des Balkons und hielt sich am Geländer fest. »Keine Angst«, sagte ich, »und mach nicht in die Hosen. Du hast keine an.« Sie lachte wie eine Irre und sprang. Ich fing sie auf; wir rutschten auf dem schrägen Schuppendach hinunter und hielten Ausschau, ob man uns auf den Fersen war. Niemand in Sicht. Ich packte Quilla June beim Arm, und wir machten uns auf den Weg zum Südrand von Topeka. Es war der nächstgelegene Ausgang, den ich auf meinen Wanderungen entdeckt hatte, und wir schafften es in etwa fünfzehn Minuten, schwer atmend und schwach in den Knien wie kleine Kätzchen. Und da war es. Eine große Luft-Ansaugröhre. Mit der Brechstange sprengte ich das Schutzgitter ab, und dann kletterten wir hinein. Innen führten Leitern in die Höhe. Konnte nicht anders sein, Reparaturen. Reinigung. Mußte so sein. Wir fingen an, hinaufzusteigen. Es dauerte lange, lange Zeit.
Immer, wenn sie zum Klettern zu müde wurde, fragte mich Quilla June von unten herauf »Vic, liebst du mich?« Jedesmal sagte ich ja. Nicht nur, weil es so war. Es half ihr beim Steigen.
10 Anderthalb Kilometer vom Zugangsschacht entfernt kamen wir oben 'raus. Ich schoß einen Filterdeckel weg, und wir kletterten hinaus. Damit hatten die da unten nicht gerechnet. Man muß eben wissen, mit wem man es zu tun hat. Sie hatten nicht die geringste Chance gegen mich gehabt. Quilla June war erschöpft. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Aber ich wollte die Nacht nicht im Freien verbringen; es gab Dinge da draußen, denen ich selbst bei Tageslicht nicht gerne begegnet wäre. Jetzt brach schon die Dämmerung herein. Wir gingen zum Zugangsschacht. Blood wartete. Er sah geschwächt aus. Doch er hatte gewartet. Ich beugte mich nieder und hob seinen Kopf. Er öffnete die Augen und sagte ganz leise »Hey.« Ich lächelte ihm zu. Gott, es tat gut, ihn zu sehen. »Da sind wir wieder, Junge.« Er versuchte aufzustehen, aber er konnte nicht. Seine Wunden sahen übel aus. »Hast du was gefuttert?« fragte ich. »Nein. Gestern eine Eidechse erwischt… oder vielleicht war es vorgestern. Ich habe Hunger, Vic.« Da kam Quilla June, und Blood sah sie. Er schloß seine Augen. »Wir sollten uns beeilen, Vic«, sagte er. »Sie könnten durch den Schacht heraufkommen.« Ich versuchte, Blood aufzuheben. Er war zu schwer. »Hör zu, Blood, ich geh in die Stadt und hol was zu futtern. Ich bin bald wieder da. Warte hier.«
»Geh nicht, Vic«, sagte er. »Am Tag, nachdem du hinuntergingst, hab ich 'ne Erkundung gemacht. Sie haben gemerkt, daß wir nicht im CVJM verbrannt sind. Ich weiß nicht wie. Vielleicht haben die Köter unsere Spur gewittert. Ich hab aufgepaßt, aber hierher sind sie uns nicht gefolgt. Kann ich verstehen. Du weißt nicht, wie das ist, nachts hier draußen zu liegen, Mann… Du weißt es nicht…« Ihn schauderte. »Nimm's nicht so tragisch, Blood.« »Aber in der Stadt sind wir verloren. Wir können nicht zurück. Wir müssen irgendwo anders hin.« Das war das Fatale. Wir konnten nicht zurück, und mit Blood in dieser Verfassung konnten wir auch nicht vorwärts. Und ich wußte: So gut ich auch allein war, ohne ihn war ich verratzt. Und hier gab es nichts zu essen. Aber er brauchte etwas, sofort, und auch einen Arzt. Ich mußte etwas tun. Ich mußte es gründlich tun, und schnell. »Vic!« Quilla Junes Stimme war schrill und weinerlich. »Komm jetzt. Er wird es schon schaffen. Beeilen wir uns.« Ich kauerte da und blickte zu ihr auf. Die Sonne ging jetzt unter. Blood zitterte in meinen Armen. Sie hatte einen schmollenden Gesichtsausdruck. »Wenn du mich liebst, dann kommst du jetzt.« Nein, ich konnte nicht ohne ihn sein. Ich wußte es. Ob ich sie liebte? Im Kessel hatte sie mich gefragt: weißt du, was Liebe ist? – Es war ein kleines Feuer, nicht annähernd groß genug, um von einem Roverpak in den Außenbezirken der Stadt entdeckt zu werden. Kein Rauch. Und nachdem Blood nach Herzenslust gegessen hatte, trug ich ihn die anderthalb Kilometer bis zu dem Luftschacht. Wir kletterten hinein und verbrachten dort die Nacht. Ich hielt ihn in meinen Armen. Er schlief ruhig. Am Morgen versorgte ich seine Wunden, so gut ich konnte. Er würde es schaffen; er war stark. Er aß wieder. Vom Abend vorher war noch genügend da. Ich aß nichts. Ich war nicht hungrig.
Dann begannen wir, durch das verbrannte und verwüstete Land zu wandern. Wir würden eine andere Stadt finden. Wir würden durchkommen. Wir mußten langsam gehen; Blood hinkte noch. Es dauerte lange, bis ich nicht mehr ihre Stimme zu hören glaubte. Ihre Stimme, die immer wieder fragte: »Weißt du, was Liebe ist?« Natürlich weiß ich es. Ein Junge liebt seinen Hund. Originaltitel: A BOY AND HIS DOG Copyright © 1969 by Harlan Ellison
Bruce McAllister
HÖRT DIE STIMMEN Langsam und vorsichtig setzte sich Robert auf seinem Bett in dem weißen Ruheraum auf. Wie eine Membrane auf dem unendlich sauberen Skelett seines unmittelbaren Universums lockerte sich das zerknitterte Leintuch über seinen Beinen, das sich mütterlich um die Matratzenecken schlang wie die Flügel einer großen Albino-Fledermaus. Mit nervöser Vorsicht nach links und rechts blickend, verhielt sich Robert eine Stunde lang still, dann zwei, und drei – dann fuhr er überrascht zusammen, als Luft durch seine eigenen Nasenlöcher pfiff. Unter der schlaffen marmorbleichen Haut seiner Stirn regten sich weiter morgendliche Gedanken seiner zwei Persönlichkeiten. Aber er verhielt sich immer ruhig, und so waren die Wände seines Zimmers glatt, ohne Polsterung. »Oh, ich bin hier schon lange Zeit, und, oh, ich habe schon lange keine Bewegung mehr gemacht. Ich möchte mich bewegen, dieses Bettuch glattstreichen – die Fliege am Himmel dieses Raumes fassen. Aber ich will Ihnen sagen: wenn ich eines von beiden täte, würde Vater mich ermahnen, es zu unterlassen. So einfach ist das. Vater ist immer hier, und er weiß, was ich nicht tun darf, und er sagt es mir. Oh, wenn ich meinen Arm ausstreckte und die Fliege berührte, so würde auch Vater seinen Arm ausstrecken, wo immer er auch ist, und mein Gesicht berühren. Und die Gewalt seiner Hand würde auf mich wirken wie meine Hand auf die Fliege, wenn ich sie zerquetschte. Diese Frau mit dem Tablett – sie nennt sich Schwester und sagt, daß ich in einem Krankenhaus sei – doch ich muß zu Hause sein, denn Vaters Stimme ist ja allezeit da. Sehen Sie das Tablett und die Schwester? Ich möchte sie jetzt rufen, aber Vater würde mich hören und mich schlagen. Vater erlaubt mir Frühstück, Mittag- und Abendessen. Deswegen strecke ich meine Hand aus und berühre das Tablett. Vater läßt mich auch kauen und schlucken, was ich jetzt tue. Auch ein Stück Kuchen liegt auf dem Tablett. Er riecht gut und…«
Nein, Bobby! Der Kuchen ist süß, schlecht für dich und deine Zähne. Schlecht für deine Adern, schlecht für dein Gehirn. Tausendmal habe ich dir gesagt – iß, um zu leben, lebe nicht, um zu essen. So steht es in der Bibel, und Benjamin Franklin, ein großer Mann der Vereinigten Staaten von Amerika, hat es auch gesagt. Kein Kuchen. Sag dem Kuchen Lebewohl. »Leb wohl, Kuchen. Vater weiß, was ich nicht essen sollte, und er sagt mir, was ich nicht essen darf. Hätte ich nur ein kleines Stück dieses Zitronencremekuchens versucht, dann wäre jetzt Blut auf meiner Nase, oder ich hätte aufgeschürfte rote Wangen oder purpur-violette Augen, so wie Vater sie mir immer verpaßt, wenn ich etwas Schlimmes tue.« Sie fragen mich wieder, wie das zu jener Zeit war. Vor Robert. In der Hauptsache war ich jung, Rechercheur für die Zeitschrift Decade. Ich schrieb ein bißchen für die Zeitschrift, aber im Grunde war ich ebenso ahnungslos wie sonst jedermann im Lande. Glauben Sie wirklich, daß meine Erinnerung irgend etwas wert ist? Meinetwegen, Ihre Ohren sind es ja, die leiden müssen. P wie Parapsychologie und Petrocelle. Fangen wir mit dem Doktor an, denn sein Verdienst – oder seine Schuld – ist das alles. Dr. Sebastian Petrocelle veranlaßte die Invasion der Nervenheilanstalten im Jahre 1997. Als ein verfolgtes Mitglied des Verteidigungsministeriums hatte er das Recht und die Pflicht, genau das zu tun. Es war ja einer seiner eigenen Kollegen – der einzelgängerische Mystiker – gewesen, der entdeckt hatte, daß Geisteskranke unheimliche Fähigkeiten der Vorhersicht (genannt ESPerzeption), Telekinese (ESKonzeption), Telepathie (ESP und ESK) et para-cetera besitzen. Als der erste Bericht über die bedeutsamen Wechselbeziehungen endlich erschien, machten sich Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker rund um die Welt auf, packten erschreckt das Problem am Kragen und schrieben innerhalb eines Monats nach dieser Entdeckung fünftausend Bände so dick wie Krieg und Frieden. Fachleute älteren Jahrgangs, die die Tatsache der extrasensorischen Perzeption und Konzeption (ESPK) nicht anerkennen wollten, verpaßten den Anschluß und konnten sich nicht mit all den vielen Doktorgraden zieren, die wegen der Unmenge
plötzlich möglicher neuer Dissertationsthemen beinahe gratis zu haben waren. Wer gewillt war, das Vorhandensein von ESPK einzuräumen – natürlich mit der Gewißheit des Wissenschaftlers, daß extrasensorisch nur eine noch unentdeckte Bedeutung beinhaltete, der seine eigenen, leicht verständlichen Ordnungsgesetze hatte – nahm sich der entscheidenden Frage an: Ist die Existenz extrasensorischer Perzeption und Konzeption das Ergebnis oder die Ursache von Geisteskrankheiten? Von den fünftausend weitschweifigen Auslassungen über diese Frage antworteten tausend: »Krankheit ist die Ursache.« Tausend behaupteten: »Krankheit ist das Ergebnis.« Die restlichen dreitausend schlossen in modischer EinerseitsAndererseits-Manier: »Die beiden Phänomene können nicht unabhängig voneinander gesehen werden – eine klare Kausalbeziehung ist nicht ersichtlich.« Schließlich las auch Dr. Petrocelle eine der fünftausend kompetenten Arbeiten über das Problem von ESPK und Geisteskrankheit. Zufällig war diese Arbeit der Prototyp aller anderen und von einem Kollegen von ihm geschrieben. Petrocelle las das Buch zwölf Monate, nachdem er die Besetzung der Heilanstalten angeführt hatte, genau ein Jahr nach seinem grandiosen faux pas mit Robert Johnson. Nachdem er es sich gründlich mit dem Verteidigungsministerium verdorben hatte, war er in einem Erholungsheim gelandet, wo er endlich dazu kam, die Arbeit zu lesen. Anfangs war das Kraftpotential in der Wechselbeziehung zwischen ESPK und Geisteskrankheit alles, was Petrocelle interessierte. »Kraft für den Fortschritt«, war sein bekannter Wahlspruch, »und Fortschritt im Wettstreit mit dem Feind – der nicht immer unser Feind gewesen, in dieser Stunde aber dazu geworden ist.« Es war für Dr. Petrocelle ein leichtes, Geldmittel für seine Erforschung des Kraftpotentials zu erhalten, denn seine gewohnheitsmäßige Skepsis gegenüber Parapsychologie und anderen Bereichen des Okkulten war nur zu gut bekannt. Sein Mißtrauen war anerkannt und respektiert und befand sich in Übereinstimmung mit den Ansichten der Leute, die im Verteidigungsministerium für die Gewährung von Zuschüssen verantwortlich zeichnete.
»Wenn unser Dr. Petrocelle wirklich etwas an diesen Theorien findet, dann muß auch was dran sein.« Sie ahnten nicht, daß das noch eine Untertreibung war. Tatsache war, daß Dr. Petrocelle nach Strohhalmen griff und sich Skeptizismus gar nicht leisten konnte. Seine Karriere im Verteidigungsministerium stand auf dem Spiel. Wenn man ihn über die ziemlich nebulöse Natur der Parapsychologie und seine Suche nach ESPK-trächtigen Gehirnen befragte, sagte Dr. Petrocelle: »Wir kommen voran.« Das bedeutete, daß er und seine Kollegen seit mehr als fünf Jahren nichts Nennenswertes zuwege gebracht hatten, daß sie sich deshalb hüteten, mehr als Optimismus zu äußern, und daß um des persönlichen Überlebens willen Petrocelle et dl. willens waren, es mit allem zu versuchen, was nur halbwegs mit Wissenschaft in Zusammenhang gebracht werden konnte. Wie häufig bei überhastet in Angriff genommenen Regierungsprojekten wurde irgendwie eine Maschinerie zusammengebastelt, die das Vorhandensein dessen, was in der Öffentlichkeit nunmehr »Sinneskraft« genannt wurde, im Prinzip nachweisen sollte. Petrocelle und Genossen entschlossen sich hingegen, diese Kraft FA zu nennen: fortiter animae, die schwache Essenz einer überromantischen lateinischen Wendung, die ihrer Arbeit Würde verleihen sollte – wobei sie gleichzeitig davon Abstand nahmen, sich der traditionellen griechischen Nomenklatur zu bedienen, um bei einem Scheitern ihrerseits diese wundervolle Sprache der Medizin nicht zu beflecken. Die Maschine wurde Elektro-FAgraph genannt. Dr. Petrocelle wurde bei seiner Arbeit ermutigt, als sein ElektroFAgraph in einer bretonischen Heilanstalt einen Patienten mit verblüffendem FApotential entdeckte. Zunächst war sich Petrocelle über das Ausmaß der in dem Patienten schlummernden Kraft nicht recht im klaren – doch seine Ungewißheit schwand, als die letzte dem Patienten verschriebene Schockbehandlung den armen Mann abrupt aus seiner geistigen und physischen Erstarrung löste. Unglücklicherweise gab die Schocktherapie dem Patienten nur körperliche Bewegungsfähigkeit – er blieb weiterhin völlig verrückt. Ein Polizist mußte ihn erschießen, als er,
in der Hoffnung auf Entkommen, sein FA dazu benützte, ein drei Meter großes Loch in die Anstaltsmauer zu brechen. Der Beamte erschoß ihn, denn »der Mann war einfach nicht aufzuhalten«, wie er sagte. Und jedermann mußte zugeben, daß er dem FAPhänomen unmöglich mit bloßen Händen beikommen konnte. Bevor das Geschoß ein ungleich kleineres, doch nicht weniger bedeutungsvolles Loch in seinen Körper bohrte, sprach der Auslöser der FAKräfte noch »Ich muß hier raus!« – Worte, die so schnell nicht in Vergessenheit geraten sollten. Jedermann nahm an, daß er sich dabei auf die Verwahrung in der Heilanstalt bezog. Der Polizist war nicht der Typ, der bei jeder Gelegenheit auf Geisteskranke schießt. Das auslösende Moment war in diesem Fall, daß der von der Krankenhauswand fliegende Putz ihn an einen Film mit dem Titel Die Erde im Kampf mit dem Meister des Geistes erinnerte, einen Film, in dessen heißester Szene ein Polizist das Glück hatte, den ersten auf der Erde gelandeten, zwei Meter zehn großen Geistesmeister zu erschießen – Glück deshalb, weil nach diesem Vorfall kein menschliches Wesen mehr willens oder in der Lage war, auf irgend etwas zu schießen. Nach der unglücklichen Exekution seines Wunderknaben wurde Petrocelle vorsichtig und wissenschaftlicher. Er schritt zur Tat und brachte mehr Menschen auf seine Seite – angeblich für Statistiken, Experimente und überhaupt zur Gewinnung von Erkenntnissen, in Wirklichkeit aber, um sich verbale Unterstützung zu sichern, falls das FAUnternehmen für den Geschmack der Regierung zu langsam vorankommen sollte. In der staatlichen Heilanstalt von Adaja fanden Dr. Petrocelle und die FA-Maschine einen zweiten Patienten. Bei ihm zischte der ElektroFAgraph in einer Weise, die nur zu sehr an den dahingeschiedenen bretonischen Patienten erinnerte. »Sie haben mir also den klinischen Bericht über Robert gegeben«, sagte Professor Stapleton. »Ich verstehe nur nicht, wie Sie seine Schizophrenie mit einer Maschine kurieren und ihn obendrein dazu bringen wollen, mit
seinem FA für die Regierung zu arbeiten, wenn er geheilt ist. Ich bin Professor, Dr. Petrocelle, nicht Arzt oder Regierungsbeamter.« »Ich weiß, Stapleton. Aber Sie kennen doch diese Maschine, und eben deswegen brauche ich Sie hier.« Stapleton nickte zweifelnd. »Was wir tun werden ist folgendes«, fuhr Dr. Petrocelle fort und tätschelte die Lehrmaschine. »Wir werden in Roberts Geist hineinkriechen. Statt einem schlafenden Studenten mit ihrer einflußreichen Stimme etwas zu erzählen, werden Sie in Roberts Geist hineinkriechen und seine beiden Seiten überzeugen – die Vater- und die Sohn-Hälfte, die sein ganzes Wesen unbeweglich und sein FA nur potentiell machen. Überzeugen Sie sie, daß sie zusammenarbeiten sollen. Sagen sie ihnen, daß sie sich einst einig waren und sich fortan für immer einig sein sollen. Robert wird Ihre Stimme, Stapleton, als eine weitere Vater-Stimme verstehen, und seine Sohn-Stimme wird sich mit der kritischen Vater-Stimme vereinen, die er sich selber geschaffen hat. Dann ziehen Sie sich aus seinem Geist zurück, lassen Vater und Sohn versöhnt und glücklich vereint zurück, und Robert wird seine Bewegungsfähigkeit wiedererlangen und sein FA gebrauchen können. Wenn er wieder eines Sinnes ist – darf ich mich so ausdrücken? – dann wird er in unserer Hand sein. Uns bleibt dann, ihm zu erzählen, daß die drahtlosen Elektrodenscheiben für die Lehrmaschine nur Hörhilfen sind, damit er seinen Vater besser versteht – Robert wird sie ansetzen und keine Schwierigkeiten machen. Er hat noch nie von einer Lehrmaschine gehört. Daneben scheint seine Intelligenz unterdurchschnittlich zu sein.« »Wie wollen Sie ihn dazu bringen, sein FA für die Regierung einzusetzen? Wissen Sie, er könnte es für sich selbst gebrauchen und zum Verbrecher werden. Man nimmt jedenfalls allgemein an, daß sich die Dinge so entwickeln würden.« »In dem Wortmorast des Berichtes, den Sie da in der Hand halten, heißt es, daß Robert sowohl sehr religiös wie auch sehr patriotisch ist – so wie sein wirklicher Vater war. Zum Unglück für Roberts Geisteszustand – doch zum Glück für unsere Ziele – war sein Vater auch überaus streng. Patriotismus, religiöser Eifer und auch Strenge der Vater-Stimme in Roberts Vorstellung werden in dem Jungen Angst vor mangelndem
Patriotismus erzeugen – unter anderem. Wir sollten da keine Schwierigkeiten haben.« Stapletons schmerzlicher Ausdruck verriet gewisse Zweifel. Dr. Petrocelle entschied sich sofort für verbale Anästhesie, seine Spezialität. Petrocelle begann: »Robert – mutterlos seit dem Alter von sieben Jahren – hat schon immer ein Problem gehabt. Sein Vater war ein Ausbund an Disziplin, in seinem Grundsatz ›Brutalität zum Besten höherer Moralität‹ nur der Inquisition vergleichbar. Schon in sehr jugendlichem Alter mußte sich Robert daran gewöhnen, daß sein Vater jede seiner Taten mit feurigen Worten und physischer Drangsal begleitete. Robert kapselte sich ab, wurde sozial beziehungslos, aß kaum noch, denn selbst wenn er sich völlig in sich selbst verkroch, konnte er der Stimme seines Vaters nicht entkommen. Er ist nicht autistisch oder katatonisch, technisch gesehen, aber er ist übel dran. Die Gewöhnung an Kritik erforderte, daß Robert sich allmählich ein väterliches Ungeheuer einbildete. Für ihn ist die Vater-Stimme durchaus Wirklichkeit, obgleich sie nur eine Ausprägung seiner eigenen, verallgemeinerten Schuldgefühle ist. Unglücklicherweise – oder zum Glück, das ist uns noch nicht völlig klar – ist Robert nicht gerade überintelligent. Der Disziplinwahn seines Vaters war nicht ganz ohne Methode, doch Robert, noch sehr jung und nicht eben genial, konnte die Methode nicht erkennen. Unbewußt zog er den Schluß, daß sein Vater im Idealfall alles kritisieren würde, was der Sohn tat. Somit greift die Vater-Stimme jetzt beinahe alles an, was er tut oder sagt. Sein Überlebensinstinkt – um es unkompliziert zu sagen – zwingt Robert zu glauben, daß sein Vater keinen Anlaß zur Kritik sähe, wenn er nur das zum Leben Allernotwendigste zu sich nähe – und dennoch hungert er sich manchmal fast zu Tode. Manchmal, wenn auch nicht häufig, wenn er völlig wach ist zum Beispiel, sagt er Dinge, die seine allgegenwärtige Furcht vor seinem allmächtigen und scheinbar allwissenden Vater zum Ausdruck bringen.« Professor Stapleton, dessen Ohren zu ertauben begannen, murmelte »Du lieber Gott.« »Ich möchte also«, schloß Petrocelle und hob seine Stimme plötzlich aus ihrer Monotonie, »ich möchte, daß Sie, Stapleton, Vater und Sohn
vereinen. Führen Sie ein Gespräch von Mann zu Mann mit Vater und Sohn. Okay?« Robert blinzelte und bewegte sich unruhig auf seinem Bett. Sein Steißbein fühlte sich ganz abgestorben an; noch einmal veränderte er seine Lage und betrachtete dann seine Hände. An seinen Schläfen waren kleine Scheiben befestigt. »Oh, ich möchte auf meine Fingernägel beißen. Mit meinen Zähnen draufbeißen, bis die Nägel wie kleine Halbmonde abgehen. Jedoch, oh, ich weiß, daß ich das nicht tun sollte, ich werde brav sein und an andere Dinge denken. Durchs Fenster scheint die Sonne so schön. Aber sie kitzelt mich auf der Nase, und ich möchte mich kratzen.« Robert, mein Sohn, sich an der Nase zu kratzen ist unanständig. Das sind schlechte Manieren. Du könntest deine Nase infizieren, sie würde ganz rot und geschwollen werden und auch ganz krank aussehen. Und das möchtest du doch nicht, oder? Wenn du dich an der Nase kratzt, wirst du aussehen wie ein Flegel, der keinerlei Erziehung genossen hat, also… BOBBY! ROBERT! BOB! »Was ist das? Jemand ruft mich. Und es ist nicht Vater.« Wenn jemand dich ruft, Bobby, dann hör nicht hin! Hör einfach nicht auf die Stimmen, die du da vernimmst. Man kann nicht immer alles glauben, was man hört. Hör auf deinen Vater, nicht… BOBBY! BOBBYS VATER! BOBBY UND BOBBYS VATER? IHR SOLLTET NICHT STREITEN. Eine neue Stimme sprach zu ihm. Hör nicht auf diese Stimme! DU BIST DER SOHN DEINES VATERS, BOBBY. BLUT VOM SELBEN BLUTE. DEIN VATER LIEBT DICH, SELBST WENN ER DICH SCHLÄGT, ABER ER WIRD DICH NICHT MEHR SCHLAGEN UND DICH NICHT MEHR ANSCHREIEN, NICHT WAHR, BOBBYS VATER? IHR SEID VATER UND SOHN UND MÜSST SO DENKEN UND HANDELN. DU MUSST TUN, WAS DU TUN MÖCHTEST, BOBBY – DEIN VATER WÜNSCHT WIRKLICH, DASS DU TUST, WAS DU TUN WILLST. DU BIST
SEIN SOHN, ER IST DEIN VATER. DAS IST DIE HERRLICHSTE BEZIEHUNG DER WELT – IHR MÜSST ZUSAMMENARBEITEN, MÜSST EINANDER HELFEN. »Sollte ich der Stimme antworten? Ich glaube, ich werde der Stimme antworten.« Nein! Es ist die Stimme des Bösen. »Warum ist die Stimme böse?« ICH BIN NICHT DIE STIMME DES BÖSEN! ICH BIN DIE STIMME DES GUTEN, DER GEIST DES GUTEN IN VATER UND SOHN. »Es ist also eine gute Stimme, Vater?« Ich weiß nicht, Bob. Die Stimme kann gut oder böse sein. »Soll ich aufstehen und das Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen, während ich dieser neuen Stimme zuhöre, die mir auftrug, zu tun, was ich will?« JA, MACH DAS FENSTER AUF, BOB. DEIN VATER WILL, DASS DU DAS FENSTER ÖFFNEST, DASS DU ALLES TUST, WAS DU TUN MÖCHTEST. DU BIST STARK, BIST EIN GUTER JUNGE, UND DU HAST EINE GROSSE MACHT, ANDEREN ZU HELFEN UND DICH SELBST GLÜCKLICH ZU MACHEN, INDEM DU TUST, WAS DU MÖCHTEST. MACH DAS FENSTER AUF, WENN DU WILLST. »Soll ich das Fenster öffnen?« TU WAS DU MÖCHTEST, BOBBY. Ja, ich glaube, du solltest genau das tun, was du tun willst, Bobby. Dr. Petrocelle war ganz aufgeregt. »Stapleton, haben Sie gesehen, wie er sich schließlich entschlossen hat, das Fenster zu öffnen? Das Knallen dieses Fensters konnte selbst Taube erschrecken. Dabei hat er es nicht einmal berührt. Er saß nur da auf seinem Bett und ließ dann seinem Willen freien Lauf, und es wirkte so, daß das Fenster richtig an die Wand knallte. Welch ein FA!« »Ja, ich hab's gehört und auch gesehen.« Stapleton war des Doktors Überschwang nicht recht angenehm. Auch spürte er ein Schuldgefühl.
»Aber ich bin froh, wieder aus seinem Geist heraus zu sein. Ein Junge hat, wie ein Mann auch, das Recht auf eine gewisse innere Privatspähre.« »Gewiß, gewiß. Robert wird jetzt für uns arbeiten.« Petrocelles Enthusiasmus ließ plötzlich etwas nach, und er fuhr fort: »Ich wünschte, Sie hätten etwas über die Arbeit für die Nation zu ihm gesagt und daß er seine Kraft für sein Land einsetzen soll.« »Ich sagte ihm, daß er die Macht habe, anderen zu helfen.« »Ja, ich weiß, aber Sie hätten etwas über die Nation sagen sollen. Also, jedenfalls ist er ein Patriot – sein Vater war sehr patriotisch. Den ganzen Morgen hat Robert mit jedermann gesprochen – mit allen Ordonnanzen und allen Ärzten – und so werden wir ihm die Sache mit dem Vaterland schon beibringen können.« Robert lächelte, sagte laut »Hallo« zu sich selbst und räkelte sich, wobei seine Blicke stolz auf dem Fenster ruhten. Die Bettücher fühlten sich kühl an, und zum erstenmal streichelte er sie mit Nachdruck. »Oh, das Fenster ging richtig mit Knall auf, nicht wahr?« Ja, Bob. »Die Stimme hatte recht. Ich habe jetzt eine große Kraft.« Ja, eine gute Kraft, Bob. »Ich wünschte, lieber Vater, ich wüßte, warum diese Stimme sprach, woher sie kam, was sie war. Sie war wie von einem Geist – klang so, als käme sie von weit her. Aber sie war vernünftig. Vater und Sohn. Ich liebe dich, Vater, wie ein Sohn seinen Vater lieben soll.« Ich liebe dich auch, mein Sohn. Es war gut von der Geisterstimme, zu kommen, zu sprechen und bei uns zu sein – so daß wir jetzt verstehen, was wir tun sollen und was du mit deiner Kraft tun sollst. Was immer du auch tun willst, nicht wahr, Bob? Was auch immer, ja? »Natürlich. Ich wollte nur, ich wüßte, woher die Stimme kam, was sie war. Die Stimme gefiel mir. Ich möchte, daß sie wiederkommt, weißt du.« Das möchte ich auch, Bob. Wir beide wollen, daß sie wiederkommt und bei uns ist. Sie gab uns ein gutes Gefühl, nicht wahr, Bob?
»Ja, genau das. Vielleicht wenn wir angestrengt lauschen, können wir sie wieder hören. Kannst du sie hören?« Ich weiß nicht. »Ich glaube, ich kann sie hören, ganz leise.« Ich glaube, ich kann sie hören. Wir beide lieben sie und wollen, daß sie zurückkommt. Ich glaube, ich kann sie hören. »Wir können sie hören.« Ja, ich glaube, wir können sie hören. KANNST DU MICH HÖREN? ICH BIN WIEDERGEKOMMEN, UM BEI DIR ZU SEIN. DENK DARAN, WIR DREI. KANNST DU MICH HÖREN? »Ja, wir können dich hören. Aber wer bist du, warum bist du hier?« Ja, warum bist du hier? LASS MICH NACHDENKEN. ICH BIN HIER. WER BIN ICH? WARUM BIN ICH HIER? LASS MICH NACHDENKEN. »Ich werde auch über dich nachdenken.« Wir beide, Vater und Sohn, werden über dich nachdenken und darüber, warum du hier bist und wer du bist. WIR WERDEN ALLE DREI ÜBER MICH NACHDENKEN – MICH, DIE GEISTERSTIMME, DIE GUTE STIMME, DIE ZUM VATER UND ZUM SOHNE KOMMT UND DEM SOHN ZEIGT, DASS ER EINE GROSSE KRAFT HAT, ANDEREN ZU HELFEN. LASST UNS NACHDENKEN. Sobald Stapleton und Petrocelle Roberts Raum verlassen hatten, schloß der Junge die Tür und begann, durchs Fenster in den Himmel zu starren. Draußen, vier Schritte von der Tür entfernt, hielt Petrocelle den Professor auf. Er fragte: »Was hat er gemeint? Die Geisterstimme ist wieder da? Es war unmöglich, mit ihm darüber zu sprechen – er redete immerzu dieses unverständliche Zeug von der Geisterstimme.«
Stapleton war ungehalten. »Er hat geglaubt, die Stimme der Lehrmaschine – meine Stimme – sei wiedergekehrt. Jetzt haben wir seine Schizophrenie gesteigert. Er hat nun drei Stimmen in seinem Kopf.« »Beruhigen Sie sich. Es ist alles in Ordnung.« Petrocelle sah ihm in die Augen. »Er hat die Kraft, und nichts kann daran etwas ändern, weil er jetzt glücklich ist – er hat einen Weg aus seiner Frustration und aus seinem Elend mit der kritischen Vaterstimme gefunden. Und seine FAKraft imponiert ihm. Die Vaterstimme plädiert nun auch voll und ganz für diese Kraft. Die Geisterstimme, die er sich einbildet, wird ihm nichts tun. Wir müssen ihm nur noch beibringen, daß er für die Verteidigung der Nation arbeiten soll.« »Können wir ihn denn nicht einige Zeit sich selbst überlassen – er wirkt so furchtbar müde. Er hat einen großen Wandel durchgemacht.« »Wir werden ihm eine Nacht lang Ruhe gönnen und dann am Morgen mit ihm sprechen. Die Regierungsdrachen werden mir Feuer ins Genick blasen, wenn ich Robert nicht bald zu einer produktiven Tätigkeit bringe. Ah, wenn sie sehen, wie er Fenster öffnet oder Fliegen zerquetscht, wie nur er es kann…« Petrocelle geriet in Verzückung. Stapleton murmelte in sich hinein. Krankenschwestern, Wärter, Polizei und ohne Zweifel auch Vertreter des CIA und des FBI saßen, standen und gingen überall in der Anstalt herum. Stapleton brauchte dreißig Minuten, um Dr. Petrocelle zu finden. Der Doktor lehnte im Hauptbüro über einem Telefon; sein Gesicht war grau, seine Augen zuckten voll dunkler Gedanken. »Robert ist weg«, kam es von Petrocelles erschlafften Lippen. Stapleton seufzte und zuckte die Achseln. »Was haben Sie erwartet? Er war ein Junge mit unruhigem Blut.« »Wir haben nicht einmal begonnen, über die Nation und über die Verteidigungspläne des Landes für die nächsten zehn Jahre zu sprechen. Seine Kraft sollte im Mittelpunkt stehen.« »Er ist ein Junge, und er hat gerade einen ihm geneigten Vater und eine neue Stimme in seinem Kopf entdeckt. Haben Sie wirklich geglaubt, er würde in der Anstalt bleiben, wenn es draußen eine ganze Welt zu erfor-
schen gibt – und nachdem er diese Kraft besitzt, dieses mächtige, wunderbare Spielzeug?« »Lieber Gott, Stapleton – der Junge liebt sein Vaterland, oder? Er würde doch nichts tun, was gegen sein eigenes Land gerichtet ist, glauben Sie nicht? Seine Kraft ist so groß…« »Nein, ich glaube nicht, daß er so etwas tun wird. Schlimmstenfalls wird er Streiche verüben. Es sei denn, Sie versuchen, seine Bewegungsfreiheit zu beschneiden. Ich glaube, er wird bald wieder hier sein. Dann können Sie mit ihm über die nationale Verteidigung sprechen. Er wird nichts kaputtmachen – keine Angst. Zumindest können Sie sicher sein, daß er nicht auf die andere Seite überwechselt.« Stapleton erlaubte sich eine kleine Dosis Sarkasmus. »Seine gute religiöse und patriotische Erziehung – oder soll ich sagen Formulierung – stellt das sicher.« Der Professor verließ den Doktor und kehrte zu seiner Lehrmaschine zurück, die schon für den Rücktransport zur Universität hergerichtet und verpackt war. Er lächelte, lachte leise in sich hinein – um nicht zu weinen. Die Sonne schien wie ein gelbes Zyklopenauge, als Robert friedlich seines Weges ging. »Ich bin der Sohn, und ich besitze die Kraft, anderen zu helfen. Sechs Milliarden Menschen gibt es auf dieser Erde, und sie alle leiden auf sechs Milliarden verschiedene Arten. Ich bin der Sohn, ich besitze die Kraft. Ich habe die Kraft des Guten, und ich weiß, wem die Geisterstimme gehört.« Und du hast entdeckt, wer du wirklich bist, Sohn. Jetzt wissen wir, wem die Geisterstimme gehört und wer ich bin. UND DU, VATER DES SOHNES, HAST ENTDECKT, WER DU WIRKLICH BIST. ICH BIN DER GEIST, UND WIR SIND EINS, UND DER SOHN HAT DIE KRAFT! WIR, HEILIGE DREIEINIGKEIT.
»Ich bewege mich, und ich werde nicht eher damit aufhören, als bis ich nicht nur zwei, sondern sechs Milliarden Stimmen höre. Bis die sechs Milliarden auf dieser Erde meine drei Stimmen hören können.« Unsere drei Stimmen. UNSERE DREI STIMMEN. Originaltitel: AND SO SAY ALL OF US Copyright © 1969 by Galaxy Publishing Corp.
Ursula K. LeGuin
NEUN TODE STIRBT DER LETZTE Sie war innerlich lebendig, äußerlich aber tot; ihr Gesicht war ein dunkles Netzwerk von Falten, Schwellungen und Runzeln, sie war blind und kahl. Die Zuckungen, die über Libras Antlitz gingen, waren Zuckungen des Verfalls: Darunter, in den schwarzen Korridoren, in der Dunkelheit der Hallen unter der Haut, spielten sich chemische Alpträume ab, die Jahrhunderte andauerten. »Oh, dieser verdammte, aufgeblähte Planet«, murmelte Pugh, als ein Zittern durch die Kuppel ging, und einen Kilometer südwestlich ein Furunkel platzte, silbrigen Eiter durch den Sonnenuntergang spritzend. Seit zwei Tagen ging die Sonne unter. »Es wird mir gut tun, wieder ein menschliches Gesicht zu sehen.« »Danke«, sagte Martin ironisch. »Natürlich, deines ist zwar auch menschlich«, sagte Pugh, »aber das sehe ich jetzt schon so lange, daß ich es nicht mehr ertragen kann.« Der Kommunikator, den Martin bediente, gab wirre Radvidsignale wieder, die schwanden und dann als ein Gesicht und eine Stimme wiederkehrten. Das Gesicht füllte den Bildschirm aus; die Nase eines assyrischen Königs, die Augen eines Samurais, tiefbraune Haut, stahlgraue Augen: Jung, edel, majestätisch. »Sehen Menschen wirklich so aus?« sagte Pugh ehrfürchtig. »Das hatte ich schon vergessen.« »Sei still, Owen, wir senden.« »Libera-Forschungszentrum, bitte kommen. Hier Landefähre Passarine.« »Hier Libra. Leitstrahl justiert. Kommen Sie herunter.« »Abtrennung in sieben E-Sekunden. Bleiben Sie dran.« Das Bild auf dem Schirm verschwand. »Sehen sie alle so aus? Martin, wir beide sind häßlicher als ich dachte.« »Sei still, Owen…«
Zweiundzwanzig Minuten lang leitete Martin das Landefahrzeug herunter; dann sahen sie es durch die transparente Kuppel: Ein kleiner Stern, der im blutroten Osten unterging. Die Landung war sauber und glatt; Libras dünne Atmosphäre trug wenig Schall. Pugh und Martin schlossen die Helme ihrer Raumanzüge, durchquerten die Luftschleusen, und liefen, Balettänzern vergleichbar, mit schwebenden Schritten auf das Raumschiff zu. Östlich davon kamen in Vier-Minuten-Intervallen und Hundert-Meter-Abständen drei Ausrüstungs-Moduln herunter. »Kommt heraus«, sagte Martin über die Sprechanlage, »wir warten an der Tür.« »Steigt aus, das Methanbad ist prima«, sagte Pugh. Die Luke öffnete sich. Der junge Mann, den sie auf dem Bildschirm gesehen hatten, schwang sich mit geschmeidiger Bewegung heraus und landete im Staub und Geröll der Libra. Martin schüttelte ihm die Hand, doch Pugh starrte auf die Luke, aus der ein weiterer junger Mann mit derselben geschmeidigen Bewegung sprang, gefolgt von einer jungen Frau, bei der sich genau die gleichen Bewegungen wiederholten. Sie alle waren groß, gebräunt, schwarzhaarig, mit hohem Nasenrücken, epikanthischer Falte, mit gleichem Gesicht. Sie alle hatten das gleiche Gesicht. Der Vierte sprang mit geschmeidigem Schwung aus der Luke. »Martin«, sagte Pugh, »wir haben es mit einem Klon zu tun.« »Stimmt«, sagte einer von ihnen, »wir sind ein Zehner-Klon. Der Name ist John Chow. Sie sind Leutnant Martin?« »Ich bin Owen Pugh.« »Alvaro Guillen Martin«, sagte Martin förmlich und deutete eine Verbeugung an. Ein weiteres Mädchen war erschienen, mit demselben schönen Gesicht; Martin starrte sie an, augenrollend wie ein nervöses Pferd. Über Klone hatte er offenbar nie viel nachgedacht, und jetzt erlitt er einen technologischen Schock. »Keine Aufregung«, sagte Pugh in seiner heimischen Mundart, »es sind nur Zehnlinge.« Er stand so nahe bei Martin, daß er seinen Ellenbogen berührte. Er selbst war froh über diesen Kontakt. Die Begegnung mit einem Fremden ist immer schwierig. Sogar überaus extravertierte Typen empfinden vor Fremden, und seien sie noch so bescheiden, eine gewisse Furcht, selbst wenn sie sich vielleicht nicht dar-
über im klaren sind. Wird er einen Narren aus mir machen, mein Image von mir selbst zerstören, Besitz von mir ergreifen, mich zerstören, mich verändern? Wird er anders sein als ich? Ja, das wird er sein. Das ist das Schreckliche daran: Die Fremdheit des Fremden. Nach zwei Jahren auf einem toten Planeten, und einem halben Jahr der Isolation in einem Zweier-Team ist es noch schwieriger, einem Fremden zu begegnen, so willkommen er auch sein mag. Man ist nicht mehr an Verschiedenheit gewöhnt, und so lebt die Furcht wieder auf, die primitive Angst, die alte Beklemmung. In ein paar Minuten hatten die fünf männlichen und fünf weiblichen Mitglieder des Klons alles das erledigt, wozu ein Mann vielleicht zwanzig gebraucht hätte: Pugh und Martin begrüßt, einen Blick auf die Libra geworfen, das Schiff entladen, sich abmarschbereit gemacht. Sie machten sich auf und ergossen sich in die Kuppel wie ein goldener Bienenschwarm. Ihr Summen und Brummen belebte die Stille und erfüllte den Raum mit einem honigfarbenen Schwarm menschlicher Gegenwart. Verwirrt betrachtete Martin die langbeinigen Mädchen, und sie lächelten ihm zu, drei zu gleicher Zeit. Ihr Lächeln war sanfter als das von Jungen, und doch voll strahlenden Selbstbewußtseins. »Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung«, murmelte Owen Pugh seinem Freund zu, »das ist es. Überleg mal, was das heißt, zehnmal man selbst zu sein. Neunmal Unterstützung für jeden Antrag, neunmal ja bei jeder Abstimmung. Es wäre herrlich!« Doch Martin schlief. Und die John Chows hatten sich alle sofort schlafen gelegt. Ihr ruhiger Atem erfüllte die Kuppel. Sie waren jung, sie schnarchten nicht. Martin ächzte und schnarchte, sein Gesicht entspannt im Dämmerlicht von Libras Hauptplaneten, der endlich untergegangen war. Pugh hatte die Kuppel gereinigt, und Sterne schauten herein, eine große Gesellschaft von Lichtern, ein Klon funkelnden Glanzes. Pugh schlief und träumte von einem einäugigen Riesen, der ihn durch die bebenden Hallen der Hölle jagte. Von seinem Schlafsack aus beobachtete Pugh das Erwachen des Klons. Alle erhoben sich innerhalb weniger Sekunden, mit einer Ausnahme: Ein Junge und ein Mädchen schliefen noch, eng aneinander geschmiegt. Als Pugh dies sah, durchfuhr ihn ein Schock wie ein Erdbeben. Eigentlich schien ihm der Anblick erfreulich; was gab es sonst für
einen Trost auf dieser toten, hohlen Welt. Einer von den anderen schritt zu dem Paar. Die beiden erwachten, und das Mädchen, erhitzt und schlaftrunken, setzte sich auf, die goldenen Brüste entblößt. Eine ihrer Schwestern flüsterte ihr etwas zu; sie blickte zu Pugh hin und verschwand in dem Schlafsack, begleitet von lautem Gekicher, einem strengen Blick aus einer anderen Richtung und einer Stimme: »Nun ja, wir sind es gewohnt, einen Raum für uns selbst zu haben. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, Captain Pugh.« »Ist mir ein Vergnügen«, sagte Pugh, halb im Ernst. Er mußte jetzt aufstehen, und in den kurzen Hosen, die er im Schlafsack trug, fühlte er sich wie ein gerupfter Hahn, weiß, mager und pickelig. Selten hatte er Martin mehr um seine gebräunte Kompaktheit bewundert. Das Vereinigte Königreich war gut durch die großen Hungersnöte gekommen, hatte weniger als die Hälfte seiner Bevölkerung verloren: Ein Rekord, den nur eine strenge Ernährungskontrolle ermöglicht hatte. Schwarzhändler und Warenhorter waren hingerichtet worden. Selbst Krumen hatte man geteilt. Während in reicheren Ländern die meisten starben und es wenigen gut ging, ging es keinem Briten gut, aber nur wenige starben. Sie wurden alle mager. Ihre Söhne waren mager, ihre Enkel waren mager, klein, mit spröden Knochen, leicht infizierbar. Als die Zivilisation eine Frage des Anstehens wurde, hatten die Briten Schlange gestanden und so das Überleben der Stärksten durch das Überleben der Fairen und Vernünftigen ersetzt. Owen Pugh war ein knochiger kleiner Mann. Immerhin, er war da. In diesem Augenblick wünschte er, er wäre es nicht. Beim Frühstück sagte ein John: »Wenn Sie uns nun die Instruktionen geben wollten, Captain Pugh…« »Sagen Sie ruhig Owen.« »Wir können unseren Fahrplan schon ausarbeiten, Owen. Hat es seit Ihrem letzten Bericht etwas Neues über die Mine gegeben? Wir sahen Ihre Berichte, als die Passarine den Planeten V umkreiste.« Martin sagte nichts, obwohl die Mine seine Entdeckung und sein Projekt war, und Pugh mußte selbst sein Bestes tun. Es war schwierig, mit ihnen zu reden. Dieselben Gesichter, jedes mit dem gleichen Ausdruck
verständigen Interesses, neigten sich alle in fast gleichem Winkel ihm entgegen. Sie nickten alle zusammen. Über dem Abzeichen der Auswertungs-Gruppe auf ihrer Kleidung stand bei allen ihr Name; Vor- und Nachname war natürlich bei allen John Chow, doch die zweiten Vornamen waren verschieden. Die Männer waren Aleph, Kaph, Yod, Gimel und Samedh; die Frauen Sadhe, Daleth, Zayin, Beth und Resh. Pugh versuchte, sie bei diesen Namen zu nennen, gab es jedoch bald auf; manchmal war nicht einmal zu erkennen, wer von ihnen gesprochen hatte, so gleich waren die Stimmen. Martin bestrich und aß seinen Toast und fragte schließlich: »Ihr seid ein Team, richtig?« »Richtig«, sagten zwei Johns. »Gott, was für ein Team! Das war mir nicht klar gewesen. Inwieweit weiß jeder von euch, was die andern denken?« »Eigentlich gar nicht«, antwortete eines der Mädchen, Zayin. Die anderen beobachteten sie mit ihrem eigenartigen, Besitzerstolz und Einverständnis ausdrückenden Blick. »Keine extrasensorische Wahrnehmung, nichts Außergewöhnliches. Aber einer von uns denkt wie der andere. Wir sind genau gleich angelegt. Beim selben Stimulus, beim gleichen Problem werden wir gleich reagieren und zur gleichen Zeit zur gleichen Lösung gelangen. Da bedarf es nicht vieler Erklärungen – meistens sind sie überhaupt nicht nötig. Wir mißverstehen einander selten. Das erleichtert unsere Arbeit als Team sehr.« »Weiß Gott«, sagte Martin. »Sieben Stunden von zehn haben Pugh und ich uns jetzt sechs Monate lang mißverstanden. Wie die meisten Leute. Wie ist es in Notfällen; werdet ihr ebenso gut mit unerwarteten Problemen fertig wie ein nor… ein nicht verwandtes Team?« »Die Statistik sagt, daß das bis jetzt der Fall ist«, antwortete Zaygin ohne Zögern. Sie mußten geradezu darauf trainiert sein, Fragen beruhigend und vernünftig zu beantworten, dachte Pugh. Was sie auch sagten, es war die etwas einschmeichelnde und gestelzte Art der Auskünfte einer Public-Relations-Aktion. »Wir können nicht wie andere mit einer Vielzahl von Ideen aufwarten; als ein Team können wir keinen Vorteil aus dem Wechselspiel der Meinungen ziehen. Doch wir haben einen ausgleichenden Vorteil. Klone kommen vom besten Menschenmaterial, intelli-
genzmäßig von dem einen Prozent der absoluten Spitze; die genetische Konstitution ist Alpha Doppel-A und so fort. Wir können aus reicheren Quellen schöpfen als die meisten Einzelmenschen.« »Und das alles mal zehn. Wer ist – wer war John Chow?« »Jedenfalls ein Genie«, sagte Pugh höflich. Sein Interesse an der Frage war nicht so neu und nicht so heftig wie Martins. »Leonordo-Komplex-Typ«, sagte Yod. »Biomath, auch Cellist, und Tiefseetaucher, interessiert an strukturellen Problemen der Naturwissenschaften und so weiter. Starb, bevor er seine Haupttheorien ausgearbeitet hatte.« »Verkörpert dann jeder von euch eine andere Facette seines Geistes, seiner Begabungen?« »Nein«, sagte Zayin und schüttelte zugleich mit verschiedenen anderen den Kopf. »Gleiche Anlagen und Neigungen, das ist es, was wir natürlich gemeinsam haben; aber wir sind alle Ingenieure bei der Planetenerforschung. Ein späterer Klon kann dazu herangebildet werden, andere Aspekte der Grundlage zu entwickeln. Alles Schulungssache; die genetische Substanz ist identisch. Wir sind John Chow. Aber wir sind verschieden geschult.« Martins Blick verriet Erstaunen. »Wie alt seid Ihr?« » Dreiundzwanzig.« »Er starb jung, sagten Sie… Hatte man ihm vorher Keimzellen entnommen oder so etwas?« Es war Gimel, der antwortete: »Er starb mit vierundzwanzig bei einem Flugzeugunfall. Das Gehirn konnte man nicht retten; also nahm man Gewebszellen und bereitete sie für den Klon-Prozeß auf. Fortpflanzungszellen werden dafür nicht verwendet, da sie nur den halben Chromosomensatz haben. Gewebszellen sind eben leicht zu generalisieren und für ein Totalprogramm zu adaptieren.« »Alles Späne von einem Stamm«, sagte Martin. »Aber wie… wie können einige von euch Frauen sein…?« Jetzt antwortete Beth: »Es ist kein Problem, die halbe Klon-Masse auf weiblich zurückzuprogrammieren. Man braucht nur die männlichen Gene des halben Zellsatzes zu tilgen, und sie werden wieder zu den Grund-
genen, das heißt den weiblichen. Andersherum ist es schwieriger, man muß künstliche Ypsilon-Chromosomen anhängen. Also geht man meistens von Männern aus, denn bisexuell funktionieren Klone am besten.« Gimel sagte: »Diese technischen und funktionalen Aspekte sind sorgfältig durchgearbeitet worden. Der Steuerzahler will den bestmöglichen Gegenwert für sein Geld, und Klone sind natürlich teuer. Wenn man die Zellenveränderungen in Rechnung stellt und die Inkubation im Ngama Placentae und die Erhaltung und Schulung von Nähreltern-Gruppen, kommt man auf etwa drei Millionen pro Kopf.« »Eure nächste Generation«, sagte Martin fast ungläubig »wird wohl auf… natürliche Weise entstehen?« »Wir Frauen sind steril«, sagte Beth mit vollkommenem Gleichmut; »vergessen Sie nicht, daß das Y-Chromosom unserer ursprünglichen Zellen getilgt wurde. Unsere Männer können sich mit zugelassenen Einzelfrauen fortpflanzen, wenn sie wollen. Doch um wieder John Chows in beliebiger Anzahl zu bekommen, kann man nur auf Zellen unseres Klons zurückgreifen.« Martin streckte die Waffen. Er nickte und kaute auf seinem kalten Toast herum. »Also dann«, sagte einer der Johns, und aller Gebaren änderte sich so plötzlich wie der Flug eines Starenschwarms, der seine Richtung so schnell ändert, daß kein Auge den Anführer erkennen kann. Sie waren zum Aufbruch bereit. »Wollen wir uns die Mine ansehen? Dann werden wir die Ausrüstung abladen. Wir haben einige Neukonstruktionen dabei, die werdet ihr sehen wollen, oder?« Selbst wenn Pugh oder Martin nicht einverstanden gewesen wären, wäre es ihnen doch schwergefallen, es zu sagen. Die Jones waren höflich, doch die Geschlossenheit der Meinungen verlieh ihren Entscheidungen besonderes Gewicht. Pugh, Kommandant des Libra-Stützpunkts 2, verspürte Zweifel. Konnte er dieses zehnfache Superwesen herumdirigieren… einen Genius zumal? Als sie sich für den Ausstieg vorbereiteten, hielt er sich nahe bei Martin. Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie nahmen in drei großen Düsenschlitten Platz und fuhren im Sternenlicht über die dunkle, runzlige Haut der Libra nach Norden.
»Trostlos«, sagte jemand. Mit Pugh und Martin saßen ein Junge und ein Mädchen im Schlitten. Pugh fragte sich, ob es wohl die beiden waren, die in der Nacht einen Schlafsack geteilt hatten. Zweifellos würden sie es ihm nicht verübeln, wenn er sie fragte. Sex mußte für sie so natürlich wie das Atmen sein. Habt ihr zwei letzte Nacht geatmet? »Ja«, sagte er, »es ist trostlos.« »Es ist unser erster Auftrag, nach dem Training auf Luna.« Die Stimme des Mädchens war unverkennbar etwas höher und weicher. »Wie ist euch der große Sprung bekommen?« »Man hat uns gedopt. Ich hätte es erleben wollen.« Das war der Junge; seine Stimme klang sehnsüchtig. Sie schienen mehr Persönlichkeit zu haben, nur eben immer zwei zugleich. Schloß die Reduplikation des Individuums Individualität aus? »Keine Sorge«, sagte Martin, der den Schlitten steuerte. »Nicht-Zeit könnt Ihr hier nicht erleben, es gibt sie nicht.« »Einmal möchte ich aber«, sagte einer von beiden. »Ich möchte es wissen.« Im Osten leuchteten die Meroineth-Berge wie lepröse Falten im Sternenlicht; eine silbrige Wolke gefrierenden Gases zog aus einem Krater im Westen herauf. Die Bahn des Schlittens neigte sich abwärts. Gleichzeitig fingen die Zwillinge das Bremsmoment ab, jeder mit einer beschützenden Geste zum andern hin. Deine Haut ist meine Haut, dachte Pugh, aber buchstäblich, nicht bildlich. Wie würde es eigentlich sein, jemanden so nahe bei sich zu haben? Auf jedes Wort eine Antwort zu erhalten, im Schmerz niemals allein zu sein. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst… Die schwere alte Frage war gelöst. Der Nächste war man selbst; die Liebe war vollkommen. Und da war Höllenhund, die Mine. Pugh war der Geologe der Forschungsmission, Martin sein Techniker und Kartograph; doch als Martin es war, der bei einer Erkundung die UMine entdeckt hatte, erkannte ihm Pugh das Verdienst daran zu und gab ihm den Auftrag, die Stärke der Ader festzustellen und die Arbeit der
Auswertungsgruppe vorherzuplanen. Jahre bevor Martins Berichte zur Erde gelangten, waren diese Leute dort losgeschickt worden – vor ihrer Ankunft hatten sie nicht gewußt, was exakt ihre Aufgabe sein würde. Die Auswertungsgruppe sandte einfach Mannschaften aus, so regelmäßig und blind, wie ein Löwenzahn seine Samen fliegen läßt, denn es war sicher, daß es irgendeine Aufgabe für sie gab – auf Libra oder dem nächsten Planeten, oder auf einem, der noch gar nicht bekannt war. Zu dringend benötigte die Regierung das Uran, um die Ankunft der Berichte über Lichtjahre hinweg abwarten zu können. Das Zeug war wie Gold, altmodisch, aber wichtig; extraterristischer Abbau und interstellarer Transport lohnten sich. Sein Gewicht war mit Menschenleben aufzuwiegen, dachte Pugh bitter, als er die hochgewachsenen jungen Männer und Frauen im Sternenlicht vorbeidefilieren und in dem schwarzen Loch, das Martin »Höllenschlund« genannt hatte, verschwinden sah. Als sie eintraten, verstärkte sich das Licht ihrer homeostatischen Stirnlampen. Zwölf nickende Lichtpunkte bewegten sich die feuchten, unebenen Wände entlang. Pugh hörte Martins Strahlungsmesser wie rasend piepsen. »Hier ist die Bruchstelle«, sagte Martins Stimme über Sprechfunk, das Piepsen übertönend. »Wir sind in einer Seitenspalte; vor uns ist der senkrechte Hauptschacht.« Schwarze Leere gähnte ihnen entgegen; die gegenüberliegende Seite war auch im Schein der Lampen nicht zu erkennen. »Die letzten vulkanischen Bewegungen waren wohl vor ein paar tausend Jahren. Die nächste Verwerfung ist achtundzwanzig Kilometer östlich, im Großen Graben. Seismisch scheint dieses Gebiet mit das sicherste in der ganzen Gegend zu sein. Die mächtige Basaltdecke über uns stabilisiert alle Unterstrukturen, solange sie selbst stabil bleibt. Euer Hauptflöz ist von hier aus in einer Tiefe von sechsunddreißig Metern und verläuft in Form von fünf durch Gasdruck entstandenen Kammern nach Nordosten. Der Erzgehalt ist außerordentlich hoch. Sie haben die Zahlen gesehen, nicht wahr? Die Förderung dürfte kein Problem sein.« »Wir nehmen einfach den Deckel ab, und lassen die Blasen nach oben schwimmen.« Lachen. Stimmen wurden vernehmbar, aber sie waren alle gleich, und das Funksprechgerät ermöglicht keine Ortung. »Das Ding einfach aufmachen. – Ist sicherer. – Aber es ist ein massives Basaltdach, wie dick, zehn Meter hier?
– Drei bis zwanzig, hieß es im Bericht. – Bei der Sprengung wird aber viel verloren gehen. – Wir können diesen Zugang hier benützen, ihn etwas begradigen und Robos auf Schienen einsetzen. – Burros importieren. – Haben wir genug Stützen? – Wie hoch schätzen Sie das förderbare Gesamtgewicht, Martin?« »So zwischen fünf und acht Millionen Kilo.« »Transportmittel werden in zehn E-Monaten verfügbar sein. – Da darf aber nichts dazwischenkommen. – Nein, das Massenproblem beim NAFAL-Transport dürfte jetzt behoben sein; immerhin waren wir letzten Dienstag bereits sechzehn Jahre von der Erde weg. – Richtig. Sie werden all das hier zurückschaffen und es in einer Erdumlaufbahn reinigen. – Gehen wir 'runter, Martin?« »Nach Ihnen. Ich war schon unten.« Der erste von ihnen – Aleph? (Hebr. der Ochse, der Anführer) – schwang sich auf die Leiter und stieg hinunter; die anderen folgten. Pugh und Martin standen am Rand des Abgrundes. Pugh stellte sein Sprechfunkgerät so ein, daß nur Martin ihn hören konnte, und bemerkte, daß Martin dasselbe tat. Eine Person laut in zehn Stimmen denken zu hören, war etwas ermüdend; oder war es eine Stimme, die die Gedanken von zehn Gehirnen aussprach? »Ein Riesendarm«, sagte Pugh, während er in die schwarze Grube hinuntersah, deren geäderte und warzenbesetzte Wände tief unten im Schein der Stirnlampen aufleuchteten. »Ein Kuhmagen. Verstopfte Eingeweide.« Martins Zähler piepste wie ein verirrtes Hühnchen. Sie standen in diesem epileptischen Planeten, atmeten Sauerstoff aus Tanks, trugen Anzüge, die undurchlässig waren für schädliche Strahlung und Temperaturen in einem Bereich von zweihundert Grad widerstehen konnten, reißfest waren und so stoßunempfindlich, wie es der weiche, verletzliche Inhalt erlaubte. »Das nächste Mal«, sagte Martin, »möchte ich einen Planeten finden, wo es nichts, aber auch gar nichts zu fördern gibt.« »Du hast diesen hier gefunden.« »Das nächste Mal darfst du mich nicht weggehen lassen.«
Pugh war froh über diese Antwort. Er hatte gehofft, Martin würde weiter mit ihm arbeiten wollen, aber keiner von beiden sprach viel über seine Gefühle, und er hatte sich gescheut, ihn zu fragen. »Ich werd's versuchen«, sagte er. »Hier gefällt es mir nicht. Ich mag Höhlen, weißt du. Das hat mich hier hereingeführt. Hab nur spaßeshalber so 'rumgestöbert. Aber das hier ist ein Dreckloch. Irgendwie unheimlich. Aber die da unten kommen sicher zurecht. Die wissen Bescheid.« Die da unten kamen wieder die Leiter herauf, eilten zurück zum Eingang, so daß Martin kaum folgen konnte; ihre Stimmen umschwirrten ihn: »Haben wir genug Abteufmaterial? – Wenn wir Extraktor-Servos mitverwenden, ja. – Genügt eine Minisprengung? – Kaph kann das ausrechnen.« Pugh hatte sein Funkgerät auf Allgemeinempfang umgeschaltet; er schaute auf die Zehn, deren Gedankenfluß munter weitersprudelte, auf Martin, der schweigend zwischen Ihnen stand, und auf den Höllenschlund und die buckligen Ebenen. »Das wär's! Wie gefällt dir das als vorläufige Planung, Martin?« »Du hast das Kind in die Welt gesetzt, Pugh«, sagte Martin. Innerhalb von fünf E-Tagen hatten die Johns alles Material abgeladen, die Maschinen funktionsfähig gemacht und mit der Förderung begonnen. Sie arbeiteten mit hundertprozentigem Nutzeffekt. Pugh war fasziniert von ihrer fast unheimlichen Effektivität, ihrem Selbstvertrauen, ihrer Unabhängigkeit. Er selbst konnte ihnen keine Hilfe sein. Ein Klon dachte er, war vielleicht das erste wirklich dauerhafte, eigenständige menschliche Wesen. Einmal erwachsen, würde er niemandes Hilfe mehr brauchen. Physisch, sexuell, emotionell und intellektuell würde er sich selbst genügen. Was immer er tat, jedes seiner Mitglieder würde stets die Unterstützung und Zustimmung der anderen Teile seines Ichs erhalten. Niemand anders war nötig. Zwei aus dem Klon blieben in der Kuppel, um Berechnungen und Papierkram zu erledigen; ab und zu mußten sie auch zur Mine, um Maße zu nehmen und Tests durchzuführen. Sie waren die Mathematiker des Klons, Zayin und Kaph. Eigentlich hatten, wie Zayin erklärte, alle zehn vom dritten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr eine mathematische
Ausbildung erfahren, doch dann hatten sie und Kaph noch zwei weitere Jahre Mathematik studiert, während die anderen ihre Kenntnisse auf Spezialgebieten wie Biologie, Bergbau, Datenverarbeitung, Roboterkonstruktion, angewandte Atomphysik und so weiter vertieft hatten. »Kaph und ich glauben«, sagte Zyin, »daß wir beide innerhalb des Klons dem am nächsten kommen, was John Chow als Einzelwesen war. Natürlich hat er sich hauptsächlich mit Biomath beschäftigt, und darüber haben wir nicht allzuviel gelernt.« »Auf diesem Gebiet brauchten sie uns am nötigsten«, sagte Kaph mit dem etwas eingebildeten Stolz, der manchmal an ihnen zu bemerken war. Bald konnten Pugh und Martin diese beiden von den anderen unterscheiden, Zayin durch ihre Gestalt, Kaph nur durch einen verfärbten Fingernagel, den er im Alter von sechs Jahren durch einen danebengegangenen Hammerschlag davongetragen hatte. Zweifellos gab es noch mehr solcher Unterschiede, physische und psychologische; die Natur mochte identisch sein, die Entwicklung war es vielleicht nicht. Aber die Unterschiede waren schwer zu finden. Und ein Teil des Problems bestand darin, daß sie nie wirklich mit Pugh und Martin sprachen. Sie machten Scherze mit ihnen, waren höflich und kamen gut mit ihnen aus. Doch sie gaben nichts. Man konnte sich nicht direkt beklagen; sie waren angenehm im Umgang, hatten die amerikanische Einheitsfreundlichkeit. »Kommen Sie aus Irland, Owen?« »Niemand kommt aus Irland, Zayin.« »Es gibt doch viele Irisch-Amerikaner.« »Sicher, aber keine Iren mehr. Ein paar tausend auf der ganzen Insel, das ist das letzte, was ich weiß. Sie hielten nichts von Geburtenkontrolle, wissen Sie, und so wurden die Nahrungsmittel knapp. Als die dritte Hungersnot ausbrach, gab es keine Iren mehr außer den Priestern, und die lebten alle zölibatär, oder fast alle.« Zayin und Kaph lächelte steif. Bigotterie oder auch Ironie waren ihnen unbekannt. »Was sind Sie dann, ethnisch gesehen?« fragte Kaph, und Pugh antwortete: »Ein Waliser.« »War das Walisisch, was Sie und Martin miteinander sprachen?«
Geht dich nichts an, dachte Pugh, doch er sagte, »Nein, es ist sein Dialekt, nicht meiner: Argentinisch. Eine Abart des Spanischen.« »Haben Sie das gelernt, um sich Dinge mitzuteilen, die nicht für andere bestimmt sind?« »Vor wem hätten wir hier etwas verbergen sollen? Nur, von Zeit zu Zeit möchte jeder einmal seine Muttersprache sprechen.« »Unsere ist Englisch«, sagte Kaph ungerührt. Warum sollten sie Mitgefühl haben? Das ist etwas, was man anderen entgegenbringt, weil man es wieder zurückbekommen will. »Ist Wells altertümlich und fremdartig?« fragte Zayin. »Wells? Ach so, Wales heißt das. Ja. Wales ist so.« Pugh schaltete seinen Steinschneider ein, der ein weiteres Gespräch durch sein ohrenzerreißendes Kreischen unterband, drehte sich um und sagte ein walisisches Schimpfwort. An diesem Abend fand ihre Privatunterhaltung auf Argentinisch statt. »Schlafen jede Nacht dieselben Paare miteinander, oder wechseln sie ab?« Martins Blick war verwundert. Für einen Moment erschien auf seinem Gesicht der Ausdruck der Prüderie, der gar nicht zu ihm paßte. Dann verschwand er wieder. Auch er war neugierig. »Wie sich's gerade ergibt, denk ich.« »Mensch, flüstere nicht, das klingt so schmutzig. Ich glaube, sie wechseln ab.« »Nach Plan?« »So daß niemand zu kurz kommt.« Martin brach in vulgäres Lachen aus, das er gleich unterdrückte. »Und wir? Kommen wir nicht zu kurz?« »So ein Gedanke kommt denen doch gar nicht.« »Und wenn ich eins der Mädchen darum angehe?« »Sie würde es den andern sagen, und dann würden sie als Gruppe entscheiden.« »Ich bin kein Bulle«, sagte Martin, und sein dunkles, schweres Gesicht erhitzte sich. »Soll ich mich beurteilen lassen…?«
»Nieder, nieder, Machismo«, sagte Pugh. »Möchtest du es versuchen?« Mürrisch zuckte Martin die Achseln. »Sollen sie bei ihrem Inzest bleiben.« »Ist das Inzest oder Selbstbefriedigung?« »Ist mir gleich, solange sie's außer Hörweite treiben!« Bald ließ die anfängliche Zurückhaltung des Klons stark nach; es gab keine Vorsichtsoder Verteidigungshaltung mehr. Pugh und Martin gerieten täglich tiefer in die Intimitäten ihres ständigen emotional-sexuell-mentalen Verkehrs hinein. Trotzdem waren sie selbst davon ausgeschlossen. »Noch zwei Monate«, sagte Martin eines Abends. »Bis zu was?« sagte Pugh barsch. Er war leicht erregbar in letzter Zeit, und Martins mürrische Stimmung ging ihm auf die Nerven. »Bis zur Ablösung.« In sechzig Tagen würde die restliche Mannschaft ihrer Forschungsgruppe von der Beobachtung der anderen Planeten des Systems zurück sein. Pugh hatte es nicht vergessen. »Hakst du die Tage schon auf deinem Kalender ab?« spottete er. »Reiß dich zusammen, Owen.« »Wie meinst du das?« »Wie ich es sage.« Verstimmt und voll gegenseitiger Geringschätzung gingen sie auseinander. Pugh hatte einen Tag allein auf der Pampa verbracht, einer weiten Lavaebene, deren nächstgelegener Punkt etwa zwei Jet-Stunden entfernt war. Als er zurückkam, war er müde, doch hatte ihm die Einsamkeit gut getan. Eigentlich sollten sie keine längeren Fahrten allein unternehmen, doch in letzter Zeit hatte er es öfters getan. Martin stand über einen Zeichentisch gebeugt und fertigte eine seiner meisterlichen Karten an: Es war eine Gesamtdarstellung der Libra ihres krebszerfressenen Gesichts. Sonst war die Kuppel leer; sie schien dunkel und weit, so wie sie vor der Ankunft des Klons gewesen war. »Wo ist die Goldene Horde?«
Martin fuhr fort zu schraffieren und tat so, als wisse er von gar nichts. Dann richtete er sich auf, um zur Sonne zu sehen, die sich wie eine große rote Kröte auf der östlichen Ebene niedergelassen hatte, und dann auf die Uhr, die achtzehn: fünfundvierzig anzeigte. »Ein paar große Beben heute«, sagte er und arbeitete weiter an seiner Karte. »Spürst du sie da unten? Hier ist einiges rumgepurzelt. Sieh dir mal den Seismo an.« Die Nadel hüpfte auf der Papierrolle hin und her. Hier hörte sie nie auf zu tanzen. Auf der Rolle waren allein für den Nachmittag fünf Beben größerer Heftigkeit aufgezeichnet; zweimal war die Nadel sogar von der Rolle gesprungen. Der angeschlossene Computer hatte sich eingeschaltet und die Mitteilung Epizentrum 61' N auf 4'24 E ausgedruckt. »Diesmal ist es nicht im Graben.« »Mir kam es etwas anders als sonst vor. Heftiger.« »In Basis Eins lag ich oft die ganze Nacht wach, wenn der Boden zitterte. Seltsam, wie man sich an alles gewöhnt.« »Du würdest den Verstand verlieren, wenn es nicht so wäre. Was gibt's zum Abendessen?« »Ich dachte, du würdest was machen.« »Ich warte auf den Klon.« Pugh hatte das Gefühl, daß Martin es sich auf seine Kosten bequem machte. Er holte ein Dutzend Verpflegungspackungen, steckte zwei in den Schnellgarer, holte sie wieder heraus. »Bitte sehr, das Abendessen.« »Was hältst du davon«, sagte Martin, während er sich am Tisch niederließ. »Was passiert, wenn ein Klon sich selbst reproduziert? Illegal. Tausendfach – zehntausendfach. Eine ganze Armee. Keine schlechte Ausgangsbasis, um die Macht zu ergreifen, nicht wahr?« »Aber wieviele Millionen hat es gekostet, nur die hier heranzuziehen? Künstliche Placentae und so fort. Außerdem wäre so etwas kaum geheimzuhalten, außer sie hätten einen Planeten für sich selbst… In der Zeit vor den Hungersnöten, als die Erde noch Nationalregierungen hatte, war davon die Rede: Die besten Soldaten zu klonieren, ganze Regimenter davon. Doch die Nahrungsmittel gingen aus, bevor sie damit beginnen konnten.« Sie sprachen freundlich miteinander, wie in früheren Zeiten.
»Seltsam«, sagte Martin mit vollem Mund. »Sie sind heute morgen früh weggefahren, nicht wahr?« »Alle außer Kaph und Zayin. Sie glaubten, sie könnten heute mit der Förderung beginnen. Wieso?« »Sie kamen nicht zum Mittagessen.« »Werden bestimmt nicht verhungern.« »Um sieben Uhr sind sie weggefahren.« »Na wenn schon.« Plötzlich – Pugh verstand. Die Luft in den Atemgeräten reichte für acht Stunden. »Kaph und Zayin trugen Reserveflaschen hinaus, als sie wegfuhren. Oder sie haben schon eine Menge davon draußen.« »Das stimmt, aber sie brachten sie dann alle zum Widerauffüllen zurück.« Martin stand auf und zeigte zu einem der Stapel von Gegenständen, die die Kuppel in Räume und Gänge aufteilten. »Jeder Raumanzug ist mit einer Warnanlage ausgerüstet.« »Die ist nicht automatisch.« Pugh war müde und immer noch hungrig. »Setz dich erst mal und iß. Die können schon auf sich selbst aufpassen.« Martin setzte sich, aß aber nichts. »Es hat ein sehr starkes Beben gegeben, Owen. Das erste. War so heftig, daß es mir Angst einjagte.« Nach einer Pause seufzte Pugh und sagte: »Also gut.« Ohne Begeisterung holten sie den Zweimann-Schlitten heraus, der immer für sie bereitstand, und fuhren in nördlicher Richtung los. Der lange Sonnenaufgang überzog alles mit einem giftig-roten Schein. Die fast waagrechten Schatten erschwerten die Sicht, richteten scheinbare Eisenwände vor ihnen auf, durch die sie glitten, verwandelten die konvexe Ebene jenseits des Höllenschlundes in eine große Pustel voll blutigen Wassers. Ein Dschungel von Maschinen umgab den Tunneleingang; Kräne und Kabel und Motoren und Räder und Bagger und Robokarren und Schlitten und Kontrollgeräte leuchteten seltsam unwirklich und verzerrt im roten Licht. Martin sprang vom Fahrzeug herunter und rannte in die
Mine. Nicht lange, dann kam er zu Pugh zurück. »Oh Gott, Owen, sie ist eingestürzt.« Pugh ging hinein und sah, fünf Meter vom Eingang entfernt, die feucht schimmernde schwarze Wand, die den Stollen abschloß. Frisch der Luft ausgesetzt, sah sie organisch aus, wie das Gewebe von Eingeweiden. Der Tunneleingang, den sie durch Sprengungen erweitert und mit zwei Geleisen für Robokarren versehen hatten, schien unverändert, bis Pugh Tausende winziger Sprünge in den Wänden bemerkte. Der Boden war mit einer öligen Flüssigkeit bedeckt. »Sie waren drinnen«, sagte Martin. »Vielleicht sind sie es noch. Bestimmt hatten sie zusätzliche Luftflaschen…« »Sieh dir doch das an, Owen, den Basaltfluß hier oben; merkst du, was das Erdbeben angerichtet hat; schau nur hin.« Der flache Hügel, der das Höhlendach bildete, sah immer noch unwirklich wie eine optische Täuschung aus. Er hatte sich umgekehrt, war abgesackt und zu einer weiten Senke geworden. Als Pugh darauf herumging, bemerkte er auch hier viele winzige Spalten. Aus einigen drang weißliches Gas. »Die Verwerfung ist nicht da, wo die Mine ist. Hier ist kein Bruch!« Pugh kam rasch zu ihm zurück. »Nein, hier ist keine Verwerfung, Martin. Im übrigen waren wohl nicht alle im Bergwerk.« Martin folgte ihm und suchte erst lustlos, dann aber doch angespannt zwischen den kaputten Maschinen herum. Er fand den Luftschlitten. Er war in südlicher Richtung unterwegs gewesen, und steckte jetzt schräg in einem Loch voll kolloidalen Staubes. Zwei Personen waren an Bord gewesen. Eine war halb im Staub versunken, doch die Kontrollinstrumente zeigten an, daß ihr Raumanzug noch in Ordnung war; die andere hing noch in den Gurten des schrägstehenden Schlittens. Der Anzug war an den gebrochenen Beinen aufgeplatzt, der Körper steinhart gefroren. Das war alles, was sie fanden. Mit den Laserpistolen, deren Tragen Pflicht war und die sie noch nie gebraucht hatten, äscherten sie sofort die Leiche ein, wie es üblich und auch in den Vorschriften festgelegt war. Pugh, der wußte, daß ihm übel werden würde, schaffte den Überlebenden auf
den Zweimann-Schlitten und schickte Martin mit ihm zur Kuppel zurück. Dann erbrach er sich, spülte angewidert seinen Anzug aus, fand einen unbeschädigten Viermann-Schlitten und folgte Martin, zitternd, als hätte Libras Kälte ganz von ihm Besitz ergriffen. Der Überlebende war Kaph. Er war in einem tiefen Schock. An seinem Hinterkopf fanden sie eine Schwellung, die auf eine Gehirnerschütterung hindeuten konnte; ein Schädelbruch war nicht erkennbar. Pugh brachte zwei Gläser Nahrungskonzentrat und Aquavit zum Hinunterspülen. »Los, komm schon«, sagte er. Martin gehorchte; sie setzten sich auf zwei Kisten und tranken den Aquavit. Kaph lag unbeweglich da; sein Gesicht war wachsbleich, durch seine steif geöffneten Lippen ging schwacher Atem. »Es muß die erste Erschütterung gewesen sein, die große«, sagte Martin. »Muß die gesamte Struktur seitwärts verschoben haben. Bis sie in sich zusammenstürzte. In den seitlichen Felsformationen müssen Gaseinschlüsse sein, so wie im einunddreißigsten Quadranten. Aber es gab keinerlei Anzeichen…« Noch während er sprach, verrutschte die Welt unter ihnen. Gegenstände sprangen, hüpften, tanzten, schlugen krachend aneinander. »So war es auch um vierzehn Uhr«, sprach die Vernunft ängstlich aus Martins Stimme, während die Welt in sich zusammenzufallen schien. Doch als der Tumult nachließ und die Gegenstände zu tanzen aufhörten, stand die Unvernunft auf und machte sich Luft in einem lauten Schrei. Pugh sprang über eine Lache verschütteten Aquavits und hielt Kaph nieder. Dessen muskulöser Körper warf ihn zurück. Martin drückte ihm die Schultern auf den Boden. Kaph schrie auf, schlug um sich, rang nach Luft; sein Gesicht verfärbte sich. »Sauerstoff«, sagte Pugh. Instinktiv fand seine Hand die richtige Nadel im Sanitätskasten. Während Martin die Maske auf Kaphs Gesicht preßte, führte er die Nadel an den Vagusnerv und brachte so wieder Leben in Kaphs Körper. »Wußte nicht, daß du diesen Trick kennst«, sagte Martin schwer atmend.
»Der Lazarus-Stich; mein Vater war Arzt. Es funktioniert nicht oft«, sagte Pugh. »Jetzt brauche ich den Schluck, den ich verschüttet habe. Ist das Beben vorbei? Ich bin mir nicht sicher.« »Nachbeben. Es ist nicht nur dein Gezitter.« »Wieso hatte er diesen Erstickungsanfall?« »Ich weiß nicht, Owen. Schau im Buch nach.« Kaphs Atem ging jetzt normal, in sein Gesicht war Farbe zurückgekehrt; nur die Lippen waren noch blau. Sie gossen sich einen weiteren Mutbringer ein und setzten sich dann mit ihrem medizinischen Handbuch zu ihm. »Unter ›Schock‹ oder ›Erschütterung‹ ist nichts über Zyanosis oder Erstickung zu finden. In seinem Raumanzug kann er auch nichts eingeatmet haben. Ich weiß nicht. ›Mutter Mogs Hausherbarium‹ wäre uns jetzt genauso nützlich… ›Anal-Hämorrhoiden‹, huu!« Pugh wollte das Buch auf eine Kiste werfen, traf aber nicht; entweder Pugh oder die Kiste hatte sich noch nicht beruhigt. »Warum hat er kein Zeichen gegeben?« »Wie bitte?« »Den acht im Bergwerk blieb keine Zeit dazu. Doch er und das Mädchen müssen draußen gewesen sein. Vielleicht stand sie im Eingang, und wurde vom ersten Erdrutsch getroffen. Er muß weiter weg gewesen sein, vielleicht in der Hütte mit den Überwachungsinstrumenten. Er rannte hin, zog sie heraus, schnallte sie auf den Schlitten und startete in Richtung Kuppel. Und während der ganzen Zeit hat er nicht auf den Alarmknopf in seinem Anzug gedrückt. Warum nicht?« »Nun, er hat doch eins über den Kopf bekommen. Er hat wohl gar nicht gemerkt, daß das Mädchen tot war. Er war nicht richtig bei Sinnen. Und selbst wenn er es gewesen wäre… ich weiß nicht, ob er daran gedacht hätte, uns zu alarmieren. Sie dachten nur aneinander, wenn sie Hilfe brauchten.« Martins Gesicht – Falten an den Mundwinkeln, mattschwarze Augen – sah aus wie eine indianische Maske. »So ist es. Wie muß ihm dann zu Mute gewesen sein, als das Beben begann und er im Freien war, ganz allein…« Ein Schrei war Kaphs Antwort.
Erstickungskrämpfe rissen ihn von seiner Pritsche hoch; wild um sich schlagend, stieß er Pugh hintenüber, torkelte in einen Stapel von Kisten und fiel zu Boden; seine Lippen waren blau, die Augen verdrehten sich. Martin schleppte ihn auf die Pritsche zurück und versorgte ihn mit Sauerstoff; dann kniete er sich neben Pugh, der sich eben erheben wollte, und wischte ihm die verletzte Wange ab. »Owen, bist du okay, ist alles in Ordnung, Owen?« »Ich glaube schon«, sagte Pugh. »Wieso reibst du mit diesem Zeug in meinem Gesicht herum?« Es war ein kurzes Stück Computer-Magnetband, jetzt von Pughs Blut rot gefleckt. Martin ließ es fallen. »Dachte, es sei ein Handtuch. Du hast dir dein Gesicht an dem Kasten da drüben aufgerissen.« »Ist er aus dem Gröbsten heraus?« »Scheint so.« Sie starrten auf den steif daliegenden Kaph, dessen Zähne wie ein weißer Strich zwischen den dunklen Lippen waren. »Wie Epilepsie. Vielleicht ein Hirnschaden?« »Wie wäre es, wenn wir ihn mit Meprobamat vollpumpten?« Pugh schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau, was in der Schockspritze war, die ich ihm gegeben habe. Möchte nicht überdosieren.« »Vielleicht hilft ihm der Schlaf.« »Schlafen möchte ich jetzt auch. Er und dieses Erdbeben – das reißt einen regelrecht von den Beinen.« »Einen häßlichen Riß hast du da im Gesicht. Leg dich nur hin, ich paß einstweilen auf.« Pugh reinigte seine verletzte Wange, zog sein Hemd aus, hielt dann inne. »Gibt es noch irgend etwas, was wir hätten tun sollen – versuchen sollen…« »Sie sind alle tot«, sagte Martin leise, doch mit Nachdruck. Pugh legte sich auf seinen Schlafsack nieder, Augenblicke später aufgeschreckt durch ein häßliches, saugendes, nach ohnmächtiger Anstrengung klingendes Geräusch. Er rappelte sich hoch, fand die Nadel, ver-
suchte dreimal vergeblich, die richtige Einstichstelle zu finden, begann Kaphs Herz zu massieren. »Mund zu Mund«, sagte er, und Martin gehorchte. Kaph begann sogleich keuchend zu atmen, sein Herzschlag wurde regelmäßig, seine starren Muskeln begannen sich zu lockern. »Wie lange habe ich geschlafen?« »Eine halbe Stunde.« Schweißüberströmt richteten sie sich auf. Der Boden erzitterte, die Kuppel schwankte und schien abzusacken. Wieder tanzte Libra ihre schreckliche Polka, ihren Totentanz. Obwohl sie aufging, schien die Sonne größer und röter zu werden; Gas und Staub mußten in die dünne Atmosphäre emporgeschleudert worden sein. »Was fehlt ihm denn, Owen?« »Ich glaube, er stirbt mit den anderen.« »Die anderen… die sind doch schon tot.« »Neun von ihnen. Neun sind tot; sie wurden erdrückt oder erstickten. Sie alle waren er, und er ist sie alle. Sie starben, und nun stirbt er alle ihre Tode.« »Barmherziger Gott«, sagte Martin. Das nächste Mal war es nicht viel anders. Das fünfte Mal war schlimmer; Kaph kämpfte und tobte; er versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus, als sei sein Mund mit Steinen oder Lehm verstopft. Danach wurden die Anfälle schwächer, er aber auch. Beim achten Mal war es vier Uhr dreißig; Pugh und Martin taten, was sie nur konnten, um einen Körper am Leben zu erhalten, der ohne Protest in den Tod hinüberzugleiten schien. Sie hatten Erfolg, doch Martin sagte: »Das nächste Mal wird er es nicht überstehen.« So schien es auch; doch Pugh preßte seinen eigenen Atem in die reglosen Lungen, bis er selbst das Bewußtsein verlor. Er erwachte. Die unbeleuchtete Kuppel war dunkel. Er lauschte, und hörte das Atmen zweier schlafender Männer. Auch er schlief wieder ein, und nichts weckte ihn auf, bis er starken Hunger verspürte. Die Sonne stand hoch über den dunklen Ebenen, und der Planet tanzte nicht mehr. Kaph lag schlafend da. Pugh und Martin tranken Tee und betrachteten Kaph mit einer Art Besitzerstolz.
Als er erwachte, ging Martin zu ihm: »Wie fühlen Sie sich, alter Herr?« Keine Antwort. Pugh nahm Martins Platz ein und schaute in die braunen, glanzlosen Augen, die in seine Richtung blickten, ihn aber nicht wahrzunehmen schienen. Wie Martin wandte er sich sogleich wieder ab. Er machte Nahrungskonzentrat warm und brachte es Kaph. »Hier, trinken Sie.« Er konnte sehen, wie sich die Muskeln in Kaphs Hals zusammenzogen. »Laßt mich sterben«, sagte der junge Mann. »Von Sterben ist keine Rede.« Kaph sprach jetzt klar und präzise: »Ich bin zu neun Zehntel tot. Es ist nicht mehr genug von mir am Leben.« Diese Genauigkeit der Angabe überzeugte Pugh, doch er wehrte sich gegen diese Überzeugung. »Nein«, sagte er entschieden. »Sie sind tot. Die andern. Ihre Brüder und Schwestern. Sie nicht, Sie leben. Sie sind John Chow. Ihr Leben liegt in Ihrer eigenen Hand.« Der junge Mann blieb still und blickte in eine Dunkelheit, die nur er sah. Martin und Pugh fuhren abwechselnd mit dem schweren Schlepper hinüber zum Höllenschlund, um Teile der Ausrüstung zu bergen und sie vor der Einwirkung der Libra-Atmosphäre zu sichern, denn der Wert des Geräts war buchstäblich astronomisch. Für einen Mann allein war es eine mühselige Arbeit, doch wollten sie Kaph nicht allein lassen. Wer in der Kuppel zurückblieb, erledigte Büroarbeiten, während Kaph dasaß oder lag und in seine persönliche Dunkelheit starrte und niemals sprach. Die Tage gingen still vorüber. Dann knatterte das Radio: Das Mutterschiff meldete sich. »In fünf Wochen werden wir auf Libra niedergehen, Owen. In vierunddreißig ETagen und neun Stunden nach den jetzigen Berechnungen. Wie geht's in der alten Kuppel?« »Nicht gut, Chef. Das Auswertungsteam ist im Bergwerk verunglückt, das heißt, bis auf einen. Erdbeben. Vor sechs Tagen.« Im Radio knackten und prasselten kosmische Störungen. Sechzehn Sekunden Verzögerung in jeder Richtung; das Schiff war jetzt im Schwere-
feld des Planeten elf. »Verunglückt, bis auf einen? Sie und Martin blieben unverletzt?« »Wir sind noch heil, Chef.« Zweiunddreißig Sekunden. »Die Passerine hat ein Auswertungsteam bei uns gelassen. Ich kann sie dem Höllenschlund-Projekt zuteilen, statt sie auf das Quadrant-SiebenProjekt anzusetzen. Wir werden das festlegen, wenn wir herunterkommen. Sie und Martin werden jedenfalls abgelöst. Haltet die Ohren steif. Sonst noch was?« »Nein.« Zweiunddreißig Sekunden. »Gut. Bis dann, Owen.« Kaph hatte alles mitgehört; später sagte Pugh zu ihm: »Der Chef wird Sie vielleicht bitten, mit dem anderen Team hierzubleiben. Sie kennen sich hier aus.« Pugh wußte, welche Anforderungen das Leben auf einer Weltraumstation stellte und wollte den jungen Mann warnen. Kaph gab keine Antwort. Seit er gesagt hatte: »Ich bin zu neun Zehntel tot. Es ist nicht mehr genug von mir am Leben«, hatte er kein Wort mehr gesprochen. »Owen«, sagte Martin über das Sprechgerät seines Raumanzugs, »den hat's erwischt. Übergeschnappt. Psycho.« »Für einen, der schon neunmal gestorben ist, geht's ihm recht gut.« »Gut? Nicht mal so gut wie einem abgeschalteten Androiden. Das einzige Gefühl, das er noch kennt, ist Haß. Schau dir seine Augen an.« »Das ist kein Haß, Martin. Natürlich, in einem gewissen Sinn war er tot. Ich kann mir nicht vorstellen, was er fühlt. Doch Haß ist das nicht. Er kann uns wohl nicht einmal sehen. Es ist zu dunkel.« »Im Dunklen sind schon Hälse durchgeschnitten worden. Er haßt uns, weil wir nicht Aleph und Yod und Zayin sind.« »Vielleicht. Ich glaube eher, er ist einsam. Er sieht uns nicht, und er hört uns nicht, das ist wahr. Er hatte es noch nie nötig, jemand anderen zu sehen. Er war noch nie allein. Er konnte sich selber sehen, mit sich sprechen, leben, hatte immer ein neunfaches anderes Ich. Jetzt weiß er
nicht, wie er allein zurechtkommen soll. Er muß es lernen. Ich gebe ihm Zeit.« Martin schüttelte sein mächtiges Haupt. »Übergeschnappt«, sagte er. »Wenn du allein mit ihm bist, denk daran, daß er dir mit einer Hand das Genick brechen könnte.« »Das könnte er«, sagte Pugh, ein kleiner Mann mit sanfter Stimme und vernarbter Wange; er lächelte. Sie standen vor der Luftschleuse der Kuppel und programmierten einen der Servos für die Reparatur eines beschädigten Schleppers. Sie konnten Kaph in dem großen Halbei der Kuppel sitzen sehen wie eine Fliege in Bernstein. »Gib mir doch den Datenkasten da drüben. Was bringt dich zu der Annahme, daß sich sein Zustand bessern wird?« »Nun, daß er eine starke Persönlichkeit ist.« »Stark? Verkrüppelt. Zu neun Zehntel tot, wie er sich ausdrückte.« »Aber er ist doch nicht tot. Er ist ein lebendiger Mensch: John Kaph Chow. Sicher, er ist auf eine verdammt ungewöhnliche Art aufgezogen worden, aber jeder muß sich einmal von den Familienbanden befreien. Er wird es tun.« »Ich wüßte nicht wie.« »Denk doch mal nach, Martin. Was ist der Zweck dieser Klone? Die sollen die menschliche Rasse wieder auffrischen. Wir sind übel dran. Schau mich an. IQ und GC dieses John Chow sind doppelt so gut wie meine. Trotzdem brauchten sie sogar mich so dringend für den Außendienst, daß sie meine freiwillige Meldung annahmen und mich mit einer künstlichen Lunge versahen und meine Kurzsichtigkeit korrigierten. Und nun sag mir eins: Wenn es genügend gesunde, fähige Leute gäbe, würden sie dann kurzsichtige Waliser mit einer falschen Lunge nehmen?« »Ich wußte nicht, daß du eine künstliche Lunge hast.« »Die hab ich nun mal. Keine metallene übrigens. Eine menschliche, in einem Behälter aus einem Stückchen Zellgewebe von irgend jemand gezüchtet; eine Art Kloning, wenn du willst. So macht man Ersatzorgane; der Grundgedanke ist der gleiche wie beim Kloning, nur daß es hier Stückchen und Teile statt ganzer Menschen sind. Jetzt jedenfalls ist das meine eigene Lunge. Was ich sagen will ist dies: Heutzutage gibt es zu
viele wie mich, und zu wenige wie John Chow. Sie versuchen, das Niveau des menschlichen genetischen Potentials zu heben, das seit der Bevölkerungskatastrophe wahrhaft kümmerlich ist. Durch den KloningProzeß schafft man starke, intelligente Menschen. Durchaus sinnvoll, wie mir scheint.« Martin brummte vor sich hin; der Servo begann zu summen. Kaph hatte die ganze Zeit wenig gegessen; das Schlucken verursachte ihm Beschwerden, drohte ihn zu ersticken, so daß er nach ein paar Bissen stets wieder aufgab. Er hatte acht oder zehn Kilo abgenommen. Nach etwa drei Wochen vergrößerte sich indessen sein Appetit, und eines Tages begann er, die Habe des Klons durchzusehen: Schlafsäcke, Geräte, Papiere, die Pugh in einer Ecke ordentlich neben Packkisten aufgestapelt hatte. Er sortierte aus, vernichtete einen Haufen Papiere und nebensächliche Dinge, machte aus dem Verbleibenden ein kleines Paket und fiel dann in sein Koma zurück. Zwei Tage später sprach er. Pugh versuchte erfolglos, ein Wimmern im Tonbandgerät abzustellen; Martin war mit dem Jet unterwegs, um ihre kartographischen Arbeiten zu überprüfen. »Verdammt in drei Teufels Namen!« sagte Pugh, und Kaph fragte mit tonloser Stimme: »Soll ich das machen?« Pugh fuhr zusammen, bekam sich wieder in die Gewalt und gab Kaph den Apparat. Der junge Mann nahm ihn auseinander, setzte ihn wieder zusammen und ließ ihn auf dem Tisch stehen. »Legen Sie ein Band ein«, sagte Pugh gewollt beiläufig, während er sich an einem anderen Tisch zu schaffen machte. Kaph legte irgendein Band ein, einen Chor. Er legte sich auf seine Pritsche nieder. Der Klang von zehn Dutzend menschlichen Stimmen füllte die Kuppel. Kaph verharrte still, mit ausdruckslosem Gesicht. Während der nächsten Tage erledigte er verschiedene Routinearbeiten, ohne darum gebeten worden zu sein. Er unternahm nichts, was Initiative erforderte; wenn er um Mitarbeit gebeten wurde, gab er keine Antwort. »Er macht sich gut«, sagte Pugh auf argentinisch.
»Keineswegs. Er wird zu einer Maschine. Tut, wozu er programmiert ist, und reagiert auf nichts anderes. Er ist schlimmer dran als zu der Zeit, da er überhaupt nicht funktionierte. Er ist nicht mehr menschlich.« Pugh seufzte. »Na denn, gute Nacht«, sagte er auf englisch. »Gute Nacht, Kaph.« »Gute Nacht«, sagte Martin; Kaph antwortete nicht. Am nächsten Morgen langte Kaph beim Frühstück über Martins Teller hinweg, um den Toast zu erreichen. »Warum bitten Sie nicht darum?« fragte Martin mit der Freundlichkeit unterdrückter Verzweiflung. »Ich kann ihn Ihnen geben.« »Ich kann ihn selbst erreichen«, entgegnete Kaph mit seiner matten Stimme. »Sicher, doch überlegen Sie mal. Es ist nicht so wichtig, ob man um den Toast bittet oder Gute Nacht oder Guten Morgen wünscht; trotzdem – wenn jemand etwas sagt, sollte man antworten…« Unbewegt schaute der junge Mann in Martins Richtung; seine Augen schienen die Person, auf die sie blickten, noch immer nicht richtig wahrzunehmen. »Warum sollte ich antworten?« »Weil jemand etwas zu Ihnen gesagt hat.« »Warum?« Martin zuckte die Achseln und lachte. Pugh sprang auf und schaltete den Steinschneider ein. Später sagte er dann: »Laß das doch bitte sein, Martin.« »In kleinen, isolierten Teams sind gute Manieren von äußerster Wichtigkeit, irgendwelche Manieren, irgend etwas, worauf man sich einigen kann. Das hat man ihm auch beigebracht; jeder im Außendienst weiß das. Warum verstößt er absichtlich dagegen?« »Sagst du dir selbst Gute Nacht?« »Na und?« »Verstehst du nicht, daß Kaph nie jemanden außer sich selber gekannt hat?«
Martin versank in Gedanken und rief dann aus: »Dann, bei Gott, ist dieser Kloning-Prozeß ein großer Irrtum. So kann es nicht gehen. Was soll ein Haufen vielfacher Genies für uns tun, wenn sie nicht einmal wissen, daß es uns gibt?« Pugh nickte. »Es wäre wohl besser, die Klons zu trennen und sie gemeinsam mit anderen aufzuziehen. Doch so wie hier bilden sie einfach ein großartiges Team.« »Wirklich? Ich weiß nicht. Wenn wir hier zehn durchschnittliche, leistungsarme AT-Ingenieure gehabt hätten, wären die alle zur selben Zeit an derselben Stelle gewesen? Wären sie alle zusammen verunglückt? Stell dir vor, wie das Erdbeben begann und alles einzustürzen anfing; sind sie vielleicht alle in derselben Richtung gerannt, tiefer ins Bergwerk hinein, um den einen zu retten, der am weitesten drin war? Sogar Kaph, der draußen war, wollte hinein… Eine Hypothese. Aber ich lasse mir nicht ausreden, daß von zehn normalen Menschen mehr übriggeblieben wären als nur einer.« »Ich weiß nicht. Es stimmt, daß eineiige Zwillinge oft zum gleichen Zeitpunkt sterben, selbst wenn sie einander nie gesehen haben. Identität und Tod, es ist sehr seltsam…« Die Tage vergingen, die rote Sonne wanderte über den dunklen Himmel, Kaph antwortete nicht, wenn er angesprochen wurde, Pugh und Martin wurden von Tag zu Tag gereizter. Pugh beklagte sich über Martins Schnarchen. Beleidigt stellte Martin seine Liege ans andere Ende der Kuppel und sprach für eine Weile auch nicht mehr mit Pugh. Pugh pfiff walisische Trauerlieder, bis Martin sich beklagte, und dann sprach er eine Zeitlang nicht mehr. Am Tag vor der geplanten Ankunft des Raumschiffes kündigte Martin an, daß er nach Merioneth hinüberfahren wolle. »Ich hatte zumindest gehofft, du würdest mir bei der Computerarbeit zur Auswertung der Gesteinsanalysen behilflich sein«, sagte Pugh bekümmert. »Kaph kann das tun. Ich möchte mir noch einmal den Graben ansehen. Viel Vergnügen«, fügte Martin im Dialekt hinzu, lachte und verließ die Kuppel.
»Was ist das für eine Sprache?« »Argentinisch. Hab ich Ihnen schon einmal gesagt, nicht wahr?« »Ich weiß nicht.« Nach einer Weile fügte der junge Mann hinzu: »Ich habe wohl sehr viel vergessen, fürchte ich.« »War auch nicht so wichtig«, sagte Pugh sanft. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, wie wichtig dieses Gespräch war. »Wollen Sie mir ein wenig bei der Computerarbeit helfen, Kaph?« Er nickte. Mehrere Untersuchungen mußten noch zu Ende geführt werden, und die Arbeit beanspruchte sie den ganzen Tag. Kaph war ein guter Mitarbeiter, flink und systematisch; darin übertraf er sogar Pugh. Jetzt, da er wieder sprach, konnte seine matte Stimme einem auf die Nerven gehen – doch was machte es; nur diesen einen Tag galt es noch durchzustehen, und dann würde das Schiff kommen, die alte Mannschaft, Kameraden und Freunde. Während der Teepause fragte Kaph: »Was passiert, wenn das Forschungsschiff abstürzt?« »Alle würden umkommen.« »Was passiert mit Ihnen, meine ich.« »Uns? Wir würden SOS-Signale senden und mit halben Rationen leben, bis das Rettungsschiff von Basis Drei kommt. Es ist viereinhalb E-Jahre weg. Wir haben hier Vorräte für drei Mann, und für eine Zeitdauer von, sagen wir, vier oder fünf Jahren. Könnte vielleicht etwas knapp werden.« »Würden sie ein Schiff für drei Mann senden?« »Das würden sie.« Kaph sagte nichts mehr. »Genug der verheißungsvollen Spekulationen«, sagte Pugh munter und erhob sich, um wieder an seine Arbeit zu gehen. Er rutschte zur Seite, und der Stuhl glitt unter seiner Hand weg; er machte eine Art Pirouette und prallte dann hart gegen die Kuppel. »Großer Gott«, sagte er in seiner Muttersprache, »was ist das?« »Ein Beben«, sagte Kaph. Die Teetassen tanzten scheppernd auf dem Tisch, ein Stoß Papiere glitt von einer Kiste, die Haut der Kuppel hob
und senkte sich. Unter ihnen erdröhnte gewaltiger Lärm, halb Schall, halb Beben. Kaph blieb unbewegt sitzen. Ein Erdbeben erschreckt keinen Mann, der in einem Erdbeben umgekommen ist. Pughs Haar stand in wirren Strähnen von seinem Kopf ab; verstört und leichenblaß sagte er: »Martin ist im Graben.« »In welchem Graben?« »Im großen Verwerfungsgraben, dem Epizentrum dieser Beben. Sehen Sie auf den Seismographen.« Pugh rüttelte an der klemmenden Tür eines immer noch zitternden Ausrüstungsschranks. »Wohin gehen Sie?« »Ich muß zu ihm.« »Martin nahm den Jet. Schlitten sind bei Erdbeben unsicher. Man verliert die Kontrolle über sie.« »Um Himmels willen, Mann, hören Sie auf.« Kaph stand auf und sagte mit seiner monotonen Stimme: »Es ist überflüssig, ihm jetzt nachzufahren. Es bedeutet ein unnötiges Risiko.« »Wenn Sie einen Alarmruf von ihm hören, verständigen Sie mich«, sagte Pugh, machte das Kopfstück seines Anzugs fest und lief zur Luftschleuse. Als er hinaustrat, hob Libra ihre groben Röcke und tanzte einen Bauchtanz, dessen Zuckungen sich von seinen Füßen bis zum roten Horizont fortsetzten. In der Kuppel sah Kaph den Schlitten wie einen Meteor in das glanzlose rote Tageslicht hinausfliegen und im Nordosten verschwinden. Die Haut der Kuppel bebte; die Erde hustete. Im Süden spie ein Krater eine langsam dahinschwebende Wolke schwarzen Gases aus. Eine Glocke schrillte; am Hauptkontrollstand flammte ein rotes Licht auf. Unter dem Licht stand »Anzug zwei«; darunter hatte jemand A. G. M. eingekratzt. Kaph schaltete das Signal nicht ab. Er versuchte, erst mit Martin, dann mit Pugh Verbindung aufzunehmen, erhielt jedoch keine Antwort. Als die Nachbeben abnahmen, ging er wieder an seine Arbeit und führte zu Ende, was Pugh begonnen hatte. Das dauerte etwa zwei Stunden.
Alle dreißig Minuten versuchte er, Kontakt mit Anzug eins, dann mit Anzug zwei aufzunehmen, doch ohne Erfolg. Das rote Licht war nach einer Stunde erloschen. Es war Essenszeit. Kaph kochte für einen und aß. Dann legte er sich auf sein Bett nieder. Bis auf gelegentliches entferntes Grollen hatten die Nachbeben nun aufgehört. Die Sonne, ein riesiges, abgeplattetes Rund, stand fahlrot im Westen. Ihr Sinken war nicht wahrnehmbar. Kein Laut war mehr zu hören. Kaph erhob sich und begann, zwischen den Kisten, Schränken und Apparaten umherzuwandern. Er ging zum Magnetofon und legte das erste Band ein, das ihm in die Hände kam. Es war reine Musik, elektronisch, ohne Harmonien, ohne Stimmen. Sie ging zu Ende. Die Stille blieb. Pughs Dienstuniform, an der ein Knopf fehlte, lag über einem Stapel von Gesteinsproben. Kaph starrte sie eine Weile an. Die Stille blieb. Der Alptraum des Kindes: Kein lebendes Wesen außer mir auf der Welt. Auf der ganzen Welt. Nördlich der Kuppel flackerte ein Meteor in geringer Höhe. Kaphs Mund öffnete sich, als ob er etwas sagen wollte, doch es kam kein Laut. Hastig ging er zur nördlichen Wand und starrte in das gallertartige rote Licht hinaus. Der kleine Stern kam näher und senkte sich herab. Zwei Gestalten erschienen in der Luftschleuse. Kaph stand ganz in der Nähe, als sie hereinkamen. Martins Raumanzug war mit Staub bedeckt, so daß er rötelig und warzig wie die Oberfläche der Libra aussah. Pugh führte ihn an Arm. »Ist er verletzt?« Pugh half Martin aus seinem Anzug und schlüpfte aus seinem eigenen. »Nur etwas belämmert«, sagte er knapp. »Ein Fels fiel auf den Jet«, sagte Martin, während er sich am Tisch niederließ und seine Arme reckte. »Zum Glück nicht, während ich drinnen saß. Ich war gelandet und inspizierte dieses Kohlenstaub-Gebiet, als ich
bemerkte, wie die Stöße begannen. Also lief ich hinaus zu einem Lavafeld, das ich von oben wahrgenommen hatte, so ich einigermaßen in Sicherheit war. Dann sah ich, wie dieser Brocken auf den Jet fiel – ein bemerkenswerter Anblick! Bald fiel mir ein, daß die SauerstoffReserveflaschen in dem Fahrzeug waren, und ich drückte den Alarmknopf. Doch wie immer, wenn hier ein Beben ist, hatte ich keinen Empfang; also wußte ich auch nicht, ob mein Signal überhaupt ankam. Um mich herum hüpfte alles; Felsstücke sprangen ab und fielen herunter. Kleine Brocken flogen um mich herum, und schließlich war es so staubig, daß ich keinen Meter weit sehen konnte. Langsam fragte ich mich wirklich, ob ich nicht allgemach die Luft würde anhalten müssen, bis ich dann durch die Staubwolken hindurch Owen heranfliegen sah wie eine große häßliche Fledermaus…« »Willst du was essen?« fragte Pugh. »Natürlich will ich was essen. Wie haben Sie denn das Beben überstanden, Kaph? Nichts passiert? War ja nichts wirklich Schlimmes, oder – was sagt der Seismograph? Mein Pech war, daß ich mich genau mitten drin befand. Alvaro, das alte Epizentrum. Nahm sich aus wie Stärke fünfzehn auf der Richter-Skala – völlige Zerstörung des Planeten…« »Setz dich«, sagte Pugh. »Iß.« Als Martin ein wenig gegessen hatte, versiegte sein Redefluß. Er ging alsbald zu seiner Liege, die immer noch abseits in der Ecke stand, in die er sie nach Pughs Beschwerden über sein Schnarchen gestellt hatte. »Gute Nacht, du walisische Halblunge«, sagte er zur anderen Seite der Kuppel hinüber. »Gute Nacht.« Dann hörte man nichts mehr von Martin. Pugh verdunkelte die Kuppel, verringerte die Helligkeit der gelben Lampe bis auf Kerzenstärke, und saß in sich versunken da – sagte nichts, tat nichts. Die Stille blieb. »Die Computerrechnungen sind fertig.« Pugh nickte dankend. »Martins Signal kam hier an, doch ich konnte weder Sie noch ihn erreichen.«
Pugh sagte mit Anstrengung: »Ich hätte nicht gehen sollen. Sogar die eine Sauerstoffflasche hätte noch für zwei Stunden gereicht. Er hätte schon zur Kuppel unterwegs sein können, als ich sie verließ. So waren wir ohne jede Verbindung untereinander. Ich hatte Angst.« Wieder herrschte Stille, unterbrochen nur durch Martins leises, gedehntes Schnarchen. »Lieben Sie Martin?« Pugh blickte unwillig auf: »Martin ist mein Freund. Wir haben zusammen gearbeitet, er ist ein guter Kerl.« Er hielt inne. Nach einer Weile sagte er: »Ja, ich liebe ihn. Warum fragen Sie das?« Kaph sagte nichts; er schaute zu dem anderen Mann hinüber. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, als erblicke er etwas, was er vorher nie gesehen hatte. Auch seine Stimme klang anders. »Wie können Sie…? Wie ist das…?« Doch Pugh konnte es ihm nicht sagen. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Es ist wohl Gewöhnung oder Erfahrung. Ich weiß nicht. Natürlich, jeder von uns ist allein. Was kann man anderes tun, als seine Hand ausstrecken ins Dunkel?« Kaphs seltsamer Blick verlor sich, verzehrt von seiner inneren Spannung. »Ich bin müde«, sagte Pugh. »War kein Vergnügen, ihn in dieser schwarzen Hölle zu suchen, während sich um mich herum die Erde öffnete und schloß… Ich gehe zu Bett. Um sechs Uhr etwa wird sich das Schiff bei uns melden.« Er stand auf und streckte sich. »Es ist ein Klon«, sagte Kaph. »Das andere Team, das sie mitbringen.« »Tatsächlich?« »Ein Zwölfer-Klon. Sie waren mit uns auf der Passerine.« Kaph saß im kleinen, gelben Lichtkreis der Lampe, und schien vor seinem geistigen Auge zu haben, was er fürchtete: Den neuen Klon, das vielfache Wesen, dem er nicht zugehörte. Er, ein verlorenes Stück eines zerbrochenen Ganzen, ein Fragment, Einsamkeit nicht gewöhnt, nicht wissend, wie man anderen Liebe schenkt, er sah sich nun der absoluten Selbstgenügsamkeit dieses zwölffachen Klons gegenüber. Eine sehr schwierige Situation für den armen Jungen, daran war kein Zweifel. Pugh
legte ihm im Vorbeigehen seine Hand auf die Schulter. »Der Chef wird nicht von Ihnen verlangen, daß Sie mit einem Klon hierbleiben. Sie können nach Hause zurück. Oder – nachdem Sie schon so weit sind… Vielleicht fahren Sie noch weiter mit uns. Wir könnten Sie brauchen. Überlegen Sie sich's. Sie werden es schaffen.« Pughs ruhige Stimme entfernte sich. Von Müdigkeit leicht gebeugt begann er, seinen Anzug abzulegen. Kaph schaute ihm zu und sah, was er nie zuvor gesehen hatte. Er sah ihn: Owen Pugh, den anderen, den fremden, der seine Hand ausstreckte in die Dunkelheit. »Gute Nacht«, murmelte Pugh und kroch in seinen Schlafsack. Er war sehr müde und hörte schon nicht mehr, wie Kaph ihm durch die Dunkelheit antwortete, vernahm nicht sein »Gute Nacht, Pugh.« Originaltitel: NINE LIVES Copyright © 1969 by HMH Publishing Co. Inc.
Fritz Leiber
SCHIFF DER SCHATTEN »Issiot! Hansswursst!« zischte die Katze und biß Spar irgendwo. Der vierfach stechende Schmerz wirkte Spars Übernächtigkeit entgegen, so daß sein Geist wieder ebenso frei schwebte wie sein Körper in der schwarzen Finsternis von Windrush. Nur ein paar Kontrollampen schienen durch das Dunkel, schwach wie in einem düsteren Traum, unendlich entfernt wie der Bug oder das Heck. Die Vision eines Schiffes: Schäumend durch eine blaue, wogende See, alle Segel gesetzt vor einem blauen Himmel. Nichts Obszönes war nun an den letzten beiden Begriffen. Er konnte den salzigen Wind durch die Wanten und Taue pfeifen hören und wie er an die gespannten Segel trommelte und das Knarren des Mastes und all des anderen Schiffsholzes. Was war Holz? Von irgendwoher kam die Antwort: Lebendiger Kunststoff. Und welche Kraft glättete das Wasser und verhinderte, daß es sich in Kügelchen auflöste und daß das Schiff kieloben im Winde davonflog? Die Vision war nicht verwischt und konturlos wie die Wirklichkeit – sie war hell und klar, so sehr, daß Spar nicht davon sprach aus Furcht, des Zweiten Gesichts und somit der Hexerei beschuldigt zu werden. Windrush war auch ein Schiff, und wurde oft das Schiff genannt. Doch war es ein seltsames Schiff, in dem die Besatzung in Kabinen aller möglichen Formen aus durchscheinenden, verschweißten Segeln ewig lebte. Das einzige, was die zwei Schiffe sonst noch gemeinsam hatten, war der Wind und das immerwährende Knarren. Als die Vision verblaßte, hörte Spar die Winde von Windrush sanft durch die langen Gänge streichen, und er spürte das Vibrieren des Kabels, an das er mit Handgelenk und Knöchel angeschnallt war, um unkontrollierbares Herumschweben zu verhindern. Die Träume des Schlaftages hatten gut begonnen; Spar hatte Crowns drei Mädchen auf einmal gehabt. In der Schlaftag-Nacht hatte ihn ein fernes Knirschen halb geweckt. Dann hatten ihn Werwölfe und Vampire angefallen, düstere Schatten, die von allen Seiten auf ihn eindrangen,
während Hexen mit ihrem Gefolge im nachtschwarzen Hintergrund kicherten. Geschützt hatte ihn irgendwie die Katze, die sich dreist einer dünnen Hexe entgegenstellte, deren gebleckte Zähne ein elfenbeinerner Fleck in dem größeren silbernen Fleck ihres Haars war. Spar biß unwillkürlich die Zähne zusammen. Die Katze verschwand als letzte der übernatürlichen Kreaturen. Dann kam die schöne Vision des Schiffes. Plötzlich und gnadenlos wurde er wieder von seinen Katerschmerzen gepackt. Schweißtropfen sonderten sich von ihm ab, bis er von ihnen wie von einer Wolke umgeben war. Ohne Vorwarnung revoltierte sein Magen. Gerade noch rechtzeitig fand seine freie Hand einen schwebenden Entsorgungsschlauch, dessen Trichter er an seinen Mund preßte. Er hörte sein scharfriechendes Erbrochenes davongurgeln, von leichtem Unterdruck abgesogen. Wieder krampfte sich sein Magen zusammen, schnell und unvermittelt wie das Zufliegen der Sicherheitsschotte bei einem starken Luftstoß in den Gängen. Er stieß den Schlauch in das Bein seines kurzen, losen Toilettenanzugs und fing das dunkle Zeug auf, das fast so wässerig und genauso explosiv wie sein Erbrochenes war. Dann hatte er das brennende Bedürfnis, Wasser zu lassen. Nachher spürte Spar eine angenehme Erschöpfung, und er rollte sich im ebenso angenehmen Dunkel zusammen, um zu dösen, bis Keeper ihn wecken würde. »Ssäufer!« zischte die Katze. »Nicht mehr schlafen! Schschau! Schschau genau!« Durch das dünn gewordene Gewebe seines Anzugs hindurch spürte Spar ein vierfaches Stechen wie die Berührung kleiner Dornbüsche in den Gärten von Apoll oder Diana. Ein Schauder durchlief ihn. »Sspar«, zischte die Katze nun leiser, während das Stechen verging. »Ich wünschsche dir das besste. Ganss gewisss.« Müde bewegte sich Spars Hand hinüber, berührte kurzes Fell, das weicher als Suzys war, streichelte es behutsam. Ganz leise zischte die Katze, schnurrte fast: »Sstarker Sspar! Ssieh weit! Ssieh alless! Ssieh vorausss! Ssieh Vergangenesss!« Spar fühlte Verärgerung in sich aufkommen über dieses dauernde Gerede vom Sehen – schlechte Manieren hatte diese Katze! – und spürte dann eine irrationale Hoffnung. Das war offensichtlich keine verhexte Katze aus seinem
Traum, es war ein verirrtes Tier, das sich irgendwie durch einen Ventilationsschacht hereingezwängt und seinen Traum ausgelöst hatte. Es gab nicht wenige solcher streunenden Tiere in diesen Tagen der Hexenpanik und der Entvölkerung des Schiffes, zumindest von Abteilung Drei. Am Bug begann die Dämmerung; die Kontrollichter verblaßten in dem schnell stärker werdenden Licht. Die Zeit von zwanzig Herzschlägen verging, und Windrush war so hell, wie es nur an irgendeinem Morgen sein konnte. Die Katze strich an Spars Arm entlang, ein schwarzer Fleck für seine blinzelnden Augen. In Zähnen, die Spar nicht sehen konnte, hielt sie etwas Kleines, Graues. Spars Finger berührten es. Es fühlte sich an wie noch kürzerer Pelz, aber es war kalt. Als hätte sie plötzlich etwas verdrossen, schnellte die Katze sich mit starkem Stoß ihrer Hinterbeine von seinem bloßen Unterarm. Geschickt landete sie auf dem nahen Halteseil, einer unruhigen grauen Linie, die sich in den beiden Richtungen verlor, bevor sie irgendwo eine Wand erreichte. Spar schnallte sich los, krallte seine Zehen um seine eigene bleistiftdünne Leine, und sah blinzelnd die Katze an. Die Katze starrte mit Augen zurück, die grüne Flecken und von dem schwarzen Fleck ihres übergroßen Kopfes kaum zu unterscheiden waren. Spar fragte: »Dein Kind? Tot?« Die Katze ließ ihre graue Bürde los, die jetzt neben ihrem Kopf schwebte. »Kind!« All die Verachtung von vorhin und noch mehr war wieder in ihrer zischenden Stimme. »Ess iss eine Ratte, die ichch geffangen habe, Issiot!« Spars Lippen versuchten ein Lächeln. »Du gefällst mir, Katze. Ich werde dich Kim nennen.« »Kim-schlimm!« spuckte die Katze. »Ich werde dich Luschsche nennen! Oder Ssäufer!«
Das Knarren verstärkte sich, wie immer nach Tagesanbruch oder Mittag. Leinen und Kabel ächzten. Wände knackten. Spar wandte schnell den Kopf. Wenngleich die Realität aus ihrer Natur heraus nur ein Schemen war, konnte er Bewegungen doch mit Sicherheit orten. Keeper schwebte langsam auf ihn zu. Auf dem Rund seines rotbraunen Körpers war das große bleiche Rund seines Gesichtes auszumachen; sein hellrosa Mittelpunkt lenkte ab von den kleinen, weit auseinanderstehenden braunen Flecken seiner Augen. Einer seiner fetten Arme endete in dem hellen Glanz von Pliofilm, der andere im dunklen Glanz von Stahl. »Faule verwöhnte Diva«, grüßte ihn Keeper. »Den ganzen Schlaftag hast du geschnarcht, während ich Wache schob, und jetzt bringe ich deinen Morgenbeutel mit Mondnebel an deinen Schlafplatz. Eine schlimme Nacht, Spar«, fuhr er fort. »Werwölfe, Hexen und Vampire überall in den Korridoren. Doch ich habe sie abgewehrt, von Ratten und Mäusen ganz zu schweigen. Ich habe gehört, daß die Vampire Girlie und Sweetheart erwischt haben. Wachsamkeit, Spar! Und jetzt saug deinen Mondnebel und fang an, sauberzumachen. Hier stinkt's.« Er streckte die pliofilmglänzende Hand aus. Das Zischen der verächtlichen Worte Kims noch im Kopf, sagte Spar: »Ich glaube, ich möchte diesen Morgen nichts trinken, Keeper. Nur Kornschleim und Mondbrei. Nein, Wasser.« »Wie, Spar?« fragte Keeper. »Ich fürchte, daß ich das nicht zulassen kann. Wir wollen nicht, daß du vor den Kunden Krämpfe bekommst. Die Erde soll mich würgen! – Was ist das?« Spar warf sich blitzschnell auf Keepers stahlglänzende Hand. Hinter ihm gab seine Halteleine einen vibrierenden Ton von sich. Eine Hand schloß er um eine kalte Trommel. Mit der anderen riß er einen dicken Finger vom Abzug. »Das ist keine Hexenkatze, nur ein streunendes Tier«, sagte er, während sie sich überschlugen und langsam weiterrotierten. »Loslassen!« fauchte Keeper. »Ich werde dich in Eisen schließen lassen. Ich werde es Crown sagen!«
»Schußwaffen sind ebenso gesetzwidrig wie Messer oder Nadeln«, konterte Spar draufgängerisch, obwohl ihm schon übel und schwindlig war. »Du bist es, der die Arreststube fürchten müßte.« Keepers drohende Stimme konnte im übrigen nicht über den Respekt hinwegtäuschen, den Keeper vor seiner Fähigkeit hatte, sich stets schnell und sicher zu bewegen, selbst als Halbblinder. Sie flogen gegen sich kreuzende Halteleinen, dann kam ihre Bewegung zur Ruhe. »Laß mich los, sage ich«, sagte Keeper, der mit schwindenden Kräften versuchte, sich zu befreien. »Crown hat mir diese Pistole gegeben. Und ich habe von der Brücke eine Erlaubnis dafür.« Letzteres zumindest war eine Lüge, wie Spar vermutete. »Außerdem ist es nur ein besseres Spielzeug mit schweren Gummikugeln. Nicht genug, um eine Wand zu durchschlagen, aber ausreichend, um einem Betrunkenen beizukommen – oder einer Hexenkatze den Schädel einzuschießen!« »Keine Hexenkatze, Keeper«, wiederholte Spar, der stark zu schlucken hatte, um nicht wieder speien zu müssen. »Nur ein gesitteter Streuner, dessen Nützlichkeit bereits erwiesen ist, denn er hat eine der Ratten gefangen, die sich immer über unsere Vorräte hermachen. Sein Name ist Kim. Er wird ein guter Mitarbeiter sein.« Der schwache Fleck, der Kim war, zog sich in die Länge und bekam dünne Flecken aus Beinen und einem Schwanz. »Ich bin ssuper«, prahlte er. »Gessund. Ffange Ratten, Mäusse! Ffinde Hexxen, Vampire ffür Dich!« »Er spricht!« staunte Keeper. »Hexerei!« »Crown hat einen Hund, der spricht«, antwortete Spar. »Ein sprechendes Tier beweist gar nichts.« Während der ganzen Zeit hatte er Trommel und Abzug fest im Griff. Jetzt fühlte er durch Keepers dicken Speck hindurch eine Veränderung, als ob sich seine starken Muskeln in eine Art alles umfließenden Sirup verwandelten. »Tut mir leid, Spar«, flüsterte er salbungsvoll. »Es war eine arge Nacht, und Kim hat mich nervös gemacht. Er ist schwarz wie eine Hexenkatze. Verständlicher Irrtum meinerseits. Wir werden ihn als Rattenfänger ausprobieren. Er muß sich sein Brot verdienen! Jetzt trink das.«
Der doppelt gefaltete Beutel in Spars Hand fühlte sich an wie der Stein der Weisen. Er führte ihn an die Lippen, aber gleichzeitig gerieten seine Füße gegen eine der straff gespannten Leinen, die ihn gegen die schimmernde Wand hinter der Theke schnellte. Spar flog durch die offene Tür gegen die Rückwand des Vorratsraumes; Halteleinen fingen seinen Aufprall ab. Er öffnete den Verschluß des Beutels und führte ihn zum Mund, drückte aber nichts heraus. Mit einem kleinen Seufzer schloß er die Augen und warf dann den Beutel zurück in den Mondnebel-Behälter. Er tastete sich weiter, fand den Wärmebehälter und entnahm ihm eine Packung Kornschleim; einen Beutel mit Kaffee steckte er in eine seiner Taschen. Dann griff er sich einen Wasserbeutel, öffnete ihn, gab fünf Salztabletten hinein, schloß ihn wieder, und schüttelte ihn kräftig. Keeper, der ihm gefolgt war, sagte ihm ins Ohr: »Du trinkst also doch. Mondnebel tut's nicht, es muß ein Cocktail sein. Ich sollte es von deinem Guthaben abziehen. Aber alle Säufer sind Lügner, oder werden es.« Der Hohn in Keepers Worten war nicht zu überhören. »Nein, nur Salzwasser, um mein Zahnfleisch fester zu machen«, erklärte Spar. »Armer Spar, wozu brauchst du festes Zahnfleisch? Willst du etwa mit deinem neuen Freund Ratten fressen? Laß dich nicht dabei erwischen, daß du sie auf meinem Grill brätst! Ich würde dir das Salz auf die Rechnung setzen. Und jetzt mach sauber, Spar! Und du!« rief er, zu der Katze gewandt, »fang Mäuse!« Kim hatte bereits den Abfallzerkleinerer gefunden und schob die tote Ratte hinein. Ein mahlendes Geräusch begann, das nicht enden würde, bevor die Ratte vollständig zerkleinert war und langsam zu der großen Kloake floß, welche die Gärten der Diana düngte. Dreimal spülte Spar sein Zahnfleisch mannhaft mit Salzwasser und spuckte es dann in ein Abfallrohr, beim ersten Gurgeln sich noch einmal leicht erbrechend. Dann wandte er sich von Keeper ab und beförderte mit leichtem Druck auf den Beutel den Kaffee in seinen Mund – er war teurer als Mondnebel, das aus Mondsaft destillierte Getränk –, dann etwas von dem Kornschleim. Mit entschuldigender Gebärde bot er Kim den Rest an, aber der Kater schüttelte den Kopf. »Hatte eben 'ne Mausss.«
Hastig ging Spar zur grünen Steuerbordecke. Draußen hörte er die Stimme von Angetrunkenen, die in müdem Zorn »Aufmachen!« riefen. Er ergriff die Mündungen zweier langer Absaugschläuche und begann, wie eine Spinne sich in Spiralen vorarbeitend, die Luft zu reinigen. Von der Theke aus, deren dünne Titanverkleidung er polierte, erhöhte Keeper die Saugkraft der beiden Schläuche, so daß ihre Reaktionsbewegung Spars Kreise beschleunigte. Spar mußte aufpassen, daß er nicht an Halteseile geriet und daß sich seine Schläuche nicht verhedderten. Bald sah Keeper auf sein Handgelenk und rief: »Spar, weißt du nicht, wie spät es ist? Schließ auf!« Er warf Spar einen Schlüsselbund zu, den dieser auffing, obwohl er ihn nur auf dem letzten Teil seines Fluges erkennen konnte. Als Spar schon fast bei der grünen Tür war, rief ihn Keeper wieder zurück und deutete nach hinten und nach oben. Gehorsam schloß Spar die dunkle und auch die blaue Luke auf, obgleich dort niemand wartete, und öffnete dann die grüne. Drei alte Kunden taumelten herein, zogen sich an den Halteseilen voran und stießen einander beiseite, um zuerst die Theke zu erreichen. Alle schimpften auf Spar. »Der Himmel soll dich würgen!« »Die Erde soll dich begraben!« »Die See soll dich sieden!« »Hütet eure Zunge, Jungs!« sagte Keeper tadelnd. »Wenn ich auch zugeben muß, daß die Stupidität und Schlamperei meines Gehilfen einen wirklich in Rage bringen kann.« Spar warf die Schlüssel zurück. Arm an Arm drängten sich die drei Trinker an der Theke, drei graue Flecken, die Gesichter der blauen Ecke zugewandt. Keeper sah sie an. »Unten, unten!« rief er unwillig. »Ihr haltet Euch wohl für Gentlemen?« »Aber oben ist sonst noch niemand.« »Außer uns dreien ist niemand da.« »Spielt keine Rolle«, erwiderte Keeper. »Anstand, ihr Strolche! Hier 'rüber, wenn Ihr nicht ganze Packungen kaufen wollt.« Mißmutig brummend veränderten die drei ihre Stellung so, daß sie der schwarzen Ecke zugewandt waren.
Keeper schubste ihnen ein schwachrotes, dünnverschlungenes Etwas zu, das sich am Ende dreifach teilte. Jeder der drei ergriff eines der Enden und steckte es in den Mund. Die fette Hand auf einem Zapfhahn, sagte Keeper: »Laßt erst eure Bons sehen.« Verärgert murmelnd zog jeder der drei etwas hervor, was zu klein war, als daß Spar es hätte klar erkennen können, und reichte es Keeper. Der sah es sich sorgfältig an, bevor er es in die Kasse steckte. Dann sagte er: »Sechs Sekunden Mondsaft. Zieht kräftig«, und er sah auf seine Uhr und bewegte die andere Hand. Einer der Trinker schluckte fast bis zum Ersticken, blies dann alles durch die Nase von sich, und saugte tapfer weiter. Keeper schloß das Ventil. »Sie haben zu früh zugedreht, das waren keine sechs!« sprudelte einer der drei sogleich hervor. »Erst bekommt Ihr vier, und dann zwei«, belehrte sie Keeper mit öliger Stimme. »Ihr braucht ja nicht gleich zu ersaufen. Fertig?« Gierig nahmen die Zecher die zweite Portion in sich auf und begannen dann zu rülpsen, von Zeit zu Zeit sehnsüchtig nach verbleibenden Tropfen saugend. Spar, der in einiger Entfernung um sie kreiste, hörte trotzdem das meiste davon. »Ein dreckiger Schlaftag, Keeper.« »Nein, ein guter, Rauschfreund – gut für einen, um einem betrunkenen Gimpel das Blut auszusaugen.« »Ich hab bei Pete sicher geschlafen, du fettes Gespenst.« »Bei Pete ist es sicher? Das ist neu!« »Gammastrahlen über dich! Aber sie haben wirklich Girlie und Sweetheart gekriegt. Direkt im Steuerbord-Hauptgang, ob du es glaubst oder nicht. Bei Kobalt 90, auf Windrush wird es einsam! In Abteilung drei jedenfalls. Sogar bei Tag kannst du einen ganzen Verbindungsgang 'runterschwimmen, ohne eine Seele zu treffen.« »Woher weißt du das mit den Mädchen?« fragte der zweite Trinker. »Vielleicht sind sie in eine andere Abteilung gegangen, um mehr Glück zu haben.«
»Die haben kein Glück mehr. Suzy hat gesehen, wie sie geschnappt wurden.« »Nicht Suzy«, verbesserte Keeper, der nun den Schiedsrichter spielte. »Es war Mable. Genauso muß es besoffenen Schlampen ergehen.« »Du hast kein Herz, Keeper.« »Sehr wahr. Deswegen sind auch die Vampire nicht auf mich aus. Aber im Ernst, Jungs, diese Gespenster und Hexen treiben sich in Abteilung drei herum. Den ganzen Schlaftag war ich wach und habe aufgepaßt. Ich werde der Brücke eine Beschwerde schicken.« »Das ist doch nicht dein Ernst.« »Das würdest du nicht tun.« Keeper nickte feierlich und legte die Hand aufs Herz. Die Trinker waren beeindruckt. Spar war auf dem Weg zurück von der grünen Ecke und arbeitete jetzt weiter weg von der Wand. Er überholte den schwarzen Fleck, der Kim war, welcher selbst auf der Peripherie kreiste, fleißig von Seil zu Seil hüpfte und gelegentlich an ihnen entlangsauste. Eine hellhäutige, füllige Gestalt mit zwei blauen Streifenbüstenhaltern und kurzen Hosen kam durch die grüne Tür. »Morgen, Spar«, grüßte eine sanfte Stimme. »Und wie geht's?« »Gut und schlecht«, erwiderte Spar. Die goldene Wolke lose wehenden blonden Haars berührte sein Gesicht. »Ich mach mit Mondnebel Schluß, Suzy.« »Sei nicht zu streng zu dir selbst, Spar. Ein Tag Arbeit, ein Tag Nichtstun, ein Tag Spiel, ein Tag Schlaf – so ist es am besten.« »Ich weiß. Arbeitstag, Erholungstag, Spieltag, Schlaftag. Zehn Tage geben einen Terranth – zwölf Terranths sind ein Sunth, zwölf Sunths geben einen Starth, und so weiter, bis zum Ende der Zeiten. Mit einigen Korrekturen, sagen manche. Ich möchte gern wissen, was alle diese Namen bedeuten.« »Du bist zu ernst. Du solltest – oh, ein Kätzchen! Wie süß!« »Kätzchen-Schmätzchen!« zischte der großköpfige schwarze Fleck, als er an ihnen vorbeisprang. »Issst Kater. Isst Kim.«
»Kim ist unser neuer Fänger«, erklärte Spar. »Mit dem ist nicht zu spaßen.« »Verschwende deine Zeit nicht mit diesem zahnlosen Blinden, Suzy«, rief Keeper, »und komm endlich ganz herein.« Suzy fügte sich seufzend, und als sie an Spar vorbeikam, berührten ihre weichen Fingerspitzen Spars faltige Wange. »Lieber Spar…« murmelte sie. Als ihre Füße an seinem Gesicht vorbeischwebten, hörte Spar das Klirren der Kettchen, die sie um die Knöchel trug – lauter goldene Herzen, wie er wußte. »Hast du von Girlie und Sweetheart gehört?« grüßte einer der Trinker mit fettem Grinsen. »Möchtest du auch deine Halsschlagader aufgeschlitzt kriegen oder deine…?« »Halt den Mund, du Pfeife!« schnitt ihm Suzy müde das Wort ab. »Gib mir 'nen Drink, Keeper.« »Deine Rechnung ist schon ziemlich lang, Suzy. Wie möchtest du das denn bezahlen?« »Laß doch die Scherze, Keeper. Wenigstens am Morgen. Du weißt doch Bescheid, speziell was das anbetrifft. Jetzt möchte ich einen Beutel Mondsaft, dunklen. Und ein bißchen Ruhe.« »Beutel sind für Ladies, Suzy. Ich werde dich oben bedienen. Du mußt mal ans Bezahlen denken, aber…« Man hörte eine durchdringende Stimme, die sich schnell zu einem Wutschrei steigerte. An der hinteren Tür erschien eine bleiche Gestalt in roter Hose und Bluse – nein, es war weiter als das, eine Jacke oder ein kurzer Mantel – und strampelte und schlug wild um sich. Zu schnell und unvorsichtig hatte das schlanke Mädchen den Eingang durchquert und Teile von sich und ihren Kleidern zwischen die Tür und die Notluke eingeklemmt. Während Spar auf sie zutauchte und die Trinker Ratschläge riefen, riß sie sich mit wilder Gewalt los und flog, von schwarzem Haar umwallt, auf die Theke zu. Als sie mit der Hüfte gegen die Theke stieß, gab es ein dumpfes Geräusch; mit einer Hand raffte sie ihren roten Mantel zusammen, die andere streckte sie Keeper entgegen.
Spar, der ihr gefolgt war, hörte sie sagen: »Einen doppelten Mondnebel, Keeper. Schnell.« »Einen schönen guten Morgen, Rixende«, grüßte Keeper. »Ich würde dir gerne Goldwasser servieren, nur, also…« Er breitete seine fetten Arme aus. »… Crown sieht es nicht gern, wenn seine Mädchen allein ins Bat Rack kommen. Das letzte Mal hat er mir strikte Anweisung gegeben…« »Na was denn! Crown selber hat mich hergeschickt, um etwas zu suchen, was er verloren hat. Erst aber Mondnebel. Einen doppelten!« Sie schlug mit den Fäusten auf die Bar, bis der Rückstoß sie nach oben trieb, und zog sich dann wieder an ihren Platz zurück, ohne sich für Spars Hilfe zu bedanken. »Langsam, langsam, Lady«, beruhigte sie Keeper, und die kleinen braunen Flecken seiner Augen verschwanden hinter seinem Grinsen. »Und wenn nun Crown hereinkommt, während du trinkst?« »Das wird er nicht!« rief Rixende heftig, schickte aber doch einen sichernden Blick an Spar vorbei – schwarzer Fleck, bleicher Fleck eines Gesichts, wieder schwarzer Fleck. »Er hat ein neues Mädchen. Ich meine nicht Phanette oder Doucette, sondern ein Mädchen, das du noch nie gesehen hast, Almodie heißt sie. Er wird den ganzen Morgen mit dem dürren Luder beschäftigt sein. Und nun fahr den doppelten Mondnebel her, du dreckiger Teufel!« »Langsam, Rixie. Alles zu seiner Zeit. Was hat Crown denn verloren?« »Einen kleinen schwarzen Beutel. Etwa so groß.« Ihre schlanken Finger deuteten die Ausmaße an. »Er hat ihn am Abend des letzten Spieltags hier verloren, oder er wurde ihm gestohlen.« »Spar, hast du das gehört?« sagte Keeper. »Kein kleiner schwarzer Beutel«, sagte Spar sehr schnell. »Aber du hast einen großen orangefarbenen gestern abend hier gelassen, Rixende. Ich werde ihn holen.« Er schwang sich hinter die Bar. »Ach, laß die verdammten Beutel. Gib mir den Doppelten!« forderte das schwarzhaarige Mädchen ungeduldig. »Erdenmutter!«
Sogar den Trinkern verschlug es die Sprache. Die Hände an die Schläfen gepreßt, bat Keeper: »Keine Obszönitäten, bitte. Aus dem Munde eines zierlichen Mädchens klingen sie noch schlimmer, liebe Rixende.« »Erdenmutter, hab ich gesagt! Und jetzt laß den Quatsch, Keeper, und gib mir was, bevor ich dir das Gesicht zerkratze und es mir selber hole!« »Schon gut, schon gut. Sofort, auf der Stelle. Aber wie willst du zahlen? Crown hat gesagt, ich werde meine Lizenz verlieren, wenn er je wieder etwas von dir auf seiner Anschreibeliste findet. Hast du 'nen Bon? Oder… Geld?« »Gebrauch deine Augen! Oder glaubst du, dieser Mantel hat Innentaschen?« Sie öffnete ihn weit, ihren Oberkörper entblößend, und raffte ihn wieder zusammen. »Erdenmutter! Erdenmutter! Erdenmutter!« Entsetzt schwatzten die Trinker aufeinander ein. Suzy seufzte in milder Verzweiflung. Keepers dicke Finger berührten Rixendes Handgelenk, wo ein gelber Fleck es eng umspannte. »Du hast Gold«, sagte er mit unterdrückter Stimme, und seine Augen verschwanden wieder, dieses Mal vor Gier. »Du weißt sehr wohl, daß sie verschweißt sind. Meine Knöchelspangen auch.« »Aber die?« Seine Hand fuhr zu einem goldenen Fleck nahe an ihrem Gesicht. »Auch verschweißt. Crown hat mir die Ohrläppchen durchbohren lassen.« »Aber…« »Oh, du atomverseuchter Teufel! Ich verstehe schon. Also dann, bitte!« Rixendes Hand ging zu einem goldenen Fleck und riß daran mit ruckartiger Bewegung; ihr Aufschrei verriet mehr Zorn als Schmerz. Blut begann zu tropfen. Ihre Hand, zur Faust geballt, stieß nach vorn. »Jetzt her damit! Gold für einen doppelten Mondnebel.« Keeper atmete schwer, sagte aber nichts, während er sich am Mondnebel-Behälter zu schaffen machte, als ob er wußte, daß er zu weit gegangen war. Auch die Trinker waren jetzt still. Suzys Stimme klang unbeeindruckt als sie sagte, »und meinen Dunklen!«
Spar fand einen frischen trockenen Schwamm und fing geschickt die schwebenden purpurnen Flecken damit auf, bevor er ihn an Rixendes verletztes Ohr drückte. Keeper studierte das schwere Goldgehänge, das er sich nahe vor die Augen hielt. Rixende molk den Doppelbeutel an ihren Lippen, und ihre Augen verschwanden, als sie selig seinen Inhalt einsog. Spar führte Rixendes freie Hand zu dem Schwamm, und mechanisch übernahm sie die Aufgabe, ihn an ihr Ohr zu halten. Suzy seufzte resigniert, lehnte ihren fülligen Körper über die Bar, ihre Hand verschwand in einem Kühlkasten und beförderte einen doppelten Dunklen daraus hervor. Eine lange, drahtige, sehr dunkle Gestalt in einer eng anliegenden dunkelblauen, silbergesprenkelten Überjacke schoß mit einer Geschwindigkeit, die alles, was Spar sich jemals zugetraut hatte, bei weitem übertraf, durch die dunkelrote Tür herein, ohne auch nur ein einziges Halteseil absichtlich oder zufällig zu berühren. Als er an Spar vorbeiflog, machte der Neuankömmling einen halben Überschlag; seine langen, schmalen, bloßen Füße trafen direkt neben Rixende auf das Titanium der Theke. Geschickt bremste er seinen Schwung ab, so daß die Bar kaum erschüttert wurde. Schlangengleich legte sich ein dunkelbrauner Arm um sie. Die andere Hand nahm den Beutel von ihrem Mund und schnappte den Verschluß zu. Eine träge, musikalische Stimme fragte: »Was hab ich dir gesagt, was passieren wird, Baby, wenn du jemals wieder allein einen Drink nimmst?« Im Bat Rack wurde es sehr still. Keeper wich zurück und drückte sich an die Wand, eine Hand hinter seinem Rücken. Spars Arm fuhr in die Ecke hinter den Mondsaft- und Mondnebel-Behältern, wo er die Fundsachen verwahrte, und blieb dort. Er fühlte Angstschweiß auf seiner Stirn. Suzy hielt sich ihren Dunklen nahe vors Gesicht. Einer der Trinker begann hektisch zu husten, fiel in halbersticktes Keuchen und stieß unterwürfig hervor: »Entschuldigen Sie, Herr Untersuchungsrichter. Mein ergebenster Gruß.« Keeper sagte mit dumpfer Stimme: »Morgen… Crown.«
Mit sanfter Hand zog Crown den Mantel von Rixendes nackter Schulter und begann sie zu streicheln. »Aber du hast ja eine Gänsehaut, Liebling, und bist steif wie 'ne Leiche. Was hat dich so erschreckt? Glätte dich, Haut. Lockert euch, Muskeln. Entspann dich, Rix, und du sollst 'nen Drink bekommen.« Seine Hand fand den Schwamm, untersuchte ihn, fand den feuchten Teil und führte ihn dann zu seinem Gesicht. Er roch daran. »Also, Jungs, zumindest wissen wir, daß keiner von euch ein Vampir ist«, sagte er sanft. »Sonst würdet ihr ja an ihrem Ohr lutschen.« Rixende sagte sehr schnell und mit tonloser Stimme: »Ich bin nicht wegen eines Drinks gekommen, das schwör ich dir. Ich bin gekommen, um den kleinen Beutel zu holen, den du verloren hast. Dann kam die Versuchung. Das hatte ich nicht geahnt. Ich wollte widerstehen, aber Keeper hat mich verleitet. Ich…« »Halt den Mund«, sagte Crown ruhig. »Wir fragten uns nur, wie du bezahlt hast. Jetzt wissen wir es. Womit wolltest du denn deinen dritten Doppelten kaufen? Wolltest du dir eine Hand oder einen Fuß abhacken? Keeper… zeig mir deine andere Hand. Wir sagten, zeig sie her. So. Jetzt mach sie auf.« Crown nahm das Gehänge aus Keepers geöffneter Hand. Seine gelbbraunen Augen blieben auf Keeper gerichtet, während seine Finger das wertvolle Stück hin- und herbaumeln ließen und dann mit leichtem Schwung nach oben schickten. Als der goldene Fleck sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit der offenen Tür näherte, öffnete und schloß Keeper zweimal seinen Mund und stammelte dann: »Ich hab sie nicht verleitet, Crown, ehrlich. Bestimmt nicht. Ich wußte nicht, daß sie ihr Ohr verletzen würde. Ich wollte sie daran hindern, aber…« »Interessiert uns nicht«, sagte Crown. »Schreib den Doppelten auf unsere Liste.« Keepers Gesicht nicht aus den Augen lassend, streckte er seinen Arm nach oben und ergriff das Gehänge, gerade bevor es außer Reichweite geriet. »Warum ist dieses Freudenhaus so tot?« Geschmeidig, als sei es ein Arm, fuhr Crowns langes Bein über die Theke, und seine Zehen packten
Spars Ohr, zogen ihn herüber und drehten ihn herum. »Wie geht's mit der Salzlösung, Bester? Wird das Zahnfleisch hart? Es gibt nur ein Mittel, das herauszufinden.« Er packte Spars Kiefer und Unterlippe mit den anderen Zehen, und stieß die große Zehe in Spars Mund. »Los, beiß mich, Guter.« Spar biß. Nur das konnte ihn vor dem Erbrechen bewahren. Crown kicherte. Spar biß zu, so fest er konnte. Energie durchfloß seinen bebenden Körper. Sein Gesicht wurde heiß, und seine Stirn, von der der Angstschweiß floß, begann zu pulsieren. Er war sicher, daß er Crown wehtat, aber der Untersuchungsrichter von Abteilung drei lachte nur leise und vergnügt, und als Spar zu keuchen begann, zog er seinen Fuß zurück. »O je, du wirst aber stark, Baby. Das hat man beinah gespürt. Sollst einen Drink bekommen.« Spars blöder geöffneter Mund zuckte vor dem dünnen Strahl Mondnebel zurück. Der Strahl traf ihn ins Auge, und es brannte so sehr, daß er seine Fingernägel in sein Fleisch grub und seine schmerzenden Kiefer zusammenkrampfte, um nicht laut aufzuschreien. »Warum ist es hier so tot, frag ich nochmal? Kein Beifall für Baby, und jetzt spielt Baby auch noch den Abstinenzler. Wollen wir nicht ein kleines bißchen lachen?« Crown sah sie der Reihe nach an. »Was ist los? Hat die Katze eure Zungen gefressen?« »Katze? Wir haben eine Katze, eine neue Katze, kam erst gestern abend, arbeitet als Fänger«, plapperte plötzlich Keeper. »Sie kann ein bißchen sprechen. Nicht so gut wie Höllenhund, aber sie spricht. Sehr komisch. Hat eine Ratte gefangen.« »Was hast du mit der Ratte gemacht, Keeper?« »In den Abfall geworfen. Das heißt, Spar hat es getan. Oder die Katze.« »Soll das heißen, daß du einen Leichnam beiseite geschafft hast, ohne mich zu benachrichtigen? Oh, deswegen brauchst du nicht gleich blaß zu werden. Hat nichts zu bedeuten. Immerhin könnten wir dich der Beherbergung einer Hexenkatze anklagen. Du sagst, daß sie gestern abend kam, und das war ein übler Hexenabend. Nun brauchst du nicht auch noch grün zu werden. Sollte nur ein Spaß sein. Wollte euch nur ein biß-
chen zum Lachen bringen. – Spar! Ruf die Katze! Laß sie was Lustiges sagen.« Bevor Spar rufen oder überhaupt überlegen konnte, ob er es tun sollte, erschien der schwarze Fleck auf einem Halteseil in der Nähe Crowns, die grünen Augenflecken auf die gelbbraunen gerichtet. »Du bist also der Spaßmacher, was? Also… Mach schon Spaß.« Kim schien größer zu werden. Spar erkannte, daß sich sein Fell sträubte. »Na los, mach schon Spaß… Ich hab gehört, du kannst es. Keeper, du wolltest uns doch mit dieser sprechenden Katze keinen Bären aufbinden?« »Spar! Die Katze soll Spaß machen!« »Bemüh dich nicht. Hat sich wohl auch die eigene Zunge abgebissen. Stimmt's, Blacky?« Er streckte seine Hand aus. Kims Pfote schlug nach ihr, dann sprang er fort. Crown lachte wieder leise in sich hinein. Rixende begann unbeherrscht zu zittern. Crown beobachtete sie besorgt, doch ungerührt; seine ausgestreckte Hand drehte ihren Kopf zu sich hin. »Spar hat geschworen, daß die Katze sprechen kann«, plapperte Keeper. »Ich werde…« »Ruhe«, sagte Crown. Er führte den Beutel an Rixendes Lippen, drückte darauf, bis er leer war und Rixendes Zittern aufhörte. »Und jetzt zu dem kleinen schwarzen Beutel, Keeper«, sagte Crown unvermittelt. »Spar!« Der tauchte in seine Fundsachen-Ecke und sagte dann hastig: »Kein kleiner schwarzer Beutel, Untersuchungsrichter, aber wir haben diesen hier gefunden; Lady Rixende hat ihn am letzten Spieltag abend vergessen«, und er hielt etwas Großes, Rundes, strahlend Orangefarbenes, Verschnürtes in die Höhe. Crown nahm es und schwang es langsam im Kreis. Für Spar, der die Schnüre nicht sehen konnte, war es wie Zauberei. »Etwas zu groß, und ein klein wenig die falsche Farbe. Wir sind sicher, daß wir den kleinen
schwarzen Beutel hier verloren haben, oder daß er uns hier gestohlen wurde. Willst du eine Diebeshöhle aus dem Bat Rack machen, Keeper?« »Spar…« »Wir fragen dich, Keeper.« Spar beiseitestoßend, wühlte Keeper wie wild in der Ecke herum. Er holte eine Anzahl kleiner Gegenstände hervor. Spar konnte die größten davon erkennen – einen elektrischen Ventilator und einen hellroten Überschuh. In wirrer Unordnung schwebten die Dinge um Keeper herum. Keeper keuchte; eine volle Minute lang hatte er herumgesucht, ohne noch etwas zum Vorschein zu bringen, als Crown mit jetzt wieder träger Stimme sagte: »Das reicht. Der kleine schwarze Beutel war für uns sowieso ohne jede Bedeutung.« Von einem Schweißnebel umgeben, tauchte Keepers Gesicht doppelt verschwommen wieder auf. Er wies auf den orangefarbenen Beutel. »Er könnte in dem drinnen sein!« Crown öffnete den Beutel, begann ihn zu durchsuchen, besann sich anders und gab dem ganzen Beutel einen Ruck. Sein aus bemerkenswert zahlreichen Teilen bestehender Inhalt kam heraus und bewegte sich langsam nach oben, wie eine in unregelmäßiger Anordnung marschierende Armee. Crown besah sich genau, was da an ihm vorbeischwebte. »Nein, nicht hier.« Er schubste Keeper den Beutel zu. »Steck Rixendes Sachen wieder hinein und behalte ihn, bis ich das nächste Mal vorbeikomme…« Er legte seinen Arm um sie, so daß seine Hand den Schwamm an ihr Ohr hielt, drehte sich um und schnellte sich kraftvoll auf den Hinterausgang zu. Einige Sekunden nach seinem Verschwinden seufzten alle erleichtert auf; die drei Trinker zogen neue Gutscheine heraus, um den nächsten Schluck zu bezahlen. Suzy verlangte einen weiteren doppelten Dunklen, den Spar ihr rasch gab, während Keeper sich von seiner Verstörtheit erholte und ihm befahl: »Sammle das herumliegende Zeug ein, vor allem Rixies, und steck es wieder zurück in ihren Beutel. Los geht's, du Trottel!« Dann bediente er sich des elektrischen Ventilators, um sich abzukühlen und zu trocknen.
Was Keeper Spar aufgetragen hatte, war eine mühevolle Arbeit, aber Kim kam ihm zu Hilfe und sprang nach Dingen, die zu klein waren, als daß Spar sie sehen konnte. Sobald er etwas in den Händen hatte, konnte Spar fühlen oder riechen, worum es sich handelte. Als sein ohnmächtiger Zorn auf Crown verflogen war, kehrten Spars Gedanken zur Nacht des Schlaftags zurück. War seine Vision von Vampiren und Werwölfen nur ein Traum gewesen? Wenn er nur bessere Augen hätte, um Illusion von Wirklichkeit zu unterscheiden! Kims »Ssieh! Ssieh schscharf!« zischte in seinem Gedächtnis. Scharf zu sehen, was würde das bedeuten? Alles heller? Oder näher? Mit einiger Anstrengung waren die verstreuten Gegenstände eingesammelt; Spar ging wieder an seine Arbeit, Kim auf die Mäusejagd. Mit dem Voranschreiten des Arbeitstag-Morgens wurde es dunkler im Bat Rack, jedoch so allmählich, daß es kaum zu bemerken war. Es kamen noch ein paar Gäste, doch alle auf schnelle Drinks, die Keeper ihnen mürrisch servierte; keiner von ihnen schien Suzy größerer Aufmerksamkeit würdig. Langsam verging die Zeit, und Keepers Stimmung wurde zunehmend wütender, was Spar nach der Kriecherei vor Crown vorausgesehen hatte. Er versuchte, die drei Trinker hinauszuwerfen, aber die zogen noch mehr verknitterte Bons hervor, die selbst eine übergenaue Prüfung nicht als Fälschung entlarven konnte. Dafür gab es knapp dosierte Mengen und danach Streit. Er holte Spar von seiner Arbeit weg und fragte ihn nervös: »Deine Katze da – sie hat Crown gekratzt, nicht wahr? Wir werden sie loswerden müssen; Crown hat doch gesagt, es könnte eine Hexenkatze sein.« Spar gab keine Antwort. Keeper ließ ihn die Dichtungen der Notausgänge erneuern, wobei er behauptete, daß Rixendes Eingeklemmtwerden vorhin gezeigt habe, daß sie nicht mehr in Ordnung seien. Er verschlang kleine Happen und trank Mondnebel mit Tomatensaft. Er versprühte einen abscheulichen synthetischen Duftstoff. Er begann die eingenommenen Bons und das Geld zu zählen, schmetterte aber dann die Kassenschublade ins Schloß, bevor er richtig angefangen hatte. Mit einer Grimasse fixierte er Suzy. »Spar!« rief er, »übernimm du jetzt! Was du diesen Säufern noch gibst, geht auf deine Kappe!«
Dann verschloß er die Kasse, nickte Suzy auffordernd zu und machte sich auf den Weg zur Steuerbordtür. Suzy nickte Spar bedauernd zu, zuckte die Achseln und folgte ihm resigniert. Sobald die beiden draußen waren, verabreichte Spar den drei Trinkern eine Acht-Sekunden-Portion, nahm ihre Bons nicht an und stellte zwei kleine Körbe mit Chips und Hefeklößchen vor sie hin. Grunzend dankten sie ihm und machten sich darüber her. Das Licht ging von gesunder Helligkeit in leichenhafte Fahlheit über. Man hörte ein schwaches, entferntes Brüllen, wenige Sekunden später von einem kurzen, knarrenden Crescendo gefolgt. Das neue Licht war Spar unbehaglich. Er bediente zwei weitere schnelle Gäste und verkaufte einen Beutel Mondnebel zum doppelten Preis. Als er gerade einen Happen zu sich nehmen wollte, kam Kim herein, um stolz eine Maus zu zeigen. Er überwand seinen Ekel, verspürte aber ein Gefühl des Sich-Absondern-Wollens, vor dem er sich gleichzeitig fürchtete. Eine beleibte Figur in nüchternem Schwarz zog sich von der grünen Tür her der Theke zu. Am oberen Ende der Bar erschien ein Gesicht, in dem die Flecken des weißen Haares und Bartes das lederbraune Fleisch fast überdeckten, die Flecken der grauen Augen aber hervorhoben. »Doktor!?« grüßte Spar. Seine bedrückte Stimmung löste sich, während er behende einen kühlen Beutel Dreistern-Mondsaft hervorholte. Doch alles, was er in seiner Erregung herausbringen konnte, war das banale: »Eine arge Schlaftag-Nacht, nicht wahr, Doktor? Vampire und…« »… und anderer dämlicher Aberglaube, der an jedem Sunth gedeiht, aber nie ausstirbt«, unterbrach ihn eine zynisch-freundliche alte Stimme. »Aber ich sollte Sie wohl nicht Ihrer Illusionen berauben, Spar, nicht einmal derer, die Ihnen Schrecken einjagen. Viel Aufregendes erleben Sie ohnehin nicht, wie die Dinge nun mal liegen. Und es geht wirklich Böses vor auf der Windrush. Ah, das tut meinem Gaumen gut.« Dann fiel Spar etwas Wichtiges ein. Vorsichtig, so daß die anderen Gäste es nicht bemerkten, förderte er aus den Tiefen seines Anzuges einen kleinen flachen schwarzen Beutel zu Tage. »Hier, Doktor«, flüsterte er, »Sie haben ihn am letzten Spieltag verloren. Ich habe ihn für Sie aufbewahrt.«
»Verflucht, ich würde meine Jacke verlieren, wenn ich sie je ablegte«, erwiderte der Doktor und dämpfte seine Stimme, als Spar den Finger an seine Lippen legte. »Ich habe wohl wieder Mondnebel mit Mondsaft gemischt?« »Genau, Doktor. Aber Ihren Beutel haben Sie nicht verloren. Crown oder eins seiner Mädchen haben ihn geklemmt, oder ihn beiseite geräumt, als er lose neben Ihnen schwebte. Und dann habe ich… Ich habe ihn, Doktor, aus Crowns Hüfttasche herausgeholt. Ja, und als Rixende und Crown heute morgen kamen und nach ihm fragten, habe ich den Mund gehalten.« »Spar, mein Junge, ich stehe tief in Ihrer Schuld«, sagte der Doktor. »Mehr als Sie vielleicht ahnen. Noch ein Dreistern, bitte. Ah, das ist Nektar. Spar, nennen Sie mir einen Wunsch, und wenn er im Bereich der ersten transfiniten Infinität liegt, wird er Ihnen erfüllt werden.« Zu seiner eigenen Überraschung begann Spar zu zittern – vor Erregung. Er beugte sich halb über die Bar und wisperte heiser: »Geben Sie mir gute Augen, Doktor!« und fügte impulsiv hinzu: »Und Zähne!« Ihm schien, als vergehe eine endlose Weile, bis der Doktor mit verträumter, bedauernder Stimme sagte: »Früher wäre das ein Leichtes gewesen. Man hatte Augen-Transplantationen perfektioniert. Man konnte Kopfnerven regenerieren, und manchmal die optische Wahrnehmungsfähigkeit eines verletzten Gehirns wieder herstellen. Zahnwurzeln von Totgeborenen zu verpflanzen war eine Kleinigkeit. Aber jetzt… Oh, vielleicht könnte ich Ihren Wunsch auf eine unbequeme, altmodische, unorganische Art erfüllen, aber…« Mit einem Laut, der den Jammer des Lebens und die Nutzlosigkeit allen Bemühens zum Ausdruck brachte, hielt er inne. »Ja, früher«, sagte einer der Trinker aus dem Mundwinkel zu seinem Nachbarn. »Hexengeschwätz!« »Hex-mex!« sagte der andere Trinker in gleicher Weise. »Der Knochenklempner ist nur senil. Er träumt an allen vier Tagen, nicht nur am Schlaftag.« Der dritte Trinker pfiff zum Schutz vor dem Bösen Blick eine Tonfolge, die klang, als heulte der Wind.
Spar zupfte an des Doktors langer schwarzer Ärmeljacke. »Doktor, Sie haben's versprochen. Ich möchte scharf sehen, messerscharf.« Der Doktor legte seine runzelige Hand mitfühlend auf Spars Unterarm. »Spar«, sagte er sanft, »scharf zu sehen würde Sie nur sehr unglücklich machen. Glauben Sie mir, ich weiß es. Das Leben ist leichter zu ertragen, wenn die Dinge verschwommen sind, so wie es am besten ist, wenn durch Saft oder Nebel die Gedanken verschwommen werden. Und solange es Leute auf der Windrush gibt, deren sehnlichster Wunsch es ist, hart zubeißen zu können, werden Sie sich hier etwas fremd fühlen. Noch einen Dreistern, bitte.« »Heute früh habe ich mit dem Mondsaft aufgehört, Doktor«, sagte Spar einigermaßen stolz, als er den frischen Beutel hinüberreichte. Des Doktors Antwort war ein trauriges Lächeln. »Jeden Arbeitstag morgen hören viele mit Mondnebel auf; und sowie der Spieltag beginnt, fangen sie wieder damit an.« »Ich nicht, Doktor! Außerdem«, erläuterte Spar, »sehen Keeper und Crown und alle seine Mädchen scharf, und sogar Suzy, und sie sind nicht unglücklich.« »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, Spar«, antwortete der Doktor. »Keeper und Crown und die Mädchen sind alle Idioten. Ja, sogar Crown bei all seiner Gerissenheit und seiner Macht. Für sie ist die Windrush das Universum.« »Tatsächlich, Doktor?« Ohne die Unterbrechung zu beachten, fuhr der Doktor fort. »Aber Sie sind nicht so, Spar. Sie wollen bestimmt mehr wissen. Und das würde Sie weit unglücklicher machen, als Sie es jetzt sind.« »Was sollte mir das ausmachen?« sagte Spar. Anklagend wiederholte er: »Sie haben es versprochen.« Die grauen Flecken der Augen des Doktors verschwanden beinahe, als er stirnrunzelnd in Gedanken versank. Dann sagte er: »Wie wäre es damit, Spar? Ich weiß, daß Mondnebel ebenso Schmerz und Leiden bringt wie Erleichterung und Freude. Nehmen wir nun an, ich würde Ihnen an jedem Arbeitstag morgen und am Mittag jedes Erholungstags eine winzige Pille bringen, die Ihnen alle die guten Wirkungen des Mondnebels
verschafft, und keine der schlechten. Eine habe ich in dieser Tasche. Versuchen Sie's mal und warten Sie ab. Am Abend jedes Spieltags würde ich Ihnen zuverlässig eine andere Pille bringen, die Ihnen gesunden Schlaf verschaffen würde, ohne Alpträume. Viel besser als Augen und Zähne. Überlegen Sie sich's.« Während Spar darüber nachdachte, trieb Kim herbei. Er beäugte den Doktor mit eng beieinanderliegenden grünen Flecken. »Ergebenssste Grüßßße, Meissster«, zischte er. »Mein Name issst Kim.« Der Doktor antwortete: »Ganz meinerseits, mein Herr. Möge es stets Mäuse im Überfluß geben.« Er streichelte die Katze sanft, an Kinn und Brust beginnend. Seine Stimme wurde wieder verträumt. »Früher sprachen alle Katzen, nicht nur ein paar besondere Exemplare. Die gesamte Gattung. Viele Hunde auch – Entschuldigung, Kim. Delphine und Wale und Affen hingegen…« Spar sagte beflissen: »Beantworten Sie mir eine Frage, Doktor. Wenn Ihre Pillen mir Glück ohne Nachwehen verschaffen, warum trinken dann Sie selbst immer Mondsaft, und warum teufeln Sie ihn dann mit Mondnebel auf?« »Nun, was mich anbelangt«, begann der Doktor und verstummte dann mit einem Grinsen. »Sie haben's erraten, Spar. Ich hätte zwar nie geglaubt, daß Sie Ihren Verstand benutzen würden, aber immerhin. Wir wollen mal sehen. Kommen Sie am nächsten Erholungstag in mein Büro – Sie kennen den Weg? Gut! Wir werden sehen, was wir für Ihre Augen und Ihre Zähne tun können. Und nun ein Doppelbeutel für den Heimweg.« Er zahlte mit schimmernden Münzen, schob den großen Dreistern in seine Tasche, sagte »Wiedersehen, Spar. Tschüs, Kim« und machte sich unsicher und schwankend auf den Weg zur grünen Tür. »Wiedersssehn, Meisster«, zischte Kim ihm nach. Spar hielt den kleinen schwarzen Beutel vor sich hin. »Sie haben ihn wieder vergessen, Doktor.« Als der Doktor mit einem müden Fluch zurückkam und ihn einsteckte, öffnete sich die purpurne Tür, und Keeper kam herein. Er sah jetzt gutgelaunt aus, pfiff die Melodie von »Ich heirat' den Mann auf der Brücke«
und begann, Bon-Hefte und Zapfhähne zu untersuchen; doch als der Doktor draußen war, fragte er Spar mißtrauisch: »Was hast du dem alten Knacker gegeben?« »Seine Börse«, erwiderte Spar leichthin. »Er hat sie eben wieder vergessen.« Er schüttelte seine locker geschlossene Hand, und es klimperte. »Der Doktor hat mit Münzen bezahlt, Keeper.« Keeper nahm sie gierig in Empfang. »Und jetzt mach weiter sauber, Spar.« Als Spar auf die dunkelrote Tür zuschwebte, erschien Suzy und flog mit abgewandtem Gesicht an ihm vorbei. Sie kam zur Bar und schnappte sich den Beutel Mondnebel, den Keeper ihr mit gespielter Artigkeit darbot, ohne ein Lächeln. Einen Moment lang war Spar über sie verärgert, aber es fiel ihm schwer, mit seinen Gedanken bei irgend etwas außer seinem bevorstehenden Treffen mit dem Doktor zu bleiben. Das schnelle Hereinbrechen der Nacht wurde ihm kaum bewußt, und er fühlte nicht die Bedrückung, die ihn sonst in diesen Stunden plagte. Keeper drehte die Beleuchtung im Bat Rack auf volle Stärke. Sie strahlte hell, während jenseits der durchscheinenden Wände ein milchiges Gewoge bemerkbar wurde. Das Geschäft wurde nun ein wenig lebhafter. Suzy machte sich mit dem ersten Opfer davon. Keeper wies Spar an, seinen Platz zu übernehmen; er selbst holte ein oftmals radiertes Stück Papier und beschrieb es mit solcher Konzentration, als überlegte er jedes einzelne Wort oder sogar jeden Buchstaben, wobei er häufig den Bleistift an seinen Lippen anfeuchtete. Die schwierige Aufgabe nahm ihn so gefangen, daß er, ohne es zu bemerken, auf die schwarze untere Tür zutrieb, sich fortwährend um die eigene Achse drehend. Von seinem Kritzeln und Schmieren, durch wiederholtes Radieren, Speichel und Schweiß wurde das Papier immer fleckiger. Die kurze Nacht verging schneller, als Spar zu hoffen wagte, so daß die plötzliche Helligkeit des Erholungstages ihn überraschte. Die meisten Gäste brachen zu ihrer Siesta auf. Spar fragte sich, wie er Keeper sein Weggehen erklären sollte, aber das Problem löste sich von selbst. Keeper faltete das schmierige Papier und versiegelte es mit erhitzter Folie. »Bring das zur Brücke, Nichtsnutz, zum
Leitenden. Warte.« Er nahm den wieder vollgepackten orangefarbenen Beutel aus der Ecke und zog an den Schnüren, um sicherzugehen, daß sie fest verknüpft waren. »Auf dem Weg kannst du das bei Crown abliefern. Mit meinen ergebensten Grüßen, Spar! Und jetzt ab!« Spar steckte die versiegelte Mitteilung in seine einzige Tasche mit funktionierendem Reißverschluß und zog ihn zu. Dann machte er sich auf den Weg zum hinteren Ausgang, wo er beinahe mit Kim zusammenstieß. Keeper hatte gesagt, man müsse die Katze loswerden, fiel ihm jetzt ein; er packte sie an der schmalen, flauschigen Brust unter den Vorderbeinen und schob sie sanft in seinen Anzug. »Du wirst einen Ausflug mit mir machen, kleiner Kim«, flüsterte er. Der Kater senkte seine Krallen in den dünnen Stoff und hielt sich fest. Für Spar war der Korridor ein enger Zylinder, der auf beiden Seiten im Nebel endete und mit länglichen grünen und roten Flecken dekoriert war. Seinen Weg fand er hauptsächlich aus dem Gedächtnis und durch Tasten; eine Hand vor die andere setzend, zog er sich gegen einen leichten Luftstrom an der Mittelleine des Ganges entlang. Nachdem er die größeren Zylinder zweier anderer Gangways umgangen hatte, wurde der Korridor gerade. Zweimal mußte er einen Bogen um zentral angebrachte Ventilatoren machen, die so leise summten, daß er sie hauptsächlich durch die Zunahme des Luftstroms bemerkte, der sich nach dem Passieren der Stelle in einen leichten Sog verwandelte. Bald nahm er einen Geruch von Erde und Pflanzen wahr. Als er an dem schwarzen Kreis vorbeikam, welcher der mit Elastikplatten verschlossene Eingang zum großen Abfall-Vernichter von Abteilung drei war, durchfuhr ihn ein Frösteln. Er traf niemanden – ungewöhnlich selbst für einen Erholungstag. Schließlich sah er das Grün des ApolloGartens und jenseits davon einen riesigen schwarzen Schirm, auf dem ein kleiner, orangegrauer Kreis umherschwebte, der Spar immer mit unerklärlicher Traurigkeit und Furcht erfüllte. Er fragte sich, auf wievielen schwarzen Schirmen dieser leidvolle Kreis wohl zu sehen sein mochte, vor allem auf der Steuerbordseite der Windrush. Er hatte ihn schon an verschiedenen Stellen gesehen. So nahe an den Gärten, daß er wogende grüne Halme und den Umriß eines schwebenden Farmers ausmachen konnte, beschrieb der Korridor
einen rechten Winkel. Zwei Dutzend Züge am Seil, und er schwebte an einer offenen Luke vorbei, von der ihm neben seinem Gefühl für Entfernungen auch der starke, moschusartige Geruch verschiedener Parfüms sagte, daß es der Eingang zu Crowns Wohnung war. Er schaute hinein und konnte die verschwommenen schwarzen und silbernen Spiralen der Dekoration des großen, kugelförmigen Raums wahrnehmen. Direkt gegenüber der Luke war ein weiterer großer schwarzer Schirm, auf dem die rotscheckige, bedrohliche Scheibe ebenfalls zu sehen war. Unter Spars Kinn zischte Kim sehr leise, aber mit Nachdruck: »Sstop! Ssstill, Ssag nichtss!« Die Katze hatte ihren Kopf aus dem Kragen seines Anzugs gesteckt. Ihre Ohren kitzelten Spars Kehle. Kims melodramatische Art war für Spar nichts Neues mehr, überdies war die Warnung ohnehin kaum nötig. Auch er hatte das halbe Dutzend schwebender nackter Körper gesehen und würde sich schon allein aus Verlegenheit still verhalten haben. Genitalien konnte Spar auf diese Entfernung genauso wenig erkennen wie Ohren. Doch er konnte sehen, daß, mit Ausnahme des Haars, jeder Körper von einheitlicher Tönung war. Einer war sehr dunkelbraun und die anderen fünf – oder waren es vier? Nein, fünf? – hellhäutig. Die zwei mit platinfarbenem und goldblondem Haar, die gleichzeitig die hellhäutigsten waren, erkannte er nicht. Er fragte sich, welche von ihnen Almodie, Crowns neues Mädchen war. Zu sehen, daß sich die Körper nicht berührten, erleichterte ihn. Bei dem goldblonden Mädchen bemerkte er metallisches Glänzen, und er konnte gerade noch den roten Fleck eines schlanken, fünffach gegabelten Rohrs unterscheiden, welches von dem Metall zu den fünf anderen Gesichtern lief. Es schien seltsam, daß Crown, obwohl ein Mädchen Barkeeper spielte, in seiner palastartigen Behausung Mondsaft auf solch plebeische Art servieren ließ. Natürlich konnte aus dem Rohr auch Mondwein kommen, vielleicht sogar Mondnebel. Oder sollte Crown die Absicht haben, der Bat Rack-Bar Konkurrenz zu machen? Es waren schlechte Zeiten, und ein noch schlechterer Ort, an dem er sich befand, sinnierte er und überlegte dann, was er mit dem orangen Beutel anfangen sollte. »Schschleichen wir unss weg!« drängte Kim noch leiser.
Spars Finger fanden einen Haltering an der Luke. So geräuschlos wie möglich klappte er ihn etwas heraus, so daß er die Schnüre des Beutels daran festmachen konnte, und zog sich dann auf demselben Weg zurück, den er gekommen war. Aber so schwach das Geräusch auch gewesen war, aus Crowns Wohnung kam eine Antwort – ein sehr tiefes, langgezogenes Knurren. Spar zog sich schneller am Halteseil entlang. Als er zu der Ecke kam, von der aus der Gang ins Innere führte, schaute er zurück. Aus Crowns Luke streckte sich ein großer, spitzohriger Kopf, schmaler als der eines Menschen und sogar noch dunkler als der von Crown. Wieder ein Knurren. Es war einfach lächerlich, solche Angst vor Höllenhund zu haben, sagte Spar zu sich selbst und versetzte mit einem Ruck sich und seinen Passagier wieder in Bewegung. Immerhin hatte Crown den großen Hund manchmal schon ins Bat Rack mitgebracht. Vielleicht lag es daran, daß Höllenhund im Bat Rack niemals knurrte und sich auch sonst sehr einsilbig gab. Daneben konnte sich der Hund nur sehr langsam an der Halteleine entlangziehen. Er hatte keine scharfen Klauen, obgleich er vielleicht in der Lage war, einen riesigen Sprung zu machen und so in einem Satz zum anderen Ende des Korridors zu gelangen. Als er wieder die schwarze Tür des großen Abfallvernichters passierte, machte er unwillkürlich eine Drehung, um sich davon abzuwenden. Er war schon ein seltsamer Vogel – heute sollte er neue Augen bekommen, und war schreckhaft wie ein Kind! »Warum wolltest du mich unbedingt von dort wegkriegen, Kim?« fragte er verärgert. »Ich ssah dass schschiere Bösse, Issiot!« »Du hast fünf Leute gesehen, die Mondsaft tranken. Und einen harmlosen Hund. Diesmal bist du der Dummkopf, Kim! Du bist der Idiot!« Kim gab keine Antwort, zog seinen Kopf zurück und weigerte sich, ein weiteres Wort zu sagen. Spar dachte an die Eitelkeit und Empfindlichkeit aller Katzen. Aber nunmehr hatte er andere Sorgen. Wie, wenn der orange Beutel von einem Passanten gestohlen würde, bevor Crown ihn bemerkte? Und wenn Crown ihn wirklich fand, würde er dann nicht wis-
sen, daß Spar etwas gesehen hatte? Daß all dies am wichtigsten Tag seines Lebens passieren mußte! Sein verbaler Sieg über Kim war nur ein kleiner Trost. Außerdem: Obgleich von den zwei fremden Mädchen das platinhaarige ihn am meisten interessiert hatte, beschäftigte ihn auch diejenige, die Barkeeper gespielt hatte. Sie hatte goldenes Haar wie Suzy, war aber viel schlanker und hellhäutiger – irgendwie hatte er das Gefühl, sie schon gesehen zu haben. Und irgend etwas an ihr hatte ihm Angst gemacht. Als er die Hauptgangway erreichte, war er versucht, zum Doktor zu gehen, bevor er sich zur Brücke begab. Andererseits wollte er beim Doktor ohne Zeitdruck sein in dem Bewußtsein, alle Aufträge ausgeführt zu haben. Widerwillig bog er in die zugige violette Gangway ein und tauchte im spitzen Winkel zu dem ersten freien Platz am Förderseil hinab, so daß seine Handflächen nur ein wenig brannten, bevor er es fest im Griff hatte und mit etwa der Geschwindigkeit des Windes nach vorn gezogen wurde. Spar war ein Geizhals, der sich keine Handschuhe, geschweige denn Fußschuhe kaufen mochte! Aber er mußte scharf aufpassen, wenn er an die Rollen kam, die das dicke, laufende Seil in der Mitte des weiten Korridors hielten. Es war nicht schwer, mit einer Hand, über die Rolle greifend, das Seil zu packen, und dann mit der anderen loszulassen, aber es bedurfte der Aufmerksamkeit. Nur wenige Gestalten fuhren am Seil mit, und noch weniger wurden vom Luftzug durch den Korridor bewegt. Er überholte einen Angetrunkenen, der dahintaumelte und mit alter Stimme krächzte: »Jakobsleiter, Lebensbaum…« Er passierte das Gedränge in der Gangway am Übergang von der dritten zur zweiten Abteilung, ohne von dem Posten dort angehalten zu werden, und übersah dann fast den großen blauen Korridor, der nach oben führte. Wieder brannten seine Handflächen etwas, als er von einem Förderseil zum anderen überwechselte. Seine Verdrießlichkeit steigerte sich. »Sspar, du Issiot –!« begann Kim. »Schsch – wir sind jetzt bei den Offizieren«, schnitt ihm Spar das Wort ab, froh über diese Gelegenheit, der vorlauten Katze übers Maul zu fah-
ren. Doch Tatsache war, daß ihn die blauen Bereiche der Windrush stets mit Ehrfurcht und Schrecken erfüllten. Schneller fast, als ihm lieb war, befand er sich vor dem Gewirr von Metallrohren direkt unter der Brücke. Er arbeitete sich nach oben, verharrte dort und wartete darauf, angesprochen zu werden. Metall in vielen seltsamen Formen schimmerte auf der Brücke, und es gab unregelmäßig pulsierende, regenbogenfarbene Flächen, deren nächstliegende manchmal Kolonnen winziger Lichter zu sein schienen, die an- und ausgingen – rot, grün, in allen Farben. Über allem dehnte sich eine endlose samtschwarze Fläche, die von sich bewegenden, milchig schimmernden Flecken durchsetzt war. Zwischen den metallenen Gegenständen und den Regenbogen schwebten Gestalten, die alle im Mitternachtsblau der Offiziere gekleidet waren. Zuweilen machten sie Gesten zueinander, aber keiner sprach ein Wort. Für Spar war jede ihrer Bewegungen von tiefer Bedeutung. Hier waren die Götter der Windrush, die alles bestimmten – wenn es überhaupt Götter gab. Er fühlte sich zu der Bedeutungslosigkeit einer Maus degradiert, die auf der Stelle in panischer Angst würde fliehen müssen, sobald sie nur ein wenig die Stille störte. Nach einer Anzahl besonders nachdrücklicher Gesten gab es ein kurzes, entferntes Donnern und ein vertrautes Knistern und Knacken. Spar war verwundert, sagte sich aber gleichzeitig, daß er eigentlich hätte wissen müssen, daß der Kapitän, der Navigator und all die andern für die vertrauten täglichen Phänomene verantwortlich waren. Es war auch das Mittagssignal. Spar wurde wieder verdrießlich. Die Erledigung seiner Aufträge dauerte zu lange. Unsicher begann er, seine Hand jeder mitternachtsblauen Gestalt entgegenzustrecken, die an ihm vorbeikam. Keiner nahm die geringste Notiz von ihm. Schließlich flüsterte er: »Kim –?« Die Katze antwortete nicht. Er hörte ein Schnurren, das auch eine Art Schnarchen sein konnte. Sanft schüttelte er die Katze. »Kim, ich muß mit dir reden.« »Sstill! Ich schschlafe! Schscht!« Kim machte es sich noch bequemer und begann wieder, schnurrend zu schnarchen – ob es echt oder gespielt war, konnte Spar nicht erkennen. Er fühlte sich sehr mutlos.
Langsam verging die Zeit. Spar wurde verzagt und müde. Er durfte seine Verabredung mit dem Doktor nicht versäumen! Er wollte sich ein Herz fassen, noch weiter nach oben gehen und jemanden ansprechen, als eine angenehme junge Stimme sagte: »Hallo, Großvater, was darf's denn sein?« Spar bemerkte, daß er mechanisch seine Hand gehoben hatte und daß eine Person, so dunkelhäutig wie Crown, aber in Mitternachtsblau gekleidet, endlich von ihm Notiz genommen hatte. Er holte den Zettel aus seiner Tasche und überreichte ihn. »Für den Leitenden.« »Also für mich.« Ein leises Geräusch – ein Fingernagel, der das Papier aufschlitzte? Ein lauteres Knistern – das Papier wurde geöffnet. Ein Augenblick des Wartens. Dann: »Wer ist Keeper?« »Der Besitzer des Bat Rack, Sir. Ich arbeite dort.« »Bat Rack?« »Ein Mondsaft-Haus. Soll einmal ›Glückliche Theke‹ geheißen haben. In den alten Tagen ›Wein-Messe Drei‹ sagt der Doktor.« »Hmm. Nun, was hat das hier zu bedeuten, Opa? Und wie ist Ihr Name?« Spar starrte unglücklich auf das dunkelgefleckte graue Rechteck. »Ich kann nicht lesen, Sir. Mein Name ist Spar.« »Hmm. Haben Sie irgendwelche… äh… übernatürliche Wesen im Bat Rack gesehen?« »Nur in meinen Träumen, Sir.« »Mmm. Nun, ich werd's mir mal ansehen. Wenn Sie mich erkennen, lassen Sie sich nichts anmerken. Übrigens, ich bin Leutnant Drake. Wer ist Ihr Passagier, Opa?« »Nur meine Katze, Leutnant«, hauchte Spar erschreckt. »Also, benützen Sie den schwarzen Schacht nach unten.« Spar setzte sich in der Richtung in Bewegung, die ihm der blaue Armfleck wies. »Und das nächste Mal denken Sie daran, daß das Mitbringen von Tieren auf die Brücke nicht gestattet ist.« Als Spar nach unten fuhr, mischte sich das erleichternde Gefühl, daß Leutnant Drake ganz menschlich und verständnisvoll zu sein schien, mit
der Besorgnis, ob seine Zeit noch für den Besuch beim Doktor reichen würde. Beinahe hätte er übersehen, zu der Förderleine im dunkelroten Hauptkorridor überzuwechseln. Das fahle Licht, das sich mit der beginnenden Dämmerung des späten Nachmittags mischte, war ihm hinderlich. Wieder kam er an dem torkelnden Betrunkenen vorbei, der jetzt ein anderes unverständliches Lied krächzte. Er unterdrückte eine Anwandlung, seinen Besuch beim Doktor zu verschieben und sofort zum Bat Rack zurückzukehren; plötzlich bemerkte er, daß er schon den zweiten Übergang passiert hatte und in Abteilung vier war, die Abzweigung zum Doktor vor sich. Er bog ein, bremste seinen Schwung an einem Halteseil und begann dann, sich mit eigener Kraft zum Büro des Doktors zu ziehen, das ebensoweit backbord lag wie Crowns Wohnung steuerbord. Er überholte zwei plumpe Gestalten, deren Atem nach Malz roch – es war der Vorabend des Spieltags. Spar befürchtete, daß der Doktor seine Praxis vielleicht schon geschlossen haben könnte. Von den Gärten der Diana her empfing er den Duft von Erde und grünen Pflanzen. Der Eingang war geschlossen, aber als Spar auf den Signalknopf drückte, öffnete er sich beim dritten Mal, und das grauäugige Gesicht schaute heraus. »Ich glaubte schon, Sie würden nicht mehr kommen, Spar.« »Tut mir leid, Doktor. Ich mußte…« »Ist nicht so wichtig. Kommen Sie, kommen Sie herein. Hallo, Kim – schau dich um, wenn du willst.« Kim kroch heraus, stieß sich von Spars Brust ab, und befand sich alsbald auf einer für Katzen typischen Inspektionstour. Und es gab wirklich eine Menge zu inspizieren, wie sogar Spar feststellen konnte. Jedes Halteseil in der Praxis des Doktors schien über seine ganze Länge hinweg mit Gegenständen besetzt zu sein. Es gab große und kleine Flecken, glänzende und stumpfe, helle und dunkle, durchscheinende und undurchsichtige. Sie hoben sich von einer Wand fahlen Lichtes ab, das Spar so fürchtete, aber daran durfte er jetzt nicht denken. Auf einer Seite war ein Band noch helleren Lichts.
»Sei vorsichtig, Kim!« rief Spar der Katze zu, als die auf einem Halteseil landete und anfing, von einem Flecken zum anderen zu wandern. »Schon gut, lassen Sie ihn nur«, sagte der Doktor. »Und nun wollen wir mal sehen, Spar. Halten Sie die Augen offen.« Die Hände des Doktors hielten Spars Kopf. Die grauen Augen und das lederne Gesicht kamen so nahe, daß sie zu einem einzigen Fleck verschwammen. »Offen halten, sage ich. Ja, ich weiß, daß Sie zwinkern müssen. Gut so. Genau wie ich dachte. Die Linsen sind aufgelöst. Eine Nebenwirkung, die bei einem von zehn Fällen von Lethe-Rachitis auftritt.« »Styx-Rix, Doktor?« »Genau, obwohl man sich da den falschen Unterweltfluß herausgesucht hat. Aber wir haben sie alle gehabt. Wir alle haben Lethe-Wasser getrunken. Allerdings manchmal, wenn wir sehr alt werden, fangen wir wieder an, uns des Beginns zu erinnern. Ruhig halten.« »Moment, Doktor, ist vielleicht die Styx-Rix der Grund, warum ich mich an nichts erinnern kann, was vor meiner Zeit im Bat Rack war?« »Schon möglich. Wie lange sind Sie jetzt im Rack?« »Ich weiß nicht, Doktor. Ewig.« »Jedenfalls waren Sie schon dort, als ich zum erstenmal hinkam. Als das Rumdum hier in Abteilung vier schloß. Doch das war erst vor einem Starth.« »Aber ich bin schrecklich alt, Doktor. Wieso fange ich nicht an, mich zu erinnern?« »Sie sind nicht alt, Spar. Sie sind nur kahl und zahnlos und vom Mondnebel verätzt, und Ihre Muskeln sind geschrumpft. Ja, und Ihr Geist ist auch geschrumpft. Jetzt machen Sie Ihren Mund auf.« Mit einer Hand hielt der Doktor Spars Genick. Die andere tastete. »Festes Zahnfleisch, immerhin. Das wird die Sache einfacher machen.« Spar wollte ihm von seinen Salzwasser-Mundspülungen erzählen, doch als der Doktor schließlich seine Finger aus Spars Mund nahm, wies er ihn an: »Jetzt ganz aufmachen, so weit wie möglich.« Der Doktor stopfte
ihm etwas in den Mund, das heiß und fast so groß wie eine Handtasche war. »Jetzt beißen Sie kräftig drauf.« Spar kam es vor, als hätte er auf Feuer gebissen. Er wollte seinen Mund öffnen, doch Hände umklammerten seinen Kopf und Unterkiefer und hielten ihn geschlossen. Ohne es zu wollen, schlug er mit den Füßen und streckte seine Hände starr wie verkrampfte Krallen von sich. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ruhig halten! Atmen Sie durch die Nase. So heiß ist es nicht. Wird bestimmt keine Blasen geben.« Da hatte Spar seine Zweifel, tröstete sich aber doch mit dem Gedanken, daß es nicht heiß genug war, um sein Gehirn durch seinen Gaumen hindurch zu rösten. Außerdem wollte er vor dem Doktor nicht seine Feigheit zeigen. Er hielt still. Einige Male zwinkerte er, und aus dem einen verschwommenen Fleck wurden wieder die Flecken seines Gesichts und der Gegenstände im Raum, deren Umrisse sich vor dem fahlen Lichtschein abhoben. Er versuchte zu lächeln, aber seine Lippen waren schon weiter gestreckt, als ihre Muskeln es je vermocht hätten. Auch das tat weh; doch hatte er nun das Gefühl, daß die Hitze etwas schwächer wurde. Der Doktor grinste an seiner Stelle. »Sie werden Zähne kriegen, so scharf, daß Sie Halteseile durchbeißen können. Kim, laß bitte diesen Beutel in Frieden.« Der schwarze Fleck des Katers entfernte sich von einem schwarzen Fleck, der zweimal so lang war. Durch die Nase murmelte Spar mißbilligend etwas zu Kim hin und versuchte, Bewegungen zu machen. Der größere Fleck hatte eine Form wie des Doktors kleiner Beutel, aber er war wohl hundertmal größer. Auch mußte er einiges Gewicht haben, denn als Kim sich von ihm abstieß, hatte er das Seil durchgedrückt, an dem er befestigt war, und es dauerte eine ganze Weile, bis es wieder in seine Ausgangslage zurückkam. »Da drinnen ist mein Schatz, Spar«, erklärte der Doktor, und als Spar zweimal die Brauen hob, um eine weitere Frage anzudeuten, fuhr er fort: »Nein, nicht Geld oder Gold oder Juwelen, sondern eine zweite transfinite Infinitudo – Schlaf und Träume und auch Alpträume für jede Seele in tausend Windrushes.« Er sah auf sein Handgelenk. »So, das genügt.
Öffnen Sie den Mund.« Spar gehorchte, obwohl es ihm neue Schmerzen bereitete. Der Doktor entfernte das Ding, auf das Spar gebissen hatte, wickelte es in Folie und befestigte es am nächsten Halteseil. Dann schaute er wieder in Spars Mund. »Vielleicht war es wirklich etwas zu heiß«, sagte er. Er fand einen kleinen Beutel, setzte ihn an Spars Lippen, und drückte darauf. Ein Nebel füllte Spars Mund, und aller Schmerz verschwand. Der Doktor steckte den Beutel in Spars Tasche. »Wenn der Schmerz wiederkommt, wenden Sie das noch einmal an.« Doch bevor Spar dem Doktor danken konnte, hatte dieser ein Rohr gegen sein Auge gepreßt. »Schauen Sie, Spar. Was sehen Sie jetzt?« Spar schrie auf, ohne es zu wollen, und wandte mit einem Ruck den Kopf. »Was ist los, Spar?« »Doktor, das war ein Traum«, sagte Spar heiser. »Bitte, sagen Sie es niemand, ja? Und es kitzelte.« »Was war das für ein Traum?« fragte der Doktor begierig. »Nur ein Bild, Doktor. Das Bild einer Ziege mit dem Schwanz eines Fisches. Doktor, ich habe die« – er suchte nach dem Wort – »die Schuppen des Fisches gesehen! Alles hatte… klare Umrisse! Doktor, ist es das, was man unter scharf sehen versteht?« »Natürlich, Spar. Das ist sehr gut. Es bedeutet, daß keine Beschädigung des Gehirns oder der Retina vorliegt. Im Traume also sehen Sie immer noch scharfe Einzelheiten. Doch wieso sollte ich es niemandem sagen?« »Man könnte mich der Hexerei anklagen, Doktor. Ich dachte, wenn man solche Dinge sieht, ist das Hellseherei. Das Rohr hat mich am Auge gekitzelt.« »Das muß es. Versuchen wir's jetzt mit dem anderen Auge.« Wieder wollte Spar aufschreien, aber er beherrschte sich, und dieses Mal hatte er nicht das Bedürfnis, den Kopf abzuwenden, obgleich er wieder ein schwaches Prickeln verspürte. Das Bild war das eines schlanken Mädchens. Daß es ein Mädchen war, sagte ihm schon der Umriß. Doch er konnte mehr, er konnte… Einzelheiten erkennen. Ihre Augen
zum Beispiel waren nicht nur verschwommene farbige Ovale. Sie hatten Augenwinkel, die wie porzellanweiße Dreiecke waren. Und das schwachviolette Rund zwischen den Augenwinkeln hatte einen kleinen schwarzen Kreis in der Mitte. Sie hatte silbriges Haar, und wirkte doch jung, dachte er, wiewohl das für ihn nicht so leicht zu unterscheiden war. Sie erinnerte ihn an das platinhaarige Mädchen, das er in Crowns Wohnung gesehen hatte. Sie trug ein langes, schulterfreies, schimmernd-weißes Kleid, und er konnte jede einzelne Falte unterscheiden. »Wie heißt sie, Doktor? Almodie?« »Nein. Virgo. Die Jungfrau. Können Sie sie deutlich sehen?« »Ja, Doktor. Scharf. Messerscharf. Und der Ziegenfisch?« »Steinbock«, antwortet der Doktor und nahm das Rohr von Spars Auge. »Doktor, ich weiß, daß Steinbock und Jungfrau die Namen von Lunths, Terranths, Sunths und Starths sind, aber ich wußte nicht, daß es Bilder davon gibt. Ich wußte nicht, daß es so etwas wirklich gibt.« »Sie – natürlich, Sie haben vieles nie gesehen, keine Uhren zum Beispiel, keine Sterne oder die Bilder des Zodiaks.« Spar wollte schon fragen, was all das zu bedeuten habe; dann bemerkte er, daß das fahle Licht verschwunden, das Band des wärmeren Lichtes aber sehr breit geworden war. »Zumindest in diesem Bereich ihrer Erinnerung«, fügte der Doktor hinzu. »Bis zum nächsten Erholungstag werde ich Ihre neuen Augen und Zähne fertig haben. Kommen Sie früher, wenn es möglich ist. Vielleicht sehe ich Sie schon vorher im Bat Rack.« »Großartig, Doktor. Aber jetzt muß ich zurück. Komm her, Kim! Manchmal gibt es am Erholungstag abend viel Arbeit. So, spring herein, Kim.« »Sind Sie sicher, daß Sie es bis zum Bat Rack schaffen, Spar? Es wird auf dem Weg dunkel werden.« »Keine Sorge, es wird schon gehen, Doktor.«
Doch als in der Mitte des ersten Hauptkorridors die Nacht hereinbrach, so als hätte man eine dicke Kapuze über seinen Kopf gezogen, wäre er nur zu gern umgekehrt, um den Doktor um Hilfe zu bitten, jedoch fürchtete er Kims Verachtung, wenn auch die Katze immer noch kein Wort sprach. Er zog sich voran, so schnell er konnte, obgleich ihn die wenigen Lichter kaum den Weg erkennen ließen. Die vordere Gangway war sogar noch schlimmer – völlig leer, die Lichter trüb und flackernd. Nur Flecken sehen zu können, bedrückte ihn, nun, da er wußte, was scharf sehen bedeutete. Er begann zu schwitzen und zu zittern, seine Enthaltsamkeit vom Alkohol verursachte ihm Krämpfe, und seine Gedanken waren in Aufruhr. Er fragte sich, ob irgendeines der seltsamen Dinge, die geschehen waren, seit er Kim getroffen hatte, Wirklichkeit waren, oder nur Träume. Kims Weigerung – oder Unfähigkeit? – noch etwas zu sagen, beunruhigte ihn. Er begann, verschwommene Umrisse von Flecken zu sehen, die verschwanden, wenn er direkt auf sie blickte. Keeper fiel ihm ein und die Trinker, die von Vampiren und Hexen sprachen. Statt weiterzuschweben, bis er zur grünen Tür des Bat Rack kam, bog er bereits in die Abzweigung ein, die zum hinteren Eingang führte. Auf diesem Weg gab es überhaupt keine Lichter. Einmal glaubte er, das Knurren Höllenhunds zu hören, aber er war sich nicht sicher wegen des lauten Geräusches, das der große Abfallvernichter machte. Als er den Eingang durchquerte, fiel ihm gerade noch ein, daß er nicht an die frische Abdichtungsmasse geraten durfte. Bat Rack war voller Lichter und tanzender Gestalten, und Keeper begann sofort, ihn zu beschimpfen. Spar huschte hinter die Theke und begann mechanisch, Bestellungen auszuführen, wobei er nur seinen Tastsinn und seine Stimme gebrauchen konnte, denn die Entwöhnung hatte jetzt seine Sehfähigkeit noch weiter beeinträchtigt. Nach einer Weile wurde das besser, aber seine nervöse Anspannung steigerte sich noch. Nur die ständige Arbeit hielt ihn aufrecht – und verhinderte Keepers Beschimpfungen –, doch allmählich wurde er zu müde, um überhaupt noch arbeiten zu können. Als der Spieltag dämmerte und das Gedränge vor der Theke immer dicker wurde, ergriff er einen Beutel Mondnebel und setzte ihn an seine Lippen.
Krallen gruben sich in seine Brust. »Issiot! Hansswursst! Sssklave der Angsst!« Spar fiel fast in Krämpfe, aber er legte den Mondnebel zurück. Kim kroch aus seinem Anzug, stieß sich verächtlich ab, durchkreiste die Bar, sprach mit verschiedenen Gästen und wurde bald zum Gesprächsthema. Keeper fing an, mit ihm zu prahlen, und hörte auf zu bedienen. Spar arbeitete weiter und weiter und weiter, doch befiel ihn eine Nüchternheit, die ein größerer Alptraum war als jede Trunkenheit, der er sich entsinnen konnte. Und viel, viel länger. Suzy kam mit einem Kunden herein und berührte Spars Hand, als er ihr ihren Dunklen reichte. Das tat gut. Von unten her glaubte er eine Stimme zu erkennen. Sie kam von einem affig frisierten Mann, den er nicht kannte. Doch dann hörte er ihn wieder und glaubte, es sei Leutnant Drake. Jetzt wurde die Stimmung wirklich aufgekratzt. Keeper drehte die Musik lauter. Allein oder paarweise wirbelten Tänzer zwischen den Halteseilen herum. Andere hielten sich mit den Zehen daran fest und bewegten nur die Arme. Ein schwarz gekleidetes Mädchen versuchte Spagatschritte. Ein Mädchen in Weiß bediente sich selbst. Keeper schrieb es auf die Rechnung ihres Freundes. Einige Gäste versuchten zu singen. Spar hörte Kim sagen: »Isst 'ne Katze. Frissst 'ne Ratze. Grüssst jeden nett, ob dünn oder ffett.« Die Nacht des Spieltags brach herein. Das Treiben wurde immer hektischer. Der Doktor kam nicht. Aber Crown. Die Tänzer wichen beiseite, und eine ganze Gruppe von Gästen machte Platz für ihn und seine Mädchen und Höllenhund, so daß sie ein ganzes Drittel der Theke für sich allein hatten. Zu Spars Überraschung bestellten alle Kaffee, nur nicht der Hund, der, als Crown ihn nach seinen Wünschen fragte, »Bloody Mary« sagte und die Worte in so tiefen Tönen knurrte, daß wenig mehr als ein »Blah-Mah« zu hören war.
»Ssprichcht man sso, ffrage ichch?« war Kims Kommentar am anderen Ende der Theke. Die Zecher um ihn herum unterdrückten ein Lachen. Spar servierte die kochend heißen Kaffeebeutel mit Filzhaltern und mixte Höllenhunds Drink in einer Spritze mit Saugrohr. Er war sehr groggy und hatte im Moment mehr Angst um Kim als um sich selbst. Wiederholt verschwammen die Flecken der Gesichter gänzlich, aber immer noch konnte er Rixende an ihrem schwarzen Haar erkennen, Phanette und Doucette an ihrem rotblonden Haar und ihrer seltsam rotgetupften hellen Haut, während Almodie wirklich die Platinblonde war. Irgendwie schien sie so gar nicht zwischen den dunkelbraunen, rotgekleideten Fleck zu ihrer Rechten und die schwarze, schmalere, spitzohrige Silhouette zu ihrer Linken zu passen. Spar hörte, wie Crown ihr zuflüsterte: »Sag Keeper, er soll dir die sprechende Katze zeigen.« Er hatte es sehr leise geflüstert, und Spar hätte es nicht verstanden, wenn nicht in Crowns Stimme eine seltsam vibrierende Erregung gewesen wäre, die Spar noch nie bei ihm bemerkt hatte. »Aber werden sie sich denn nicht in die Haare geraten? – Ich meine die Katze und Höllenhund«, antwortete sie mit einer Stimme, die sich wie ein silberner Pfeil in Spars Herz bohrte. Er sehnte sich danach, ihr Gesicht durch das Rohr des Doktors zu betrachten. Sie würde aussehen wie Virgo, nur noch schöner. Und doch, Crowns Mädchen konnte keine Jungfrau sein. Es war eine seltsame und schreckliche Welt. Ja, ihre Augen waren tatsächlich violett. Doch er hatte es satt, Flecken zu sehen. Almodies Stimme klang sehr ängstlich, und doch insistierte sie: »Bitte nicht, Crown.« Spars Herz war gefangen. »Aber gerade das ist ja der Witz, Baby. Und was wir wollen, geschieht; wir dachten, wir hätten dir das beigebracht. Wir würden dir gleich noch eine Lektion erteilen, aber heute abend riecht's nach Spaß – viel Spaß. Keeper! Unsere neue Lady wünscht deine Katze sprechen zu hören. Bring sie her.« »Wirklich, ich möchte nicht…« begann Almodie und sprach nicht weiter. Kim kam über die Theke geschwebt, während Keeper in die entgegengesetzte Richtung rief. Die Katze fing sich an einer Halteleine ab und sah Crown ruhig ins Gesicht. »Wass gibtss?«
»Keeper, schalt' den Mist aus.« Abrupt endete die Musik. Stimmen wurden laut, um ebenso schnell wieder zu verstummen. »So, Katze, sprich.« »Möchchte lieber ssingen«, kündigte Kim an und begann ein unheimliches Gejaule, das Methode zu haben schien, aber nicht Spars Vorstellung von Musik entsprach. »Es ist eine Abstraktion«, hauchte Almodie entzückt. »Hör doch, Crown, das war eine verminderte Sept.« »Eine verhinderte Terz, würde ich sagen«, kommentierte Phanette auf der anderen Seite. Crowns Handbewegung gebot Stille. Kim endete mit einem hohen Triller. Langsam blickte er sich in seinem verblüfften Publikum um und begann sein Fell zu putzen. Crowns linke Hand umklammerte die Kante der Theke, als er mit scheinbar gleichmütiger Stimme sagte: »Nachdem du nicht mit uns sprechen willst – wirst du mit unserm Hund reden?« Kim starrte Höllenhund an, der seine Bloody Mary schlürfte. Seine Augen weiteten sich, die Pupillen wurden zu schmalen Schlitzen, die Lippen verzerrten sich und entblößten nadelspitze Zähne. Er zischte: »Schschweinehund!« Die Hinterbeine gegen Crowns linke Hand abdrückend, die seinen Sprung stützte, warf sich Höllenhund auf Kim. Doch die Katze schnellte sich zur Seite und veränderte an der nächsten Halteleine sofort wieder ihre Bewegungsrichtung. Einen halben Meter neben ihrem Ziel schnappten die weißgezackten Fänge des Hundes zusammen. Höllenhund landete mit allen Vieren mitten auf einem fetten Betrunkenen, der sich prustend verschluckte, und ging dann unverzüglich auf Gegenkurs. Kim sprang von Leine zu Leine hin und her. Dieses Mal flog Haar, als die Kiefer zuschnappten, aber auch der Hieb einer Pfote mit weit ausgestreckten Krallen traf. Crown packte Höllenhund an seinem mit stählernen Spitzen versehenen Halsband und hinderte ihn an einem weiteren Satz. Er berührte den Hund unter dem Auge und roch an seinen Fingern. »Schluß jetzt, Junge«, sagte er. »Du kannst doch nicht ein musikalisches Genie umbringen.«
Seine Hand ging von seiner Nase weg nach unten und kam dann als locker geballte Faust wieder herauf. »Nun, Katze, du hast mit unserem Hund gesprochen. Hast du auch ein Wort für uns?« »Gewisss!« Kim schwebte zu einem Halteseil nahe Crowns Gesicht. Spar stieß sich ab, um ihn zurückzuholen, während Almodie auf Crowns Faust starrte und ihre Hand vorsichtig darauf zubewegte. Kim zischte laut: »Ssatan! Teufelssbraten!« Sowohl Spar als auch Almodie kamen zu spät. Zwischen zwei Fingern von Crowns Faust heraus spritzte ein Strahl und traf Kim ins geöffnete Maul. Es erschien Spar wie ein endloser Augenblick, bis seine Hand den Strahl unterbrach. Sein Handrücken brannte fürchterlich. Kim schien in sich selbst zusammenzufallen und entfernte sich schließlich mit offenem Maul von Crown, dem Dunkel entgegenstrebend. Crown sagte: »Das ist Mace, eine alte Waffe wie Griechisches Feuer, bei uns aber gut bekannt. Gerade das richtige Mittel für eine Hexenkatze.« Spar sprang auf Crown zu, packte ihn an der Brust, versuchte, seinen Kopf gegen Crowns Kinn zu stoßen. Der Aufprall versetzte auch Crown in Bewegung; beide entfernten sich von der Theke. Crowns Kopf wich zur Seite aus. Spars Kiefer packten Crowns Hals. Ein Druck… Spar fühlte, wie ein Frösteln über seinen bloßen Rücken lief. Dann drückte sich ein kaltes Dreieck auf seine Nierengegend. Sein Kiefer öffnete sich; matt und kraftlos schwebte er davon. Crown lachte leise. Ein beschwipster Gast knipste eine blaue Handlampe an, deren Schein die Gesichter noch fahler erscheinen ließ. Eine Stimme gebot: »So, Leute, Schluß jetzt. Geht nach Hause. Wir machen zu.« Der Schlaftag dämmerte herauf. Das kalte Dreieck verschwand von Spars Rücken. »Bye-bye, Baby«, sagte Crown und stieß sich ab, hin zu den Gesichtern von vier Frauen und einem Hund. Phanette und Doucette waren dicht bei Höllenhund, als ob sie sein Halsband hielten. Spar schluchzte und begann nach Kim zu suchen. Nach einiger Zeit kam Suzy, um ihm zu helfen. Das Bat Rack leerte sich. Spar und Suzy
spürten Kim auf. Spar packte die Katze an der Brust. Kims Vorderbeine umfaßten sein Handgelenk; er spürte die Spitzen seiner Krallen. Spar holte den Beutel hervor, den der Doktor ihm gegeben hatte, und schob die Öffnung Kim ins Maul. Die Krallen gruben sich in sein Fleisch. Nicht darauf achtend, drückte Spar leicht auf den Beutel. Langsam zog Kim seine Krallen ein; sein Körper entspannte sich. Spar drückte ihn sanft an sich. Suzy verband Spars verletztes Handgelenk. Keeper erschien, gefolgt von zwei Gästen. Einer von ihnen war Leutnant Drake, der sagte: »Mein Kollege und ich werden heute den hinteren und den Steuerbordeingang bewachen.« Außer ihnen war niemand mehr im Bat Rack. Spar sagte: »Crown hat ein Messer.« Drake nickte. Suzy berührte Spars Hand und sagte: »Keeper, heute nacht möchte ich hierbleiben. Ich habe Angst.« Keeper sagte: »Ich hab schon Platz für dich.« Drake und sein Helfer begaben sich auf ihre Posten. Suzy drückte Spars Hand. Der sagte etwas schwerfällig: »Kannst meinen Schlafplatz haben, Suzy.« Keeper lachte und flüsterte nach einem Blick auf die Männer von der Brücke: »Ich biete dir meinen, und zum Unterschied von Spar gehört er mir sogar. Du kannst auch Mondnebel haben. Wenn nicht, bleibst du draußen.« Suzy seufzte, nach kurzem Zögern ging sie mit ihm weg. Niedergeschlagen setzte sich Spar in Bewegung. Hatte Suzy erwartet, daß er sich mit Keeper um sie schlagen würde? Das Traurige war, daß er sie nicht länger begehrte, nur noch als Freund. Er liebte Crowns neues Mädchen. Was gleichfalls betrüblich war. Er war sehr müde. Nicht einmal der Gedanke an neue Augen konnte ihn noch aufmuntern. Er hakte sein Handgelenk an einem Halteseil ein und zog eine Decke über sich. Sanft nahm er Kim, der kein Wort gesprochen hatte, in seinen Arm. Im Nu war er eingeschlafen. Er träumte von Almodie. Sie sah wie Virgo aus, sogar das weiße Kleid stimmte. Sie hielt Kim in ihren Händen, der glatt wie schwarzes Glanzle-
der aussah. Lächelnd kam sie auf ihn zu. Sie kam auf ihn zu, ohne ihm näherzukommen. Viel später – so schien es ihm – raubten ihm Entziehungssymptome den Schlaf. Er schwitzte und zitterte, doch das hatte nicht viel zu bedeuten. Aber seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jeden Moment, dessen war er sicher, würden sie seine Muskeln in tödlichen Starrkrampf versetzen. Seine Gedanken wechselten so schnell, daß er kaum imstande war, auch nur Bruchstücke davon zu deuten. Es war, als raste er mit zehnfacher Geschwindigkeit durch schlechtbeleuchtete Verbindungsgänge. Wenn er an eine Wand geriet, würde er selbst das Wenige vergessen, was er wußte, vergessen, daß er Spar war. Um ihn herum schwangen die Halteseile in ständigen Sinuskurven. Kim war nicht mehr bei ihm. Er zog die Decke von seinem Gesicht. Es war so dunkel wie zuvor. Schlaftag-Nacht. Doch sein Körper beruhigte sich, und seine Gedanken wurden klarer. Immer noch bebten seine Nerven, immer noch sah er den Tanz der schwarzen Schlangen, aber er wußte, daß es eine Täuschung war. Jetzt konnte er sogar den schwachen Schein dreier Lichter wahrnehmen. Plötzlich sah er zwei Gestalten auf sich zukommen. Er war kaum in der Lage, die Augenflecken auszumachen; sie waren grün bei der kleineren, violett bei der größeren Gestalt, deren Gesicht ein silbriger Schein umstrahlte. Und anstelle eines Lächelns konnte er den weißen, waagrechten Schimmer entblößter Zähne sehen. Auch Kim zeigte seine Zähne. Dann erinnerte sich Spar des goldblonden Mädchens, das bei Crown offenbar Barkeeper gespielt hatte. Sie war Suzys einstige Freundin Sweetheart, die am letzten Spieltag Vampiren zum Opfer gefallen war. Ein Schrei entfuhr ihm, der eher wie ein heiseres Bellen klang, und er versuchte, sein angeklinktes Handgelenk loszubekommen. Die Gestalten verschwanden. Nach unten, wie ihm schien. Dann bemerkte er Lichter. Jemand packte ihn an der Schulter. »Was war los, Opa?« Vor sich hinstammelnd, überlegte Spar, was er Drake sagen sollte. Er liebte Almodie und Kim. Er sagte: »War ein Alptraum. Vampire griffen mich an.«
»Wie sahen sie aus?« »Eine alte Frau und ein… ein… kleiner Hund.« Der andere Offizier kam hinzu. »Die schwarze Tür ist offen.« Drake sagte: »Keeper erklärte uns, die sei immer geschlossen. Sehen Sie nach, Fenner.« Als sich der andere wieder entfernt hatte, fuhr er fort: »Sind Sie sicher, daß es ein Alptraum war, Großvater? Ein kleiner Hund? Und eine alte Frau?« Spar sagte: »Ja«, und Drake folgte seinem Helfer durch die schwarze Tür. Der Arbeitstag dämmerte herauf. Spar fühlte sich elend und verwirrt, doch er machte sich an seine gewohnte Arbeit. Er wollte mit Kim sprechen, doch die Katze war genauso schweigsam wie am Nachmittag zuvor. Keeper schikanierte ihn und gab ihm eine Menge Arbeit – die Unordnung vom Vortag war groß. Suzy machte sich rasch davon. Sie wollte weder über Sweetheart sprechen, noch über sonst etwas. Drake und Fenner kamen nicht zurück. Spar machte sauber, und Kim trieb sich irgendwo herum. Am Nachmittag kam Crown herein und sprach mit Keeper, als Spar und Kim außer Hörweite waren. Es war, als seien sie überhaupt nicht vorhanden, so wenig nahm Crown Notiz von ihnen. Spar überlegte sich, was wohl am Vorabend los gewesen war. Vielleicht war es wirklich ein Traum gewesen, sagte er sich schließlich. Daß er Sweetheart aus dem Gedächtnis identifiziert hatte, beeindruckte ihn nicht länger. Wie dumm von ihm, Almodie und Kim für Vampire gehalten zu haben, ob sie nun Traum waren oder Realität. Der Doktor hatte gesagt, Vampire seien ein Aberglaube. Doch zu sehr dachte er nicht darüber nach. Er spürte immer noch Entziehungssymptome, nur waren sie jetzt schwächer. Die Dämmerung des Erholungstages brach an. Keeper gewährte Spar Ausgang, ohne wie sonst neugierige Fragen zu stellen. Spars Augen suchten Kim, konnten jedoch den schwarzen Fleck nicht finden. Eigentlich wollte er die Katze ohnehin nicht mitnehmen. Er begab sich geradewegs zur Praxis des Doktors. Die Durchgänge waren so leer wie am letzten Erholungstag. Zum drittenmal kam er an dem Betrunkenen vorbei, der »Löwe, Möve, Phöbe…« krächzte.
Die Tür des Doktors war offen, doch er war nicht da. Unruhig wartete Spar längere Zeit. Wegzugehen und die Tür offenzulassen, das sah dem Doktor nicht ähnlich. Und am Vorabend war er auch nicht im Bat Rack erschienen, was er doch halb und halb versprochen hatte. Schließlich sah Spar sich um. Was ihm als erstes auffiel, war, daß der große schwarze Sack, der nach des Doktors Worten seinen Schatz enthielt, nicht mehr vorhanden war. Dann bemerkte er, daß der Plastikbeutel, in den der Doktor seinen Kieferabdruck gesteckt hatte, jetzt etwas anderes enthielt. Er nahm ihn aus seiner Halterung. Es waren zwei Dinge darin. Am ersten ritzte er sich den Finger; es war halbkreisförmig, teils hellrot, teils glänzend. Er achtete nicht auf die winzigen roten Flecken, die aus seinem Finger kamen, und befühlte den Gegenstand genauer. Der hellrote Teil hatte oben wie unten unregelmäßige Vertiefungen. Er steckte das Ding in seinen Mund. Es paßte genau. Er öffnete seinen Mund und schloß ihn wieder, vorsichtig auf die Stellung seiner Zunge achtend. Ein leichtes Einrasten. Er hatte Zähne! Seine Hände zitterten nicht nur wegen der Entwöhnung, als er den zweiten Gegenstand befühlte. Es waren zwei dicke, kreisförmige, durch einen kurzen Steg verbundene Gebilde, die an den Seiten mit starken, in einem Halbkreis auslaufenden Bügeln versehen waren. Er streckte den Finger in eines der runden Gebilde. Es prickelte, fast so wie das Rohr des Doktors an seinen Augen gekitzelt hatte, nur stärker, fast schmerzlich. Mit immer stärker zitternden Händen versuchte er, das Ding aufzusetzen. Die Halbkreise legten sich um seine Ohren, die Kreise waren vor seinen Augen, doch mit genug Zwischenraum, um nicht zu kitzeln. Er konnte scharf sehen! Alles hatte klare Linien, selbst die ausgestreckten Finger seiner Hände und die… Blutkruste an einem der Finger. Er gab einen leisen Laut erstaunter Klage von sich. Doch mußte er sich jetzt in der Praxis umsehen. Zunächst freilich war der Eindruck der vielen in
allen Einzelheiten sichtbaren Dinge zu übermächtig für ihn. Er schloß die Augen. Als sein Atem sich wieder beruhigt und das Zittern nachgelassen hatte, öffnete er sie vorsichtig von neuem und begann, die Gegenstände zu untersuchen, die an den Halteleinen festgemacht waren. Jedes einzelne war ein Wunder. Bei den meisten wußte er gar nicht, wozu sie dienten. Das Aussehen einiger davon, mit denen er durch Gebrauch oder verschwommenem optischen Eindruck vertraut war, setzte ihn in höchstes Erstaunen: ein Kamm, eine Bürste, ein Buch mit Zeilen (diesen endlosen Reihen geordneter schwarzer Zeichen), eine Armbanduhr (mit winzigen Bildern von Widder und Jungfrau und Fischen und so fort auf dem Zifferblatt und mit oszillierenden Strahlen, die von der Mitte aus zu den verschiedenen Tierkreiszeichen gingen). Ehe er es bemerkte, kam er zu dem, was ihm immer wie eine Wand fahlen Lichtes erschienen war. Er betrachtete sie mit neuem Mut, stieß aber gleich erneut einen Laut erschreckter Verwunderung aus. Das leichenhaft fahle Licht kam nicht von allen Seiten, obwohl es den Hauptteil seines Gesichtsfeldes erfüllte. Seine Finger berührten gespannten, durchscheinenden Pliofilm. Was er durch ihn hindurch sah – weit, weit weg, wie ihm nun schien –, war tief schwarze Dunkelheit mit vielen kleinen, hellen… Lichtpunkten darin. Daß er auch Punkte zu erkennen vermochte, konnte er kaum glauben, aber er mußte seinen Augen trauen. In der Mitte, viel größer wirkend als all die Dunkelheit, war etwas riesiges Rundes in fahlem Weiß, auf dem kleine Kreise und Linien und etwas dunklere Zonen schwach zu erkennen waren. Es sah nicht so aus, als sei die Helligkeit elektrisches Licht, und erst recht nicht Feuerschein. Nach einer Weile kam Spar auf den verrückten Gedanken, daß es nur reflektiertes Licht von etwas viel Hellerem hinter der Windrush sei. Es war überaus seltsam, sich so viel Raum um die Windrush herum vorzustellen. Wie wenn eine Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit enthielte. Und wenn die Windrush zwischen dem hypothetischen helleren Licht und dem gefleckten weißen Rund war, mußte ihr Schatten darauf zu sehen sein. Es sei denn, Windrush war fast unendlich klein. Doch diese
Spekulationen waren wirklich viel zu fantastisch, um ernstgenommen zu werden. Und doch, konnte irgend etwas zu fantastisch sein? Überstiegen nicht Werwölfe, Hexen, Punkte und Linien auch schon jede Vorstellungskraft? Beim ersten Blick auf das fahlweiße Objekt war es ihm rund erschienen. Und er hatte das Knarren und Knacken des Erholungstag-Mittags gehört und verspürt, ohne sich im Augenblick dessen bewußt zu sein. Doch jetzt wurde der runde Umriß vor ihm leicht abgeplattet, wurde einseitig. Spar fragte sich, ob die hypothetische Lichtquelle hinter der Windrush sich bewegte, oder ob das weiße Rund vor ihm es war. Solche Gedanken, vor allem der letzte, verliehen ihm ein unerträgliches Schwindelgefühl. Er schwebte zur geöffneten Tür, überlegte, ob er sie hinter sich zuschließen sollte, tat es jedoch nicht. Auch der Korridor, der sich ins Unendliche zu erstrecken schien und dabei immer mehr verjüngte, setzte ihn in höchstes Erstaunen. An den Wänden waren… Pfeile, rote, die nach Backbord wiesen, woher er gekommen war, und grüne, nach Steuerbord zeigend, wohin er nun ging. Das also waren die länglichen Flecken, die er hier immer gesehen hatte. Als er sich an der seltsam klaren Schleppleine entlang zog, blieb der Durchmesser des Korridors gleich bis hin zum violetten Hauptgang. Er wollte sich auf schnellstem Wege, den grünen Pfeilen folgend, nach Steuerbord begeben, um das Vorhandensein der hypothetischen Lichtquelle noch zu prüfen und Einzelheiten des runden, bräunlich-orangen Körpers zu sehen, der seine Stimmung immer so bedrückt hatte. Doch dann entschied er, daß er als erstes das Verschwinden des Doktors auf der Brücke melden mußte. Vielleicht fand er dort Drake. Auch das Fehlen des Schatzes mußte er berichten, fiel ihm noch ein. Die Gesichter der Passanten fesselten ihn. Solch ein Gewirr von Nasen und Ohren! Er überholte die krächzende, gebeugte Gestalt. Es war eine alte Frau, deren Nase fast ihr Kinn berührte. Ihre Finger hielten zwei dünne Stäbe, an denen eine feine, flauschige Schnur hing, und vollführten zuckende Bewegungen. Ohne zu überlegen, verließ er die Schleppleine und packte die Alte am Arm. »Was tun Sie denn da, Großmutter?« fragte er.
Sie schnaubte vor Ärger. »Ich stricke«, sagte sie dann unwillig zu Spar. »Was bedeuten denn die Worte, die Sie dauernd sagen?« »Namen von Strickmustern«, antwortete sie und riß sich von ihm los. »Sanddünen, Blitz, marschierende Soldaten…« Als er wieder zur Schleppleine zurück wollte, sah er, daß er bereits bei dem blauen Schacht war, der nach oben führte. Nicht auf das Brennen seiner Handflächen achtend, packte er das sich rasch bewegende Seil und flog zur Brücke. Dort angekommen sah er, daß über ihm Tausende von Sternen leuchteten. Die länglichen Regenbogen waren Gruppen von vielfarbigen Lichtern, die an- und ausgingen. Doch die stummen Offiziere – sie sahen so alt aus. Ihr Blick war starr, als seien sie in einem Dämmerzustand. Ihre Befehlsgesten wirkten mechanisch. Er fragte sich, ob sie wußten, wohin die Windrush flog – oder ob sie überhaupt wußten, was außerhalb der Brücke war. Ein junger Offizier mit kurzem, gelocktem Haar kam zu ihm. Erst als er sprach, wußte Spar, daß es Leutnant Drake war. »Hallo, Opa. Sagen Sie, Sie sehen jünger aus. Was haben Sie da vor den Augen?« »Eine Art Feldstecher. Er erlaubt mir, scharf zu sehen.« »Aber Feldstecher haben Rohre. Sie sind eine Art doppeltes Teleskop.« Spar zuckte die Achseln und erzählte ihm vom Verschwinden des Doktors und seines großen schwarzen Schatzbehälters. »Aber Sie sagen, er trank sehr viel und hat Ihnen erzählt, daß seine Schätze Träume waren? Klingt, als ob der den Rappel hatte und irgendwo anders hin zum Saufen ging.« »Aber der Doktor trank regelmäßig. Er kam immer ins Bat Rack.« »Nun, ich werde tun, was ich kann. Übrigens, man hat mich von der Bat Rack-Untersuchung abgezogen. Scheint, daß dieser Crown sich an irgendein hohes Tier herangemacht hat. An die Alten kommt man leicht heran – nicht so sehr, weil sie habgierig sind; sie fürchten alles Neue und gehen den Weg des geringsten Widerstandes. Fenner und ich haben weder die alte Frau mit dem kleinen Hund gefunden, noch irgendwelche Frauen oder Tiere… Gar nichts.«
Spar erzählte von Crowns früherem Versuch, des Doktors kleinen schwarzen Beutel zu stehlen. »Sie glauben also, zwischen den beiden Fällen könnte ein Zusammenhang bestehen. Nun, wie ich schon sagte, ich werde tun was ich kann.« Spar begab sich zum Bat Rack zurück. Es war sehr seltsam, Keepers Gesicht in allen Einzelheiten zu sehen. Es wirkte alt, und sein Mittelpunkt war eine von Äderchen durchsetzte große rote Nase. Seine braunen Augen waren eher gierig als neugierig. Er fragte nach dem Ding auf Spars Nase. Es war wohl klüger, ihm nicht zu sagen, daß er jetzt scharf sehen konnte, entschied Spar. »Eine neue Art Kopfschmuck, Keeper. Verdammt, ich hab kein einziges Haar mehr, irgendwas muß ich ja haben.« »Dummes Zeug. Sieht 'nem Säufer ähnlich, kostbares Geld für so ein groteskes Ding auszugeben.« Spar verzichtete darauf, zu erwähnen, daß er aus allen bisher im Bat Rack verdienten Scheinen gerade eine Rolle von der Dicke seines Daumens machen konnte, und erinnerte ihn auch nicht daran, daß er zu trinken aufgehört hatte. Auch von seinen Zähnen sagte er nichts, sondern verbarg sie hinter seinen Lippen. Kim war nirgendwo zu sehen. Keeper zuckte die Achseln. »Hat sich irgendwohin verzogen. Du weißt, wie diese Streuner sind, Spar.« Ja, dachte Spar, er war wohl schon zu lange hier. Daß er alles im Bat Rack scharf sehen konnte, wunderte ihn immer wieder. Kreuz und quer verliefen Halteseile; die Form war die zweier durch einen Basisblock verbundener Pyramiden. Ihre Spitzen bildeten die violette Vorder- und die dunkelrote hintere Ecke. Die vier anderen Ecken waren, im Uhrzeigersinn gesehen, die grüne an Steuerbord, die schwarze, die purpurrote Backbord- und die blaue Ecke. Suzy kam früh am Spieltag. Spar war erschreckt über ihr derbes Aussehen und ihre blutunterlaufenen Augen. Doch die Zeichen ihrer Zuneigung rührten ihn, und er fühlte die starke Freundschaft zwischen ihm und ihr. Zweimal, als Keeper nicht hinsah, ersetzte er ihren fast leeren Beutel mit Dunklem durch einen vollen. Ja, erzählte sie ihm, sie hatte
Sweetheart gekannt und außerdem, ja, hatte sie sagen gehört, daß Mable gesehen hatte, wie Sweetheart Vampiren zum Opfer gefallen war. Für einen Spieltag war das Geschäft mäßig. Fremde Gäste gab es keine. Wider besseres Wissen wartete Spar auf das Kommen des Doktors und malte sich aus, wie er von den Dingen sprechen würde, die er für Spar gemacht hatte, und von den alten Tagen und über seine seltsame Philosophie. Am Spieltag-Abend kam Crown mit allen seinen Mädchen außer Almodie. Doucette sagte, daß sie Kopfschmerzen habe und daheim geblieben sei. Wieder bestellten alle Kaffee, obwohl es Spar schien, daß sie angetrunken waren. Heimlich studierte er ihre Gesichter. Wiewohl sie nervös und lebhaft waren, war doch eine ähnliche Starre des Blicks zu bemerken, wie bei den meisten der Offiziere auf der Brücke. Der Doktor hatte gesagt, daß sie alle Trottel seien. »Wo ist die berühmte sprechende Katze?« fragte Crown Spar. Spar zuckte die Achseln. Keeper sagte: »Streunt irgendwo 'rum. Ist mir ganz recht. Bin nicht besonders scharf auf solche Auseinandersetzungen wie letztes Mal.« Die gelbbraunen Augen unverwandt auf Spar gerichtet, sagte Crown: »Wir glauben, es war der Kampf am letzten Spieltag, der Almodies Kopfweh verursacht hat; deshalb wollte sie auch heute nicht kommen. Wir werden ihr sagen, daß man die Hexenkatze beseitigt hat.« »Ich hätte die Katze erledigt, wenn Spar es nicht getan hätte«, warf Keeper ein. »Sie glauben also, es war eine Hexenkatze, Untersuchungsrichter?« »Da sind wir sicher. Was hat Spar denn da auf der Nase?« »Es ist eine neue Art billiger Augenschmuck, Untersuchungsrichter, etwas für Säufer.« Mehr und mehr hatte Spar das Gefühl, daß diese Unterhaltung vorgeplant war und daß es eine neue Übereinkunft zwischen Crown und Keeper gab. Doch er zuckte nur die Achseln. Suzy sah ärgerlich drein, sagte aber nichts.
Dennoch blieb sie wieder, als das Bat Rack schloß. Keeper nahm sie nicht für sich in Anspruch, schickte aber einen wissenden Seitenblick herüber, bevor er gähnend und seine Glieder streckend durch die purpurrote Tür verschwand. Spar überzeugte sich davon, daß alle sechs Eingänge geschlossen waren, und schaltete dann die Lichter aus, was im heraufkommenden Morgenschein nicht viel Unterschied machte. Dann kehrte er zu Suzy zurück, die schon bei seiner Schlafstelle war. »Du hast doch Kim nicht wirklich fortgeschafft?« fragte sie. »Nein, er streunt nur herum, wie Keeper zunächst sagte«, antwortete Spar. »Ich weiß nicht, wo er ist.« Suzy lächelte und legte ihre Arme um ihn. »Diese neuen Augen-Dinger sind hübsch«, sagte sie. Spar sagte: »Suzy, wußtest du, daß die Windrush nicht das Universum ist? Daß es ein Schiff ist, das sich im Raum um ein weißes, mit Kreisen besetztes Rund bewegt, etwas, was viel größer ist als Windrush?« Suzy antwortete: »Ich weiß, daß Windrush manchmal das Schiff genannt wird. Auch dieses Rund habe ich gesehen – auf Bildern. Vergiß die wilden Gedanken, Spar, und verlier dich in mir.« Spar tat es, doch mehr aus Freundschaft. Er vergaß, seinen Knöchel am Halteseil einzuklinken. Suzys Körper reizte ihn nicht, er dachte an Almodie. Als es vorbei war, schlief Suzy. Spar zog die Decke über sich und versuchte, es ihr gleichzutun. Die Entziehungssymptome waren nur etwas weniger schlimm als am letzten Schlaftag. Trotzdem fühlte er sich ermutigt und holte sich keinen Mondnebel von der Theke. Doch dann spürte er einen scharfen Schmerz in seinem Rücken, als hätte sich ein Muskel dort verkrampft, und die Symptome wurden wieder quälend. Ein-, zweimal befielen ihn Zuckungen, und als die Agonie dann unerträglich wurde, verließ ihn das Bewußtsein. Als er mit pochendem Schädel aufwachte, entdeckte er, daß er am Halteseil nicht mehr angeklinkt, sondern festgebunden war; Arme und Beine, nach verschiedenen Richtungen gezerrt, waren taub. Seine Nase scheuerte am Seil.
Licht schien rot durch seine Augenlider. Als er sie ein wenig öffnete, sah er Höllenhund, die angezogenen Hinterbeine sprungbereit am nächsten Halteseil. Ganz deutlich konnte er Höllenhunds große Reißzähne sehen. Hätte er seine Augen etwas weiter geöffnet, Höllenhund wäre ihm an die Kehle gesprungen. Spar rieb seine scharfen neuen Metallzähne aufeinander. Damit konnte er wenigstens einem Angriff begegnen. Hinter Höllenhund sah er schwarze und durchscheinende Spiralen. Es wurde ihm klar, daß er in Crowns Wohnung war. Den letzten Schmerz in seinem Rücken hatte offenbar die Injektion einer Droge verursacht. Doch Crown hatte ihm seinen Augenschmuck gelassen und hatte auch seine Zähne nicht bemerkt. Für ihn war Spar immer noch zahnlos und fast blind. Zwischen Höllenhund und den Spiralen sah er den gleichfalls an ein Halteseil gefesselten Doktor und seinen großen schwarzen Sack neben ihm. Der Doktor war geknebelt. Offensichtlich hatte er versucht zu schreien. Das würde Spar also nicht tun. Des Doktors graue Augen waren offen, und Spar hatte den Eindruck, als sehe er ihn an. Ganz langsam drehte Spar seine tauben Finger zu dem Knoten, der seine Knöchel an das Seil fesselte, spannte alle seine Muskeln an und zog. Der Knoten verrutschte um einen Millimeter. Solange er etwas langsam genug tat, konnte Höllenhund es nicht sehen. Von Zeit zu Zeit wiederholte Spar seine Aktion. Langsamer noch drehte er seinen Kopf nach links. Er konnte nur feststellen, daß die Tür zum Korridor verschlossen war und daß sich hinter dem Hund und dem Doktor, zwischen den schwarzen Spiralen, eine leere Kabine befand, deren ganze Steuerbordseite aus Sternen bestand. Der Eingang zur Kabine war offen; das schwarzgestreifte Notschott bewegte sich leicht. Mit gleicher Vorsicht bewegte er seinen Kopf nach rechts, über den Doktor und Höllenhund hinaus, der gespannt auf Lebenssignale oder Anzeichen des Erwachens wartete. Den Knoten an seinen Handgelenken hatte er jetzt um zwei Fingerbreit verschoben. Was er jetzt sah, war durchsichtig und von länglicher Form; es ließ mehr Sterne und, auf einer Seite, das rauchorange Rund erkennen. Endlich konnte er letzteres klarer sehen. Der Rauch schien oben zu sein, das Orange weiter unten und unregelmäßig verteilt. Das Ganze war etwa so groß, daß Spar es mit seiner Handfläche hätte bede-
cken können, wäre er in der Lage gewesen, seinen Arm völlig auszustrecken. Während er vorsichtig hinübersah, bemerkte er einen hellen Blitz an einer der orangen Stellen. Der Blitz war kurz, dann wurde er zu einem kleinen schwarzen Kreis, der durch den Rauch nach oben ging. Wieder fühlte Spar, wie tiefe Bedrückung ihn überkam. Hinter der durchscheinenden Fläche bot sich ein schreckliches Bild. Suzy war an ein glänzendes Metallgestell gefesselt. Sie war sehr bleich, ihre Augen waren geschlossen. An ihrem Hals war ein roter, fünffach gegabelter Saugschlauch befestigt. Vier der Enden waren in den roten Mündern von Crown, Rixende, Phanette und Doucette. Das fünfte verschloß ein kleiner Metallklip, und daneben schwebte Almodie, die Hand über den Augen. »Wir wollen alles. Streif es ab, Rixie«, sagte Crown, ohne die Stimme zu erheben. Rixie verschloß das Ende ihres Rohres und schwebte zu Suzy. Spar glaubte, sie würde ihr die blauen Hosen und die Bluse ausziehen; statt dessen begann sie, vom Knöchel her Suzys Bein zu massieren, wodurch sie das in ihrem Körper verbleibende Blut zum Hals hin drückte. Für einen Augenblick nahm Crown das Saugrohr aus dem Mund und sagte: »Ahh, gut bis zum letzten Tropfen.« Dann schnappte er auf, was an Blut inzwischen ausgetreten war, und setzte das Rohr wieder an die Lippen. Phanette und Doucette krümmten sich in lautlosem Gelächter. Almodie, in einer Wolke platinblonden Haars, spähte durch einen leicht geöffneten Finger. Nach einer Weile sagte Crown: »Das ist wohl alles. Phan und Doucie, steckt sie in den großen Abfallschlucker. Wenn ihr draußen jemand trefft, tut so, als sei sie betrunken. Hernach werden wir uns am Doktor gütlich tun, und dann ist Spar an der Reihe.«
Spar hatte den Knoten um seine Handgelenke schon bis nahe an seine Zähne gebracht. Höllenhund, der begierig auf jede Regung wartete, konnte eine so langsame Bewegung nicht erkennen. Geifer stand in kleinen Tropfen auf seinen Fängen. Phanette und Doucette öffneten die Tür und steuerten Suzys Leichnam hinaus. Crown umarmte Rixende und wandte sich dann leutselig an den Doktor: »Nun, ist das nicht das einzig Wahre, alter Freund? Die blutige Natur in Zahn und Klaue, hat ein Weiser mal gesagt. Alles haben sie hier vergiftet.« Er zeigte auf das rauchorange Rund, das jetzt aus ihrem Gesichtsfeld glitt. »Noch kämpfen sie, doch bald werden alle tot sein. Und auch für dieses lachhafte sogenannte Überlebensschiff soll der Tod Gesetz sein. Vergessen Sie nicht, sie sind an Bord. Wenn wir das Blut von jedem auf Windrush getrunken haben, Ihres eingeschlossen, werden wir unser eigenes trinken, wenn unser eigenes nicht ihres ist.« Crown spricht immer nur in der Mehrzahl, dachte Spar. Fast konnte er den Knoten mit den Zähnen erreichen. Er hörte das Knirschen des Abfallvernichters.
In der leeren nächsten Kabine sah Spar Drake und Fenner, die wie für eine Sauftour gekleidet waren und auf die offene Tür zuschwebten. Doch Crown sah sie auch. »Pack sie, Höllenhund«, rief er. »Wir befehlen es.« Der große schwarze Hund schoß von seinem Halteseil durch die offene Tür. Drake zielte mit etwas auf ihn. Der Hund sank in sich zusammen. Mit unterdrücktem Lachen nahm Crown eine Art Hakenkreuz mit gekrümmten, blitzenden, rasiermesserscharfen Klingen und warf es mit rasender Drehung nach Drake und Fenner. Es flog an Spar und dem Doktor vorbei durch die offene Tür, verfehlte sein Ziel, – und Höllenhund – und traf die Sternenwand. Es gab einen Luftstoß, dann schlug die Nottür zu. Durch den transparenten Pliofilm sah Spar, wie Drake, Fenner und Höllenhund zappelten, Blut spuckten, anschwollen wie Luftballons und dann blutig zerplatzten. Die leere Kabine, in der sie gewesen waren, verschwand. Windrush hatte eine neue Wand, und Crowns Raum war verzerrt. Weit draußen flog das immer kleiner werdende vierfache Hakenmesser auf die Sterne zu. Phanette und Doucette kamen zurück. »Wir haben Suzy reingestreckt, dann kam jemand, und wir haben uns verdrückt.« Das Knirschen des Abfallzerkleinerers erstarb. Mit einem Biß durchtrennte Spar seine Armfesseln und beugte sich sofort hinunter, um seine Füße zu befreien. Crown sprang auf ihn zu. Die Mädchen zogen Messer.
Phanette, Doucette und Rixende sanken zusammen. Spar war es, als hätte er kleine schwarze Kugeln an ihren Schädeln gesehen. Die Zeit reichte nicht, um seine Füße loszubekommen, und so richtete er sich wieder auf. Crown prallte auf seine Brust, Almodie auf seine Füße. Der Schwung wirbelte Crown und Spar um das Seil. Dann hatte Almodie Spars Knöchel losgeschnitten. Spar versuchte, mit dem Knie Crowns Unterleib zu treffen, doch Crown drehte sich ab und vermied den Stoß; so flogen sie auf die Innenwand zu. Dann klickte Crowns Klappmesser. Spar sah das dunkle Handgelenk und packte es. Er versuchte einen Kopfstoß gegen Crowns Kinn, verfehlte aber. Dann packten seine neuen Zähne Crowns Hals, und bissen zu. Blut spritzte über sein Gesicht. Er spuckte einen Fleischfetzen aus. Crowns Muskeln verkrampften sich. Spar wehrte das Messer ab. Crowns Körper wurde schlaff. Spar schüttelte das Blut von seinem Gesicht. Durch die davonfliegenden Tropfen sah er Keeper und Kim Seite an Seite. Almodie hatte seine
Knöchel umfaßt. Phanette, Doucette und Rixende schwebten bewegungslos umher. Stolz sagte Keeper: »Das war meine Kanone für die Betrunkenen, mit der ich sie gekriegt habe. Alle k.o. Wenn du willst, werde ich ihnen jetzt den Hals abschneiden.« Spar sagte: »Schluß mit dem Halsabschneiden. Schluß mit dem Tod.« Almodies Hände abschüttelnd, ergriff er Doucettes schwebendes Messer und flog zum Doktor hinüber. Er schnitt die Fesseln auf, und nahm den Knebel aus seinem Mund. »Habe Keepersss Schscheine auss der Kasse gessstohlen. Habe gessagt, du warssst ess, Sspar. Du und Ssuzzy. Dessswegen isst er gekommen.« Keeper sagte: »Ich sah, wie Suzys Fuß im Zerkleinerer verschwand. Ich erkannte ihn an dem Kettchen um ihren Knöchel. Danach hätte ich jeden umgebracht, ganz gleich wen. Ich liebte Suzy.« Der Doktor räusperte sich und krächzte: »Mondnebel.« Spar fand einen dreifachen Beutel; der Doktor sog ihn gierig aus und sagte dann: »Crown hat die Wahrheit gesagt. Windrush ist ein Überlebensschiff aus Kunststoff von der Erde. Die Erde« – er deutete zu dem schwachorangen Rund, das gerade in der Ecke des Fensters verschwand – »hat sich selbst mit Luftverschmutzung und Atomkrieg vergiftet. Für den Krieg gab man Gold aus, fürs Überleben Kunststoff. Am besten, man vergißt sie. Auf Windrush wurde man wahnsinnig. Verständlicherweise. Auch ohne die Lethe-Rachitis oder Styx-Rix, wie Ihr sie nennt. Man glaubte, Windrush sei der Kosmos. Crown kidnapte mich, um meine Drogen zu bekommen; er hielt mich am Leben, um stets die richtige Dosis zu wissen.« Spar blickte zu Keeper hin. »Mach hier sauber«, befahl er. »Crown kommt in den Abfallvernichter.« Almodie zog sich an Spar empor. »Es gab ein zweites Überlebensschiff: Circumluna. Als die meisten auf Windrush verrückt wurden, sandte man meine Eltern – und dich hierher – um die Umstände zu erforschen und zu helfen. Doch mein Vater starb, und du bekamst die Styx-Rix. Meine Mutter verschied, als ich in Crowns Hände geriet. Sie hat dir Kim gesandt.«
Kim zischte: »Ein Vvorffahre vvon mir issst auchch von Circumluna auf Windrushsh gekommen. Urgrosssmutter. Hat mich die Zzahlen für Windrushsh gelehrt… Radiusss vom Mond-Zzentrum zzweitaussendfünfhundert Meilen. Umlauffzzeit ssechss Ststunden – desshalb die kurzzen Tage. Ein Terranth isst die Zzeit, in der die Erde durchch eine Konssstellation geht, und sso weiter.« Der Doktor sagte: »Also sind Sie, Spar, der einzige, der sich ohne Zynismus erinnert. Sie werden hier das Kommando übernehmen müssen. Es ist Ihr Schiff, Spar.« Spar mußte ihm zustimmen. Originaltitel: SHIP OF SHADOWS Copyright © 1969 by Mercury Press, Inc.