ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 40 von Eric Frank Russell Michael G. Coney Clifford D. Simak Norman Spinrad
Aus...
50 downloads
1194 Views
725KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 40 von Eric Frank Russell Michael G. Coney Clifford D. Simak Norman Spinrad
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3072 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm, Bodo Baumann und Rudolf Mühlstrasser
Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03072 6
Der Planet war ein Alptraum. Erstes Anzeichen dafür waren die kopflosen, hummerähnlichen Kadaver, die den Fluß hinuntertrieben. Dann setzte der Funkkontakt aus. Und im Morgengrauen kamen sie dann, die Maschinen, die von der überaus ungesunden Neugier befallen waren, alles auseinanderzunehmen, was sich bewegte – natürlich auch uns Menschen. Mit unserem Schiff, der »Marathon«, fingen sie an. Ohne daß wir es verhindern konnten, montierten sie unsere Heckdüsen ab. Und dann holten sie uns einen nach dem anderen heraus, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Was uns blühte, erfuhren wir schon bald darauf. Ich werde nie die Schreie vergessen, als sie anfingen, den ersten von uns in Einzelteile zu zerlegen… MASCHINENWELT von Eric Frank Russell und weitere Science-Fiction-Stories von Clifford D. Simak, Michael Coney und Norman Spinrad.
Eric Frank Russell MASCHINENWELT
Wir standen am Rande der Startbahn vor dem Verwaltungsgebäude 7, ratlos von einem Bein aufs andere tretend und keiner von uns wußte, warum man uns so unerwartet zusammengerufen hatte und warum wir uns nicht wie üblich für die Reise zur Venus startfertig machen mußten. So lungerten wir herum, stellten einander Fragen, die keiner zu beantworten wußte, und warteten. Gerade als der Wettbewerb im Nägelkauen begann, kam Kapitän McNulty aus der Tür, rundlich und forsch wie eh und je. Ihm folgten sechs oder sieben Offiziere und Ingenieure der Upskadaska und ein hagerer alter Zwerg, den keiner von uns kannte. Als letzter verließ Jay Score das Gebäude. Leichtfüßig, beinahe tänzelnd, bewegte er seine dreihundert Pfund über die Freitreppe herunter. Ich war immer wieder von der Anmut überrascht, mit der er sein massives Stahlgerüst bewegte. McNulty bedeutete uns zu folgen, marschierte zur benachbarten Kantine und führte uns in ein Nebenzimmer. »Leute«, sagte er mit markig-militärischer Stimme, »ich bitte um Aufmerksamkeit. Der Herr, der hier neben mir steht, ist der berühmte Professor Flettner.« Er machte eine korrekte Verbeugung vor dem Zwerg, der breit lächelte und wie ein auf frischer Tat ertappter Schuljunge mit den Füßen scharrte. »Der Professor sucht eine Mannschaft für sein Schiff, die Marathon. Jay Score und sechs unserer leitenden Offiziere haben sich bereit erklärt, mit mir zu gehen. Während eures
Urlaubs haben wir die notwendige Spezialausbildung erhalten. Die Regierung hat mich vom Kommando des venusianischen Frachters Upskadaska entbunden und in aller Form mit der Führung der Marathon beauftragt. Nun ist es an euch, Leute, eure Entscheidung zu treffen. Wer weiterhin an Bord der Upskadaska Dienst tun will, kann diesen Raum jetzt verlassen und sich beim neuen Kapitän melden. Wer mit mir an Bord der Marathon gehen will, bleibt.« Sam Hignett, unser Schiffsarzt, hob prompt die braune Hand. »Ich bleibe bei Ihnen, Skipper.« Wir anderen folgten seinem Beispiel mit einem Abstand von einer Sekunde. Es mag seltsam erscheinen, aber keiner von uns brannte darauf, in Flettners Selbstmordkasten durch den Raum zu gondeln. Es war nur, daß wir für eine Ablehnung zu schwach waren. Oder vielleicht hielten wir unsere Nacken hin, um jenen Ausdruck zu sehen, der in McNultys Gesicht trat. »Ich danke euch, Leute«, sagte McNulty mit einer bewegten Stimme, wie man sie nur bei Beerdigungen hören kann. Er schluckte und schneuzte sich. Sein Blick ging fast liebevoll über uns hin und verwandelte sich in ein fassungsloses Starren, als er in einer Ecke die lässig hingestreckte Gestalt des Marsbewohners entdeckte, der mit schlaffen, unordentlich ausgebreiteten Tentakeln schlief. »Sug Farn«, sagte er streng. »Was soll das bedeuten?« Kli Yang, der Anführer unserer Marsleute, sprang in die Bresche. »Meine Meldung gilt auch für ihn, Skipper. Er schläft. Er hat mich ermächtigt, für ihn ja oder nein zu sagen, wie ich es für richtig halte.« Alle lachten. Sug Farns Trägheit war mit unserem Leben an Bord der Upskadaska untrennbar verbunden. Nur der Skipper wußte nicht, daß es außer einer Partie Schach oder einer dringenden Arbeit außenbords kein Ereignis gab, das Sug Farn am Schlafen hindern konnte. Unser Gelächter verebbte, und
der Schläfer erfüllte die Stille mit einem jener unheimlichen hohen Pfeiftöne, die für das Schnarchen eines Marsbewohners charakteristisch sind. »Ich verstehe«, sagte McNulty, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich möchte, daß heute abend bis sieben Uhr jeder an Bord ist. Wir starten morgen vormittag zehn Uhr. Ich habe jetzt zu tun, aber Jay Score wird bleiben und weitere Auskünfte geben.«
Die Marathon war ein schönes Schiff, von Flettner entworfen und von der Regierung gebaut, mit schlanken Linien, die es wie eine Mischung zwischen Kriegskreuzer und Rennrakete wirken ließen. Und auch sein Inneres enttäuschte uns nicht; die Ausstattung war im Vergleich zur Upskadaska schlechthin luxuriös. Ich stand am oberen Ende der Gangway und sah die letzten Nachzügler eintreffen, darunter vier Regierungsexperten. Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren und warum sie mit uns reisten, aber ich hatte Weisung, ihnen vier Einzelkabinen zuzuweisen. Der letzte Ankömmling war Wilson, ein übellauniger junger Mann mit strohblonden Haaren. Er hatte schon drei Kisten vorausgeschickt, und nun versuchte er drei weitere an Bord zu schleppen. »Was ist da drin?« wollte ich wissen. »Filme.« Er betrachtete das Schiff mit unverhohlener Abneigung. »Sind Sie der offizielle Berichterstatter und Fotograf?« »Ja.« »Schön. Dann laden Sie Ihre Kisten mittschiffs im Lagerraum ab.«
Er warf mir einen unfreundlichen Blick zu. »Diese Kisten werden nicht abgeladen, herumgeworfen oder gestoßen«, sagte er. »Sie werden weggestellt, sorgfältig und behutsam.« »Sie haben mich gehört.« Das Aussehen des jungen Mannes gefiel mir, nicht aber seine mürrische Art. Er trug seine Kisten einzeln die Gangway herauf und stellte sie oben mit übertriebener Behutsamkeit ab. Dann musterte er mich aufreizend von oben bis unten. Seine Lippen waren schmal, die Augen kalt. Dann sagte er: »Und was stellen Sie vor, wenn ich fragen darf?« »Ich bin Sergeant der Waffenkammer«, antwortete ich schroff. »Nun verstauen Sie Ihre Kisten, wie ich es Ihnen gesagt habe, oder ich werfe den Kram über Bord.« Das traf seine weiche Stelle. Mit einem Blick, der einer Kriegserklärung gleichkam, hob er die erste Kiste auf und trug sie wie ein krankes Baby zum Lagerraum.
Kurz vor dem Start kam ich in den Aufenthaltsraum unserer vier Passagiere, um zu sehen, ob sie sich richtig angeschnallt hatten. Sie waren in ein Gespräch vertieft und beachteten mich nicht, als ich ihre Verschlüsse und Gurte überprüfte. »Sagen Sie, was sie wollen«, erklärte einer. »Das System funktioniert, und das ist die Hauptsache.« »Ich weiß«, schnaubte ein anderer gereizt. »Ich habe Flettners verrückte Mathematik studiert, bis mir schwindlig wurde. Logisch betrachtet ist die Sache einwandfrei. Unangreifbar. Nichtsdestoweniger halte ich die Voraussetzungen für völlig abwegig. Die ganze Theorie hängt in der Luft.« »Da kann ich Ihnen nicht beipflichten. Seine beiden ersten Versuchsschiffe haben die Rundreise zum Jupiter und zurück
in einer Zeit gemacht, die ein gewöhnliches Raketenschiff braucht, um seine Triebwerke warmlaufen zu lassen. Wollen Sie das verrückt nennen?« »Es ist verrückt«, erwiderte der erste hitzig. »Es ist eine verdrehte Magie! Flettner wischt alle astronomischen Entfernungsmessungen einfach vom Tisch und behauptet, in einem Kosmos, der sich selbst in einem Zustand unaufhörlicher Bewegung befinde, gebe es keine Geschwindigkeit in unserem Sinne. Er sagt, es könne keine meßbare Geschwindigkeit geben, wenn man sie mit nichts als einem imaginären Bezugspunkt in Verbindung bringen kann, der in Wirklichkeit gar nicht existiert.« »Was mich angeht«, sagte ich beschwichtigend, »ich habe jedenfalls mein Testament gemacht.« Er warf mir einen bösen Blick zu, dann sagte er zu seinem Kollegen: »Ich finde, das Ganze ist ein Hokuspokus.« »Das gleiche könnte man vom Fernsehen behaupten«, versetzte der andere. »Trotzdem funktioniert es.« Im gleichen Augenblick kam McNulty an der Tür vorbei, schaute herein und fragte mich: »Waren Sie schon bei diesem Wilson?« »Nein – ich gehe gleich hin.« »Beruhigen Sie ihn ein bißchen, ja? Scheint mächtig aufgeregt zu sein, der Junge.« Ich ging hinüber und fand Wilson in seiner Kabine sitzen. Seine Hände zitterten, seine Augen blickten glasig. »Waren Sie schon mal an Bord eines Raumschiffes?« »Nein«, knurrte er. »Nun, machen Sie sich nichts draus. Ich gebe zu, daß es Fälle gibt, wo die Leute in Einzelteilen wieder heruntergekommen sind, aber nach der Statistik haben die Achterbahnen im letzten Jahr mehr Menschenleben gefordert als die Raumfahrt.«
»Glauben Sie vielleicht, ich hätte Angst?« fragte er und stand so schnell auf, daß ich erschrak. »Ich? Nein – nein, wieso?« Ich suchte nach Worten, die ich nicht fand. Der verwirrte und bekümmerte Ausdruck war aus seinem Gesicht gewichen, und er sah mir hart in die Augen. »Hören Sie«, sagte ich endlich, von Mann zu Mann. »Sagen Sie mir, was Ihnen Sorgen macht, und ich werde sehen, ob ich Ihnen helfen kann.« »Sie können nicht helfen«, sagte er, setzte sich und starrte mürrisch vor sich hin. »Ich mache mir Sorgen um meine Filme und die übrige Ausrüstung.« »Was für Filme und Ausrüstung?« »Diese fotografischen Apparate, die ich an Bord gebracht habe, natürlich.« »Ach was, die sind sicher genug. Außerdem, was helfen Sorgen?« »Viel«, sagte er. »Als ich sie das erstemal aus der Hand gab, wurden sie aus Achtlosigkeit bei einem Unfall zerschlagen. Dann fing ich an, mir Sorgen zu machen, und es hat sich ausgezahlt. Bei dem großen Erdbeben in Neapel habe ich die Sachen heil herausgebracht. Und nun lassen Sie mich in Ruhe.« Er lehnte sich zurück, schnallte seinen Gurt fest und nahm seine frühere Haltung bekümmerten Abwartens wieder ein. Ich wunderte mich noch über die merkwürdigen Gepflogenheiten mancher Berufszweige, als die Sirene ihre Warnung heulte. Wer sich noch nicht angeschnallt hatte, tat es jetzt sehr plötzlich. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit an meinen Platz. Die Türen der Zwischenschotte schlossen sich. Ein dumpfes Heulen klang auf, schwoll an, und eine Gigantenfaust versuchte meinen Schädel bis in meine Stiefel hinunterzupressen. Dann wurde ich ohnmächtig.
Die rasch wachsende Welt vor unserem Bug war nur wenig größer als die Erde. Ihre Sonnenseite zeigte schwarze, rotbraune und silbrig schimmernde Farbtöne, die nichts mit dem vertrauten Blau, Grün und Braun unserer Heimat gemeinsam hatten. Was wir vor uns sahen, war einer von den fünf Planeten, die eine kleine weiße Sonne umkreisten. Ich weiß nicht, unter welchem Namen die Sonne im Sternkatalog registriert war. Jay Score sagte mir, sie sei ein weißer Zwerg in der Region Bootes. Wir hatten sie gewählt, weil sie als einzige in diesem Gebiet von Planeten umkreist wurde, und wir hatten uns für den zweiten Planeten entschieden, weil seine gegenwärtige Position günstig auf unserer Flugbahn lag. Unsere Geschwindigkeit war so hoch, daß der Übergang in eine Umlaufbahn zur Inspektion der Oberfläche und zur Auswahl eines bestimmten Landeplatzes unmöglich war. Wir hatten den Planeten direkt vor uns und mußten eine unmittelbare Landung machen, ein falkenähnliches Herabstoßen mit geschlossenen Augen und einem Stoßgebet auf den Lippen. Die Umsetzung von Flettners unorthodoxen Vorstellungen in die Praxis war wieder eine Sache, die einem das Herz in die Hosen rutschen ließ, bevor man es festhalten konnte. Ich glaube, das Schiff hätte es noch besser machen können, wären seine Funktionen nicht von den Grenzen menschlicher Ausdauer und Leistungsfähigkeit beengt gewesen. McNulty schien jene Grenzen mit erstaunlicher Genauigkeit erkundet zu haben, denn das Abbremsen und der anschließende freie Fall durch die Atmosphäre vermochten meine Lebensgeister nicht endgültig zum Schweigen zu bringen. Nach kurzer Ohnmacht erwachte ich um mich schlagend und mit tief eingeschnittenen roten Striemen am Körper, wo er von den Gurten gehalten worden war. Sie erinnerten mich noch eine Woche später schmerzhaft an das Landemanöver.
Meldungen aus dem Laboratorium gaben einen Luftdruck von sechs Kilogramm und einen Sauerstoffgehalt an, der den Aufenthalt im Freien ohne Raumanzug möglich machte. Wir zogen Lose, wer als erster hinausgehen dürfe, und McNulty und die Regierungsexperten schieden gleich zu Anfang aus. Das gab ein Gelächter! Kli Yangs Name kam als erster aus dem Hut, dann hatte ein Ingenieur namens Brennand Glück, und nach ihm Jay Score, Sam Hignett und ich. Unser Aufenthalt draußen war auf eine Stunde beschränkt, was bedeutete, daß wir uns nicht weiter als drei Kilometer von der Marathon entfernen konnten. Wir rüsteten uns mit Feldstechern und Strahlpistolen aus, und Jay Score nahm ein kleines Radiofon mit, um Verbindung mit dem Schiff zu behalten. »Keine Dummheiten, Leute«, warnte der Skipper, als wir uns in die Luftschleuse drängten. »Seht euch um und kommt innerhalb einer Stunde zurück.« Kli Yang, der als letzter hinausging, warf einen Blick seiner untertassengroßen Augen zurück zur neidisch uns nachblickenden Mannschaft und sagte: »Einer von euch könnte Sug Farn wecken und ihm sagen, daß wir gelandet sind.« Dann löste er vier seiner zehn Tentakel vom Schiffsrumpf und ließ sich hinab. Die Oberfläche dieses fremden Planeten war hart. Hier schimmerte sie schwarz und glasig, dort war sie silbrig und metallisch, mit karmesinroten Einschlüssen. Jay Score machte sich sofort auf den Weg, der untergehenden Sonne entgegen. Seine langen Beine schritten aus, als hätte es gegolten, den Globus zu umwandern. Wir folgten im Gänsemarsch. Nach zehn Minuten war er achthundert Meter voraus und wartete, daß wir ihn einholten. »Vergiß nicht, langer Freund, daß wir nur aus Fleisch und Blut sind«, schnaufte Brennand, als wir ihn erreichten. Danach
marschierten wir etwas langsamer, stiegen in ein tiefes, von Abendschatten erfülltes Tal ab, den jenseitigen Hang hinauf und kamen wieder auf ein Plateau. Weit und breit war kein Zeichen von Leben zu sehen, keine Bäume, keine Vögel, kein Grashalm. Nichts als der schwarze silbrige und rote halbmetallische Grund unter uns, eine Kette bläulich dunstverhangener Berge weit voraus und der schimmernde Zylinder der Marathon hinter uns. Das nächste, weniger tiefe Tal wurde von einem reißenden Fluß durchströmt. Am Ufer füllten wir eine Feldflasche mit dem Wasser, um es zur Analyse ins Bordlabor zu bringen. Sam Hignett riskierte einen Mund voll und fand, daß es nach Kupfer schmeckte, aber trinkbar war. Das dahinschießende Wasser wies eine blaßblaue Färbung auf, aber in den tiefen ausgewaschenen Gumpen stand es dunkel und undurchsichtig. Das Ufer bestand aus Ablagerungen, die viel weicher waren als die Oberfläche des Plateaus. Wir setzten uns auf die Böschung und betrachteten den Fluß, der für eine Überquerung viel zu tief und reißend war. Nach einer Weile trieb ein kopfloser Körper in der Strömung kreiselnd und tanzend talwärts.
Der verstümmelte Kadaver hatte vage Ähnlichkeit mit einem riesigen Hummer. Er besaß einen harten, rotbraunen Chitinpanzer, vier Krabbenbeine, ein Paar Hummerscheren und war eineinhalbmal so groß wie ein ausgewachsener Mann. Der Kopfansatz war eine aufgerissene klaffende Wunde, aus der weiße Stränge wie Sehnen oder blutleere Adern baumelten. Wie der fehlende Kopf ausgesehen hatte, konnten wir nur vermuten. Der Kadaver rollte und hüpfte im aufgewühlten Wasser vorbei, während wir von seiner stummen Drohung gepackt
starr dasaßen und ihm nachblickten, bis er außer Sicht kam. Was unsere Gedanken beschäftigte, war nicht die Frage, wie der Kopf ausgesehen haben mochte, sondern wer ihn entfernt hatte und aus welchem Grund. Keiner sagte etwas. Kaum hatte die schnelle Strömung uns vom grausigen Anblick des Kadavers erlöst, da erhielten wir einen zweiten Beweis für das Vorhandensein von Leben auf diesem Planeten. Zehn Schritte zu meiner Rechten befand sich ein Loch in der Uferböschung. Nun kam ein Geschöpf herausgeglitten, schlüpfte zum Wasser hinunter und trank in anmutigen kleinen Schlucken. Vierbeinig und mit einem langen, dreikantigen Schwanz ausgestattet, glich das Tier einem Leguan. Es hatte eine glatte schwarze Haut, die wie mit Silber durchwirkt schimmerte. Die Pupillen waren schwarze Schlitze in silbrigen Augäpfeln, und seine Länge war stattlich: mit Schwanz etwa zwei Meter. Nachdem es sich sattgetrunken hatte, drehte es sich um, sah uns und verharrte bewegungslos. Ich tastete nach meiner Strahlpistole für den Fall, daß das Wesen auf aggressive Gedanken käme. Es beäugte uns eingehend, dann öffnete es seine Kiefer zu einem weit klaffenden Gähnen, das uns einen geräumigen schwarzen Schlund und zwei Doppelreihen ebenfalls schwarzer Zähne zeigte. Mehrere Male wiederholte es diese Demonstration seiner Beißfähigkeit, bevor es sich zum Handeln entschloß und – Gott ist mein Zeuge – die Böschung heraufkam, am Ende unserer Reihe Posten bezog, sich niederließ und wie wir zum Fluß hinunterstarrte. Ich habe nie ein verrückteres Schauspiel gesehen als das, was wir in diesem Augenblick geboten haben müssen. Da war der Roboter Jay Score, riesig und glänzend, mit seinem unbewegten Ledergesicht. Neben ihm Sam Hignett, unser farbiger Arzt, dann Brennand, ein breiter kleiner Mann mit gelichtetem rötlichem Haar, und daneben Kli Yang, ein
gummihäutiger, tentakelbewehrter, glotzäugiger Marsbewohner. Schließlich ich, ein bereits ergrauender Erdenbewohner, und zuletzt diese schwarzsilberne fremde Echse oder was immer sie sein mochte. Und wir alle starrten in wortlos düsterem Schweigen zum Fluß hinunter. Noch immer sagte keiner etwas. Niemand schien geeignete Worte zu finden. Ich dachte an den jungen Wilson und wie besorgt er einen mit dieser Szene belichteten Film bemuttern würde. Ein Jammer, daß er nicht dabei war, um sie für alle Zeiten festzuhalten. Dann, während wir den Fluß beobachteten, kam ein zweiter Körper in der Strömung dahergeschwommen, genau wie der erste und ohne Kopf. »Jemand scheint hier nicht beliebt zu sein«, bemerkte Brennand, des langen Schweigens überdrüssig. »Sie sind unabhängig«, erklärte der Leguan. »Wie ich.« »Was?« Noch nie waren fünf Leute schneller auf den Beinen. »Bleibt da«, riet uns die Eidechse. »Vielleicht bekommt ihr was zu sehen.« Sie drehte den Kopf zu Brennand, dann machte sie sich auf und krabbelte zu ihrem Loch. Der schwarze Schwanz schimmerte silbrig, dann war sie verschwunden. »Nun«, sagte Brennand schweratmend. »Ich will verdammt sein!« Einen benommenen Ausdruck in den Augen, näherte er sich dem Loch, ließ sich auf alle Viere nieder und rief: »He!« »Der ist nicht da«, antwortete das Ding von irgendwo in der Tiefe. Brennand drehte den Kopf und gab uns einen Blick wie ein verwundeter Spaniel. Dann befeuchtete er seine Lippen und fragte in das Loch: »Wer ist nicht da?« »Ich«, sagte die Eidechse. Brennand stand bestürzt auf und starrte zu uns herüber. »Habt ihr gehört, was ich gehört habe?«
»Du hast nichts gehört«, erklärte Jay Score, bevor einer von uns antworten konnte. »Es hat nicht gesprochen. Ich habe es genau beobachtet, und es bewegte weder Mund noch Kehle. Es hat rein animalische Gedanken gedacht, die ihr telepathisch empfangen und, natürlich, in menschliche Denkweise übertragen habt. Aber weil ihr normalerweise nicht für telepathische Gedankenübertragungen empfänglich seid und noch nie zuvor etwas angetroffen habt, das auf der menschlichen Wellenlänge sendet, glaubtet ihr das Tier sprechen zu hören.« »Bleibt da«, wiederholte die Eidechse. »Aber nicht vor meinem Bau. Ich mag kein Aufsehen. Das ist gefährlich.« Wir entfernten uns gehorsam. Jay nahm sein Radiofon. »Ich werde ihnen von den Körpern erzählen und fragen, ob wir ein paar Kilometer flußaufwärts die Gegend erforschen dürfen.« Er drehte einen kleinen Schalter, und das Instrument machte Geräusche wie ein Wasserfall. Jay schaltete auf Sendung und rief einigemal die Schiffsstation, bevor er auf Empfang zurückschaltete. Erneutes Rauschen belohnte seine Mühe. »Atmosphärische Störungen«, mutmaßte Sam Hignett. »Ich würde es auf einer anderen Wellenlänge probieren.« Das Radiofon hatte nur eine begrenzte Bandbreite, aber Jay drehte die ganze Skala durch. Der Wasserfall verrauschte und wurde von einem unheimlichen vielstimmigen Zirpen abgelöst, wie wenn eine Million Grillen durcheinandergeigten. Darauf folgten ein hoher, durchdringender Pfeifton und ein weiterer Wasserfall. »Das gefällt mir nicht«, sagte Jay und schaltete ab. »Dieser Planet sieht zwar leer aus, aber dafür liegt zuviel in der Luft. Wir kehren um. Kommt mit, gehen wir – schnell.« Er erklomm eilig den Hang und erreichte die Höhe. Seine mächtige Gestalt hob sich scharf gegen den Abendhimmel ab und erinnerte mich für einen Moment an einen jener
sagenhaften Riesen aus alten Erzählungen. Er gab den Schritt an und machte den Rückweg für uns andere zu einem anstrengenden Eilmarsch. Aber wir bedurften keiner zusätzlichen Anfeuerung. Sein Unbehagen war auf uns übergegangen. Diese enthaupteten Kadaver…
McNulty hörte uns an, ließ Steve Gregory kommen und befahl ihm, sämtliche Bandbreiten abzusuchen. Steve eilte in seine Radiostation zurück und war nach zehn Minuten wieder da, sorgenvolle Falten auf der Stirn. »Skipper, der ganze Äther ist lebendig, vom Zweihundertmeterband bis zur Ultrakurzwelle. Da ist kein Platz, um auch nur ein Wort hineinzuschmuggeln.« McNulty nickte. »Und was ist das für ein Kauderwelsch?« »Man kann drei Geräusche unterscheiden«, antwortete Steve. »Einmal sind da gleichmäßige und anhaltende Pfeiftöne, die vielleicht Richtungssignale darstellen. Dann gibt es acht Wasserfälle von beträchtlicher Intensität. Ich vermute, daß es sich um Energieausstrahlungen handelt. Dazwischen herrscht eine wahre Orgie von zirpenden und schnatternden Geräuschen, die den Schluß nahelegen, daß es hier von Leben wimmelt.« Er sah McNulty an und trieb Augenbrauenakrobatik, was um so eindrucksvoller wirkte, als er über sehr buschige und daher besonders geeignete Brauen verfügte. »Auf dem Bildschirm ist außer den üblichen Störungsmustern nichts zu sehen.« Einer der Regierungsexperten blickte neugierig aus der nächsten Sichtluke. »Wenn dieser Planet dicht besiedelt ist, müssen wir zufällig in der hiesigen Sahara gelandet sein.« »Wir werden ein Rettungsboot mit drei Mann aussenden«, entschied McNulty. »Sie können sich eine halbe Stunde lang umsehen. In der Zeit können sie ein Gebiet von fünfhundert
Kilometern Länge überfliegen und noch vor Dunkelwerden zurück sein.« Die meisten von uns hätten gern einen neuen glücklichen Griff in den Hut mit den Losen getan, aber diesmal suchte McNulty die drei Männer selbst aus. Einer war ein Regierungsbiologe namens Haines, die beiden anderen waren Ingenieure mit Pilotenscheinen für Rettungsboote. Es dauerte nicht länger als vier Minuten, um ein Rettungsboot an seinen automatischen Davits auszuschwenken und auf den Boden zu senken. Die drei kletterten an Bord. Jeder hatte eine Strahlpistole bei sich. Dazu war das Boot mit einer Schnellfeuerkanone im Bug und einem halben Dutzend Miniatur-Atombomben ausgerüstet. Man konnte jedenfalls nicht sagen, daß die kleine Expedition unzureichend bewaffnet gewesen wäre. Nicht, daß wir einen echten Konflikt erwarteten oder provozieren wollten, aber auf einem fremden Planeten mußte man auf alles gefaßt sein. Fauchend und heulend schoß das zwölf Tonnen schwere zylindrische Beiboot davon und kurvte himmelwärts. In ein paar Sekunden war es nur noch ein blitzender Stecknadelkopf, dann verschwand es ganz. Steve hatte auf dem Vierundzwanzigmeterband eine Verbindung hergestellt und war nun in ständigem Kontakt mit dem Rettungsboot. Sein Gesprächspartner an der Beobachtungsluke des Bootes war der Biologe Haines. Wir alle verfolgten den Flug der Expedition. »Entfernung achtzig Kilometer, Höhe dreitausendfünfhundert Meter. Berge voraus. Wir steigen«, meldete Haines. Nach kurzer Stille: »Höhe achttausend Meter. Unter uns der Gebirgskamm. Auf der anderen Seite zerschneidet eine lange, gerade, künstlich aussehende Linie das Hügelland. Wir gehen herunter… Ja, es ist eine Straße!« »Ist jemand zu sehen?« fragte Steve.
»Bisher noch nicht. Die Straße scheint in ausgezeichnetem Zustand zu sein. Nun kommt eine andere Straße in Sicht, etwa sechzig Kilometer voraus. Sie kreuzt die erste. Wir nähern uns rasch. Es scheint – ja, man sieht Fahrzeuge, die sich sehr schnell dahinbewegen.« Wieder trat eine Pause ein. Wir konnten vor Ungeduld nicht stillhalten. »Mein Gott, da sind Dutzende…« Die Stimme brach ab und verstummte. Aus dem Äther kam nichts als ein raschelndes Geräusch wie von toten Blättern, die vom Wind zusammengefegt werden. Steve drehte verzweifelt an den Knöpfen seines Empfängers, stellte ein, lauschte und versuchte alles, um die Stimme zurückzubringen, die so plötzlich verstummt war. Aber da war nichts mehr, nichts als das unheimliche Rascheln und Flüstern auf Vierundzwanzig. Die Mannschaft gierte danach, ein zweites Rettungsboot auszusenden. Wir hatten vier von den kleinen Booten an Bord, dazu die etwas größere Pinasse. Aber McNulty wollte nichts davon wissen. »Nein, Leute«, sagte er fest. »Eine Gruppe ist genug. Wir werden hier warten. Es ist nicht gesagt, daß das Boot in Gefahr ist. Vielleicht haben wir es nur mit einer Funkstörung zu tun. Wenn es bei Tagesanbruch noch nicht zurückgekehrt ist, werden wir Nachforschungen anstellen.« Das Beifallsgemurmel verstummte unter dem Eindruck eines tiefen und fernen Dröhnens, das von außen zu kommen schien. Es war ein seltsam fremdes und doch gewohntes Geräusch, und vom heimkehrenden Rettungsboot konnte es nicht ausgehen. Wir stürzten hinaus und spähten zum Himmel empor. Wir sahen sie sofort: drei, vier, fünf lange schwarze Raketenschiffe in Keilformation. Wilsons griesgrämiges Gesicht hellte sich auf; mit einem aufgeregten Schrei riß er seine Kamera aus der Tragtasche,
schraubte ein Teleobjektiv auf und peilte die schwarzen Dinger an. Keiner von uns hatte in der Eile daran gedacht, einen Feldstecher mit ins Freie zu nehmen, aber Jay Score benötigte keinen. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtete das Schauspiel am Himmel. »Fünf«, sagte er endlich, »zehntausend Meter hoch und immer noch steigend. Entweder sind sie schwarz gestrichen, oder sie bestehen aus einem schwarzen Metall. Die Konstruktion hat keine Ähnlichkeit mit uns bekannten Formen. Die Heckrohre scheinen nicht verkleidet zu sein, und sie haben vorn und achtern große Stabilisierungsflächen.« Er blickte ihnen noch nach, als mir schon lange der Nacken schmerzte. Die fünf Maschinen kamen außer Sicht. Sie hatten die Marathon überflogen, ohne sie zu sehen. Aus ihrer Flughöhe betrachtet, konnte unser Schiff nicht größer als eine Stecknadel sein. »Sie sind gar nicht so rückständig«, zirpte Kli Morg. »Sie haben Raketenschiffe, sie köpfen Hummer, und wahrscheinlich sind sie gegen Fremde instinktiv feindlich eingestellt.« »Gut«, sagte Jay Score unbewegt. »Gehen wir hinein und warten wir auf den Morgen.« »Richtig«, pflichtete ihm McNulty bei. »Morgen werden wir einigen dieser Geheimnisse auf den Grund gehen-, ob das Boot zurückkommt oder nicht.« Er konnte nicht wissen, daß seine Prophezeiung sich auf eine ganz andere Weise bewahrheiten sollte, als sie gemeint war. Und der junge Wilson hätte beim Entwickeln seiner Aufnahmen nicht halb so schrill und glücklich gepfiffen, wenn er gewußt hätte, daß sie vierundzwanzig Stunden später für immer verloren sein würden.
Ein Ingenieur der Nachtwache sah die Maschinen zuerst. Sie tauchten eine Stunde vor der Dämmerung ganz plötzlich auf, geisterhafte Formen, wie Nachttiere verstohlen umherhuschend und im matten Schimmer des sterbenden Sternenlichts kaum auszumachen. Zuerst hielt der Ingenieur sie für Tiere, aber seine Zweifel wuchsen, und schließlich betätigte er die Alarmanlage, und wir rasten auf unsere Stationen. Zwei Mann schleppten einen tragbaren Suchscheinwerfer an eine der Luken und ließen seinen grellen Lichtkegel in das trübe Zwielicht hinaustasten. Etwas Großes und Glänzendes geriet in den Scheinwerferkegel und entwich prompt in die Dunkelheit. Das Ausweichmanöver war so schnell, daß niemand mehr als einen flüchtigen Blick auf den Gegenstand werfen konnte. Ich gewann den unbestimmten Eindruck einer mit Armen oder Greifern besetzten Kugel, die in der vertikalen Ebene von einem Ring wie einer Radfelge umgeben war. Auf diesem Ring schien sie erstaunlich beweglich hierhin und dorthin zu rollen. Der Scheinwerfer konnte den Bewegungen des Objekts nicht folgen, weil der Blickwinkel durch die Lukengröße beengt war und der Scheinwerfer nicht weit genug geschwenkt werden konnte. Wir warteten eine Weile gespannt und erwartungsvoll, aber der Lichtkegel blieb leer, obwohl wir fühlten, daß sich außerhalb seines Bereichs viele Dinge bewegten. Wir suchten noch ein paar Suchscheinwerfer zusammen und brachten sie hinter anderen Luken in Position. Nun versuchten wir unsere Belagerer zu überraschen und schalteten die Scheinwerfer in unregelmäßigen Abständen ein und aus. Diese Methode war wirksamer. Wieder sahen wir für einen Augenblick das kugelförmige Ding, wie es vor dem plötzlich aufflammenden Lichtbalken davonschoß.
Eine Minute später illuminierte der zweite Scheinwerfer einen riesigen Metallarm aus Rohrgestänge, der sich schwerfällig aufwärts in die Dunkelheit hob. Am Ende dieses Armes war etwas Großes und Brutales, und eine Hand war es nicht. Das Ding erinnerte mich an einen Abbruchbagger. »Hast du das gesehen?« brüllte Steve, sein Gesicht war hinter dem Scheinwerfergehäuse verborgen, aber ich wußte, daß seine Augenbrauen ganz oben waren. Brennand, der neben mir an der Luke stand, atmete schwer und keuchend. Die Scheinwerfer verbreiteten einen Geruch von erhitztem Metall. Vom Heck kamen kratzende und klopfende Geräusche. Das war unser toter Punkt, weil dort die Abgasrohre unserer Triebwerke lagen und wir nicht sehen konnten, was vorging, ohne das Schiff zu verlassen. McNulty bellte einen Befehl, und zwei Ingenieure rannten nach achtern. Wir hatten keine Ahnung von den Fähigkeiten dieser fremden Dinger, aber wenn sie die auswechselbaren Rohre zerstörten oder abmontierten, wären wir dazu verdammt, auf unabsehbare Zeit in dieser Einöde zu liegen. »Es wird Zeit, daß wir uns entscheiden«, meinte Jay Score. »Wieso?« fragte McNulty. »Ob wir hinausgehen und ihnen guten Morgen sagen, oder ob wir starten und sie stehenlassen.« »Ja, ja, ich weiß.« McNulty war in Sorge und gereizt. »Aber wir wissen immer noch nicht, ob sie freundlich oder feindlich gesonnen sind«, meinte er. »Ich kann nicht annehmen, daß sie in feindseliger Absicht gekommen sind, und ich darf aus Gründen der Sicherheit nicht annehmen, daß sie es gut mit uns meinen. Wir müssen vorsichtig sein. Die Behörden zu Hause dulden nicht, daß Eingeborene ohne zwingenden Grund schlecht behandelt werden.« »Ich schlage vor«, sagte Kli Yang, »daß wir die Steuerbordluke öffnen. Wenn einer von ihnen vorbeikommt,
ziehen wir ihn herein. Vielleicht ist eine Verständigung möglich.« Prrrang! Ein lautes und metallisches Klirren kam von achtern und hallte durch das ganze Schiff. McNulty zuckte zusammen, öffnete den Mund und schloß ihn wieder, als wütendes Gebrüll aus dem Maschinenraum drang. Im nächsten Augenblick röhrten die Triebwerke auf, und das ganze Schiff schoß auf dem Bauch rutschend zwanzig Meter vorwärts.
Jay Score half dem flach am Boden liegenden Skipper auf die Beine. »Andrews scheint die Frage entschieden zu haben«, sagte er trocken. »Er läßt niemanden an seinen Abgasrohren herumspielen.« Zornige Flüche und unterdrückte Verwünschungen kamen auch weiterhin aus dem Maschinenraum. McNulty war klug genug, Chefingenieur Andrews nicht zu behelligen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er stellte sich neben Jay Score an einen der Scheinwerfer und machte einen Mechanismus aus, der sich eilig aus dem hinausschießenden Lichtkegel davonmachte. »Wir haben die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten«, sagte er zu Jay. »Entweder wir starten, oder wir sorgen dafür, daß sie unser Schiff in Ruhe lassen. Die erste Möglichkeit kann den endgültigen Verlust unseres Rettungsbootes und seiner Besatzung bedeuten. Die zweite Möglichkeit wird uns allen Anschein nach in eine Auseinandersetzung verwickeln, bei der es hart hergehen kann.« Er blickte umher, fand Steve Gregory und nickte ihm zu. »Steve, sehen Sie zu, daß Sie doch noch eine Verbindung mit dem Rettungsboot zustande bringen. Klappt es nicht, senden Sie Peilsignale. Vielleicht werden sie von unseren Leuten aufgefangen, so daß sie sich orientieren können.«
»In Ordnung, Skipper«, sagte Steve und eilte mit zuckenden Augenbrauen davon. Fünf Minuten später kam er zurück. »Kein Pieps, Skipper.« McNulty wandte sich um. »Macht euch fertig, Leute. Wir gehen hinaus. Bringt einen Scheinwerfer in die SteuerbordLuftschleuse, damit der Lichtkegel durch die Türöffnung fallen kann.« Er brach ab und suchte nach einem Halt, als die Marathon plötzlich einen Stoß bekam, sich bedrohlich neigte und schwerfällig wieder zurückrollte. »Und stellt neben dem Scheinwerfer eine Schnellfeuerkanone auf.« Seine Zuhörer rannten los. Der Skipper blieb mit Jay Score und zwei Ingenieuren zurück, die den Suchscheinwerfer bedienten. Er pustete und wischte sich die Stirn. »Ich denke lieber nicht an die Kraft, die unsere Tonnage herumrollen kann, wie sie eben herumgerollt worden ist.« Klink-klink-klank! Das Geräusch hallte wie ein Gong durch die Metallgehäuse der Marathon und übertönte meine Flüche in der Waffenkammer, wo ich alle Hände voll zu tun hatte, um die hereindrängende Mannschaft abzufertigen. Ein zweiter, noch heftigerer Stoß folgte. Der Boden unter mir kippte um mindestens fünfzehn Grad, aber das Beharrungsvermögen des Schiffes war größer als die fremde Gewalt und ließ es wieder zurückfallen. Als alle versorgt waren, raffte ich einen Armvoll Munitionsgurte für die Schnellfeuerkanone an mich und eilte zur Luftschleuse. Jay Score wartete vor der inneren Tür, schweigend, die langen Beine gespreizt, und beobachtete den Mechanismus des automatischen Türöffners. Langsam hob sich die schwere Tür an ihren armdicken Gewindestangen von der Bordwand ab und löste sich wie ein riesiger Metallstöpsel von der Öffnung. Der Hebelarm schob sie zur Seite, und im selben Augenblick erfüllte der Scheinwerfer den Durchgang mit seinem grellen Licht.
Wir hörten eine Anzahl klingender, kratzender und klappernder Geräusche in der trüben Dämmerung, aber die Öffnung blieb leer. Wahrscheinlich dachten die Eingeborenen, daß es weiter nichts als ein neues Fenster sei. Erwartungsvoll und in stummer Erregung standen wir da, aber nichts passierte. Schließlich wagte sich Drake, der zweite Navigationsoffizier, überaus mutig vor, trat in den Lichtkegel und ging langsam auf die ovale Öffnung zu. Er erreichte den äußeren Rand und blickte hinunter. Im nächsten Moment stieß er einen erschrockenen Schrei aus und wurde aus der Öffnung fortgerissen. Ein großer, breitschultriger und säbelbeiniger Ingenieur war Drake gefolgt und sprang geistesgegenwärtig vor, um den Unglücklichen zurückzureißen. Er kam zu spät, stand einen Augenblick verdutzt in der Öffnung, um Drake nachzuschauen, und wollte sich gerade umdrehen, als er selbst ein zorniges Grunzen von sich gab und rücklings in die Dunkelheit hinausgewischt wurde. Inzwischen war Brennand bis in die Mitte der Schleusenkammer vorgedrungen, blieb aber stehen, als McNulty eine Warnung brüllte. Brennand wurde nicht gefangen. Etwas von draußen versuchte ihn in der Kammer zu greifen, doch während er zappelte und sein Schrei in unserem vielstimmigen Aufheulen unterging, schnellte der Tentakel eines unserer Marsleute heraus, wand sich um Brennands Leib und zerrte ihn zurück. Es mußte eine gewaltige Kraft sein, die ihn hinauszog, beurteilte man sie an Kli Yangs Saugnäpfen, die sich breit wie Teller an die Bodenplatten klammerten. Mit grimmiger Ruhe fragte McNulty: »Was war das, Brennand?« Bevor der andere antworten konnte, ging unmittelbar vor der Öffnung ein ohrenbetäubendes Dröhnen, Klappern und Schlagen los. Ein großer schimmernder Körper mit
abgeplatteter Frontseite mühte sich herein. Ich konnte ihn im Scheinwerferlicht gut erkennen, jedenfalls seine kastenartige Vorderseite mit einer spiraligen Kupferantenne oben und zwei großen Linsen, die unverwandt ins Licht starrten. Der Schütze hinter der Schnellfeuerkanone wartete nicht lange auf McNulty und eröffnete das Feuer. Der Lärm war furchtbar. Die beiden Läufe spuckten einen Hagel von 25Millimeter-Geschossen durch die Türöffnung. Die eindringende Kreatur schien sich vor unseren Augen aufzulösen. Verbogene Metallfetzen, Splitter einer glasartigen Substanz, Patronenhülsen und elektrische Verdrahtungen flogen in alle Richtungen. Der Eindringling war kaum fort, da tauchte ein weiterer auf und spähte in das Inferno. Wieder die flache Vorderseite, die Kupferantenne, die kalten, ausdruckslosen Augenlinsen. Auch dieser flog auseinander. Noch einer und noch einer. Der Kanonier war wild vor Erregung und verfluchte seine Ladeschützen wegen ihrer Langsamkeit. Auf die Zerstörung des vierten Monstrums folgte eine kurze Stille, die nur vom Rasseln der frischen Munitionsgurte unterbrochen wurde, mit denen das Geschütz gefüttert wurde. »Nun«, meinte McNulty, »die Behörden zu Hause können uns keine Schwierigkeiten machen. Nicht, nachdem wir zwei meiner Leute weggenommen wurden und die Fremden das Schiff entern wollten, vom Rettungsboot ganz zu schweigen.« Das Bewußtsein, ein reines Gewissen zu haben, schien ihm eine große Befriedigung zu verschaffen. Jemand stürmte durch den Korridor und in die Luftschleuse. »Scheinwerfer Nummer drei hat soeben Drake und Minshull ausgemacht. Sie werden fortgeschafft.« »Dann sind sie nicht mehr in der Gefahrenzone«, sagte Jay Score. »Gut!« Er stellte sich breitbeinig vor die Öffnung und wog eines jener dicken Eier in der Hand, die als
Taschenatombombe bekannt sind. Ohne seine Augen von der Öffnung abzuwenden, warf er das mörderische Ding spielerisch einen Meter hoch in die Luft und fing es wieder auf. Auf und nieder, auf und nieder, mit einer erschreckenden Nonchalance. Es machte mich so nervös, daß ich nahe am Schreien war und am liebsten auf meinen Zahnprothesen herumgetrampelt hätte. »Jesus Christus, hör endlich auf damit!« brüllte einer, der wie ich fühlte. Jay sah sich um. Seine Augen waren kalt, eiskalt. Dann drückte er den Auslösezapfen mit seinem Daumen ein und warf das Ei in hohem Bogen hinaus. Wir versuchten uns in die Metallplatten des Bodens einzugraben, drückten unsere Nasen platt und warteten. Draußen zuckte ein Blitz von übernatürlicher Helligkeit auf. Ihm folgte ein grauenhaftes Donnern, das Schiff rollte auf die andere Seite und zurück. Ein Hagel aus Steinen und Metallteilen prasselte gegen die Außenwand des Schiffes. Drei Stöße wie von einem Erdbeben folgten. Eine verstümmelte Metallstange mit zwei oder drei Gelenken flog herein und knallte gegen die Rückwand der Schleusenkammer. Etwas wie das dicke Ende eines nautischen Teleskops prallte vom Schild der Kabine ab, zischte knapp über den dicken Nacken des flach hingestreckten Skippers und riß eine lange Schramme in den Stahlboden. Wenn wir nach diesem Gewaltstreich eine längere Stille draußen erwartet hatten, sahen wir uns getäuscht. Der Nachhall der Explosion war kaum vergangen, da kam das Kreischen gewaltsam zerrissenen Metalls von achtern. Klappernde Füße, rasselnde und knirschende Geräusche näherten sich. Hinter dem Maschinenraum brüllte jemand los, würgte, gurgelte und verstummte.
Fremdartige Monstrositäten stürmten durch die Luftschleuse, als wir unsere Aufmerksamkeit der drohenden Gefahr aus einer neuen Richtung zuwenden wollten. Der Kanonier blieb auf seinem Posten und feuerte durch die Türöffnung, ohne sich um das zu kümmern, was hinter seinem Rücken vorging. Aber durch das aufgerissene Heck ergoß sich ein metallischer Zoo durch Korridore und Gänge ins Schiffsinnere. Die nächsten beiden Minuten vergingen wie zwei Sekunden. Ich sah eine radgegürtete Kugel in den Raum wirbeln, gefolgt von einem alptraumhaften Sortiment metallischer Dinger, manche mit gegliederten Beinen und zangenförmigen Vordergliedern, andere mit langen Greifarmen und grotesken, fremdartigen Werkzeugen. Eine zupackende Zange glühte am Gelenk dunkelrot auf und fraß sich bewegungsunfähig fest, als ein gut gezielter Feuerstrahl ihren schwachen Punkt fand. Aber ihr sargförmiger Besitzer drang weiter vorwärts, als wäre nichts geschehen. Ich sah, wie Wilson eine der beiden Linsenfassungen wegbrannte, daß die Augenlinse herausfiel. Dann wurde er von dem Monstrum gepackt. Die Schnellfeuerkanone hörte plötzlich auf zu hämmern und fiel auf die Seite. Etwas Kaltes, Hartes und Gleitendes schlang sich um meinen Leib und riß mich hoch. Rücklings und wie ein umgedrehter Krebs zappelnd, von meinem Fänger unbarmherzig in der Luft gehalten, wurde ich durch die Luftschleuse geschleppt. Unterwegs sah ich ein von Werkzeugen starrendes Gebilde den rundlichen, wild sich windenden Körper des Skippers umklammern und auf ähnliche Weise forttragen. Mein letzter Blick in das Getümmel an Bord zeigte mir eine metallische Kugel, die anscheinend zur Decke emporschwebte. Sie kämpfte mit ihren dünnen Metallgliedern gegen das Ende eines dicken Taues, das sie nicht loslassen wollte. McNulty
und sein Fänger versperrten den Blick auf das weitere Geschehen, aber ich vermutete, daß einer der Marsleute sich an der Decke angesaugt hatte und Gegner aus dem Kampfgetümmel fischte. Das Ding unter mir lief in schnellem, stoßendem Trab auf den trübroten Horizont zu. Die Dämmerung legte fahles Licht über die trostlose Landschaft. In zwanzig Minuten mußte die Sonne aufgehen. Ich lag auf dem flachen, ebenen Rücken meines Trägers, ein Kabel um meine Brust, ein zweites Kabel um den Bauch. Ein mehrgliedriger Arm hielt meine Beine fest. Ich konnte mit den Füßen wackeln, und in meiner Rechten hielt ich noch immer die Strahlpistole, aber ich lag auf dem Rücken und wurde viel zu fest gehalten, um die Waffe sinnvoll einzusetzen. Zwanzig Meter hinter mir wurde McNulty wie ein Mehlsack dahingeschleppt. Sein Träger war anders als der meine, größer und schwerer, mit acht vielgliedrigen Beinen und einem Dutzend Armen unterschiedlicher Länge. Vier dieser Arme hielten den zuckenden Skipper nieder, zwei waren wie bei einer Gottesanbeterin vorgestreckt, und die restlichen zwei waren flach an die Seiten des Ungetüms gelegt. Wir passierten andere Maschinen. Eine größere Gruppe von ihnen hatte sich um das beschädigte Heck der Marathon versammelt, große und kleine, hohe und niedrige. Zwischen ihnen ragte der monströse Automat mit dem Baggerarm auf. Er hockte am Ende eines tiefen Grabens, den er unter den Hecktriebwerken ausgehoben hatte. Ein halbes Dutzend Maschinen zog die unteren Abgasverbrenner heraus. Die oberen waren schon draußen und lagen wie gezogene Zähne herum. Nun, dachte ich bitter, soviel für Herrn Flettner und sein Genie. Wäre dieser Gehirnmensch nie geboren worden, säße ich jetzt gemütlich an Bord der guten alten Upskadaska.
Das Ding, auf dem ich meinen unfreiwilligen Ritt machte, beschleunigte sein Tempo und ging in einen unbeholfenen Galopp über. Ich konnte den Kopf nicht weit genug drehen, um es genauer zu betrachten. Seine Umklammerung war unnachgiebig und schmerzhaft. Ich konnte die Metallfüße hören, wie sie über den harten Grund klapperten, aber alles, was ich sehen konnte, war die auf und ab stoßende Gelenkpfanne eines Beins, aus der stark riechendes Mineralöl sickerte. Hinter mir beschleunigte auch McNultys Metallkäfer seinen Trott. Das Tageslicht wurde stärker. Wenn ich den Kopf so weit wie möglich hob, konnte ich eine wahrhafte Prozession beladener Maschinen sehen, die sich bis zum Schiff erstreckte. Nach etwa einer Stunde machte mein Bewacher halt und lud mich ab. Wir mußten ungefähr vierzig Kilometer zurückgelegt haben, und mein Körper war wie gerädert. Die Sonne stand am Himmel, und wir befanden uns am Rand einer breiten, glatten Straße mit einem Belag aus stumpfem, bleifarbenem Metall. Ein sargförmiges Objekt von über zwei Metern Länge – das fantastische Pferd, auf dem ich rücklings liegend geritten war – betrachtete mich mit seinen entsetzlich gefühllosen Linsen. Ohne seinen Griff zu lockern, stieß es mich durch die Tür eines wartenden Fahrzeugs. Dies war ein großes, kastenförmiges Ding auf Doppelrädern und mit der unvermeidlichen Kupferantenne ausgerüstet. Ich hatte gerade noch Zeit, einige weitere Karren dieser Art hinter ihm aufgereiht zu sehen, dann wurde ich ins dunkle Innere geworfen. Der Skipper folgte mir eine halbe Minute später, dann Brennand, Wilson, zwei Ingenieure und ein Mann von der Rechenzentrale. Alle stöhnten, ächzten und fluchten.
Die Tür knallte zu und verriegelte sich selbsttätig. Die Maschine setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Es stank nach Öl. Der Skipper schnippte sein Feuerzeug an, und wir sahen uns um. Das Innere unseres fahrenden Gefängnisses war eine drei Meter lange und zwei Meter breite Stahlzelle. Es gab weder Fenster noch einen Ventilator. Der Ölgestank wurde immer intensiver und unerträglicher. Als wir es nicht mehr aushielten, hob Brennand seine Strahlpistole und machte sich daran, ein Loch in die Decke zu schneiden. Nach ein paar Minuten fiel die ausgeschnittene Platte rotglühend heraus. Wenn unser Gefangenentransporter etwas fühlte, merkte er nichts von seiner Verstümmelung, denn er rollte ohne Pause oder Aufenthalt weiter. Entgegen unseren Hoffnungen zeigte sich der Himmel nicht durch das Dach. Keine Wolken, kein Sonnenstrahl grüßte uns, kein willkommener Lichtschimmer drang herein. Über der Stahldecke lag eine dicke Schicht aus dunkelgrünem Material, das gegen unsere Feuerstrahlen unempfindlich war. Versuche an der Tür und den Wänden führten zu keinem besseren Ergebnis. Erst der Boden erwies sich als verletzbar; während die Maschine weiter einem unbekannten Ziel entgegenrumpelte, schnitten wir ein rundes Loch in den Boden. Sofort drang Licht in unseren Kerker, und wir starrten auf eine schnell rotierende Eisenstange, ähnlich einer Kardanwelle. Darunter schoß die Straße vorbei. Brennand zögerte nicht lange. Er brachte seine Strahlpistole in Anschlag und zerschnitt die Kardanwelle. Die Maschine verlangsamte ihre Fahrt und hielt. Wir bereiteten uns auf einen Aufprall vor, aber er blieb aus. Die folgenden Maschinen wichen uns aus und polterten vorüber. Brennand und ich studierten das Loch, während die anderen die Tür beobachteten. McNulty und der Mann aus der Rechenzentrale hatten im Kampf ihre Waffen verloren, doch
einer der Ingenieure hatte seine behalten. Der andere umklammerte einen über einen Meter langen Schraubenschlüssel, mit dem er – wie ein Gerücht wissen wollte – häufig schlief. Wir wußten nicht, ob unser fahrbares Gefängnis einen Lenker hatte, ob es aus’ eigenem Antrieb funktionierte oder ob es in irgendeiner Form ferngesteuert wurde, aber wir waren entschlossen, einen Ausbruchsversuch zu machen, falls der Lenker oder sonst jemand die Tür öffnete. Nichts geschah. Wir warteten fünf gespannte Minuten lang, die ich mit unruhigen Gedanken an unsere Kameraden in den anderen Wagen und das höchst bedrohliche Schicksal verbrachte, dem sie entgegenrasten. Schließlich vergrößerten wir das Loch und hatten es für unseren Zweck fast groß genug gemacht, als etwas Schweres und Großes die Straße entlangrasselte und unserer Maschine einen sanften Stoß versetzte. Ein lautes, metallisches Klingen folgte, und im nächsten Augenblick setzte sich unser Stahlkäfig in Bewegung, langsam zuerst, dann immer schneller. Eine Zugmaschine hatte uns in Schlepp genommen. Die durch das Loch sichtbare Straßendecke flog bald in einem Tempo unter uns vorbei, daß wir jeden Gedanken an eine Flucht auf diesem Weg fallenließen. Sich durch das Loch hinabzulassen, wäre mehr als leichtsinnig gewesen; wenn uns die Räder nicht erfaßten, würden wir sicherlich von irgendeinem dichtauf folgenden Fahrzeug zermalmt. »Das«, sagte McNulty nachdenklich, »ist eine äußerst ärgerliche Entwicklung.« »Ärgerlich?« echote Brennand und warf dem Skipper einen zweifelnden Blick zu. Dann kniete er nieder, steckte sein Gesicht in das Loch und genoß ein paar Atemzüge reiner Luft. Einer der Ingenieure kicherte nervös.
»Ich habe meine Siebenhundert-Dollar-Kamera verloren«, verkündete Wilson. Seine Augen versuchten den Skipper zu durchbohren. »Das ist weit mehr als ärgerlich! Ich werde es den Verantwortlichen bei der ersten Gelegenheit heimzahlen!« »Hier ist deine verdammte Kamera«, knurrte Brennand, stand auf, zog das Ding aus der Tasche und reichte es ihm. Die Kamera war kaum größer als eine Zigarettenpackung. »Du hast sie verloren, als sie dich aus dem Schiff schleiften. Ich nahm sie an mich, bevor sie mich packten.« »Danke – danke«, stammelte Wilson. »Du bist ein richtiger Kumpel!« Er betastete die kleine Kamera mit liebevollen Fingern. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.« Einer der Ingenieure hockte sich neben das Loch und versuchte die Geschwindigkeit zu schätzen. »Wenn ich wüßte, daß hinter uns keine anderen Fahrzeuge kommen…« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, dann sagte er: »He, setzt euch auf meine Beine, dann kann ich Kopf und Schultern durch das Loch stecken und Ausschau halten.« »Nichts da!« sagte McNulty scharf. »Wir fahren viel zu schnell, um einen Absprung riskieren zu können. Wir bleiben zusammen und nehmen gemeinsam auf uns, was die Zukunft bringt.« So saßen wir dann herum, die Rücken an den kalten Wänden, und betrachteten sehnsüchtig das runde helle Loch in unserer Mitte. Jemand kramte eine Packung Zigaretten heraus und reichte sie herum. Wir rauchten in trübseliger Stille. Nach längerer Zeit hielt unser Fahrzeug. Ringsum knirschten und schepperten irgendwelche metallischen Werkzeuge und Maschinen, vielleicht andere Fahrzeuge. Unser Käfig erzitterte, als ein unsichtbarer Koloß vorbeipolterte und den Erdboden mit seiner Tonnage erschütterte. Auf der anderen Seite schnurrte etwas wie ein Dynamo, kam näher und schien vor unserer Tür haltzumachen. Wir standen gespannt und
wachsam an den Wänden, die Augen unverwandt auf die Tür gerichtet. Wer eine Strahlpistole hatte, hielt sie schußbereit. Mit überraschender Schnelligkeit glitt die Tür zurück. Ein dicker, vielgliedriger Metallarm langte herein und fühlte blindlings herum. Ich starrte noch auf das blanke Ungetüm und zielte unschlüssig auf das unterste Gelenk, als einer unserer Ingenieure die Greifklauen unterlief und mit einem trotzigen Triumphschrei hinaussprang. Der bedrohliche Arm war eben im Begriff, sich den Skipper zu greifen, als ich feuerte. Der Glutstrahl traf genau das hintere Gelenk, und der ganze Arm verlor seine Beweglichkeit. Während ich mich zurückzog, folgte der zweite Ingenieur seinem Kollegen ins Freie. Es war der Mann mit dem langen Schraubenschlüssel. Draußen kam es zu einem kurzen und harten Kampf. Wir sahen uns etwa vierzig Maschinen verschiedener Typen gegenüber. Einige waren nicht größer als Hunde und beschränkten sich darauf, hierhin und dorthin zu laufen und das Geschehen zu beobachten. Die größte Maschine war ein Monstrum von der doppelten Größe eines Pullmanwagens und besaß einen riesigen teleskopischen Arm, der in einer mächtigen schwarzen Scheibe endete. Fünf Schritte vor der Tür zappelte der erste Ingenieur im Griff eines vielarmigen Sarges und versuchte die Augenlinsen des Apparates zu zerstören. Der mit dem Schraubenschlüssel hatte sich mit einer Kugel eingelassen und hämmerte vergeblich und mit lauten Verwünschungen auf die Ansätze der tentakelartigen Kabel los, die der Kugel entsprossen und ihn in heilloser Verstrickung umschlangen. Zur Linken rannte eine hohe Maschine, die in ihrer scheinbar sinnlosen Gestalt der Vorstellung eines betrunkenen Surrealisten von einer Giraffe entsprechen mochte, mit McNulty davon. Sie hatte vier Arme, die den glücklosen
Skipper festhielten, vier gewaltig ausschreitende Beine und einen Teleskop-Hals, an dessen Ende eine einzige große Linse saß. McNulty wand sich und zuckte in seinem vergeblichen Bemühen, von seinem Entführer loszukommen. Die Vorderglieder vorgestreckt, trampelte ein glasig starrender Sarg auf mich zu, wohl um mich auf seinen breiten Rücken zu verladen. Er war schon so nahe, daß mir der charakteristische Geruch von warmem Maschinenöl in die Nase stieg. Ich wich aus seiner Reichweite zurück, und prompt schoben sich seine Vorderglieder weitere dreißig Zentimeter aus dem Metallkörper. Mein Rückzugsversuch kostete mich beinahe meinen unachtsamen Kopf. Ich stolperte und fiel, und im nächsten Augenblick wischte seine Hand, groß wie eine Bärenfalle, scharf über meine Haarspitzen. Die Lautlosigkeit dieses ganzen Kampfes hatte etwas Unheimliches. Unsere Gegenspieler machten kein Geräusch, wie es Stimmbänder erzeugt haben könnten. Außer unseren eigenen Grunzlauten und keuchend hervorgestoßenen Verwünschungen waren nur das leise Summen verborgener Getriebe, das Aneinanderschlagen metallener Glieder und das Stampfen massiver Beine zu hören. Mein Gegner langte herunter, als ich fiel, aber ich wälzte mich fort und rollte, wie ich noch nie gerollt war, und konnte so seinem Zugriff und den stampfenden Stahlbeinen ausweichen. Mein Glutstrahl schoß gegen seine flache Unterseite, richtete jedoch nichts aus. Ich kam frei und sprang auf. Nach einem Ausweg suchend, fiel mein Blick auf den Körper des Mannes aus der Rechenzentrale. Sein zermalmter Schädel lag abgetrennt daneben. Schwindlig vor Übelkeit drehte ich mich wieder um und wollte nach dem Sarg sehen, aber da zielte das Pullman-Ding, das bisher nicht am Kampf teilgenommen hatte, mit seiner großen Scheibe auf mich und
badete mich in einem hellgrünen Lichtkegel. Wie ich später entdeckte, sollte dieser Lichtstrahl die Radiosteuerung meines Bewegungsmechanismus blockieren und mich in eine Art Todesstarre versetzen. Aber da ich meine eigene Steuerung hatte, blieb die Waffe nichts als hellgrünes Licht. Die Kugeln waren die bei weitem schnellsten dieser verrückten Supermaschinen, und eine solche Kugel war es, die mich schließlich zur Strecke brachte. Mein sargförmiger Gegner stampfte schwerfällig herum, um einen neuen Angriff zu starten, ein anderer Sarg galoppierte aus der entgegengesetzten Richtung heran, und als ich meine Aufmerksamkeit auf beide zu verteilen trachtete, kam eine Kugel von hinten und legte mich aufs Kreuz. Liegend richtete ich meine Strahlpistole auf den nächsten Angreifer und bohrte den Feuerstrahl in seinen Leib, dann explodierte etwas in meinem Kopf, und es wurde schwarz um mich.
McNulty rief zum Appell. Abgekämpft und erschöpft, aber immer noch rundlich und in einem Stück, stand er breitbeinig da und musterte uns. Jay Score hatte sich neben ihm aufgebaut. Durch die Uniformfetzen schimmerte seine Brust aus grauem Stallit, doch in seinen Augen glühte das gewohnte kalte Feuer. »Ambrose.« »Hier.« »Armstrong.« »Hier.« »Bailey.« Keine Antwort. Der Skipper blickte stirnrunzelnd auf. »Bailey. Weiß jemand, was aus Chefsteward Bailey geworden ist?«
Jemand sagte: »Kurz vor dem Kampf im Schiff habe ich ihn zuletzt gesehen, Sir.« Niemand hatte dieser Auskunft etwas hinzuzufügen. »Hmm!« McNultys Stirnrunzeln vertiefte sich. Er zeichnete seine Liste ab. Ich blickte umher, sah meine mitgenommenen, aber immer noch aufrechten Kameraden, und wunderte mich. Etwas fehlte. Irgend etwas war nicht so, wie es hätte sein sollen. Aber der Skipper hatte es entweder nicht bemerkt, oder er ignorierte es, denn er verlas die Namen seiner Liste ohne ein Zeichen von Unsicherheit. »Barker, Bannister, Blaine, Brennand…« Wieder hob er die Augen, als keine Antwort kam. »Brennand war in unserem Käfig«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.« »Sie können also nicht definitiv sagen, daß er tot ist?« »Nein, Sir.« »Brennand ist nicht aus dem Käfig gegangen«, sagte der Mann mit dem Schraubenschlüssel. Er stand neben dem augenbrauenzuckenden Steve Gregory, und sein Gesicht sah wie eine halbverzehrte Orange aus, aber er hatte sich nicht von seinem Werkzeug getrennt. Vielleicht hatten die Maschinen es ihm nicht genommen, weil sie es für einen Teil seines Armes gehalten hatten. Er sagte: »Ich war der letzte, der in dem Getümmel unterging. Brennand hatte nicht daran teilgenommen. Wilson auch nicht.« McNulty verzog schmerzlich den Mund; Jay Score zeigte ein wenig Interesse. Der Skipper machte zwei Zeichen auf seine Liste und las weiter. Erst als er beim Buchstaben K anlangte, entdeckte ich, welcher fehlende Faktor mein Unterbewußtsein beunruhigte. »Kli Dreen, Kli Morg, Kli… Wo ist Kli Dreen?« Wir drehten uns um, alle miteinander. Kein Marsbewohner unter den Versammelten. Nicht einer. Kli Yang, Sub Farn und
der Rest – neun Leute insgesamt – fehlten. Niemand konnte sich erinnern, sie nach dem Kampf an Bord der Marathon gesehen zu haben. Als letzter hatte Murdoch, einer der Regierungsexperten, das Schiff verlassen, und er versicherte, daß die Marsleute zu diesem Zeitpunkt noch an Bord gewesen seien und gekämpft hätten. Jedenfalls war keiner von ihnen in sein rollendes Gefängnis geschafft worden, das letzte in der Kolonne. Wir hatten keine befriedigende Erklärung für den Verbleib der Marsleute. Vielleicht hatten ihre enormen Körperkräfte im Kampf mit den metallenen Monstren die Oberhand behalten, doch das erschien uns unwahrscheinlich. Meine private Vermutung, die ich allerdings für mich behielt, ging dahin, daß es ihnen gelungen war, den Gegner für das Schachspiel zu interessieren und daß nun beide Seiten in atemloser Spannung warteten, daß jemand einen Läufer von C 3 auf E 5 schöbe. McNulty kreuzte sämtliche Marsnamen an und ging seine Liste bis zum Ende durch, wobei er den Chefingenieur Andrews und den sechsten Ingenieur Zeigler wegließ. Der Tod dieser beiden Männer war erwiesen. Sie waren beim ersten Ansturm durch das Heck gefallen. McNulty zog die Bilanz. Ohne die Marsleute kam er auf sieben Tote und fünf Vermißte. Letztere waren Haines und seine beiden Reisegefährten vom Rettungsboot sowie Wilson und Brennand. Es war ein schwerer Verlust für unsere kleine Mannschaft, und unser einziger Trost lag in der Hoffnung, daß die Vermißten trotz allem noch am Leben waren. Während der Skipper bekümmert über seiner Liste brütete, nahm ich unser Gefängnis in Augenschein. Wir befanden uns in einer Metallscheune, einem riesigen, kahlen Raum, fünfunddreißig Meter lang, zwanzig Meter breit und vielleicht fünfzehn Meter hoch. Seine Wände waren glatt, einfarbig grau, fensterlos. Das tonnenförmig gewölbte Dach wies keine
Öffnung, kein Luftloch auf, aber von seiner Mitte hingen drei in einer Reihe angebrachte Kugeln aus durchscheinendem Plastikmaterial herab, die orangefarbenes Licht verbreiteten. So genau ich die Wände untersuchte, ich fand an ihrer glatten Oberfläche weder eine Schweißnaht noch Nieten. »Also, Leute…« begann McNulty. Er kam nicht weiter. Dünn und unheimlich drang ein langgezogenes Kreischen von fern her in unser Gefängnis. Es war ein gellendes Geräusch, wie es ein Mensch in höchster Todesnot ausstößt, und es war vielfach gebrochen, als käme es durch einen langen eisernen Tunnel. Und es war eine menschliche Stimme. Die Männer lauschten, bewegten sich unruhig. Die meisten Stirnen glänzten schweißig. Murdoch war leichenblaß. Sam Hignetts schwarze Finger öffneten und schlossen sich hilflos, unfähig, dem Leidenden zu helfen. Der Ingenieur mit dem Schraubenschlüssel hatte seine Ärmel aufgekrempelt und eine auf dem Muskel seines linken Unterarms tätowierte Bauchtänzerin enthüllt. Die Tänzerin schob die Hüften hin und her, als er seinen Griff änderte und den Schraubenschlüssel fester packte. »Wenn wir einen dieser Automaten in die Hände bekämen«, sagte Jay Score trocken, »würden wir ihn auseinandernehmen, um zu sehen, wie er funktioniert. In dieser Hinsicht sind sie uns vielleicht ähnlich, so ungern ich es zugebe. Wer nicht in Stücke gepflückt werden möchte, um fremde Neugier oder fremden Wissensdurst zu befriedigen, sollte dafür sorgen, daß sie ihn nicht lebendig hier herausholen.« Wieder der entsetzliche Schrei. Als er den höchsten Ton erreicht hatte, brach er plötzlich ab, und die folgende Stille war so schrecklich wie das Geräusch. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich klickend und schnurrend herumbewegten und vergebens nach dem Apparat suchten, der den Schrei
hervorgebracht hatte, die Metallklauen rotbeschmiert vom Durchwühlen dessen, was ein lebendiges Wesen gewesen war. »Gibt es Akrobaten unter uns?« fragte Jay plötzlich. Er ging zur nächsten Wand, stellte sich mit dem Gesicht daran und spreizte die Beine. Armstrong, ein kräftiger Mann von einem Meter achtzig Größe, kletterte an ihm hinauf und stellte sich auf seine Schultern. Bis dahin war es leicht, aber der Rest war es nicht mehr. Mit vielen Schwierigkeiten halfen wir Peterson hinauf, bis er beide Füße fest auf Armstrongs Schultern gepflanzt hatte. Petersons Kopf war jetzt etwa sechseinhalb Meter über dem Boden. Wie sehr wir uns auch abmühten, wir konnten die menschliche Leiter nicht verlängern. Jay Score stand wie ein Fels, aber die glatte Wand gewährte seinen beiden Obermännern keinen sicheren Halt, den sie unbedingt brauchten, wenn ein vierter Mann über sie hinausklettern wollte. Wir mußten den Versuch aufgeben. Ohne Zweifel hätte Jay die sieben Männer tragen können, die zum Erreichen des Daches nötig gewesen wären, vorausgesetzt, daß Armstrong seine sechs gehalten hätte. Ich konnte allerdings wenig Sinn darin finden, zum Dach emporzuklettern. Immerhin war die nutzlose Anstrengung eine gute Ablenkung unserer Aufmerksamkeit. Blaine versuchte sein Glück mit der Strahlpistole, wobei er offenbar daran dachte, eine Serie von Stufen oder Handgriffen in die Wand zu brennen. Doch das Material erwies sich als von einer ganz anderen Art als das Metall der Maschinen. Es ließ sich normal erhitzen und glühte bei der höchsten Temperatur blaßrosa, aber es ließ sich weder schmelzen noch schneiden. Blaines Versuch brachte den Skipper auf die Idee, eine Inventur aller vorhandenen Waffen zu machen. Sie erbrachte sieben Strahlpistolen, eine altertümliche automatische Patronenpistole, deren Besitzer erklärte, daß sie ein Erbstück
von seinem Großvater sei, einen langen Schraubenschlüssel und zwei Tränengasstifte. Die vergangenen Geschehnisse hatten bewiesen, daß die Strahlpistolen gegen unsere gepanzerten Feinde nicht sehr viel auszurichten vermochten. Das übrige Zeug war nutzloser Plunder. Aber die Inventur enthüllte einen interessanten Gesichtspunkt der gegnerischen Psychologie. Wer bis zuletzt grimmig an seiner Waffe festgehalten hatte, besaß sie auch jetzt noch. Dies deutete darauf hin, daß der Feind nicht wußte, was eine Waffe war, wenn er sie sah. Wir hatten die Inspektion unseres unzureichenden Arsenals eben beendet, als die Tür mit einer Plötzlichkeit aufschoß, die uns völlig überraschte, und zwei hummerähnliche Wesen in unser Gefängnis geworfen wurden. Sofort knallte die Tür wieder zu und gewährte uns keinen Blick auf das, was hinter ihr war. Die Hummer schlitterten hilflos über den glatten Metallboden, bis sie auf der anderen Seite gegen die Wand prallten und hilflos liegenblieben. Sekundenlang bewegten sie benommen ihre dünnen Beine in der Luft, während wir sie fasziniert anstarrten. Dann erholten sie sich und kamen auf die Füße. Nun sah ich, daß ihre Köpfe eher Insekten als Hummern ähnelten, denn sie hatten viellinsige Facettenaugen und Antennenfühler statt der vergleichsweise dicken und groben Tastorgane des Hummers. Nachdem sie ihre erste Überraschung verwunden hatten, sprachen diese Kreaturen zu uns, nicht mit Lauten, sondern auf eine telepathische Weise, die ihre Worte wie von selbst in unsere Gehirne setzte. Ihre unheimlichen Polypenschnäbel öffneten sich nicht, aber ihre Gedankenprojektion war so wirksam, daß wir wider unser besseres Wissen glaubten, sie redeten uns in unserer eigenen Sprache an. Es war ein Phänomen, wie einige von uns es schon bei der Begegnung mit dem Leguan kennengelernt hatten.
Einer der Hummer – ich wußte nicht, welcher – sagte: »Ihr seid Fremde von einem anderen Ort. Ihr habt weiche Körper, anders als die hartschaligen Bewohner unseres Sonnensystems. Könnt ihr uns verstehen?« »Ja«, sagte McNulty, die beiden Hummer anglotzend, »wir verstehen euch.« Das seltsame Paar starrte sich in beiderseitiger Verblüffung an. »Klangwellen!« sagte einer. »Sie verständigen sich mittels modulierter Klangwellen!« Aus irgendeinem Grund, der nur ihnen bekannt war, grenzte dies ans Unglaubliche. Sie sahen uns an, als ob wir ein grundlegendes Naturgesetz verletzt hätten, dann: »Mit euch ist es schwierig, sich zu unterhalten. Ihr unterstützt das Gespräch nicht mit eurem Geist. Wir müssen unsere Gedanken hineinstoßen und eure herausziehen.« »Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte McNulty betreten. »Geistige Kommunikation ist nicht unsere Spezialität.« »Das hat keine Bedeutung. Wir kommen schon zurecht.« Jeder der beiden Hummer machte eine identische Gebärde mit der gleichen Schere. »Trotz unserer Unterschiede in Form und Veranlagung ist es klar, daß wir Brüder im Unglück sind.« »Im Moment«, pflichtete McNulty bei, der in diesem Status nichts Permanentes sehen wollte. Er begann sich anscheinend als eine Art universaler Kontaktmann zu fühlen. »Habt ihr eine Vorstellung von dem, was sie mit uns machen werden?« »Sie werden euch sezieren.« »Sezieren? Sie wollen uns aufschneiden?« »Ja.« McNultys Miene verdüsterte sich. »Warum?« »Sie sezieren alle Individualisten. Das machen sie seit Jahren, seit Jahrhunderten. Damit versuchen sie die Ursache persönlicher Unabhängigkeit zu entdecken. Sie sind intelligente Maschinen, aber ihre Intelligenz ist
gemeinschaftlich. Auf unserer eigenen Welt, Varga, gibt es kleine Wassertiere ähnlichen Typs. Als Einzelwesen sind sie nicht bemerkenswert, aber wenn sie in organisierten Gruppen auftreten, stellen sie hohe Intelligenz zur Schau. Sie haben eine Art gemeinschaftlichen Verstand.« »Wie gewisse Ameisen, Termiten und so«, meinte der Skipper. »Ja, wie Termiten«, bestätigte, wer immer der beiden das stumme Gespräch führte – oder waren es alle zwei? Ich konnte nicht begreifen, wie er – oder sie – zustimmende Bemerkungen über Termiten machen konnten, von denen sie nichts wußten, bis mir einfiel, daß alles, was im Gehirn des Skippers vorging, auch auf sie überging. »Seit vielen vielen Sonnenumkreisungen haben sie versucht, unseren Heimatplaneten, die benachbarte Wasserwelt Varga, zu erobern. Unsere Leute haben ihnen mit einigem Erfolg Widerstand geleistet, aber gelegentlich werden welche von uns gefangengenommen, hierhergebracht und seziert.« »Diese Dinger sind doch nur Maschinen, nicht wahr?« »Sie sind Maschinen von zahlreichen funktionellen Typen, allen Arten von Kriegern, von Arbeitern, sogar von Experten und Spezialisten. Aber sie sind Maschinen.« Der Hummer verstummte, dann schockte er uns durch eine plötzlich anklagend auf Jay Score weisende Schere. »Genauso, wie der dort eine Maschine ist. Er ist aus Metall gemacht, und sein Geist bleibt uns verschlossen. Wir mögen ihn nicht.« »Jay ist viel mehr als eine Maschine«, erklärte McNulty beleidigt. »Er hat etwas, das keine stinkende Maschine jemals hatte. Ich kann nicht erklären, was es ist, aber… äh… nun, er ist eine Persönlichkeit.« Ein Gemurmel bestätigte, daß er damit die irrationale aber nichtsdestoweniger feste Überzeugung seiner Mannschaft ausgedrückt hatte.
»Was ich habe, ist Unabhängigkeit«, sagte Jay unbewegten Gesichts. »Das macht mich ebenso wie die anderen hier zum Kandidaten für den Seziertisch.« Er seufzte. »Vermutlich werde ich den Weg allen Fleisches gehen.« McNulty mußte über diesen Geistesblitz schwarzen Humors grinsen, dann wandte er sich mit einer neuen Idee an die beiden Hummer. »Wenn ihr sensitiv für die Gedanken unserer Art seid, könnt ihr uns vielleicht sagen, ob ihr von anderswo menschliche Ausstrahlungen ausmacht. Ein paar meiner Leute sind vermißt, und ich möchte gern wissen, ob sie noch am Leben sind.« Die beiden merkwürdigen Kreaturen von Varga wurden still, während ihre Antennenfühler zitterten, als ob sie Teile des Äthers durchforschten, die außerhalb unserer Wahrnehmungsfähigkeit lagen. Draußen rumpelte etwas geräuschvoll den Korridor entlang und an unserer Tür vorbei, aber sie nahmen keine Notiz davon. Nach einer Weile sagte einer von ihnen – oder beide: »Unsere Reichweite ist kurz, außerordentlich kurz. Wir können euch sagen, daß ein Geist wie der eure gerade erloschen ist. Er verstummte eben, während wir sprachen. Andere von eurem Typ sind nicht innerhalb unserer Reichweite.« »Oh«, sagte McNulty enttäuscht. Sie zeigten mit ihren Scheren zum Dach und fuhren fort: »Aber dort oben sind andere Wesen, weit seltsamer als ihr. Ihr Geist ist einzigartig; wir hätten so etwas nicht für möglich gehalten. So unglaublich es erscheinen mag; sie können sich gleichzeitig auf zwei Dinge konzentrieren.« »Wie?« fragte McNulty, sich den Schädel kratzend. Mit dieser Information konnte er nichts anfangen. »Zwei Gegenstände gleichzeitig! Höchst bemerkenswert! Sie sind hoch in der Luft, gehen aber rasch nieder. Einer von ihnen denkt an eine Anordnung kleiner Gestalten auf einem Quadrat
aus weißen und farbigen Feldern. Zugleich aber denkt er an… euch!« »Was?« rief McNulty. Ich sah Steve Gregorys Augenbrauen die Stirn emporwandern. Alle stierten aufwärts. Kurz darauf erfolgte ein schwerer, dumpfer Schlag, der die ganze Halle von einem Ende zum anderen erzittern ließ, und in der Dachwölbung erschien eine Beule. Etwas hämmerte heftig gegen die Metalldecke. Gleichzeitig brach in den Korridoren jenseits der Tür ein Aufruhr los. Der Lärm war furchtbar. Unser Schraubenschlüsselträger war ein Mann mit Reaktionsvermögen und Initiative. Er merkte als erster, daß die Tür von außen geöffnet wurde. Kurz entschlossen zog er zwei dicke, kurze Schraubenzieher aus der Gesäßtasche und hämmerte sie mit dem langen Schraubenschlüssel wie Keile in den unteren Türspalt. Unterdessen nahm der Lärm im Korridor noch weiter zu, und die Tür ächzte unter einem gewaltigen Druck. Es sah aus, als sei unsere Zeit gekommen. Nur die verkeilte Tür schob das Unvermeidliche noch ein paar Minuten hinaus. Die rasselnden Monstren draußen hungerten nach neuen Versuchskaninchen zum Auseinandernehmen. Unser vielgepriesener Individualismus sollte unser Verderben sein. In diesem Augenblick kam mir der Gedanke, daß der Schraubenschlüsselträger und Sam Hignett vielleicht als nächste auf dem Seziertisch landen würden, wenn die wissensdurstigen Anatomieschüler methodisch vorgingen, denn sie würden neugierig sein, warum der erstere einen verlängerten Arm aus Metall hatte und warum der letztere im Gegensatz zu den anderen eine schwarze Haut hatte. Auch fragte ich mich, wie sie reagieren würden, wenn sie Jay Scores wahre Natur entdeckten.
Die Tür erbebte unter einem kraftvollen Stoß und begann sich von der Mitte aufwärts nach innen zu verbiegen. Grelles Licht schien durch die gewaltsam verbreiterten Türritzen. Raupenketten rasselten vorbei, und der Mechanismus hinter der Tür hielt seinen gewaltigen Druck aufrecht. Ein lautes Knirschen und Kreischen lenkte unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Dach. Ein großes Stück der metallenen Wölbung wurde weggezogen. Sonnenlicht strömte in die Halle. Ein unförmiger, gummiartiger Körper mit mehreren dicken und langen Armen, an denen Saugnäpfe saßen, erschien in der Öffnung, hielt sich mit drei Fangarmen am zerrissenen Rand fest und ließ sich, wie eine groteske Spinne baumelnd, in die Halle herunter. Es war Sug Farn. Er sicherte sich mit drei weiteren Tentakeln und streckte die verbleibenden vier zu uns herunter. Seine volle Spannweite betrug etwas über zehn Meter, und seine Tentakelspitzen bewegten sich noch gute sechs Meter über dem Boden. Die Tür gab wieder ein Stück nach und war nun stark nach innen gebeult. Sug Farn hing und ließ seine Tentakel einladend baumeln, und wir blickten mit unterschiedlicher Hoffnung zu ihm auf. Die beiden Hummer beobachteten ihn stumm vor Staunen. Dann ließ er sich plötzlich weitere fünf Meter herunter, ergriff vier von uns und schwang sie mit ungeheurer Kraft durch die Luft aufwärts und auf das Dach hinaus. Ich sah, daß Sug Farn nicht mehr direkt mit dem Dach in Verbindung war. Seine oberen Tentakel hatten sich fest mit den Fangarmen eines anderen Marsbewohners verknotet, der sich oben neben der Öffnung auf dem Dach verankert hatte. Der Vorgang wiederholte sich noch zweimal, und zwölf unserer Leute befanden sich bereits auf dem Dach in relativer Sicherheit. Während ich gleichzeitig den Zirkusakt und die gefährlich ächzende Tür beobachtete, kümmerte ich mich nicht weiter um
die Hummer, aber nun merkte ich, daß sie McNulty in ein bitteres Streitgespräch verwickelt hatten. »Nein«, erklärte der Skipper energisch. »Wir geben nicht auf. Wir fügen uns nicht ins Unvermeidliche. Wir sterben nicht in Ehren, wie ihr es nennt.« »Aber Flucht gehört sich einfach nicht«, beharrten die Hummer. »Es ist feige und unehrenhaft. Es widerspricht der Konvention, es schlägt allen Regeln der Kriegsführung ins Gesicht. Jedes Kind weiß, daß ein Gefangener seine Ehre wahren muß, indem er sein Schicksal ohne Klagen auf sich nimmt.« »Unsinn!« schnaubte McNulty. »Idiotie! Wir haben mit diesem Kriegsrecht nichts zu schaffen. Wir haben keine Versprechungen gemacht, und wir werden auch keine machen.« Er blickte auf und verfolgte die Rettung von vier weiteren Besatzungsmitgliedern, die eben aufwärts segelten. »Es ist falsch, völlig falsch. Es ist entehrend. Ein Gefangener ist für immer verloren. Ja, unsere eigenen Leute würden uns vor Scham töten, wenn wir in die Heimat flüchteten. Habt ihr denn kein Gewissen?« »Eure Regeln und Ehrbegriffe sind absurd«, sagte McNulty. »Wir sind nicht daran gebunden. Egal, was ihr sagt, für uns ist es völlig legitim, wenn wir…« »Vorsicht!« unterbrach ihn Jay Score mit einer Armbewegung zur Tür, die nun jeden Augenblick nachzugeben drohte. »Wir haben jetzt keine Zeit, über Ehrbegriffe zu diskutieren.« »Natürlich, Jay, aber diese dickschädeligen… Au!« Er machte ein bestürztes Gesicht und zappelte, aber seine Füße schwebten bereits in der Luft. Sug Farn hatte ihn gefaßt und entzog ihn im wahrsten Sinne des Wortes der Diskussion.
Kurz darauf brach die Tür auf. Abgesehen von den defätistischen Hummern waren noch sieben von uns unten, als ein Ding wie ein Fünfzig-Tonnen-Panzer in die Halle rasselte. Eine summende, schnurrende und klappernde Menge von Särgen, Kugeln und anderen schreckenerregenden Gebilden drängte hinterher. Mit einem seltsamen Licht in den Augen, schrie Sam Hignett zu Sug Farn hinauf: »Mich zuletzt!« Unser Negerchirurg hätte vielleicht seinen Wunsch nach Selbstaufopferung erfüllt bekommen, wäre es nach ihm gegangen, aber Sug Farn dachte anders darüber. Eine Kugel überholte den plumpen Panzer und stürzte sich auf Sam. Sie kam eine Sekunde zu spät. Schweigend, ohne Kommentar oder sichtbare Erregung, löste Sug Farn weitere drei Tentakel, ergriff alle sieben von uns und hob seine Last mit gewaltiger Kraftanstrengung außer Reichweite der Maschinen. Wie ich langsam zur Öffnung hinaufschwebte, spürte ich ein leichtes Zittern in dem Fangarm, der mich hielt. Sug Farn gab sein Letztes. Dann langte ein zweiter Tentakel herunter, umschlang mich und nahm ihm etwas von seiner Last ab. Dicht unter der Öffnung gewahrte ich die Gestalt eines Marsbewohners, der an der Unterseite des eingebeulten Daches entlangkroch, offenbar in der Absicht, die nächste Wand zu erreichen, dann war ich im Sonnenlicht und auf den Beinen. Im wannenartig ausgebeulten Dach saß die Pinasse wie eine Wachtel auf ihrem Nest. Das starke kleine Schiff mit seinem glatten Stromlinienleib war ein herzerfrischender Anblick. Nichts hätte unsere müden Lebensgeister nachhaltiger aufmuntern können. Ringsum erhoben sich metallene Gebäude, von denen die meisten höher waren als das Dach, auf dem wir standen. Fensterlos und ohne irgendeine Verzierung oder belebende Ornamentik standen sie da, nüchtern und bedrückend
zweckmäßig. Aus mehreren unsichtbaren Quellen zwischen den Gebäuden stiegen braune und graue Rauchwolken auf. Viele Bauwerke trugen hohe Sendemasten mit ausladenden Antennen. Das Ganze war der Alptraum einer Stadt, eine metallene Metropolis. Unten sahen wir breite, gerade Straßen, die einander in regelmäßigen Abständen kreuzten und mit hin und her eilenden Maschinen zahlloser Typen erfüllt waren. Die meisten hatten keine Ähnlichkeit mit den Maschinen, die wir bisher kennengelernt hatten. Eine faszinierte mich besonders, eine lange, semiflexible Angelegenheit, die mich an einen Riesentausendfüßler erinnerte. Sie besaß eine runde, offensichtlich drehbare Frontscheibe mit verschiedenen Werkzeugen und diente offensichtlich als Tunnelbohrer. Nachdem meine Augen sich an das Schauspiel gewöhnt hatten, machte ich in der Menge auch einige Särge und Kugeln aus, dazu ein paar Maschinen vom Giraffentyp und mehrere jener scheinbar nutzlosen hundegroßen Dinger, die wir schon früher um das Schiff hatten herumlungern sehen. Ich gewann den Eindruck, daß die Kugeln und Särge verschiedene Arten Krieger, die Giraffen Polizei und die neugierigen kleinen Maschinen Reporter oder Kriegsberichter waren, die ständig auf Beobachtungsfahrten waren und ihre Meldungen laufend an eine Koordinierungszentrale sendeten. Während zwei Drittel der geretteten Mannschaft in die Pinasse krabbelten, stand ich mit Jay Score am zerrissenen Rand der Dachöffnung und schaute in unser Gefängnis. Die beiden Hummer waren fort; wahrscheinlich ereilte sie in eben diesen Minuten ihr mit stoischer Gelassenheit erwartetes Schicksal. Unmittelbar unter uns hockte wie eine eiserne Riesenkröte der Fünfzigtonner, der die Tür eingedrückt hatte. Um ihn herum wirbelten Kugeln in tollem Reigen und schwenkten ihre dünnen, biegsamen Arme wie im Zorn –
sofern eine Maschine so etwas wie Zorn kennt. Mehrere Särge hatten ihre gegliederten Hinterbeine zusammengefaltet, saßen da und starrten glasig zu uns herauf, fantastische Imitation einer Hundemeute, die eine Katze auf einen Baum gejagt hat. Die meisten der in Bewegung befindlichen Maschinen tickten und klapperten unaufhörlich. Sechs Meter über diesem Wirrwarr hatten sich Sug Farn und Kli Yang mit ausgebreiteten Tentakeln an den Wänden verankert und fischten nun nach Gegnern. Ich sah, wie Sug Farn einen Tentakel aufrollend hinunterstieß und sich mit dem Ende am flachen Rücken eines sitzenden Sarges festsaugte, der geduldig zu warten schien, daß wir gleich überreifen Früchten herunterfielen. Sug Farn ließ einen zweiten Tentakel folgen, hob den Sarg mit unglaublicher Kraft drei Meter hoch und hielt ihn so. Der Sarg zappelt mit seinen Metallbeinen wie ein Käfer und gab tickende Alarmgeräusche von sich. Sofort wirbelte eine Kugel zu seiner Rettung heran. Kli Yang schaltete sich ein und schnappte sich die Kugel mit der ungerührten Selbstverständlichkeit eines Chamäleons, das seine Zunge auf eine Fliege losschnellt. Sug Farn schwang den Sarg an die zehn Meter hoch und ließ ihn auf den Rücken des Fünfzigtonners fallen. Von dort krachte er auf den Boden und blieb mit zerbrochenem Mechanismus liegen. Die viel leichtere Kugel kämpfte wild gegen Kli Yangs Saugarm, wurde hochgehoben und auf eine andere Kugel geschleudert. Sie zerbrach, während die Getroffene einen Defekt ihres Steuerungssystems erlitt und wie toll in einem engen Kreis herumsauste. Mit einem verlangenden Blick zu dem riesigen Monstrum, das noch immer unbeweglich unter uns saß, bemerkte Kli Yang: »So haben wir den Kampf im Schiff gewonnen. Wir saßen an den Decken, wo sie uns nicht erwischen konnten, hoben sie auf, warfen sie wieder hin und überließen den Rest
der Natur. Sie können nicht klettern. Und sie konnten keine große Maschine an Bord bringen, die uns erreicht hätte.« Während er eins seiner Untertassenaugen auf uns gerichtet hielt, verdrehte er das andere nach unten ins Getümmel seiner Gegner. Diese voneinander unabhängige Beweglichkeit der Augen hat mir immer eine Gänsehaut verursacht. Für Sug Farn fügte er, offenbar in Fortführung eines früheren Gesprächs, hinzu: »Kli Morg hätte seinen Turm doch lieber opfern sollen.« »Ja, zu dem Schluß bin ich auch gekommen«, sagte Sug Farn und griff sich eine Kugel, um mit ihr einer Giraffe den Linsenkasten einzuschlagen. »Morg neigt ein wenig dazu, jedem Risiko aus dem Weg zu gehen, und das macht sein Spiel schwerfällig. Er sieht nicht, daß der Verlust eines Turmes manchmal in Kauf genommen werden muß. In diesem Fall hätte er fünf Züge später die Dame gewinnen können.« Sein Seufzen ging im Gebrüll der Triebwerke unter. Heiße Druckwellen stießen gegen unsere Körper, dann war die Pinasse in der Luft und jagte in steiler Kurve aufwärts. Außer den Marsleuten, die sich damit vergnügten, unser Gefängnis in einen Schrottplatz zu verwandeln, waren noch elf Mann auf dem Dach. »Sie werden uns bald holen kommen«, meinte Jay Score. »Wenn wir dann noch hier sind.« Er beugte sich über das Loch und beobachtete die metallene Horde unten in der Halle. »Kli irrt sich, wenn er glaubt, sie hätten keine Kletterer«, sagte er. »Wie hätten sie sonst diese Gebäude errichten können?« »Von diesen da unten kann keiner klettern.« »Richtig. Aber ich wette, sie haben irgendwo Baumaschinen. Und die werden sie holen, wenn sie ihre erste Verwirrung überwunden haben. Wahrscheinlich haben sie noch nicht erlebt, daß jemand die Regeln der Kriegsführung verletzt.« Er richtete sich auf und zeigte auf die angrenzenden Straßen
hinunter, wo sich noch keine Unruhe bemerkbar machte. »Es dauert lange, bis so ein Tatbestand in ihr Bewußtsein eindringt. Im Moment sehen sie sich von einer Situation überrumpelt, die sie kaum begreifen können.« »Ja, wir haben es hier ganz sicher mit einer völlig verschiedenen Mentalität zu tun«, stimmte ich ihm zu. »Anscheinend sind sie zu angepaßt, um dem Anomalen zu begegnen.« Ich sprach es nicht aus, weil Jay zuviel von einer selbständigen Persönlichkeit hatte, aber ich fühlte, daß er bei der Beurteilung dieser Dinge uns gegenüber im Vorteil war; er konnte sich in die Lage unserer mechanischen Gegenspieler hineinversetzen. Kli Yang und Sug Farn kletterten aus der Öffnung im Dach. Sug Farn warf einen Blick in die Runde, machte es sich in der Einbeulung bequem, legte seine Tentakel um sich und schlief ein. »Da pennt er!« klagte Kli Yang. »Er kann nichts unternehmen, ohne die erstbeste Gelegenheit zum Schlafen wahrzunehmen.« Das eine Auge mißbilligend auf seinen schnarchenden Kameraden gerichtet, fixierte er mit dem anderen Steve Gregory. »Ich vermute«, sagte er trübe, »daß niemand an Bord der Pinasse auf den Gedanken gekommen ist, ein Schachspiel zurückzulassen?« »Leider nicht«, gab Steve zu. »War auch nicht zu erwarten«, brummte Kli Yang mißvergnügt. Er entfernte sich von uns, zog eine kleine Flasche Holo-Duftwasser heraus und begann pointiert daran zu schnüffeln. Ich habe den unanständigen Bemerkungen der Marsleute über unseren menschlichen Geruch nie geglaubt; vermutlich waren es in Wahrheit die sechs Kilo Luftdruck, die ihm auf die Nerven gingen. »Woher wußtet ihr, in welchem Gebäude wir waren?« fragte Jay.
»Wir überflogen die Stadt zweimal«, sagte Kli Yang, »und wir hatten nur wenig Hoffnung, euch in diesem Häusergewirr zu finden. Wir fingen an zu kreisen und waren sehr erstaunt, daß man uns ganz unbeachtet ließ. Das gab uns Mut, und wir gingen weiter herunter. Nach einiger Zeit sahen wir eine Kolonne haltender Fahrzeuge, und auf einem standen Brennand und Wilson und gestikulierten wie wild. Wir nahmen sie auf und landeten auf diesem Dach, weil es das nächste war. Unsere Landung war etwas hart, wie man sieht. Die Bordinstrumente sind für menschliche Hände gemacht und schwer zu bedienen.« »Dann sind Brennand und Wilson in Sicherheit?« fragte ich. »Ja. Kli Dreen hat sie an Bord genommen. Sie sagten, sie hätten den Gefängniswagen statt durch die Tür durch das Loch im Boden verlassen, worauf man sie einfach ignoriert habe. Sie konnten nicht verstehen, daß man sie unbehelligt ließ.« Jay warf mir einen kurzen Blick zu. »Siehst du – Flüchtige! Der unvorhergesehene Faktor! Niemand wußte etwas mit ihnen anzufangen.« Er ging an den Rand des Daches und blickte hinunter. Ein anderes Dach stieß an das unsrige, aber auf einer tieferen Ebene. »Die Schreie müssen von irgendwo dort unten gekommen sein«, erklärte er. »Kommt mit, wir sehen nach, ob wir das Dach aufreißen und einen Blick ins Innere werfen können.« Er sprang die eineinhalb Meter auf das niedrigere Dach, gefolgt von Armstrong, mir und den anderen. Gemeinsam packten wir eine überlappende Ecke und hoben an. Sie gab unerwartet leicht nach. Dieses Metall war ein sonderbares Zeug, ziemlich hart und gegen Hitze unempfindlich, doch quer zur Laufrichtung relativ biegsam. Kein Wunder, daß es den Marsleuten gelungen war, ein Loch ins Hallendach zu reißen. Wir spähten durch die Spalte in einen langen und schmalen Raum, der wie ein Laboratorium aussah. Die Wände entlang
standen Apparate jeder Art, darunter Strahlenlampen, Instrumentenschränke, fahrbare Tische und eine Menge Gegenstände, deren Bedeutung uns verborgen blieb. Fünf oder sechs glänzend polierte und höchst komplizierte Maschinen waren in diesem Raum beschäftigt, die blitzenden, gefühllosen Linsen auf ihre Arbeit gerichtet. Sie hatten flinke und geschickte Finger. Was sie damit taten, machte mich schaudern. Zwei von den Riesenhummern waren über den ganzen Raum verteilt, die Hälfte des einen auf dem nächsten Tisch, zwei Köpfe auf einem anderen, ein Haufen Gedärme und Innereien auf einem dritten. Es war unmöglich zu sagen, ob es die beiden waren, mit denen wir zuvor gesprochen hatten. Die Maschinen entnahmen den sauber der Länge nach zertrennten Kadavern Stücke, steckten sie in verschiedene Apparate und legten Gewebeteile unter eigenartig geformte Mikroskope. Die Hummer hatten kein Blut, aber aus ihren verstümmelten Gliedern tropfte ein öliger farbloser Saft. Trotzdem sahen wir auf einem der unbenutzten Tische, auf dem Boden und auf einer Art Drehbank große Blutflecken, dazu Blutspritzer an Wänden und Vivisektionsmaschinen. In einem achtlos beiseite gestellten Drahtkorb lagen zwei menschliche Hände. Die Linke, weiß und schlaff, trug noch einen goldenen Siegelring. Sie hatte Haines gehört. Armstrong stieß einen Strom Verwünschungen aus. »Wir können nichts tun«, kommentierte Jay Score ohne erkennbare Gemütsbewegung. »Es ist zu spät, um noch jemanden zu retten.« Er beäugte das nächste Dach, das etwa acht Meter entfernt auf gleicher Ebene lag. Es gehörte zum Anbau eines höheren Bauwerks, dem ein hoher Funkmast entragte. Antennendrähte verbanden ihn mit einem zweiten, hundert Meter entfernten Funkmast. »Ich glaube, ich kann hinüberspringen«, murmelte Jay.
»Nun mal langsam«, sagte Armstrong mit einem besorgten Blick in die Tiefe zwischen den beiden Gebäuden. »Warte lieber, bis die Pinasse zurückkommt. Wenn du zu kurz springst, können sie dich unten in tausend Stücken auflesen.« Jay kehrte zu uns zurück und blickte durch den Spalt in den Seziersaal. »Noch warten sie«, meldete er, »aber das werden sie nicht ewig tun. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie etwas unternehmen werden. Besser, ich komme ihnen zuvor.« Er stand auf seinen starken langen Stallitbeinen vor uns da, nur noch notdürftig von den zerfetzten Lumpen seiner Uniform umhüllt, und bevor einer von uns ihn zurückhalten konnte, drehte er sich um, nahm einen Anlauf, schoß über die Dachkante und sauste in weitem Bogen über den Abgrund. Er landete sicher und fest einen Meter hinter der jenseitigen Dachkante. Dann schwang er sich leicht auf einen höheren Absatz, erkletterte wie ein Affe den Funkmast und riß die Antenne herunter. Dann kehrte er auf dem gleichen Weg zurück. »Eines Tages wirst du dich an einer Hochspannungsleitung umbringen«, meinte Kli Yang. »Wenn du dir nicht vorher den Hals brichst.« Dann wies er gelassen auf die breite Straße auf der anderen Seite der Halle. »Vielleicht ist es ein Zufall, aber einige dieser Maschinen bewegen sich nicht mehr weiter.« Er hatte richtig gesehen. Eine Anzahl Maschinen war mitten im Verkehrsgewimmel stehengeblieben. Sie gehörten alle einem Typ an. Andere Maschinen liefen unbeirrt weiter; Särge, Kugeln, wurmähnliche Dinger, große Planierraupen gingen weiter ihren Geschäften nach, als ob nichts geschehen wäre. Nur die relativ wenigen Muster dieses einen Typs, einer eiförmigen, spindelbeinigen Apparatur, verharrten starr wie Statuen. »Ich würde sagen, sie sind funkgesteuert«, sagte Jay Score. »Jeder Typ hat seine eigene Wellenlänge und bekommt seine
Energie und seine Anweisungen von einer eigenen Station.« Er deutete auf andere Sendemasten, die in allen Himmelsrichtungen ihre Spinnenfinger über die Stadt streckten. »Wenn wir die alle außer Betrieb setzen, werden wir wohl sämtliche Maschinen vorübergehend stillegen können.« »Warum vorübergehend?« fragte ich. »Nimmt man ihnen Energie und Steuerung, kommen sie nie wieder in Bewegung.« »Vermutlich doch. Es gibt so viele Maschinen für alle vorstellbaren Funktionen, daß es sehr merkwürdig wäre, wenn sie nicht auch eine unabhängig betriebene Reparatureinheit besäßen, die in dem Moment in Aktion tritt, wo andere Anlagen ausfallen.« »Wenn ihre Funktechniker wie wandernde Leuchttürme aussehen«, sagte jemand trocken, »dann ist schon einer unterwegs.« Er machte eine hinweisende Kopfbewegung nach Norden. Wir blickten in die angedeutete Richtung. Was da die Straße herankam, war mehr als fantastisch. Es bestand aus einer geräumigen Metallplattform, die auf riesigen Rädern von drei bis vier Metern Durchmesser lief. Aus dem Zentrum der Plattform erhob sich ein allmählich nach oben zu verjüngter zylindrischer Körper, der etwa dreißig Meter über der Straße in einem Kopfstück mit Dutzenden von Augenlinsen und Arbeitsarmen endete. Das Ding beherrschte die Straße und überragte viele Gebäude. Jay Score beobachtete das Ding leidenschaftslos. »Entweder will er die Antenne reparieren, oder man hat ihn gerufen, damit er uns vom Dach pflückt.« Wir beobachteten die Annäherung des Ungeheuers weniger gelassen. Der Besitzer der Patronenpistole zog die altertümliche Waffe und hielt sie entschlossen umklammert. Angesichts des heranrollenden Kolosses war es ein absurdes Tun. Genauso hätte er hoffen können, einen wütenden
Elefanten mit Spucke zu erlegen. Mein Magen schrumpfte zu einem harten kleinen Ball zusammen. Unten auf der Straße ging der Verkehr weiter, während unter dem Loch im Dach eine mechanische Horde auf uns lauerte. Jay mochte Aussicht haben, über die Dächer zu entkommen, wenn der Turm auf uns losginge, aber wir anderen konnten nichts tun, als wie Ochsen im Schlachthaus zu warten. Dann tauchte ein Punkt am Himmel auf, und ein hohes Heulen sagte uns, daß die Pinasse zurückkam. Sie hielt in voller Fahrt auf uns zu, eine kleine Kugel, die sich rasch vergrößerte. Soweit ich es beurteilen konnte, mußte sie uns kurz vor dem drohenden Turmgebilde erreichen, aber ich bezweifelte, daß sie landen, die Luftschleuse Öffnen, uns an Bord nehmen und wieder starten könnte, bevor es Ärger geben würde. Wir beobachteten mit Herzklopfen den gewagten Sturzflug der Pinasse, das gewichtige Heranrollen des riesenhaften Gegners, und verglichen besorgt beider Fortschritte. Gerade als ich zu dem Schluß gelangt war, daß die Hälfte von uns auf Kosten der anderen Hälfte an Bord gelangen könnte, sahen die Leute in der Pinasse den näherrollenden Turm. Das Schiff startete durch und schoß heulend dicht über unsere Köpfe hinweg, wobei es die Spitze des Turms fast zu berühren schien. Bei diesem Manöver mußte es eine kleine Atombombe abgeworfen haben, obwohl ich sie nicht fallen sah. »Hinlegen!« brüllte Jay Score. Wir warfen uns auf die Gesichter. Eine heftige Detonation ließ das Dach unter uns schwanken, und von der Straße schoß eine Fontäne zerfetzter Maschinenteile hoch. Dann, in der unheimlichen Stille, die auf die Explosion folgte, begann es ringsum Schrott zu regnen. Wir hoben ängstlich die Köpfe und sahen den Turm kippen. Mit einem furchtbaren Krachen
schlug er in seiner ganzen Länge auf die Straße. Wieder erzitterte das Gebäude unter uns. Ich stand mit wankenden Knien auf. Der Turm lag auf der Straße, die Plattform geborsten, der lange, röhrenförmige Körper verbogen, das vielarmige Kopfstück zertrümmert bis zur Unkenntlichkeit. Bei seinem Sturz hatte der Riese eine Anzahl kleinerer Maschinen unter sich begraben. Sug Farn, von der Explosion aus dem Schlummer gerissen, zirpte: »Was soll der Krach? Ist was passiert?« Er streckte seine Tentakel und blickte gähnend um sich. »Geh aus der Delle heraus!« befahl Kli Yang unfreundlich. »Mach Platz für die Pinasse.« Sug Farn bewegte sich gemächlich zu der Stelle herüber, wo wir in einer hoffnungsvollen kleinen Gruppe beisammen standen. Die Pinasse setzte nach einer weiten Schleife zur Landung an. Die Delle im Dach vertiefte sich unter ihrem Gewicht. Dankbar und freudig drängten wir an Bord. Der Zweite Offizier Quirk steuerte die Maschine und hatte eine Mannschaft von fünf Männern und einen Marsbewohner bei sich, was für ein Schiff dieser Größe das Minimum darstellte. Der Marsbewohner war Kli Dreen. Er sagte kein Wort zu seinen Rassegenossen, als sie sich durch die enge Luftschleuse zwängten, sondern starrte sie nur an und schnüffelte. »Ich wette«, sagte Kli Yang zu ihm, »daß dein unterbeschäftigtes Gehirn nicht auf die Idee gekommen ist, unsere Helme mitzubringen, damit wir von diesem infernalischen Geruch erlöst werden.« »Hör dir das an!« rief Kli Dreen, zu mir gewandt, der ich am nächsten stand. »Er erforscht das Universum, und dann jammert er über ein bißchen Luftdruck!« Seine Telleraugen rollten zurück zu Kli Yang, und er erklärte triumphierend: »Kli
Morg hätte gewonnen, wenn er nicht darauf bestanden hätte, seinen Turm zu retten.« »Ha, ha!« lachte Kli Yang gekünstelt. »Wie gewöhnlich eine Woche zu spät. Die Lösung haben wir schon vor Tagen gefunden!« Ich fand Jay Score über dem kleinen Bombenschacht im Bauch der Pinasse. Das Schiff setzte sich in Bewegung und ließ das Gefängnis unter sich zurück. Jay warf eines der dicken schwarzen Eier hinunter. Sekundenlang geschah nichts, dann sah ich das Nebengebäude aufplatzen und sein Dach abwerfen. »Das war der Operationssaal«, sagte Jay trocken. »Das Ding hat zur Abwechslung einmal sie auseinandergenommen.« Ich sympathisierte mit seinem Tun, aber ich fand es befremdlich, daß ein Roboter von so menschlichen Gefühlen wie Rachedurst bewegt wurde. Nach allen Naturgesetzen hätte er nicht mehr Gefühle als eine Vogelscheuche haben dürfen, aber die Tatsache blieb, daß er welche hatte, freilich selten und dann in einer kalten, phlegmatischen Art. »McNulty wird damit nicht einverstanden sein«, sagte ich. »Er wird sagen, daß die Behörden es eine mutwillige und unnötige Zerstörung nennen werden.« »Richtig«, sagte Jay mit verdächtiger Bereitwilligkeit. »Daran hatte ich nicht gedacht. Ein Jammer!« Er sagte es mit absolut unveränderter Stimme, und auch sein Gesicht blieb – natürlich – ohne jeden Ausdruck. Er ging nach vorn, um mit Quirk zu sprechen. Bald darauf begann das Schiff eine Anzahl Sturzflugmanöver auszuführen, und als ich an eine Sichtluke ging, sah ich, daß wir unterwegs ein paar Antennen mitnahmen. Es war mir sofort klar, daß Jay seine Finger dabei im Spiel hatte. Wir überflogen die riesige Stadt mit ihren breiten, wimmelnden Straßen. Ich glaubte zu sehen, daß die Zahl der stehengebliebenen Maschinen größer geworden war. Diese
Metropolis bedeckte eine Fläche von wenigstens dreißig Quadratkilometern, und alles an ihr war aus Metall. Ich hatte noch nie im Leben so viel Metall an einer Stelle gesehen. Unter uns, in den Vororten, verharrten die eiförmigen Maschinen in steinerner Unbeweglichkeit, und mit ihnen noch drei oder vier andere Typen. Auf den breiten Ausfallstraßen nach Norden und Süden sah ich zahlreiche Kriegsmaschinen auf dem Marsch. Das Schiff hob die Nase, und wir stiegen rasch auf sechstausend Meter. Am südlichen Horizont reckte eine zweite Stadt ihre hohen Gebäude und Funkmasten in den Himmel.
Wie ein schöner silberner Fisch lag die Marathon auf der schwärzlichen Ebene. Die Pinasse landete, sanft aufsetzend, neben ihr, und wir sprangen ins Freie. Der größte Teil der Besatzung arbeitete am Schiffsheck, aber bei unserer Ankunft ließen die Leute ihre Arbeit liegen und kamen gerannt. Erst jetzt erinnerte ich mich, daß mein Bauch seit vielen Stunden leer war. Wir hörten den anderen Teil der Geschichte über einer mehr als willkommenen warmen Mahlzeit. Es stellte sich heraus, daß die Marsleute alle Angriffe abgewehrt hatten, bis die Särge und Kugeln sich schließlich zurückgezogen hatten, um in einigem Abstand vom Schiff zu warten. Worauf sie gewartet hatten, wußte niemand zu sagen, vielleicht darauf, daß die Verteidiger das Schiff verließen und im Freien niedergestreckt werden könnten, oder noch wahrscheinlicher, daß irgendeine andere Maschine käme, die für einen Kampf gegen solche Gegner besser geeignet war. Unsere Marsleute hatten die Gelegenheit genutzt, um in der Pinasse das Weite zu suchen, und gesehen, wie ihre Belagerer das verlassene Schiff gestürmt hatten. Aber außer einigen
herumliegenden Wracks hatte die Horde der feindlichen Maschinen das Feld längst geräumt, als wir zurückkehrten. »Ich glaube«, grübelte Jay Score, »daß bloße Bewegung ihre Definition für intelligentes Leben ist. Was sich bewegt, lebt. Die Marathon hat kein eigenes Leben, darum betrachteten sie das Schiff nicht als Bedrohung. Sie waren hinter der Mannschaft her, und als diese fort war, kümmerten sie sich nicht mehr um das Schiff. Keiner von uns hat daran gedacht, den Versuch zu machen, aber ich halte es für möglich, daß sie einen in Ruhe lassen, wenn man sich ohne die geringste Bewegung hinstellt. Ja, ich halte das sogar für sehr wahrscheinlich. Bewegt man sich, sind sie sofort hinter einem her.« »Ich habe jedenfalls keine Lust, den Trick auszuprobieren«, sagte eine trockene Stimme. »Wenn es darauf ankommt, verlaß ich mich lieber auf meine Beine.« »Ich frage mich, ob sie wieder angreifen werden, bevor wir mit den Reparaturen fertig sind«, sagte ich. »Das kann niemand sagen«, antwortete Jay. »Aber nach meiner Meinung haben sie eine höchst merkwürdige Mentalität, wenn man es so nennen kann. Sie finden sich mit dem Gewohnten ab, verhalten sich jedoch allem Ungewohnten gegenüber spontan feindselig. Dieses Schiff wurde nur angegriffen, weil es ein unbekannter Eindringling war. Aber inzwischen fungiert es in ihrem gemeinschaftlichen Erinnerungsvermögen wahrscheinlich als ein bekanntes Wrack, das keine besondere Aufmerksamkeit verdient. Erst wenn eine zufällig vorbeiziehende Maschine erneute Aktivität von hier meldet, wird man sie vielleicht mit unserer Flucht in Verbindung bringen und etwas unternehmen.« Er warf einen Blick hinaus auf die staubige Ebene unter der niedergehenden Sonne. »Es wird gut sein, wenn wir uns beeilen.«
Alle Mann beteiligten sich an den Reparaturarbeiten. Nachts wurden die Scheinwerfer auf das Schiff gerichtet, und überall zischten Schweißgeräte, wurde gehämmert und geschraubt. Alles das war wenig geeignet, unsere Anwesenheit geheimzuhalten, aber wenn wir das Schiff in möglichst kurzer Zeit startklar machen wollten, mußten wir das Risiko eingehen. McNulty schwankte zwischen Optimismus und verdrießlicher Unzugänglichkeit, da er vor Beendigung unserer Arbeiten einen neuen Angriff befürchtete, aber am folgenden Nachmittag um zwei Uhr war die mühselige Reparatur beendet, und wir starteten. Unten im Laderaum weideten sich unsere Regierungsexperten am Anblick unserer Beute: drei beschädigten Kugeln und zwei ruinierten Särgen, die wir auf dem Schlachtfeld gefunden hatten. In mehreren tausend Metern überflogen wir die Schauplätze unserer gefahrvollen Abenteuer, näherten uns der zweiten, südlichen Stadt und landeten in der Nähe eines Randbezirks. »Hier stellen wir einen neuen Faktor dar«, bemerkte Jay Score. »Nun wollen wir sehen, wie sie darauf reagieren.« Ich kontrollierte es auf meiner Armbanduhr. Der Angriff erfolgte nach genau siebenunddreißig Minuten. Die Strategie war diesmal anders. Zuerst erschienen die Reporter, beäugten uns mit vielem Hin und Her von allen Seiten und eilten zurück in die Stadt. Dann watschelten sechs oder sieben güterwagengroße Apparate heran, richteten Scheiben auf uns und badeten das Schiff mit ihren Strahlen. Sofort kam Steve Gregory aus seiner Station geschossen und klagte mit aufgeregt oszillierenden Augenbrauen, daß seine Funkgeräte ausgefallen seien. Draußen folgten den Scheiben-Manipulierern weitere Streitkräfte. Dinger mit gewaltigen Greifklauen, Maschinen mit einer Vielzahl eingebauter Werkzeuge, Särge und Kugeln, alle machten sich an unser Heck heran. Zwei Giraffen
erschienen auf der Bildfläche und posierten ahnungslos für Wilsons Kamera. Doch nun entschied der Skipper, daß wir lange genug gewartet hätten und den Gegnern keine Zeit geben sollten, an unserem Schiff herumzuspielen. Mit einem mächtigen Aufbrüllen und einer Staubwolke, die die Landschaft vernebelte, schossen wir himmelwärts und ließen die Maschinen konsterniert zurück. Zwanzig Minuten später landeten wir in der Nähe einer breiten, aber wenig benutzten Straße und warteten, daß jemand allein des Weges kam. Der erste Wanderer war ein galoppierender Sarg mit acht gleichmäßig dahinstampfenden Beinen, vier angelegten Armen, zwei Greifern vorn und der wie ein vereinzeltes Haar über dem Kopfende wehenden Antenne. Sechs von uns versperrten ihm den Weg mit gezogenen Strahlpistolen, was mehr eine Geste als eine echte Bedrohung war; sie konnten gegen diese Metallungeheuer nicht viel ausrichten, wie wir nur zu gut wußten. Es war Jay Scores Idee gewesen, der McNulty nur sehr widerwillig zugestimmt hatte. Der Skipper hatte darauf bestanden, daß eine Schnellfeuerkanone Feuerschutz gab, während wir Wegelagerer spielten. Ich sah die beiden Läufe drohend aus der nächsten Luftschleuse spähen und den Bewegungen des Sarges folgen. Dieser verlangsamte seine Gangart und blieb stehen. Sechs andere liefen hinter unserem Opfer auf die Straße, vier weitere besetzten die der Marathon abgewandte Seite. Der Sarg sah uns aus glänzenden und ausdruckslosen Linsen an, und seine Antenne geriet in zitternde Bewegung. Ich hatte das ungute Gefühl, daß seine Kameraden bereits Bescheid wußten und einen Einsatztrupp mobilisierten. Ich wußte auch, daß wir ihn nicht halten konnten, wenn er sich zum Durchbruch entschloß.
Viele Sekunden lang starrte das fremde Ding uns an, und wir starrten zurück. Dann drehte es sich schwerfällig um, offenbar mit der Absicht, den Rückzug anzutreten. Nun fand es auch diesen Weg versperrt, machte wiederum kehrt und blickte in die alte Richtung. Wir sahen einander an, bis die Stille und die Spannung unerträglich wurden. Das Ding rührte sich nicht von der Stelle. »Wie ich mir gedacht habe«, erklärte Jay befriedigt. Dreist ging er auf den Sarg zu, bis er nur noch drei Schritte vor ihm stand, zeigte zur Marathon, machte eine auffordernde Geste und ging voraus. Eine Einladung zum Mitkommen ist unmißverständlich, wenn sie als Gebärde einem selbständig denkenden Wesen zugedacht ist. Ich erwartete ganz gewiß nicht, daß dieses groteske Monstrum der Geste folgen würde. Aber, ob man mir glaubt oder nicht, es gehorchte! Jay marschierte voran, seinen breiten Rücken dem Sarg zugekehrt, und der Sarg erwachte zum Leben und folgte ihm mit dem langsamen, sanftmütigen Schritt eines alten Karrengauls. Es war das erste- und einzige mal, daß ich unseren Schraubenschlüsselhalter sein Werkzeug loslassen sah. An der Luftschleuse, wo der stieläugige McNulty ihn erwartete, sagte Jay: »Keine Angst, diese Maschine hat eine sonderbare Ethik, wie ich schon vermutet hatte. Sie glaubt, sie sei meine Gefangene und müsse sich darum in ihr Schicksal fügen.« Er führte den Sarg hinein, parkte ihn in einer Ecke des Laderaums; der Gefangene blieb gehorsam stehen und schien nicht an Flucht oder Gewalttätigkeit zu denken. »Vermutlich wird das Ding leblos, sobald wir die Strahlungssphäre verlassen, der es seine Energie entnimmt. Steve sollte sich darum kümmern; vielleicht kann er ihm mit Batterien eine unabhängige Energieversorgung basteln.«
»Hmm!« McNulty starrte eulenhaft auf den Sarg. Dann drehte er sich um. »Steve soll herkommen.«
Die Gefangennahme des potentiell gefährlichen Gegners beschäftigte noch unsere Gedanken, als wir die Schleusen dichtmachten und uns auf die endgültige Abreise vorbereiteten. Diese Maschinen kämpften anscheinend nur in Gruppen, nicht als Individuen. Wir konnten dem Sarg nicht ins Gehirn sehen – wenn er eins hatte –, aber wir fragten uns, ob er wie die Hummer von den Händen seiner eigenen Gefährten den Tod empfangen würde, wenn er jemals zurückkehrte. Ihre Art, diese Dinge zu betrachten, war verdreht, und am verrücktesten war ihre Intoleranz gegenüber einer Initiative, wie wir sie gezeigt hatten. Aber war sie wirklich so verrückt, verglich man sie mit der Ethik der Menschen? Vielleicht hängt es davon ab, was man unter menschlich versteht. Ich bin kein Wissenschaftler und kein Historiker, aber ich glaubte mich an einen früheren Krieg zu erinnern, in der fernen Vergangenheit des dunklen Zeitalters, wo die Japaner sich weigerten zuzugeben, daß sie Vermißte hatten und sie kurzerhand für tot erklärten. Bald lernten wir, daß integrierte Mentalitäten nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile haben. Wir starteten, zogen in steiler Kurve himmelwärts, durchstießen eine dünne Wolkendecke und sichteten prompt vier lange schwarze Raketenschiffe. Es waren Schiffe von der Art, wie wir sie schon einmal gesehen hatten, und sie jagten in perfekter Keilformation dahin. Sie sahen uns und reagierten mit einem eindrucksvollen Manöver, das alle vier zugleich ausführten. Ich mußte an eines der noch unentdeckten Naturgeheimnisse denken, nämlich wie ein Vogelschwarm oft im Flug Kurs und Formation ändert,
abschwenkt, aufsteigt oder kreist, wie wenn die einzelnen Tiere von einem gemeinsamen Verstand gelenkt würden. Diese Schiffe verhielten sich genauso. Sie änderten gleichzeitig Kurs und Formation, hielten auf uns zu und tauchten uns wieder einmal in ihr blaßgrünes Licht, das sich schon früher als unwirksam erwiesen hatte, aber Steve Gregory prompt zu einem neuen Wutausbruch verhalf. Ich hatte noch nie eine so perfekte Zusammenarbeit gesehen. Es nützte ihnen nichts. Hätten ihre Strahlen funktioniert, wie sie es erwarteten, wären wir bald nur noch ein rauchender Trümmerhaufen auf der Planetenoberfläche gewesen. Aber wir schossen durch ihre Lichtkegel aufwärts, dem freien Raum entgegen. Sie verfolgten uns, änderten mit atemberaubender Präzision wiederum die Formation zu einer Kette und starteten alle gleichzeitig ihre Hilfstriebwerke. Der Abstand verringerte sich. »Ziemlich schnell«, sagte Jay. »Ungefähr so schnell wie wir, wenn wir mit Raketenantrieb fahren. Ich würde mir gern einmal ihre Maschinen und Piloten ansehen.« »Danach habe ich kein Verlangen«, grunzte McNulty. »Für diesmal habe ich genug von ihnen.« Er brüllte einen Befehl für den Maschinenraum, und die Marathon sackte durch, bevor sie mit verstärkter Kraft steil in den Himmel schoß. Die vier Verfolger wiederholten unser Manöver. Grünliche Lichtfinger tasteten noch einmal zu uns herüber, zeigten keine Wirkung und erloschen. Dann blitzten steuerbords vier Feuerstrahlen vorbei, kaum hundert Meter neben unserem Rumpf. »Das ist genug!« erklärte McNulty, der keine Neigung zeigte, das Schicksal herauszufordern. »Anschnallen!« Wir hatten kaum Zeit, seinem Befehl zu folgen, da ließ er den Flettnerantrieb einschalten. Ich konnte die vier schwarzen Schiffe nicht sehen, aber sie mußten während der Dauer eines Herzschlags zu winzigen Punkten geschrumpft sein. In
unschlagbarer Geschwindigkeit ließen wir das Sonnensystem hinter uns zurück, so schnell, daß niemand die Wasserwelt Varga sah. Sie würde bis zu einer neuen Reise warten müssen. Den ganzen Rückweg blieben die Marsleute bei drei Pfund Luftdruck in ihrem Quartier, wo sie sich dem Schachspiel hingaben. Jay Score verbrachte einen guten Teil seiner Zeit mit Steve Gregory im Laderaum – vermutlich um den Sarg zu versorgen –, aber die Marsleute überredeten ihn zu siebzehn Schachpartien, von denen er drei gewann. Außerhalb der Erdatmosphäre begegneten uns zwei Kreuzer und eskortierten die Marathon hinunter. Die gewohnten braunen, blauen und grünen Farbtöne des alten Erdballs waren der lieblichste Anblick, den ich seit langem genossen hatte, und dann landeten wir, während die ganze Erde das Manöver im internationalen Fernsehen verfolgte. McNulty hielt die erwartete Rede. »Wir hatten eine etwas schwierige Zeit«, sagte er. »… bedauerliche Feindseligkeiten… unglückliche Episode…« und so weiter. Auch Flettner war zugegen, und er errötete wie ein Schuljunge bei McNultys häufigen Hinweisen auf die Leistungsfähigkeit des Schiffes, die endlich einmal frei von seinen üblichen Untertreibungen waren. Im Hintergrund der Menge, die sich zu unserer Begrüßung versammelt hatten, sah ich Knud Johannsen, den alten Roboterkonstrukteur. Der weißhaarige Mann versuchte sich durch das Gedränge nach vorn zu kämpfen und hielt unruhig nach Jay Ausschau. Manchmal frage ich mich, ob ich Vorahnungen habe – denn obwohl ich nicht wußte, was kommen sollte, erinnerte mich der Anblick des besorgten Alten an einen liebevollen Vater, der seinen Sohn sucht. Der Beifall endete, und wir begannen auszuladen. Kanister mit nach Kupfer schmeckendem Wasser, Stahlflaschen mit komprimierter Luft vom fremden Planeten, Hunderte von Erd-
und Gesteinsproben wurden von Bord geschafft. Dann brachten wir die beschädigten Maschinen heraus, und die Regierungsexperten verluden sie auf armierte Militärlastwagen und sausten mit einer Soldateneskorte davon, als ob sie die Juwelen Asiens abtransportierten. Nun schob sich Knud Johannsen aus der Menge, kam zur Gangway und fragte mich schüchtern: »Bitte, Sergeant – wo ist Jay?« Er hatte keinen Hut auf, und seine silberweißen Locken schimmerten in der Sonne. Im gleichen Augenblick trat Jay Score aus der Luftschleuse. Seine Augen fanden den alten Mann am Fuß der Gangway sofort. Wie jedermann weiß, können Roboter keine Bonmots erfinden, das ist einfach nicht möglich, und Jay hatte in seiner Existenz noch keins geprägt. Aber diesmal kam er mit einem Bonmot heraus, das zu den besten gehört, die ich je zu Ohren bekommen habe. Er nahm Knud Johannsens dünne geäderte Hand in seine mächtige metallische Pranke und sagte: »Hallo – Papa!« Ich konnte Johannsens Gesicht nicht sehen, aber ich hörte Jay hinzufügen: »Ich habe dir ein interessantes Andenken mitgebracht.« Damit zeigte er auf die Luftschleuse, aus der lautes Klappern und der Geruch warmen Maschinenöls drangen. Der gefangene Sarg kam zum Vorschein, die Kupferantenne eingerollt und durch einen Draht mit einem kleinen schwarzen Kasten auf seinem Rücken verbunden. Steve Gregory folgte ihm mit bedeutungsvoll hochgezogenen Brauen, wie ein Bauer, der seinen prämiierten Mastochsen zum Markt treibt. Arm in Arm schlenderten Knud und Jay davon, gefolgt von dem fremden Automaten und Steve. Ich verlor sie aus den Augen, als ein Lieferwagen vorfuhr und zwei starke Männer eine riesige unförmige Vase von abstoßender Farbe zur Gangway schleppten.
Am Eingang in die Luftschleuse machten sie schnaufend halt, und einer von ihnen zog einen Frachtbrief aus der Tasche. »He, Mister, dieser Spucknapf ist für ein Besatzungsmitglied namens Kli Morg. Eine Meisterschaftstrophäe, was immer das sein mag.« »Ich werde ihm Bescheid sagen«, antwortete ich. »Inzwischen könnt ihr das Ding wieder hinuntertragen – der Skipper duldet so was nicht an Bord.« Auf dem Rückweg zerbrachen sie die Vase – zum Glück.
Originaltitel: MECHANISTRIA Aus MEN, MARTIANS AND MACHINES Übersetzt von Walter Brumm
Michael G. Coney KOMMUNIKATIONSPROBLEM
Gesichter erkannte ich keine an jenem Morgen; nur ein Meer von trinkenden Gestalten. Ich weiß, daß ich sehr beschäftigt war, und wenn das Lokal voll ist, vergeht die Zeit meist im Flug. Aber dieser Morgen zog sich hin. Mein Gott, er wollte nicht zu Ende gehen. Ich entsinne mich, daß die Stammgäste harmlose Witze, machten, als sie meine Zerstreutheit bemerkten, als ich ihnen Scotch statt Bier gab und als sie, wenn sie mich auf den Irrtum aufmerksam machten, trotzdem nicht das Richtige bekamen… Endlich war es 15 Uhr. Ich sagte, daß jetzt Schluß sei, und einer nach dem anderen zahlte und ging. Hinter dem letzten Bummler schloß ich die Tür und machte mich dann planlos an der Theke zu schaffen, nahm Gläser in die Hand, stellte sie wieder hin… Ich drehte das Wasser an, ließ die Spüle vollaufen, legte ein paar schmutzige Gläser hinein und schwenkte sie geistesabwesend herum. Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich stellte die Gläser zum Trocknen hin, machte die Tür auf und ging hinaus, im Magen ein flaues Gefühl der Vorahnung. Ich überquerte die Straße und ging über das kurze, strohige Salzgras zum Rand der Felsklippe. Dort wandte ich mich um und blickte landeinwärts. Weit entfernt, jenseits der Felder, erhob sich ein geisterhaftes Gebilde aus Staub in der stillen Luft, bewegte sich langsam, zu langsam.
Während ich es beobachtete, wanderten meine Gedanken zurück, und es war wieder jener heiße Sommertag vor drei Jahren…
Ich stand, ohne an irgend etwas Besonderes zu denken, in der Eingangstür des Lokals und betrachtete das in der Nachmittagssonne glitzernde Meer; in der Ferne lag blaugrauer Dunst, so daß der Horizont nur undeutlich zu erkennen war. Es war heiß, feucht, fast schwül, und einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, zu dem kleinen Dorf am Strand hinunterzulaufen und mich in den Fluten abzukühlen. Von hier aus, knapp unterhalb des Gipfels der Felsklippe, sah das Wasser unten in der kleinen Bucht, die den Hafen des Dorfes bildete, klar und einladend aus: Ich konnte bis auf den Grund sehen, wo silbriger Kies ins Dunkelgrün am Fuß des Felsens überging. Vor 17 Uhr brauchte ich die Bar nicht zu öffnen; ich hatte Zeit genug… Aber ich durfte die Gäste nicht vergessen. Die Pensionsgäste. Sie hatten geschrieben, daß sie im Laufe des Nachmittags ankommen würden. Wenn sie dann vergeblich auf den Klingelknopf drückten und ratlos vor der Tür warten müßten, während ich wieder vom Dorf heraufrannte, nasses Badezeug in der Hand, nein, das würde keinen guten Eindruck machen. Sie würden erhitzt und müde sein und ein Bad und Getränke verlangen. Mein Haus ist nichts Großartiges. Ich habe nur drei Zimmer zu vermieten, aber ich lege großen Wert darauf, daß man sich bei mir wohlfühlt. Außerdem lebe ich davon. Also begnügte ich mich damit, die zweihundert Meter zum Rand der Klippe vorzuschlendern. Da stand ich in Hemd und Shorts, wünschte mir eine kühle Brise, und betrachtete die See und die Vögel, welche um den Gull Crag herumflogen.
Gull Crag ist immer wieder bestiegen worden. Oft habe ich durchs Fenster zugeschaut, während ich hinter der Bar stand. Einmal habe ich ihn selbst bestiegen. Dann nie mehr wieder. An der Stelle, wo ich stand, fiel der Fels etwa achtzig Meter ab bis zur ruhigen, tiefen See. Zwanzig Meter unterhalb war ein brüchiger Sims, eine natürliche Brücke, die den unheimlichen Abgrund zwischen der Klippe und dem Gull Crag überspannte. Gull Crag selbst war aus dem gleichen Gestein wie die Klippe, ein hochragender Gesteinsturm, der sich fast senkrecht aus dem Wasser erhob. Höher noch als die Felsklippe, auf der ich stand, sah Gull Crag aus wie der knotige Arm eines alten, ertrinkenden Riesen. Und die Leute stiegen zum Vergnügen hinauf. Griffe, so hörte ich dann, waren schwer zu finden. Die meisten brachen ab, sobald man sich festhielt. Dennoch kletterten sie immer wieder an der Klippenwand zu der Brücke hinunter und tasteten sich dann vorsichtig hinüber. Angstvoll grinsend begannen sie dann den Aufstieg, während an windigen Tagen das Meer tief unten wütend schäumte und tobte. Jedes Jahr, wenn in den Novemberstürmen die Brecher gegen den Fels schlugen, bröckelte die Brücke ein wenig ab. Eines Tages würde Gull Crag selbst stürzen, vielleicht noch zu meinen Lebzeiten. Nie mehr würde ich dann diese triumphierenden Narren sehen, wie sie ihren Freunden in der Bar von ihrem unsicheren Standpunkt aus zuwinkten, bis zu den Knöcheln in Möwen-Exkrementen. Der Verfall dieses Wahrzeichens der Gegend stimmte mich traurig. Als ich mich umwandte, sah ich eine Staubfahne, die sich weiter landeinwärts über der gewundenen Straße in die unbewegte Luft erhob. Die Gäste. Niemand aus unserem Ort kam um diese Zeit aus der Stadt zurück. Ich verließ den Gipfel und ging zu meinem Haus zurück, wobei ich mein freundliches, offenes Lächeln übte.
Ich ging hinein, schloß die Tür hinter mir und wartete. So mache ich es stets; es gibt mir die Möglichkeit, die Persönlichkeit der Neuankömmlinge abzuschätzen, bevor sie mich selber sehen und auf der Hut sind. Nach einer Weile sah ich sie. Vorsichtig, um nicht entdeckt zu werden, spähte ich hinaus. Was sich mir darbot, war ein Gemisch von schwitzendem Unbehagen und griesgrämiger Verbitterung. Ich hatte das Gefühl, Leute vor mir zu haben, deren umgängliches Wesen nur ein Anstrich war, der jetzt in der Feuchtigkeit abblätterte. Das würde wieder eine schöne Woche werden. Man hat es eben mit den verschiedensten Typen zu tun. Ich machte die Tür weit auf und trat ins grelle Sonnenlicht. Es war wie ein Schritt in einen Ofen hinein. Bonhomie ausstrahlend, lächelte ich. Der Wagen lag da wie ein mächtiger gestrandeter Wal. Es war eines jener Modelle mit Flügelansätzen, emaille- und platinüberzogen, die Seiten reich ornamentiert. Eine der Türen hob sich lautlos; heraus trat eine große, schlanke Frau, deren Aufputz dem des Wagens in nichts nachstand. Ihre Begrüßung wirkte auf mich wie ein Säbelhieb. »Hera Piggott«, stellte sie sich vor. Ihr Blick war voll Hochmut, und ihre offen zutage liegenden Gedanken verrieten mir, was sie von mir hielt. Ich trug einen Kittel mit drei XXX auf der Brust. Mein Gesicht war unter einem riesigen Schlapphut fast verborgen, meine Füße steckten in hohen Schnürstiefeln. Ich stellte fest, daß Mrs. Piggott mir nicht gefiel, doch verbarg ich das vor ihr. In meinem Beruf muß man auf diesem Gebiet ein Experte sein. »Jack Garner«, antwortete ich höflich. Eine weitere Flügeltür des Wagens ging nach oben, dann noch eine. Es sah aus, als spreizten sich Schuppen ab. Eine stattliche Gestalt mit beginnender Glatze erhob sich vom
vorderen Beifahrersitz. Hera Piggott hatte chauffiert. Wie hätte es auch anders sein können. »Mr. Piggott.« Seine Frau ließ ihm keine Zeit, sich selbst vorzustellen. Die Kraft ihrer Ausstrahlung überdeckte völlig seinen schwachen Charakter. »Piggy«, dachte sie bei sich, und der Chor lautlosen Gekichers von den anderen noch unsichtbaren Passagieren wurde spöttisch, als sich zur Vorstellung eines Tölpels die des Schweins gesellte. Aber da gab es ein Element der Uneinigkeit. Ein junges Mädchen entstieg dem rückwärtigen Teil des Wagens und glättete den kurzen Rock, wenig belustigt von den karikierenden Vorstellungen der anderen. »Ich bin Mandy. Freut mich sehr.« Sie meinte es sogar ernst. Sie lächelte mir zu; ihre Empfindungen waren gemischt aus Freundlichkeit und einer seltsamen Art Mitgefühl und… irgend etwas anderem, was ihre Gedanken verbargen und ihr offener Blick doch zum Ausdruck brachte. Sie drehte sich um und betrachtete die Landschaft, und plötzlich empfing ich von ihr ein Bild vom Gull Crag. Sie sah wie sechzehn aus, doch ich hielt sie für jünger. Sie war ziemlich groß, mit einer prächtigen Figur. »Meine Tochter.« Das kam von Hera Piggott – ohne Stolz. Eigentlich mit kaum verhüllter Antipathie. Eifersucht vielleicht. »Jim Blantyre«, verkündete ein dunkelhaariger Gigolo, der seiner Gattin – »Joyce«, ergänzte er – mit übertriebener Ritterlichkeit aus dem Wagen half. Joyce sah piepsig und duckmäuserisch aus, das Gegenteil von Hera. Ich hatte sogleich den Eindruck, daß Jim und Hera irgendeine Gemeinheit im Schilde führten, und daß Piggy und Joyce nicht den Mut hatten, etwas dagegen zu unternehmen. Nach zehn Jahren in diesem Hause konnte ich neue Gäste ziemlich schnell einschätzen, ob sie nun mit ihren Gedanken hinter dem Berg hielten oder nicht.
Nach der Vorstellung empfing ich ein fast identisches Bild von vier Personen. Sie wünschten sich ein kühles Bad und Cocktails. Die fünfte Person, Mandy, hielt sich mit ihren Gedanken zurück – oder vielleicht waren sie nur von denen der anderen überlagert. Ich hatte nur ein Bad und besaß keine Kenntnisse im Cocktailmixen, aber ich behielt es für mich. Sie würden es schon herausfinden. »Kommen Sie herein… Ich werde Sie zu Ihren Zimmern führen.« Sie kamen hinter mir her und drängten sich in die Bar, Getränkebilder aussendend. Die ignorierte ich; ich wollte sie erst zu ihren Zimmern bringen und das Gepäck hereinschaffen. »Vielleicht sollten wir zuerst alles in Ordnung bringen und dann einen guten, geruhsamen Drink nehmen«, ließ ich mich vernehmen und versuchte, meinen Worten einen Unterton von Logik und Vernunft zu geben. Sie stimmten zu, widerwillig, wie mir schien, und ich ging ihnen voraus, zeigte ihnen die zwei Doppel- und das Einzelzimmer, und kümmerte mich dann um das Gepäck. Es gab eine ganze Menge davon, und in jedem der Doppelzimmer entstanden Meinungsverschiedenheiten darüber, wohin die Koffer gestellt werden sollten. »Dort drüben.« »Nein, Liebster. Auf das Bett, so daß wir auspacken können.« »Nein. Aufs andere Bett, es ist näher am Schrank.« Und so fort. »Tun Sie ihn irgendwohin.« Das war das Einzelzimmer, Mandy. Und der letzte Koffer. »Ich nehme nie viel mit. Dann muß ich mir nicht dauernd den Kopf zerbrechen, welches Kleid ich anziehen soll. Die Kleiderfrage im Urlaub macht Mammi ganz krank. Wir waren schon öfters zusammen fort, saßen dann da und unterhielten uns mit Onkel Jim« – ich spürte einen gewissen, wenn auch nicht allzu deutlichen
Widerwillen –, »und die ganze Zeit, bei allem was sie sagt, zermartert sie sich eigentlich nur das Hirn, ob sie wohl das richtige Kleid anhat. Laufend fange ich Bilder von ihr auf, wie sie sich in anderen Kleidern vorstellt. Schon vor langer Zeit habe ich mir vorgenommen, nie selber so zu werden.« Sie lächelte. Sie war ruhig und selbstsicher. Kommunikation mit ihr war ein Vergnügen. Die Wortbilder waren klar und direkt, der Sinn dahinter entwickelte sich flüssig und einleuchtend. Hübsch war sie auch, mit kurzem Haar nach der aktuellen Mode, und großen braunen Augen in einem ovalen Gesicht. Ein schöner, großer Mund mit kleinen Grübchen in den Winkeln. Ich fing mich gerade noch, als ich mich unverhüllt zu fragen begann, wie es wohl wäre, sie zu küssen. Um Himmels willen, dafür war ich vielleicht schon etwas zu alt, und sie war noch ein halbes Kind. »Wie alt sind Sie, Mandy?« fragte ich. Sie kicherte und schickte mir eine Reihe von Zahlen herüber, groß und in altmodischer Schrift. 21, 20, 19… 17… nach jeder Zahl wurde die Pause länger; sie wartete auf ein Signal von mir, daß ich ihr glaubte, dann würde sie anhalten. Ich tat ihr den Gefallen, und die 17 flimmerte und verschwand, ohne daß eine weitere Zahl folgte. »Siebzehn«, wiederholte ich und zog im stillen einiges davon ab. »Ich glaube, ich muß jetzt gehen und die Cocktails mixen.« »Bis gleich«, erwiderte sie mit einem Bild von sich: In knappen schwarzen Shorts und einem weißen Hemd kam sie die Treppe herunter. Ich hatte den Eindruck, daß sie nach Anerkennung und Bewunderung heischte. Ich lächelte und ging wortlos hinaus. Die Drinks belebten die Gäste; die Atmosphäre wurde entspannter, als sie an der Bar saßen und mich nach den Besonderheiten des Ortes fragten. Sie waren überrascht, als ich
ihnen klarmachte, daß ich schon zehn Jahre lang im Hause lebte. »Finden Sie’s im Winter nicht etwas langweilig?« Heras Frage war mit einer Schneelandschaft ausgeschmückt, mit Schneeverwehungen vor der Haustür und einer jungfräulich weißen Straße ohne jegliche Spuren. Ich lächelte und schickte ihr das Bild von der Bar am Abend, mit all den Gästen aus dem Ort und dem offenen Feuer im Kamin, das sich in den Gläsern flackernd widerspiegelte. »Ja, aber etwas Besonderes kann doch hier nicht los sein.« Ein Bild einer fröhlichen Party mit Leuten, die Ballons zum Platzen brachten und wo Hera im Mittelpunkt des Geschehens stand. Draußen eine belebte Straße; darüber ein Gedränge von Helicars. Ich versuchte zu erklären, wie sehr mir die Stadt zuwider war: die Gerüche, das Gedränge, die Hast; daß ich zwanzig Jahre dort gelebt hatte, und wie froh ich war, es endlich hinter mir zu haben. Doch wie immer überging ich den wirklichen Grund. Ich möchte nicht gern für absonderlich gehalten werden… Mandy hatte ihr Bad genommen, hatte sich angekleidet und kam herunter. Ich war überrascht, daß ich sie auf diese Entfernung schon wahrnehmen konnte. Flüchtig überprüfte ich die anderen, doch die waren ganz mit der Diskussion über eine Party vom Vorabend beschäftigt. Piggys Gedanken waren von einer Empfindung des Ekels begleitet. Er hatte die Getränke nicht vertragen, erklärte er gerade. Jemand mußte damit manipuliert haben. Jim zeigte ein breites Grinsen; er sah Piggy noch vor sich, flach auf dem Rücken liegend, während sich die Tanzenden um ihn drehten. Mandy erschien jetzt oben an der Treppe, blieb einen Augenblick stehen, um sich zur Geltung zu bringen, und kam dann die Stufen herunter. Tatsächlich trug sie die schwarzen
Shorts und das weiße Hemd, und ich muß zugeben, daß es ein ergötzlicher Anblick war. Ihre Beine waren lang und schlank, und ich bemerkte, daß Hera unwillkürlich ihren Rock nach unten zog, um Schenkel zu verdecken, die fett zu werden begannen. »Das hat lange gedauert. Wir brauchen doch alle ein Bad, nicht wahr. Du könntest etwas Rücksicht auf andere nehmen, junge Dame«, war Heras säuerlicher Kommentar. Mandy gab keine Antwort; sie sandte den Vorschlag aus, einen Spaziergang zu machen, doch blinzelte sie mir dabei zu, und ich empfing ein schwaches Bild vom Gull Crag und dem offenen Meer. Dann schaute sie Jim an, und die See wurde bewegt, und Gull Crag stürzte ein und versank in den Fluten. Als die Einheimischen an jenem Abend nach Hause getorkelt waren und die Bar verlassen war, saßen wir bei einem oberflächlichen Gespräch; besonders Hera und Jim bemühten sich, nach der langen Fahrt ihr Soll an Drinks zu erfüllen. Sie erzählten mir etwas über sich selbst; Piggy und Jim waren offenbar Geschäftspartner, wiewohl die genaue Art des Geschäftes nicht zu erfahren war. Mein Eindruck war jedoch, daß es eines der Unternehmen war, wo man Risiken eingehen mußte, um schnell Geld zu verdienen. Hera und Piggy waren fünf Jahre verheiratet, beide zum zweitenmal. Mandy stammte aus Heras erster Ehe. Während Hera mich in die Einzelheiten einweihte, glaubte ich ein starkes Band gegenseitiger Zuneigung und Achtung zwischen Mandy und ihrem Stiefvater zu bemerken. Joyce, so schien mir, war um einiges älter als Jim. Auch sie waren fünf Jahre verheiratet, hatten aber keine Kinder. Joyce machte das unglücklich, und ich empfing ein trauriges kleines, halb verstecktes Bild von ihr, wie sie Kinderkleider an einer Wäscheleine aufhängte.
Jim wollte keine Kinder, so viel war klar. In der Tat war es offensichtlich, daß er Hera wollte, aber er machte nicht zu übersehende Bemühungen, um es zu verbergen. Aus all dem schloß ich, daß er Joyce um ihres Geldes willen geheiratet hatte und es inzwischen bedauerte, aber aus der Ehe nicht mehr herauskonnte, weil… möglicherweise weil Joyce die Aktienmehrheit an seinem Unternehmen besaß. Mandy saß etwas für sich; sie behütete ihre Gedanken wohl; von Zeit zu Zeit verdüsterte sich ihre Miene bei Ideen, die mich nicht erreichten; am allgemeinen Gespräch nahm sie nicht teil. Nach dem Abendessen hatte sie allein einen längeren Spaziergang unternommen, während die anderen ihr Mahl mit Cocktails hinunterspülten. Jetzt trank sie Mineralwasser, schaute hin und wieder zu uns herüber, zumeist aber in ihr Glas. »Du solltest zu Bett gehen, Mandy.« Heras Blick kreuzte sich mit ihrem. Aber Mandy reagierte nicht; sie schien traumverloren und sah mehr durch Hera hindurch als sie an. »Verdammtes Gör.« Hera wurde ungehalten. »Den lieben langen Tag bläst sie Trübsal und geht allen auf die Nerven. Zum Kuckuck, nimm mal einen richtigen Drink und amüsier dich.« Mandys Blick blieb rätselhaft, ihr Blick suchte ihren Stiefvater.
Nach einigen Tagen wurde das Wetter feuchter und die Gäste reizbarer. Jeder von ihnen war unruhig, ja aufbrausend, jeder schien den anderen nur Ärgernis zu sein, und selbst das scheinbar heranreifende Verhältnis zwischen Hera und Jim schien im Sande zu verlaufen. Am vierten Tag waren sie zu erschöpft, um am Nachmittag noch etwas zu unternehmen, und lagen nur noch auf Luftbetten
neben dem Haus, während ich pausenlos damit beschäftigt war, ihnen Drinks zu bringen, worüber mich nur der Gedanke hinwegtröstete, daß sie mir ein Vermögen einbrachten. Daß sie das ebenfalls dachten, glaubte ich nicht; ich bemühte mich, diese Vorstellung vor ihnen zu verbergen, damit sie nicht plötzlich gewahr wurden, daß dieses Wetter niemandem mehr nützte als mir und aus purer Widerborstigkeit nur noch Eiswasser statt teuren Cocktails tranken. Mandy war nicht mehr da; sofort nach dem Mittagessen war sie auf eine ihrer Privatexpeditionen gegangen. Mir fehlte sie. Ich hatte sie nicht sehr oft gesehen, doch fand ich sie recht umgänglich, und ihre Gegenwart machte die anderen erträglicher. Aber während der letzten beiden Tage hatte die Hitze zugenommen, und sogar Mandy war stiller geworden und hatte ihre Gedanken ängstlich behütet. Meinen ersten Eindruck von Offenheit und Aufrichtigkeit mußte ich nun nach und nach revidieren. Mandy war schwer zu durchschauen. Als ich Hera ihren x-ten Drink reichte, vermittelte sie mir ein Bild des Himmels. »Sieht nach Gewitter aus«, meinte sie gedehnt und voll seltsamer Verheißung. »Es könnte etwas Klarheit bringen«, fügte sie rätselhaft hinzu. Piggys Miene war mürrischer denn je. Sein bleicher, kugeliger Körper hatte eine rötliche Färbung angenommen; es sah so aus, als hätte er sich einen häßlichen Sonnenbrand zugezogen. Weiß der liebe Gott, warum er sich nicht zudeckte, sofern er nicht der peinlichen Vorstellung nachhing, daß der Anblick seiner stattlichen, durch großgeblümte Strandhosen vorteilhaft unterteilten Formen anziehend auf seine Frau wirken mochte. Jim war schon regelrecht gegerbt; er war der schnell bräunende Typ. Er warf einen Blick auf die riesige, bis zum Horizont reichende Kumuluswolke und lächelte, und irgend
etwas flog so schnell und vertraut zwischen ihnen hin und her, daß es mir entging. Mandy war da. Sie kam von der Straße und ging über das Gras auf uns zu; sie schien ziemlich erhitzt und gerötet; ihr weißes Hemd klebte an ihrem Körper und verriet die Umrisse ihrer jungen Brüste. Sie ertappte meinen Blick, und plötzlich schien der Blick ihrer braunen Augen der einer wissenden Frau zu sein. Dann blickte sie hinüber zur trägen Truppe der Trinkenden. »Piggy!« Ein heller, liebevoller Zuruf. Ein lebhaftes Bild eines scharlachroten, halbgekochten Hummers mit verzweifelt zuckenden Scheren genügte. »Zieh dich an! Heute abend wirst du todkrank sein!« Piggy erhob sich gehorsam, und sie führte ihn hinein; ein sadistischer Hauch von klebriger Hautkosmetik und tödlichkalten Händen machte sich bemerkbar. Die restlichen drei bestellten weiter Drinks, und Joyce in ihrem schattigen Liegestuhl zwischen Hera und Jim saß nun plötzlich aufrecht da. Ihr kurzes Haar war schweißnaß; abwesend und besorgt starrte sie auf die sich türmenden Gewitterwolken.
Das Gewitter entlud sich während des Abendessens. An ein warmes Mahl mochte niemand auch nur denken, und so hatte ich Salate gereicht. Ich räumte gerade die Teller weg, um Platz für das Eis zu machen, als ein greller Blitz durch die frühe Dämmerung zuckte. Gleich darauf lief strömender Regen die Fenster hinab. Die Kommunikation war zunehmend schwieriger geworden; in der jetzt elektrisierten Atmosphäre war sie nahezu unmöglich. Um Mandy zu verstehen – »Schokoladeneis für mich, bitte. Und ich glaube, Sie sind sehr nett.« – mußte ich
mich weit hinüberbeugen. Ein schneller Blick zu den anderen. Ich war überrascht und lächerlich schuldbewußt, doch sie hatten nichts bemerkt. Selbst bis zur anderen Seite des Tisches war bei diesem Sturm eine Verbindung schwierig. Heras und Jims Blicke trafen sich; Heras Zunge fuhr seltsam erregt über ihre Lippen. Die Kommunikation lag nun völlig darnieder; der Rest des Mahles verging in auch innerlicher Stille. Nie, weder vorher noch nachher, hatte ich mich während eines Gewitters so völlig von der Menschheit und menschlichem Umgang abgeschnitten gefühlt. Doch das versteckte Lächeln auf Heras Lippen und Jims erwartungsvoller Blick ließen vermuten, daß zumindest zweien der Gäste durchaus wohl in ihrer Haut war. Das Essen war beendet. Zum letzten Mal setzte Mandy ihre Kaffeetasse klirrend auf die Untertasse; ihre Hand zitterte merklich. Hera und Jim hatten sie beobachtet, als sie den letzten Schluck hinunterwürgte, und nun erhoben sie sich unvermittelt, etwas zögernd gefolgt von Joyce und Piggy und zuletzt Mandy. Alle gingen hinaus. Ich räumte den Tisch ab und brachte das Geschirr in die Küche. Abwaschen konnte ich später. Zu meiner Überraschung erwarteten mich die anderen in der Bar. Trotz des Regens hatte ich mehr oder weniger erwartet, daß sie ausgehen und den Abend in der Stadt verbringen würden. Als ich eintrat, glitt Hera von ihrem Barhocker und ging auf mich zu. »Scotch, bitte. Einen doppelten. Und noch drei dazu. Und eine Limonade.« Ich versuchte, Kontakt zu den anderen zu bekommen, die nur zwei oder drei Meter entfernt saßen, aber es war wie… es war wie an einem Winternachmittag, wenn der Nebel vom Meer hereintreibt, und wenn man dann durch das Barfenster zur Spitze des Gull Crag drüben über der Klippe hinübersieht, meint man sie zu sehen… ein dunkler Umriß im Grau des Nebels… oder ist es nur Einbildung? Man kann nicht
sagen, ob in diesen wirbelnden Schwaden die Sichtweite fünfzig Meter beträgt oder fünf. So war es an jenem Abend, als draußen die Blitze zuckten und die Atmosphäre spürbar aufgeladen war. An jenem Abend wußte ich nicht, ob ich Mandys leichte, klare Muster empfing, oder ob es Joyces graue, anonyme Denkformen waren. Oder ob ich außer den beinahe schmerzlichen Blitzentladungen und dem Geknister des elektrisierten Nebels überhaupt etwas empfing. Hera wandte sich zum Fenster und schaute in den Sturm hinaus. Am späteren Abend würde es sehr eindrucksvoll werden. Im Augenblick war der Rand der Klippe noch im Zwielicht sichtbar, und Gull Crag ragte hinter den wehenden Regenschauern empor wie ein dunkler Finger. »Wie bitte?« Hera hatte wohl eine Frage an mich gerichtet. Ich beugte mich nach vorn. »Ich sagte… es wird langweilig, wenn keine Kommunikation mehr möglich ist. Ausgehen kann man bei diesem Wetter auch nicht.« Dieses Frauenzimmer schien mich für das Wetter verantwortlich zu machen. Erwartungsvoll sah sie mich an, als sei ich ein Alleinunterhalter, der nun gleich Gesellschaftsspiele organisieren würde und nur noch seine Zigarette zu Ende rauchen durfte. Dann deutete sie auf den Sensitter hinter der Bar. Gehorsam stellte ich das Gerät ein. Für gewöhnlich wird er während der Öffnungszeit nicht eingeschaltet, weil er die Unterhaltung stört, doch wenn sie es wollte… Alles für den Gast. Ich drehte auf volle Stärke, und sofort erfüllte die melodische Musik eines großen Tanzorchesters meinen Kopf. Sie kam sehr stark herein und übertönte sogar die Geräusche des elektrischen Sturms. Tanzmusik mag ich gern; sie hält mich munter, wenn ich morgens die Bar saubermache. Der Sensitter hat auch einen synchron eingestellten Lumibeat; es ist ein
teures Modell. Den drehte ich ebenfalls an, und die farbigen Lichter blitzten auf und erleuchteten den Raum mit rhythmischem Pulsieren: eins, zwei, drei, eins zwei, drei, rot, blau, weiß, rot, blau, weiß, im Takt der Musik. Auf einmal sah die Bar recht lustig aus. Die Mienen der Gäste hatten sich aufgehellt, und Heras Finger klopften den Takt auf der Theke. Wenn auch die Musik zeitweise schwand, selbst bei voll aufgedrehtem Regler, so kamen doch wenigstens die Lichter durch. »Wollen wir tanzen?« Hera hatte sich von ihrem Platz erhoben und stand mit ausgestreckten Armen vor Jim. Jim stemmte sich aus seinem Sessel und umfaßte ihre Taille. Sie begannen zu tanzen, recht gut sogar. Unglücklich, mit wäßrigen Augen im roten schwitzenden Gesicht, sah Piggy ihnen zu. Er war nicht der Typ, dem man zutraut, ein guter Tänzer zu sein. Ohnehin wären Heras lange Nägel auf seinem sonnenverbrannten Rücken eine Marter für ihn gewesen. Unsicher fragend blickte er erst zu Joyce, dann zu Mandy hinüber, besann sich dann doch eines besseren und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Hera und Jim zu. »Möchten Sie mit mir tanzen, Jack?« Mandy stand an der Bar und hob einladend die Thekenklappe, um mich in den Raum zu lassen. Fest und doch züchtig legte sie ihren Arm um mich, und wir begannen zu tanzen. Sie lag leicht in meinem Arm, irgendwie kühl und angenehm, eine Oase in der drückenden Hitze des Raumes. Es begann, mir zu gefallen. Sie lächelte, ihre Gedanken gut unter Kontrolle, und auch Piggy lächelte, keinen Blick von ihr wendend. Plötzlich passierte es. Zuerst blitzte es empört in Mandy auf: grob, ungezügelt und bitter. Dann, als wir uns beide umdrehten – ich war erschreckt und fragte mich, was um Himmels willen diesen emotionellen
Ausbruch verursacht haben konnte –, stieß ich leicht gegen Hera und Jim, die engumschlungen tanzten und alles um sich herum vergessen zu haben schienen. Spinnweben, obszöne Gedankenblitze durchfuhren mich. Sie wurden stärker, verebbten dann. Wurden wieder stärker; pulsierten. Aber es war wirklich empörend. Hier standen die zwei vor aller Augen, ein junges Mädchen eingeschlossen, und nützten die Wetterbedingungen aus, um sich in unverfrorenster Weise mentalem Ehebruch hinzugeben. Als ich Mandy hastig wegführte, verfolgten mich Bilder nackten Fleisches und rhythmischer Bewegungen, überlagert von einem Eindruck schmutzigen Kicherns und heimlichen, triumphierenden Entzückens. Ich halte mich für großzügig und tolerant und habe in all den Jahren in diesem Hause auch manches Ungewöhnliche erlebt, aber dies… Es war unfaßbar. »Ich glaube, ich möchte jetzt nicht mehr tanzen; danke.« Eine sehr leise Stimme in meinem Kopf. Ich ließ sie los, und sie setzte sich, bleich, meinem Blick ausweichend. Und Hera und Jim tanzten immer weiter, eingetaucht in ihre eigene Welt der Lust, provozierend heiter in der Sicherheit, daß niemand wissen konnte, was hier vorging, selbst wenn jemand es ahnen sollte… Ich wette, daß sie dies von vornherein geplant hatten, als das aufziehende Gewitter sich abzeichnete; wahrscheinlich glaubten sie, daß für eine oder zwei Wochen dies die einzige Gelegenheit sein würde… Schließlich setzten sie sich wieder. Mandy atmete etwas auf, ihre Miene verriet Erleichterung und dann Mitleid, als endlich ihre Blicke denen ihres Stiefvaters begegneten. Etwas ging zwischen ihnen hin und her, ohne Gedanken, nur durch Blicke ausgedrückt. Ob er wohl etwas gemerkt hatte? Er sah mitgenommen aus. Er stand auf und kam zu mir. »Ich glaube, ich werde zu Bett gehen«, sagte er mit schwacher Stimme.
»Fühle mich nicht allzu gut. Sonnenbrand. Gute Nacht.« Er ging hinauf. Mandy war außer sich. Ich konnte ihre Gedanken lesen, während sie den Rückzug ihres Stiefvaters verfolgte. Ich muß sagen, daß ich seine Haltung etwas schwach fand. Etwas mußte er doch gemerkt haben, und sei es nur Heras Blick während des Tanzes, doch schien er sich einer offenen Kraftprobe nicht gewachsen zu fühlen. Vielleicht wirkt es tatsächlich etwas töricht, wenn ein Mann, dessen Frau gerade mit einem anderen tanzt, diesen wegen seiner Gedanken ins Gesicht schlägt, vor allem, wenn er diese Gedanken überhaupt nicht kennt. Ohnehin, es gehören ja zwei dazu… Jetzt tanzten sie wieder, und nachdem Piggy gegangen war und Joyce offenbar in ihrem Sessel schlief, hielten sie sich sogar noch weniger zurück; ihre Ausstrahlungen waren so stark, daß ich trotz der elektrischen Aufladung hätte schwören können, von Hera einen oder zwei Umrisse zu empfangen… Mandy sah mit unergründlichen Augen zu. Ihr letzter Drink war ein Scotch gewesen; das Glas hing jetzt leer in ihrer Hand. Unruhig bewegte sie sich auf ihrem Stuhl, wandte kein Auge von den Tanzenden… Jims Mund öffnete sich in ekstatischem Grinsen, Heras Gesicht war verzückt. Im Sensitter war ein Endlos-Band. Mein Gott, das konnte die ganze Nacht so weitergehen. Heute würden sicher keine anderen Gäste mehr kommen, nicht bei diesem Wetter. Draußen war es fast völlig dunkel; Regenschleier fielen vom Himmel. Ich sollte die Musik abschalten. Die Zeit verging. Mandy war nicht mehr da; ihr Stuhl war leer. Sie mußte zu Piggy hinauf gehuscht sein, während ich Jim und Hera zusah…
Piggy kam herunter. Ich fing ein Bild von ihm auf, als er an mir vorbeiging. Jetzt würde er der Party ein Ende setzen. Er hatte Mut gefaßt. Jetzt war es genug. Mandy hatte ihm wohl mitgeteilt, was hier vorging. Er klopfte Jim auf die Schulter, und als Jim sich umdrehte und Hera losließ – und als ich darauf wartete, daß er Jim niederschlagen würde… Er umfaßte Hera und begann ungeschickt mit ihr zu tanzen. Hera war kaum aus dem Schritt gekommen; ihr Gesicht zeigte einen fast komischen Ausdruck der Überraschung. Jim setzte sich ziemlich heftig hin und sah ihnen zu, wie sie auf der kleinen Fläche in der Mitte des Raumes tanzten. Sein Ausdruck verriet einen Widerstreit der Gefühle; Piggy betrachtete er beinahe mit Respekt, obwohl der beim Tanz mit Hera nicht den vorteilhaftesten Eindruck machte. Hera war fast eine halbe Handbreit größer als er. Sie tanzten geraume Zeit, aber ihre Gedanken waren wohl nicht bei ihren Schritten. Daß alles so im Sande verlief, ließ mich seltsam enttäuscht. Endlich führte Piggy Hera zu ihrem Stuhl und kam an die Bar. »Wo ist Mandy?« fragte er heftig. »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich dachte, sie sei bei Ihnen.« »Ich habe sie nicht gesehen. Sie ist nicht in ihrem Zimmer; ich habe nachgeschaut, bevor ich herunterkam… Hera!« Das Bild kam durch die statische Aufladung wie ein scharfes Messer. »Hast du Mandy gesehen?« Ein schwaches, verlegenes Nein. Ich fragte mich, was eigentlich während des Tanzes zwischen ihnen vorgegangen war. »Wie lange ist sie schon weg?« »Eine Stunde vielleicht. Ich weiß nicht. Sie ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.«
»Verdammt nochmal, sie ist erst vierzehn. Was zum Teufel war hier eigentlich los? Wieso ist sie bei diesem Wetter fortgegangen? Draußen ist es stockdunkel. Sie kann die Klippe hinuntergefallen sein!« Zunehmend besorgt standen die anderen jetzt bei ihm an der Bar. Er dominierte in der Gruppe auf überraschende Weise; seine Sorgen um Mandy und das Schuldgefühl der anderen bewirkte eine Veränderung ihrer normalen Beziehungen. »Wir sollten uns aufmachen und sie suchen.« Joyce stellte sich auf seine Seite, während Hera und Jim noch unschlüssig waren. »Ich werde Regenzeug holen. Jack, haben Sie Lampen?« Minuten später waren wir draußen; die Regenschauer leuchteten wie Lichtkeile im Lampenlicht auf, und von Zeit zu Zeit warfen Blitze einen bleichen Schein auf die Landschaft. »MANDY!« Piggy rief, so fest er nur konnte, doch gegen den Sturm war es wenig mehr als ein Flüstern. »Sie kann uns niemals hören, nicht, wenn es so ist wie jetzt.« Joyce war ungeduldig. »Wir müssen nach ihr suchen. Los, vielleicht liegt sie irgendwo und ist verletzt.« Also trennten wir uns. Piggy und Hera gingen in Richtung Dorf hinunter, ich landeinwärts, während Jim und Joyce oben auf der Klippe suchten. Trotz des Regenumhangs war ich bald völlig durchnäßt; der Regen lief mir ins Genick, und die Hose klebte mir kalt und unangenehm an den Beinen. Wie vereinbart lief ich eine halbe Stunde lang und kehrte dann um. Ich traf die anderen oben auf der Klippe. Niemand hatte eine Spur von Mandy gesehen. Piggy leuchtete die steil abfallende Wand hinab. »Glauben Sie…« Er unterbrach sich abrupt, doch durch den Nebel der Aufladung hindurch empfing ich das schwache Bild einer fallenden Gestalt. »Verflucht, sei nicht albern«, entgegnete Hera scharf.
»Es war noch nicht dunkel, als sie wegging… Vielleicht hat sie sich nur in der Zeit verschätzt.« Ein etwas kindlicher Einfall Jims. »Und sobald wir sie finden, wenn wir sie überhaupt finden« – Piggys Gedankenformen waren plötzlich stahlhart und bitter – »dann, Hera, werde ich dir einiges zu sagen haben. Es gibt da einiges, was ich klarstellen muß.« »Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, antwortete Hera nervös. »Sie ist doch nur spazierengegangen. Den ganzen Tag hat sie sich schon so seltsam verhalten.« Dann – und für einen Augenblick war sie die alte Hera: »Ich werde ein Wörtchen mit ihr reden, wenn sie zurückkommt. Uns derart in Angst und Aufregung zu stürzen!« »Du hältst den Mund«, gab Piggy grob zurück. »MANDY!« Er schrie aus Leibeskräften. Angestrengt horchten wir hinaus. Keine Antwort. Unschlüssig standen wir im strömenden Regen und fragten uns, was nun zu tun sei. Dann… Dann wußte ich plötzlich, wo sie war. Ohne noch recht dran zu glauben, ging ich voran, und die anderen folgten mir einige Meter am Klippenrand entlang. »Warten Sie hier«, wies ich sie an. »Ich brauche jetzt alles verfügbare Licht. Leuchten Sie mir, wenn ich hinüberklettere; dann muß ich auf die andere Seite herumgehen, wo es leichter ist. Und vergessen Sie nicht, sobald ich drüben bin, werde ich nicht mehr bis zu Ihnen durchkommen.« Und ich ließ den Schein meiner Lampe über den Abgrund hinüberspielen zum bröckelnden Narbengesicht vom Gull Crag. Ich rutschte über die Kante hinunter und begann, mich zu der Felsbrücke hinabzutasten. Ich war froh, die Wellen tief unten nicht sehen zu können. Die Lampe zwischen den Zähnen, kroch ich auf allen Vieren
über die Brücke. Die Lichtkegel von oben umspielten mich, beleuchteten brüchigen, plötzlich in schrecklicher Leere endenden Fels, und zeigten mir dann weiter den Weg. Ich erreichte Gull Crag. Mit der Lampe in der Hand schob ich mich auf die von den anderen abgewandte Seite und begann in die Höhe zu klettern. Der Regen hatte etwas nachgelassen; der grelle Schein der Blitze schuf einen scharfen Kontrast zur absoluten Dunkelheit und ließ die Konturen des Felsens wie in Magnesiumlicht aufleuchten. Ein Bild, das ich von Mandy aufgefangen hatte, kam mir unangenehm in den Sinn. Es war ein Bild vom Gull Crag, wie er ins Meer stürzte. Ich versuchte, nicht daran zu denken, und zuckte doch bei jedem Blitz zusammen und fragte mich, wie nahe er wohl eingeschlagen haben mochte. Unter mir schäumte die See, und das scharfgezackte, bröckelige Gestein war glitschig. Manchmal mußte ich mich mit beiden Händen festhalten; dann nahm ich die Lampe zwischen die Zähne und kletterte nach dem Gedächtnis. Im Steigen murmelte ich vor mich hin. Ich glaube, ich wiederholte immer wieder ihren Namen. Ich mußte mich auf irgend etwas konzentrieren; Höhen jagen mir unsägliche Angst ein. Auf mich selbst einredend, plagte ich mich weiter hinauf. Dann zog ich mich auf ein breites Sims, und als der nächste Blitz niederfuhr, sah ich ein kleines, verängstigtes Gesicht…
Wir hatten sie in ihr Bett geschafft; heilfroh, als wir sahen, wie ihre Augen sich öffneten, standen wir um sie herum und vergaßen die Aufregungen und Dummheiten des Tages, glücklich, daß ihr nichts zugestoßen war. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich muß ohnmächtig geworden sein.« So war es tatsächlich gewesen, unmittelbar nachdem wir wieder auf der Klippe angekommen waren.
»Danke, Jack«, fuhr sie fort. »Es war sehr dumm von mir, dort steckenzubleiben.« »Was in aller Welt hat dich veranlaßt, einfach so wegzuschleichen?« Die Besorgnis in Heras Ausstrahlungen war nun Verärgerung gewichen, jetzt, nachdem feststand, daß alles wieder im Lot war. »Oh… Ich weiß nicht. Vielleicht war es Langeweile. Der Regen hatte etwas nachgelassen und… in der Bar gefiel es mir nicht besonders. Ich wollte ein bißchen klettern, das ist alles. Und dann blieb ich stecken.« Ich dachte, Hera würde noch etwas dazu sagen, doch sie tat es nicht. Die Farbe war auf Mandys Wangen zurückgekehrt; sie sah frisch und gesund aus. Die Lebenskraft der Jugend. Was mich anbelangte, so brauchte ich noch einen Scotch und dann viel Schlaf. Hera wandte sich zu mir. »Woher zum Teufel wußten Sie, daß sie da oben war?« Der lärmende Ton konnte ihre tiefe Dankbarkeit nicht ganz verbergen. »Ich halte meine Sinne für recht scharf, doch ich konnte nichts von ihr empfangen, nicht bei diesen Bedingungen. Sie müssen geradezu Antennen haben.« »Ach, ich weiß nicht«, antwortete ich bescheiden. »So großartig ist es auch wieder nicht. Es hatte mit der örtlichen Situation zu tun, mit dem Punkt, an dem ich Verbindung mit Mandy bekam. Die Felsspalte, in der sie lag, muß ihre Ausstrahlungen in Richtung auf mich gebündelt haben. So ein Gewitter bringt manchmal seltsame Effekte hervor.« Sollten sie sich damit zufriedengeben. Es war leichter, als eine Erklärung zu versuchen. Ein verlegenes Schweigen folgte, wie man es bei Krankenbesuchen erlebt. Wir standen herum, blickten zu Mandy, die sich unruhig bewegte; plötzlich fielen ihr die
Augen zu, und ihr Atem wurde tief und regelmäßig. Sie war eingeschlafen. Wir machten uns noch etwas zu schaffen, richteten ihr Bettzeug und standen uns gegenseitig im Wege; dann verließen wir sie. Hera schloß nach einem letzten prüfenden Blick leise die Tür. Unsicher schaute sie zu Piggy, der kurz zurücklächelte. Die ursprüngliche Absicht, einen handfesten Streit vom Zaun zu brechen, hatte man wohl zurückgestellt. »Komm, Jim.« Joyce nahm den Arm ihres Mannes. »Wir müssen zu Bett gehen. Wir wollen morgen zeitig aufbrechen.« »Sie fahren morgen früh?« fragte ich überrascht. »Ja. Wir haben eine kleine Aussprache gehabt, und Jim und ich haben beschlossen, für ein paar Tage hinunter an die Küste zu fahren. Es ist wohl nicht gut, wenn wir alle ständig zusammen sind und im Urlaub dieselben Gesichter wie für den Rest des Jahres sehen. Findest du nicht auch?« Jim lächelte einfältig. Als sie auf ihr Zimmer gingen, taten sie es wirklich Hand in Hand. Mein Gott, dachte ich, nichts kann die Leute so gründlich zur Vernunft bringen wie eine kleine Krise.
Und jetzt kam die wirbelnde Staubfahne näher, und ich konnte das Heulen der Turbine hören. Gleich darauf bog das kleine Sportfahrzeug um die Kurve, verließ die Straße und kam über das Gras zu mir herüber. Die Maschine lief aus, und wenige Meter vor mir senkte sich das Fahrzeug auf den Boden. Sie stieg heraus und ergriff meine Hände. Sie war etwas größer als damals, ihr dunkles Haar länger. Im Sensivision, dachte ich, sieht man immer diese Klischees. Mädchen wachsen heran und werden plötzlich weltklug. Doch das galt nicht für sie. Sie würde nie zu weltklug werden. Sie war nur… sehr schön.
Sie lächelte, und in einer plötzlichen Anwandlung küßte ich sie kurz; dann standen wir voreinander, beide etwas erschrocken. »Ist das Ihre Art, das neue Küchenpersonal zu begrüßen?« fragte sie. »Kein Wunder, daß Sie so schwer jemanden kriegen. Sie schrecken die Leute schon ab, wenn sie gerade erst ankommen.« Wieder ein bezauberndes Lächeln. »Ich glaube nicht, daß Mutter mich allein hätte kommen lassen, wenn sie gewußt hätte, daß Sie sich so benehmen würden.« »Ich vermute, Ihre Mutter ist froh, Sie für einige Monate loszusein«, entgegnete ich. »Jedenfalls freut es mich, Sie zu sehen, Mandy. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie Ihre Ferien abbrechen, um bei mir auszuhelfen.« »Oh ja.« Sie sah mich von der Seite her an. »Aber ich breche meine Ferien nicht ab. Vor einer Woche habe ich meine Schulausbildung beendet. Man könnte sagen, daß ich jetzt eine Stellung suche.« »Oh«, entfuhr es mir unbeherrscht – ein kurzes Wort nur, und doch hatte ich vielleicht mehr gesagt, als ich wollte. Trotzdem, dachte ich, ganz so alt bin ich auch wieder nicht. Siebenunddreißig… ist das alt? Nur, Mandy ist so jung… Aber sie ist zurückgekommen. Von mir weiß sie alles; ich mußte ihr alles sagen in jener Nacht auf dem Gull Crag; und dennoch ist sie zurückgekommen… Ach, was soll’s. »Also Sie müssen nicht… äh… nach Hause… unbedingt… wenn der Sommer zu Ende geht?« »Nein«. Wieder sah sie mich von der Seite an und lächelte boshaft. Dann blickte sie sich um, nahm das Meer, die Klippen, das Dorf, mein Haus, nahm Gull Crag in sich auf. »Hier ändert sich nichts, nicht wahr? Ich verstehe, warum Sie Städte nicht mögen. Es ist so friedlich hier…« Das ist es natürlich. Genau das ist es. Vielleicht ist es schwer, aber können Sie sich vorstellen, wie Städte auf jemand wie
mich wirken? Das Dröhnen der Raumschiffe, der unaufhörliche Lärm der Helicars; das knirschende, mahlende, dumpfe Getöse der Baumaschinen, das Heulen des Turbinenverkehrs? Sie können es nicht, ich weiß. Damals, im zwanzigsten Jahrhundert, vor dem Aufkommen der Telepathie, die den Gehörsinn überflüssig machte, damals hätte man verstanden, was ich meine. Dieser jetzt außer Gebrauch gekommene Sinn war eine Quelle ständiger Pein, denn der Lärm im Alltagsleben war unerträglich geworden. Bis ein gütiges Geschick den Gehörsinn beim Menschen nach und nach verlorengehen ließ… Nein, Sie können es nicht ahnen, denn wie jeder andere außer mir können Sie nicht hören. Bin ich eine Mißgeburt, ein Rückfall der Natur? Wenn ich das bin, und was auch immer ich bin, ich danke Gott dafür. Denn dieser primitive Sinn war es, der mich zu Mandy führte, als ein Drang, den sie vielleicht noch nicht verstehen konnte, sie auf den Gull Crag hinauftrieb. Und als sie im Gewittersturm in jener Spalte festsaß, entlud sich ihre Angst in einer elementaren, primitiven Art, doch sie konnte niemand anderen erreichen, niemand wußte, wo sie war, die statische Aufladung überdeckte alles… Doch ich hatte ihre Stimme gehört.
Originaltitel: SIXTH SENSE Copyright © 1969 by Ronald E. Graham (Publishing) Pty. Ltd. Aus VISIONS OF TOMORROW und WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1970 Übersetzt von Rudolf Mühlstrasser
Clifford D. Simak LIVE VON STELLA IV
Ich stand schon früh auf, um eine Stunde an meinem Modell zu arbeiten, ehe Greasy das Frühstück für uns zubereitete. Als ich aus meinem Zelt trat, wartete Benny, mein Schatten, bereits auf mich. Ein paar von den anderen Schatten standen ebenfalls herum, um bloß nicht das Erscheinen ihrer Menschen zu versäumen. Wenn man darüber nachdachte, konnte man sich nur an den Kopf greifen. Aber wir hatten gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Außerdem hatten wir uns inzwischen an die Schatten gewöhnt. Greasy hatte in seiner Kombüse den Ofen angezündet, und Rauch kräuselte sich aus dem Schornstein. Ich hörte seinen kernigen Morgengesang, während er mit Pfannen und Tassen klapperte. Das war seine laute Periode. Den ganzen Vormittag über würde Greasy in seiner Kombüse einfach nicht zu überhören sein. Doch so gegen drei Uhr nachmittags wurde es mäuschenstill. Das war die Zeit, wo Greasy sich hinter den Gucker klemmte und dabei Kopf und Kragen riskierte. Es gab nämlich Gesetze, die gar nicht sanft mit Leuten umgingen, die einen Gucker besaßen. Mack Baldwin, unser Projektleiter, hätte der Schlag getroffen, wenn er gewußt hätte, daß Greasy einen Gucker dabeihatte. Denn ich war der einzige, der es wußte. Ich hatte den Gucker zufällig entdeckt, und selbst Greasy hatte keine Ahnung, daß ich es wußte. Bis jetzt hatte ich den Mund gehalten. Ich sagte einen schönen guten Morgen zu Benny, dem Schatten, doch er gab mir keine Antwort. Er antwortete
überhaupt nie; denn er besaß gar keinen Mund, mit dem er mir hätte antworten können. Ich zweifelte sogar, daß er mich gehört hatte, denn Ohren besaß er ebenfalls nicht. Diese Schatten waren schon komische Leute. Sie hatten weder Mund noch Ohren, und eine Nase hatte ich an ihnen auch noch nicht entdeckt. Aber sie besaßen wenigstens ein Auge – genau in der Mitte des Gesichts, wo eigentlich die Nase hingehörte, wenn sie eine gehabt hätten. Und dieses Auge mußte für alles andere herhalten, was sie eben nicht hatten – für Mund, Nase und Ohren. Im Durchmesser maß es ungefähr acht Zentimeter. Genau genommen war dieses Auge gar nicht so gebaut, wie wir es gewohnt waren. Es hatte weder Pupille noch Iris noch einen bestimmten Charakter, sondern glich einer Pfütze, in der Licht und Schatten trübe umherschwammen und nie stillhielten. Manchmal sah es aus wie eine Suppe, die nicht mehr recht koscher war. Ein andermal wieder hart und glänzend wie eine Kameralinse. Doch dann gab es auch Zeiten, wo es so traurig und einsam in die Gegend glotzte wie ein Hund, der den Vollmond nicht vertragen kann. Das war schon eine unheimliche Bande – diese Schatten – das können Sie mir glauben! Sie glichen jenen Puppen, die man aus alten Strümpfen näht, ehe man ihnen Gesichter aufmalt. Sie waren zwar menschenähnlich, stark und sehr aktiv – aber sie sahen eben wie Stoffpuppen aus. Doch von Anfang an hatte ich schon das Gefühl gehabt, daß diese Burschen absolut nicht dumm waren. Über diesen Punkt herrschte zwar geteilte Meinung, und viele meiner Kollegen hielten die Schatten sogar für primitive Wilde. Aber sie benahmen sich absolut nicht wie heulende Wilde – weil sie gar nicht heulen konnten. Und essen, schnuppern und uns belauschen konnten sie uns auch nicht – weil ihnen die Organe dazu fehlten.
Würde man immer an die Statistik glauben, hätte man die Burschen als unmöglich abschreiben können. Aber sie existierten – sehr gut sogar. Und sie machten Fortschritte. Sie trugen keine Kleider. Was Schamhaftigkeit anlangte, war es vollkommen unwesentlich, ob sie was anhatten oder nicht. Sie waren unten ein genauso unbeschriebenes Blatt wie oben. Sie besaßen keinerlei Geschlechtsmerkmale. Sie waren eben nur eine Horde von Stoffpuppen, die ein großes Auge mitten im Gesicht trugen. Aber sie trugen auch etwas mit sich herum. Vielleicht sollte das ein Schmuck sein oder das Abzeichen ihrer Schattenzunft. Sie hatten einen Gürtel umgebunden, an dem ein Sack oder Beutel hing. Und in diesem Beutel hatten sie irgendwelchen Krimskrams, der klapperte und klimperte, wenn sie herumstolzierten. Keiner von uns hatte bisher einen Blick in diese Säcke werfen können. Und von diesem Gürtel aus liefen Riemen über ihre Schultern, die sich auf ihrer Brust kreuzten. Dort, wo sich die Riemen kreuzten, war ein riesiger Edelstein befestigt. Und dieser Edelstein funkelte wie ein Diamant. Vielleicht war es sogar ein Brillant, der raffiniert geschliffen war – doch konnte man das leider nicht nachweisen. Keiner von uns war bisher diesem Ding so nahe gekommen, daß er es genau betrachten konnte. Denn wenn man auf dieses Ding zumarschierte, verschwand der Schatten. Sie lesen ganz richtig – er verschwand. Ich sagte also guten Morgen zu Benny, und er antwortete natürlich nicht. Ich spazierte deshalb um meinen Tisch herum und begann, an meinem Modell zu arbeiten. Benny stand hinter mir und blickte mir über die Schulter. Er schien ein großes Interesse für dieses Modell zu haben. Er zeigte überhaupt nur Interesse für das, was ich tat. Wohin ich auch ging und was ich auch tat – Benny folgte mir und schaute mir über die Schulter. Er war eben – mein Schatten.
Es gibt ein Gedicht, das so anfängt: Ich habe einen kleinen Schatten… Ich habe oft an dieses Gedicht denken müssen, obgleich ich mich nicht mehr erinnern kann, wer es verfaßt hatte oder wie es weiterging. Es war ein uraltes Gedicht, und ich hatte es als Kind mal im Kindergarten gehört. Wenn ich die Augen schloß, konnte ich das Bild sehen, das man als Illustration zu dem Gedicht in dem Buch abgedruckt hatte: ein kleines Kind im Nachthemd und mit einer Kerze in der Hand, wie es die Bodentreppe hinaufsteigt und der Kerzenschein seinen Schatten hinter ihm an die Wand wirft. Immerhin bereitete es mir eine gewisse Genugtuung, daß Benny sich so sehr für mein Modell interessierte. Pure Eitelkeit; denn ich war mir bewußt, daß sein Interesse vollkommen bedeutungslos war. Er hätte mir genauso über die Schultern geguckt, wenn ich Däumchen gedreht hätte…
Ich war stolz auf dieses Modell und hatte mehr Zeit darauf verwendet, als mir laut Arbeitsplan eigentlich zustand. Mein Name, Robert Emmett Drake, prangte vorn auf der Gipsplatte, und die ganze Arbeit war ein bißchen ehrgeiziger ausgefallen, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Ich hatte mich von meiner Begeisterung mitreißen lassen, und das konnte man auch leicht verstehen. Denn es passiert einem als Kulturschützer nicht alle Tage, daß man einen absolut jungfräulichen Planeten, der unserer Erde ähnlich ist, von Grund auf kultivieren darf. Das Maßstabsmodell war nur ein kleiner Ausschnitt des Gesamtprojekts, aber es enthielt doch alle Faktoren des gesamten Kultivierungsplanes. Ich hatte alles sorgfältig nachgebaut – die Dämme und die Straßen, die Stauwehre und die Fabriken, die Forstbetriebe und die Bewässerungsadern und was noch alles dazugehört.
Ich hatte eben mit meiner Arbeit begonnen, als in der Kombüse die Lärmkulisse erheblich zunahm. Ich konnte Greasy fluchen hören und auch die Püffe, die er austeilte. Die Tür der Küchenkajüte flog auf, und ein Schatten sprang heraus, verfolgt von Greasy, der eine Pfanne schwang. Er war nur einen Schritt hinter dem Schatten und verwendete seine Bratpfanne äußerst wirkungsvoll – und zwar mit einer gefühlvollen Rückhandtechnik, die man nur bewundern konnte. Und mit diesen Schlägen deckte er den Schatten ein, daß es eine Lust war. Doch die Segenssprüche, die seine Schläge begleiteten, klangen weniger angenehm in den Ohren. Sie waren haarsträubend. Der Schatten raste quer durch das Lager, und Greasy ihm immer auf den Fersen. Das war doch eigenartig, dachte ich mir, während ich die wilde Jagd beobachtete, daß ein Schatten sofort verschwand, wenn man auf seinen Edelstein losging, sich aber so eine grausame Behandlung gefallen ließ, sobald man sich seinen Rücken dazu aussuchte. Als die beiden meinen Modelltisch erreicht hatten, gab Greasy die Verfolgung auf. Greasy war nicht in seiner allerbesten Form. Er stand neben meinem Tisch, die Hände kampflustig in die Hüften gestemmt. Die Bratpfanne stand wie eine Keule von seinem Wanst weg. »Ich dulde diesen Stänkerer nicht mehr in meiner Küche!« sagte er mit asthmatisch-keuchender Stimme. »Es ist schon schlimm genug, wenn sie die Hütte belagern und mir durch die Fenster in die Töpfe gucken. Jedesmal, wenn man sich umdreht, fällt man über so einen Kerl. Ich mag keinen Spion mehr in meiner Küche haben. Er steckt seine Finger in jeden Suppentopf! Wenn ich Mack wäre, würde ich sie alle unter Feuer nehmen. Ich würde sie dorthin jagen, wo der Pfeffer
wächst! Ich würde ihnen Beine machen, daß ihnen die Zunge – äh…« »Mack hat andere Sorgen«, erwiderte ich ihm scharf. »Das Projekt hinkt sowieso schon hinter dem Zeitplan her. Ständig gibt es technische Versager und…« »Sabotage!« verbesserte mich Greasy. »Darum handelt es sich! Darauf wette ich meinen letzten Hosenknopf. Es sind die Schatten, die unsere Maschinen sabotieren. Wenn ich hier was zu sagen hätte, würde ich sie aus dem Land jagen.« »Das Land gehört ihnen«, widersprach ich. »Sie waren vor uns da.« »Der Planet ist groß genug«, erwiderte Greasy, »daß sie sich eine andere Ecke für ihre Schnüffeleien aussuchen können.« »Aber sie haben ein Recht darauf, hier zu sein. Dieser Planet ist ihre Heimat.« »Die haben ja nicht mal ein Heim – geschweige eine Heimat!« sagte Greasy.
Er wendete sich abrupt ab und marschierte zu seiner Kombüse zurück. Sein Schatten, der während unseres Wortwechsels abseits gestanden hatte, beeilte sich, ihn wieder einzuholen. Es sah nicht so aus, als wäre er nachtragend. Aber man konnte nie wissen, was ein Schatten dachte. Ihre Gedanken kann man nicht lesen. Was Greasy von den Schatten behauptet hatte – sie hätten kein Heim und so – war ein bißchen unfair. Er meinte natürlich, die Schatten hätten keine Dörfer oder Häuser, wo sie wohnten, sondern trieben sich wie Zigeuner in der Gegend herum. Aber für mich war dieser Planet ihre Heimat, und darauf konnten sie sich bewegen, wie sie wollten und wo sie wollten. Das war nur ihr gutes Recht. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß die Schatten offensichtlich nicht seßhaft
waren, keine Hütten oder Häuser bauten und auch kein Getreide anpflanzten. Warum sollten sie auch – schließlich hatten sie ja keine Münder zu stopfen. Doch wenn sie nicht aßen – wovon wollten sie dann leben. Und wenn sie nie gegessen hatten, wovon hatten sie dann bisher existiert? Sie sehen schon, wie sich die Katze in den Schwanz beißt. Das war auch der Grund, weshalb ich nicht zu viel über die Schatten nachdachte. Wenn man erst versuchte, ihnen auf den Grund zu gehen, verstrickte man sich nur hoffnungslos in seiner eigenen Logik. Ich warf einen versteckten Blick nach rechts, um zu sehen, wie Benny die Behandlung eines Kollegen durch Greasy aufgenommen hatte. Doch Benny war sein altes, neugieriges Selbst. Nichts als eine Stoffpuppe. Menschen begannen jetzt, unter ihren Zelteingängen zu erscheinen und gähnend ins Freie zu treten. Die Schatten galoppierten herbei, um sich ihren Menschen anzuschließen. Wohin die Männer sich auch bewegten, ein Schatten trabte immer hinterdrein. Das Zentrum unseres Entwicklungsprojektes lag auf einem Hügel. Und von meinem Tisch aus konnte ich alles überblicken wie eine riesige Planskizze, die sich ringsum ausbreitete. Links von mir hatte man mit den Ausschachtungen für den Bau des Verwaltungsgebäudes begonnen. Dort drüben standen die Markierungen für den Supermarkt und dahinter die ersten Furchen, zwischen denen eine Straße entstehen sollte, flankiert von Wohnhäusern. Es sah nicht wie ein tapferer Neubeginn auf einem jungfräulichen Planeten aus – aber das würde sich bald ändern. Wir hätten bereits imposantere Leistungen vorweisen können, wenn wir nicht so viel Rückschläge erlitten hätten.
Gleichgültig, ob sich nun diese Pannen auf die Schatten zurückführen ließen oder auf andere Ursachen, es mußte etwas geschehen, um Abhilfe zu schaffen.
Denn dieses Projekt hatte eine besondere Bedeutung. Hier war eine Welt, auf der der Mensch nicht in seinen uralten, beklagenswerten Fehler zurückfallen wollte, den er auf der Erde begangen hatte. Dies war einer von den wenigen Planeten, die ähnlich beschaffen waren wie die Erde. Hier würde er nicht die wertvollen Bodenschätze vergeuden, wie er das auf seinem Heimatplaneten getan hatte. Hier würde er jeden Liter Wasser und jeden Fußbreit Boden sinnvoll nützen, Wälder anpflanzen und dem Boden nichts entreißen, was man nicht brauchte. Und er würde dafür sorgen, daß man dem Boden zurückgab, was man ihm an Kraft und Nahrung entnahm. Auf diesem Planeten sollte nicht Raubbau getrieben werden, und man würde für ihn sorgen und ihn verwalten wie ein wohlgeordnetes Geschäftsunternehmen. Ich war voll Zuversicht, als ich dort oben auf dem Hügel stand und über das Tal hinausblickte bis zu den Bergen, die am Horizont die Ebene abschlossen. Ich dachte daran, was für ein schönes Heim dieser Planet für die Menschen sein würde. Im Lager war jetzt alles wach und auf den Beinen. Vor den Zelten wuschen sich die Männer, machten sich fertig zum Frühstück, riefen sich gegenseitig einen Morgengruß und Scherzworte zu. Nur unten im Maschinenpark gab es grollende Stimmen und viel Flüche, was mich nicht weiter überraschte. Die Maschinen, oder zumindest ein Teil davon, waren wieder einmal defekt, und man würde den ganzen Vormittag für die Reparaturarbeiten brauchen. Es war wirklich eigenartig, daß jede Nacht die Maschinen zu Bruch gingen, obwohl sie gar nicht im Einsatz waren.
Kurz darauf läutete Greasy die Frühstücksglocke. Jeder ließ Geräte und Werkzeuge stehen und spurtete auf die Kombüse zu, begleitet von den Schatten. Mein Zelt stand der Küchenkabine am nächsten, und ich war auch ein recht passabler Sprinter. So ergatterte ich einen der besten Plätze am großen Gemeinschaftstisch, wo ich als erster meine Portion empfangen würde, wenn Greasy mit dem Austeilen begann. Greasy hielt laute, bittere Selbstgespräche, wie immer, wenn er das Essen verteilte – doch ich hatte den leisen Verdacht, er tat nur so, um seine Selbstgefälligkeit zu tarnen, weil wir seinen Fraß mit so viel Appetit verzehrten. Mack nahm neben mir Platz, und gleich darauf kam Rick Thorne, einer von den Ingenieuren, und belegte den Stuhl rechts von mir. Stan Carr, ein Biologe, und Judson Knight, unser Ökologe, reservierten sich die Plätze gegenüber. Wir verschwendeten keine Zeit, machten uns über die frischen Brötchen, den gebratenen Speck und die Röstkartoffeln her. Nichts regt im Universum den Appetit so an wie die Morgenluft auf Stella IV. Nachdem wir den ersten Hunger gestillt hatten, kamen auch höhere Bedürfnisse zu ihrem Recht. Wir sprachen über das Wetter und unsere Probleme. »Dasselbe alte Lied – wie jeden Morgen«, beklagte sich Thorne. »Die Hälfte des Maschinenparks steht still. Wir werden Stunden brauchen, bis sie alle wieder einsatzbereit sind.« Mürrisch schaufelte er die Kartoffeln in sich hinein und kaute wütend darauf herum. Dann warf er Carr einen bösen Blick zu. »Warum spurst du nicht und findest endlich ein Mittel dagegen!« »Ich?« erwiderte Carr verwundert. »Seit wann bin ich für technische Versager zuständig? Ich habe keinen blassen Dunst, wie die Dinger funktionieren. Für mich sind Maschinen nichts als stupider Schwachsinn, der die Luft verpestet.«
»Du weißt ganz genau, was ich meine«, antwortete Thorne aufgebracht. »Die Maschinen sind vollkommen in Ordnung. Sie würden einwandfrei arbeiten, wenn diese Schatten nicht wären. Du bist Biologe, und die Schatten fallen in dein Ressort. Also…« »Ich habe viel wichtigere Probleme zu lösen als das der Schatten«, murmelte Carr. »Zum Beispiel das Verhalten der hiesigen Regenwürmer. Und sobald diese Aufgabe gelöst ist, muß ich für Bob die Freßgewohnheiten der einheimischen Nagetiere studieren.« »Ich wünschte, du wärst mit deinem Studium schon fertig«, murmelte ich. »Ich fürchte nämlich, diese Biester werden uns ganz hübsch zu schaffen machen, wenn wir erst mal mit der Aussaat von Getreide beginnen. Deshalb möchte ich schon vorher wissen, wie gut ihnen unser Weizen schmeckt.« Jeder Neubeginn war eben besonders schwer, überlegte ich. Ganz gleich, wieviel Faktoren man theoretisch auch berücksichtigt hatte – ständig tauchten neue Probleme unter Büschen und Steinen auf. Irgendwie schien es unmöglich, daß ein Mensch alles auf einmal über schauen konnte. »Ich würde mich ja gar nicht so aufregen«, fuhr Thorne fort, »wenn uns die Schatten nur in Ruhe ließen, nachdem sie unser Gerät sabotiert haben. Aber diese Burschen treten uns ja geradezu auf die Hühneraugen! Wenn wir einen Raupenschlepper reparieren wollen, hockt uns so ein Kerl im Genick und kriecht bis zu den Schultern unter die Motorhaube. Eines Tages«, sagte er wütend, »nehme ich einen Schraubenschlüssel und klopfe ihm damit auf den Hinterkopf, damit ich wenigstens an den Verteiler ‘rankomme!« »Die Schatten haben vielleicht Angst, du könntest ihren Maschinen etwas antun«, erwiderte Carr. »Sie betrachten nämlich deinen Maschinenpark als ihr Eigentum – genauso wie sie uns als ihr Eigentum betrachten.«
»Das ist reine Spekulation«, murmelte Thorne. »Du kannst das nicht beweisen.« »Vielleicht wollen sie die Maschinen nur gründlich kennenlernen«, fuhr Carr fort. »Vielleicht sabotieren sie nur, um herauszufinden, wie man sie wieder repariert. Und dabei gehen sie ziemlich methodisch vor. Du hast mir neulich erst erzählt, jedesmal wäre etwas anderes kaputt.« Jetzt meldete sich Knight zum erstenmal zu Wort. »Ich habe sehr gründlich über diese Situation nachgedacht«, verkündete er mit salomonischer Weisheit. »Tatsächlich«, meinte Thorne sarkastisch. Man sah ihm an, daß er von der Ökologie keine sehr große Meinung hatte. »Ich habe mir überlegt, daß die Schatten mit ihrem Verhalten einen bestimmten Grund verbinden«, fuhr Knight fort. »Denn wenn die Schatten für diese Sabotage verantwortlich sind, müssen sie doch ein Motiv haben. Stimmst du mir da nicht zu, Mack?« »Ein Motiv – kann schon sein«, brummte Mack. »Es besteht auch Grund zu der Annahme«, fuhr Knight gelassen fort, »daß die Schatten uns mögen. Als wir hier landeten, näherten sie sich uns ohne Scheu. Seitdem haben sie uns keine Sekunde lang verlassen. Sie benehmen sich so, als wünschten sie, daß wir hierbleiben. Vielleicht zerstören sie unsere Maschinen, damit wir sie nicht mehr verlassen können.« »Oder damit sie uns wieder loswerden«, erwiderte Thorne ironisch. »Mag sein, daß sie uns mögen«, meinte Carr. »Aber weshalb wollen sie uns hier festhalten? Was gefällt ihnen so an uns? Wenn wir das wenigstens herausfinden könnten, damit wir uns mit ihnen einigen könnten.« »Hm – die Frage ist nicht leicht zu beantworten«, murmelte Knight. »Man könnte sehr viele Gründe dafür angeben.«
»Begnüge dich mit dreien«, meinte Thorne gereizt. »Mit Vergnügen«, erwiderte Knight in einem Ton, als wolle er Thorne am liebsten mit dem Brotmesser tranchieren. »Vielleicht geben wir ihnen etwas – aber frag mich nicht, was es ist. Vielleicht warten sie auch nur ab, bis sich etwas ereignet, was für sie wichtig zu sein scheint. Oder vielleicht wollen sie uns reformieren, obgleich ich keine Ahnung habe, was ihnen an uns verbesserungsbedürftig erscheint. Oder sie verehren uns. Auch Liebe wäre denkbar.« »Ist das alles?« fragte Thorne. »Nur ein Anfang«, meinte Knight. »Vielleicht studieren sie uns und brauchen eine gewisse Zeit, bis sie sich über uns klargeworden sind. Vielleicht fordern sie uns heraus, um unsere Reaktionen zu studieren…« »Wir sollen Studienobjekte für diese Wilden sein?« rief Thorne empört. »Die Kerle sind doch vollkommen unzivilisiert!« »Ich wage das zu bezweifeln«, erwiderte Knight. »Sie tragen keine Kleider«, zählte Thorne auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie besitzen keine Werkzeuge. Sie haben keine Dörfer. Sie bauen keine Hütten. Sie haben keine Regierung. Sie sind obendrein noch taubstumm!« Jetzt ging mir Thorne ebenfalls auf die Nerven. »Nun – dann ist ja alles klar«, brummte ich, »gehen wir lieber wieder an die Arbeit.« Ich stand auf. Doch in diesem Augenblick kam der Funker aus seiner Kabine und schwang einen Zettel in der Hand. Jack Pollard war unser Experte für Elektronik und versah den Dienst als Funker nur nebenbei. »Mack!« schrie er. »He – Mack!« Mack sprang auf die Füße. Pollard reichte ihm den Zettel. »Kam gerade herein, als Greasy zum Frühstück läutete«, keuchte er. »War verdammt
schwierig, den Text aufzunehmen. Zu starke atmosphärische Störung.« Mack las das Telegramm und lief dunkelrot an. »Was ist los, Mack?« fragte ich. »Ein Inspektor will uns besuchen«, sagte er und erstickte fast an jedem Wort. »Ist das eine schlechte Nachricht?« »Vielleicht läßt er uns alle ablösen«, knurrte Mack. »Aber das kann er doch nicht machen!« »Glaubst du!« schnaubte er. »Wir hinken bereits sechs Wochen hinter unserem Zeitplan her. Und dieses Projekt hat Dringlichkeitsstufe eins. Die Politiker auf der Erde haben den Mund aufgerissen und ein neues Paradies versprochen. Wenn sie die Versprechungen nicht einhalten können, suchen sie nach Sündenböcken. Falls wir jetzt nicht schleunigst etwas zustandebringen, dürfen wir packen und unsere Zelte einer neuen Mannschaft übergeben.« »Aber wir haben doch gar nicht so schlecht gearbeitet, wenn man alle Umstände berücksichtigt«, meinte Carr beschwichtigend. »Darum geht es gar nicht«, knurrte Mack. »Eine neue Mannschaft würde auch keine besseren Ergebnisse erzielen. Aber wir müssen etwas aufweisen, was man schriftlich vorlegen kann. Wenn wir nur endlich diese Sabotage verhindern könnten! Dann hätten wir noch eine Chance. Dann sage ich zu dem Inspektor: ›Ja, wir hatten zwar eine Pechsträhne, aber jetzt ist alles in Ordnung und wir kommen zügig voran.‹ Nur so können wir unsere Haut retten!« »Du gibst den Schatten die Schuld, Mack?« fragte Knight. Mack kratzte sich am Kopf. »Wüßte nicht, wer sonst in Frage käme«, murmelte er. Jemand rief vom anderen Tisch herüber: »Klar – es sind diese blöden Schatten!«
Die Männer sprangen auf und bildeten einen Kreis. Mack winkte mit beiden Händen: »Los, Leute, geht wieder an die Arbeit! Wenn jemand von euch einen guten Einfall hat, kommt er zu mir in mein Zelt, und wir besprechen das dann.« Alle redeten zugleich auf Mack ein. »Einfälle, Ideen!« donnerte Mack. »Keinen Blödsinn! Wenn jemand zu mir kommt und Unsinn redet, ziehe ich ihm die vergeudete Zeit vom Lohn ab!« Die Meute beruhigte sich etwas. »Und noch etwas!« verkündete Mack. »Keine Kurzschlußreaktionen, Leute! Wir behandeln die Schatten so wie bisher. Jeder, der bei der Mißhandlung von Schatten oder bei Übergriffen ertappt wird, wird fristlos entlassen! Komm mit!« sagte er zu mir. Ich folgte ihm, und Knight und Carr schlossen sich ebenfalls an. Nur Thorne blieb zurück. Was ich eigentlich nicht von ihm erwartet hatte.
In Macks Zelt setzten wir uns um einen Tisch herum, der mit Papieren, Blaupausen, Skizzen und Zeichenstiften übersät war. »Meiner Ansicht kommen auch nur die Schatten für diese Sabotageakte in Frage«, meinte Carr. »Oder vielleicht liegt es doch an einer anderen Störquelle?« vermutete Knight. »Schwankungen im Schwerkraftfeld? Fremdartige atmosphärische Bedingungen? Magnetische Einflüsse?« »Mag sein«, brummte Mack. »Klingt alles ein bißchen weit hergeholt. Aber ich klammere mich jetzt an alles – und wenn es nur ein Strohhalm ist.« »Etwas hat mich von Anfang an gewundert«, meldete ich mich zu Wort. »Die Erkundungsmannschaft erwähnte in ihrem Bericht keine Schatten. Nicht ein Wort davon. Der
Erkundungstrupp hielt den Planeten für unbewohnt, was höhere, intelligente Lebensformen anlangt. Es fand keine Spuren irgendwelcher Kultur. Und das war gut, denn sonst hätte ich ein Gestrüpp von Paragraphen ausgebreitet, wer nun welche Vorrechte erhalten würde. Doch sobald wir hier landeten, kamen die Schatten angetrabt, als hätten sie uns schon weit draußen im Weltraum ausgemacht und auf unsere Landung gewartet.« »Und noch etwas, was mir aufgefallen ist«, meinte Carr. »Jeder von uns bekam seinen Schatten. Als hätten sie das alles im voraus abgesprochen. Kommt einem vor, als wäre man mit diesen Biestern verheiratet.« »Was wollt ihr damit sagen?« knurrte Mack. »Wo waren die Schatten, als unser Erkundungstrupp hier war?« fragte ich. »Können wir so sicher sein, daß es Eingeborene dieses Planeten sind?« »Wenn es keine Eingeborenen sind«, konterte Mack, »wie sind sie dann hierhergekommen? Sie haben keine Werkzeuge, geschweige denn Maschinen.« »Bleiben wir mal bei dem Erkundungsbericht«, warf Knight ein. »Ihr wißt ja alle, was darin stand…« Wir nickten. Wir hatten ihn nicht nur gelesen, sondern ihn geradezu verdaut und wiedergekäut, als wir mit dem Raumschiff unterwegs zu Stella IV waren. »Da stand etwas von kegelförmigen Gegenständen drin«, fuhr Knight fort, »die der Reihe nach ausgerichtet waren, als wären es Grenzmarkierungen oder dergleichen. Aber die Leute vom Spähtrupp kamen nie so dicht heran, daß sie die Dinger genau betrachten konnten. Sie hatten keine Ahnung, was die Dinger darstellen sollten. Schließlich kamen sie zu dem Urteil, diese Kegel hätten keine Bedeutung.«
»Alles, was sie sich nicht erklären konnten, hielten sie für bedeutungslos. Die haben sich die Sache leicht gemacht!« erboste sich Carr. »So kommen wir nicht weiter!« rief Mack. »Bisher haben wir nichts getan als geredet!« »Wenn wir wenigstens mit den Schatten reden könnten«, murmelte Knight. »Vielleicht würde uns das weiterhelfen.« »Aber die Burschen verstehen uns doch nicht!« knurrte Mack. »Den Mund haben wir uns fusselig gequatscht!« murmelte Carr. »Richtig!« sagte Mack, »und nichts kam dabei heraus – gar nichts! Wir haben es mit Zeichensprache versucht und mit Pantomime. Wir schmierten ganze Notizblöcke voll Männlein und Weiblein, voll Skizzen und Strichen und Punkten und was weiß ich noch alles! Jack stellte sogar Antennen auf und versuchte es mit Morse und Kurzwellen und Ultrakurzwellen – doch sie saßen nur da und grinsten uns mit ihrem großen Auge an! Selbst mit Telepathie haben wir es probiert!« »Nein«, widersprach Carr, »von Telepathie konnte da gar keine Rede sein, Mack. Wir haben nämlich selbst keine Ahnung, was Telepathie ist. Wir hockten nur in einem Kreis beisammen, hielten die Schatten an den Händen und dachten über sie nach. Wenn du das für Telepathie hältst – von mir aus. Auf jeden Fall hat der Hokuspokus auf die Schatten nicht den geringsten Eindruck gemacht. Wahrscheinlich hielten sie das für eine Art Pfänderspiel.« »Hör mal, wir sitzen nicht zum Spaß hier zusammen!« polterte Mack, der allmählich die Geduld verlor. »In zehn Tagen ist der Inspektor hier. Wir müssen uns was ausdenken. Machen wir doch endlich Nägel mit Köpfen!« »Schön – also Nägel mit Köpfen. Jagen wir die Schatten einfach davon«, schlug Knight vor. »Vergraulen wir sie!«
»Kannst du mir verraten, wie sich die Schatten vergraulen lassen?« fragte Mack. »Fürchten Sie sich vielleicht vor dem Schwarzen Mann?« Knight zuckte die Achseln. »Zuerst müssen wir herausfinden, was ein Schatten überhaupt ist«, meinte Carr. »Er muß doch zu irgendeiner Tiergattung gehören. Zwar ist diese Spezies sehr ausgefallen, weil sie weder Nase, Mund noch Ohren besitzen, aber…« »… so ein Lebewesen gibt es überhaupt nicht«, meinte Mack aufgebracht. »Aber die Schatten leben, oder vielleicht nicht?« konterte Carr. »Und sie gedeihen offensichtlich prächtig. Wir müssen feststellen, wie sie sich ernähren, wie sie sich untereinander verständigen, auf welche Reize sie ansprechen. Wir können die Schatten unmöglich in den Griff bekommen, wenn wir überhaupt keine Ahnung haben, mit was für Wesen wir es hier zu tun haben.« Knight stimmte ihm zu. »Damit sollten wir schon vor Wochen begonnen haben. Wir haben zwar einen halbherzigen Versuch gemacht, aber das war nur Stümperei, keine Methode. Das Projekt hatte ja Vorrang, und das Plansoll mußte erfüllt werden.« »Es ist das reinste Schattenboxen«, seufzte Mack. »Ehe wir einen Schatten untersuchen können, müssen wir ihn erst haben«, warf ich ein. »Deshalb sollten wir uns überlegen, wie wir einen Schatten fangen können. Wenn man so einem Kerl eine Backpfeife geben will, ist er plötzlich verschwunden.« Aber in diesem Augenblick wußte ich bereits, daß das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Hatte nicht Greasy einen Schatten mit der Bratpfanne verdroschen? Und noch etwas fiel mir ein. Plötzlich hatte ich einen Einfall – eine großartige Idee sogar. Aber ich wagte nicht, sie
auszusprechen. Ich war noch nicht einmal so weit, mir einzugestehen, daß ich die richtige Idee gefunden hatte. »Wir müssen eben einen von diesen Schatten überraschen und ihn niederschlagen, ehe er sich unsichtbar machen kann«, meinte Carr. »Und wir müssen das sehr raffiniert anstellen. Denn wenn uns der erste Versuch mißlingt, sind alle Schatten gewarnt, und wir bekommen nie mehr eine Chance.« Mack drohte mit dem Finger. »Keine Gewaltmaßnahmen! Solange wir diese Biester nicht kennen, können wir uns so etwas nicht leisten. Man tötet niemand, wenn man nicht weiß, wie wirksam sich der Gegner verteidigen kann. Vielleicht können die Burschen viel besser töten als wir.« »Ich bin ganz deiner Meinung, Mack«, stimmte Carr zu. »Wenn ich nur daran denke, wie geschickt diese Schatten unsere größten Planierraupen ausweiden, möchte ich nicht wissen, was die alles mit unseren Gedärmen anstellen können!« »Es muß rasch und sicher sein«, meinte Knight, »eine todsichere Methode. Aber welche Methode ist das? Schlägt man einem dieser Burschen den Baseball-Schläger auf den Kopf – was passiert dann? Prallt der Schläger ab? Ist der Schädel hin oder der Baseball-Schläger? Weiter reichen unsere Überlegungen leider nicht.« Carr nickte. »Du hast recht. Wir können zum Beispiel kein Gas verwenden, weil die Schatten es gar nicht erst einatmen.« »Vielleicht saugt er es durch die Poren ein«, meinte Knight. »Möglich – aber das müssen wir erst wissen, ehe wir Gas anwenden. Wir könnten die Burschen ja auch mit einer Spritze betäuben. Was sollen wir für ein Mittel verwenden? Weißt du, ob die Biester auf Injektionen überhaupt reagieren? Wir müssen zuerst einmal herausfinden, wie man so einen Schatten ohnmächtig machen kann. Wie wäre es, wenn wir einen von ihnen hypnotisieren?«
»Ich halte das für eine sehr zweifelhafte Methode«, meinte Knight. »Macht der Doktor überhaupt mit?« fragte ich. »Würde Doc einen Schatten untersuchen, wenn wir einen von ihnen bewußtlos schlagen? Ich kenne doch den Standpunkt des Doktors. Er wird sich weigern, weil der Schatten ein intelligentes Lebewesen ist. Ohne schriftliche Zustimmung des Schattens zapft er ihm nicht mal Blut aus dem Finger, weil das nach Ansicht des Doktors gegen die Standesehre verstößt.« »Bring mir erst mal einen bewußtlosen Schatten«, meinte Mack grimmig, »alles andere regle ich schon.« »Doc sträubt sich mit Händen und Füßen, Mack, wenn du von ihm die Obduktion eines Schattens verlangst!« »Ich nehme mir Doc vor, wenn es so weit ist!« knurrte Mack. »Der Inspektor trifft spätestens in acht Tagen hier ein und…« »Wir könnten es ja auch mit einem Kompromiß versuchen«, meinte Knight. »Wenn der Inspektor nur begreift, daß wir anfangs gute Fortschritte gemacht haben, ehe diese Biester uns in die Quere kamen, hat er vielleicht ein Einsehen.« Ich saß mit dem Rücken zum Zelteingang. Ich hörte, wie jemand die Plane zurückschlug. »Komm herein, Greasy!« rief Mack. »Hast du irgendwelche Probleme?« Greasy trat ins Zelt und holte etwas aus seiner Schürze. Er warf es auf den Tisch. Es war einer von den Beuteln, die die Schatten an ihren Gürteln trugen! Wir hielten alle den Atem an. Macks Haare schienen sich zu sträuben. »Wo hast du das her?« fragte er. »Von meinem Schatten, als er gerade nicht hinschaute.« »Als er gerade nicht hinschaute!«
»Sie wissen ja, wie neugierig diese Biester sind, Mack. Man stolpert doch dauernd über sie, wo man geht und steht. Und heute morgen hatte mein Schatten wieder mal seine Nase in meine Spülmaschine gesteckt, und der Beutel hing vorne ‘raus. Da packte ich mein Fleischermesser und schnitt ihn ab.« Mack richtete sich auf. Man sah ihm an, daß er sich beherrschen mußte, ruhig zu bleiben. »Das war alles, was du getan hast?« fragte er mit leiser, drohender Stimme. »Klar«, meinte Greasy naiv. »Es war ganz einfach.« »Du hast ihnen unser Geheimnis verraten! Sie sind jetzt gewarnt! Jetzt geht uns bestimmt keiner mehr auf den Leim!« »Nicht so voreilig, Mack«, meinte Knight beschwichtigend. »Da der Schaden nun mal geschehen ist«, sagte Carr, »sollten wir auch das Beste daraus machen. Sehen wir uns an, was in dem Beutel steckt. Vielleicht ist etwas darin, was uns weiterhilft.« »Man kann ihn nicht öffnen«, murrte Greasy. »Ich habe schon alles versucht. Selbst den Büchsenöffner.« »Und während du versucht hast, den Beutel gewaltsam zu öffnen«, sagte Mack mit drohender Stimme, »stand der Schatten ganz ruhig dabei und bohrte in der Nase – wie?« »Nein – er hat es gar nicht mal bemerkt! Er hatte doch den Kopf die ganze Zeit über in meiner Spülmaschine. Der Kerl ist so blöd, daß man…« »Sag das nicht! Ich wünsche keine Fehleinschätzung der Schatten, die nur zu einer Katastrophe führen könnte! Solange wir nicht beweisen können, daß sie blöd sind, müssen wir das Gegenteil annehmen!« Knight hatte den Beutel vom Tisch aufgenommen und drehte ihn zwischen seinen Händen. Es klimperte und klapperte darin, als er den Beutel hin- und herschüttelte. Dann zuckte er die
Achseln. »Greasy hat recht«, sagte er, »ich wüßte nicht, wie man den Beutel öffnen könnte.« »Du verschwindest wieder!« donnerte Mack unseren Koch an. »Zurück an deine Arbeit! Und wage es ja nicht mehr, dich an einem Schatten zu vergreifen!« Greasy machte kehrt und verließ das Zelt. Doch kaum war er draußen, da stieß er einen Schrei aus, daß es mir eiskalt über den Rücken rieselte. Ich warf fast den Tisch um, so eilig hatte ich es, aus dem Zelt zu kommen. Doch was sich da draußen abspielte, war nichts als ein stummer Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Greasy rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Aber es war nur sein Schatten, der ihn verfolgte, und zwar mit der Bratpfanne. Und bei jedem Satz, den Greasy machte, bekam er von seinem Schatten eins übergebraten – und zwar mit der gleichen Rückhandtechnik, die Greasy heute morgen an dem Schatten ausprobiert hatte. Greasy versuchte, Haken zu schlagen und andere Tricks, um die rettende Kombüse wieder zu erreichen. Doch sein Schatten schnitt ihm jedesmal den Weg ab und verbleute ihn dabei nach Strich und Noten. Alle Männer hörten zu arbeiten auf und sahen den beiden zu. Ein paar gaben Greasy gute Ratschläge und andere ließen den Schatten hochleben. Ich hätte mir das Schauspiel gern noch länger angesehen. Aber wenn ich meinen prächtigen Einfall in die Tat umsetzen wollte, mußte ich jetzt handeln. So eine gute Gelegenheit kam nie wieder. Deshalb drehte ich mich rasch um und lief zu meinem eigenen Zelt. Dort holte ich einen Beutel für Gesteinsproben aus meiner Ausrüstungskiste und kroch wieder ins Freie. Greasy rannte jetzt auf den Platz zu, wo unsere Planierraupen abgestellt waren. Der Schatten war ihm dicht auf den Fersen.
Der Bursche war großartig in Form; denn jedesmal, wenn er mit der Bratpfanne ausholte, landete er einen Volltreffer. Ich rannte zur Küchenkabine und drehte mich am Eingang noch einmal vorsichtig um. Greasy hatte sich auf einen Schaufelbagger geflüchtet und turnte auf dem Ausleger herum wie ein Affe. Der Schatten stand unter ihm und versetzte ihm noch eins auf die Kehrseite, ehe Greasy sich ganz aus der Gefahrenzone retten konnte. Alle meine Kollegen strömten im Maschinenpark zusammen, um das Schauspiel zu genießen. Niemand achtete auf mich. Ich öffnete rasch die Tür zur Kombüse und schlüpfte hinein. Die Spülmaschine trocknete das Geschirr im dritten Spülgang. Sonst war alles ruhig und friedlich. Ich fürchtete schon, ich würde lange suchen müssen, bis ich fand, weswegen ich hier eingedrungen war. Doch schon beim drittenmal hatte ich das Versteck erraten. Der Gucker lag unter Greasys Bettmatratze. Ich steckte den Gucker in meinen Probensack und schlüpfte rasch wieder aus der Kombüse. Als ich an meinem Zelt vorbeikam, warf ich den Sack in eine Ecke, häufte ein paar schmutzige Hemden und Socken darüber, und ging dann weiter, als wenn nichts geschehen wäre.
Die Aufregung hatte sich inzwischen wieder gelegt. Der Schatten hatte die Bratpfanne unter den Arm geklemmt und trottete zur Küchenhütte zurück. Greasy ließ sich gerade am Drahtseil des Schaufelbaggers zur Erde hinunter. Die Zuschauer empfingen ihn mit großem Hallo, und ich überlegte mir, daß Greasy diesen denkwürdigen Tag bestimmt nicht so rasch vergessen würde. Trotzdem hatte er diese Abreibung verdient.
Ich ging wieder in Macks Zelt zurück. Die anderen waren dort noch versammelt. Sie standen um den Tisch herum und starrten auf die Platte. Der Beutel war verschwunden. An seiner Stelle lag jetzt ein Häufchen von Spielsachen auf dem Tisch – oder es sah wenigstens so aus. Denn dort häuften sich all die Sachen, mit denen Greasy in seiner Kombüse arbeitete, nur sehr viel kleiner: Pfannen, Töpfe, Kessel, Kochlöffel, Büchsenöffner – kurz alles, was eben zur Küchenausrüstung gehört. Und mitten in dieser Ausrüstung, die für eine Puppenküche bestimmt zu sein schien, lag eine kleine Statuette von Greasy. Ich streckte die Hand aus und nahm die Statuette aus dem Haufen heraus. Es gab überhaupt keinen Zweifel – das war Greasys haargenaues Ebenbild, nur maßstabsgetreu verkleinert. Selbst die Falten auf Greasys Gesicht waren zu erkennen. Es war ganz unglaublich. »Der Beutel verschwand wie weggezaubert«, meinte Knight fassungslos. »Als wir aus dem Zelt stürzten, lag er noch auf dem Tisch. Als wir zurückkamen, lag dieser Plunder herum – aber der Beutel ist weg.« »Ich begreife das nicht«, meinte Carr. Keiner von uns begriff das. »Mir gefällt das ganz und gar nicht«, meinte Mack. Da konnte ich ihm nur zustimmen. Zu viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, und ein paar lösten sich in schlimme Befürchtungen auf. »Sie fertigen Kopien von unseren Geräten an«, murmelte Knight. »Selbst Tassen und Löffel sind ihnen nicht unwichtig genug dafür.« »Darüber würde ich mich nicht weiter aufregen«, meinte Carr. »Aber die Statue, die sie von Greasy angefertigt haben, ist ein bedenkliches Zeichen.«
»Los – setzt euch wieder hin«, befahl Mack. »Keine Gefühlsduseleien. Schließlich deckt sich das nur mit unseren Erwartungen.« »Was willst du damit sagen?« fragte ich. »Wie verhalten wir uns, wenn wir auf eine fremde Kultur stoßen? Wir machen genau das, was die Schatten auch getan haben. Vielleicht mit anderen Mitteln, aber im Prinzip dasselbe. Wir versuchen, die fremde Kultur so gründlich wie möglich zu erforschen. Und vergeßt dabei ja nicht, daß wir mit einer fremden Kultur bei ihnen eindringen. Wenn die Bewohner dieses Planeten also nur einen Funken Verstand besitzen, setzen sie alles daran, unsere Kultur so rasch wie möglich kennenzulernen.« Macks Theorie hatte durchaus etwas für sich. Aber deshalb mußte man doch nicht gleich maßstabsgetreue Modelle von jedem Ding anfertigen, das einem unter das Auge kam. Und wenn sie Greasys gesamte Kücheneinrichtung kopiert hatten – von der Spülmaschine bis zum Zahnstocher –, dann hatten die anderen Schatten auch nichts anderes getan, als eifrig Modelle gesammelt – Kräne, Schaufelbagger, Planierraupen, Walzen, Stampfer, Bohrer – alles, was wir mitgebracht hatten. Doch noch nicht genug damit – sie hatten die Menschen gleich mitkopiert: Mack und Thorne, Carr, Greasy und die ganze Mannschaft. Mich natürlich auch. Es fragte sich jetzt, wie lebensecht diese Abbilder waren. Hatten sich die Schatten nur mit unserem Aussehen begnügt oder waren sie auch in innere Regionen vorgedrungen? Ich versuchte, diesen Gedanken nicht mehr weiterzuverfolgen, weil mir das kalte Grausen kam. Doch die Logik läßt sich selten von Gefühlen ins Handwerk pfuschen. Ich zog also meine Schlüsse. Die Schatten hatten unsere Maschinen nur deshalb sabotiert, damit unsere Mechaniker sie
vollständig zerlegen mußten, um sie wieder zu reparieren. Mit diesem Trick verschafften sich die Schatten einen genauen Überblick über alle Einzelteile und ihre Funktionen. Daraus folgerte, daß die Kopien unserer Maschinen nicht nur dem Aussehen nach wirklichkeitsgetreu waren, sondern auch in ihren Eingeweiden bis hinein in die komplizierten Abläufe der mechanischen Vorgänge. Und falls dies zutraf – galt das auch für Greasys Statuette? Hatte man auch hier das Kopieren so weit getrieben, daß dieses Abbild Herz und Lunge, Blutgefäße und Nerven, Gehirn und Drüsen besaß? Konnte es nicht auch das Wesen von Greasys Charakter enthalten – seine animalischen Instinkte, seine Gedanken und seine Moral? Ich weiß nicht, ob meine Kollegen in diesem Augenblick das gleiche gedacht haben – doch ihre betretenen Mienen verrieten mir, daß ihre Schlußfolgerungen nicht viel günstiger ausfielen. Mack streckte den Zeigefinger aus und rührte in dem Haufen herum. Plötzlich zuckte seine Hand vor. Er hob einen Gegenstand auf, und sein Gesicht wurde rot vor Zorn. »Was ist denn das, Mack?« fragte Knight. »Ein Gucker!« knurrte Mack, »die Kopie von einem Gucker!«
Wir saßen alle stumm da und starrten. Ich fühlte, wie der kalte Schweiß auf meiner Haut ausbrach. »Wenn Greasy einen Gucker mitgebracht hat«, sagte Mack mit drohender Stimme, »drehe ich ihm seinen fetten Kragen um!« »Wir sollten das nicht überdramatisieren«, meinte Carr. »Weißt du, was ein Gucker ist?« »Natürlich weiß ich, was ein Gucker ist.«
»Hast du auch schon mal gesehen, was ein Gucker aus den Leuten macht, die ihn benutzen?« »Nein.« »Aber ich.« Mack warf das Modell des Guckers auf die Tischplatte, drehte sich um und stampfte aus dem Zelt. Wir folgten ihm. Greasy kam gerade vom Maschinenpark herauf. Eine Meute von Männern folgte ihm und machte anzügliche Bemerkungen, ob Greasy seinen Schatten zum Mittagessen in die Pfanne hauen wollte. Mack stemmte die Hände in die Hüften und wartete. Greasy stolperte fast über ihn. »Greasy!« donnerte Mack. »Ja, Chef?« »Hast du einen Gucker in der Kombüse versteckt?« Greasy blinzelte, zögerte aber keine Sekunde. »Nein, Sir«, meldete er wie ein Feldküchenbulle. »Ich würde ihn gar nicht erkennen, wenn ich ihn sähe. Ich habe natürlich schon von diesen Dingern gehört.« »Ich mache dir einen Vorschlag, Greasy«, fuhr Mack beharrlich fort. »Wenn du einen Gucker hast, bring ihn zu mir, damit ich ihn in Stücke hauen kann. Ich ziehe dir dann zur Strafe einen vollen Monatslohn ab, und wir reden nie mehr über diese Angelegenheit. Wenn du mich aber anlügst und wir entdecken, daß du einen Gucker in deinem Quartier versteckt hast, bist du fristlos entlassen!« Ich hielt den Atem an. Mir gefiel das gar nicht, wie sich diese Geschichte entwickelte – gerade in dem Moment, wo ich den Gucker geklaut hatte. Obgleich ich ziemlich sicher war, daß mich niemand dabei beobachtet hatte, wie ich in die Kombüse schlich, war mir gar nicht wohl unter der Haut. Greasy war ein sturer Hund. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Gucker, Mack.«
Macks Gesicht wurde hart. »Also gut – dann sehen wir mal nach, ob das stimmt.« Er marschierte auf die Kombüse los, und Knight und Carr folgten ihm. Ich blieb zurück und marschierte in die entgegengesetzte Richtung – zu meinem Zelt. Es war Mack zuzutrauen, daß er das ganze Lager auf den Kopf stellte, wenn er den Gucker nicht in Greasys Küchenkabine fand. Wenn ich mir also Scherereien ersparen wollte, mußte ich so rasch wie möglich den Gucker aus dem Lager schaffen. Ich beschloß, einen Ausflug zu machen und den Gucker mitzunehmen.
Benny hockte mit untergeschlagenen Beinen vor meinem Zelt und wartete auf mich. Er half mir, den Roller aus dem Zelt zu schieben. Dann holte ich den Probensack, in dem ich den Gucker versteckt hatte, und verstaute ihn im Gepäckfach. Ich stieg auf den Roller, und Benny sprang hinter mir auf den Beifahrersitz. Er benahm sich wie ein kleines Kind, das Eindruck schinden will. Er alberte herum. »Halte dich lieber fest!« rief ich über die Schulter. »Wenn du diesmal wieder herunterfällst, laß ich dich glatt liegen! Das schwöre ich dir!« Ich war davon überzeugt, daß er nicht einen Ton von meiner Drohung verstand. Trotzdem legte er jetzt die Arme um meine Hüften, und wir brausten in einer Staubwolke davon. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal auf so einem Roller gefahren sind, wie wir sie auf Stella IV verwendeten. Wenn nicht, haben Sie was versäumt. Er fährt sich wie eine Achterbahn. Aber man kommt mit dem Ding überall hin, wo man hinwill, und wenn man sich festhält, kann gar nichts passieren. Im Prinzip besteht der Roller aus zwei riesigen Gummikissen mit einem Motor und zwei Sätteln in der Mitte.
Wenn Sie Vollgas geben, klettert das Ding sogar auf eine Scheune hinauf. Für den zivilisierten Massenverkehr auf der Erde ist diese Knatterkiste natürlich viel zu temperamentvoll. Aber auf einem Planet ohne Straßen und Verkehrsschilder ist dieser Roller ein geradezu ideales Fortbewegungsmittel. Wir fuhren über die Ebene auf die Berge zu. Es war ein herrlicher Tag, was auf Stella IV nichts Besonderes war, denn hier gab es nur herrliche Tage. Wie ich schon erwähnte, war Stella IV ein Idealtyp von einem Planeten – der Erde sehr ähnlich, mildes Klima, strotzend vor Bodenschätzen, frei von Schädlingen oder tödlichen Viren. Kurz – dieser Planet forderte die Menschen geradezu heraus, hierherzukommen und sich häuslich niederzulassen. Und das würde auch gar nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wenn erst das Verwaltungszentrum gebaut und die ersten Wohnhäuser errichtet waren, der Supermarkt eröffnet, die Dämme gebaut, das Elektrizitätswerk angeschlossen und die Straßen geteert – dann kamen auch die Leute. Und in den Jahren darauf würde man Abschnitt für Abschnitt kultivieren, und die Menschen würden sich über den ganzen Planeten ausbreiten. Aber es würde eine zuchtvolle Ausbreitung sein – kein Eroberungsfeldzug mit Mord und Totschlag. Hier würde es keinen wilden Westen geben und das Gesetz der Prärie – keine Desperados und Lynchjustiz – keine Goldgräber und verkrachte Existenzen. Systematisch würde man das Land erschließen und endlich der Natur und dem Boden sein Recht lassen. Aber das genügte noch nicht. Wenn der Mensch das Weltall erobern wollte, mußte er auch die Verantwortung für den Haushalt der Natur übernehmen, den er seinen Zwecken unterwarf. Wir durften die Reichtümer, die uns die Natur schenkte, nicht vergeuden, wie wir das auf
der Erde getan hatten. Wir durften nicht über die Milchstraße herfallen wie eine Horde hungriger Kinder. Hier auf diesem Planeten, so schien es mir, mußten wir beweisen, daß wir Menschen endlich erwachsen waren… Doch wenn die menschliche Rasse beweisen wollte, was sie wirklich wert war, mußte sie auch ein anderes Problem lösen – das der Schatten. Denn wenn die Schatten wirklich an unseren Rückschlägen schuld waren, mußten wir das unterbinden. Doch diese negative Reaktion reichte nicht aus – wir mußten versuchen, die Motive der Schatten zu ergründen. Denn wie kann man sich gegen etwas zur Wehr setzen, das man gar nicht versteht? Und um die Schatten zu verstehen, mußten wir erst einmal ihr Wesen, ihre Beschaffenheit kennenlernen. Und um das wiederum zu erreichen, mußten wir einen der Schatten kidnappen und ihn untersuchen. Und wenn wir ihn kidnappten, dann richtig und gründlich, weil wir bestimmt keine zweite Gelegenheit mehr dazu bekamen. Denn diese Burschen waren bestimmt so schlau, sich nur einmal überlisten zu lassen. Doch der Gucker – der war so gut wie ein Freilos, ein Freiwurf, ein Probeversuch. Wenn ich es mit dem Gucker versuchte, und die Sache schlug fehl – dann hatte es wenigstens niemandem geschadet. Hatte ich aber Glück, war unser Problem gelöst. Benny und ich fuhren also mit dem Roller über die Ebene auf die Berge zu. Ich hielt auf eine Stelle zu, die ich den Obstgarten nannte – nicht, weil dort tatsächlich Obst gezüchtet wurde, sondern nur, weil dort so viele früchtetragende Bäume beieinander standen, daß sich diese Bezeichnung geradezu aufdrängte. Es war ein Plätzchen, das ich mir schon lange vorgemerkt hatte. Ich wollte die Baumfrüchte daraufhin untersuchen, ob sie für menschliche Nahrungszwecke geeignet waren.
Wir erreichten also den Obstgarten, und ich stellte den Motor ab. Sobald ich den Roller geparkt hatte, bemerkte ich, daß sich hier etwas verändert hatte. Als ich vor einer Woche das letztemal hier gewesen war, bogen sich die Zweige der Bäume noch unter der Last der Früchte. Doch jetzt waren sie alle verschwunden. Ich guckte unter die Bäume, ob die Früchte vielleicht heruntergefallen waren. Nicht eine einzige Frucht. Es sah verdammt danach aus, als sei in der Zwischenzeit jemand hierhergekommen und habe die Früchte geerntet! Ich fragte mich, ob die Schatten für die Plünderung des Obstgartens verantwortlich zu machen seien. Doch sogleich verwarf ich diesen Gedanken wieder. Die Schatten waren ja unfähig, Nahrung zu sich zu nehmen. Ich setzte mich unter einen Baum und dachte angestrengt nach. Vom Obstgarten aus konnte man das Lager noch sehen. Ich überlegte, was Mack wohl getan hatte, als er den Gucker nicht in der Kombüse fand. Wahrscheinlich war er in einer Stinklaune. Und ich konnte mir vorstellen, wie erleichtert Greasy war, weil man den Gucker vergeblich bei ihm gesucht hatte. Trotzdem würde er sich fragen, wohin der Gucker gekommen war. Wahrscheinlich würde er es Mack sogar gründlich unter die Nase reiben, daß er sich wieder mal geirrt hätte. Es konnte wohl nicht schaden, wenn ich eine Weile hier in den Hügeln blieb. Bis zum Nachmittag wenigstens. Wahrscheinlich hatte sich Mack bis dahin wieder ein bißchen beruhigt. Ich dachte über die Schatten nach. Heulende Wilde, hatte Thorne gemeint. Doch weder konnten sie heulen, noch waren sie Wilde. Sie schienen perfekte Gentlemen zu sein (oder perfekte Ladies, was nur Gott
unterscheiden konnte, wenn überhaupt), und echte Wilde unterscheiden sich in fundamentaler Hinsicht davon. Oder lassen es in fundamentaler Hinsicht fehlen. Die Schatten waren immer sauber gewaschen, gesund und besaßen gute Manieren. Sie hatten einen Hauch von Kultur um sich, von Vornehmheit. Sie benahmen sich wie eine Gruppe von zivilisierten CampingFreunden – doch ohne das diesbezügliche Gerät. Doch sie hielten Inventur – darüber gab es gar keinen Zweifel. Sie besichtigten und notierten alles, was wir hatten und was wir zu sein schienen. Aber weshalb wollten sie alles über uns wissen? Was für eine Verwendung hatten sie für unsere Löffel, Bratpfannen und Planierraupen? Oder nahmen sie nur Maß, um uns dann um so sicherer niederknüppeln zu können? Doch das waren bei weitem noch nicht alle Fragen. Wo wohnten die Schatten? Wie verschwanden sie so plötzlich, und wenn sie verschwanden –, wohin? Wie atmeten sie und wie nahmen sie Nahrung zu sich? Wie setzten sie sich untereinander in Verbindung? Auf welche Weise verständigten sie sich? Wenn man es genau betrachtete, wußten die Schatten zweifellos viel mehr über uns als wir über sie. Denn wenn man sich zusammenrechnete, welche Erkenntnisse wir von dem Wesen der Schatten gewonnen hatten, so war das Ergebnis gleich Null. Ich seufzte, stand auf und ging zu meinem Roller hinüber. Dort holte ich den Gucker aus dem Gepäckfach. Es war das erstemal, daß ich einen Gucker in Ruhe betrachten konnte. Ich war neugierig und ängstlich zugleich. Denn ein Gucker war ein sehr gefährliches Instrument, mit dem man nicht leichtsinnig umgehen durfte.
Von außen sah er ziemlich harmlos und simpel aus – wie ein verkehrt zusammengebauter Feldstecher. Er hatte eine Menge Knöpfe und geriffelter Scheiben an den Okularen und dem Gehäuse. Man guckte hinein und drehte an den Knöpfen und Rädern bis man sah, was man wollte – nämlich ein Bild. Dann trat man selbst in das Bild hinein und lebte das Leben, das sich dort abzeichnete – ein selbstgewähltes Leben, das man mit Hilfe der Knöpfe und Räder herbeizauberte. Und der Gucker bot eine gewaltige Auswahl von Lebensmöglichkeiten; denn man konnte Millionen von Kombinationen einstellen – von der naiven Lebensfreude eines Kinderspielzimmers bis zum grauenhaftesten Schrecken der Hölle. Der Gucker war natürlich gesetzlich verboten: er war ein viel schlimmeres Laster als Alkohol, Marihuana, Heroin oder die psychedelischen Drogen. Es war das gefährlichste Laster, das die Menschheit jemals heimgesucht hatte. Er schlug einen Menschen in seelische Fesseln, aus denen er sich nie mehr befreien konnte. Wenn ein Mensch erst Geschmack daran gefunden hatte, konnte man ihn nie mehr davon heilen. Er würde den Rest seines Lebens damit verbringen, sich von den unzähligen Lebensmöglichkeiten, die ihm der Gucker vorgaukelte, ein zurechtgeschneidertes Fantasiedasein auszusuchen. Und so entfremdete er sich Schritt für Schritt der Wirklichkeit, bis er nur noch ein irreales Schattendasein führte. Ich hockte mich neben den Roller und versuchte mich mit den Stellknöpfen zurechtzufinden. Insgesamt zählte ich neununddreißig Knöpfe mit neununddreißig dazugehörigen Rädchen zur Feineinstellung. Ich hatte keine Ahnung, was die Nummern bedeuteten. Benny schlenderte auf mich zu und hockte sich neben mich. Unsere Schultern berührten sich, als er mir zusah, wie ich an den Rädern drehte.
Ich brütete – aber das half mir nicht weiter. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, was die Zahlen bedeuteten. Ich mußte den Gucker eben ausprobieren. Ich stellte alle Knöpfe und Rädchen auf Null. Dann stellte ich den Knopf Nummer eins ein und drehte die Feineinstellung um zwei Kerben nach links. Ich wußte natürlich, daß ein geübter Gucker über meine unbeholfene Art, das Gerät zu bedienen, nur gelächelt hätte. Sie stellten die verschiedenen Knöpfe zur gleichen Zeit ein und mixten so ihren Lebenscocktail auf raffiniertere Weise. Aber ich war ja nicht darauf aus, mir ein Gaukelleben herauszusuchen. Ich wollte wissen, was für einen Lebensbereich jeder Knopf regulierte. Also setzte ich den Knopf Nummer 1 mit der Feineinstellung 2 in Betrieb und hob den Gucker vor das Gesicht. Und plötzlich stand ich wieder auf der Wiese meiner Kindheit – eine Wiese, die so leuchtend grün war wie keine Wiese auf der Erde oder sonstwo. Und der leuchtend blaue Himmel darüber hatte den Ton nasser Seide. Und da war ein sprudelnder Bach mit gaukelnden Schmetterlingen darüber. Doch das war noch nicht genug – denn die Wiese breitete sich unter einem Mittagshimmel aus, der ewig so bleiben würde. Und die Sonne war der helle, leuchtende Schein kindlicher Knabenseligkeit. Ich wußte ganz genau, wie sich das Gras unter den bloßen Füßen anfühlen würde, erinnerte mich an die Sonnenreflexe auf den Wellen des Baches über den Kieselsteinen. Nichts fiel mir je in meinem Leben schwerer, als mich von diesem Bild zu trennen – aber ich tat es. Ich riß mir den Gucker von den Augen. Dann hockte ich da, auf meinen Fersen, den Gucker im Schoß. Meine Hände zuckten, sehnten sich danach, den Gucker wieder an die Augen zu heben. Ich wollte wieder
zurück in das Paradies meiner seit langem verlorenen Jugendzeit – aber ich zwang mich dazu, darauf zu verzichten. Der Knopf Nummer 1 war nämlich nicht derjenige, den ich suchte. Er war genau dem entgegengesetzt, was ich brauchte. So drückte ich also auf Knopf 39 und stellte die Feineinstellung zwei Kerben hinauf. Ich hob den Gucker nur halb vor das Gesicht. Schon das genügte, um mein Blut gerinnen zu lassen. Ich setzte den Gucker wieder ab und rang nach neuem Mut. Ich riß mich zusammen und blickte wieder hinein. Entsetzliches Grauen erfaßte mich und drohte meinen Verstand zu vernebeln. Ich kann es nicht beschreiben. Selbst jetzt entsinne ich mich nur an schreckliche Einzelheiten, nicht an das ganze Bild. Es war eigentlich kein Sehen mehr – sondern reine Impression, rohes Gefühl. Eine Art von surrealistischer Darstellung aller Dinge, die uns abstoßen und Grauen in uns erregen. Und doch war auch dieses Grauen irgendwie faszinierend und schlug einen in einen verheerenden Bann. Zitternd befreite ich mich wieder von dem Gucker. Eine Weile lang saß ich erstarrt da. Meine Einbildungskraft war wie ausgehöhlt – ein Schlachtfeld, über dem der schwelende Rauch des Entsetzens langsam abzog. Endlich wurde ich mir wieder der Gegenwart bewußt. Ich saß am Rande eines Hügels, und mein Schatten spähte mir über die Schulter. Es war ein schrecklicher Anschlag, überlegte ich – ein unmenschlicher Akt, den man nicht einmal gegen einen Schatten begehen sollte. Wenn man Knopf 39 nur schwach einstellte, war es schon schlimm genug – wie würde es erst sein, wenn man ihn auf volle Kraft stellte. Man mußte darüber seinen Verstand verlieren… Benny griff mir über die Schulter, um den Gucker in die Hand zu nehmen. Ich wich ihm aus. Aber er langte immer
wieder danach – wie ein ungezogenes Kind. Das gab mir noch eine Bedenkfrist. Eigentlich hatte ich es genauso geplant. Neugierde erregen, was bei den Schatten ja einzige Daseinsberechtigung zu sein schien, und dann ihre Neugierde stillen. Ich dachte darüber nach, wieviel davon abhing. Wir brauchten einen Schatten, den wir untersuchen konnten. Ich dachte an mein Herz, falls der Inspektor uns wirklich entlassen und von einer anderen Mannschaft ablösen lassen würde. Es gab nicht alle Naselang einen erdähnlichen Planeten, den man kultivieren konnte. Wahrscheinlich war Stella IV meine erste und letzte Chance. Also stellte ich die Feineinstellung von Knopf 39 ebenfalls bis zu dieser Zahl hinauf und überließ Benny den Gucker. Dabei überlegte ich, ob die Sache wirklich funktionieren würde. Schließlich war es ja eine menschliche Erfindung, die für Menschen gebaut war – für ihr Nervensystem und ihre Fantasie. Doch dann wurde mir bewußt, daß der Gucker nicht bloß eine Maschine war, sondern nur die Größe, die Schönheit, die Begierde und das Grauen auslöste, die im Gehirn des Benutzers selbst verborgen waren. Der Gucker gaukelte gar keine Bilder vor – er zwang sie im Gehirn selbst hervor. Und das Grauen – ob es nun menschliche oder außermenschliche Formen annahm – blieb trotzdem Grauen. Es paßte sich nur dem Betrachter an, der seine eigene Erscheinungswelt damit verband. In dieser Hinsicht spielte es also gar keine Rolle, ob ein Schatten oder ein Mensch den Gucker verwendete. Und ich hatte recht. Benny hob den Gucker an sein einziges Auge und beugte den Kopf vor, um sich dem Okular anzupassen. Dann riß es ihn plötzlich vom Boden, er wurde einen Moment ganz steif und fiel dann zu Boden.
Ich stand über ihn gebeugt – fühlte Triumph, Stolz und Mitleid zugleich. Es war schon nicht ganz leicht, einem Schatten wie Benny so einen bösen Streich zu spielen, der wochenlang hinter meiner Schulter gelebt hatte. Ich kniete mich nieder und drehte Benny auf den Rücken. Er war gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte. Darüber war ich recht froh, denn ich mußte ihn ja auf den Roller laden und so rasch wie möglich ins Lager zurückbringen. Denn man konnte ja nie wissen, wie lange Benny bewußtlos sein würde. Ich hob den Gucker auf und verstaute ihn wieder im Gepäckfach. Dann holte ich ein Stück Seil heraus, mit dem ich Benny auf den Beifahrersitz festbinden konnte. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt ein Geräusch gehört habe. Wenn ich mich nicht täusche, erzeugte er nicht den leisesten Ton. Es mußte mein Instinkt gewesen sein, der mich zwang, zu Benny hinüberzublicken. Benny sank in sich zusammen. Einen Moment hatte ich entsetzliche Angst, das Grauen im Gucker hätte einen Gehirnschlag in Benny ausgelöst. Und ich erinnerte mich an Macks Worte: ›Töte niemals Leute, ehe du nicht weißt, ob sie dich nicht viel besser töten können.‹ Wenn Benny tot war, konnte die Hölle auf Stella IV über uns hereinbrechen! Aber für einen Toten benahm Benny sich reichlich sonderbar. Er schrumpfte zusammen und bekam überall Falten wie ein Luftballon, aus dem das Gas entweicht. Dann wurde aus den Falten Staub und schließlich aus dem Staub – nichts. Benny war weg. Übrig blieb nur der Gürtel mit den Schulterriemen, der Beutel und der Edelstein. Und dann war auch der Beutel verschwunden – und dort, wo er eben noch gewesen war – lagen ein Häufchen kleiner Spielsachen. Und noch etwas war übriggeblieben.
Bennys Auge. Das Auge war der Boden eines Kegels, der in Bennys Kopf gesteckt hatte. Und ich entsann mich jetzt wieder des Berichtes, den der Erkundungstrupp verfaßt hatte. Sie hatten ähnliche Kegel gesehen, waren aber niemals in der Lage gewesen, an diese Dinger heranzukommen. Ich war so erschrocken, daß ich mich nicht zu rühren wagte. Ich stand wie gebannt und starrte den Kegel an, während sich die Gänsehaut über meinen ganzen Körper ausbreitete. Denn Benny war weder ein Wilder noch ein Gentleman. Er war auch kein fremdes Wesen – sondern nur der Stellvertreter davon. Und wessen Stellvertreter er war, wußten wir nicht. Denn wessen Gestalt und Wesen er vertreten hatte, den hatten wir bisher weder gesehen, noch konnten wir uns eine Vorstellung von ihm machen. Wilde Vermutungen schossen mir durch den Kopf – Schauerbilder. Sie kamen und gingen – doch so rasch, daß keines davon in meiner Vorstellung haften blieb. Nur eines war gewiß: jene Wesen, die Benny als Tarnung in unser Lager geschickt hatten, waren außerordentlich intelligent und gerissen. Sie waren viel zu klug, um uns mit Erscheinungen zu konfrontieren, die nichts Menschenähnliches an sich hatten. Sie schickten uns Wesen, die wir bemitleideten, verachteten oder über die wir uns höchstens ärgerten – aber vor denen wir uns niemals fürchteten. Sie sendeten Wesen aus, die Karikaturen unserer menschlichen Gestalt zu sein schienen – dumme Dinger, die nicht einmal sprechen konnten. Und doch waren sie so weit verfremdet, daß sie uns ratlos machten, weil wir nichts mit ihnen anfangen konnten – so daß wir am Ende den Versuch aufgeben mußten, ihr Wesen zu enträtseln. So schlau waren diese Wesen, die hinter diesen Attrappen standen.
Ich warf noch einmal einen scheuen Blick hinter mich. Sobald sich etwas in meiner Nähe geregt hätte, wäre ich davongerannt wie ein Kaninchen. Doch nichts bewegte sich – nicht einmal ein Lüftchen. Nichts war in der Nähe, vor dem ich mich hätte fürchten müssen – höchstens vor meinen eigenen Vorstellungen. Doch spürte ich ein drängendes Unbehagen, mich so rasch wie möglich von diesem Ort zu entfernen. Ich kroch also auf allen Vieren herum und sammelte ein, was von Benny übriggeblieben war. Ich kehrte die Spielsachen zusammen und schob sie in meinen Sack. Auch den Edelstein und den Gucker legte ich dazu. Dann ging ich noch einmal zurück und hob den Kegel auf. Bennys Auge sah mich an, aber ich erkannte sofort, daß es tot war. Der Kegel war schlüpfrig und fühlte sich gar nicht wie Metall an – doch er war schwer und hart, und ich brauchte einige Zeit, bis ich ihn in meinen Beutel bugsiert hatte. Doch endlich hatte ich alles beisammen und raste mit Vollgas in das Lager zurück. Die ganze Zeit glaubte ich, der Teufel sitze mir im Nacken – oder ein vergleichbares Gespenst von Stella IV.
Ich sprang vor Macks Zelt aus dem Sattel. Doch als ich die letzte Kurve nahm, kam mir das verrückteste Perpetuum mobile vor Augen, das man sich ausdenken konnte. Die ganze technische Mannschaft schien an dem verrückten Ding zu bauen: sie montierten Räder, Keilriemen, Ausgleichsgetriebe, Nockenwellen, Antriebsketten, Schaltaggregate, Kolben, Kurbelgehäuse und weiß der Teufel, was noch alles. Es dehnte sich über ein Gelände aus, auf dem ein ganzer Jahrmarkt Platz gefunden hätte, und ich konnte mir wirklich keinen Grund denken, für was diese Riesenmaschine gut sein sollte.
Ich sah Thorne neben diesem Riesenspielzeug, wie er seine Leute herumkommandierte, ein selbstzufriedenes Grinsen auf dem Gesicht. Ich hielt den Roller neben ihm an, stützte ihn mit einem Fuß und fragte: »Was ist denn hier los?« »Wir bauen eine Nuß, an der sie sich die Zähne ausbeißen können«, antwortete Thorne selbstgefällig. »Wir bauen ihnen eine Maschine, an der sie bis zum Jüngsten Tag herumtüfteln können.« »Wer sind ›sie‹? Die Schatten etwa?« »Sie sind doch dauernd auf der Suche nach technischen Informationen, nicht wahr?« meinte Thorne. »Tag und Nacht spionieren sie herum und steigen uns auf die Zehen – jetzt haben sie endlich etwas, das sie beschäftigt.« »Aber was hat denn dieses Monstrum für einen Sinn?« Thorne spuckte auf den Boden und grinste: »Gar keinen – das ist ja das Schöne an der Maschine.« »Hm«, meinte ich zweifelnd, »hoffentlich weißt du auch, was du da tust. Weiß Mack eigentlich schon etwas davon?« »Mack, Carr und Knight sind ja die genialen Erfinder dieses Riesenspielzeugs. Ich bin nur der Befehlsempfänger.« Ich parkte also den Roller neben Macks Zelt, marschierte hinein und leerte den Sack über Macks Tisch aus. Und erst in diesem Augenblick fiel es mir siedendheiß ein, daß ich vergessen hatte, den Gucker aus dem Sack zu nehmen. Aber jetzt war es zu spät. Der Gucker lag obenauf – unverpackt und für jedermann zu sehen. Eine drohende Stille senkte sich über die Tischrunde, und ich sah es Macks Gesicht an, daß er jede Sekunde loslegen würde wie ein Raketenmotor. Er holte nur noch Luft. Aber ich kam ihm zuvor. »Halt den Mund, Mack!« sagte ich. »Ich möchte kein Wort von dir hören!«
Ich mußte ihn überrumpelt haben; denn er ließ die überflüssige Luft, die er eingeatmet hatte, wieder langsam entweichen. Carr und Knight schienen von meinen Worten in Steine verwandelt worden zu sein. Auf jeden Fall blieb es unheimlich still. »Das war Benny«, sagte ich und machte eine Geste über den Tisch hin. »Das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist. Ein Blick in den Gucker hat ihn erledigt.« Carr faßte sich zuerst. »Aber der Gucker!« wagte er sich hervor. »Wir haben ihn überall gesucht und nicht…« »Ich wußte, daß Greasy einen Gucker in seiner Kombüse versteckt hatte. Ich stahl ihn, als ich einen Einfall hatte. Ihr erinnert euch doch noch. Wir sprachen davon, wie wir am besten einen Schatten fangen konnten…« »Ich werde dich unter Anklage stellen!« brüllte Mack. »Ich werde ein Exempel an dir statuieren! Ich werde…!« »… du wirst den Mund halten!« donnerte ich zurück. »Du wirst von jetzt an deine verdammte Schnauze halten und zuhören, oder ich stülpe dir den Sack über deinen verdammten Kopf!« »Bitte«, flehte Knight mich an, »bitte, benehmt euch doch wie zivilisierte Herren!« Knight mußte schon schrecklich verwirrt sein, wenn er uns als Herren bezeichnete. »Mir scheint«, mischte sich Carr ein, »daß der Gucker als illegaler Tatbestand unwesentlich geworden ist, wenn Bob ihn zu einem guten Zweck verwendet hat.« »Aber, meine Herren!« drängte Knight von neuem, »setzen wir uns doch wieder hin und zählen wir bis zehn! Dann kann Bob uns berichten, was inzwischen vorgefallen ist.« Das war ein vernünftiger Vorschlag. Wir setzen uns also alle um den Tisch herum, und ich erzählte, was ich mit dem Gucker unternommen hatte. Meine Kollegen hörten mir
schweigend zu und betrachteten den ganzen Plunder, den ich über dem Tisch ausgekippt hatte – besonders aber den Kegel, der bis an den Rand des Tisches gerutscht war. Und der Kegel starrte zurück mit seinem toten Auge, das irgendwie an einen Karpfen erinnerte. »Diese Schatten«, schloß ich meinen Bericht, »sind gar keine lebendigen Wesen. Sie sind eine Art Spionage-Attrappe, die irgendwelche Signale ins Hinterland senden. Das Mittel, um diese Biester loszuwerden, ist ganz einfach: wir locken sie der Reihe nach aus dem Lager, stellen den Gucker auf Knopf 39 ein und die Feineinstellung ebenfalls und lassen sie dann einen Blick in das Okular…« »… das ist keine dauernde Lösung«, widersprach Knight. »Kaum haben wir die einen erledigt, rücken andere nach.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin da anderer Meinung. Diese fremde Rasse, die uns die Schatten ins Lager schickte, steuert ihre Attrappen nicht einfach durch geistige Kräfte. So überlegen sind sie uns nun auch wieder nicht. Ich wette, daß hier Maschinen am Werk sind, und sobald wir einen Schatten zerstören, setzen wir gleichzeitig eine Maschine außer Gefecht. Das ist wenigstens meine Theorie. Und wenn wir erst mal so viele Maschinen zerstört haben, daß ihre Herrn nicht mehr wissen, was sie uns jetzt entgegensetzen sollen, kommen sie vielleicht selbst aus ihren Verstecken hervor. Dann können wir uns endlich mit den Herrschaften auseinandersetzen, denen dieser Planet gehört.« »Ich fürchte, du befindest dich im Irrtum«, meinte Knight. »Diese Herrschaften, wie du dich ausdrückst, oder diese fremde Rasse hält sich aus irgendeinem zwingenden Grund versteckt. Vielleicht haben sie eine unterirdische Zivilisation entwickelt und wagen sich nie an die Oberfläche, weil die Luft oder das Klima ihnen schadet. Doch sie müssen natürlich zu ihrem eigenen Schutz ständig informiert sein, was hier oben
vorgeht. Das tun sie mit Hilfe dieser Kegel. Und als wir mit unseren Raumschiffen hier landeten, staffierten sie diese Kegel so aus, daß sie unserer Gestalt ähnelten. Sie taten das mit dem Hintergedanken, daß wir ihre Spione in unserer Nähe dulden würden. Damit hatten sie ihr Ziel erreicht – Spionage hinter den feindlichen Linien. Diese Schatten spielen die Rolle eines Trojanischen Pferdes, verstehst du?«
Mack legte die Hände an den Kopf und massierte sich die Schläfen. »Mir gefällt das Versteckspiel gar nicht«, brummelte er. »Ich mag ein offenes Wort – einen Gegner, der sich stellt und sich mit mir mißt im ehrlichen Zweikampf. Es wäre mir viel sympathischer gewesen, wenn die Schatten die Fremdlinge gewesen wären, mit denen wir es auf diesem Planeten zu tun haben.« »Und ich nehme dir auch die Theorie deiner UnterweltZivilisation nicht ab«, sagte Carr zu Knight. »Eine überlegene Zivilisation läßt sich nicht unter Tage aufbauen. Damit würde man sich von allen Naturerscheinungen abkapseln. Die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Du…« »Schön!« knurrte Knight. »Und was hast du nun für eine Theorie anzubieten?« »Vielleicht beherrschen sie irgendein Übertragungsmedium – tatsächlich haben wir bereits eine Bestätigung dafür – Materie, Gedankenübertragung oder elektromagnetische Medien, die sie auf dem Umweg über Maschinen aussenden. Vielleicht erübrigt es sich für diese Rasse, auf der Oberfläche des Planeten umherzureisen, weil sie sich in Sekundenschnelle von einer Stelle zur anderen bewegen können. Trotzdem können sie nicht überall zugleich sein. Und deshalb haben sie wandelnde Fernsehstationen ausgeschickt, die sozusagen ihre Augen und Ohren ersetzen…«
»Ihr redet immer nur im Kreis herum«, knurrte Mack. »Mit Theorien kommt ihr diesen Fremdlingen nicht bei.« »Dann weißt du vielleicht das probate Mittel«, meinte Knight verärgert. »Ganz und gar nicht«, erwiderte Mack. »Aber ich bin wenigstens ehrlich genug, es zuzugeben.« »Carr und Knight haben nicht genügend Abstand, um objektiv zu bleiben«, sagte ich. »Diese Fremdlinge verbergen sich wahrscheinlich nur so lange, bis sie alles über uns wissen – unsere Technik, unsere Absichten auf diesem Planeten und unsere moralische Einstellung. Dann entscheiden sie sich, ob sie uns vertrauen oder von ihrem Planeten vertreiben wollen.« »Mag schon sein«, gab Knight zu. »Aber der springende Punkt ist doch, daß sie uns bereits in- und auswendig kennen. Wahrscheinlich verstehen sie sogar unsere Sprache!« »Sie wissen zuviel«, murmelte Mack, »und wenn ich daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut.« Jemand schlug die Klappe am Eingang des Zeltes zurück. Thorne steckte den Kopf herein. »Moment mal, Mack«, sagte er, »wie wäre es, wenn wir ein paar Maschinengewehre in unser Perpetuum mobile einbauen würden? Sobald sich die Schatten daran zu schaffen machen…« »Keine Gewaltmittel«, widersprach Mack entschieden. »Keine Raketen, keine Elektroschocks. Du tust genau das, was ich dir angewiesen habe. Von mir aus dreht sich das ganze Ding so verrückt, daß es den Schatten beim Zuschauen schlecht wird. Aber weiter darfst du nicht gehen.« Thorne zuckte die Achseln und zog sich schmollend zurück.
Knight setzte mir ihren Plan auseinander: »Wir erwarten gar nicht, daß es auf die Dauer hilft. Aber wenn die Schatten nur
eine Woche lang abgelenkt werden, können wir wenigstens so lange ungestört arbeiten, bis der Inspektor eintrifft. Verlieren die Schatten das Interesse an dem Perpetuum mobile, basteln wir ihnen ein neues Spielzeug.« Nun gut – es war vielleicht ein brauchbarer Einfall; aber eine Lösung war es nicht. Günstigen Falles konnten wir uns dadurch eine kurze Atempause erkaufen – falls wir die Schatten tatsächlich damit hinters Licht führen konnten. Ich persönlich bezweifelte das. Ich hätte zehn zu eins gewettet, daß die Schatten den Hokuspokus durchschauten, sobald wir das Monstrum in Betrieb nahmen. Mack stand auf und ging um den Tisch herum. Er nahm den Kegel vom Tischrand und klemmte ihn sich unter den Arm. »Ich nehme das Ding mit«, sagte er. »Die Jungs von der technischen Abteilung sollen es mal unter die Lupe nehmen.« »Ich kann dir jetzt schon sagen, was es ist«, meinte Carr. »Es ist ein Kontrollgerät. Damit steuern die Fremden ihre Schatten. Du hast ja den Bericht vom Erkundungstrupp gelesen. Das ist einer von den Dingern, die sie als ›Grenzmarkierungen‹ bezeichneten. In Wirklichkeit ist das irgendein Signalgerät, das Daten an die Kontrollstelle weitergibt – wo auch immer diese Stelle stecken mag.« »Mag sein«, murmelte Mack. »Trotzdem nehmen wir das Ding mal auseinander.« »Und was ist mit dem Gucker?« fragte ich. »Um den kümmere ich mich schon.« Ich streckte schnell die Hand aus und nahm ihn an mich. »Nein – das wirst du nicht tun. Du mit deinen puritanischen Ansichten bringst es glatt fertig und haust das Ding in Stücke!« »Er verstößt gegen das Gesetz«, erwiderte Mack. Carr schlug sich auf meine Seite. »Das hat sich geändert, Mack. Der Gucker ist zu einer wirksamen Waffe geworden, die wir vielleicht bitter nötig brauchen.«
Ich händigte Carr den Gucker aus. »Du nimmst ihn in Verwahrung. Verstecke ihn an einem sicheren Ort. Wahrscheinlich werden wir ihn tatsächlich brauchen.« Ich raffte den ganzen Krimskrams zusammen, der in Bennys Beutel gesteckt hatte. Den Edelstein verstaute ich in meiner Jackentasche. Mack marschierte aus dem Zelt, den Kegel unter dem Arm. Wir übrigen folgten ihm und vertraten uns vor dem Zelt ein bißchen die Beine, weil wir nach all der Aufregung nicht so recht wußten, was wir jetzt machen sollten. »Er wird Greasys Skalp fordern«, meinte Knight besorgt. »Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Carr. »Ich werde ihm vorhalten, daß wir Greasy eigentlich dankbar sein müssen, weil er uns mit dem Gucker half, den Schatten auf die Schliche zu kommen.« »Ich sollte Greasy auch was sagen«, murmelte ich. »Daß ich seinen Gucker geklaut habe. Nur der Ordnung halber.« Knight schüttelte den Kopf. »Das kann warten. Laß ihn nur eine Weile in seinem eigenen Fett schmoren. Er hat es verdient.«
In meinem Zelt versuchte ich, mich auf meine Pläne zu konzentrieren. Aber es gelang mir nicht. Ich war immer noch viel zu aufgeregt. Und um ehrlich zu sein – ich vermißte auch Benny ein bißchen. Ich versuchte mir deshalb klar zu werden, in welcher Lage wir uns jetzt befanden. Wir hatten unsere einäugigen Lagergenossen ganz richtig bezeichnet – sie waren nichts als Schatten, die uns beschatten sollten. Doch obwohl unsere Schatten nur Attrappen waren, fiel es mir schwer, sie mir nicht als lebendige Wesen vorzustellen.
Doch im Grunde bestanden sie nur aus einem Kegel, der beweglich gemacht worden war. Und diese Kegel wiederum waren nichts anderes als Beobachtungsgeräte für eine fremde Rasse, die sich irgendwo auf diesem Planeten versteckte. Vielleicht verrichteten diese Kegel schon seit Jahrtausenden diesen Dienst. Vielleicht taten sie sogar noch mehr – sie pflanzten und säten und arbeiteten für ihre Meister, die sich versteckt hielten. Ich vermutete nämlich, daß die Kegel die Früchte im Obstgarten gepflückt hatten. Und falls es zutraf, daß auf diesem Planeten eine hohe Kultur entwickelt war und eine andere Rasse Besitzrechte hatte, wie wollte dann die Erde ihre Ansprüche durchsetzen? Bedeutete das schließlich doch, daß die Menschen sich zurückziehen mußten – die Preisgabe des ersten Planeten mit idealen Lebensbedingungen, den wir nach vielen Jahren der Erkundung endlich entdeckt hatten? Ich saß an meinem Klapptisch und dachte an die Planung, die Arbeit und das viele Geld, das wir in unser Projekt investiert hatten. Und doch war das erst ein kleiner Tropfen gewesen, wenn man berechnete, was uns die Erschließung dieses Planeten kosten würde. Das war hier nichts als ein kleiner Brückenkopf. In ein paar Wochen würden unsere Raumschiffe ein komplettes Stahlwerk für Stella IV liefern. Allein der Zusammenbau der Einzelteile kostete Unsummen. Und bis wir die ersten Eisenerze abbauen und in den Hochöfen verarbeiten konnten, würde noch einmal eine gewaltige Summe verbraucht sein. Doch den Stahl an Ort und Stelle zu produzieren kam uns weitaus billiger, als die Stahlprodukte mit unseren Transportschiffen von unserem Mutterplaneten Erde zu holen. Es konnte unmöglich alles umsonst gewesen sein. Nach all den Jahren der Planung, der Arbeit und der Hoffnung, in Anbetracht der Übervölkerung auf der Erde und ihrem
schwindenden Lebensraum, wäre ein Rückzug aus Stella IV eine Katastrophe. Trotzdem durften wir ältere Rechte nicht verletzen. Wenn jene Wesen, die schon vor uns da waren, sich schließlich zeigten und sagten, sie wollten uns hier nicht haben, blieb uns keine andere Wahl. Dann mußten wir wieder abziehen. Doch ehe sie uns hinauswarfen, würden sie uns alles abnehmen, was sie brauchen konnten. Keine Rasse – und sei sie auch noch so überlegen – wird ärmer durch die Berührung mit einer fremden Kultur. Und die Berührung, die diese unbekannten Fremdlinge mit unserer Zivilisation hatte, war vollkommen einseitig. Sie hatten dafür gesorgt, daß alle Vorteile auf ihrer Seite waren. Diese Rasse war nichts anderes als eine Horde von kosmischen Falschspielern, überlegte ich wütend. Ich holte die Sachen, die Benny bei seinem Schrumpfungsprozeß hinterlassen hatte, aus meinem Probensack und sortierte sie aus. Da war mein Modell, der Roller, mein Klapptisch, mein Bücherbord und meine Zeichenbestecke, mein Taschenschach und alle die anderen Habseligkeiten, die ich in meinem Zelt verwahrte. Aber keine Statuette von mir war dabei. Greasys Schatten hatte eine Statuette von Greasy in seinem Beutel herumgetragen. Daß Benny kein Ebenbild von mir angefertigt hatte, enttäuschte mich etwas. Er hätte sich wirklich die Mühe machen können. Ich schob die Spielsachen auf dem Tisch hin und her. Wieder fragte ich mich, ob das nur Abbilder oder perfekte Modelle waren. Vielleicht enthielt jedes dieser Muster irgendeinen Code – eine komplette Analyse und Beschreibung, was dieses Modell darstellte. Ein Mensch würde seine Analyse in andere Form kleiden – er würde Formeln und Symbole auf ein Blatt Papier schreiben. Viel leicht waren diese kleinen Muster nichts
als Symbole, die den gleichen Wert besaßen wie ein Notizbuch für uns Menschen. Vielleicht waren diese Spielsachen die Schriftzeichen, mit denen sich jene verborgene Rasse verständigte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie diese exakten Modelle angefertigt hatten. Aber es gelang mir nicht. Ich verließ das Zelt und ging zu der kleinen Anhöhe, wo Thorne und seine Leute ihren mechanischen Irrgarten für die Schatten errichteten. Sie hatten eine Menge Material und Einbildungskraft dafür verschwendet. Und das Ding war vollkommen ohne Sinn und Zweck – was es ja auch sein sollte. Wenn die Schatten sich ernsthaft damit beschäftigten, konnten wir mindestens ein paar Monate lang ungestört arbeiten. Thorne und seine Leute hatten alle Ersatzmotoren herbeigeholt, die sie im Reparaturwerk nicht brauchten, und sie als Kraftquelle eingebaut. Und von den anderen Sachen konnten sie kein Stück mehr auf Lager haben – denn die Maschine strotzte nur so von Nockenwellen und Zahnrädern. Und hier und da stand auch etwas, das einem Schaltpult oder einer Kontrolltafel gleichen sollte, aber natürlich absolut nichts schaltete oder steuerte. Aber sie funkelten und leuchteten, blinkten und knisterten wie ein Weihnachtsbaum voll Leuchtkerzen. Ich stand herum und gaffte das Wunderding an, bis Greasys Glocke zum Essen läutete. Dann lief ich mit den anderen um die besten Plätze um die Wette. Beim Essen ging es diesmal besonders laut und scherzhaft zu; doch keiner ließ sich viel Zeit bei der Mahlzeit. Sie schlangen alles hastig hinunter und eilten dann zu ihrem Riesenspielzeug zurück.
Kurz vor Sonnenuntergang wurde diese mechanische Klapsmühle in Gang gesetzt, und es war die verrückteste Maschine, die je ein Mensch gesehen hatte. Antriebswellen drehten sich wie rasend, Zahnräder griffen ineinander, Nocken gingen auf und ab, Ventile klapperten, Kolben kreisten – alles klappte wie am Schnürchen, nur wußte man nicht, wofür. Und dazu war alles funkelnagelneu und bunt lackiert und übte selbst auf mich einen eigenartigen Zauber aus. Ich stand da und gaffte, weil alles mit perfekter Präzision durcheinanderwirbelte und man nicht wußte, was hinten und vorne war. Und während der ganzen Zeit wanderten rote, grüne und gelbe Lichter über die Kontrollpulte, ratterten die Schaltaggregate, pulsierten Oszillographen, entluden sich Kondensatoren – man konnte tatsächlich verrückt dabei werden, wenn man danach suchte, wer was schaltete und wie und warum. Die Schatten hatten sich schon den ganzen Tag nicht von der Baustelle weggerührt. Doch jetzt standen sie in einem schweigenden Kreis um das Wunderding herum und staunten mit ihrem einen Auge. Und hätten sie einen Mund gehabt, wäre er bestimmt die ganze Zeit offengestanden. Ich drehte mich um, und Mack stand hinter mir mit einem zufriedenen Lächeln auf seinem Gesicht. »Sehr hübsch«, sagte er und rieb sich die Hände. Ich pflichtete ihm bei, hatte aber doch meine Zweifel. »Wir werden ein paar Scheinwerfer aufstellen«, sagte er, »damit die Schatten sich das Ding auch nachts anschauen können«, sagte Mack. »Dann haben wir endlich Ruhe vor ihnen.« »Du glaubst, die Schatten rühren sich nicht mehr von dieser Flimmermühle weg?« »Bestimmt nicht!« meinte Mack.
Ich ging zu meinem Zelt zurück und setzte mich mit einer Flasche Whisky ins Freie. Von meinem Klappstuhl aus konnte ich die Männer beobachten, die Generatoren und Scheinwerfer neben unserem Riesenzirkus aufbauten. In der Kombüse pfiff Greasy traurig vor sich hin. Ich konnte ihm seinen Kummer nachfühlen. Mack mochte vielleicht recht haben. Die Maschine hatte selbst auf Menschen eine hypnotisierende Wirkung. Obgleich die Technologie der fremden Rasse auf diesem Planeten uns überlegen zu sein schien, konnte es durchaus sein, daß ihre Technik sich nach ganz anderen Prinzipien entwickelt hatte. Vielleicht war dieses Durcheinander von rasenden Rädern, drehenden Wellen und Kolben für die Fremdlinge ein ganz neues Erlebnis. Und es war auch möglich, daß eine Maschine, die wie rasend arbeitete und doch nichts tat, für jene fremde Rasse genauso unbegreiflich war wie für uns…
Nach einer Weile, als die Sterne schon am Himmel standen, fiel mir der Edelstein wieder ein, den ich in meine Jackentasche gesteckt hatte. Es klapperte nämlich so verdächtig in meiner Tasche, und ich fürchtete, ich hatte den Stein aus Versehen zerbrochen. Es hatte sich etwas gelöst – nämlich die Vorderseite des Edelsteins. Und jetzt entdeckte ich auch, daß der Edelstein nicht aus solidem Material bestand, sondern innen einen Hohlraum besaß. Und in dem Hohlraum befand ich mich selbst. Die Statuette lag inmitten einer verwirrenden Apparatur und war genauso gründlich und lebensecht gearbeitet wie die Statue von Greasy.
Ich spürte Stolz und Genugtuung zugleich. Benny hatte mich also doch nicht übersehen! Lange Zeit saß ich da und grübelte, was die Apparatur und der Edelstein bedeuten sollten. Und endlich kam ich dahinter, was das alles bedeuten sollte. Der Edelstein war gar kein Edelstein. Der Edelstein war eine Kamera. Nur schuf er kein zweidimensionales Bild, sondern ein dreidimensionales. Und jetzt wußte ich auch, wie die Schatten diese kleinen Modelle herstellten. Ich zog mich aus, legte mich auf meine Koje und starrte gegen die Zeltdecke. Das Bild rundete sich jetzt, und es sah sehr hübsch aus. Hübsch für die Fremdlinge, die uns die Schatten geschickt hatten. Sie hatten uns recht geschickt zum Narren gehalten. Die Kegel waren zuerst ausgezogen, um unseren Erkundungstrupp zu beobachten. Und sie hatten sie nie so dicht an sich herangelassen, daß unsere Leute erkennen konnten, was diese Kegel bedeuteten. Doch sie hatten dann alles für unsere Ankunft vorbereitet. Sie hatten ihre Kameras in Kostüme gesteckt, die uns lächerlich vorkommen mußten. Denn niemand regt sich sonderlich darüber auf, was ein Clown alles anstellt. Doch unsere Clowns waren mit Elektronik bestückt, und während wir noch über sie den Kopf schüttelten und uns schlafen legten, knipsten sie uns von allen Seiten. Ehe wir wieder aufstanden, hatten sie uns im Kasten – mit allem Drum und Dran, beschriftet und klassifiziert. Und was würden sie jetzt unternehmen? Wollten sie uns bis zum letzten Blutstropfen ausquetschen, bis sie merkten, daß wir ihnen nichts mehr zu bieten hatten? Was dann? Dann würden wahrscheinlich die Meister der Schatten kommen und uns erledigen.
Ich bekam wieder eine Gänsehaut. Ich kam mir vor wie ein verdammter Narr, der eine Maus am Schwanz zupft und plötzlich merkt, daß ein Löwe daran hängt…
Ich war kaum eingeschlafen, als mich etwas heftig an der Schulter rüttelte. Irgend etwas brüllte über mir – und ich dachte tatsächlich an einen Löwen. Aber es war nur Carr. Er sah zum Fürchten aus. Er zappelte mit Händen und Füßen und wackelte mit dem Kiefer. Er deutete dauernd in eine Richtung und faselte irgend etwas von einer riesigen Wolke. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Also rollte ich mich geschwind aus meiner Falle, schlüpfte in meine Hose und meine Stiefel und raste zum Zelt hinaus. Die Dämmerung brach gerade herein, und die Schatten standen immer noch um unsere Klapsmühle herum. Daneben hatte sich eine Gruppe von unseren Leuten aufgebaut und starrte nach Osten. Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge bis in die erste Reihe, wo wir besser sehen konnten. Und da war tatsächlich eine Wolke, von der Carr vorhin gefaselt hatte – doch sie war inzwischen viel näher gekommen. Majestätisch segelte sie über die Ebene dahin wie eine gewaltige Windhose, und oben auf der Spitze schwebte eine kleine silberne Kugel, die in den ersten Morgenstrahlen der Sonne funkelte wie ein Rubin. Als die Wolke noch näher kam, glich sie eher einem Schrotthaufen als einer Windhose. Als wäre ein riesiges Ersatzteillager in die Luft geflogen und dort eingefroren. Dort schaute ein Schaufelbagger heraus, hier ein Turmkran und dort wieder ein paar Zahnräder. Ich versuchte, mir zu erklären, was das bedeuten sollten – doch es gelang mir nicht. Inzwischen rückte dieses Gebilde unerbittlich näher.
Mack stand jetzt links von mir. Ich redete auf ihn ein, aber er antwortete mir nicht. Er war wie Benny – er konnte nicht reden. Er hatte die Maulsperre oder war hypnotisiert. Je näher diese Wolke herankam, desto unglaublicher erschien sie mir. Denn es bestand jetzt gar kein Zweifel mehr, daß die Wolke aus einem riesigen Stapel von Ersatzteilen und Maschinen bestand, wie wir sie von der Erde hierher auf Stella IV gebracht hatten. Da entdeckte ich Planierraupen, Traktoren, Sattelschlepper, Bagger und Bohrer – und zwischen die größeren Stücke waren all die kleineren Sachen geklemmt, die dazugehörten: Schraubenschlüssel und Muttern und Schrauben und was weiß ich noch. Wenige Minuten später hing diese Wolke fast über uns, und wir zogen bereits die Köpfe ein, als könne jeden Augenblick ein Platzregen von Ersatzteilen auf uns niedergehen. Doch während wir noch überlegten, wie wir uns dagegen schützen konnten, ging die Wolke auch schon nieder – aber ganz sachte und geräuschlos – und breitete sich auf der Erde wie ein Fallschirm aus, der ein paar Hektar Land bedeckte. Es war einfach unglaublich, wie leise das Zeug herunterkam – obgleich es doch tonnenschwere Geräte waren und dazwischen Zelte, Tische, Stühle, Gipsmodelle, Porzellantassen, Löffel, Gabeln, ein paar Kästen voll Whiskyflaschen und sogar ein paar Seismographen und Feldstecher vom Vermessungstrupp. Auf dem Boden lagen praktisch alle Geräte herum, die wir in unserem Lager verwendeten. Als das ganze Zeug auf dem Boden zur Ruhe kam, ließ sich auch die kleine Silberkugel aus der Luft herab. Sie glitt langsam auf uns zu. Etwa zwanzig Meter vor uns kam sie zum Stillstand, und Mack setzte sich jetzt in Bewegung und ging auf die Kugel zu. Ich folgte einen Schritt hinter ihm. Und aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß Carr und Knight mir ebenfalls folgten.
Wir blieben ein paar Schritte vor der Silberkugel stehen, und erst jetzt erkannte ich, daß diese Kugel eine Art Schutzanzug war. In diesem Anzug steckte eine menschenähnliche Gestalt. Kein Mensch natürlich – aber doch ein Wesen mit zwei Armen, zwei Beinen und einem Kopf. Das Wesen war blaß, hatte keine Haare, dafür um so längere Ohren. Und aus seiner Stirn sprießten ein paar Antennen heraus. Dieses Wesen ließ seine Schutzhülle jetzt auf der Erde landen. Wir gingen noch ein bißchen näher heran und kauerten uns dann auf der Erde nieder, damit wir das Wesen nicht überragten. Unser Besucher deutete mit dem Daumen über die Schulter auf das Warenlager, das er auf den Boden ausgebreitet hatte. »Bezahlung«, sagte er in einer hohen, schrillen, piepsenden Stimme. Wir antworteten nicht gleich. Uns hatte es vollständig die Sprache verschlagen. »Bezahlung – wofür?« brachte Knight schließlich heiser heraus. »Für den Spaß«, erwiderte das Wesen mit den sprießenden Antennen. »Ich verstehe kein Wort«, murmelte Mack. »Wir haben von jedem ein Stück hergestellt. Wir wissen nicht, was ihr braucht. So haben wir von jedem etwas dabei. Leider sind zwei Einheiten verlorengegangen. Wahrscheinlich verunglückt.« »Die Modelle«, rief ich den anderen zu, »er spricht von den Modellen. Die Modelle waren Muster. Und weil Greasys Schatten und meiner verlorengegangen sind, konnten sie nicht…« »Nicht alle«, sagte das Wesen, »ein paar kommen noch nach.«
»Augenblick mal«, mischte sich Carr ein. »Damit wir Sie nicht mißverstehen! Sie bezahlen uns. Aber wofür bezahlen Sie denn? Was haben wir denn für Sie getan?« Mack platzte heraus: »Wie haben Sie denn all die Sachen herstellen können?« »Immer hübsch der Reihe nach!« beschwor ich die anderen. »Ihr verwirrt ihn ja ganz!« »Unsere Maschinen machen das«, erwiderte das fremde Wesen. »Wenn sie ein Muster bekommen, können sie alles herstellen. Sehr gute Maschinen.« »Aber weshalb nur?« fragte Carr zum zweitenmal. »Warum haben Sie das alles für uns herstellen lassen?« »Für den Spaß«, erklärte das Wesen geduldig, »wir haben viel gelacht. Wir zugeschaut und gelacht. Es gibt ein Wort, daß wir noch nicht…« »Unterhaltung?« sprang ich in die Bresche. »Richtig!« sagte das Wesen. »Unterhaltung ist das richtige Wort. Wir haben viel Zeit für Unterhaltung. Wir bleiben zu Hause, sitzen vor unserem Unterhaltungsschirm. Das Programm ist manchmal schrecklich. Zum Sterben langweilig. Wir suchen nach Neuigkeiten. Ihr seid Neuigkeiten. Sehr interessant und manchmal sehr komisch. Deswegen wollen wir euch dafür bezahlen.« »Gütiger Himmel!« rief Knight. »Jetzt begreife ich erst! Wir waren das große Ereignis der Fernsehsaison! Deswegen schickten sie alle ihre Kegel aus, um Fernsehberichte von uns zu machen. Mack, hast du gestern abend noch den Kegel auseinandergenommen?« »Ja«, erwiderte Mack. »Soweit wir aus dem Ding klug wurden, muß er eine Art Fernsehkamera sein. Natürlich nicht mit unseren zu vergleichen – da gibt es erhebliche Unterschiede. Aber im Prinzip ist es das gleiche – ein Instrument, das Daten aussendet.«
Ich wendete mich wieder dem Fremdling in seinem schimmernden Anzug zu. »Hören Sie gut zu«, begann ich, »wir wollen jetzt mal über das Geschäftliche sprechen. Sind Sie bereit, uns auch weiterhin zu bezahlen, wenn wir Ihnen ständig was für Ihren Unterhaltungsschirm liefern?« »Mit Vergnügen«, erwiderte das Wesen, »ihr unterhaltet uns, wir bezahlen.« »Können wir die Zahlungsbedingungen etwas ändern? Seid ihr einverstanden, wenn ihr uns vieles von einem, statt eines von vielem liefert?« »Ihr zeigt uns, was ihr wollt«, erwiderte das fremde Wesen, »und ihr sagt uns auch, wieviel davon.« »Stahl?« fragte Mack aufgeregt, »könnt ihr Stahl für uns machen?« »Ich weiß nicht, was das ist – Stahl«, antwortete das Wesen. »Aber zeigt es uns – wie man es macht, wie dick, wie geformt. Wir machen.« »Wenn wir euch unterhalten?« »Sehr richtig«, nickte das Geschöpf im Schutzanzug. »Der Handel gilt?« fragte ich. »Der Handel gilt.« »Ab sofort? Unbeschränkte Laufzeit?« »Solange, wie ihr uns bei Laune haltet – mit gutem Programm.« »Das kann auf die Dauer recht kompliziert werden«, meinte Mack seufzend. »Nein!« schrie ich, »absolut nicht!« »Du bist verrückt!« sagte Mack. »Die Erde wird uns die Dinger nie heraufschicken. Sie sind verboten!« »Doch, man wird!« schrie ich zurück. »Die Erde wird alles tun, um diesen Planeten zu kolonisieren. Und begreifst du nicht, was wir für Kosten einsparen, wenn wir den Tauschhandel abschließen? Wir sparen Unsummen! Die Erde
braucht uns nur von allen Geräten, die wir hier benötigen, ein Muster herzuschicken. Ein Muster genügt! Wir zeigen sie den Schatten und – klick – wir haben ein paar Millionen Einzelstücke davon! Großartig! Es ist der beste Handel, den die Erde je abgeschlossen hat.« »Wir halten unser Versprechen«, versprach das Wesen vergnügt, »solange ihr euch an eure Abmachungen haltet.« »Ich werde die Bestellung sofort aufgeben«, sagte ich zu Mack. »Ich werde sie aufschreiben und zu Jack in die Funkkabine bringen.« Ich stand auf und ging auf das Lager zu. »Der Rest der Lieferung«, sagte das Wesen und deutete über die Schulter. Ich drehte mich noch einmal um und blickte zurück. Eine zweite Wolke mit Gegenständen rückte heran. Sie segelte diesmal ziemlich niedrig. Und es waren keine Maschinenersatzteile, sondern – Menschen. Ein kompletter Satz von Ersatzmenschen – außer mir und Greasy natürlich. »He!« schrie Mack, »das könnt ihr nicht machen! Das ist nicht fair!« Natürlich war ich schockiert. Aber die Sache war nur zu verständlich. Die Fremdlinge hatten eben alles kopiert, was ihre Schatten aufgenommen hatten. Sie hatten es ja nur gut gemeint. Man stelle sich die Situation vor – zwei Macks, die beide das Projekt leiten wollten. Zwei Thornes, die sich gegenseitig immer anbrüllten! Ich trollte mich. Sollte Mack und der Rest meiner Kollegen zusehen, wie sie dem fremden Wesen schonend beibrachten, daß man Menschen nicht kopieren durfte. Ich eilte auf den Hügel zu meinem Zelt und holte mein Schreibzeug heraus. Dann setzte ich ein Telegramm auf – eine dringende
Bestellung, die vorrangig abgefertigt und sofort geliefert werden mußte. Ich forderte dringend fünfhundert Gucker an – für die künftige Unterhaltungsproduktion des Fernsehens auf Stella IV.
Originaltitel: SHADOW WORLD Copyright © 1957 by Galaxy Publishing Corporation Übersetzt von Bodo Baumann
Norman Spinrad DIE SUPER-SHOW
T minus 200 Tage… Countdown läuft… Sie wirken verrückt für meinen Geschmack – aber so ist es in dieser Branche: Verrücktheit bedeutet im Rock-Business Publikumswirksamkeit. Und wenn das »Mandala« in Los Angeles überleben sollte trotz der Konkurrenz einer in Rundfunkbesitz befindlichen Bude wie »The American Dream«, dann mußte ich mir eben die Nase zuhalten und Verrückteres bieten als die anderen. Nachdem ich mir also die »Four Horsemen« eine Stunde lang angehört hatte, nahm ich sie mit in mein Büro, um zur Sache zu kommen. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch, und die »Horsemen« ließen sich entsprechend der Hackordnung der Gruppe auf den Stühlen nieder. Zuerst der Häuptling, Stony Clarke, Lead-Gitarre und Sänger – blondes schulterlanges Haar, Augen wie aus dem Leichenhaus (wenn er seine dunkle Nickelbrille abnahm), das Aussehen eines Fixers, die Reputation eines schweren LSDKopfes. Dann Hair, der Drummer, gekleidet wie ein Hells Angel, Hakenkreuze und so, ein Hascher, mit fanatischen, etwas zu eng beieinander stehenden Augen; ich fragte mich, ob er Hakenkreuze trug, weil er die Angels imitierte, oder die Angels imitierte, um öffentlich Hakenkreuze tragen zu können. Nummer drei war ein Typ, der sich Super Spade nannte – er trug Ohrringe, Afro-Look, ein Stokeley Carmichael Sweatshirt, und an einem Riemen um seinen Hals einen mit flüssiger Schuhpolitur geweißten Schrumpfkopf. Er war das Mädchen
für alles: Sitar, Baß, Orgel, Flöte, was auch immer. Nummer vier, der sich Mister Jones nannte, war vielleicht der schrägste Vogel, den ich je in einer Rock-Gruppe gesehen hatte, und das will einiges heißen. Er war ihr Beleuchtungs-, Synthesizer- und Electronic-Mann. Er war mindestens vierzig, trug frühe Hippie-Kleidung, die aussah wie von Sy Devore, und war angeblich früher mal bei der Rand Corporation gewesen. There’s no business like show business. »Okay, Boys«, sagte ich, »Ihr seid zwar etwas sonderbar, aber auf die richtige Art. Wo habt Ihr bisher gearbeitet?« »Nirgends, Baby«, sagte Clarke. »Wir sind der neue Sound. Ich habe auf dem Haight in San Francisco Heroin und LSD gedealt. Hair war Drummer bei irgend so ‘ner Gruppe in New York. Super Spade behauptet, sie ist die Wiederverkörperung von Charly Parker; lohnt sich nicht, darüber zu streiten. Mister Jones, der redet nicht viel. Vielleicht ist er ein Marsmensch. Wir haben eben erst angefangen.« Ein Vorteil in diesem Geschäft ist, daß Gruppen ohne ganz normale Manager billig zu haben sind. Sie reden zuviel. »Fein«, sagte ich. »Freut mich, euch zu einem Start zu verhelfen. Niemand kennt euch, aber ihr habt was, glaube ich. Ich will’s also riskieren und euch für eine Woche buchen. Von ein Uhr mittags bis wir schließen, das heißt um zwei, Dienstag mit Sonntag, vierhundert die Woche.« »Sind Sie Jude?« fragte Hair. »Was?« »Reg dich nicht auf«, befahl Clarke. Hair regte sich ab. »Er meint«, sagte Clarke, »vierhundert klingt ziemlich mies.« »Mit einer Optionsklausel unterschreiben wir nicht«, sagte Mister Jones. »Da hat er gar nicht so unrecht«, sagte Clarke. »Die erste Woche für vierhundert, und dann überlegen wir uns die Sache von neuem. Klar?«
Gefiel mir gar nicht; wenn sie einschlugen, konnte ich sie vielleicht anschließend nicht mehr bezahlen. Andererseits waren vierhundert nicht viel, und ich brauchte dringend eine billige Schlußnummer. »Okay«, sagte ich, »aber eine mündliche Vereinbarung, daß ich das erste Anrecht habe, wenn Ihr hier fertig seid.« »Ehrenwort«, sagte Stony Clarke. So ist dieses Geschäft – das Ehrenwort eines Exdealers und Fixers.
T minus 199 Tage… Countdown läuft… Da er sich nicht um Ziele kümmert, kann der Geist eines Militärs leicht manipuliert, leicht kontrolliert und leicht verwirrt werden. Ziele werden definiert als die Absichten der zivilen Behörden. Ziele sind der anerkannte Bereich der Zivilisten; Mittel sind der Bereich der Militärs, deren Aufgabe es ist, die vorgegebenen Ziele durch die günstigste Anwendung der zur Verfügung stehenden Mittel zu erreichen. Daher die Verwirrung über den Krieg in Asien bei meinen uniformierten Klienten im Pentagon. Das Ziel ist vorgegeben: Ausrottung der Guerillas. Doch die Zivilisten haben ihre Grenzen überschritten und sich bei den Mitteln eingemischt. Die Generäle betrachten dies als unfair, einen Kontraktbruch sozusagen. Die Generäle (oder diejenigen von ihnen, die am meisten zu Paranoia neigen) sehen die Kriegführung, die politische Beschränkung der Mittel mehr und mehr als einen Putschversuch der Zivilisten gegen ihre altehrwürdigen Vorrechte. Dieser Aspekt der Situation würde für das Land nichts Gutes bedeuten, hätte mich nicht die wachsende Paranoia unter den Generälen in die Lage versetzt, sie dahingehend zu manipulieren, daß sie meine Drehbücher alle beide dem
Präsidenten unterbreiteten. Der Präsident hat die Verwendung des größeren Drehbuchs genehmigt, vorausgesetzt, daß es dem kleineren gelingt, die öffentliche Meinung in der erwünschten Weise zu beeinflussen. Mein größeres Drehbuch ist einfach und direkt. Angesichts der Tatsache, daß das schlechte Flugwetter unsere konventionelle Luftstreitkraft mit ihrer Abhängigkeit von relativer Zielgenauigkeit wirkungslos macht, hat der Feind seine Streitkräfte zu größeren Einheiten zusammengezogen und startet jedes Jahr während der Monsunzeit Offensiven. Diese größeren Einheiten jedoch sind durch taktische Kernwaffen in hohem Maße verwundbar, da deren Wirkung nicht von äußerster Zielgenauigkeit abhängt. In dem sicheren Bewußtsein, daß innenpolitische Erwägungen den Gebrauch von Kernwaffen ausschließen, wird sich der Feind während der nächsten Monsunzeit erneut zu Einheiten von Divisionsstärke oder noch mehr zusammenziehen. Ein sparsamer Gebrauch taktischer Kernwaffen, und seien es nur zwanzig EinhundertKilotonnen-Bomben, wird, wenn sie gleichzeitig und in richtiger Weise angewandt werden, als Minimum zweihunderttausend feindliche Soldaten, oder nahezu zwei Drittel seiner Gesamtstärke, innerhalb von vierundzwanzig Stunden ausschalten. Der Schlag wird vernichtend sein. Das kleinere Drehbuch, von dessen Erfolg die Verwendung des größeren abhängt, ist, seiner subtileren Zielsetzung gemäß, weitaus komplexer: Öffentliche Billigung eines Einsatzes nuklearer Waffen, oder, im günstigsten Falle, sogar die öffentliche Forderung danach. Die Aufgabe ist schwierig, doch mein Drehbuch ist gut, wenn auch etwas ungewöhnlich angelegt, und mit der vollen, freilich bis zu einem gewissen Grade heimlichen Unterstützung der oberen Militär-Hierarchie, gewisser ziviler Regierungskreise und der entscheidenden Leute in den wichtigsten Luft- und Raumfahrt-Unternehmen,
scheinen die Mittel, die ich nun zur Hand habe, angemessen. Die Risiken, statistischer Wahrscheinlichkeit nach nicht ganz gering, überschreiten dennoch nicht ein zumutbares Maß.
T minus 189 Tage… Countdown läuft… Wie ich die Dinge sehe, hat die Rundfunkgesellschaft meine Kündigung wohl verdient. Oder bin ich von denen gefeuert worden? Vier erfolgreiche Serien habe ich für die Bastarde produziert, und dann werden zwei nach dreizehn Wochen abgesetzt, und die schicken mich ins Salzbergwerk! Eine Diskothek – kann man sich vorstellen, daß sie mich zum Producer in einer lausigen Diskothek machen! Einfach abgeschoben haben sie mich, diese Dumpfmeister. Oh, bei diesen Schnorrern hörte es sich an, als sei der »American Dream« ‘Ne koschere Sache – zwanzig Prozent vom Netto sagen sie. Und Sie können alles haben, was bei uns unter Vertrag steht, da können Sie reich werden, Herrn. Und weil ich gerade pleite bin, unterschreibe ich, wie ein Weihnachtsmann, ohne das Kleingedruckte zu lesen. Sollte ich wissen, daß der »American Dream« ihnen für die Steuer Verluste bringen mußte? Sollte ich wissen, daß ich ihre lausigen Gruppen nehmen mußte, wenn sie schon längst passe waren, und dann mit meinem Brutto dafür herhalten mußte? Sollte ich wissen, daß es ihre Masche war, den »American Dream« mit Verlust zu betreiben und dann in der Bude eine TV-Show zu machen, von der ich keinen Penny zu sehen bekomme? Also schmeiße ich den Laden für sie mit roten Zahlen, während die Radioleute mit ihrer TV-Show absahnen, die letzten Endes auf meine Kosten geht. Verdienen solche Figuren nicht, daß man ihnen den Krempel hinschmeißt? Nicht genug damit, daß ich für sie als Gurke
herhalten muß, die nur Verluste bringt, ich muß mir auch noch vorschreiben lassen, wen ich verpflichten soll! »Holen Sie die ›Four Horsemen‹, die Gruppe, die im ›Mandola‹ so einschlägt«, sagen sie. »Wir brauchen sie für ›Eine Nacht im American Dream‹. Heiße Sache.« »Ja, heiße Sache«, sage ich, »was wohl heißt, das sie ‘ne Stange kosten. Kann ich mir nicht leisten.« Sie zeigen mir noch mehr Kleingedrucktes – nächstes Mal werde ich den Vertrag unter dem Mikroskop lesen. Ich muß verpflichten, was ihnen gerade in den Kram paßt – die Kosten stehen dann in meinen Büchern! Das könnte einen Litvak zum Antisemiten machen.
So mußte ich also zum »Mandola«, um diese Hippies unter Vertrag zu nehmen. Ich achtete darauf, nicht vor halb ein Uhr hinzukommen, so daß ich nicht länger als nötig in diesem Narrenhaus bleiben mußte. Was für ein Jammerladen! Was hatte Bernstein gemacht – er hatte einen bankrotten Hollywood-Hollywood-Club auf dem Sunset Strip genommen, alle Innenwände herausgerissen und dieses Monster-Zelt hineingestellt. Außerhalb des Zeltes sind Projektoren, Lichter, Lautsprecher, der ganze elektronische Zauber, und innen ist man regelrecht von Filmleinwänden umgeben. Nur das Zelt und der nackte Fußboden, nicht mal eine richtige Bühne, nur eine Plattform auf Rädern, die sie in und aus dem Zelt schleppen, wenn die Gruppen wechseln. So kann man sich vorstellen, wie das Publikum dort aussieht. Vor allem, wenn ‘nen Katzensprung weit weg das »American Dream« auf Steuer-Verlust-Basis läuft. Was sie haben, sind die stinkigen, ausgeflippten Hippies, die bei mir nicht durch die Tür kommen, und die Cliquen von den High-Schools, die es chic finden, in Quetschen wie dieser herumzugammeln. Auch
wird ‘ne Menge Stoff dort gehandelt. Die Polente mag den Laden nicht, zumal er berufsmäßige Unruhestifter anzuziehen scheint. ‘ne richtige Lasterhöhle also – ich kam mir vor wie in einem orientalischen Bauchtanztempel. Die letzte Gruppe hatte ihren Auftritt beendet, und die »Horsemen« waren noch nicht erschienen, und so wartete ich in diesem verrückten Zelt voller Hippies, von denen die Hälfte mit Schnee oder Pot oder Amphetaminen oder meinetwegen sogar Ajax vollgepumpt war, Möchtegern-Hippies von der High School, auch sie meist high und halb hinüber, und ‘n paar Angebern, die auf Streit mit der Polizei aus waren. Alle standen ‘rum und warteten, daß irgend etwas passieren sollte, und waren drauf und dran, es passieren zu lassen. Ich stand bei der Tür, für alle Fälle. Fühlte mich beinahe kribbelig.
Plötzlich gehen die Lichter aus und es ist finster wie im Herzen eines TV-Direktors. Ich halte meine Brieftasche fest – soll mir einer sagen, daß es hier keine Taschendiebe gibt! Also nichts als stockfinstere Nacht und völlige Stille für vielleicht zehn Takte, und dann spüre ich etwas an meinen Knochen entlangkriechen, aber ich weiß, daß es irgendein subsonischer Effekt ist und nicht meine Einbildung, denn alle Hippies stehen still, und man hört keinen Laut. Dann, aus einem Riesenlautsprecher, so laut, daß es einem die Zähne zum Klirren bringt, ein Herzschlag, aber langsam und schwer, gerade im halben Takt wie vielleicht der eines Wales. Das, was da an meinen Knochen entlangkriecht, scheint mit dem Herzschlag synchronisiert zu sein, und es kommt mir beinahe vor, als sei ich dieses große stumme Herz, das da in der Dunkelheit schlägt.
Dann fällt dunkelrotes Licht – so schwach, daß es fast infrarot ist – auf die Bühne, die sie jetzt hereingerollt haben. Auf der Bühne sind vier Scheusale in verrücktem schwarzem Zeug – so, wie man sich immer den Sensenmann vorstellt – und dazu das gräßliche rote Licht auf ihnen, wie Blut. Gruselig. Boom-ba-boom. Boom-ba-boom. Das Wal-Herz schlägt immer noch, immer noch kriecht etwas subsonisch an meinen Knochen entlang, und die Hippies starren die »Four Horsemen« an wie hypnotisierte Hühner. Der Bassist, ein richtiger Dschungelboy, fällt in den Rhythmus des Herzschlags ein. Dum-da-dum. Dum-da-dum. Der Drummer drischt mit ohrenbetäubenden Schlägen den Takt. Dann kommt die elektrische Gitarre, gestimmt wie eine halb erwürgte Katze, mit fürchterlichen Blockakkorden. Whang-ka-whang. Whang-ka-whang.
Dies ist einfach furchtbar, ich fühle es in meinen Eingeweiden, meinen Knochen; meine Trommelfelle sind wie eine große pulsierende Vene. Alles wiegt sich im Takt, ich wiege mich im Takt. Boom-ba-boom. Boom-ba-boom. Dann, mit heiserer, schriller Stimme wie jemand, dem es ans Leben geht, fängt der Gitarrist im Rhythmus des Herzschlags zu singen an: »Der große Blitz… Der große Blitz…« Und dann fingert der andere Kerl an seinem Schaltpult herum, und Lichtkreise beginnen an den Zeltwänden emporzusteigen, blau zunächst, dann grün werdend, wenn sie höher steigen, dann gelb, orange und schließlich, wenn sie an der Decke sind, augenfressendes Neonrot. Jeder Kreis braucht genau einen Herzschlag, um an der Wand emporzusteigen. Junge, was für ein schauriges Gefühl! Wie wenn ich eine Tube Zahnpasta wäre, die man im Rhythmus ausdrückt, bis es
in meinem Hirn herumspuckte, als würde ich mit diesen Lichtkreisen durch die Decke hinaufspritzen. Und dann beginnen sie schneller zu werden. Der gleiche Herzschlag, der gleiche Schlag des Drummers, die gleichen Akkorde, die gleichen Kreise, der gleiche Baß, das gleiche subsonische Kriechen an den Knochen, nur ein wenig schneller… Dann schneller! Schneller! Ich glaubte, ich würde sterben! Ich wußte, ich würde sterben! Mein Herz schlug wie wahnsinnig. Trommelfeuer wie aus einem Maschinengewehr. Leuchtende Kreise, die mich die Wände hinaufziehen, hinein in dieses rote Neonloch. Ja, unfaßbar! Immer und immer noch schneller und schneller, bis die Stimme ein Schrei war und der Herzschlag ein Dröhnen und das Schlagzeug rasendes Geknatter und die Gitarre ein Heulen, und meine Knochen sprangen mir aus dem Fleisch… Dann gingen mit einem Schlag alle Scheinwerfer an, und ich wurde blind von dem plötzlichen Licht… Der zerfetzende Knall einer Explosion brach aus allen Lautsprechern, so laut, daß es mich fast umwarf… Mir war, als wenn mein Inneres durch meine Schädeldecke hinausspritzte, und es war herrlich. Dann: Die Explosion wurde ein Dröhnen… Dann schien das Licht in einen Kreis an der Decke zusammenzuströmen und ließ alles andere im Dunkel. Und der Kreis wurde zu einem Feuerball. Aus dem Feuerball wurde ein Slow-Motion-Film eines Atompilzes, während das Dröhnen verebbte. Dann schwand das Bild in einem Augenblick völliger Dunkelheit, und dann gingen die Lichter an. Was für ‘ne Nummer! Himmel, welch eine Show!
Anschließend, als ich allein mit ihnen sprach und herausfand, daß sie keinen Manager hatten, nicht einmal eine Option vom »Mandala«, dachte ich schneller als jemals zuvor in meinem Leben. Um es kurz zu machen: Die TV-Leute habe ich üppig geleimt. Ich ließ die »Horsemen« einen Kontrakt unterschreiben, der mich zu ihrem Manager machte und mir zwanzig Prozent ihrer Einnahmen gab. Dann verpflichtete ich sie für zehntausend in der Woche in den »American Dream«, schrieb als Eigentümer des »American Dream« einen Scheck aus, übergab ihn mir selbst als dem Manager der »Four Horsemen«, gab dann meinen Posten als Funk-Lakai auf, was den vier Jungs zehntausend brachte und mir zwanzig Prozent aus der heißesten Gruppe seit den Beatles. Na wenn schon! Wer vom Kleingedruckten lebt, soll durch das Kleingedruckte umkommen.
T minus 148 Tage – Countdown läuft… »Du hast das Band noch nicht gesehen, oder, B. D.?« fragte Jake. Er war nervös wie ‘ne Jungfrau. Wenn man beim Fernsehen meine Position erreicht hat, ist man es gewöhnt, Untergeordnete nervös zu machen, aber Jake Pitkin war nicht irgendein Bürojunge, er stand der Dramaturgie-Abteilung vor und mußte es eigentlich gewöhnt sein, mit Leuten meines Ranges umzugehen. War das Gerücht wirklich wahr? Wir waren allein im Vorführraum. Der Vorführer konnte uns sicher nicht hören. »Nein, ich habe es noch nicht gesehen«, sagte ich. »Aber ich habe da komische Dinge gehört.« Jakes Blick war richtiggehend tödlich. »Über das Band?« fragte er. »Über dich, Jake«, sagte ich mit leicht bedauerndem Lächeln.
»Daß du die Show nicht bringen willst.« »Es ist wahr, B. D.«, sagte Jake ruhig. »Weißt du, was du da sagst? Was immer auch unser persönlicher Geschmack ist – und ich persönlich glaube, daß sie irgend was Ungesundes an sich haben – die ›Four Horsemen‹ sind zur Zeit das heißeste Ding im ganzen Land, und Herrn Gellman, dieser dreckige kleine Dieb, hat uns für die eine Stunde eine viertel Million abgepreßt. Die Show zu machen hat weitere zweihunderttausend gekostet. Für Publicity haben wir noch einmal hunderttausend ausgegeben. Die Sponsors zahlen uns Spitzenbeträge. So oder so, an der Show hängt mehr als ‘ne ganze Million. So tief stecken wir drin, wenn wir sie nicht bringen.« »Das weiß ich, B. D.«, sagte Jake. »Ich weiß auch, daß mich das meinen Job kosten kann. Überleg dir das. Denn obwohl ich das alles weiß, bin ich weiter dagegen, das Band zu senden. Ich möchte dir mal den letzten Teil vorspielen. Dann wirst du sicher verstehen, warum ich meinen Job daran hänge.« Ich hatte ein übles Gefühl im Magen. Auch ich habe Vorgesetzte, und es hatte geheißen, daß Ein Trip mit den Four Horsemen gesendet werden würde, Punkt. Unter allen Umständen. Irgend etwas Seltsames ging hier vor. Für die Werbeeinblendungen sollten wir ein noch nie dagewesenes Honorar bekommen, und zwar von einer großen Raumfahrtgesellschaft, die hier zum erstenmal Werbezeit kaufte. Was mir wirklich zu denken gab, war, daß Jake Pitkin nicht gerade als couragiert bekannt war. Dennoch riskierte er hier seinen Job. Er mußte sich meiner Zustimmung ziemlich sicher sein, sonst würde er das nicht wagen. Und was ich Jake nicht sagen konnte: Ich hatte in der ganzen Angelegenheit nicht die geringste Wahl.
»Okay, laß es laufen«, sagte Jake über die Sprechanlage. »Was du jetzt sehen wirst«, fügte er hinzu, als die Lichter im Vorführraum ausgingen, »ist die letzte Nummer.« Auf dem Bildschirm: Eine Einstellung auf den leeren blauen Himmel, untermalt von –, den leisen, trägen Akkorden einer elektrischen Gitarre. Die Kamera schwenkt über einige Wolken in eine extrem lange Einstellung auf die Sonne. Als die Sonne, nicht mehr als ein kleiner Lichtkreis, sich in die Mitte des Bildschirms bewegt, gesellt sich ein Sitar-Dröhnen zur Gitarre hinzu. Langsam, ganz langsam, beginnt das Zoom-Objektiv auf die Sonne zuzufahren. Während das Bild der Sonne größer wird, wird der Klang der Sitar lauter, die Gitarre verklingt, und ein Schlagzeug beginnt, der Sitar Rhythmus zuzuspielen. Die Sitar wird lauter, der Rhythmus bestimmter und schneller, während die Sonnenscheibe sich weiter vergrößert. Schließlich ist der ganze Schirm mit unerträglich grellem Licht gefüllt, das Spiel der Sitar und des Schlagzeugs ist zur Raserei geworden. Dann übertönt eine fiebernde Stimme Sitar und Schlagzeug: »Heller… als tausend Sonnen…« Das Licht löst sich in der Nahaufnahme eines schönen, dunkelhaarigen Mädchens mit großen Augen und feuchten Lippen auf, und plötzlich sind nur noch leise Gitarrentöne und sanfte Stimmen zu hören: »Heller…Oh Gott, es ist heller… Heller…als tausend Sonnen.« Das Mädchengesicht löst sich in einer Totalen auf: Die »Four Horsemen« in ihren Freund-Hein-Gewändern. Die Melodie, die man vorhin zu dem Mädchengesicht gehört hatte, schlägt in eine Moll-Tonart um, heulende, hallende Elektro-GitarrenAkkorde und das Dröhnen der Sitar kommen hinzu, und das Ganze wird zu einem Grabgesang: »Dunkler… die Welt wird dunkler…« Eine Serie von Schnitten im Rhythmus des Grabgesangs:
Ein brennendes Dorf in Asien, herumliegende Leichen… »Dunkler… die Welt wird dunkler…« Der Leichenhaufen in Auschwitz… »Bis es so dunkel wird…« Ein riesiger Autofriedhof mit hageren, finsteren Negerkindern, die wie Zwerge im Vordergrund stehen… »Ich glaube, ich werde sterben…« Ein Washingtoner Getto in Flammen, im Dunst des Hintergrunds das Capitol… »… bevor der Tag anbricht…« Ein abrupter Schnitt zu einer extremen Nahaufnahme des Lead-Sängers der »Horsemen«, sein Gesicht zu einer Maske der Verzweiflung und Ekstase verzerrt. Und die Sitar spielt in doppeltem Tempo, und die Gitarre heult, und er schreit mit sich überschlagender Stimme: »Doch bevor ich sterbe, gehe ich auf diesen Trip, bevor das Nichts kommt…« Wieder das Mädchengesicht, doch durchsichtig, von blendendem gelben Licht durchschienen. Der Rhythmus der Sitar wird schneller und schneller, dahinter jault die Gitarre, und die Stimme steigert sich zu einem heulenden Rasen: »… Der letzte große Blitz, der meinen Himmel erhellt…« Nichts als das blendende Licht jetzt. »… und zap! Die Welt ist hin…« Einen Takt lang ein völlig schwarzer Schirm, dessen Finsternis dann am einen Rand in Blau übergeht. »… Doch bevor wir gehen, laßt uns die Höhe sehen, die unsere Bande bricht… die Selbstsucht schlägt, sie von uns trägt und reinigt mein Gesicht… Der große Blitz, der Menschheit letzter Witz, der Trip, den man nur einmal macht…« Plötzlich ein halber Takt absoluter Stille. Dann: Auf dem Schirm leuchtet ein riesiger Feuerball auf… Ein dröhnendes Donnern…
Das Donnergebrüll geht weiter, der Feuerball wird zu einer pilzförmigen Wolkensäule. Als das Donnern schwächer zu werden beginnt, wird Feuer in der riesigen Atomwolke sichtbar. Gleichzeitig erscheint das Mädchengesicht schwach auf dem Schirm. Eine sanfte Stimme verstärkt über dem Donnergebrüll, auf obszöne Weise ehrfürchtig: »Heller… großer Gott, es ist heller… heller als tausend Sonnen…« Dann war der Schirm leer, und die Lichter gingen an. Ich sah zu Jake. Jake blickte mich an. »Das ist krank«, sagte ich. »Richtig krank.« »So etwas möchtest du doch nicht bringen, oder, B. D.?« fragte Jake sanft. Blitzschnell machte ich eine Rechnung auf. Das furchtbare Zeug dauerte etwas weniger als fünf Minuten… Es war zu schaffen… »Du hast recht, Jake«, sagte ich. »So etwas werden wir nicht bringen. Wir werden es herausschneiden und bei jeder Unterbrechung noch einen Werbespot senden. Dann stimmt auch die Zeit.« »Du verstehst nicht ganz«, sagte Jake. »Der Vertrag, den uns Herrn in den Hals gestopft hat, erlaubt keine Veränderung. Die Show ist ein Paket – alles oder nichts. Außerdem ist die ganze Show so.« »Alles so? Was soll das heißen, alles so?« Jake wand sich in seinem Stuhl. »Die Kerle sind… nun, pervers, B. D.«, sagte er. »Pervers?« »Sie sind… nun, in die Atombombe verliebt oder so etwas. Jede ihrer Nummern führt zum selben Ende.« »Du meinst… die Auftritte sind alle so?« »Jetzt bist du im Bilde, B. D.«, sagte Jake. »Wir senden eine Stunde lang nur das, oder wir senden überhaupt nichts.« »Mein Gott.«
Ich wußte, was ich sagen wollte. Verbrenn das Band, und schreib die Million Dollar ab. Doch wußte ich auch, daß es mich meinen Job kosten würde. Und weiter wußte ich, daß ein anderer meinen Platz einnehmen und mit allem einverstanden sein würde, sobald ich nur fünf Minuten draußen war. Selbst meine Vorgesetzten schienen nur Anordnungen weiterzugeben. Ich hatte keine Wahl. Es gab keine Wahl. »Tut mir leid, Jake«, sagte ich. »Wir bringen es.« »Dann gehe ich«, sagte Jake Pitkin, der nicht als mutig bekannt war.
T minus zehn Tage… Countdown läuft… »Eine klare Verletzung des Versuchsstop-Abkommens«, sagte ich. Der Unterstaatssekretär sah ebenso betäubt drein, wie ich selbst mir vorkam. »Wir werden es friedliche Verwendung der Atomenergie nennen; sollen die Russen doch schreien«, sagte er. »Es ist verrückt.« »Vielleicht«, sagte der Unterstaatssekretär. »Doch Sie haben Ihre Befehle, General Carson, und ich habe meine. Von oben. Am vierten Juli, genau um zwanzig Uhr achtundfünfzig, werden Sie eine Fünfzig-Kilotonnen-Atombombe über der angegebenen Stelle bei Yucca Flats abwerfen.« »Aber die Leute… Die Aufnahmeteams…« »Werden mindestens zwei Meilen von der Gefahrenzone entfernt sein. Kein Zweifel, daß das SAC unter ›Laboratoriumsbedingungen‹ mit entsprechender Genauigkeit arbeiten kann.« Ich erstarrte. »Ich stelle nicht die Kompetenz irgendeiner meiner Bombermannschaften in Frage, diesen Auftrag auszuführen«, sagte ich. »Ich stelle die Begründung für den
Auftrag in Frage. Ich bezweifle die Vernünftigkeit dieses Befehls.« Der Unterstaatssekretär zuckte die Achseln und lächelte schwach. »Willkommen in unserm Klub.« »Soll das heißen, daß auch Sie nicht wissen, was das alles zu bedeuten hat?« »Ich weiß nur, was der Verteidigungsminister mir an Informationen hat zukommen lassen, und ich habe das Gefühl, daß auch er nicht alles weiß. Es ist Ihnen bekannt, daß das Pentagon immer wieder die Anwendung taktischer Kernwaffen gefordert hat, um den Krieg in Asien zu beenden – und Ihr SAC-Jungs habt am lautesten gerufen. Nun, vor einigen Monaten hat der Präsident seine bedingte Zustimmung zu einem Plan gegeben, der die Anwendung von taktischen Kernwaffen während der nächsten Monsunzeit vorsieht.« Ich pfiff durch die Zähne. Endlich schienen die Zivilisten Vernunft anzunehmen. Doch taten sie es wirklich? »Trotzdem, worin besteht denn der Zusammenhang mit…?« »Die öffentliche Meinung«, sagte der Unterstaatssekretär. »Bedingung war ein drastischer Umschwung der öffentlichen Meinung. Zur Zeit der Billigung des Plans zeigten die Umfragen, daß achtundsiebzig Komma acht Prozent der Bevölkerung gegen die Anwendung taktischer Kernwaffen waren, neun Komma acht Prozent ihre Anwendung befürworteten, während der Rest unentschieden war oder keine Meinung hatte. Der Präsident war bereit, von einem jetzt noch streng geheimen Stichtag an – er wird in einigen Monaten sein – die Anwendung taktischer Kernwaffen zu erlauben, vorausgesetzt, daß zu diesem Zeitpunkt mindestens fünfundsechzig Prozent der Bevölkerung ihrer Verwendung zustimmen und nicht mehr als zwanzig Prozent sie aktiv bekämpfen.«
»Ich verstehe… nur ein Trick, um Unruhe im Generalsstab zu vermeiden.« »General Carson«, sagte der Unterstaatssekretär, »offenbar haben Sie den Kontakt zur Stimmung in der Öffentlichkeit verloren. Nach der ersten Show der ›Four Horsemen‹ zeigten die Umfragen, daß fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung die Anwendung von Atomwaffen befürworteten. Nach der zweiten Show stieg der Prozentsatz auf einundvierzig. Jetzt sind es achtundvierzig Prozent. Nur noch zweiunddreißig Prozent setzen sich aktiv dagegen ein.« »Wollen Sie mir weismachen, daß eine Rock-Gruppe…« »Eine Rock-Gruppe und der Kult um sie. Es ist eine nationale Hysterie geworden. Es gibt Nachahmer. Haben Sie schon diese Ansteck-Knöpfe gesehen?« »Die mit dem Atompilz und der Aufschrift ›Tut es‹?« Der Unterstaatssekretär nickte. »Ich weiß genauso wenig wie Sie, ob der Nationale Sicherheitsrat die ›Horsemen‹-Hysterie nur benutzte, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, oder ob die ›Four Horsemen‹ von Anfang an seine Geschöpfe waren. Doch so oder so, das Ergebnis bleibt gleich – die ›Horsemen‹ und der Kult um sie haben genau den Teil der Bevölkerung umgestimmt, der Kernwaffen am erbittersten ablehnte: Hippies, Studenten, Ausgeflippte, Wehrpflichtige. Demonstrationen gegen den Krieg und gegen Atomwaffen sind abgeflaut. Wir sind ziemlich nah an fünfundsechzig Prozent. Jemand – vielleicht der Präsident selbst – hat entschieden, daß nach einer weiteren großen ›Four Horsemen‹-Show die Marke erreicht sein wird.« »Der Präsident steckt also dahinter?« »Niemand anderes kann ja die Erlaubnis zur Anwendung einer Atomwaffe geben«, sagte der Unterstaatssekretär. »Die Show wird live aus Yucca Flats gesendet. Finanziert wird sie von einer Raumfahrtgesellschaft, die stark von Aufträgen des
Verteidigungsministeriums abhängig ist. Auch ein LivePublikum wird hingebracht. Die Regierung hat natürlich zugestimmt.« »Und als Abschluß der Show gibt es einen AtombombenAbwurf durch das SAC?« »Genau.« »Ich habe eine dieser Shows gesehen«, sagte ich. »Auch meine Kinder sahen zu. Mich überkam ein überaus seltsames Gefühl… Fast wünschte ich, das Rote Telefon würde läuten…« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte der Unterstaatssekretär. »Wer auch hinter dem Ganzen steckt, manchmal habe ich das Gefühl, als ob auch er dieser Hysterie verfallen wäre… Und daß die ›Horsemen‹ nun den manipulieren, der vorher sie manipulierte… Ein geschlossener Kreis. Aber ich bin in letzter Zeit etwas müde. Der Krieg macht uns alle so müde. Wenn wir nur alles bald hinter uns hätten…« »Jeder von uns möchte, daß die Sache irgendwie zu einem Ende gebracht wird«, sagte ich.
T minus sechzig Minuten… Countdown läuft… Ich hatte Auftrag, die gesamte Mannschaft der »Backfish« zur Satelliten-Live-Übertragung der vierten »Four Horsemen«Show zu beordern. Oberflächlich gesehen mag es seltsam erscheinen, wenn die ganze Polaris-Flotte zu einer FernsehShow befohlen wird, aber der positive Einfluß auf die Moral der Truppe war von großer Bedeutung. Der Dienst auf Polaris-Unterseebooten ist frustrierend. Nur erstklassige Seeleute werden ausgewählt, und ein guter Seemann braucht Aktivität. Und doch, wenn wir je zum Handeln gerufen werden, wird unser Auftrag gescheitert sein. Während des größten Teils unserer Zeit üben wir Dinge, die
wir nie in die Tat umsetzen dürfen. Abschreckung ist eine vernünftige Strategie. Gleichzeitig aber für die Männer der Abschreckungsstreitkräfte eine starke Belastung – eine Belastung, die in der Vergangenheit durch die negative Einstellung unserer Landsleute unserem Auftrag gegenüber noch erschwert wurde. Männer, die im Dienst ihres Vaterlandes ihre Fähigkeiten zu höchster Perfektion entwickeln und dann auf ihre Anwendung verzichten müssen, haben ein Recht, empört zu sein, wenn sie wie Parias behandelt werden. Deswegen hat der für uns positive Umschwung der öffentlichen Meinung, der mit dem Auftreten der »Four Horsemen« zusammenzuhängen scheint, diese zu einer Art Maskottchen der Polaris-Flotte gemacht. In ihrer eigentümlichen Art scheinen sie für uns und zu uns zu sprechen. Ich entschloß mich, die Show im Raketenkontrollzentrum zu sehen, wo stets eine volle Mannschaft bereitstehen muß, um die Geschosse nötigenfalls innerhalb von fünf Minuten abfeuern zu können. Stets hat mich ein Gefühl der Gemeinsamkeit mit der Wache im Raketenkontrollraum verbunden, das ich für die anderen Leute unter meinem Kommando nicht empfinde. Hier sind wir nicht Kapitän und Mannschaft, sondern Geist und Hand. Sollte der Befehl kommen, wird es mein Wille und ihre Handlung sein, die Raketen abzufeuern. In einem solchen Moment wird es gut sein, sich nicht allein zu fühlen. Aller Augen waren auf das Fernsehgerät gerichtet, das über dem Hauptkontrollpunkt angebracht war, und die Show begann, und… Der Bildschirm war mit einem wirbelnden Spiralenmuster gefüllt, metallisches Gelb auf metallischem Blau. Ein dröhnender Klang schien halb von der Sitar zu kommen, halb
elektronisch zu sein, und ich hatte den Eindruck, als käme der Klang auf irgendeine Weise aus meinem Kopf heraus, und die Spirale schien direkt auf die Netzhaut meiner Augen geätzt zu sein. Es schmerzte leicht, und doch hätte ich mich um keinen Preis in der Welt vom Bildschirm abgewandt. Dann ertönten zwei Stimmen, die gegeneinander sangen: »Laß es alles herein…« »Laß es alles hinaus…« »Herein… Hinaus… Herein… Hinaus… Herein… Hinaus…« Mein Kopf’ schien zu pulsieren – herein – hinaus, herein-hinaus, herein-hinaus – und mit den Worten begann das Spiralmuster Farbwechsel zu pulsieren: Gelb-auf-blau (herein)… grün-auf-rot (hinaus)… herein-hinaus, hereinhinaus, herein-hinaus… Auf den Bildschirm herein… aus meinem Kopf hinaus… Ich schien gegen eine Art unsichtbarer Membrane zwischen mir und dem Bildschirm zu schlagen, wie wenn etwas von meinem Geist Besitz ergreifen wollte und ich dagegen ankämpfte… Doch wieso kämpfte ich dagegen an? Das Pulsieren, das Singen wurde schneller und schneller, bis »herein« nicht mehr von »hinaus« zu unterscheiden war, und meine Augen Negativ-Nachbilder der Spiralen sahen, schneller noch als sie den Bildwechseln folgen konnten, die immer rasender aufeinander folgten, bis mir schien, als wollte mein Kopf explodieren. Das Singen und Dröhnen brach ab, und vor dem Hintergrund eines klaren blauen Himmels erschienen auf einer Bühne die »Four Horsemen«. Eine einzelne Stimme sang besänftigend: »Du bist drin…« Die nächste Einstellung war direkt von oben, und ich konnte erkennen, daß die »Horsemen« auf einer Art kreisförmiger Plattform standen. Langsam bewegte sich die Kamera weg, und man konnte sehen, daß sich die runde Bühne auf einem
hohen Turm befand; um den Turm saß eine riesige Menschenmenge im Wüstensand, der sich bis in eine leere Unendlichkeit erstreckte. »Und wir sind drin, und sie sind drin…« Jetzt war ich mitten in der Menge; sie schien zu schmelzen und wie weiches Wachs aus dem Bildschirm zu um mich herumzufließen… »Und wir alle hier sind drin…« Ein seltsames und schönes Gefühl… die Musik wurde schneller und wilder, ekstatisch… die Wände der »Backfish« schienen unwirklich zu sein… die Menschenmenge um mich bewegte sich rhythmisch… die Entfernung zwischen ihr und mir schien sich aufzulösen… ich war dort… sie waren hier… wir gingen ineinander über… »Oh yeah, wir alle sind hier zusammen… zusammen…«
T minus 45 Minuten… Countdown läuft… Jeremy und ich starrten auf den Bildschirm und hatten alles um uns herum vergessen. In diesem Loch im Boden, unter Tonnen von Beton, kann man sich trotz der Kürze der Wachschicht recht eigentümlich fühlen, allein mit dem Mann mit dem anderen Schlüssel, und nichts zu tun, als dunklen Gedanken nachzuhängen, um einander auf die Nerven zu gehen. Man geht davon aus, daß wir so stabil sind, wie ein Mann nur sein kann, jedenfalls sagt man uns das, und man hat wohl recht, da die Welt ja noch besteht. Ich meine, allzuviel gehört nicht dazu – nur zwei Kerle auf derselben Wache über den gleichen drei »Minuteman«-Raketen, die zur gleichen Zeit ausflippen, ihre Schlüssel in dem Doppelschloß drehen, die drei Knöpfe drücken… Peng! Weltkrieg III! Ein schlimmer Gedanke von der Art, wie wir ihn nicht denken sollen, sonst fange ich an, argwöhnisch Jeremy zu
beobachten, und er beobachtet argwöhnisch mich, und die Wahnideen schaukeln einander auf… Doch das kann nicht passieren; wir sind zu stabil, zu verantwortungsbewußt. Solange wir daran denken, daß es hier unten gesund ist, ein etwas gespenstisches Gefühl zu haben, ist alles in Ordnung. Aber das Fernsehgerät ist eine gute Idee. Es hält die Verbindung mit der Außenwelt aufrecht und läßt sie Wirklichkeit bleiben. Zu leicht wäre es, sich vorzustellen, daß das Raketenkontrollzentrum hier unten die einzige wirkliche Welt ist, und daß nichts, was oben vorgeht, wirklich zählt… Schlimmer Gedanke! Die »Four Horsemen«… Irgendwie helfen einem die Jungs, das alles aus sich herauszubekommen. Ich meine das Gefühl, daß es vielleicht besser wäre, wenn sich die innere Spannung entlüde und man mit einem Schlag alles hinter sich brächte. Wenn man den »Four Horsemen« zusieht, kann man damit leben, ohne Unheil anzurichten. Vermutlich sind sie verrückt; sie sind all der menschliche Irrsinn in uns selbst, auf den wir hier unten so angespannt achten müssen. Wenn man den »Horsemen« zusieht, und die innere Spannung sich dabei entlädt, ist die Gewißheit größer, daß nichts davon hier unten zum Durchbruch kommt. Vielleicht ist das der Grund, warum viele von uns neuerdings außer Dienst diese »Tut es«-Knöpfe tragen. Die Vorgesetzten lassen sie gewähren; sie scheinen zu verstehen, daß es genau die Art schwarzen Insider-Humors ist, die wir brauchen, um nicht durchzudrehen. Nun war die Spirale, mit der sie die Show begonnen hatten – und auch das Dröhnen – wieder da. Zap! Sogleich war ich mitten im Bild, als ob da keine Werbung gewesen wäre. »Wir sind alle hier zusammen…« Und dann eine Nahaufnahme des Lead-Sängers, der geradewegs mich ansah, so nahe wie Jeremy und irgendwie
wirklicher. Ein übel aussehender Kerl mit einem Blick, der mir verriet, daß nichts Gemeines und Dreckiges ihm fremd war. Ein Baß begann hinter ihm zu dröhnen, und dann eine Art von elektronischem Summen, das meine Zähne vibrieren ließ. Heulend und tremulierend kamen jetzt die Klänge seiner Gitarre. Und in jener brutal-suggestiven Art, wie sie in Bars Schlägereien auslösen kann, begann er zu singen: »Hab meine Mutter erstochen, hab den Vater beraubt…« Schwere Gitarrenakkorde gaben wie ein Echo die Worte zurück, während ein riesiges Hakenkreuz (rot auf schwarz, schwarz auf rot) wie eine bloßliegende Ader auf dem Schirm pulsierte. Die Gesichter der »Horsemen«, zur Grimasse verzerrt. »Hab die Schwester an die Klotür genagelt…« Gitarrengejaule zum Pulsieren des Hakenkreuzes. »Hab ‘nen jungen Hund in ‘nem Kübel ertränkt… hab ‘ne Katze nur so zum Vergnügen erhängt…« Auf dem Bildschirm jetzt ein großes Feuer in Zeitlupe; dann fiel die Stimme in ein langsames, schrilles, gequältes Heulen: »Oh Gott, dieses glühende Feuer im Mark meines Gehirns…« »Ja, dieses glühende Feuer… im stinkenden Mark meines Hirns…« »Hol mir ‘ne Lötlampe… und verbrenne nacktes Fleisch…« Das Feuer verwandelte sich in das Gesicht einer schreienden Asiatin, die durch ein brennendes Dorf rannte und sich den Hals nach dem Napalm auf ihrem Rücken verrenkte. »Und hier ist meine Botschaft… und sie kocht in meinem Blut… ein Mensch ist nichts als ein Feuer… auf nem stinkenden Haufen Schmutz…« Eine Szene von einem Nürnberger Parteitag: Ein sich drehendes Hakenkreuz, gebildet von marschierenden Fackelträgern.
Dann der Leader der »Horsemen« in das flammende Hakenkreuz eingeblendet: »Fühlst du in dir den Haß nicht, Baby, fühlst du es nicht in dir schrei’n?« »Spürst du den Haß nicht, Baby, ich ertränke dich in Schleim!« Die Gesichter der ›Horsemen‹, heulender Haß. »Oh ja, ich bin eine Bestie, Mutter…« Ein Schwenk der Kamera auf die Menschen um die Plattform; die sind aufgesprungen, schwenken die Arme, schreien lautlos. Rasch fährt die Kamera auf ein Kaleidoskop von Gesichtern zu, die Augen sind fiebrig, offene Münder heulen. »Dann ruf mich –!« Das Gesicht des »Horseman« eingeblendet in die irren Gesichter der Menge. »Menschheit!« Ich schaute zu Jeremy hinüber. Er spielte mit dem Schlüssel an der Kette um seinen Hals. Er schwitzte. Auch ich schwitzte, wie ich plötzlich bemerkte, und mein eigener Schlüssel zuckte in meiner Hand, als sei er lebendig…
T minus 13 Minuten… Countdown läuft… Im Raketenkontrollzentrum der »Backfish« sah sich der Kapitän mit uns die »Four Horsemen« an – ein merkwürdiges Gefühl, vor meinem Schaltpult zu sitzen und fernzusehen, und den Atem des Käptens im Nacken zu spüren. Er wußte, so war mein Eindruck, was mich durchfuhr, und ich konnte nicht wissen, was er empfand… und das gab dem Feuer in mir etwas Schmieriges, das ich nicht mochte… Dann war die Werbung vorbei, und wieder erschien diese Spirale und saugte mich sogleich wieder zurück in das Gerät,
und ich machte mir keine Gedanken mehr über den Käpten oder irgend etwas anderes… Nur die Spirale, gelb-blau, rot-grün, langsam sich drehend, dann schneller und schneller, die Farbe wechselnd, und schneller und schneller. Und dann noch der Klang einer Drehorgel, sich stetig beschleunigend, rot-grüne, gelb-blaue Blitze, und wilde, rasende Drehung… Und dann dieses dröhnende Summen, das meinen Körper erfüllte, und schwindelnde Drehung… Meine Muskeln entspannen sich, werden schlaff, schwindelnde Drehung, schlaff, wirbelnde, schwindelnde Drehung, oh, so schön schwindelig wirbelnd… Und im Zentrum der wirbelnden, blitzenden Farben ein heller Punkt farblosen Lichts, genau in der Mitte, ohne Bewegung, ohne Veränderung, während die ganze Welt sich im schwindelerregenden Wirbel der Farben um ihn dreht, und das Summen kommt aus den sich drehenden Farben, und der Punkt summt mir sein Lied ins Ohr… Der Punkt war ein lichter Weg hin zum Ende eines langen, rasend sich drehenden Tunnels. Das Summen begann etwas lauter zu werden. Der helle Punkt fing an, sich zu vergrößern. Im Innern des Tunnels trieb ich auf ihn zu, schwindelig, in rasender Drehung…
T minus 11 Minuten… Countdown läuft… Weiter hinunter durch einen langen, langen Tunnel aus pulsierenden Farben, wirbelnd, mich drehend, hin zu dem Lichtpunkt weit, weit weg am Ende des Tunnels. Oh, wie schön mußte es sein, endlich dort anzukommen und das herrliche Summen, das meinen Körper erfüllte, ganz in mich aufzusaugen und dann zu vergessen, daß ich hier unten war in diesem tiefen Loch in der Erde, mit einem harten
Messingschlüssel in meiner Hand, nur Duke und ich, hier unten in einer Höhle, die doch ein Wirbel blitzender Farben war, sich drehend, rasend sich zu bewegend auf das freundliche Licht am Ende des Tunnels, wirbelnd, wirbelnd…
T minus 10 Minuten… Countdown läuft… Der Lichtkreis am Ende des wirbelnden Tunnels wurde größer und größer und das Summen lauter und lauter und ich fühlte mich besser und besser und im Raketenkontrollraum der »Backfish« wurde es dunkler und dunkler, und die schreckliche Last meiner Aufgabe wurde leichter und leichter, drehte sich, wirbelte, und mir war so wohl, daß ich weinen wollte, wirbelnd, wirbelnd…
T minus 9 Minuten… Countdown läuft… Wirbeln, wirbeln… ich wirbelte, Jeremy wirbelte, das Loch im Boden wirbelte, und das Licht am Ende des Tunnels wirbelte näher und näher und – ich war durch! Ein mit gelbem Licht gefüllter Raum. Bleiches metallgelbes Licht. Dann bleiches Metallblau. Gelb. Blau. Gelb. Blau. Gelb-blau-gelbblau-gelb-blau-gelb… Reines pulsierendes Licht… und reiner, dröhnender Klang. Und dann das Gefühl von Worten, die ich zwischen den Pulsen nicht lesen konnte – nicht gelb und nicht grün – zu schnell und zu schwach, um sichtbar zu sein, doch wichtig, äußerst wichtig… Und dann eine Stimme, die im Innern meines Kopfes zu singen schien, fast als wäre sie meine eigene: »Oh, oh, oh… jetzt muß ich es wirklich wissen… Oh, oh, oh… jetzt muß ich es wirklich wissen.«
Die Welt pulsierte, leuchtete grell um diese Worte, die ich nicht lesen konnte, nicht ganz lesen konnte, lesen mußte, beinahe lesen konnte… »Oh, oh, oh… großer Gott, jetzt muß ich es wissen…« Seltsame gestaltlose Formen ballten sich in dem flackernden blaugelb-blauen Universum zusammen, versteckten die Worte, die ich lesen mußte… Verdammt, warum gingen sie nicht aus dem Weg, so daß ich sehen konnte, was ich wissen mußte! »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir sag’s mir sag’s mir… muß es wissen muß es wissen muß es wissen muß es wissen…«
T minus 7 Minuten… Countdown läuft… Konnte die Worte nicht lesen! Warum wollte der Käpten mich die Worte nicht lesen lassen? Und die Stimme in mir: »Muß es wissen… muß es wissen… muß jetzt wissen, warum es so schmerzt…« Warum wollte es nicht verstummen und mich die Worte lesen lassen? Warum hielten die Worte nicht still? Konnten sie sich nicht langsamer bewegen? Wenn sie nur etwas langsamer würden, könnte ich sie lesen, und dann würde ich wissen, was zu tun war…
T minus 6 Minuten… Countdown läuft… Ich fühlte den schweißfeuchten Schlüssel in meiner Hand. Sah, wie Duke seinen eigenen Schlüssel streichelte. Mußte es wissen! Jetzt – durch das pulsierende blau-gelb-blaue Licht und die nicht zu entziffernden Worte, welche hinten in meinem Gehirn einen schrecklichen Druck erzeugten – konnte ich die »Four Horsemen« sehen. Sie lagen auf den Knien, heulten, sahen zu etwas auf und baten: »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir sag’s mir.«
Dann erfüllten sanfte Wogen reichen rot-orangen Feuers die Welt, und eine mächtige Stimme versuchte zu sprechen. Doch sie konnte die Worte nicht formen. Sie stammelte, stöhnte. Das gelb-blau-gelbe Blitzen über den Worten, die ich nicht lesen konnte – die gleichen Worte, fühlte ich plötzlich, die die Stimme des Feuers so sehr zu formen versuchte – und die »Four Horsemen« bettelten auf den Knien: »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir…« Das freundliche, warme Feuer mühte sich so sehr, zu sprechen. »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir…«
T minus 4 Minuten… Countdown läuft… Was waren die Worte? Was war der Befehl? Ich fühlte das stumme Flehen meiner Männer, es ihnen zu sagen. Immerhin war ich ihr Kapitän. Es war meine Pflicht, es ihnen zu sagen. Es war meine Pflicht, die Wahrheit zu finden! »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir…« Die vier Gestalten auf den Knien flehten durch die flackernden Pulse in meinem Hirn, und beinahe konnte ich drei Worte ausmachen… beinahe. »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir…« flüsterte ich dem warmen, orangenen Feuer zu, das sich so sehr bemühte und doch die Wörter nicht formen konnte. Und auch meine Männer flüsterten jetzt: »Sag’s mir sag’s mir…«
T minus 3 Minuten… Countdown läuft… Die Frage brannte blau und gelb in meinem Gehirn. WAS WOLLTE DAS FEUER MIR SAGEN? WAS WAREN DIE WORTE, DIE ICH NICHT ZU LESEN VERMOCHTE?
Mußte die Tür zu den Worten öffnen! Mußte den Schlüssel finden! Einen Schlüssel… Den Schlüssel? DEN SCHLÜSSEL! Und da war das Schloß, das die Worte versperrte, direkt vor mir! Jetzt den Schlüssel ins Schloß… Ich schaute zu Jeremy hinüber. Lange zurück und weit von hier weg, gab es da nicht einen Grund, daß Jeremy mich daran hindern sollte, den Schlüssel ins Schloß zu stecken? Doch Jeremy rührte sich nicht, als der Schlüssel ins Schloß fuhr…
T minus 2 Minuten… Countdown läuft… Warum wollte der Käpten mir nicht sagen, was der Auftrag war? Das Feuer wußte es, aber es konnte nichts sagen. Das Pulsieren schmerzte im Kopf, aber ich konnte die Worte, nicht lesen. »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir…« flehte ich. Dann erkannte ich, daß auch der Käpten fragte.
T minus 90 Sekunden… Countdown läuft… »Sag’s mir sag’s mir sag’s mir…« flehten die »Horsemen«. Und die Wörter, die ich nicht lesen konnte, waren Feuer in meinem Gehirn. Dukes Schlüssel steckte in dem Schloß vor uns. Von sehr weit weg sagte er: »Wir müssen es gemeinsam tun.« Natürlich… unsere Schlüssel… sie würden uns Zugang zu den Worten schaffen! Ich steckte meinen Schlüssel ins Schloß. Eins, zwei, drei, wir drehten zusammen unsere Schlüssel. Ein Deckel auf der Konsole öffnete sich. Unter dem Deckel waren drei rote
Knöpfe. Auf der Konsole leuchteten drei Signale in roten Buchstaben auf: SCHARF.
T minus 60 Sekunden… Countdown läuft… Die Männer warteten auf einen Befehl von mir. Ich wußte nicht, was der Befehl war. Ein wunderbares oranges Feuer versuchte es mir zu sagen, konnte aber die Worte nicht formen… Gestalten in schwarzen Gewändern beteten zu dem Feuer… Dann, durch das gelb-blaue Flackern, welches die Worte verhüllte, die ich zu lesen hatte, sah ich eine riesige Menschenmenge rund um den hohen Turm. Alle hatten sich erhoben, wortlos bittend – Der Turm inmitten der Menge wurde zu dem orangen Feuer, welches versuchte, zu sagen, was die Worte waren – Wurde zu einem riesigen Pilz aus wogendem Rauch und blendendem, rot-orangen Licht…
T minus 30 Sekunden… Countdown läuft… Die riesige Feuersäule versuchte, Jeremy und mir zu sagen, was die Worte waren, was wir tun mußten. Unter der Feuerwolke brach die Menge in Schreie aus. Hinter dem Rauchpilz wurde das gelbblaue Flackern schneller und schneller. Beinahe konnte ich die Worte lesen! Zwei Worte waren es, das konnte ich sehen!
T minus 20 Sekunden… Countdown läuft… Warum sagte es der Käpten uns nicht? Beinahe konnte ich die Worte sehen!
Dann hörte ich, wie die Menge rund um den schönen Rauchpilz schrie: »TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES!«
T minus 10 Sekunden… Countdown läuft… »TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES!« Aber was sollte ich tun? Wußte es Duke?
9 Die Männer warteten! Was war der Befehl? Sie beugten sich über die Auslösehebel, warteten… Die Auslösehebel… »TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES!«
8 »TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES!« schrie die Menge. »Jeremy!« rief ich. »Ich kann die Worte lesen!«
7 Meine Hände verharrten über den Auslösehebeln… »TUT ES! TUT ES! TUT ES! TUT ES!« waren die Worte. Verstand der Käpten nicht?
6 »Und was sollen wir tun, Jeremy?«
5 Warum gab nicht der Rauchpilz den Befehl? Meine Männer warteten! Ein guter Seemann braucht die Tat. Dann sprach eine gewaltige Stimme aus der Feuersäule: »TUT ES… TUT ES… TUT ES…«
4 »Es gibt nur eins, was wir hier unten tun können, Duke.«
3 »Männer, hier ist der Befehl! Achtung! Feuer!«
2 Ja, ja, ja! Jeremy…
1 Ich ergriff meine Abzugshebel. An allen Bedienungsständen der Konsole taten meine Männer das gleiche. Doch ich war schneller als sie! Ich würde der erste sein.
0 DER GROSSE BLITZ
Originaltitel: THE BIG FLASH Aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1970 Copyright © 1970 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzt von Rudolf Mühlstrasser