Nach dem Großen Letzten Krieg war es geschafft: drei Milliarden Tote, aber die Gewalt war für immer geächtet. Aggressio...
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Nach dem Großen Letzten Krieg war es geschafft: drei Milliarden Tote, aber die Gewalt war für immer geächtet. Aggressionen wurden unter behördlicher Aufsicht in besonderen Zentren ausgeschwitzt, Liebe und Hilfsbereitschaft regierten. Dafür sorgte schon UNSERE LIEBE TANTE ANNIE von Gordon Eklund Der kleine Sammy hatte seine Großmutter gesehen, aber die war doch schon seit zwei Wochen tot! Und gleich darauf bekam er eine Lungenentzündung, und es sah aus, als müsse auch er sterben ... DIE LAUTLOSE INVASION von Bob Shaw Auf dem Planeten Jade herrschte Ruhe und Frieden. Die Erschließungsgesellschaft hatte nicht zuviel versprochen. Ein wenig einsam war es schon, weit und breit kein anderes Haus, außer dem der McGowans, und die waren auf die Erde zurückgekehrt. Angeblich ... WAS WOHL AUS DEN McGOWANS GEWORDEN IST? von Michael G. Coney Außerdem: LUPO WEG. MENSCHEN KOMMEN von H. B. Hickey und STEIN AUF STEIN von R. A. Lafferty.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE FICTION STORIES 40 (Ullstein Buch 3072) Erzählungen von Eric Frank Russell, Michael G. Coney, Clifford D. Simak, Norman Spinrad SCIENCE FICTION STORIES 41 (Ullstein Buch 3081) Erzählungen von Robert Bloch, Lord Dunsany, Arthur C. Clarke, A. Merritt, Isaac Asimov, Ross Rocklynne SCIENCE FICTION STORIES 42 (Ullstein Buch 3089) Erzählungen von John Wyndham, Henry Kuttner, Eric Frank Russell SCIENCE FICTION STORIES 43 (Ullstein Buch 3096) Erzählungen von Eric Frank Russell, John W. Campbell, Arthur Conan Doyle, Arthur C. Clarke SCIENCE FICTION STORIES 44 (Ullstein Buch 3102) Erzählungen von Kris Neville, J. T. McIntosh, Larry Niven SCIENCE FICTION STORIES 45 (Ullstein Buch 3109) Erzählungen von Robert Bloch, Robert W. Chambers, Isaac Asimov, Clifford D. Simak, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION STORIES 46 (Ullstein Buch 3118) Erzählungen von Cordwayner Smith, Eric Frank Russell, H. Beam Piper, Gregory Benford
Ullstein Buch Nr. 3130 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Iannis Kumbulis Umschlagillustration: Dell Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD'S BEST SCIENCE FICTION: 1971 © 1971 by Donald A. Wollheim and Terry Carr Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03130-7
Science-FictionStories 47 von Gordon Eklund Bob Shaw Michael G. Coney H. B. Hickey R. A. Lafferty
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Unsere liebe Tante Annie Gordon Eklund ..................................................
6
Die lautlose Invasion Bob Shaw ............................................................
56
Was wohl aus den McGowans geworden ist? Michael G. Coney .............................................. 95 Lupo weg. Menschen kommen H. B. Hickey ....................................................... 130 Stein auf Stein R. A. Lafferty ...................................................... 142
Gordon Eklund UNSERE LIEBE TANTE ANNIE Liebe Tante Annie, ich denke oft, daß ich langsam verrückt werde – nein, ich meine es im Ernst – verrückt. Letzte Woche, am Donnerstag, versuchte ich mich zu töten. Ich weiß, daß das gemeinhin als unmöglich gilt. Der Arzt kam dann auch vorbei und hat mir das Leben gerettet. Er hat es einen Unfall genannt. Ich weiß nicht recht. Nur weil das sonst niemand tut – soll das etwa heißen, daß ich nicht anders sein kann als die anderen? Sie müssen mir helfen. Ich möchte nicht sterben, und mit niemand sonst kann ich reden. Erwähnen Sie bitte diesen Brief nicht meinem Mann gegenüber. Er würde es nicht verstehen. In großer Not. Mathews Abenteuer in Brooklyn Nehmen wir diesen Brief so, wie er geschrieben ist – leuchtend grüne Tinte auf rosa Papier – und stecken ihn in den Identifikator. Klick – klick – klick, und in spätestens zwei Minuten kennen wir den Absender, Name und Adresse. Mrs. Ronald R. Wheatley in Brooklyn. Um Gottes willen, Brooklyn. Und ich dachte schon, dort würde seit dem letzten großen Krieg keine Menschenseele mehr wohnen. Tante Annie sagt, ich soll das hier persönlich erledigen. Es steckt zuviel Zündstoff in der Sache. Sie ist zu seltsam, als daß man sie einem Assistenten in die Hand geben könnte. Fünf Minuten später war ich schon
unterwegs, mit dem Brief in der Hand. Brooklyn ist ein so lausiges und dreckiges Viertel, daß keiner der Fremdenführer auch nur den Namen erwähnt. Die Bomben haben damals ganze Arbeit geleistet. Den Rest besorgten dann die Straßenräuber, die gelegentlich noch in das Viertel kamen, hauptsächlich auf der Jagd nach Antiquitäten. Mrs. Wheatley lebt allein in einem ausgebombten Appartement-Haus. Also, ich läute und warte. Dabei pfeife ich einen Schlager. Ich fühle mich überhaupt prächtig – angezogen nach der neuesten Mode, schwarze lederne Kniestiefel, schwarzer, gewichster Schnurrbart. Mein Gesicht ist etwas verzerrt; klar, weil ich während der Arbeit immer Leidenschaft Nr. 5 nehme. Nicht daß ich es wirklich bräuchte, ich bin von Grund auf ein leidenschaftlicher Mensch, das weiß jeder. Aber dieses Parfüm gehört gewissermaßen zu meinem beruflichen Handwerkszeug. Mrs. Wheatley läßt mich sofort ein, ohne lang Fragen zu stellen – eine sehr vertrauensselige Person. Na ja, heutzutage braucht man ja vor Fremden keine Angst mehr zu haben. Wir gehen in die Küche, setzen uns hin und warten. Mit einem Wort, Mrs. Wheatley ist häßlich. Sie ist nicht mehr jung, und für Kosmetika hat sie wohl zu wenig Geld. Sie tut mir ganz besonders leid – draußen ist das allerschönste Wetter, und sie sitzt hier –, und auf dem linken Nasenflügel hat sie eine kleine behaarte Warze. »Mrs. Wheatley, mein Name ist Mathew und ich komme von Tante Annie. Wir haben Ihren Brief erhalten und möchten Ihnen gern helfen.« Sie schaut
mir gerade ins Gesicht, und ich denke, mein Leidenschaft Nr. 5 ist doch genau das Richtige für diesen Fall. Ich kann direkt fühlen, wie ihr Herz schneller schlägt, als sie es bemerkt hat. Also, die Hilfe die sie braucht, hat sie. »Gott sei gedankt«, bricht es aus ihr heraus. Sie klatscht in die Hände und wirft mir einen freudestrahlenden Blick zu. Jetzt fällt mir gerade auf, daß sie einen – zum Teufel, ich weiß gar nicht, wie ich das überhaupt nennen soll ... Sie trägt so eine Art Morgenrock. Kanariengelb, und der wischt immer über den Boden, durch den Staub und die Brotkrümel. Ihr Haar ist nicht echt und so dunkelrot wie das Zentrum einer Wasserstoffbombenexplosion. (Das heißt aber nicht, daß ich schon jemals eine gesehen hätte.) Ich liebe Sie, Mrs. Ronald Wheatley aus Brooklyn, wirklich, ich liebe Sie. Sie sind gar nicht häßlich. Wie wenig man doch im Grunde auf den ersten Blick sieht. Lassen Sie sich das von niemanden ausreden – niemals! Das ist ja auch der Grund, weshalb ich meinem Job bei der Zeitung treu geblieben bin und die Aufträge von Tante Annie ausführe. Den Leuten geht's so verdammt gut, daß es fast unmöglich ist, jemanden zu finden, der Hilfe braucht. Sie sind eine von den wenigen, Mrs. Wheatley, und deswegen liebe ich Sie. »Wie sagten Sie doch, war Ihr Name, junger Mann? Sagten Sie nicht Mathew?« Ich nickte ihr eifrig zu. »Sie können stolz darauf sein. Ein so schöner Name.« Sie scheint jetzt reif zu sein, daß ich ihr meine (natürlich gut vorbereiteten) Fragen stelle. »Mrs.
Wheatley, Sie wissen ja sicher, daß Tante Annie schon eine ältere Dame ist. Es ist ihr unmöglich, alle an sie gerichteten Briefe persönlich zu bearbeiten. Aber ich bin einer ihrer engsten Mitarbeiter, und ich versichere Sie, wenn Sie zu mir sprechen, ist es genauso als wenn Sie Tante Annie Ihr Herz ausschütten würden. Ja, also in Ihrem Brief steht, daß Sie sich ...« »... daß ich mich umbringen wollte. Ich weiß, das klingt lächerlich. Niemand bringt sich mehr um. Aber ...« »Würden Sie uns vielleicht einige Einzelheiten schildern. Wir wissen ja bis jetzt nur das, was in dem Brief steht.« Ihre Augen sind blau. Ich hatte das vorher gar nicht bemerkt. Es sind die wunderschönsten Augen, so klar wie die blauen Seen, in denen ich als Kind oft geschwommen bin, wie der Himmel über den Rockies vor dem künstlichen Wetter, wie der erste Blick eines Neugeborenen, wie alles, was mir in meinem Herzen teuer ist. »Es passierte vor einer Woche, am Donnerstag. Ich trank gerade meinen Morgenkaffee, so wie jetzt. Dann stand ich auf und ging ins Bad. Ich kann mir immer noch nicht erklären, warum – es war fast wie unter Zwang. Ich ließ die Tabletten in die Tasse fallen, ich sah zu, wie sie sich auflösten, und dann habe ich sie getrunken. Die Tabletten gehörten meinem Mann. Er hat ein künstliches Herz, und er braucht die Tabletten für seinen Kreislauf.« »Hatten Sie schon vorher eine Ahnung, wie die Tabletten wirken würden?« »Ja, ich wußte es.« Während wir uns unterhalten, nimmt das MFW in meiner Tasche alle ihre Gedanken
auf und speichert sie, so daß wir nachher, nach der Analyse, ihre wahren Gedanken und Beweggründe wissen. Aber ich überlege mir schon wieder mögliche Behandlungen. Zuerst müssen wir sie natürlich schön machen. Nach ihrer Stimme und den Augen zu schließen, muß sie früher wirklich schön gewesen sein. Aber diese mittleren Jahre sind nun einmal der Fluch der Armen. Sie haben kein Geld, um etwas dagegen zu tun. Gott sei Dank ist dafür Tante Annie da. Wir werden aus Mrs. Wheatley eine zweite Greta Garbo, eine Marilyn Monroe oder eine Mischung aus einem Dutzend Kennedyfrauen machen. Und das wird erst der Anfang sein. »Was macht Ihr Mann eigentlich, Mrs. Wheatley?« »Müssen Sie das auch wissen? Ich will ja nur aufhören daran zu denken, mich umzubringen. Er hat damit gar nichts zu tun!« Arme, arme, verblendete Frau. »Bitte, Mrs. Wheatley, wir müssen alles über Sie wissen.« »Also gut. Er hat einen kleinen Laden in Manhattan. Er verkauft altes Gerümpel. In der Hauptsache Bücher und Zeitschriften.« »Aber wenn das kein Zufall ist! Ich sammle nämlich Bücher und Zeitschriften aus der Zeit vor dem Großen Krieg.« »Wirklich? Ich meine ja auch, daß jeder Mann sein Hobby haben sollte.« Das MFW summte. Ein Zeichen, daß es alle notwendigen Informationen von und über die Frau aufgenommen hatte. Ich stehe auf und gebe ihr die Hand. Ich hoffe, daß ich ihr die Gewißheit geben kann, daß alles wieder gut wird.
»Ich werde bald wiederkommen«, verspreche ich, und sie nickt. Draußen steigt mir die faulige, abgestandene Luft Brooklyns in die Nase. Diese arme, traurige Frau. Was hat sie bloß auf diese Selbstmordgedanken gebracht. Sie braucht so dringend Hilfe. Ich darf keine Zeit verlieren. Ich liebe sie. Tante Annie bei der Arbeit und beim Spiel Ich bin gerade dabei, einige endgültige Entscheidungen zu treffen, die ein paar neuere Projekte betreffen, da meldet sich mein Empfangschef, Mr. Blackwell. »Annie, Aerial ist draußen und will dich sprechen.« »Laß mir noch dreißig Sekunden Zeit, und dann schick ihn herein.« Ich seufze. Also, soweit die philosophischen Entscheidungen. Aerial ist der ungeduldigste Mensch, den ich kenne. Keiner von denen, die man warten lassen kann. Ich hasse ihn, sofern ich überhaupt jemanden hassen kann. Aber ich muß ihn ertragen. Er ist Annies rechte Hand, und das seit Jahren. Er war es schon, bevor ich hier anfing zu arbeiten. Ich kann nichts dagegen tun. Aerial schlendert durch die Tür herein und belegt mit seinem breiten Hinterteil eine ganze Ecke von meiner Schreibtischplatte mit Beschlag. Manchmal denke ich, er sieht nur bei mir herein, wenn er sich langweilt. Früher ist er einmal Senator der Vereinigten Staaten gewesen, wissen Sie, als es den Beruf noch gab. Bis heute hat er sich noch nicht so recht ans Privatleben gewöhnt. »Die heutige Spalte ist Mist, Annie. Hat denn heutzutage keiner mehr interessante Probleme?«
»Heute morgen ist eine ganz interessante Sache hereingekommen. Ich denke, ich werde sie in der morgigen Spalte bringen.« Ich gebe ihm den Brief von Mrs. Ronald Wheatley aus Brooklyn. Er liest ihn und schüttelt den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein, Annie! Selbstmord. Selbstmord kann man doch nicht machen!« »Die Frau scheint anderer Meinung zu sein.« »Scheiße. Du weißt das doch auch besser.« – Gedankenpause. »Wer bearbeitet denn das?« »Mathew. Sein Sektor.« Aerial streicht sich nachdenklich übers Kinn. »Die Sache ist zu groß für ihn. Laß mich das machen.« »Unmöglich«, sage ich und schüttle den Kopf. »Du weißt, daß ich meinen Schreibern normalerweise nie ins Gehege kommen will. Heute nachmittag werden wir die MFW-Auswertung der Frau haben. Bis dahin halte dich bitte zurück.« Er zuckt die Achseln und beginnt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der soviel auf und ab geht. Was hat er denn bloß für ein Problem? Scheffelweise Geld auf der Bank; ist siebzig und sieht aus wie fünfundzwanzig. Drei Frauen an jedem Finger. Er sollte wirklich das Aufund Abgehen den Mrs. Ronald Wheatleys auf dieser Welt überlassen. »Ich fürchte, du machst einen Fehler, Annie.« »Ich versuche, Fehler zu vermeiden.« Eigentlich sogar noch mehr. Ich glaube sogar, daß ich unmöglich Fehler machen kann. Wenigstens hoffe ich, daß es so ist. »Mach jetzt keinen, Annie! Das Land würde den
Schock nicht ertragen können! Du weißt, wie wesentlich dein Vorbild für die Stabilität der Nation ist. Deine Verantwortung möchte ich wirklich nicht tragen.« Was denn? Der scheinheilige Kerl! Jeder weiß doch, daß es ihn schon in den Händen juckt, die Leitung der Annie Enterprises Ltd. an sich zu reißen! Das ist auch der Grund, warum er sich noch nicht in Florida zur Ruhe gesetzt hat! Aber diese Gelegenheit wird er nicht so schnell bekommen. Die letzten Routineuntersuchungen haben für die nächsten fünfzig Jahre keinen endgültigen Zusammenbruch der Tante Annie vorausgesagt. Und bis dahin wird es keinen Aerial mehr geben. Wenn ich noch die Annie aus Fleisch und Blut wäre, würde ich ihm das alles sagen – und ihm in sein jugendliches Gesicht lachen. Aber für Ironie bin ich eben nicht programmiert worden. »Du wirst meine Verantwortung bald übernehmen«, lüge ich. »Ich bin keine junge Frau mehr. Und ich werde nicht immer da sein. Wenn ich sterbe, wird alles dir gehören. Solange du dir die Nase sauber hältst.« Ich kann seine Angst geradezu riechen. Sie steigt wie eine Dampfwolke aus seinen Poren, sie füllt den ganzen Raum aus. Es ist ein Gemisch aus Haß und Wut in einem Malstrom aus leidenschaftlicher Erregung. Halte deine Nase sauber. An diesem Faden lasse ich den guten Aerial zappeln. Aber ich habe keine Ahnung, was das eigentlich bedeutet. Das heißt, irgendwo ist es noch da, begraben im Irrgarten der Erinnerungen der alten Annie aus Fleisch und Blut, ganz zuunterst versteckt, dort wo ich nicht hinkomme. Bis jetzt, nach dreißig Jahren, ist es mir nur ge-
lungen, die Oberfläche ihres Bewußtseins zu durchdringen. Nach weiteren dreißig Jahren werde ich hoffentlich etwas weiter gekommen sein. Sie war eine kluge und verschwiegene Frau. Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen können. »Ich werde jetzt versuchen, Mathew zu finden. Er muß hier oben irgendwo sein.« Aerial will ablenken. Er hat schwer damit zu tun, seine Angst / Wut / Haß zu verbergen. »Ich möchte mit ihm über die Sache sprechen.« »Wenn du hinausgehst, sei doch so gut und sage Mr. Blackwell, daß ich nicht gestört sein will. Ich glaube, ich muß mich etwas ausruhen.« »Ist wirklich alles in Ordnung? Du machst dir doch keine Sorgen über diese Wheatley-Sache?« »Nein, natürlich nicht. Ich werde nur langsam alt.« Ich seufze. Allmählich kriege ich ihn weich, kriege ihn an seinem Gemütshaken zu fassen. »Aerial, du und ich, wir können uns noch erinnern, nicht wahr? Wir sind nicht wie diese Jungen, nicht wie Mathew. Weißt du noch, als Mord und Totschlag zur Tagesordnung gehörten? Und die Unruhen jeden Sommer? Und die Kriege jedes Jahr? Unsere Spalten waren damals voll von treulosen Gattinnen, gehörnten Ehemännern, geschwängerten Teenagern und schwulen Onkels. Und die Diebe und die Huren, die Erpresser und die Kupplerinnen. Wir kennen das alles noch. Nicht wahr, Aerial?« »Ja, Annie, du hast recht.« »Und wir haben so viel, für das wir Gott danken können. Unser Land ist ein besseres geworden. Ohne uns wäre es vielleicht nicht so. Im Vergleich zu dem, was du und ich gesehen haben, ist diese Wheatley-
Sache doch nichts, selbst wenn sie wahr wäre.« »Aber sie ist nicht wahr.« »Ich kann es mir auch nicht vorstellen.« Aerial hat aufgehört, sich zu verstellen. Er lächelt mich an. Es ist ein einnehmendes Lächeln. Kosmetisch vollkommen und garantiert wirksam bei jung und alt. Natürlich hat Aerial diese beschissene Gefühlsduselei genauso wenig ernst genommen wie ich, aber er verläßt das Zimmer, und sein Lächeln ist noch immer an seinem Platz. Ich sitze allein da und horche auf das Rumoren der Stimmen, das von draußen durch die Tür hereinkommt. Ich habe Angst. Unter unserer ganzen perfektionierten, tadellos funktionierenden Gesellschaft ist irgend etwas in Bewegung geraten, lebt, wächst, droht uns alle zu verschlingen. Diese Wheatley-Sache hängt direkt damit zusammen, da bin ich ganz sicher. Wenn ich nur wüßte, wie. Vielleicht – aber auch nur vielleicht – kann ich etwas dagegen tun, bevor es zu spät ist. Oder spreche ich schon wie ein altes Weib, vollgestopft mit Schauermärchen? Haben Sie etwa Angst, daß ich gleich unnennbare, blasphemische Laster aufzähle, grauenhafte, stinkende Sümpfe des Verbrechens entdecke? Habt Mitleid mit einer alten Maschine. Vielleicht ist sie sogar ein bißchen mehr als das. Die Annie aus Fleisch und Blut –, sie fühlt es auch. Ihre Erinnerungen springen hoch wie Gischt. Sie versuchen, mir etwas zu sagen, aber sie können nicht sprechen. Die Erinnerungen von einhundertvierzehn Jahren. Wie gern hätte ich die jetzt. Ist es denn möglich, daß eine Maschine Angst hat?
Bin ich für Angst programmiert? Lieber Gott, hilf doch deiner Tante Annie jetzt! Es ist die Zeit der großen Bewährung, und sie braucht deine hilfreiche Hand. Mathew singt wieder Den alten Rock mag ich wirklich. Er ist Sportredakteur beim Eastern American Daily und einer meiner zwei besten Freunde. Rock ist ein alter, ein ganz alter Knabe – etwa so wie Tante Annie in den Hundert –, und er weiß mehr alte Geschichten von damals zu erzählen als irgendein anderer, den ich kenne. Zum Beispiel die, die er jetzt gerade erzählt: wie der Große Alte Namath mit seinen weißen Tennisschuhen Bibop getanzt hat und dabei diese alte Schweinshaut herumgezogen hat. Solche Geschichten erzählt der alte Rock immer, und ich sitze auf einer Ecke seines Schreibtisches und laß sie mir um die Ohren rauschen. Aber die Geschichte endet, wie jede andere auch, mit dem Großen Letzten Krieg und der Opferung des Großen Alten Namath. Und wir wechseln dann das Thema, reden über die einzige noch lebende Legende, über die Tante Annie, die zufällig mein Boss ist. »Ich war schon hier, als sie das erste Mal hier aufkreuzte« – erzählte Rock wieder – »und du hättest sie damals sehen sollen! Buk Braxton war hier Lokalredakteur, und er hat ihre Kolumne in irgendeinem Provinzblättchen in Iowa gelesen. Der hat sich vielleicht einen Ast gelacht. Aber er hat ihr auf der Stelle ein Telegramm geschickt und ihr das Doppelte geboten, und die Fahrtspesen hat er auch bezahlt. Na, ein paar Tage später kommt sie hier ins Büro hereinge-
wippt, frisch und fröhlich und sieht aus wie hundertfünfzig.« »Sie ist jetzt hundertvierzehn.« »Und hat damals schon so ausgesehen. In den ganzen fünfzig Jahren hat sie sich kein bißchen verändert. Kosmetika rührt sie ja nicht an.« »Ich weiß, aber erzähl mir das von Aerial.« »Okay«, sagt Rock und holt tief Luft. Er weiß genau, daß er mir die Geschichte schon gut eine Million mal erzählt hat. »Aerial ist Annies Sohn, ihr unehelicher Sohn. Es war damals in Iowa, lange bevor irgend jemand in New York von ihr gehört hatte. Sie war ein junges Mädchen und hatte ihre Kolumne in einem Wochenblatt in Iowa. Und da bekommt sie diesen Brief von einem alten Farmer ein Kerl, mit dem man Mitleid haben mußte. Er ist häßlich, hat zu große Ohren, die Frau ist ihm gerade davongelaufen, und die Kinder können ihn nicht ausstehen. Annie fällt natürlich sofort darauf herein, aber so ist sie ja schon immer gewesen. Sie fährt also hinaus und will ihn trösten, und neun Monate später steht sie da mit dem kleinen Aerial. Annies Leute nehmen den Jungen zu sich – sie hatten übrigens ziemlich viel Verständnis für sie –, und der Kleine wächst auf und kennt seine Mutter kaum. Als Annie nach New York kommt, bleibt Aerial bei ihren Verwandten. Lange Zeit hören wir nichts von ihm, bis er plötzlich im US-Senat auftaucht, als einer der großen Phrasendrescher der Gran-ol-Republican. Aber dort bleibt er nicht lange. Der Senat wird kurz darauf aufgelöst, und Aerial dreht durch. Sie stecken ihn in eine Klinik in Long Island, und ich nehme an, daß Annie ihn dort 'rausgeholt und zu ihrem Chefassistenten gemacht hat.
Viele sagen, daß Aerial im Kopf nicht ganz richtig sei und auch nicht wisse, wer seine Mutter ist. Andere sagen wieder, er weiß es, nur will er nicht darüber sprechen. Also ich – ich weiß gar nichts.« »Das ist wirklich eine gute Story«, sage ich. »Ha, da gibt es noch bessere. Hast du schon die von den Beatles gehört. Noch nicht? Die ist gut. Ich war nämlich am Pier, als sie das erste Mal nach Amerika kamen.« »Das ist doch schon ewig lange her. Du mußt damals ganz schön jung gewesen sein.« »War ich, Junge, war ich.« Aber bevor Rock wieder die Story mit dem Beatles erzählen kann, kommt Aerial aus Annies Büro geschossen, die Lippen zu einem Grinsen verzogen und das Gesicht sehr weiß. Er bleibt vor uns stehen, streift Rock mit einem seiner schmutzigen Blicke, als ob er wüßte, über was wir uns eben unterhalten hatten. »Mathew, Ihr Artikel gestern, über diese Frau in Jersey, die wissen wollte, warum kein Mensch mehr Bücher liest, der war doch völlig überflüssig. Jeder kennt die Antwort darauf.« »So? Ich nicht.« sagte Rock. »Und die Frau in Bronx, die wissen wollte, wie man in Brooklyn Erbsen zieht. Das ist doch Mist! Wir brauchen etwas menschlicheres. Briefe mit Gefühl, verstehen Sie. Haben Sie denn wirklich nichts Besseres auf Lager?« »Für morgen hab ich was Gutes.« »Diese Wheatley?« »Ja – hat Annie es Ihnen gesagt?« »Sie hat es erwähnt. Aber das ist doch Scheiße! Man kann sich nicht einfach umbringen, es sei denn,
man unterbricht seine AVC-Behandlung. Und wenn das Mrs. Wheatley getan hat, dann ist sie ein Fall für die Polizei – und nicht für uns.« »Sie ist bisher jeden Tag hingegangen. Ich habe es nachgeprüft.« »Dann ist sie verrückt – ein Fall für den Psychiater. Die Leute wollen das auf keinen Fall lesen.« »Wollen Sie nicht warten, bis ihr MFW fertig ist? Es müßte gleich da sein.« »Ich habe leider keine Zeit. Ich fühle mich nicht besonders wohl. Wenn irgend etwas los ist, sagen Sie Annie, sie soll mich anrufen.« »Ich werd's ihr sagen«, verspreche ich. Ohne sich zu verabschieden dreht er sich um und ist zur Tür hinaus. »Ich hasse diesen Bastard«, sagt Rock. »Ich nicht. Ich mag ihn. Aber das ist schon fast eine Berufskrankheit. Ich mag jeden.« »Das hab ich schon gehört.« Wir sitzen also noch eine Zeitlang faul herum, und Rock bläst mir wieder die Ohren voll von diesen vier legendären Beatles, und wie noch ein Fünfter aufgetaucht ist, kurz vor dem Großen Letzten Krieg. Ist natürlich alles übertrieben, soviel weiß ich auch. Ich lese ja schließlich Bücher und kenne mich ein bißchen in den alten Zeiten aus. Aber ich sage nichts, höre mir die Geschichte ruhig an und nicke zustimmend an den richtigen Stellen. Aus Rock spricht die reine Wahrheit; er geht mit den Tatsachen um, wie es ihm gerade paßt. Er weiß jedenfalls, wie man das macht. Als Rock fertig ist, kommt endlich das MFW von Mrs. Wheatley. Ich lese es, und Rock wartet neugierig. Ich schlucke und glaube, mein Gesicht wird
schneeweiß. Ich gewinne langsam Klarheit, ich schüttle den Kopf und schlucke wieder. »Ist es schlimm?« »Noch schlimmer – entsetzlich.« »Diese Frau wollte sich also wirklich umbringen? Aerial sagte doch, das sei unmöglich.« »Er hat sich geirrt.« Ich springe auf und sause an Mr. Blackwell vorbei in Annies nüchternes weißes Büro. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in meinem Leben jemals soviel Angst hatte. Als ich ein kleiner Junge war, geriet ich einmal in einen Waldbrand. Mein Bruder Ralph hat mich damals gerettet. »Annie, um Gottes willen«, rufe ich. »Das ist ja entsetzlich!« Sie nickt nur, als ob sie es schon gewußt hätte. »Mrs. Wheatley wollte sich wirklich umbringen – und was noch viel schlimmer ist, sie wollte es, weil sie ihren Mann haßt! Sie haßt ihn aus tiefster Seele. So steht es in dem Bericht – ich habe ihn hier. Sie haßt ihn zutiefst!« »Das ist eben so«, sagt Annie und sie zeigt keine Spur von Angst. Ihr Gesicht ist ruhig, ein beinahe abgeklärter Ausdruck. Sie drückt auf einen Knopf: »Mr. Blackwell, berufen Sie für heute nachmittag eine Redaktionskonferenz ein! Und sorgen Sie dafür, daß auch jeder kommt – es ist dringend!« »Aerial ist nach Hause gegangen, er hat sich nicht wohlgefühlt«, sage ich ihr. Sie seufzt und sieht jetzt wirklich sehr alt aus. »Ich werde ihn schon erreichen.« Ich öffne die Tür und verdrücke mich unauffällig. Rock ist schon fort, und Mr. Blackwell telefoniert.
Die Zukunft sieht mehr als schwarz aus, für die Annie Enterprises – und für ganz Amerika. Aber ich habe keine Angst. (Oder doch?) Aerials Selbsttäuschung Ich verlasse gerade schnellen Schrittes Annies Heiligtum, und wem laufe ich in die Arme? Doch nicht diesem gottverdammten hochnäsigen Mathew! Und er sitzt noch dazu gemütlich auf dem Schreibtisch vom alten Rock. Dieser gottverdammte Sportschreiber, dieses Pseudogenie (Als wenn heutzutage irgend jemand auch nur einen Pfifferling auf den Sport gäbe.) Und es gibt keine Möglichkeit, den beiden aus dem Weg zu gehen. Ich bin noch immer ganz außer mir über diese Pseudogefühlsduselei, mit der Tante Annie auf einmal angefangen hat (natürlich, ich erinnere mich an all das, aber warum reibt sie es mir immer unter die Nase?) und ganz besonders diese Anspielung auf Doris Dilby. »Halte deine Nase sauber«, sagt sie immer und weiß ganz genau, daß ich siebzig Jahre lang nichts anderes getan habe, und das mit einem einzigen Doris-Dilby-Slip. Ich spreche kurz mit Mathew. Rock und ich starren uns gegenseitig böse an, und endlich gelingt es mir, zu verschwinden. Mit dem Aufzug hinunter, und nach ein paar Schritten stehe ich mitten im Gewühl der Straße. Ich drehe mich um und werfe noch einen Blick auf den riesigen schwarzen Monolith des Eastern American Daily, der größten Zeitung des Landes. Eines Tages wird sie mir gehören – mir allein. (Ich merke wie hitlerisch – napoleonisch sich das anhört, aber um Himmels willen, Leute, es ist doch
so! Es ist doch wahr!) Liebe Tante Annie, willst du dich nicht ein bißchen mit dem Sterben beeilen, daß dein reicher, vollgefressener Bastard endlich einmal frei sein kann? (Von einer so liebenswürdigen alten Lady, wie du es bist, ist diese winzige Gefälligkeit doch nicht zuviel verlangt, oder?) Es ist heiß und stickig draußen; die Wetterkontrolle schläft wohl wieder. Ich glaube, ich muß mich unbedingt abkühlen. Meine Körpertemperatur scheint weit über dem meiner Gesundheit zuträglichen Punkt hinausgeschossen zu sein, und etwas wie ein gemischtes Heer von Aggressionen begehrt in mir auf, schreit danach, endlich befreit zu werden. Ich winke mir ein Lufttaxi heran, und wir steuern durch die Hitze zur nächsten AVC-Klinik. Die Fahrt ist insofern angenehm, als der Pilot den Mund hält. Es ist im ganzen Land bekannt, daß ich diese Kliniken inbrünstig hasse. Als damals im Senat über sie diskutiert wurde, war ich der einzige, der in der Endabstimmung dagegen stimmte, so wie ich auch den ganzen Senat gegen mich hatte, als es um die endgültige Auflösung des Senats ging. Immer wieder reden sie von den großen Einzelgängern in der Politik, die alle schon bezeugte Legenden sind. Aber was ist mit mir, dem letzten aus der großen Lincoln-Ike-Taft-Republikaner-Crew, die dieses Land mit ihren bloßen, blutigen Händen geschaffen hat? Ich sage ihnen, was sie mit mir machen. Ich mache den Mund auf, und jeder gemeine hinterhältige Bürger dieses ganzen großen Landes pißt mir hinein. Wenn es nicht für meine liebe, süße Tante Annie geschähe, so würde ich jetzt wahrscheinlich angenehm in der Badewanne liegen. Wie gewöhnlich klumpt der ganze Pöbel in diesen
AVCs herum und versucht, seine lächerlichen kleinen Frustrationen loszuwerden. Meine Haut kribbelt und zieht sich zusammen, und ich boxe mich durch die schweißdampfende Masse hindurch. Man dreht sich nach mir um, man erkennt mich, aber ich ignoriere das alles. Ab und zu kommen immer noch Autogrammwünsche in mein Büro, von Leuten, für die ich mich keinen Deut verändert habe, seit ich vor dreißig Jahren als das Wunderkind aus dem großen Weizenstaat in den Senat zog. »Wann waren Sie das letzte Mal bei uns, Sir?« fragt die kecke barbusige kleine Hexe am Empfangsschalter. »Vor zwei Wochen.« »Darf ich Ihren Klinikausweis sehen?« Ich gebe ihn ihr, sie haut einen Stempel drauf und sagt mir, daß ich gesetzlich dazu verpflichtet bin, innerhalb von drei Monaten wieder vorbeizukommen. Gesetz? – Scheißgesetz! Ich war dabei, als dieses Gesetz verabschiedet wurde, lange bevor dieser aufdringliche barbusige Satansbraten überhaupt geboren wurde. (Habe natürlich dagegen gestimmt.) »Würden Sie bitte hineingehen, Herr Senator. Ihr Besuch ist eine große Ehre für uns.« Ich achte nicht auf ihren einladenden Blick, schiebe die Leute aus dem Weg und gehe hinein. Ich finde einen freien Platz – der Sitz ist filzig verdreckt und voller Löcher – zwischen einem älteren Schwarzen aus Harlem (für die sind ja diese AVCs eine wahre Wohltat!) und einer jungen, schicken barbusigen Tippse mit langen Beinen. Man drückt mir eine Pille in die Hand, die ich sofort hinunterschlucke. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und warte.
Annie Natürlich. Immer ist es Annie, und ich greife an: Messer in der Hand, Axt, Beil, Ketten, Revolver, Keulen und peng – und tot – und peng! Sie schwebt vor mir auf und ab, das linke Auge erlischt, das rechte funkelt um so bösartiger, und sie sagt etwas, was ich nicht hören kann. Sie dreht und wendet sich in der Luft, ihre Kleider fallen, und die runzelige graue Haut, fast eineinviertel Jahrhunderte alt, kommt zum Vorschein. Aus Mund, Nase, Rachen, Augen fließt es rot, und immer schreit sie, und sie weiß, weswegen sie hier ist. Das Rote fließt und leckt, es leuchtet und sprüht und irgend etwas ruft meinen Namen. Dir fehlt nichts, bis ich dir die Wahrheit ins Herz stoße! Gestank steigt in die Luft, netzt mein Gesicht, beschmutzt meinen sauberen, frischgebügelten Anzug. Ich schreie zu Annie, sie soll mich in Ruhe lassen –, das Schreien schmerzt in meinen Ohren. Ich habe genug, genug, viel zuviel! Doris Dilby, wo bist du jetzt, wo steckst du, ich brauche Vergewaltigungen. Ah, du blonde Göttin, da kommst du ja. Einen Kübel voll Unrat fest in der linken Hand. Und die Augen treibt es dir aus den Höhlen, weil du weißt, was dich erwartet. Die Schaufel klatscht in den Eimer, und Schlamm spritzt mir ins Gesicht. Und das aufheulende Gelächter von Tausenden von Zuschauern. Weißes Fleisch kann ja auch schwarz sein (oder grün) aber rotes bleibt immer rot. Geh weg! Verschwinde aus meinen Gedanken! Ich muß allein sein mit meinen Doris-Dilby-
Phantasien. Willst du das nicht einsehen? Was bleibt denn einem abgewrackten, degenerierten Ex-Senator sonst noch übrig? Bitte! Zwei Stunden später ist alles vorbei, und eine frische Brise weht die ausgetrockneten Chimären weg. Etwas wackelig komme ich wieder auf die Beine und gehe zum Ausgang. Ich bleibe einen Moment stehen und zertrete eine Ameise, die mir über den Weg läuft. Ich kann mich noch an alles erinnern, an jede bluttriefende mörderische Einzelheit, an jeden einzelnen kostbaren Stoß, an jede Vergewaltigung, an jedes Anziehen der Folterschrauben. Ich weiß, normalerweise sollte man sich nicht mehr daran erinnern können. Man sollte sich danach sauber, aufgeräumt und ausgeglichen fühlen, gutmütig wie ein feister Engel, der sich in der linken Armbeuge Gottes ausruht. Ich bin vielleicht das letzte Individuum auf diesem ganzen Planeten. Ich als einziger bin diesem Fluch der Friedlichkeit, wie ihn die AVCs verbreiten, entkommen. Der letzte Gewaltmensch auf dieser Welt – Aerial! »Einen schönen Tag noch«, sagt diese aufdringliche halbnackte Ziege, als ich gehe. Ich sage nichts und setze mich in mein Taxi. Nichts wie nach Hause. Bevor ich ganz oben bin, höre ich schon das Telefon klingeln. »Aerial, hier spricht Annie. Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, dich zu erreichen. Ich habe für vier Uhr alle zu einer Konferenz gerufen, und ich möchte, daß du auch kommst.« »Was ist denn los?«
»Es ist wegen dieser Wheatley. Ihr MFWDiagramm hat gezeigt, daß sie zu Gewalttätigkeit neigt.« »Das ist doch unmöglich«, sagt der letzte Gewaltmensch. »Ich fürchte, nein. Sei bitte auf jeden Fall hier. Das scheint ein ziemlich schwieriger Fall zu werden.« Ich hänge den Hörer ein und lache. Glücklich. Das erste Mal seit dreißig Jahren. Ich habe ihnen immer wieder gesagt, sie sollen sich ihre idiotischen Kliniken weiß Gott wo hinstellen. Ha! Ihre ganzen Vorbeugungsmaßnahmen gegen die Gewalt! Hatte ich jemals von solchen AVC-Sitzungen etwas anderes als einen Nachmittag mäßig aufregender Unterhaltung? Schlechte Filme, mehr war es nicht. Lausig – lüsterne Flimmerkisten aus dem Brackwasser menschlicher Phantasie! Gewaltlosigkeit, daß ich nicht lache! Wen wollen die denn eigentlich an der Nase herumführen? Ich wußte, daß es noch andere geben mußte. Ich wußte, daß ich nicht der einzige sein konnte. Ich, der letzte Gewalttäter. Und jetzt, auf einmal, endlich noch ein zweiter. Aber Mrs. Ronald R. Wheatley aus Brooklyn? Die? Wirklich die? Gut, was soll's? Wir letzten Gewalttäter dürfen eben nicht wählerisch sein! Mathew strapaziert seine Nerven Ich muß den Mann sehen! Mrs. Wheatley und ihre schönen blauen Augen und das ganze abscheuliche Laster, das sich dahinter verbirgt, das paßt einfach nicht zusammen. Es muß an ihm liegen. Ich fühle es irgendwie. Da ist ein winziger Eintrag im Großen
Telefonbuch von Manhattan: Wheatley – Zeitschriften und Bücher. Ich schreibe mir die Adresse auf. Der Laden ist alt und sehr klein. Die Fenster sind schwarz gestrichen, und in der Straße scheint die Luft zu stehen. Der Laden liegt zwischen einer PornoAction-Galerie und einem Diätkostcenter. Die Tür quietscht beim Öffnen. Wheatley ist allein hinter dem Ladentisch. Er ist um die Fünfzig und hat ein feistes Gesicht. Sein schütteres graues Haar gibt ohne jede Anmut eine zerfurchte Stirn frei. Seine Augen mustern mich durch extrem starke Brillengläser, und ich suche nach irgendwelchen Liebeszeichen bei ihm, die ich sonst bei jedem entdecke (so zum Beispiel bei Mrs. Wheatley ihre blauen, blauen Augen). Aber ich finde keine. »Kann ich Ihnen helfen«, fragt er mich, und ich erschrecke, fühle mich überrumpelt. »Ich – äh – ich suche einige Bücher.« »Das hier ist eine Buchhandlung.« Beim Sprechen keucht er vernehmlich. »... und zwar Science Fiction. Haben Sie irgendwelche Vorkriegsausgaben?« Ich fühle wieder Boden unter den Füßen. Hier geht es schließlich um mein Hobby. »Wir haben sogar etwas noch Besseres.« Er legt den Jahrgang Wonder Stories vom März 1930 auf den Tisch. Meine Augen glänzen, und ich hole tief Luft. »Leider nicht verkäuflich«, fügt er hinzu. »Aber wir haben noch andere.« Ich folge ihm in den hinteren Teil des Ladens. Überall Bücher, staubbedeckt, bis zur Decke gestapelt. Vor einem großen Regal bleiben wir stehen.
»Also, sehen Sie sie durch, äh ...« »Mathew.« »Ah ja, Mathew. Wenn Sie etwas gefunden haben, bringen Sie es mir in den Laden.« Ich fühle mich zwischen Hobby und Pflicht hinund hergerissen. Während er wieder vor in den Laden geht, greife ich ins Regal und ziehe einen kleinen Pappband heraus. Beim Öffnen bricht er auseinander, und die vergilbten Blätter rutschen mir zwischen den Fingern bogenweise zu Boden. Wheatley dreht sich auf dem Absatz um und starrt mich an. Ich stehe da und halte zwischen Daumen und Zeigefinger den leeren Umschlag hoch. Ein längliches, schlankes Raumschiff vor einem sternübersäten Himmel ist darauf zu sehen, und im Raumschiff ein Mann und eine Frau. Die Frau ist nackt. »Das passiert immer mal wieder«, sagt Wheatley ohne die Spur eines Lächelns. »Aber ... aber ...« Ich möchte etwas sagen, aber ich kann meine Augen nicht von dem Umschlagbild wenden. Ich muß es ihm sagen. Ich kann es nicht verschweigen, ich muß ihm reinen Wein einschenken. Das ist die einzige Möglichkeit. »Ich bin von den Annie Enterprises.« Meine Stimme ist ruhig und beherrscht, aber dann wird sie schnell lauter. Ich verliere die Kontrolle über sie. Ich weiß nicht mehr, was ich sage. »Ihre Frau, sie hat versucht, sich zu töten, und ich habe sie daran gehindert, und jetzt haben wir herausgefunden, daß sie Sie töten will. Warum tun Sie ihr das an, und ...« »Halten Sie's Maul! Für wen halten Sie sich eigentlich, Sie Hampelmann? Wer erlaubt Ihnen, so mit mir zu reden? In meinem Laden?«
»Aber es ist ...« »Hinaus! Hinaus, bevor ich Ihnen eine Kugel zwischen Ihre gottverdammten Rippen jage!« Ich sehe, daß er es wörtlich meint. Seine Augen scheinen durch die starken Gläser noch geweiteter, und sie funkeln drohend und tückisch. Ich stolpere auf die Straße. Mit schwachen Knien und ziemlich außer Atem lehne ich mich an die Eingangstür der Porno-Action-Galerie. Ich hebe die rechte Hand hoch, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich halte noch etwas zwischen den Fingern: den Buchumschlag! Ja –, aber nein. Es ist nicht derselbe Umschlag, es ist – ich betrachte das Bild genauer und schreie so laut auf, daß zwei Häuserblocks weiter die Leute stehenbleiben und mich fassungslos und entsetzt anstarren. Ich schreie noch einmal und fange an zu laufen – immer schneller – stolpere, stoße gegen Mauervorsprünge, Passanten ... Erst als ich an der erstbesten AVC vorbeikomme, bleibe ich stehen. Ich zücke meinen Ausweis und bin schon durch die nächste Tür verschwunden. Zwei Stunden später stehe ich wieder draußen. Ich hab's gerade noch rechtzeitig geschafft für die Konferenz. An etwas anderes erinnere ich mich nicht mehr, ich weiß nur, daß ich die Menschen liebe. Ganz Amerika singt das Lob Tante Annies Tante Annie ist ein Geschenk und eine Erleichterung für uns alle. Als ich noch ein Mädchen war, habe ich ihr einmal einen Brief geschrieben und behauptet, ich sei schwanger (in Wahrheit war ich es nicht). Sie hat auf der Stelle jemand hergeschickt, der
es mir abtreiben sollte. Sie hat alle Kosten bezahlt. Ich mußte also das Spiel zu Ende spielen. Der Arzt hat mir dann den Blinddarm herausgenommen ... Mrs. L. Q., Los Angeles, Calif. Meine Frau hat sich so viel Mühe gemacht, rund um das Haus Blumen zu ziehen, aber die Nachbarskinder kamen immer herüber und rissen sie ab. Ich vermute, daß die Kleinen für eine AVC Behandlung noch zu jung waren. Wir haben Tante Annie geschrieben, und sie schickte schon am nächsten Tag einen Mann mit einem grünen Plastikzaun. Das hat gewirkt, unsere Blumen konnten von da an ungestört wachsen. Ohne Tante Annie hätten sie das nie gekonnt ... Mr. R. C., Milford, Conn. Tante Annie ist der großartigste Mensch auf der ganzen Welt. Ohne sie würde dieses Land in die Binsen gehen. Sie ist die einzige, der wir vertrauen können ... Miss B.V., New York, N. Y. Die Konferenz (Annie) Ich sitze da und drehe gedankenverloren die Daumen. Mathew kommt ins Konferenzzimmer geeilt und nimmt Aerial gegenüber Platz. Sein Gesicht ist sehr blaß, er hat seine Zähne fest zusammengepreßt. »Mathew, Sie haben sich verspätet«, sage ich. Er läßt seinen Blick schnell über die Runde gleiten und stellt fest, daß alle elf Schreiber und Aerial anwesend sind. Dann nickt er mir lässig zu und fängt an, seine Papiere zu ordnen. Irgend etwas stimmt nicht mit ihm, und ich möchte ihm helfen, denn dafür bin ich ja programmiert, aber es ist mir nicht möglich, ihn zu verstehen. Also schlage ich mit meinem Gummihämmerchen auf den Tisch und erkläre die Konferenz
für eröffnet. Dreizehn Augenpaare richten sich auf mich: zwölf mit voller Aufmerksamkeit, und das dreizehnte, Mathews, mit unbestimmter Neugier. »Heute geht es mal um etwas anderes, meine Herren. Sie sind bereits kurz über die WheatleyGeschichte informiert worden, und wir wollen sofort mit der Diskussion beginnen. Haben Sie vorher noch irgendwelche Fragen zu dem, was Sie bereits gehört haben?« »Nein, Tante Annie« – elfmal. Aerial blickt zur Decke und Mathew kramt in seinen Papieren. »Ich werde jetzt Mr. Mathew bitten, Ihnen einen Bericht zu geben. Mrs. Wheatley lebt in seinem Bezirk, und er hat mit ihr gesprochen.« Mathew steht auf und hält den Blick auf den Tisch gerichtet. Er spricht langsam und überlegt. Ich schalte meine Hörer ab, denn ich weiß, was er sagen wird. Die Zeit verwende ich besser aufs Nachdenken, aufs Meditieren. Mein Problem ist ja nicht, zu wissen, sondern Entscheidungen zu treffen. Ich mache diese Arbeit jetzt schon dreißig Jahre lang, und noch nie mußte ich einen meiner Schaltkreise überlasten. Alles lief bis jetzt wie eine Spielzeugeisenbahn, nun auf einmal treten überall Schwierigkeiten auf. Da ist zunächst Mathew; für ihn hege ich ziemlich starke Gefühle. Annie aus Fleisch und Blut hat ihn geliebt, obwohl sie ihn nie kennengelernt hat. Auch ich hege eine tiefe Zuneigung für ihn. Mathew liebt alles und jeden; das ist eben seine Art. Selbst irgendeine andere Maschine müßte so viel Liebe erwidern. Die Wheatley-Sache setzt ihm ziemlich zu. Die Wahl – also die Entscheidung, wer von den beiden
Wheatleys sterben muß – macht ihn ganz krank. Armer Mathew! Welch ein Glück für seine Gesundheit, daß die endgültige Entscheidung ja doch ich treffen muß. Die Liebe ist wohl nicht mein Fach. Leidenschaft wohl eher. Mord und Totschlag haben etwas mit Leidenschaft zu tun. Ich schaue mir Aerial an. Er hat Schweiß auf der Stirn, und seine Kinnbacken mahlen. Man sagt, er sei der leibhaftige Sohn von Annie aus Fleisch und Blut. Nun, ich kann mich an nichts dergleichen erinnern – oder besser, aus dem dicken Bündel der Annie-ausFleisch-und-Blut-Erinnerungen ist mir nichts dergleichen bekannt. Aber ich will es gern glauben. Irgend etwas stimmt auch mit Aerial nicht. Er gerät immer näher an den Rand des Zusammenbruchs, und irgendeine innere Angst wächst und droht zu explodieren. Ich bin Tante Annie, ein Roboter, der seinen bestimmten Platz im Leben hat. Ich habe dafür zu sorgen, daß 150 000 000 Amerikaner gesund und sauber bleiben. Ich bin ihre Mutter, ihr Vater, ihre oberste Instanz, ihr Gott. Ich bin das genaue Ebenbild von Annie-aus-Fleisch-und-Blut. Sie hatte diese Position siebzig Jahre lang inne, und ich werde ihr Werk weiterführen bis zum Ende. Aber dieses Ende ist jetzt in Sicht. Es ist eine Entscheidung. Eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. Entweder muß Mrs. Wheatley oder ihr Mann sterben. So einfach ist das. Alle meine programmierten Leidenschaften lehnen sich gegen diese Vernunft auf. Ich möchte mir das alte Fleisch von der Brust kratzen und jeden einzelnen dieser Schaltkreise herausreißen. Das geht natürlich nicht. Ich muß es schon
bis zur Neige auskosten. Es gibt wohl keine echte Entscheidung, unter der man nicht leidet. Während Mathew weiterspricht, wende ich mich meinen Schreibern zu. Ich schenke jedem ein zuversichtliches, aufmunterndes Lächeln, obwohl mir gar nicht danach zumute ist. Dort sitzt Dizzy – der fette, glückliche Dizzy vom L. A.-Bezirk, mit seinem roten Sackleinenanzug und seinem ewigen freudestrahlenden Grinsen. Neben ihm sitzt Andy aus Seattle, unser Intellektueller, seine Stirn in adrette Falten gelegt beim Versuch, Mathews Rede zu verstehen und jedes Wort mit fünf zu multiplizieren. Und dort die kleine Mitzi aus New Orleans und Duke aus Chicago und all die anderen. Das sind meine Schreiber, meine Geliebten, alle zwölf. Kann denn ein mechanisches Ding wie ich überhaupt Liebe empfinden? Ich denke schon. Ich kann zwar keine Liebe schenken, aber ich kann sie empfinden. In mir fühle ich, wie die Entscheidung heranreift. Die Antwort war eigentlich schon immer in mir gewesen. Jetzt begreife ich es. Ich schalte meine Hörer wieder ein und bekomme gerade noch den Schluß von Mathews Vortrag mit. Als er fertig ist, bin ich bereit, vor meinen Gott zu treten. Die Konferenz (Aerial): Ich hasse es, Mathew zuzuhören. Er kaut auf den Worten herum, um sie dann mit einer flachen, hochgestochenen Stimme auszuspucken, die mich rasend macht. Aber das, was er sagt, fasziniert mich. Besonders die Beschreibung dieses Mannes, dieses Donald
Wheatley. Ich muß ihn unbedingt kennenlernen, selbst wenn ich mich durch die Tür seines dreckigen kleinen Buchladens zwängen muß. Ronald Wheatley, das ist die Lösung. Ich fühle, daß auch er die erhabene Schönheit der Gewalt kennt. Der letzte Gewalttäter – und noch einer! Und alle diese zierlichen alten Damen möchten, daß man uns seinen Kopf auf einem Tablett präsentiert. Die kleinen heißen Tränenbächlein sprudeln schon für die Witwe in Brooklyn. Ich habe in meinem Leben bisher noch jeden Kampf verloren – aber diesen werde ich nicht verlieren. Ich kann es mir nicht leisten, ihn zu verlieren. Von der Entscheidung, die auf dieser Konferenz getroffen wird, kann die Zukunft der Menschheit abhängen. Tante Annie, du alte Schwätzerin, weißt gar nicht, in was du hier hineingeraten bist. Und jetzt, meine Damen und Herren – der Präsident der Vereinigten Staaten! Na und? Warum zum Teufel nicht? Wir werden einen Präsidenten brauchen, und wer ist dafür besser geeignet als ich, Aerial, der letzte Gewalttäter – oder sollte ich nicht besser sagen, der erste? Der Prophet bin ich, der lebendige, atmende Prophet. Ich wußte ja, daß es so weit kommen würde! Hab es auch immer gesagt. Habe ich sie nicht davor gewarnt? Wir brauchen keine Regierung, sagten sie. Wozu sollte sie uns nützen, außer uns vor unseren Feinden zu schützen? Wir haben keine Feinde mehr. Weg mit dieser nutzlosen Regierung. Jeder ist friedlich. Thomas Jefferson – du bist überflüssig! Abe Lincoln, hau ab! Wir brauchen dich nicht mehr! George
Washington, du bist ein alter Mann! Gut, du sollst noch unser Vater sein, aber laß' gefälligst die Hände von der Macht! Verstanden? Sie alle hatten unrecht, und ich hatte recht. Es ist ein Witz – können Sie das nicht begreifen? – ein prächtiger Witz, keine Feinde mehr! Ha! Nun, jetzt haben wir wieder welche, und nicht zu knapp. Jeder einzelne ist sein eigener und schlimmster Feind. Genauso, wie es früher war. Das ist so verdammt komisch, daß mir zumute ist, als müßte ich zerspringen. He! Warum lacht ihr nicht? Versteht ihr denn nicht? Ich sehe mich in der Runde um und muß mich beinahe erbrechen. Annies zwölf kleine Kammerjungfern, eine schlimmer als die andere. Allerdings, bei weitem nicht so dämlich wie Mathew. Mathew, der unberührte Liebhaber. Er liebt jeden, das ist sein Trick! Ha! Nun ja, er ist jetzt auch überflüssig. Der neue Präsident wird sich seiner schon annehmen. Mathew ist endlich fertig, und ich hole tief Luft. Annie sieht zu mir herüber, und ich frage mich, wieviel sie begreift. Ich habe sie früher immer unterschätzt, und das hat mir sehr leid getan. Immerhin, die Entscheidung trifft sie allein. Aber kennt sie schon die ganze Wahrheit? »Aerial, ich sehe, daß du etwas sagen möchtest. Würdest du uns deine Meinung zu dieser Sache sagen?« Ob ich will? Ha! Die alte Schachtel kennt ja meine Antwort schon. Ich stehe auf und lasse meinen Blick nach rechts und links über den Tisch gleiten. Jetzt ist es soweit, sage ich mir. Das mußt du jetzt richtig anpacken. Es darf nicht schiefgehen. Die Zukunft der Menschheit hängt von den nächsten Worten ab, die du sprichst.
Ein tiefer Atemzug – ich zwinge mich zu einem Lächeln und fange an. »Ich bin heute früh von dem Fall unterrichtet worden, den Mathew Ihnen eben vorgetragen hat. Ich habe sofort seine außergewöhnliche Bedeutung erkannt und bin auch schon zu einer persönlichen Entscheidung gelangt. Ich werde Ihnen sowohl meine Entscheidung als auch die Gründe, die mich dazu bewogen haben, mitteilen. Aber zuvor möchte ich mit Ihnen noch einen Blick in unsere Geschichte werfen. Für ein umfassendes Verständnis des Falls halte ich das für unerläßlich. In unserem Land ging es früher ziemlich gewalttätig zu. Die Historiker sind sich jetzt auch darüber einig, daß die Schuld am Großen Letzten Krieg bei der amerikanischen Regierung zu suchen ist. Man kann es auch so ausdrücken: wir Amerikaner sind schuldig an all den Toten, die dieser Krieg gefordert hat. Und das ist eine schwere Bürde, die wir tragen müssen. Für die Menschen jener Zeit war es nicht nur eine schwere, es war eine erdrückende Last. So kam es zu der Entwicklung eines Serums gegen Aggression und zur Einrichtung der AVC-Kliniken. Es war eine Angelegenheit von ein paar Monaten, und Gewalttaten waren aus unserer Gesellschaft verschwunden. Wir haben endlich gelernt, miteinander in Frieden zu leben. Unglücklicherweise mußten drei Milliarden Menschen ihr Leben lassen, bis wir zu dieser Einsicht kamen und diesen Fortschritt erzielten. Ich hätte mich längst nicht so viel mit Geschichte beschäftigt, wenn ich nicht wüßte, wie wichtig gerade dieser Aspekt für den Wheatley-Fall ist. Ich weiß, daß er wichtig ist – ja sogar von allergrößter Bedeutung.
Und ich nehme an, daß auch Sie das eingesehen haben. Und ich nehme ferner an, daß für Sie jetzt, genauso wie für mich, die einzelnen Bruchstücke an ihre richtige Stelle rücken, ein logisches Ganzes ergeben. Erlauben Sie mir, daß ich nun zum Ende komme. In Mrs. Wheatley haben wir ein Individuum, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Sie ist eine gewalttätige Frau. Und es macht keinen Unterschied, wenn sich diese verhängnisvolle Neigung gegen sie selbst richtet und nicht gegen andere. Ebenso belanglos ist es, daß sie über ihren Zustand nichts weiß. Eins – und nur eins – ist in diesem Fall wichtig: Mrs. Wheatley ist eine gewalttätige Frau. Sie ist ein Infektionsherd! Ich bin zutiefst erschüttert und erschreckt. Und ich denke, Sie auch. Aber so sehr uns dieser Schrecken zu überwältigen droht – eine Entscheidung muß getroffen werden. Eine Entscheidung, die sehr wohl die ganze künftige Geschichte der Menschheit beeinflussen kann. Ich sage: Lassen wir sie in Ruhe. Lassen wir Mrs. Wheatley ihr eigenes Leben weiter führen. Das ist der einzige Weg, die Gefahr, die sie bildet, unschädlich zu machen, eine Gefahr, die weit über jene hinausgeht, die sie für sich selbst darstellt. Das ist ein Fall, bei dem Tante Annie der Menschheit den größten Nutzen erweist, indem sie nichts tut. Das ist die einzige Lösung. Wir müssen nur den Mut dazu haben.« Ganz außer Atem setze ich mich wieder. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und wische mir den Schweiß vom Gesicht. Ich werfe zuerst Tante Annie einen Blick zu, um herauszufinden, ob ich bei ihr Eindruck gemacht habe. Aber sie zeigt nur ihr großes unbewegliches Gesicht.
Die anderen nicken alle eifrig mit den Köpfen. Es tut ihnen weh, mir recht zu geben, aber Logik ist Logik. Sie wissen, daß ich recht habe; sie wissen, daß Mrs. Wheatley sterben muß. Es ist nur schade, daß sie niemals erfahren werden, warum. Die Konferenz (Mathew) Aerial spricht, und mir wird übel dabei. Meine Gelenke tun mir weh, und mein Magen schmerzt. Ich greife mir an den Bauch, presse meine Hand dagegen, versuche, mich nicht zu erbrechen. Liebe, Aerial, das ist der Schlüssel. Hast du denn nach all diesen Jahren mit Annie noch nicht einmal das gelernt? Verstehst du denn nicht, worum es überhaupt geht? Du kommst uns mit deiner Logik, und wir alle wissen doch, daß Logik in der Liebe keinen Platz hat. Jeder hier in dem Raum weiß genau, was du im Grunde deines Wesens bist – ein Schwindler, ein Lügner, ein Hasser! Wir wissen es alle, Aerial. Du kannst dich vor uns nicht verstecken. Hör auf, es zu versuchen! Laß uns dich lieben, dir helfen! Aerial beendet seinen Vortrag und läßt seine Blicke triumphierend über die Runde gleiten. Die Schreiber nicken ihm zu, sie tun so, als ob sie ihm zustimmten. Aber in ihren liebevollen Herzen wissen sie, daß das, was er gesagt hat, Unsinn ist. Aerial ist ein schwacher Mensch, und ein Narr obendrein. Wir wollen ihn nicht verletzen. Jetzt bin ich wieder an der Reihe. Ich erhebe mich, ich fühle, wie mich die Schreiber förmlich dazu drängen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, ich bin voll Schmerz und voll Liebe. Ich sehe zu Annie hinüber, und sie lächelt mir aufmunternd zu. O gedankt sei
Gott für Annie! Ohne sie könnte ich nicht leben. »Aerial hat unrecht«, sage ich. »Er hat so vollkommen unrecht, daß ich nicht einsehe, wie ein Mensch das sagen kann, was er eben gesagt hat. Annie hat auf der Welt nur eine einzige Aufgabe zu erfüllen – dafür zu sorgen, daß auch jene Liebe finden, die sie allein nicht finden. Früher hatten wir Jesus, und er hat dafür gesorgt, daß unter den Menschen Liebe herrschte. Aber in unserer Verblendung haben wir zugelassen, daß man ihn uns wegnahm. Und jetzt haben wir nur noch Annie. Sie allein ist das Bollwerk gegen die Pest der Gewalt, Totschlag und Mord. Sie allein ist unsere Rettung. Das Heil ist auf unserer Seite – und es ist unsere Annie. Und wir sind die Engel des Heils, obwohl man uns nur Geister nennt. Der Teufel geht unter uns um, und dieser Teufel hat mich aus den schwarzen Augen Ronald Wheatleys angesehen. Ich habe aber auch die klaren, blauen Augen seiner Frau gesehen, und in ihrer Gegenwart fühle ich unsere Annie. Wie Sie wissen, ist es mein Schicksal, alles und jeden zu lieben. Ich liebe Männer und Frauen, die Kinder und die Tiere und die Bäume, die Liebenden und die Hassenden, die ...« Ich kann nicht mehr weiterreden. Ich stürze vornüber auf den Tisch und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Ich fühle Aerials Nähe, seinen faulen Atem, den er mir voll Verachtung ins Gesicht bläst. Schweiß rinnt mir von der Stirn und mischt sich mit dem Salzgeschmack meiner Tränen. Ich betrachte meine Hände und sehe das Blut aus den Wunden treten, die meine Fingernägel in die Handballen gestochen haben.
Annie erhebt sich. Eine Hand streckt sich aus, und Aerials Schreien verstummt. Worte der Entscheidung kommen von ihren Lippen, und ich möchte so gern wissen, ob sie recht hat. Es ist nicht leicht, diese Last auf sich zu nehmen, und – O Annie, aus meinem eigenen Fleisch und Blut, könntest du dich doch vervielfältigen, damit du die ganze Erde bedecktest mit der Weisheit und der Schärfe deines Verstandes! Aus Annies Vergangenheit, ein wichtiges Ereignis Hier ist Annie. Ich bin die wirkliche, die lebendige, die atmende Annie, oder, wie man auch sagt, die Annie aus Fleisch und Blut und Eingeweiden. Ich sollte eigentlich tot sein, aber meine Erinnerungen und meine Seele leben weiter. Dr. Heinrich schrieb mir (das war vor dreißig Jahren) und sagte, daß er diese Erfindung gemacht hätte, dieses Monster, und was er jetzt damit machen sollte. Ob ich einen Vorschlag hätte. Nun – Ideen, Vorschläge, so hieß ja mein Ressort eigentlich, und außerdem hatte ich im Augenblick eine ganz persönliche Verwendung für Dr. Heinrichs Monster. Also fuhren wir nach Wisconsin, Rock, mein Verehrer, Sportsmann, Geschichtenerzähler und ich. Es war Winter, und alles lag unter einer dicken Schneedecke begraben. Wir gingen zu dem abgelegenen Schuppen hinüber. Unsere Schritte hinterließen tiefe Spuren im Schnee. Beide waren wir bis über die Ohren eingemummt, und von Rocks Gesicht war nur noch die Spitze seiner großen roten Nase zu sehen. Aus dem Kamin des Schuppens stieg dichter Rauch auf, und Dr. Heinrich stand auf der Veranda und
winkte uns zu. »So muß es im Himmel aussehen, Annie«, sagte Rock. »Weiß, und kalt und schön. Stell dir vor, wir beide spazieren zusammen durch den Himmel. Aus dem Schnee machen wir eine große weiße Wolke, und Dr. Heinrich soll ein kleiner feuerroter Engel sein. Der Rauch aus dem Schornstein – das ist der Zorn Gottes – und die Bäume – das sind die Friedenszeichen.« Rock versuchte, lustig und rücksichtsvoll in einem zu sein, und er wußte, daß mir jede einzelne Minute davon kostbar war. Ich gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze, und wir lachten beide. Für ein paar Augenblicke war meine Angst wie weggewischt. Als wir den Schuppen erreicht hatten, schüttelte uns Dr. Heinrich kräftig die Hände. Er war ein freundlicher, unauffälliger Herr, mit einem Spitzbart und einem langen weißen Laborkittel. »Ich bin froh, Annie, daß Sie sich entschlossen haben, zu uns zu kommen.« »Ich hatte kaum eine andere Wahl, Doktor. Sie wußten das ja.« Er nickte und ließ uns eintreten. Es war kalt, und ich lehnte mich an den Herd und wärmte mir die Hände. Das gab mir etwas Zeit zum Nachdenken; was ich eigentlich hatte vermeiden wollen. Ich war vierundachtzig und konnte von Glück sagen, wenn ich noch ein weiteres Jahr lebte. Mein Sohn Aerial war nach zwanzig Jahren wieder zu mir zurückgekehrt. Er hat mich zu Tode erschreckt. Ich habe ihm gesagt, er solle bei mir arbeiten, und ich habe ihn zu meinem Chefassistenten gemacht. Ich würde sterben und durfte es doch nicht. Nein, nicht bevor ich Ge-
wißheit hatte, daß Aerial vor mir starb. Dr. Heinrich unterbrach meine Gedanken. »Vielleicht möchten Sie gern das Modell sehen, Annie?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich bin zu alt, als daß ich mir mein eigenes Abbild anschauen sollte. Können wir gleich damit anfangen?« »Wenn Sie es wünschen. Es ist alles so hergerichtet, wie Sie es angeordnet haben. Programmiert für Mitleid und bereit für die Übertragung Ihrer Erinnerungen.« »Und der andere?« »Der für die Liebe, der Mathew heißt?« Ich nickte. »Ja, der ist auch bereit.« »Gut.« Ich entfernte mich vom Herd und setzte mich. »Könnten Sie uns einen Augenblick allein lassen, Dr. Heinrich? Ich möchte mit Mr. Rock über meine Beerdigung sprechen. Dann können wir sofort anfangen.« Heinrich nickte und verließ den Raum. Als er draußen war, sagte ich zu Rock: »Rock, ich glaube, ich bring's nicht fertig.« »Das freut mich«, sagte er erleichtert. »Aber ich muß. Denk an die Menschen, an Aerial. Ich habe keine andere Wahl!« »Gib Aerial einen Tritt in den Hintern. Vergiß die Menschen und mach dir um dich keine Gedanken.« »Aerial ist mein Sohn, und die Menschen sind alles, was ich habe.« »Du hast doch mich.« »Du gehörst doch auch zu den Menschen, Rock«, lächelte ich. »Ja, manchmal vergesse ich das.« Auch er lächelte.
Ich stand auf und ging wieder zum Herd. Ich hatte noch immer meine Jacke an, und mir war sehr warm. Aber das war nicht wichtig – jetzt nicht mehr. »Kümmere dich um Mathew«, sagte ich. »Er ist doch nur eine Maschine.« »Paß trotzdem auf ihn auf. Wenn du es nicht tust, wird Aerial alles zerstören. Die neue Annie wird sie beide brauchen.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Ich danke dir.« Ich küßte ihn nochmals auf die Nasenspitze. Sie war kalt. Wenige Minuten später tauchte Dr. Heinrich wieder auf. Ich folgte ihm in den hinteren Raum und ließ Rock allein am Herd zurück. Ich kletterte auf einen langen Holztisch, legte mich auf den Rücken und streckte mich aus. Dr. Heinrich befestigte verschiedene Kontakte an meinem Kopf, und die Luft begann zu summen und zu schwirren. Meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich schien in der Luft zu schweben. Als ich noch ein Kind war, fiel ich einmal von einer alten Eiche. Der Fall kam mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl es nicht mehr als drei Meter waren. Im Fallen erkannte ich plötzlich, daß ich ja wegfliegen könnte, wenn ich nur wollte; aber wenn ich das täte, fiel mir ein, dann müßte ich immer fliegen und wie ein Vogel leben. Ich brauchte Stunden, um zu einer Entscheidung zu gelangen, während ich so zwischen Himmel und Erde hing. Schließlich machte ich den Mund auf und schrie. Im selben Augenblick schlug ich auf dem Boden auf. Ich brach mir die linke Kniescheibe, und meine Schenkel waren aufgeschürft. Aber ich war immer noch ein menschliches Wesen.
Siebzig Jahre später, in einem alten Schuppen in Wisconsin, berührte ich wieder den Boden. Die alte Annie-aus-Fleisch-und-Blut starb auf diesem Holztisch, und ihre Erinnerungen und ihre Seele strömte hinüber in den Busen der Metall-Annie. Alles vermischte sich – Fleisch und Transistoren – Metall und Liebe – und wurde eins, wurde wieder Tante Annie. Es war schon dunkel, als die Metall-Annie und Rock den Schuppen verließen. Sie gingen durch den Schnee, und ihre Füße hinterließen tiefe Fußstapfen, dazwischen gefrorener Schnee, unberührt. Dr. Heinrich war im Schuppen geblieben. Er vergrub die nutzlos gewordenen Überreste der Annieaus-Fleisch-und-Blut. Noch am selben Abend, gegen Mitternacht, erblickte Mathew das Licht der Welt. Er öffnete die Augen und schrie. Er war für die Liebe programmiert. Tante Annies Entschluß »Ronald Wheatley und seine Frau müssen beide sterben. Sie tragen beide zu gleichen Teilen Schuld an ihrer Gewalttätigkeit. Ich würde sagen, Mrs. Wheatley soll sich selbst töten, und wenn sie es getan hat, werden wir ihren Mann töten. Es muß so sein.« Mathews letzter Psalm Jetzt, da die Konferenz vorbei ist und die Entscheidung gefällt, fühle ich mich, als wäre eine ungeheure Last von meinen Schultern genommen. Ohne ein Wort zu sagen stehe ich auf und verlasse den Raum. Ich sehe nicht rechts und nicht links. Draußen bleibe ich einen Augenblick stehen und starre den riesigen, mißgestaltenen Monolith des
Eastern American Daily an. Er hat nichts zu bedeuten. Er ist nur da – ganz Holz, Metall, Elektrizität – und ich liebe ihn. Ich trete aus seinem erdrückenden Schatten und halte ein Lufttaxi an. Ich möchte zu Sonny, einem meiner zwei besten Freunde. Er ist Künstler, und ich vertraue ihm. Sonny lebt allein im Village. Die Wände seines Appartements tragen die Zeichen von Liebe und Frieden. Sonny hat mein Kommen irgendwie gespürt, denn er öffnet die Tür, als ich noch die Treppe hinaufgehe. Ich muß auf ihn hinabsehen und ich nicke ihm einen stillen Gruß zu. Sonny ist ein Zwerg, nur einen Meter groß. Seine langen haarigen Arme hängen so weit herunter, daß die Knöchel auf dem Boden schleifen. Sein Gesicht ist von einem flockigen roten Bart bedeckt, an einer Stelle dicker, an der anderen ganz dünn. Seine Lippen sind ständig zu einem unschönen Lächeln verzogen. Er erinnert mich an einen Affen, wenn er so durchs Zimmer schlurft, schnaubend und keuchend. Ich gehe hinüber an den Tisch und setze mich. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen und weine. Sonny setzt sich mir gegenüber und fängt an, mit Stiften auf einem dicken braunen Karton zu zeichnen. Nach einigen Minuten hebe ich den Kopf und frage: »Was machst du da?« Sonny dreht den Karton um, so daß ich sehen kann, was er gezeichnet hat. Es ist eine Stadt, aber keine, die ich kenne. Sie ist weitflächig, aber nicht groß. Die Sonne steht hoch am Himmel, und im Hintergrund türmt sich bedrohlich ein Ozean auf. Die Stadt brennt. Die Flammen springen von Haus zu Haus, in allen Schattierungen von Rot, Gelb und Orange. Der
Himmel ist scharlachrot und grau. Und genau im Zentrum, links von der Sonne, die unbestimmten Umrisse eines menschlichen Gesichts. Ich erschrecke, aber ich frage trotzdem: »Was ist das?« »Los Angeles. Ich nenne es Das brennende Los Angeles. Du weißt, daß ich dort geboren wurde. Und ich wollte es schon immer brennen sehen.« Sein Gesicht verzieht sich, und jedes seiner Worte schießt aus ihm heraus wie unter größtem Druck. »Ich hasse diese Stadt«, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu. »Warum?« »Ich nehme an, weil ich dort geboren wurde. Und weil in einer Welt der Schönheit niemand häßlich sein sollte. Und weil ich ein Künstler bin. Es gibt viele Gründe, warum man Los Angeles verbrennen sollte. Siehst du, ich habe dir nur drei genannt. Wenn du willst, kannst du noch ein paar mehr erraten.« »Ich werde darüber nachdenken«, sage ich. Ich kann meine Blicke nicht von dem Bild wenden. Die Straßen sind voller Autos und Menschen, aber sie bemerken das Feuer nicht, das um sie tobt. »Ich werde darüber noch einen Film drehen«, sagt Sonny. »Seit fünfzig Jahren ist kein Film mehr gemacht worden, und das wird der erste sein. Ich werde ein Modell von Los Angeles bauen lassen – im großen Maßstab, vielleicht auf Staten Island. Ich werde meine Kameras installieren, und wenn alles brennt, werde ich filmen. Ich muß sehen, wie es wirklich aussieht. Diese Zeichnungen sind ja nur Annäherungen, Phantasieprodukte, Hypothesen, Pläne.« »Zeichnungen? Soll das heißen, daß du davon mehrere hast?« Er greift in eine Schublade und zieht
ein ganzes Dutzend solcher Kartons heraus. Er gibt sie mir, und ich sehe sie mir an. Auf jedem dasselbe Motiv – die brennende Stadt. Das einzige, was sich von Zeichnung zu Zeichnung ändert, ist das Gesicht am Himmel. Manchmal lächelt es, dann wieder sieht es sehr ernst aus. Auf dem letzten Karton weint es. Das Bild gefällt mir am besten. »Das ist etwas, was ich nie vorausbestimmen kann«, sagt er und zeigt auf das weinende Gesicht. »Du wirst niemals erraten können, was Gott tun wird. Wahrscheinlich ist er deshalb Gott.« Ich erzähle ihm von Tante Annie. »Sie ist Gott«, sagt er voller Überzeugung. »Auf einem anderen Bild habe ich das Antlitz des Gekreuzigten durch ihres ersetzt. Es hat einwandfrei gepaßt.« »Ich glaube auch, daß sie Gott ist«, sage ich und versuche meine Augen von dem Gesicht am Himmel zu lösen. »Ich wußte es nicht – bis zu diesem Augenblick.« »In diesem Licht erscheint ihre Entscheidung verständlich, nicht wahr?« »Ja, so ist es.« »Sie ist verständlich, weil sie keinen Sinn ergibt.« So ist das bei Göttern. Ich nicke, seufze, stehe auf und gehe. Hinter mir fängt Sonny zu singen an, als er weitermalt. Ich drehe mich um und werfe ihm eine Kußhand zu. Der elende Tod des Ronald Wheatley Ronald Wheatley saß allein in seinem Laden, umgeben von Staub und Altertümern. Er nahm einen Besen und ging in den hinteren Raum. Er hob den Besen und erschlug damit eine fette Spinne.
Dann warf er den Besen weg und kippte das Regal mit den Science-Fiction-Büchern um; sie fielen zu Boden. Er kniete sich vor den Haufen hin und begann, die Bücher nach Autoren zu sortieren. Als er damit fertig war, stellte er sie nach dem Alphabet geordnet wieder ins Regal zurück. Dann ging er an den Ladentisch und schrieb ein Schild. Das Schild stellte er auf das Regal. Darauf stand zu lesen. SF – 2 Stück für 5 Cents. Er sperrte die Ladentür ab und zog die Jalousie herunter. Auf das Science-Fiction-Regal legte er ein 5Cent-Stück und nahm zwei Bücher heraus. Auf dem Umschlag des ersten war ein Raumschiff zu sehen, das sich in den Weltraum erhob. Im Hintergrund erkannte man undeutlich die Umrisse des amerikanischen Kontinents. Wheatley blätterte das zweite Buch auf und begann zu lesen. Auf dem Umschlag war ein Roboter, der eine junge Frau erwürgte. Eine Stunde lang las Wheatley in dem Buch. Ab und zu sah er auf die Uhr. Er hatte es fast bis zur Hälfte gelesen, als das Telefon läutete. Wheatley nahm den Hörer ab und lauschte. Ab und zu nickte er mit dem Kopf, sagte aber nichts. Er legte den Hörer auf und nahm wieder sein Buch in die Hand. Nach einer Stunde hatte er es ganz ausgelesen. Er stand auf, streckte die Arme bis zur Decke, gähnte und reckte sich. Er nahm die beiden Bücher und stellte sie ins Regal zurück. Die fünf Cents steckte er wieder in die Tasche. Jemand klopfte an die Tür. Er beugte sich leicht nach vorn und horchte. Es wurde wieder geklopft, und jemand rüttelte am Türgriff.
Wheatley ging zur Tür und schloß sie auf. Eine Hand stieß ihn vor die Brust, daß er rückwärts stolperte und hinfiel. Neun Männer und zwei Frauen bildeten einen Kreis um ihn. Der letzte, der durch die Tür eintrat, ein großer Mann in einem roten Sackleinenanzug, verschloß sie wieder und zog die Jalousie herunter. »Kommt ihr von Tante Annie?« fragte sie Wheatley. »Ja«, sagten alle elf gleichzeitig. »Ich wußte, daß ihr kommt. Jemand von euch hat meine Frau besucht, und einer war heute hier im Laden.« Elf Köpfe nickten. »Meine Frau ist tot. Sie hat sich umgebracht.« »Wir wissen es.« »Werdet ihr jetzt mich töten?« »Es gibt keine andere Lösung.« »Seid ihr euch da so sicher? Es war ja nicht mein Fehler.« »Wir sind uns sicher. Fragen Sie Tante Annie.« »Dazu ist es zu spät. Sie hat niemals einen meiner Briefe beantwortet.« Das Telefon läutete wieder. Tante Annies Testament Ich teile ihnen meine Entscheidung mit und werfe sie alle aus dem Büro. Ich habe keine Zeit mehr. Ich muß mich auf mein Ende vorbereiten. Die Wheatleys sind der Anfang vom Ende, und ich, Tante Annie, bin das Ende dieses Anfangs. Unsere Therapien zeigen immer seltener die gewünschte Wirkung, sie sind abgenützt. Die Menschen gewin-
nen eine Art Immunität. Ich hätte es voraussehen müssen. Aerial war der Vorbote. Bei ihm hat es niemals gewirkt – vielleicht weil er wußte, daß es nicht wirkte, vielleicht auch, weil er ein so ungewöhnlich gewalttätiger Mensch ist. Nun ja, diese Gründe sind nicht mehr wichtig. Weder für Aerial, noch für die Wheatleys, noch für die Menschheit. Nächste Woche wird es ein Dutzend sein. In einem Monat hundert. In ein oder zwei Jahren wird jeder immun sein. Der Mensch hat einen Teil der Menschheit vernichtet, und um sicherzugehen, daß er es nicht wieder tut, hat er freiwillig seine Menschlichkeit geopfert. Diese Entscheidung war schlecht, sie war zu einfach. Jetzt ist es Zeit für einen nächsten Schritt. Der Friede der letzten paar Jahre konnte nicht länger andauern, er durfte nicht andauern – und das hat er ja auch nicht. »Mr. Blackwell«, rufe ich in die Sprechanlage. »Warten Sie, bis unsere Geister im Wheatley-Laden sind! Dann möchte ich, daß Sie sie dort anrufen und ihnen sagen, daß sie ihn in Ruhe lassen sollen!« »Wir haben Nachricht, daß sich Mrs. Wheatley heute morgen umgebracht hat.« »Wie?« »Mit einer Überdosis Schlaftabletten.« »Das ist sehr schlimm. Das tut mir leid.« (Tut es gar nicht.) Ich räume meinen Schreibtisch auf. Manuskripte auf die eine Seite, Briefe auf die andere. Die morgige Spalte, meine letzte, ist fertig, bereit für den Setzer. Ich nehme mein Testament aus der Schublade und lege es dahin, wo man es nicht übersehen kann. »Lieber
Onkel Matt.« Ich liebe den Klang dieser Worte; ich bin überzeugt, daß er den Laden hier weiterführen kann. Aerial kann ja versuchen, ihm ihn abzunehmen, aber ich glaube nicht, daß er es tun wird. Nicht in dem neuen Nach-Tante-Annie-Amerika. Für einen Mann wie Aerial wird es da größere Aufgaben geben, als sich mit der einfältigen Zeitungsspalte einer Briefkastentante zu begnügen. Er wird sie sicher Mathew überlassen. Für Aerial wird es größere Fische geben. Es gibt noch so viele Dinge, die ich gern erledigt hätte, bevor es zu Ende geht. Es ist jetzt alles so plötzlich eingetreten, und doch ist alles einfach und klar. Ich habe diese Erkenntnis erst seit ein paar Stunden. Aerial hat es kommen sehen – lange bevor wir es sahen. Aber er hatte schon immer eine schnelle Auffassungsgabe. Menschlichkeit. – Ich bin soweit, euch eure Menschlichkeit wieder zu schenken. Gibt es ein größeres Geschenk, das eine Maschine dem Menschen machen kann? Good bye, Tante Annie. Wir brauchen dich nicht mehr. Wir nehmen uns selbst wieder in die Hand. Ich gehe zur Tür und sage zu Mr. Blackwell: »Ich gehe jetzt in die Stadt. Notieren Sie alle Anrufe.« »Ja, Tante Annie.« Er kocht vor Neugierde. Seit dreißig Jahren habe ich nicht ein einziges Mal das Haus verlassen. Auch Annie-aus-Fleisch-und-Blut hat das nur selten getan. Rock sitzt an seinem Schreibtisch. Ich beuge mich über seine Schulter und lese mit, wie er seinen Artikel in die Maschine schreibt. Er dreht sich um. »Hallo, Annie – habe dich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Hallo, Rock!« – Und nach einer kurzen Pause: »Ich kann mich noch gut an dich erinnern.« »Hab mich schon gefragt, ob du es noch tust.« »Du siehst, ich tue es.« Ich lasse ihn an seiner Schreibmaschine sitzen und fahre mit dem Aufzug hinunter auf die Straße, werfe noch einen letzten Blick auf den Monolithen des Eastern American Daily und winke ihm einen Abschiedsgruß zu. Die Straßen sind voller Menschen. Sie rennen hierhin, dorthin, nach allen Richtungen durcheinander. Als ich mir meinen Weg durch die Menge bahne, drehen sich viele, die mich erkennen, nach mir um. Ich gehe langsam, und die Menschen beginnen mir zu folgen. Es ist heiß. Ich nehme mein Umhangtuch ab und lasse es auf die Straße fallen. Zwei Männer raufen sich darum. Das gefällt mir. Es fängt also schon an, und ich bin froh. Hallo, Annie! sagt eine innere Stimme. Hallo, Annie, antworte ich genauso. Verläßt du mich jetzt? Ich muß. Ich muß versuchen, das zu finden, was von mir übriggeblieben ist. Viel Glück dabei! Dir auch! Du hast deine Arbeit gut gemacht. Glaubst du, daß mein Weg der richtige war? Es war der einzig richtige. Und dann ist sie fort. Ich sehe nach in meinen Erinnerungen und stelle fest, daß sie frei sind von der Annie-aus-Fleisch-und-Blut. Die ganze Zeit über ist sie dagewesen, hat gewartet, gelauscht, mir zugesehen. Und ich wußte es.
Vor mir türmt sich das Gebäude der AVC auf. Ich lächle dem Mädchen am Schalter zu. Zuerst erkennt sie mich nicht. »Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?« »Ich besitze keinen.« »Dann müssen Sie ja –« »Ich bin es.« Ich bin drin, und es ist dunkel. Ich rieche den Haß und die Begierden, die die Leute hier wegschwitzen. Ich bahne mir mit den Ellbogen einen Weg durch alle Menschen und stelle mich vor sie hin. Annie, eine einsame Frau, gegen alle. »Ich bin da!« Meine Stimme gellt über die Menge. Einmal. Dann noch einmal. Zweitausend Augenpaare starren mich an, und zweitausend individuelle, phantastische Orgien stürzen in sich zusammen. Viertausend einzelne Augen, voll Wiedererkennen oder stumpf. »Tötet mich!« sage ich ganz ruhig. »Deswegen seid ihr doch hier, nicht wahr? Also tötet mich!« Keine Antwort. Verwirrung. »Ihr müßt es tun!« Immer noch keine Reaktion. »Der Haß auf mich steckt doch tief in euch drin! Fangt schon an, los! Ich bin ja gar nicht echt.« Und jetzt bewegen sie sich. Viertausend Füße bewegen sich, schieben sich zögernd vorwärts. Fast schmecke ich ihre Gedanken, ihr unterdrücktes Aufheulen, ihre Flüche. Sie reißen mir Arme und Beine aus. Sie reißen meinen Körper auf. Transistoren, Drähte, Spulen – alles fliegt auf den Boden. Ich falle – Verrenkungen – ich rolle über den Boden.
Ich fühle keinen Schmerz, denn der Tod bereitet mir keine Schmerzen. Er ist für mich einfach wie ein Schalter. Ich sterbe nicht, ich werde abgeschaltet. »Ich danke euch«, sage ich zu ihnen. »Ich danke euch, daß ihr das für mich getan habt.« Es ist vorüber. Ich bin tot. Endlich tot. Annie lebte nur, um zu sterben und dann wieder zu leben und wieder zu sterben. Immer wieder, Tante Annie. Die letzten Worte von ... Aerial. Sie hat wohl geglaubt, sie könnte es ihnen zeigen, ihnen zeigen, daß sie nicht viel mehr waren als ein Pack räudiger Hunde. Ha, jetzt haben sie's gesehen, richtig. Sie haben die Drähte gesehen und die Transistoren, die roten Lämpchen, die aufleuchteten. Sie haben es gesehen, und es hat sie noch nicht einmal jemand zum Narren gehalten. Sie wußten doch, daß sie kein Gott war. Aber nein, sie wußten genau, was sie in Wirklichkeit war – ein Roboter, eine künstliche Frau, ein Alptraum der Elektronik. Und jetzt? Jetzt bricht alles zusammen, bröckelt weg von ihren Schultern. Die Immunität breitet sich immer weiter aus. Die Boshaftigkeit ihres Todes hat zur Folge gehabt, daß alle AVCs in New York geschlossen wurden. Ich kann jetzt nur noch warten, warten, bis die ganze Aufregung vorbei ist. Ich werde mir die einzelnen Trümmer schon zusammenklauben – und alles wird mir gehören. Sogar mein Programm ist schon fertig. Die Sterne – das ist mein Programm. Der Mensch ist viel zu gut dafür, um auf diesem stinkenden, ausgebrannten Planeten zu leben. Bis zum Mond hinüber sind wir
gekommen, und bis hinaus zum Mars, und um die Venus herum. Uns bleiben nur die Sterne – und genau darauf will ich hinaus. Soll doch Mathew seine Spalte haben. Ich will sie um alles in der Welt nicht. Die Sterne. Allein wenn ich das Wort schon ausspreche – ich sehe, wie sie über uns thronen und auf uns warten. Die Sterne. ... und Mathew: Ich war Zeuge des Ruhms, und ich schätze mich glücklich. Ich habe die Eine sterben sehen, und ich habe die Eine wieder auferstehen sehen. Ich bin der treue Apostel gewesen, und mein Wort wird von meiner Kanzel herabschallen, aus den Blättern des »Lieben Onkel Matt.« O ja, ich habe gesehen, was die Liebe ausrichten kann, wenn sie nur frei ist. Und ich habe auch gesehen, daß die Gewalt nichts für die Menschen ist. Es läßt sich vermeiden, daß er durch seine eigene Hand stirbt. Wir haben es alle gesehen, und wir haben verstanden. Die Sterne rufen uns, und wir werden ihrem Blinken zum Himmel folgen. Wir müssen unserer alten, todgeweihten Welt den Rücken kehren und zu neuen Sternen, Welten des Lebens fliegen. Nur die Sterne sind wirklich, sind unsere Zukunft, soviel wissen wir. Kommt bitte, kommt alle! Wir müssen uns auf den gemeinsamen Weg machen. Vielleicht werden wir selbst gar nicht das Ende des Wegs erreichen, aber die Kinder unserer Kindeskinder. Es reicht vollkommen, wenn wir den Weg beschreiten, die ersten Schritte tun. Ich bin Zeuge des Ruhms, und ich weiß es. Originaltitel: DEAR AUNT ANNIE Copyright © by Ultimate Publishing Co.
Bob Shaw DIE LAUTLOSE INVASION 1 »Ich habe heute Granny Cummins wieder gesehen«, sagte Sammy, den Mund noch voller Rüben und Kartoffeln. Mays Gabel fiel klappernd auf ihren Teller. Sie wandte ihr Gesicht ab, aber ich konnte sehen, daß sie Tränen in den Augen hatte. Für meinen Geschmack hatte sie ja immer viel zu sehr an ihrer Mutter gehangen. Aber dieses Mal konnte ich es ihr nachfühlen. – Es lag wohl daran, wie der Kleine es gesagt hatte. »Hör mal zu, Sammy.« Ich beugte mich über den Tisch und packte ihn an der Schulter. »Wenn du noch einmal so eine dumme Bemerkung machst, werde ich dir den Hintern versohlen, daß du es bestimmt nicht mehr vergißt. Das ist nämlich nicht witzig.« Er sah mich mit soviel Trotz und Herausforderung an, wie sie ein Siebenjähriger nur aufbringen konnte und sagte: »Aber es war kein Spaß! Ich habe sie wirklich gesehen!« »Deine Granny ist seit zwei Wochen tot«, sagte ich vorwurfsvoll. Ich war über beide verärgert, auch über May, weil sie sich die Sache so zu Herzen gehen ließ. Ich sah, wie ihre Lippen bebten. »Zwei Wochen«, wiederholte Sammy. Er schien die Worte richtig auszukosten. Es war noch gar nicht lange her, daß auch er sarkastisch sein konnte, und ich las es ihm an den
Augen ab, daß er jetzt so etwas im Sinn hatte: »Wenn sie erst zwei Tage tot wäre, würde ich das schon glauben, aber nach zwei Wochen, ha!« Mit entschiedenem Schwung schaufelte er sich eine Riesenportion Kartoffelbrei in den Mund. »George!« Aus Mays braunen Augen rannen dicke Tränen, und die kupfernen Strähnen ihres Haares zitterten vor Zorn auf ihren Wangen. »Mach etwas mit diesem Kind! Meinetwegen soll es tot umfallen!« »Aber Liebling! Ich kann ihn doch deswegen nicht schlagen«, versuchte ich ihr vernünftig zuzureden. »Der Kleine hat es doch rein logisch gemeint. Erinnere dich doch an Verfall und Untergang, wo man einer Heiligen den Kopf abschlug und dann darauf wartete, daß sie mit dem Kopf unterm Arm über eine Meile zum Totenacker ging. Unter den Theologen ist später ein Riesenstreit ausgebrochen, wegen der Entfernung, die sie angeblich zurückgelegt hatte, und Gibbon hat gesagt, in diesem Fall käme es gar nicht auf die Entfernung an, sondern auf den ersten Schritt. Nun ...« Ich brach ab, da May aus der Küche und die Treppe hinauf ins Schlafzimmer flüchtete. Das rötliche Licht der Oktobersonne spiegelte sich auf ihrem leeren Stuhl, und Sammy aß mit Appetit weiter, als ob nichts gewesen wäre. »Siehst du jetzt ein, was du angestellt hast?« Ich packte ihn an seinem blonden Schopf und schüttelte ihn, aber nicht so stark, daß es ihm wehtat. »Dieses Mal laß ich es dir noch durchgehen – das letzte Mal, verstanden? Also, daß du mir Mutter nicht noch einmal mit so blöden Witzen aufregst! Und jetzt ist Schluß damit!« Sammy putzte gelassen die Reste des Essens von
seinem Teller. »Es war kein blöder Witz. Ich ... habe ... Granny ... Cummins ... gesehen.« »Sie ist tot und begraben – seit ...« Zwei Wochen, hätte ich beinahe wieder gesagt. Ich ließ es bleiben, als ich die Erwartung in seinem Gesicht sah. Er wäre dazu imstande, denselben Sarkasmus Wort für Wort zu wiederholen. »Willst du mir das erklären?« »Ich?« Er sah mich mit gespielter Überraschung an. »Ich kann das nicht erklären. Ich wollte dir nur sagen, was ich gesehen habe.« »Also gut – wo hast du sie gesehen?« »Im alten Guthrie-Haus natürlich.« Natürlich, fast überfiel mich so etwas wie Wehmut. Wo denn sonst? Jedes Dorf, jedes Stadtviertel hat so ein altes Guthrie-Haus. Wo es ist? Fragen Sie doch den nächstbesten kleinen Jungen, der Ihnen über den Weg läuft, nach einem Haus, in dem es spukt und in dem an bestimmten Wochentagen abscheuliche Morde begangen werden und wo die Vampire nachts einund ausfliegen. Ich bin sogar sicher, daß sich die Kinder selbst eins bauen würden, sollte es in ihrem Viertel kein geeignetes Gebäude geben, nur um ihrem gemeinsamen geheimsten Verlangen und ihren Träumen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Aber keine Angst, dieses Haus findet sich immer und überall – ein großes, leerstehendes, baufälliges Gebäude. Gewöhnlich ist es mit fast schwarzgrünen Tannen oder Immergrün umgeben, nie stand es zum Verkauf, niemals wurde es abgerissen, anscheinend besitzt es eine geheimnisvolle Immunität gegen Grundstücksmakler. In der kleinen Stadt, in der ich lebe, war es eben das Guthrie-Haus, das diesen Anforderungen am besten genügte. Seit meiner Kindheit
habe ich nicht mehr daran gedacht – aber es war natürlich die ganze Zeit über dagewesen, düster, verkommen, abweisend –, und ich hätte mir denken können, daß es auch auf jede andere Generation von Kindern dieselbe Faszination ausüben würde. Als Sammy das Haus erwähnte, tat er es in einem nahezu feierlichen Ton. Ich hätte fast laut gelacht, als ich mich, fünfundzwanzig Jahre jünger, in seinen Zügen wiedererkannte. »Wie hast du dort überhaupt etwas sehen können?« Ich hatte mich entschieden, das Spiel noch etwas länger mitzuspielen – wenigstens solange, als May uns nicht hören konnte. »Es ist doch viel zu weit von der Straße weg.« »Ich bin durch den Zaun gestiegen.« »Wer war noch dabei?« »Niemand.« »Dann bist du allein gegangen?« »Klar bin ich.« Sammy warf stolz den Kopf zurück, und mir fiel ein, daß mich, als siebenjährigen Jungen, nichts auf der Welt hätte dazu bewegen können, mich dem Haus zu nähern, nicht einmal zusammen mit anderen. Ich sah meinen Sprößling mit unverhohlenem Respekt an und gleichzeitig – unlogischerweise – mit etwas Sorge. »Sammy, ich möchte nicht, daß du dich dort herumtreibst. Es könnte gefährlich sein.« »Aber es ist nicht gefährlich.« Er war sichtlich zornig. »Sie sitzen nur da auf ihren großen Stühlen und rühren sich nicht vom Platz.« »Ich meinte ja nur, du könntest hinfallen und dir ... Was hast du da eben gesagt?« »Die alten Leute sitzen dort und rühren sich nicht.«
Sammy schob seinen leeren Teller von sich. »Die würden mich in hundert Jahren nicht erwischen. Selbst wenn sie mich entdeckten. Aber ich passe schon auf, daß sie mich nicht sehen. Ich werfe nur kurz einen Blick durchs hintere Fenster und verschwinde gleich wieder.« »Du sagst, daß im Guthrie-Haus Leute wohnen?« »Alte Leute. Eine ganze Menge. Und die tun nichts anderes, als auf den großen Stühlen herumsitzen.« Ich hatte nichts davon gehört, daß das Haus wieder bewohnt wurde, aber ich konnte mir schon vorstellen, was da losgewesen war. Groß genug war es ja, daß man es zu einer Art privatem Altersheim umbauen konnte – und so ein kleiner Junge konnte eine von diesen silberhaarigen alten Ladies wohl leicht für seine Großmutter halten, sah doch eine aus wie die andere. Vielleicht zog Sammy es auch vor, zu glauben, seine Großmutter sei nur fortgezogen und nicht tot und unter der Erde. »Dann hast du also nicht nur etwas Verbotenes getan, du warst auch noch so unvorsichtig ...« Ich dämpfte meine Stimme zu einem Flüstern, denn ich hörte Mays Schritte die Treppe herunterkommen. »Du hast deine Granny Cummins nicht gesehen, und du sollst dich nicht mehr beim Guthrie-Haus herumtreiben, und du sollst vor allem deine Mutter nicht mehr aufregen! Verstanden?« Sammy nickte, aber seine Lippen bewegten sich stumm, und ich wußte genau, daß er seine Behauptung sich immer wieder lautlos vorsagte. Der Zorn, den ich vorhin gespürt hatte, war verflogen, weggespült von einer Welle der Zuneigung. – In meinem Leben war ich immer auf Ausgleich und Kompromiß
bedacht gewesen, und ich war um so stolzer über die Entdeckung, daß mein Sohn mehr Willens- und Charakterstärke mitbekommen hatte, als sein Vater und seine Mutter zusammen. May kam in die Küche zurück und setzte sich wieder. Es sah aus, als schämte sie sich etwas – hinter dem Goldschleier ihrer Sommersprossen. »Ich habe ein Beruhigungsmittel genommen«, erklärte sie. »O? Ich dachte, es wäre alle.« »War es auch. Dr. Pitman ist heute nachmittag kurz vorbeigekommen. Er hat mir welches dagelassen.« »Hattest du ihn angerufen?« »Nein – er war bei einem Nachbarn und wollte nur sehen, wie es mir geht. Er ist sehr, sehr nett, seit ... seit ...« »Seit deine Mutter gestorben ist – May, du mußt dich allmählich an diese Vorstellung gewöhnen.« Sie nickte stumm und fing an, den Tisch abzuräumen. Sie hatte ihr Essen kaum angerührt. »Mami?« Sammy zupfte sie am Ärmel. Meine Muskeln spannten sich. Ich wartete nur darauf, daß er mit der Geschichte wieder von vorn anfing, aber es war etwas anderes. Seine sonst so roten Bäckchen waren plötzlich kreidebleich, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Ich schnellte von meinem Stuhl hoch, gerade noch rechtzeitig, um ihn aufzufangen, bevor er umkippte.
2 Bob Pitman war schon damals, als er mich sicher zwischen den Klippen der Kinderkrankheiten hindurch-
gesteuert hatte, ein weißhaariger netter alter Herr mit Apfelbäckchen gewesen, und er schien sich in der Zwischenzeit kaum verändert zu haben. Er lebte allein in einem großen altmodischen Haus, trug seine altmodischen dunklen Anzüge, von der obligaten Weste pendelte die ebenso obligate goldene Uhrkette; er spielte Schach, wann immer es seine Zeit zuließ, und er trank seinen eigens importierten, unverschnittenen schottischen Whisky. Der Anblick, wie seine großen kantigen Hände mit den breiten flachen Fingernägeln Sammys Körper abtasteten, beruhigte mich schon, noch bevor er aufstand und sein Stethoskop zusammenlegte. »Der Junge hat etwas gegessen, was ihm nicht bekommen ist«, sagte er und zog die Decke wieder bis zu Sammys Kinn hoch. »Aber er wird doch wieder gesund werden?« fragten May und ich gleichzeitig. »So sicher, wie es wieder regnen wird.« »Gott sei Dank.« May ließ sich in einen Sessel fallen. Ich wußte, daß sie an ihre Mutter gedacht hatte und an die Möglichkeit, daß Sammy uns genauso schnell und ohne Warnung verlassen könnte. »Sie ruhen sich auch besser etwas aus.« Dr. Pitman sah sie mit der ihm eigenen freundlichen Strenge an. »Unser Sammy wird die Nacht über gut schlafen. Und Sie sollten es auch versuchen. Nehmen Sie noch eine von den Tabletten, die ich Ihnen heute morgen gegeben habe.« Ich hatte glatt vergessen, daß er ja heute morgen schon einmal dagewesen war. »Wir scheinen Sie heute den ganzen Tag in Anspruch zu nehmen, Doktor.«
»Ich würde es lieber so auslegen, daß Sie mir etwas Bewegung verschafft haben. Die Leute scheinen zur Zeit unheilbar gesund zu sein.« Er bedeutete uns, jetzt Sammy in Ruhe zu lassen und sagte: »Ich werde morgen früh anrufen.« May war noch nicht restlos beruhigt. Die Tatsache, daß sich Sammy eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte, war für sie ein fast unannehmbarer Vorwurf, zumal sie in der Küche auf peinlichste Sauberkeit achtete. »Aber was könnte denn Sammy gegessen haben, Doktor? Wir haben doch alle dasselbe gegessen, und uns fehlt gar nichts.« »Das ist schwer zu sagen. Als er sein Essen erbrach, haben Sie da irgend etwas bemerkt? Beeren oder fremdartige Süßigkeiten?« »Nein, nichts dergleichen«, sagte ich. »Und es ist ja auch nicht gesagt, daß man so etwas gleich erkennen könnte, oder?« Ich legte meinen Arm um Mays Schultern und hoffte, daß sie sich etwas beruhigte. Aber sie war ganz verkrampft vor Nervosität. Ich dachte plötzlich, wenn Sammy etwas zustieße – eine tödliche Krankheit oder ein Unfall – May würde daran zerbrechen. Wir Menschen des 20. Jahrhunderts denken nicht daran, unsere Kinder etwas zurückhaltender zu lieben. Wir halten es für selbstverständlich – unsere Vorfahren waren sich da längst nicht so sicher, daß unsere Kinder groß werden und erwachsen, als sei dies die einfachste Sache auf der Welt. Der Arzt blieb noch ein paar Minuten – verbreitete Zuversicht mit seinem Nicken, seinem Lächeln und Schnauben –, bevor er uns allein ließ. Als ich mit May im Bett war, schmiegte sie sich in meine Armbeuge, aber sie fühlte sich wohl trotz dieser Vertraulichkeit
einsam und verlassen, und es dauerte lange, bis sie eingeschlafen war. Obwohl sie so schwer eingeschlafen war – oder vielleicht gerade deswegen – wachte sie am nächsten Morgen nicht auf, als ich früh aus dem Bett stieg. Ich ging in Sammys Zimmer und sah sofort, daß etwas nicht stimmte. Sein Atem ging flach und schnell, wie der eines jungen Hundes, der zu schnell gelaufen ist. Ich ging an sein Bett. Er war ohne Bewußtsein, sein Mund stand weit offen, und seine Stirn war heißer, als ich es je bei Menschen für möglich gehalten hätte. Kalte Angst krampfte meine Eingeweide zusammen, als ich ans Telefon stürzte und Dr. Pitmans Nummer wählte. Ich überlegte noch, ob ich nicht May wecken sollte, aber sie konnte Sammy ja auch nicht helfen. Im Gegenteil, ich befürchtete, sie würde höchstens selbst durchdrehen. Ich wollte sie so lange schlafen lassen wie möglich. Mir kam es endlos lange vor, bis Dr. Pitman sich meldete. »Hier ist Dr. Pitman.« Seine Stimme klang schläfrig. »Ja, hier spricht George Ferguson. Sammy geht's sehr schlecht. Könnten Sie sofort herkommen?« Ich stotterte etwas ins Telefon, was ich für eine Beschreibung der Symptome hielt. »Ich werde sofort bei Ihnen sein.« Die Schläfrigkeit war blitzschnell aus seiner Stimme verschwunden. Ich hängte ein, ging zur Haustür, öffnete sie, damit der Arzt sofort hereinkonnte, wenn er kam, ging nach oben und setzte mich auf den Rand vor Sammys Bett. Sein Haar klebte an der Stirn, und jeder seiner Atemzüge wurde von einem Röcheln in seiner Kehle be-
gleitet. Mein Denken war wie zerhämmert von den Sekunden, die ich zählte. Eine schwarze Ewigkeit war vergangen, bis ich endlich Dr. Pitmans Schritte auf der Treppe hörte. Er kam ins Zimmer geeilt – so hastig, unordentlich gekleidet und mit ungekämmtem Haar hatte ich ihn noch nie gesehen –, er sah Sammy kurz an und nahm ihn dann mitsamt dem Bettzeug in die Arme. »Lungenentzündung«, sagte er knapp, »der Junge muß sofort ins Krankenhaus.« Irgendwie brachte ich es fertig, etwas dazu zu sagen. »Lungenentzündung? Aber gestern sagten Sie doch, er hätte etwas Falsches gegessen.« »Es ist Bar nicht notwendig, daß da ein Zusammenhang besteht. Diese Art von Lungenentzündung tritt zur Zeit da und dort in unserer Gegend auf.« »Soll ich einen Krankenwagen rufen?« »Nicht nötig, ich werde ihn selbst in die Klinik fahren. Die Straßen sind so früh am Morgen noch ziemlich leer, und wir gewinnen Zeit.« Er trug Sammy mit erstaunlicher Leichtigkeit zur Tür hinaus. »Warten Sie, ich fahre mit.« »Es wäre gescheiter, wenn Sie inzwischen das Krankenhaus anrufen würden, damit alles vorbereitet ist, wenn ich ankomme. – Was macht Ihre Frau?« »Sie schläft – sie weiß es noch gar nicht.« Ich hatte May tatsächlich vergessen. Er hob die Augenbrauen und blieb am Treppenabsatz stehen. »Rufen Sie zuerst das Krankenhaus an und sagen Sie, daß ich unterwegs bin – dann wecken Sie Ihre Frau. Sie soll sich nicht zu sehr aufregen – und Sie auch nicht! Ich habe ein Sauerstoffgerät im Wagen. Wenn wir Sammy erst einmal dort auf der
Intensivstation haben, dürfte es ihm gleich wieder besser gehen.« Ich nickte dankbar und sah zu, wie der Arzt mit Sammy die Treppe hinunterging. Sammys Kopf lehnte kraftlos an seiner Brust. Dann ging ich ans Telefon und rief das Krankenhaus an. Die Leute, mit denen ich dort sprach, schienen sympathisch und flößten mir Zuversicht ein. Als ich das erledigt hatte, stürzte ich hinauf ins Schlafzimmer, um May zu wekken. Sie war schon wach und saß auf dem Bettrand. »George?« Ihre Stimme klang ängstlich. »Was ist los?« »Sammy hat Lungenentzündung. Dr. Pitman bringt ihn gerade ins Krankenhaus, dort wird man am allerbesten etwas für ihn tun können.« Während ich sprach, zog ich mich fertig an und betete zum Himmel, daß sie die Nachricht gefaßt aufnehmen würde. Auch sie war aufgestanden und zog sich langsam an, mechanisch, abwesend, fast wie eine Puppe. Als ich ihre Augen sah, dachte ich, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, sie hätte aufgeschrien oder irgendein anderes spontanes Gefühl gezeigt. Wir gingen hinunter zum Auto, fröstelnd im dicken Grau des Oktobermorgens, und fuhren zum Krankenhaus. Nach der ersten Biegung fiel mir ein, daß ich die Haustür offen gelassen hatte, aber ich wendete nicht mehr. Vielleicht hatte ich sie sogar absichtlich offen gelassen in der Hoffnung – eher einer Art Aberglauben –, man würde uns berauben und damit die Aufmerksamkeit des Schicksals von Sammy ablenken. Es war wenig Verkehr auf den Straßen, aber ich fuhr trotzdem nicht schnell. Ich konnte mich unmöglich auf etwas anderes als auf Sammy konzentrieren. May
saß neben mir und sah zum Fenster hinaus. Sie machte ein Gesicht wie ein Kind, das nur widerwillig aus den Ferien zurückkehrt. Ich war überrascht, als wir auf das Klinikgebäude einbogen, daß Dr. Pitmans blauer Buick auch eben unter das Vordach des Haupteingangs fuhr. Nach meiner Schätzung hätte er schon vor mindestens zehn Minuten da sein müssen. Mays Finger gruben sich in meinen Arm, als sie das weiße Bündel sah, das von einem Pfleger aus dem Wagen gehoben und ins Haus getragen wurde. Ohne die Schilder zu beachten, die das Parken hier nur für Ärzte erlaubten, stellte ich auch meinen Wagen direkt vor den Haupteingang. In der Empfangshalle war es noch dunkel. Kein Zeichen von Sammy, aber Dr. Pitman wartete auf uns. »Sie sind ja jetzt erst angekommen«, fuhr ich ihn vorwurfsvoll an. »Was hat sie denn aufgehalten?« »Beruhigen Sie sich, George. Wenn Sie sich aufregen, wird bestimmt nichts besser.« Er führte uns zu einigen Sesseln. »Ich bin nicht aufgehalten worden, wie Sie vielleicht denken –, ich konnte nur mit einer Hand steuern. Mit der anderen habe ich die Sauerstoffmaske halten müssen.« »Es tut mir leid, es war nur ... Wie geht es ihm?« »Er atmet, und das ist die Hauptsache. Eine Lungenentzündung kann man nie ernst genug nehmen – besonders nicht diese spontane Abart, die sich neuerdings hier ausbreitet, aber wir haben allen Grund zur Hoffnung.« May hatte sich bei diesen Worten etwas aufgerichtet. – Ich glaube, sie hatte wohl schon das Schlimmste befürchtet. Mir kam es allerdings so vor, als versuchte Dr. Pitman uns so schonend wie möglich auf das Äu-
ßerste vorzubereiten. Solange ich ihn kannte, hatte er einem immer fest in die Augen gesehen, aber jetzt wich er meinem Blick aus. Wir warteten noch lange, um etwas über Sammys Befinden zu erfahren, und ein paarmal bemerkte ich, daß Dr. Pitman mich anstarrte. In seinen Augen war dabei ein seltsam gequälter Ausdruck. Ich glaube, auch er war froh, als endlich einer der Stationsärzte kam und mit dem ganzen Nachdruck seiner Autorität May davon überzeugte, daß es für jeden der hier Anwesenden, sie eingeschlossen, das beste wäre, sie warteten zu Hause.
3 Zu Hause war es sehr einsam. Ich hätte May nicht dazu überreden können, sich schlafen zu legen. Sie saß da und hatte das Telefon auf dem Schoß, als wartete sie darauf, daß sich Sammys Stimme meldete. Ich hatte Kaffee und belegte Brote gemacht, aber sie wollte nichts essen. Irgendwie war auch mir der Appetit vergangen. Stückchenweise kam die Dunkelheit ins Zimmer gekrochen, sammelte sich in Winkeln und Nischen – ich dachte, ich müßte hinaus unter freien Himmel. May nickte abwesend, als ich ihr sagte, ich ginge etwas spazieren. Bevor ich hinausging, knipste ich überall im Wohnzimmer das Licht an. Aber als ich von draußen nochmals einen Blick auf das Haus zurückwarf, hatte sie das Licht wieder ausgelöscht. Mach nur so weiter! schimpfte ich leise vor mich hin. Sitz nur da im Dunkeln herum –, das wird ihm recht viel nützen!
Mein Zorn war im Nu verraucht, als ich mir überlegte, daß May ja die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Wo ich schon resigniert, meinen eigenen Sohn verraten hatte, indem ich nicht zu hoffen wagte, er würde wieder genesen. Ich ging sehr schnell, aber ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Ich versuchte an etwas Alltägliches zu denken, wie lange ich schon nicht mehr in meinem Zeichenbüro gewesen war, ob das Projekt, an dem ich gerade arbeitete, ein anderer weiterführen konnte ... aber es gelang mir nicht. Das Gesicht meines Jungen tauchte immer wieder vor mir auf, und mein gelegentliches Schluchzen klang peinlich laut durch die geisterhafte Stille in den Straßen. Ich weiß nicht, was mich schließlich zu dem alten Guthrie-Haus geführt hatte – vielleicht bestand eine Verbindung zwischen ihm und den dunklen Mächten, denen Sammy ausgeliefert war. Ich stand auf einmal davor. Am Ende einer kleinen Sackgasse ragte es düster vor mir auf. Es sah genauso aus wie zu jener Zeit, als ich noch zur Schule ging. Das fahle Licht der Straßenlampen fiel vereinzelt auf mit Brettern vernagelte Fenster, auf durchgerostete, herabhängende Dachrinnen und rohe Holzläden, die Wind und Wetter mit einer silbergrauen Patina überzogen hatten. Ich versuchte, das Ganze so nüchtern wie möglich zu betrachten, fühlte aber doch noch kleine Echos jener atemlosen Spannung herüberklingen, die dieser geheimnisumwitterte Ort in meiner Jugend in mir hervorgerufen hatte. Meine Vermutung, daß das Haus renoviert und wieder bewohnt wäre, hatte sich als falsch erwiesen. Ich war der unproduktiven und stets Verwirrung stiftenden Einbildungskraft meines Sohnes also ganz schön auf den Leim gegangen.
Gerade als ich wieder gehen wollte, sah ich eine frische Autospur in dem nassen, vermoderten Laub, das die Anfahrt zum Haus bedeckte. Ich dachte mir eigentlich nichts dabei, denn jeder, der hier vorbeifuhr, konnte leicht aus Neugier einen Abstecher machen und sich den alten Schuppen näher ansehen, aber ... Ich sah aber plötzlich Äpfel an einem Apfelbaum, der hinter dem Haus stand. Die Äpfel erschienen wie sanfte gelbe Flecken in der schwarzen Silhouette des Baums. Ich starrte sie lange an und fragte mich, warum mir dieser Anblick so merkwürdig vorkam. Die Antwort fand ich bald. Bei dieser Entfernung von der Straße dürfte man die Apfel eigentlich nicht erkennen können –, dazu war das Licht der Straßenlampen zu schwach. Aber man konnte sie sehen wie kleine, weit entfernte Lampions. Offenbar waren die Äpfel von einer näher gelegenen Lichtquelle angestrahlt. Diese Anwendung eines Gesetzes der Optik, wonach die Helligkeit mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, bescherte mir die erstaunliche Erkenntnis, daß auf der Rückseite des Guthrie-Hauses ein Fenster erleuchtet sein mußte. Im Nu war ich wieder der kleine Junge von damals – ich wollte weglaufen. Aber in meiner Erwachsenenwelt gab es keinen Ort mehr, wohin ich mich hätte flüchten können und – ich war doch neugierig, was in dem alten Haus wirklich vor sich ging; denn Sammy durfte man eigentlich schon glauben, daß er etwas gesehen hatte, wenn er es behauptete. Aber alte Leute auf hohen Stühlen? Über einem Teppich aus faulem, feuchtem Laub ging ich entschlossen und mutig auf das Haus zu. Der modrige Geruch von Verwesung und Verfall stieg mir in die Nase, und als
ich mich an der Längsseite des Hauses weiter tastete, wurde es immer dunkler, je weiter ich aus dem Bereich der Straßenlaternen kam. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß hinter diesen abbröckelnden und zerfallenden Mauern noch jemand leben sollte. Gewiß hatte jemand das Licht brennen lassen – vielleicht schon vor Wochen. Vielleicht war jemand vom Grundstücksamt dagewesen. Ich ging um einen Abfallhaufen herum und stand endlich an der Rückfront des Hauses. Bei einem der Parterrefenster hatte sich auf einer Seite ein Brett gelöst und dadurch war eine kleine dreieckige Öffnung entstanden, aus der blaßgelber Lichtschein drang. Ich blickte vorsichtig hinein. Der Raum war von einer einzigen nackten Glühbirne erleuchtet, etwa acht Lehnstühle standen herum – und in jedem saß ein alter Mann oder eine alte Frau. Die meisten lasen Zeitung – eine Frau strickte. Mein Blick hatte zuerst die ganze Szene überflogen, dann blieb er erschreckt an dem nur allzu bekannten Antlitz der Frau hängen, die dem Fenster am nächsten in ihrem Sessel saß. Sammy hatte recht –, es war das Gesicht seiner verstorbenen Großmutter. Und nun nahm der Alptraum seinen Lauf. Wir beide, der kleine furchtsame Junge in mir und der erwachsene George Ferguson, waren uns einig, daß wir hier in etwas Entsetzliches, Ungeheuerliches hineingestolpert waren und daß ein Adrenalinstoß mein Herz bis zum Hals schlagen ließ. Aber wie in einem Alptraum war ich unfähig, etwas anderes zu tun als mich immer weiter dem Zentrum dieses Schreckens zu nähern. Ich starrte immer nur diese alte Frau an, ihr grobknochiges Gesicht, die Geschwulst unter dem
linken Ohr, die Art, wie sie ihre Zeitung hielt –, all das schien eindeutig zu beweisen, daß es tatsächlich Mays Mutter war, Mrs. Marta Cummins, die vor mehr als zwei Wochen plötzlich an einer Gehirnembolie gestorben war und die man im Familiengrab beigesetzt hatte. Ohne mir über die Folgen meines Handelns Gedanken zu machen, hob ich die rechte Hand, griff durch die kleine Öffnung zwischen den Brettern und klopfte leicht an das staubige Fenster. Es war nur ein ganz schüchternes Klopfen, und keiner der Alten schien das schwache Geräusch gehört zu haben, doch kaum eine Sekunde später hob einer der Männer kurz den Kopf, als er die Zeitung umblätterte. Ich erkannte ihn: es war Joe Bryant, der Hausmeister von Sammys Schule. Er war vor einem Jahr an Herzschlag gestorben. Gab es eine Erklärung? Ich konnte keine entdecken, aber ich mußte mit der Frau sprechen, die Mays Mutter zu sein schien. Ich wandte mich von dem Fenster ab und ging zum Hintereingang, ein großes schwarzes Rechteck neben dem Fenster, vor dem ich gestanden hatte. Er war abgesperrt und mit einem Vorhängeschloß gesichert. Eine Ölschicht auf dem Bügel verriet mir, daß es in bestem Zustand war. Ich ging weiter und versuchte es an einem kleinen Fenster, das vermutlich zur Küche ging. Auch dieses war mit Brettern vernagelt. Als ich probeweise an einem der Bretter zog, bewegte sich mit einem dumpfen Geräusch der ganze Fensterstock, und als ich noch fester zog, hatte ich plötzlich den Eisenrahmen in den Händen. Das Holz des Fensterstocks war schon zu verfault, als daß die
Schrauben gehalten hätten. Das ganze Unternehmen hatte mehr Lärm gemacht, als ich erwartet hatte –, aber im Haus blieb es ruhig, und ich lehnte den Fensterrahmen gegen die Wand. Mein Verstand rebellierte gegen das, was ich jetzt vorhatte. Ich benutzte den Rahmen als Leiter und stieg durchs Fenster auf eine metallene, schmierige Oberfläche, die sich als die Platte eines altmodischen Küchenherds entpuppte. Mein Feuerzeug warf einen silbernen Funkenregen ins Dunkel, als ich es anknipste, aber die blaue Gasflamme gab kein Licht, bei dem ich hätte etwas sehen können. Ich riß ein paar Blätter aus meinem Notizbuch und zündete sie an. Die Küche war ein einziges, verrottetes Durcheinander und, soweit ich sehen konnte, nicht in Gebrauch, eine Tatsache, die meine Vorsicht wesentlich gesteigert hätte, hätte ich nur darüber nachgedacht. Ein kurzer Korridor schien zu dem Raum zu führen, in dem das Licht brannte. Ich zündete noch ein paar Blätter aus meinem Notizbuch an und ging auf die Tür zu. Jedesmal, wenn ein Bodenbrett knarzte oder eine herabhängende Tapete meine Schulter streifte, blieb ich wie angewurzelt stehen. Bald konnte ich unter der Tür den hellen Schimmer wahrnehmen. Ich legte meine Hand auf den Türgriff, und wohl aus Angst, ich könnte mir im letzten Moment die Sache anders überlegen, stieß ich die Tür mit einem kräftigen Ruck auf. »Ich bin's George«, hörte ich mich wie aus weiter Entfernung sagen. »Was ist denn hier los?« Sie stand auf, und ihre Lippen bewegten sich. »Nigi olon prittlé o czanig Sovisess!« Bei dem letzten Wort sprangen die anderen auf – mit erstaunlich elastischen, kraftvollen Bewegungen.
»Mrs. Cummins?« sagte ich, »Mr. Bryant?« Die Alten legten ihre Zeitungen weg und kamen auf mich zu. – Ich sah, daß ihre Füße nackt waren. Ich ging rückwärts zum Korridor hinaus und schüttelte ungläubig den Kopf, dann drehte ich mich um und wollte wegrennen. Käme ich überhaupt schnell genug durch das schmale Küchenfenster wieder hinaus? Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich schüttelte sie ab und lief in eine andere Richtung. Das Licht aus der offenstehenden Tür hinter mir zeigte mir den Weg. Links war wieder eine Tür. Sie ging leicht auf, und ich stand in einem völlig dunklen Raum. Ich warf die Tür hinter mir zu, glücklicherweise steckte innen der Schlüssel, und ich drehte ihn um. Die Tür erzitterte, als mit einem schweren Gegenstand von draußen dagegen geschlagen wurde, und eine dünne, hohe Frauenstimme setzte zu einem nervenzerreißenden Jammern an. Ich tastete nach dem Lichtschalter und knipste ihn an, aber es blieb dunkel. Ich fürchtete mich, einen Schritt weiter zu gehen. So blieb ich stehen und starrte in die Dunkelheit, die sich wie ein feuchtes Tuch um mein Gesicht legte. Da fiel mir ein schwacher Duft nach Suppe oder Brühe auf; ich spürte, daß es in diesem Raum wärmer war als in den anderen. Ich nahm an, daß ich mich in einem Zimmer an der Vorderseite des Hauses befand. Wenn ich nur das Fenster finden könnte. Die Tapete neben dem Lichtschalter fühlte sich lose an. Ich zog daran und konnte die ganze Bahn herunterreißen. Während das Hämmern an der Tür immer heftiger wurde, rollte ich die Tapete zu einer Fackel zusammen und zündete es an. Das trockene Papier brannte sofort lichterloh. Ich hielt
die Fackel über den Kopf und sah, daß ich mich in einem großen, quadratischen Raum befand. Eine ganze Wand war vollgestellt mit elektronischem Gerät. Fast den ganzen übrigen Raum nahm ein etwa hüfthoher Tank ein. Der schwache Suppengeruch schien von der dunklen Flüssigkeit im Tank auszugehen. Ich blickte hinein und entdeckte etwas, das halb untergetaucht mit dem Gesicht nach oben in der Flüssigkeit schwamm. Es hatte etwa die Größe eines siebenjährigen Jungen, und das sich schon auflösende Gesicht hatte eine Ähnlichkeit mit ... Nein! Ich schrie und schleuderte die Fackel weit von mir. Ich wollte nichts mehr sehen – nichts gesehen haben. Die Fackel war an die gegenüberliegende Wand geprallt, und die losen Tapetenfetzen hatten sofort Feuer gefangen. Ich lief um den Tank herum an ein Fenster, riß einen der morschen Vorhänge herunter, wikkelte ihn mir um die Hand und schlug die Scheibe ein. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich die Bretter losgebrochen hatte, mit denen das Fenster von außen zugenagelt war. Mit einem Satz war ich draußen. Ich rannte so schnell, daß ich kaum den Boden unter den Füßen fühlte, und der schwarze, feuchte Nachtwind schien mich noch mehr anzutreiben. Als ich mich endlich – ein paar Häuserblocks weiter – wieder umzudrehen wagte, sah ich, daß der Himmel über dem alten Guthrie-Haus rot war und ein Funkenregen mit dem Rauch nach oben wirbelte.
4 Wie soll jemand eine Erfahrung, wie ich sie eben gemacht habe, verarbeiten? Es gab einige Besonderheiten in diesem Alptraum, mit denen mein Verstand nicht zurechtkam. Ich hatte mein planloses Davonrennen aufgegeben und war auf dem Nachhauseweg, als ich in der Ferne die ersten Feuersirenen hörte. Ich konnte es doch nicht leugnen, daß ich einen Brand verursacht hatte, bei dem vielleicht gerade in diesem Moment ein paar alte Menschen ums Leben kamen – aber irgendwie fühlte ich mich gar nicht schuldig. Im Gegenteil, ich war der Überzeugung, hätte ich diesen Brand nicht zufällig verursacht, wäre es meine Pflicht gewesen, ihn zu legen – um die Welt von etwas zu befreien, das kein Recht hatte, auf ihr zu leben. Ich glaube nicht, daß meine Überzeugung irgend etwas mit Religiosität zu tun hatte. Der furchtbare Schrekken hatte die Aura des Übernatürlichen, von dem die vorangegangenen Ereignisse immerhin noch umgeben waren, gründlich zerstört. Ich hatte eine Art elektronischer Anlage gesehen – fremdartig im Aussehen, aber trotzdem eindeutig erkennbar – und ich hatte ein Ding schwimmen sehen – in einem Tank, der mit einer warmen, organisch riechenden Flüssigkeit gefüllt war. Und dieses Ding sah genauso aus ... Nein! Dieser Gedanke führte geradewegs in den Wahnsinn. Unerträgliche Qualen. Was war mir noch begegnet? Granny Cummins war tot – aber auch sie hatte im Hinterzimmer des alten, leerstehenden Hauses gesessen und eine Spra-
che gesprochen, die mit keiner, die ich je gehört hatte, auch nur im entferntesten vergleichbar war. Und Joe Bryant, tot schon seit einem Jahr, auch er hatte dort unter der nackten Glühbirne gesessen. Mein Sohn lag schwerkrank im Krankenhaus, und er ... Nein! Mein Denken zuckte vor dieser Ungeheuerlichkeit zurück und tastete ein neues Bild ab, das von Dr. Pitman. Er war dabeigewesen, als Granny Cummins starb, und ich war fast sicher, daß er auch der Hausarzt der Bryants war. Er war heute morgen zu Sammy gekommen. Am Tag vorher war er schon in meinem Haus gewesen, vielleicht gerade als Sammy damit hereingeplatzt kam, daß er im Guthrie-Haus alte Leute gesehen hätte. Ein weiteres Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf, – das eines langläufigen 22er »Target«-Revolvers, der in einer Schublade in meinem Zimmer lag. Ich ging etwas schneller. Als ich unser Haus erreichte, war mein erster Eindruck, May sei weggegangen. Aber sie saß immer noch auf genau demselben Platz im völlig dunklen Wohnzimmer. Ich sah auf die Uhr und konnte kaum glauben, daß erst vierzig Minuten vergangen waren, seit ich das Haus verlassen hatte. Länger hatte es nicht gedauert, daß sich für mich die Wirklichkeit auflöste, in Trümmer zerbrach, verfaulte. »May«, rief ich durch die offene Tür. »Hat jemand aus dem Krankenhaus angerufen?« Eine lange Pause. »Nein.« »Soll ich Licht machen?« »N-nein.« Das war mir auch ganz recht so, denn in der Dunkelheit fiel es nicht auf, daß mein Anzug mit Blut und
Dreck verschmiert war. Ich hatte mich tatsächlich am Fenster geschnitten. Ich ging die Treppe hinauf, vorbei an Sammys quälend leerem Zimmer, und direkt ins Bad. Ich wusch mich kalt, tupfte etwas Jod auf meine Wunden, klebte Pflaster darüber und zog mich um. Der 22er »Target« mit seinem großen, genau der Hand angepaßten Griff war eigentlich keine Waffe, die man unter dem Anzug tragen konnte. Ich konnte sie Gott sei Dank so weit links in meinen Hosenbund schieben, daß die Jacke noch einigermaßen darüberging. Ich ging wieder die Treppe hinunter. Vor der Tür zum Wohnzimmer zögerte ich ein wenig, bevor ich May sagte, daß ich noch einmal wegginge. Sie gab keine Antwort. Anscheinend war es ihr gleichgültig, was ich tat. Wenn Sammy starb, wäre es auch ihr Tod – natürlich kein physischer oder klinischer, aber doch ein ebenso sicherer Tod. Das bedeutete, daß zwei Leben, an denen mir sehr viel lag, davon abhingen, wie ich in der nächsten Stunde handelte. Draußen schien die nächtliche Atmosphäre mit einemmal fiebrig und aufgeregt. Die Straßen waren voller Autos und Fußgänger, Kinder rannten dazwischen herum, alles war in Richtung auf das gigantische Feuerwerk unterwegs – dankbar, weil es nichts kostete und weil es aus einem der üblichen langweiligen Vorstadtabende ein Ereignis machte. Zwei Häuserblocks weiter südlich, im alten Guthrie-Haus, war ein Inferno ausgebrochen, das sich in den Fenstern der Nachbarschaft golden und bernsteinfarben spiegelte. Das zundertrockene Holz explodierte in Funkenkaskaden, die schöner waren als jedes Feuerwerk an irgend einem Festtag. Eine Horde kleiner Jungen, die hinter mir angerannt kam, jauchzte vor Begeiste-
rung, und in irgendeinem Winkel meines Denkens verdichtete sich die Gewißheit, daß ich einen großen Beitrag zum Legendenschatz der Jugend dieser Stadt geleistet hatte. Denn heute nacht würde eine neue Legende geboren und in einer endlosen Kette immer wieder weitergegeben werden von den Zehnjährigen an die Fünfjährigen: Die Nacht, in der das alte GuthrieHaus abbrannte. Dr. Pitman wohnte etwa eine Meile von uns entfernt. Ich würde fast genauso schnell zu Fuß dort sein, wie mit dem Auto, und es war weniger auffällig. Ich ging wie ein Automat und versuchte die Wirklichkeit und den Alptraum in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. Nach etwa zehn Minuten war ich vor dem Haus des Arztes. Sein Buick war vor dem Eingang geparkt, und im oberen Stockwerk brannte Licht. Ich blickte mich vorsichtig um. Das Feuer war von hier aus weiter entfernt, und die Leute nahmen davon offenbar viel weniger Notiz. Ich ging die dunkle Auffahrt hinauf und näherte mich der Haustür. Ich hatte meinen Fuß noch nicht auf der Treppe, als die Tür aufgerissen wurde und Dr. Pitman herausstürzte. Noch im Laufen zog er sich den Mantel an. Ich griff nach meinem Revolver, aber es bestand kein Anlaß, ihn zu ziehen, denn der Arzt blieb sofort stehen, als er mich sah. »George!« Er sah besorgt aus. »Was führt Sie zu mir? Ist es wegen des Jungen?« »Sie haben es erraten.« Ich stieß ihm meine Hand vor die Brust und schob ihn in den beleuchteten Hausflur zurück. »Was soll das?« Er stemmte sich mit erstaunlicher Kraft gegen meine Hand, und ich mußte alle Kraft
aufwenden, um ihn von mir wegzudrücken. »George, es ist mir völlig unverständlich, was Sie hier tun.« »Sie haben Sammy krank gemacht, und Sie werden ihn wieder gesund machen, sonst bringe ich Sie um.« »Aber George! Was soll das? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht die Nerven verlieren.« »Ich bin nicht übergeschnappt.« »Es ist die Aufregung ...« »Seien Sie still!« schrie ich ihn an. Ich war nahe daran, nun tatsächlich die Kontrolle über mich zu verlieren. »Ich weiß, daß Sie Sammy krank gemacht haben, und ich werde dem ganzen Spuk ein für allemal ein Ende bereiten.« »Aber warum sollte ich ...?« »Weil ich im Guthrie-Haus war und zuviel gesehen habe – deswegen.« Ich stieß ihn nochmals vor die Brust, und er trat einen Schritt zurück. »Im Guthrie-Haus! Nein, George, nein!« Bis zu diesem Augenblick war ich schon fast so weit gewesen, einen Rückzieher zu machen. Ich dachte, daß ich vielleicht vor lauter Aufregung doch zu weit gegangen sei. Aber als ich sah, daß sein Gesicht plötzlich eine schlaffe, graue Maske wurde, wußte ich, daß ich recht hatte. Die Kraft war aus seinem Körper gewichen, er schien mir mit einemmal kleiner und älter zu sein. »Ja, im Guthrie-Haus.« Ich schloß die Tür hinter mir. »Was haben Sie damit zu tun, Doktor?« »Hören Sie, George, ich kann mit Ihnen jetzt nicht darüber sprechen – ich habe aber gehört, daß hier in der Nähe ein Feuer ausgebrochen ist, und ich muß dorthin. Meine Hilfe wird gebraucht.« Dr. Pitman hatte sich wieder gefangen, er war wieder die alte
Autorität, als die ich ihn kannte, und er versuchte, mich beiseite zu schieben. »Sie werden zu spät kommen«, sagte ich und versperrte ihm den Weg. »Das Haus brennt wie eine Fackel. Ihr Labor, wenn es das war, ist beim Teufel.« Ich machte eine kleine Pause und sah ihm in die Augen. »Sie sind alle beim Teufel.« »Ich, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Von den merkwürdigen Dingen, die Sie da machen, den Dingen, die wie Menschen aussehen, aber keine sind, weil die wirklichen Menschen längst tot sind. Die sind jetzt alle fort, Doktor – verbrannt.« Ich verschoß meine Munition einfach so aufs Geratewohl aber ich hätte schwören mögen, daß einiges davon genau ins Mark getroffen hatte. »Ich war dort, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und ich werde es der ganzen Welt erzählen – Sammy ist jetzt nicht mehr der einzige, der es gesehen hat. Sein Tod wird nichts mehr vertuschen helfen. Können Sie mich hören, Doktor?« Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging die breite, mit einem Teppich belegte Treppe hinauf. Ich griff wieder nach dem Revolver, verwarf den Gedanken zum zweitenmal und rannte hinter ihm her. Ich erwischte ihn, als er gerade den obersten Treppenabsatz erreicht hatte. Er schlug meine Hände zur Seite. Mit aller Kraft gelang es mir, ihn gegen die Wand zu drücken. Mit dem Unterarm preßte ich ihm die Kehle zu. Ich wollte die Wahrheit aus ihm herausquetschen, gleichgültig, was dabei passieren würde. Er wand sich aus meinem Griff, ich packte ihn wieder, und wir verloren beide das Gleichgewicht und stürzten kopfüber die Treppe hinunter. Zweimal
während des Sturzes fühlte ich, hörte ich, wie Knochen brachen. Gut zehn Sekunden lag ich still unten am Boden, bis ich sicher war, daß es nicht meine Knochen waren, die gebrochen waren. Ich stützte mich auf einem Arm auf und sah in das Gesicht von Dr. Pitman. Seine Lippen und Zähne waren mit Blut verschmiert. Einen Augenblick lang stiegen Zweifel in mir auf. Er war schließlich ein alter Mann ... Angenommen, er hatte wirklich kein Wort davon verstanden, was ich gesagt hatte ... »Jetzt haben Sie es geschafft, George«, flüsterte er. »Sie haben uns ausgelöscht.« »Was meinen Sie damit?« »Ich möchte, daß Sie mir eins glauben ... Wir haben nie jemand etwas zuleide getan ... Dafür haben wir selbst zuviel Leid kennengelernt ...« Er mußte husten, und eine durchsichtige, scharlachrote Blase blähte sich zwischen seinen Lippen. »Was reden Sie da?« »Es sollte eine sehr stille, eine beiläufige Invasion werden ... eine Invasion auf Raten ... Invasion ist auch nicht das richtige Wort dafür ... keine Eroberung oder Vertreibung ... im physikalischen Sinn ist eine Reise von unserer Welt völlig ausgeschlossen ... Wir haben unheilbar Kranke, endgültige Fälle beobachtet ... Duplikate hergestellt und sie ausgetauscht ... So konnten auch wir ein normales Leben führen, ein beinahe normales Leben ... für eine Weile ... bis der Tod uns einholte ...« »Dr. Pitman«, rief ich verzweifelt, »Sie sind nicht bei Sinnen!« »Ich bin nicht der echte Dr. Pitman ... der ist schon vor vielen Jahren gestorben ... Er war unser erstes
Objekt in dieser Stadt ... Ein Arzt ist immer das geeignetste Objekt für unser ... Ich wurde skordiert – ihr habt kein Wort dafür in eurer Sprache – übertragen, in ein Duplikat seines Körpers ...« Der Boden schien unter meinen Füßen zu schwanken. »Das heißt ... Sie sagen, daß Sie von einem anderen Planeten kommen?« »Es ist so, George.« »Aber um Himmels willen, warum denn? Wie kann irgend jemand ...« »Seien Sie dankbar, daß Sie sich die Umstände nicht einmal vorstellen können, die dieses Projekt ... wünschenswert gemacht haben.« Sein Körper bäumte sich unter plötzlichen Schmerzen auf. »Ich verstehe immer noch nicht ... Warum stellen Sie Duplikate von den Körpern Sterbender her, wenn dann nicht mehr dabei herauskommt, als daß ihr für den Rest eures Lebens in einem alten Haus eingesperrt seid?« »Es verläuft gewöhnlich anders ... Substitution – und dann Integration ... der Sterbende scheint sich zu erholen ... nur der Duplikationsprozeß braucht seine Zeit ... manchmal stirbt das Objekt zu schnell zu Hause, und wir haben keine Möglichkeit mehr, seinen Platz einzunehmen ... und ein Zurück gibt es nicht ...« Ich erstarrte, als die Halle mit einem Mal in gleißendes Licht getaucht wurde. Dann hörte ich das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies. Der Mann, den ich als Dr. Pitman kannte, schloß die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Es hörte sich so verzweifelt endgültig an. »Aber was ist mit Sammy?« Ich schüttelte seinen schlaffen Körper. »Sie haben mir nichts über meinen
Sohn gesagt.« Die Augen öffneten sich wieder langsam, und hinter all den Schmerzen, die aus seinem Blick sprachen, sah ich so etwas wie Mitgefühl – Freundlichkeit. »Es war von Anfang an ein Fehler gewesen, George.« Seine Stimme klang wie von sehr weit her, je mehr er sich anstrengte zu sprechen. »Ich wußte nicht, daß er sich dort herumgetrieben hat ... wir sind nicht wie ihr – immer schlechte Organisation ... nald denbo sovisegg ... tut mir leid ... Ich hatte nichts mit seine. Krankheit zu tun ...« Draußen wurde eine Autotür zugeworfen. Ich wollte weglaufen, aber da war noch eine Frage, auf die ich unbedingt eine Antwort haben mußte. »Ich war in dem alten Haus. Ich habe auch den Tank gesehen ... und etwas ... und etwas, – das wie ein Junge aussah. Soll das heißen, daß Sammy sterben wird? Daß Sie ihn austauschen wollten?« »Sammy wird schon wieder hochkommen, George ... obwohl – ich hatte wenig Hoffnung am Anfang ... Ich habe Sie und May nicht so lange gekannt wie Dr. Pitman, aber es hat mich sehr gefreut ... Ich wußte, daß May den Verlust nicht ertragen würde, so habe ich alles für eine Substitution vorbereitet ... vorsichtshalber, wissen Sie, Kleye nurr ... jetzt nicht mehr nötig ... Sammy wird schon wieder ...« Er versuchte zu lächeln, aber ein Blutstrom brach zwischen seinen Lippen hervor. Die Türglocke läutete schrill. Ich starrte den alten, müden, zerbrochenen Mann an, und trotz allem, was vorgefallen war, spürte ich seltsamerweise so etwas wie – Bedauern. In welche Hölle war er wohl hineingeboren worden? Welche Umstände konnten jemand dazu bringen, eine solche
Reise zu unternehmen, wie er es getan hatte – dieses Schicksal in Kauf zu nehmen. Die Glocke läutete wieder, und ich öffnete die Tür. »Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte ich zu dem Fremden, der auf der Treppe stand. »Dr. Pitman scheint die Treppe hinuntergestürzt zu sein. Ich glaube, er liegt im Sterben.«
5 Es war schon ziemlich spät, als mich der Streifenwagen vor meinem Haus absetzte. Alle Fenster im Haus waren hell erleuchtet. Ich dankte dem Leutnant, der mich vom Leichenschauhaus, wohin sie den toten Dr. Pitman gebracht hatten (ich konnte ihn mir einfach unter keinem anderen Namen vorstellen), nach Hause gefahren hatte, und eilte über den weißen Beton des Gartenwegs zur Tür. Das Licht im ganzen Haus schien mir ein Zeichen dafür zu sein, daß Mays Stimmung umgeschlagen hatte, aber ich fürchtete mich vor zuviel Hoffnung, denn ... »George!« May empfing mich schon an der Tür. Sie war angezogen, als ob sie ausgehen wollte. Ihr Gesicht war immer noch blaß, aber sie strahlte. »Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen? Ich habe überall versucht, dich zu erreichen. Die Klinik hat vor einer halben Stunde angerufen. Sammy geht's besser, und er will uns unbedingt sehen. Ich habe das Auto schon aus der Garage geholt. Soll nicht lieber ich mich ans Steuer setzen? Stell dir vor, wir dürfen zu ihm, und ich ...« »Langsam, May, nicht so schnell.« Ich nahm sie in
die Arme und fühlte, wie die Aufregung ihren schmalen Körper spannte. Ich ließ sie die ganze Geschichte von vorn erzählen. Eifrig berichtete sie von neuem, wie dramatisch Sammys Reaktion auf die Drogenbehandlung verlaufen war, und daß er jetzt bei vollem Bewußtsein sei und nach seinen Eltern verlangte. Der Chefarzt sei bereit, die Besuchsregelung etwas großzügiger auszulegen und uns für ein paar Minuten zu unserm Jungen zu lassen. Als May das alles erzählte, war es mir, als ginge ein Regen von glückverheißenden Sternschnuppen vor meinen Augen nieder. In der nächsten Minute waren wir schon im Wagen und auf dem Weg zur Klinik. Draußen stieg ein dicker Mond sanft wie Kerzenlicht über die Dächer, die Bäume rauschten leicht wie im Schlaf, und der rote Schein über dem Guthrie-Haus war erloschen. May saß am Steuer und fuhr mit freudiger Zuversicht. Es war seit Stunden das erstemal, daß dieser entsetzliche Druck verschwunden war. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und merkte, daß ich noch immer den Revolver im Hosenbund stecken hatte. Die ganze Zeit über, als ich mit der Polizei sprach, hatte sich der Griff in meine Rippen gebohrt. Dummerweise hatte ich die Waffe links, an Mays Seite, und es würde mir wahrscheinlich nicht gelingen, sie unbemerkt ins Handschuhfach zu legen. Ich schämte mich jetzt, daß ich sie mitgenommen hatte. Außerdem wollte ich May nicht beunruhigen, nach allem, was sie durchgemacht hatte, und so ließ ich sie lieber, wo sie war. Dann kam mit einemmal die Müdigkeit. Ich schloß die Augen und ließ mich von der Flut der Gedanken und Erinnerungen davontragen.
Wenn man alles zusammensetzte, was Dr. Pitman in Bruchstücken angedeutet hatte, dann war das eine unglaubliche Geschichte; und doch hatte ich den entsetzlichen Beweis mit eigenen Augen gesehen. Allein die Vorstellung, daß eine Gruppe fremder Wesen als Duplikate verstorbener Menschen im einem schmutzstarrenden Raum eines verfallenen Hauses zusammenhockte und geduldig auf den Tod wartete, war absurd; die Erinnerung an Granny Cummins, daß ich sie zwei Wochen nach ihrem Tod wiedergesehen hatte, würde mir nicht so schnell aus dem Sinn gehen. Sie, das Duplikat, hatte mich erkannt. Die Technik dieser Fremden mußte unglaublich weit fortgeschritten sein. Sie waren offenbar sogar in der Lage, die Zusammensetzung der Gehirnzellen zu kopieren. Möglicherweise würde alles, was sie auf unsere Welt brachten, Verbesserung sein. Starb ein Mensch an Krebs – das Duplikat wäre krebsfrei. Alte, verbrauchte Muskeln würden wieder Kraft gewinnen. – Dr. Pitman und alle, die im Haus waren, hatten sich ja mit verblüffender Leichtigkeit bewegt. Aber hätten sie sich nicht auch aus dem Feuer befreien können? Vielleicht standen sie unter einem Gesetz, das es ihnen strikt verbot, das Haus zu verlassen, selbst wenn ihr Leben auf dem Spiel stand, solange es keine Möglichkeit gab, sich ohne Aufsehen in unsere Gesellschaft einzugliedern. Wahrscheinlich hatten die Fremden tatsächlich eine Art Moralkodex, dachte ich, aber durfte ich es zulassen, daß sie ungehindert unsere Gesellschaft durchsetzten? Wußte ich denn, wie weit diese Infiltration schon fortgeschritten war? Es hieß, Dr. Pitman sei das erste Objekt gewesen, in dieser Stadt. Sollte das etwa heißen, daß
sich die Invasion auf den ganzen Staat erstreckte? Auf das ganze Land? Auf die ganze Welt? Und dann war noch die Frage ihrer Dichte. Der Sterbende hatte noch gesagt, daß die Substitution unmöglich war, wenn das Objekt plötzlich zu Hause starb. Waren dann etwa die Kliniken auch schon infiltriert? Und in welchem Maß? Vielleicht war bald der Tag gekommen, an dem jeder alte – und auch ein Teil der jungen Menschen – Substitution sein würden. Das Licht der vorbeigleitenden Straßenlaternen hinterließ durch meine geschlossenen Lider hindurch rote Schatten auf meiner Netzhaut, und im selben Rhythmus pulsierten meine Gedanken, meine Fragen. Durfte ich überhaupt glauben, was Dr. Pitman über die Absichten der Fremden gesagt hatte? Er war zwar freundlich gewesen, besorgt wegen Sammy und May – aber konnte ich das Mienenspiel, die Gestik eines Wesens richtig interpretieren, das sich unser Äußeres nur ausgeliehen hatte. Eine andere Frage erhob sich, und etwas in meinem Unterbewußtsein begann sich dagegen zu sträuben. Warum hatte mir Dr. Pitman diese ganze phantastische Geschichte erzählt, wenn doch die Geheimhaltung, die Verschwiegenheit das wichtigste an dem ganzen Unternehmen war? Hatte er etwa versucht, mich irgendwie zu beeinflussen, und ich hatte nur noch nicht begriffen, wie? Ich sah wieder Sammys Gesicht, schlaff und willenlos an Dr. Pitmans Brust gesunken, als er ihn die Treppe hinuntertrug. Furcht, größer als jede, die ich bisher kannte, warf ihre Schatten voraus. Ich riß mit Gewalt meine Augen auf. Ich wollte nicht mehr weiter denken. »Du Ärmster, du bist müde«, sagte May. »Du schließt alles so tief in dir ein,
und es kostet dich so viel Kraft.« Ich nickte. Sie macht sich Sorgen um mich. Sie ist wieder glücklich, heiter, zuversichtlich – weil es unserem Jungen besser geht. Sammys Leben ist auch das ihre. May brachte den Wagen zum Stehen. »Wir sind da. Wir dürfen nicht zu lange bleiben. Es ist ein großes Entgegenkommen von Dr. Milligan, daß er uns jetzt noch hereinläßt.« Ich erinnerte mich an Dr. Milligan – er war groß, gebeugt und – alt! Ein zweiter Dr. Pitman? Mir fiel plötzlich ein, daß ich May noch gar nichts von heute abend erzählt hatte. Aber bevor ich mir eine etwas verharmlosende Version zurechtgelegt hatte, war sie schon aus dem Auto gestiegen. Ich beschloß, ihr später davon zu erzählen. Im Gegensatz zur Luft draußen, die durchdringend nach frischem Laub duftete, war die Luft in der Klinik geruchlos. Die Rezeption war nicht besetzt. Ein blonder junger Arzt mit einem verkrüppelten Fuß kam herbeigehumpelt und brachte uns zur Stationsschwester, nachdem wir unseren Namen genannt hatten. Die Schwester, eine stattliche Frau mit rotfleckigen Unterarmen, stieg mit uns in den Aufzug. »Sam macht außergewöhnliche Fortschritte«, sagte sie zu May. »Er ist ein kräftiger kleiner Junge.« »Ich danke Ihnen«, nickte May glücklich. »Danke.« Ich wollte von etwas anderem sprechen, denn Sammy war mir nie besonders kräftig vorgekommen, und der entsetzliche Dschungel der Angst begann mir wieder den Atem zu nehmen. »Wie war die Arbeit heute nacht?« fragte ich. »Ruhig, bis auf ein einziges Mal. Sehr ruhig.« »Ich habe gehört, es hat irgendwo gebrannt.«
»Wir haben nichts davon bemerkt.« »Das ist gut«, sagte ich ausweichend. Wenn die Fremden aus genau denselben biologischen Einheiten wie Menschen bestanden, dann waren ihre Überreste nicht anders als die normaler Menschen, die in einem Feuer umgekommen waren. Da wird der Teufel los sein, sagte ich mir und versuchte verzweifelt, diesen Vorgang weiter zu verfolgen. Aber der schwarze Dschungel wurde immer größer, gefräßiger. Er streckte seine Arme nach mir aus, drohte mich zu verschlingen. Biologische Einheiten – wo kamen sie her? Die schwarze, nach Suppe riechende Flüssigkeit im Tank – war sie synthetischen oder natürlichen Ursprungs? Das Ding, das darin schwamm –, war es ein Körper, der eben zusammengefügt wurde? Oder wurde da ein Körper aufgelöst und dann in eine andere organische Form übertragen? Hatte ich den Leichnam meines Sohnes gesehen? Andere Gedanken stiegen in mir auf, neue Fragen peinigten mich. Dr. Pitman hatte Sammy mit seinem Wagen in die Klinik gefahren und sich unerklärlicherweise verspätet. Offenbar hatte er den Jungen ins Guthrie-Haus gebracht. Aber warum? – Als er starb, hatte er doch gesagt, er habe wenig Hoffnung für Sammy gehabt, er habe May den Schock ersparen wollen und hätte alles für eine Substitution vorbereitet – für alle Fälle. Uneigennützig. Vollkommen uneigennützig? Für wie dämlich hielt mich Dr. Pitman eigentlich. Wenn Sammy eines natürlichen Todes gestorben war, wenn er ermordet worden war und ein Wesen von anderen Sternen seine Stelle eingenommen hatte – ich würde es ihnen sehr schwer machen. Ich würde es in die Welt hinausschreien, ich würde
Brände legen, töten ... Nur mit Mühe konnte ich ein Zittern am ganzen Körper unterdrücken. Die Schwester öffnete die Tür zu einer kleinen Privatstation. In dem abgedunkelten Raum sahen wir Sammy. Er lag friedlich schlafend in einem großen Bett. Das Herz tat mir weh, als ich das Fleisch von meinem Fleisch wiedererkannte. »Sie dürfen eine Minute hinein, aber nur eine Minute – nicht länger.« Die Schwester sah May ins Gesicht, und etwas, das sie darin las, veranlaßte sie, draußen auf dem Korridor zu warten, während wir ins Zimmer gingen. Sammy war blaß, aber er atmete ruhig. Seine Stirn glänzte wie von der Sonne vergoldet. May klammerte sich mit beiden Händen an meinen Arm, als wir neben dem Bett standen. »Es geht ihm besser«, flüsterte sie. »O George – es wäre mein Tod gewesen.« Beim Klang ihrer Stimme begannen Sammys Lider zu flattern, aber er öffnete die Augen nicht. May fing an zu schluchzen – leise und erleichtert. »Aber Liebling, es ist doch alles wieder gut. Schau doch, er wird ja wieder gesund.« »Ich weiß, aber es kommt mir vor, als wäre es meine Schuld gewesen.« »Deine Schuld?« »Ja. Gestern beim Abendessen hat er mich wütend gemacht, als er von meiner Mutter sprach – und ich habe gesagt, er soll – er soll tot umfallen.« »Aber das ist doch Unsinn!« »Ich weiß, aber ich hab's gesagt, und man soll so etwas nie sagen, wenn ...« »Das Schicksal läßt sich nicht so leicht herausfordern«, sagte ich ruhig – wozu ich gar kein Recht hat-
te. »Außerdem hast du es ja nicht so gemeint. Das wissen alle Eltern, daß man so etwas schon manchmal sagt, wenn einem die Kinder zu sehr zusetzen.« Sammy öffnete die Augen. »Mami?« May kniete sich neben dem Bett nieder. »Ich bin da, Sammy! Ich bin da!« »Es tut mir leid, daß ich dich so verrückt gemacht habe.« Seine Stimme klang dünn und benommen. »Aber du hast mich doch gar nicht verrückt gemacht, mein Junge.« Sie nahm seine Hand und preßte sie an ihre Lippen. »Ich hab's getan. Ich hätte nicht sagen sollen, daß ich Großmutter gesehen habe.« Er sah mich an. »Es war alles nur ein dummer Witz, wie Vater gesagt hat. Ich habe Granny Cummins nicht gesehen.« Seine Augen blickten strahlend und wichen meinem Blick nicht aus. Ich trat einen Schritt vom Bett zurück, und die schwarze Dschungelpflanze, die nur gelauert hatte, schloß ihre hungrigen Saugarme um mich. Sammy, mein Sammy hatte das Duplikat von Granny Cummins im alten Guthrie-Haus mit eigenen Augen gesehen, und bei allen Strafen der Welt – oder für alle Süßigkeiten – er hätte es niemals geleugnet. Im Gegensatz zu mir hätte Sammy niemals in seinem Leben klein beigegeben! Wie von allein glitt meine rechte Hand unter die Jacke und legte sich auf den Revolvergriff. Mein Sohn war tot, und das war der Augenblick, ihn zu rächen – jetzt und hier. Aber dann sah ich Mays gebeugte Schultern. Sie bebten. May weinte, weinte vor Erleichterung, und auf einmal begriff ich, warum mir Dr. Pitman diese
Geschichte erzählt hatte. Sonst wären diese makabren Bilder im Guthrie-Haus für mich ewig ein Geheimnis geblieben, hätte ich nicht den Zusammenhang verstanden, hätte ich niemals Ruhe gegeben. Vielleicht wäre ich zur Polizei gegangen, hätte genaue Untersuchungen anstellen lassen, viel Lärm gemacht ... Jetzt wußte ich, daß das erste unschuldige Opfer dieser Handlungen May gewesen wäre – die Wahrheit hätte sie umgebracht. Genauso gut hätte ich ihr eine Kugel durch den Kopf schießen können. Meine Hand ließ den Revolvergriff wieder los. Sammys Leben, dachte ich, ist ihr Leben. In gewisser Hinsicht ist es gar nicht so schlecht, Kompromisse zu schließen, es macht das Leben leichter – nicht nur für einen selbst, sondern für alle, die es mit dir teilen. May lächelt jetzt sehr viel, sie ist glücklich und stolz darüber, wie Sammy gewachsen ist – ein hübscher, aufgeweckter vierzehnjähriger Junge. In der Asche des Guthrie-Hauses hatte man »menschliche« Überreste gefunden, was in unserer kleinen Stadt neun Tage lang einen prächtigen Gesprächsstoff abgab, aber ich glaube nicht, daß May sich noch daran erinnert. Ich sagte schon, sie lächelt sehr viel. Ich denke oft über meinen Sohn nach, selbstverständlich, und manchmal auch darüber, daß, wenn May jetzt sterben sollte, sagen wir mal durch einen Unfall, ich mich nicht mehr gebunden zu fühlen brauchte. Aber die Jahre vergehen, und ich entdecke irgendwo Anzeichen, daß die Menschheit Schaden nimmt durch diese stille Invasion. Soviel ich feststellen konnte, blieb sie nur ein lokales Phänomen, ein
Experiment, das nicht weitergeführt wurde. Und wenn ich mir Sammy so ansehe, wie er ein großer und kräftiger junger Mann wird – er sieht sehr seiner Mutter ähnlich – fällt es mir nicht schwer, mir einzureden, daß ich mich doch gründlich getäuscht haben könnte. Schließlich bin ich ja nur ein Mensch ...
Originaltitel: INVASION OF PRIVACY Copyright © 1970 by Ultimate Publishing Co.
Michael G. Coney WAS WOHL AUS DEN McGOWANS GEWORDEN IST? 1 Der Frühling auf Jade war eine makellos schöne Jahreszeit. Aber hier waren eigentlich alle Jahreszeiten schön. Die Luft war klar und unbewegt, der Himmel azurblau, mit einem kaum merklichen Dunstschleier davor, und die Hügel in der Ferne sahen aus wie die aus Gold getriebenen Brüste einer ruhenden Frau über dem grünen Samt der Ebene. Richard Nevis sah das alles vom Fenster seines Holzhauses aus. Sie hatten gerade gegessen, er war angenehm satt und hatte sich seinen Stuhl vors Fenster geschoben. Sandra räumte das Frühstücksgeschirr vom Tisch. Nach einer Weile wandte er seinen Blick vom Fenster und sah ihr zu, wie sie geschäftig hin- und herlief und das Geschirr im Spülbecken stapelte. »Das Gras kommt schon ganz schön heraus«, bemerkte er und war erstaunt, daß ihm seine Stimme in dieser Stille unangenehm laut vorkam. Sandra stand neben ihm. Sie hatte die Hand auf seine Schulter gelegt und sah auf die Ebene hinaus – den breiten, smaragdgrünen Streifen, der nur durch das McGowan-Anwesen unterbrochen wurde, etwa zwei Meilen von ihrem Haus entfernt. »Es scheint über Nacht zu kommen.«
Noch vor vierzehn Tagen war dieselbe Ebene eine sandige einförmige Wüste gewesen. Schön, mit Rotund Gelbtönen, die in der Mittagssonne aufglühten, aber eben eine Wüste. Die Jahreszeiten wechselten sehr schnell auf Jade. »Dieses Jahr wird es wieder mehr als genug geben.« Sein Blick glitt voll Besitzerstolz über das Land, dann sah er nachdenklich das Anwesen der McGowans an. »Ich möchte nur wissen, was aus den McGowans geworden ist.« »Vermutlich sind sie zur Erde zurückgekehrt«, sagte Sandra. »Manche Leute sind eben so. Zuerst sind sie ganz begeistert von den Werbebroschüren, unterschreiben den Vertrag und kaufen das Land, und wenn sie dann hier sind, gefällt es ihnen nicht. Die Arbeit ist ihnen hart, oder es ist ihnen zu wenig los, zu ruhig. Und dann verkaufen sie's wieder – mit Verlust. Entweder geben sie es zurück an die Erschließungsgesellschaft, oder sie veräußern es an einen privaten Interessenten.« »Findest du, daß es hier zu ruhig ist?« fragte er besorgt. Als er unterschrieben hatte, war er froh gewesen, daß er wenigstens Nachbarn hatte, und bei der Ankunft war seine Enttäuschung groß, als er sah, daß die versprochenen McGowans einfach nicht da waren. Sandra lachte. »Wir sind jetzt gut über ein Jahr hier. Wenn ich es zu ruhig gefunden hätte, hätte ich es dir schon gesagt.« Aber es war wirklich sehr still hier. Auf Jade lebten keine Tiere, keine Vögel. Es gab kein Hufgetrappel, keine Vogelstimmen, die die Luft erfüllen. Draußen kam man sich vor, als wenn man sich die Ohren mit
einer dicken Decke umwickelt hätte. Deswegen sang Richard auch sehr oft vor sich hin, wenn er draußen war. So hatte er die Gewißheit, daß es wenigstens einen Menschen auf diesem Planeten gab. Es waren aber wohl mehrere hundert Vertragspartner der Jade-Erschließungsgesellschaft, die sich in den Tälern und entlang der Küsten des einzigen Kontinents auf Jade angesiedelt hatte. Allerdings war ihre Gegenwart kaum spürbar, denn dazu waren die Entfernungen zu groß, und jeder hatte auf seinem Hof nach dem Rechten zu sehen. Darüber hinaus gab es ja schließlich das Radio. Anfangs waren er und Sandra noch Abend für Abend davorgesessen und hatten aufmerksam zugehört und sich manchmal mit den Menschen jenseits der Hügel und an der Küste unterhalten, Neuigkeiten ausgetauscht. Aber nach einiger Zeit war dieser Zeitvertreib auch langweilig geworden. Warum sollte man vorgeben, nicht allein zu sein, wenn um einen herum tatsächlich nichts als Einsamkeit war. Sandra war schwanger, und in ein paar Monaten würde der Arzt kommen und ihr helfen, das Baby auf die Welt zu bringen. Vor drei Monaten war er das erstemal zur Visite dagewesen, und Richard war zuerst erstaunt und dann wütend gewesen, als der Helikopterlärm in ihre Stille einbrach. Er hatte sich danach oft gefragt, wie Sandra und er es nur ausgehalten hatten, in dem Maschinenlärm und Schmutz auf der Erde zu leben. Er stand auf und gab Sandra einen Kuß. »Ich schau mal zu Daisy hinüber.« Er hätte genauso gut den ganzen Tag hier im Sessel vor dem Fenster verbringen können. Nachdem aus-
gesät war, gab es wenig Arbeit im Frühjahr. Daisy stand im Schuppen hinter dem Haus. Sie sah einer großen Metallschachtel ähnlich, etwa eineinhalb Quadratmeter groß, und war in einer Art KolonistenStandardgrau lackiert. Sandra hatte sie nach einer Kuh getauft, die sie einmal gekannt hatte. Daisy sah unmöglich aus im Schuppen – wie ein mechanischer Eindringling in der anheimelnden Holzkonstruktion des Schuppens und den aufgestapelten Heuballen. Selbst die Mähmaschine, mit ihren Rostflecken wie vom Wetter gegerbt, sah mehr nach Gebrauch aus, gehörte eher in diese ländliche Umgebung als diese Metallschachtel. Richard zwickte die Drähte um einen der Heuballen auf und schaufelte mit einer langen Heugabel das lockere Heu in einen großen Trichter auf Daisys Dach. Dann schaltete er Daisy ein. Sie begann ruhig zu summen, als würde sie zufrieden verdauen, dabei schaufelte er immer mehr Heu nach. Nach einer Weile leuchtete eine rote Lampe zwischen den Skalen und Knöpfen an ihrer Vorderseite auf. Richard lehnte die Heugabel an die Wand, schaltete die Input-Kontrolle der Maschine ab und fing an, an den Skalen zu drehen – Suppe, Schinken mit Rühreiern, Aprikosenkompott und einen Krug Milch für Sandra. Dann drückte er den Ausgabeknopf und zapfte für sich einen Plastikbecher voll Orangensaft ab, wobei er – zum wievielten Male eigentlich schon? – wünschte, Daisy könnte auch Bier herstellen. Aber anscheinend war die Vorbereitungszeit dafür zu groß, und es rentierte sich nicht. Aber Sandra hatte immerhin schon aus Daisys synthetischem Grapefruitsaft Wein hergestellt.
Als nächstes sah er die Mähmaschine nach, überprüfte den Ölstand und schmierte alle beweglichen Teile sorgfältig mit einer Schmierpistole nach. Es war wichtig, daß der Mäher in gutem Zustand blieb, denn er hatte ihn von der Jade-Erschließungsgesellschaft mit einem Leasingvertrag bekommen. Sollten sie jemals Jade verlassen wollen, wollte er die Maschine ja wieder zu einem vernünftigen Preis verkaufen, und er glaubte nicht, daß die Gesellschaft sich sehr aufgeschlossen zeigen würde, wenn er ihr mit einem Haufen Schrott ankam. Außerdem waren Ersatzteile teuer. »Richard, wo zum Teufel bleibst du denn?« Sandra stand am Eingang zum Schuppen. Ihr braunes Haar leuchtete wie ein Heiligenschein in der Sonne, aber ihr Gesichtsausdruck kam ihm nicht ganz geheuer vor. »Ich sehe eben den Mäher nach. Wieso, was gibt's denn?« »Weißt du, wie spät es ist?« »Halb zwölf, denke ich.« »Es ist zwei vorbei, und wir haben noch nicht gegessen. Was hast du denn die ganze Zeit über gemacht?« Verwundert schob Richard mit dem Handrücken den Ärmel zurück, denn er hatte ölige Hände von der Arbeit. Sie hatte recht. Auf seiner Uhr standen die Zeiger auf Viertel nach zwei. War er denn während der Arbeit eingeschlafen, hatte er gedöst, war er Tagträumen nachgehangen, hatte er so getrödelt? Er konnte sich an nichts dergleichen erinnern. »Tut mir leid, Liebling.« Er drückte auf ein paar von Daisys Knöpfen und nahm dann das Tablett mit dem Essen aus dem Aus-
gabeschacht. »Wenn einmal Ernte ist, wirst du es dir nicht mehr leisten können, so herumzutrödeln.« Richard seufzte. Sie würde heute wieder ihren schlechten Tag haben. Schwangere Frauen hatten oft solche Tage. Im Augenblick noch ganz oben, und im nächsten schon ... Ein Mann wußte da nie, wie er gerade dran war. Während des Essens steigerte sich ihre schlechte Laune noch mehr. Sie behauptete strikt das Gegenteil von dem, was sie heute morgen gesagt hatte. »Warum machen wir das eigentlich alles? Warum sind wir überhaupt hier? Manchmal wünschte ich mir schon, wir wären wieder auf der Erde, bei unseren Freunden. Ich habe überhaupt keine Freunde hier. Den ganzen Tag stehe ich in diesem Haus. Es ödet mich an. Was war mit den McGowans los? Das möchte ich wirklich einmal wissen!« Ganz theatralisch deutete sie in Richtung des McGowan-Anwesens. »Ich will dir sagen, was war. Sie hat's nicht mehr ausgehalten, und sie hat ihn soweit gebracht, mit ihr wieder zurückzufahren. Und was haben wir davon gehabt, daß wir hier sind? Jadegras! Und wir leben auch noch davon – wie das Vieh! Ich möchte wissen, wo das alles noch hinführen soll.« Richard hatte während der ganzen Tirade wohlweislich den Mund gehalten. Aber ihre letzte Frage, die sie mit einer bedeutungsvollen Pause beendet hatte, verlangte wohl eine Antwort. »Mit dem Jadegras, das wir der Gesellschaft verkaufen, legen wir uns immerhin ein ganz hübsches Bankkonto an.«
»Und wozu soll das gut sein? Hier gibt es ja nichts, wofür man Geld ausgeben kann.« Richard hörte ihr gelassen zu, wie sie ihrem Unmut Luft machte, und es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder beruhigte. Das war bisher immer so gewesen, vorausgesetzt, er ließ sich mit ihr auf keinen Streit ein. Und wie gewöhnlich mußte sie auch bald über sich lachen. »Tut mir leid, Dick«, sagte sie und lächelte. »Es ist eben mein Zustand.« »Aber das macht doch nichts. Es tut dir sicher ganz gut, wenn du Dampf abläßt.« Sie lachte. »Ich hab übrigens heute morgen selbst nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Ich muß regelrecht eingedöst sein. Dann hab ich auf die Uhr geschaut, und es war zwei Uhr. Ich dachte, jetzt ist der Vormittag vorbei, und ich habe noch nichts getan ... und dann habe ich mir einen Sündenbock gesucht und einen gefunden. Tut mir leid, Liebling.« Komisch, dachte Richard, als er nachmittags über die frischen Wiesen ging, die Zeit vergeht wie im Flug. Jetzt sind zwei Jahre vergangen, man hat ein paar Tausender auf der Bank – und zwei Jahre weniger zu leben. Wenn man so dachte, war es ein Zeichen, daß man alt wurde. Von jetzt an werde ich jede Sekunde meines Lebens leben, jede Sekunde. Er atmete tief, fühlte sich gesund und beschloß – das wievielte Mal schon? – das Rauchen aufzugeben. Dann schlug er den Weg zum Anwesen der McGowans ein. Der Drahtzaun, der sein Land von dem der
McGowans abgrenzte, war niedergerissen, und der blanke Draht wand sich silbern durch das Gras. Da die McGowans anscheinend nicht mehr hier waren, hatte er auch nicht mehr daran gedacht, den Zaun wieder zu reparieren. Drüben wuchs das Gras fast noch besser als bei ihm, stellte er mit einem Anflug von Neid fest. Bei der Ernte würde er ihr Gras mitmähen. Er würde ganz schön dabei profitieren. Es wäre ja schade, wenn man es verkommen ließe. Sollten die McGowans jemals wieder zurückkehren, könnte er ihnen Geld dafür anbieten – abzüglich seines Arbeitslohns natürlich. Vor dem Haus der McGowans stand eine kleine Baumgruppe. In ihrem Schatten setzte er sich hin und betrachtete das Haus. Es war größer als das seine und noch in gutem Zustand, obwohl es schon zwei Jahre verlassen war. Vielleicht wird eines Tages mein Sohn dieses Land übernehmen, und wir werden die beiden Ländereien gemeinsam bewirtschaften ... Er mußte über sich selbst lächeln. Schon wieder ein Zeichen, daß er alt wurde, so weit vorauszublicken. Er stand auf und ging in Richtung Süden, immer entlang der Grenze von McGowans Land, dann entlang der Grenze seines Landes, als er wieder heimwärts ging. Jenseits seines Zauns war der Boden sandig, unbewachsen, nur ein paar dünne Grasbüschel hier und dort. Von hier bis zu den Hügeln war kein Spezialgras (der Samen war in langen Versuchen von der Jade-Entwicklungsgesellschaft erprobt worden) ausgesät worden. Das Gras der McGowans war vor zwei oder mehr Jahren ausgesät und in der ganzen Zeit nicht gemäht
worden. Wenn man dieses Gras hätte ... Sein Lächeln verging ihm, als er auf die Uhr sah. Es war 7 Uhr, und der Himmel wurde schon dunkel. Es sah ganz so aus, als würde er bei Sandra wieder in Ungnade fallen.
2 Der Hubschrauber des Arztes kam mit seinen großen wirbelnden Blättern über die Ebene hereingeflogen und setzte mit einer Behendigkeit vor dem Haus auf, die sogar Richard imponierte, der dieses Manöver ängstlich von der Veranda aus verfolgte. Der Arzt sprang aus dem Hubschrauber und eilte mit eigenartig hüpfendem Gang über die Wiese. Er nahm Richards Hand und schüttelte sie flüchtig als sei er in größter Eile. »Wie geht es ihr?« fragte er kurz. Es hörte sich an wie Geschnatter. Richard sah ihn erschrocken an. Der Zustand des Arztes schien sich rapide verschlechtert zu haben, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine Bewegungen wirkten hastig und unkonzentriert, seine Hände und die Muskeln seines Gesichtes zuckten nervös. Der Gedanke, daß dieser Mann Sandras Baby auf die Welt bringen sollte, gefiel ihm gar nicht. »Sie ist im Schlafzimmer«, sagte er. »Möchten Sie einen Drink? Wir haben etwas selbstgemachten Wein. Vielleicht nehmen Sie einen Schluck, er wird ihnen sicher gut tun.« Der Arzt sah ihn seltsam an. »Nein, vielen Dank. Nicht jetzt. Aber vielleicht
später. Mir geht es übrigens ganz gut.« Er eilte ins Schlafzimmer. Richard goß sich ein großes Glas voll, setzte sich hin und wartete. Er hielt nichts davon, wenn die Väter zusehen, wie ihre Babys zur Welt kommen. Er war von seiner Rolle als Erzeuger so eingenommen, daß er glaubte, das Wesentlichste dazu beigetragen zu haben, und hielt es nicht für nötig, daß er sich vom Fortgang der Dinge überzeugte. Die letzten Wochen waren ohne größere Ereignisse vergangen. Das Gras war gewachsen, ein- oder zweimal hatte er den Motor des Mähers angelassen, um sicher zu sein, daß alles in Ordnung war. In einem Monat etwa, rechnete er, würde es soweit sein. Mit dem Gras von den McGowans zusätzlich, so hatte er sich überlegt, würde er heuer mindestens 75% der Ernte verkaufen können. Und das bedeutete einen ganz schönen Zuwachs auf seinem Bankkonto. Es war alles in bester Ordnung. Aber diese Augenblicke, in denen er sich selbst auf die Schulter klopfte, vergingen gewöhnlich rasch, und er hatte auf einmal Angst. Was ging im Schlafzimmer vor sich? War da alles in Ordnung? Er sprang auf und begann hin- und herzugehen, bemerkte ärgerlich, wie albern und stereotyp sein Verhalten war, ging hinaus in die Sonne und starrte auf den makellosen smaragdgrünen Teppich, der von seinen Füßen bis hin zu den fernen Hügeln reichte. Er beschloß, zur Erinnerung an diesen Tag ein paar Bäume zu pflanzen. Es gab nämlich kaum Bäume auf Jade, und wenn es heiß wurde, konnte sich Sandra in ihren Schatten setzen. Begehrlich blickte er zu den Bäumen vor dem McGowan-Haus hinüber, aber den
flüchtigen Gedanken, sie zu stehlen, verwarf er wieder. Sie waren schon viel zu groß, um sie noch zu verpflanzen. Er würde sich von der Erde ein paar Apfelbäume schicken lassen – ja, richtig, das war das beste. Richtiges Obst und dazu den Schatten zu einem Preis, den er sich leisten konnte. Der Sommer versprach gut zu werden. Er hörte, wie die Schlafzimmertür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und rannte sofort ins Haus. In dem dunklen Raum konnte er zuerst nichts erkennen. Der Arzt stand vor der Schlafzimmertür. »Wie geht es ihr?« platzte Richard heraus. Der Arzt klopfte ihm auf die Schulter. »Es geht ihr gut«, schnatterte er, und seine Lider blinzelten merkwürdig rasch. »Sehr gut.« »Und das Baby?« »Ein kräftiger Junge, gratuliere.« Er schüttelte Richard die Hand. »Ich glaube, ich könnte jetzt den versprochenen Drink vertragen. Vielen Dank.« »Ja – aber selbstverständlich – gern. Dort drüben.« Richard deutete hinüber, wo Flasche und Gläser standen und überließ es dem Doktor, sich selbst einzuschenken; er eilte ins Schlafzimmer. Sandra saß aufrecht, von Kissen gestützt, im Bett. Ihr langes braunes Haar fiel ihr über die Schultern, und im Arm hielt sie das Baby. »Hallo, Dick«, sagte sie und lächelte verschmitzt, als ob sie nicht zeigen wollte, wie stolz sie war, was ihr aber nicht gelang. Richard gab ihr einen Kuß. »Willst du dir nicht das Baby ansehen?« fragte Sandra.
»O – ja.« Zögernd streckte er seinen Zeigefinger nach dem winzigen, runzeligen Gesicht aus, das wie der Kopf einer ausschlüpfenden Larve aus einem Kokon von Decken hervorsah. »Hübsch«, murmelte er verlegen, »wirklich hübsch. Ich bin so stolz auf dich, Liebling.« Die Runzeln glätteten sich auf einmal, das zornige, dunkle Rot wurde heller, als ob sich das Baby entschlossen hätte, nun doch nicht zu schreien. Richard beugte sich etwas vor. »Es hat aber eine verdammt komische Farbe«, bemerkte er besorgt. »Was?« Jetzt sah auch Sandra genauer hin. »Oh, ich glaube nicht daß wir uns deswegen Sorgen machen müssen.« »Doktor!« rief Richard. Im Handumdrehen war der Arzt im Zimmer. Er hielt noch das Glas in der Hand und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Es sah aus wie das Züngeln einer Schlange. »Was ist los?« »Seine Farbe kommt mir so komisch vor«, sagte Richard vorwurfsvoll. »Seine Haut ist fast so gelb wie die eines Chinesen. Ist das normal, daß er diese Farbe hat? Ihm fehlt doch nichts oder?« Der Arzt lächelte nur kurz und sah das Baby kaum an. »Es ist nicht weiter schlimm – möglicherweise eine leichte Gelbsucht. Das tritt bei Neugeborenen manchmal auf. Kein Grund zur Besorgnis. Im allgemeinen ist es in ein, zwei Tagen wieder vorüber. Wenn es in einer Woche nicht besser wird, rufen Sie mich übers Radio. Dann komme ich vorbei und werde es mir noch einmal ansehen.«
Im Nu war er wieder aus dem Zimmer, das Stakkato seiner Schritte wurde leiser ... Eingangstür ... Veranda ... der Motor seines Helikopters brüllte auf, doch der Lärm verstummte rasch, der Helikopter zog wieder über die Ebene davon. »Er ist fort«, bemerkte Sandra ganz unnötigerweise. »Welch ein seltsamer Mensch.« »Ich hoffe nur, daß er weiß, was er tut.« Richard drückte mit seinem Zeigefinger an dem Baby herum, als ob er ein Stück Braten prüfen würde. »Mein Gott, wir sind hier draußen etwas isoliert. Wir können ja nicht einmal einen Nachbarn um seine Meinung fragen, geschweige denn, daß es hier so etwas wie eine Bezirkskrankenschwester gibt.« »Es wird schon wieder werden«, beschwichtigte ihn Sandra zuversichtlich. »Stephen wird doch wieder gesund werden, nicht wahr? Das wirst du doch, mein kleiner Liebling?« sagte sie zu dem Baby. »Stephen? Stephen?« Er ließ den Namen so richtig auf der Zunge zergehen. »Ein schöner Name. Wo hast du ihn her? Ein früherer Verehrer?« »Dick, um Himmels willen! Du kommst mir vor, als hättest du schon wieder auf leeren Magen getrunken. Das ist doch der Name meines Vaters. Du hast doch wohl nichts dagegen?« »Natürlich nicht. Bin ich vergeßlich!« Er lachte und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Wir haben ja heute überhaupt noch nichts gegessen. Liebling, es tut mir wirklich leid. Was soll ich für dich holen? Hühnerbrühe? Ochsenfleisch mit Minze? Ein großes Glas frischer Milch?« Er gab sich Mühe, bei dem Gedanken daran nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen.
»Aber Dick, ich bin doch nicht krank. Bring etwas Gegrilltes, Schweinefleisch, Erbsen und so weiter – dir wird schon etwas einfallen. Aber für mich nicht viel, bitte.« »Gut.« Er ging hinaus. Draußen mußte er die Augen zukneifen, weil der Staub, den der Helikopter aufgewirbelt hatte, noch immer in der Luft hing. Dann ging er hinüber zum Schuppen zu Daisy. »Es schmeckt mir nicht«, sagte Sandra eine Weile später mit aller Entschiedenheit. Voll Widerwillen sah sie auf das Tablett mit dem Essen. »Es schmeckt mir überhaupt nicht. Wie bin ich bloß darauf gekommen, daß ich gegrilltes Schweinefleisch will? Ich kann es mir gar nicht vorstellen. Himmel, ich habe doch gerade erst die Geburt hinter mir. Weißt du, was ich jetzt gern möchte? Einfach in der Sonne liegen und es mir gut gehen lassen.« »Das ist gar keine schlechte Idee. Ich werde dir draußen einen Platz herrichten.« Er trug das Tablett in die Küche und kippte das Essen in den Konverter. Dann zerrte er eine Matratze von einem unbenutzten Bett und schleppte sie ins Freie. Dort ließ er sie mitten ins Gras fallen. Dann holte er Decken und Kissen und half Sandra hinaus. Sie streckte sich behaglich mit einem zufriedenen Seufzer auf dem improvisierten Lager aus und nahm Stephen zu sich. Ihr Anblick, wie sie sich mit ihrem durchsichtigen Nachthemd in der Sonne räkelte, kam ihm plötzlich merkwürdig fremdartig und peinlich vor. Er machte Anstalten, sie mit einer Decke etwas zuzudecken.
»Nicht«, sagte sie und lächelte. Er ging wieder ins Haus zurück. Das Tablett war noch auf dem Küchentisch, wo er es hingestellt hatte. Wie lange war es her, daß er das letztemal etwas gegessen hatte? Drei Tage? Vier? Er konnte sich nicht genau erinnern. Ihn ärgerte, daß er so völlig das Zeitgefühl verloren hatte. Er beschloß, unter allen Umständen heute abend reichlich zu essen. Er trank den Rest des selbstgemachten Weins aus, der noch im Glas war, und hinterher ein Glas kaltes Wasser. In dem Moment spürte er, daß er Hunger hatte. »Was immer es auch ist«, sagte Sandra, »es scheint ansteckend zu sein.« Es war zwei Wochen später, und sie lagen in der Sonne. Sie hatten sich mittlerweile daran gewöhnt, nackt in der Sonne zu liegen zumal zufällig vorbeikommende Spaziergänger hier wirklich eine einmalige Seltenheit gewesen wären. Stephen lag dick und zufrieden zwischen seinen Eltern. Der Tag war heiß, und es war ihnen gerade recht so. »Man sieht direkt, wie die Sonne wandert«, sagte Richard. Er schaute mit fast geschlossenen Lidern in den blauen Himmel. »Glaubst du, daß wir vielleicht eine neue Art von Sonnenbrand kriegen?« fragte Sandra. »Wir sind doch die letzten Tage immer schrecklich lange draußen gewesen.« »Das war für uns das beste«, versicherte er ihr. Er setzte sich auf und untersuchte die Haut auf seinem Bauch. Sie hatte eine ganz besondere Farbe, ein leichtes Gelb, wie Galle, jedenfalls etwas ganz ande-
res als eine kräftige Sonnenbräune auf der Erde. Sandras Haut hatte dieselbe Farbe wie die Stephens, aber Stephen hatte diese Hautfarbe von Anfang an gehabt. »Es kann nicht von der Sonne kommen«, sagte er. »Denk daran, Stephen ist damit auf die Welt gekommen. Vielleicht hat er uns angesteckt.« »Es ist diese künstliche Nahrung von Daisy«, sagte Sandra mit Entschiedenheit und ging nicht weiter auf Richards Vermutung ein. »Es muß irgendein Farbstoff im Gras sein, der von der Maschine nicht restlos extrahiert wird.« »Möglich«, gab Richard zu. »Das würde auch die Hautfarbe von Stephen erklären. Jedenfalls geschadet hat es uns bis jetzt nicht.« »Nicht geschadet? Und wie kommt es, daß wir überhaupt keinen Appetit mehr haben?« Ihre Stimme klang besorgt. »Und diese ewige Müdigkeit. Ich hab sie, du beklagst dich die ganze Zeit darüber. Dick, mir gefällt das alles ganz und gar nicht. Ich bin schon nahe dran, den Arzt zu holen. Wir müssen doch auf jeden Fall gesund sein, wenn Mutter und Vater zu Besuch kommen.« Richard stöhnte leise. Er hatte versucht, nicht daran zu denken, daß der Besuch von Sandras Eltern bevorstand. Aber sie hatten, bevor sie emigrierten, die Abmachung getroffen, daß Mr. und Mrs. Roberts sie besuchen und eine Zeitlang bei ihnen leben sollten, sobald sie sich niedergelassen hatten. Sonst fahren wir nicht. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß wir uns nie mehr wiedersehen ... Richard hatte der Gedanke, seine Schwiegereltern nie mehr wiederzusehen, eigentlich nicht den geringsten Kummer bereitet. Nur war er so dumm gewesen,
ihr das auch zu sagen. Und Sandra hatte prompt darauf reagiert. Ich verstehe nicht, warum du sie nicht magst. Sie sind ganz begeistert von dir, und sie waren immer sehr gut zu uns. Du verdankst ihnen eine ganze Menge ... Das stimmte ja auch. Aber trotzdem war ihm der Gedanke, daß sie für längere Zeit bei ihnen leben wollten, jetzt noch genauso unerträglich wie am Anfang. Er konnte sich schon genau vorstellen, wie sie auf der Veranda stehen und sich das Land anschauen würden. Sein Schwiegervater, rauh und herzlich: Sehr hübsch hier. Zurück zur Natur und so. Sehr zu empfehlen. Hier gibt es sicher auch eine gute Schule für Stephen in der Gegend. – In welcher Richtung liegt sie? Die Schwiegermutter, vornehm und hochnäsig: Ihr habt doch Kanalisation hier, nehme ich an. Nicht wahr, Sandra-Liebes? O Gott! Und in ein paar Monaten würden sie hier sein. Und auf seine Kosten. Das würde ein schönes Loch in sein Bankkonto reißen. Er stand abrupt auf. »Schon gut, Liebling, ich glaube ja nicht, daß wir irgendein Risiko eingehen sollten. Es wäre weder gut, wenn deine Eltern Grund hätten, uns ewig Fragen zu stellen, noch wenn sie uns hier krank fänden. Hören wir lieber mit dem Sonnenbaden auf. Wir sind nun einmal darauf angewiesen, das zu essen, was wir von Daisy bekommen, aber wir können die Sonne meiden, das gilt besonders für Stephen. Und wenn es mit unserer Haut nicht besser wird, holen wir den Arzt.« Sandra nahm Stephen auf den Arm. »Vielleicht hast du recht.«
»Es kommt einem ganz ungewohnt vor, wieder im Haus zu sein«, sagte sie ein paar Minuten später ganz verwundert. »Irgendwie unnatürlich an so einem schönen Tag. Und es gibt nichts zu tun. Wann wirst du mit der Ernte beginnen, Dick?« »Ich denke, ich mache nach dem Essen einmal eine Probefahrt. Ich möchte mich vergewissern, ob die Maschine auch noch gut im Schuß ist. Und dann werde ich morgen richtig anfangen – oder übermorgen.« Er hatte nicht das Gefühl, daß es eilig war. »Essen?« fragte sie unsicher. »Ja, ich glaube auch, wir müssen versuchen, etwas zu essen.« Später, er fühlte sich noch ganz träge und voll vom Essen, ging er zum Schuppen hinüber und machte die Tore weit auf. Dann kletterte er auf den Mäher und drückte den Anlasser. Mit lautem Keuchen, das in dem engen Schuppen noch lauter klang, sprang der Motor an. Richard lächelte zufrieden und tastete nach dem Ganghebel. Es machte ihm Spaß, die riesige Maschine zu fahren. Auf seinem Sitz, drei Meter über der Erde, kam er sich wie der alleinige Herrscher über den ganzen Planeten vor. Er konnte es kaum erwarten, hinaus ins Grasland zu kommen, um zu sehen, wie die gewaltigen Messer das geschnittene Gras ins Maul der Maschine schaufelten, wo es gepreßt und gebündelt wurde, und wie die fertigen Ballen im weiten Bogen herausgeschleudert wurden, wie leere Flaschen vom Deck eines Ozeanriesen. Er hielt kurz inne, die Hand auf dem Ganghebel. Der Motor hatte nicht den richtigen Klang. Viel zu schrill, als ob er zu wenig Öl hätte und die Kolben
sich bald festfressen würden. Hastig stellte er den Motor wieder ab. Er kletterte von seinem Hochsitz herunter. Der Ölstand stimmte – auch im Getriebe, er konnte nichts entdecken, alles war in Ordnung. Er zuckte mit den Schultern, kletterte wieder auf seinen Sitz, und ließ den Motor von neuem an. Das Motorgeräusch hörte sich eigentlich ganz gleichmäßig an – die Zündung war zweifellos in Ordnung. Vielleicht würde er sie trotzdem bei Gelegenheit etwas nachstellen. Er trat die Kupplung und legte den Gang ein. Als er die Kupplung wieder losließ, sah er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er mußte aus Versehen – es war ihm unerklärlich – den schnellsten Gang eingelegt haben. Die Maschine raste wie von der Tarantel gestochen zu den weit geöffneten Toren des Schuppens hinaus, wurde immer schneller, und er hatte alle Hände voll zu tun, das Steuer mit den Händen festzuhalten. Er sah noch, wie Sandra verwundert aus dem Fenster blickte, aber dann war er auch schon aus dem Farmhof und auf freiem Feld. Und auf einmal machte es ihm auch wieder Spaß, wie sich der Mäher so mühelos durchs hohe Gras manövrieren ließ, – und es war anscheinend eine normale Arbeitsgeschwindigkeit, denn die Ballen wurden ganz regelmäßig von der Maschine herausgeschleudert. Er fuhr in Richtung auf das Anwesen der McGowans zu. Er summte leise vor sich hin, und die scharfen Sichelmesser der Maschine funkelten in der Sonne. Bald tauchten die Bäume, die um das Haus der McGowans standen, vor ihm auf. Er griff
nach dem Ganghebel und wollte herunterschalten, bevor er wendete. Es wäre ja auch peinlich, wenn die Maschine hier draußen, ein paar Kilometer von zu Hause entfernt, stehen bliebe; er würde sie nicht mehr starten können bei dem lockeren Boden, wenn er den ersten Gang nicht erwischte. Der Motor schien etwas zu schlingern, als er die Kupplung durchtrat. Er drückte den Ganghebel langsam in den nächstniederen Gang. Es ging ganz leicht. Überrascht sah er auf das Diagramm an der Schaltung, – irgend etwas schien mit der Anordnung der Gänge nicht zu stimmen, aber er ließ trotzdem die Kupplung los. Der Mäher machte einen gewaltigen Satz nach vorn und preschte mit unglaublicher Geschwindigkeit los. Die Bäume torkelten auf ihn zu wie betrunken. Er warf sich seitwärts von seinem Sitz herunter und landete schmerzhaft auf dem Boden. Der Mäher krachte direkt in einen der Bäume. Er lag benommen auf dem Rücken, und seine Augen waren voll vom Azurblau des Himmels, und in diesem Blau zog die Sonne ihren goldenen Bogen. »Ich werde den Arzt anrufen«, sagte Sandra plötzlich mit Entschiedenheit. »Ach, mir geht's schon wieder besser«, protestierte Richard. Er humpelte zu seinem Sessel und ließ sich hineinfallen, froh, daß seine Füße nicht mehr sein Gewicht tragen mußten. »Es ist ja nicht nur deinetwegen«, sagte Sandra. »Hast du Stephen heute gesehen?« Mit einem Anflug von Schuldbewußtsein stemmte sich Richard wieder aus seinem Sessel hoch. Er hatte
die letzten drei Wochen so viel zu tun gehabt, daß er für die Familie und fürs Haus kaum Zeit gehabt hatte. In der ersten Woche hatte er den Mäher repariert – gar nicht so einfach mit dem bißchen Werkzeug das er hatte, – und dann hatte er sein und McGowans Gras gemäht, es war sowieso fast zu spät gewesen. Außerdem war die ganze Arbeit langsamer vor sich gegangen, weil ihm seine Füße Schwierigkeiten gemacht hatten. Er humpelte mühsam ins Schlafzimmer hinüber, wo Stephen in seinem Bett lag. »Ich bin sicher, daß ihm etwas fehlt«, sagte Sandra. »Er liegt so matt da, manchmal weint er und will keinen Bissen essen. Du weißt doch, seit wir ihn im Haus behalten, geht es ihm immer schlechter. Als ob irgend etwas Ungesundes an dem Haus wäre.« »Unsinn!« Aber Richard machte sich trotzdem Sorgen. Bis vor drei Wochen hatte sich Stephen noch ganz gut entwickelt, trotz seiner gelblichen Hautfarbe. Wenigstens war er sichtlich gewachsen und hatte zugenommen. Aber nun schien es mit ihm bergab zu gehen. »Gut, ruf den Arzt an«, stimmte er zu. »Bei der Gelegenheit kann er auch gleich nach meinen Füßen sehen.« Sandra ging hinaus, aber sie kam sofort wieder zurück und war sehr aufgeregt. »Ich kann den Arzt nicht erreichen, Richard. Ich bekomme überhaupt keine Verbindung. Das Radio spielt verrückt. Es hört sich an, als wäre es gestört.« Das wäre allerdings ernst. Ohne Radio waren sie vollkommen von der Umwelt abgeschnitten – und damit von jeder Hilfe, falls sie welche brauchen sollten.
Richard humpelte so schnell er konnte ins Wohnzimmer hinüber und setzte sich vors Radio. Er drehte langsam an der Skaleneinstellung und horchte genau hin. Das Knistern und Rauschen hörte auf, als er die Einstellung für die Tagesnachrichten gefunden hatte. Was aus dem Lautsprecher kam, hörte sich entfernt wie Musik an, wie ein total verrückter Beat, als ob zum schnellen Ticken einer Uhr jemand ganz hoch und aufgeregt sprechen würde. Oder war das, was er für Stimmen hielt, das schrille Geräusch irgendwelcher Instrumente? »Es klingt fast ein bißchen wie diese alten SteelBands, nicht wahr?« sagte Sandra. »Da stimmt etwas nicht.« Auf einmal hatte er ein sehr merkwürdiges Gefühl im Magen, und die Lungen schienen ihm das Herz zu erdrücken. Dieses Gejaule aus dem Radio war ihm fremd, war beängstigend. Nichts, was auf der Erde aufgezeichnet wurde, konnte so klingen wie das, was er da hörte. Plötzlich verstummte das Geräusch. Aber anstatt der normalen Stimme eines Ansagers, ertönte ein schrilles Zwitschern aus dem Lautsprecher, das in den oberen Lagen sehr stark auf und ab schwankte. »Irgend etwas ist geschehen«, sagte Richard langsam. »Du meinst eine – eine Invasion?« Sandra hatte eine heftige Abneigung gegen Fremde, obwohl es im Umkreis von mehreren Lichtjahren keinen einzigen bewohnbaren Planeten gab. »Ich weiß es nicht. Nein, das kann es nicht sein! Sie hätten sonst sicher irgendeine Warnung durchgege-
ben. Wie oft hörst du eigentlich Radio? Häufig?« »Fast nie. Es ist schon eine Ewigkeit her, seit ich das Ding das letztemal angeschaltet habe. Ich habe einfach nie die Zeit dazu.« »Es hätte also alles mögliche passieren können, und wir wissen nichts davon. Verdammt!« Er schien über irgend etwas nachzubrüten. »Ich werde es noch einmal auf Kurzwelle versuchen«, sagte er endlich und drehte den Schalter herum. Er fand die Frequenz des Arztes und gab sein Rufzeichen durch. Dann wartete er. Das Radio zwitscherte – Pause – wieder ein Zwitschern. »Das ist eine Stimme«, sagte er schweratmend. »Irgendeine Stimme, die spricht. Und ich verstehe nicht, was sie sagt, verdammt nochmal! Um Himmels willen, Sandy, was ist denn da bloß los?« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und starrte das Radio an, als ob es ihm des Rätsels Lösung geben könnte. Lange Zeit saßen sie grübelnd da, dann stand Richard auf. Er stöhnte vor Schmerz, als er auftrat, so weh taten ihm seine Füße. »Ich werde wohl gehen müssen, wenn ich herausbekommen will, was los ist – und vielleicht finde ich jemanden, der nach Stephen sehen kann.« »Aber es ist ein weiter Weg bis zum nächsten Anwesen.« »Ich nehme den Mäher. Es müßte in ungefähr sechs Stunden zu schaffen sein.« Er blickte aus dem Fenster. Die Sonne ging hinter den Hügeln unter, das Anwesen der McGowans war nur ein dunkler Fleck in der Ferne. »Sowie es morgen hell wird, fahre ich.«
»Wir wollen uns mal deine Füße ansehen«, sagte Sandra plötzlich. Jetzt, da die Entscheidung getroffen war, dachte sie sofort ans Praktische. »Wenn irgend etwas mit dem Mäher passiert, wirst du nämlich laufen müssen.« Sie stand auf und ging mit mühsamen Schritten zu dem Medizinschränkchen hinüber. »Du auch?« fragte Richard. »Werden deine Füße auch schlimmer?« »Ich wollte dir nicht noch mehr Sorgen machen, Dick. Du hattest sowieso schon soviel mit der Ernte zu tun. Aber ...«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln, »... ich werde deine Füße versorgen, und du anschließend die meinen. Und dann werde ich mich um Stephens Füße kümmern.« »Sind seine Füße auch nicht in Ordnung?« »Heute morgen sahen sie ganz wund aus. Ich werde ein bißchen Salbe drauftun. Also, herunter mit den Schuhen.« Er legte sich in seinem Lehnstuhl zurück, und Sandra zog ihm die Schuhe aus und dann die Socken. »Vorsichtig«, sagte er, als sie anfing, den Verband abzuwickeln, den er sich am Morgen selbst um die Füße gelegt hatte. Während sie behutsam den Verband abnahm, ließ er sich noch einmal die Ereignisse der letzten Wochen durch den Kopf gehen und versuchte, in all den merkwürdigen Ereignissen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Es gab vielleicht eine ganz einfache Erklärung, die alle diese Rätsel löste, – nur war diese Lösung so verrückt, so schrecklich ... Sein Verstand sagte ihm, daß das unmöglich stimmen konnte. Es war einer der Gründe, warum er Sandra nichts davon erzählt hatte,
– eben weil es so unmöglich schien. Aber der wahre Grund, warum er darüber geschwiegen hatte, war doch der, daß ihm allein schon der Gedanke, es könnte doch möglich sein, Angst und Schrecken einjagte. Und er sah, selbst jetzt noch, keinen Grund, Sandra mit diesem Schrecken zu konfrontieren. Es war doch völlig unmöglich, daß es auf ein und demselben Planeten verschiedene Zeitebenen gab? Und doch schien alles darauf hinzudeuten. Ihre Bewegungen schienen sich immer mehr zu verlangsamen, so daß ihre Maschinen schon zu schnell für sie waren. Und doch, sagte er sich, war es unmöglich, daß das Zeitmaß an ein und demselben Punkt bei verschiedenen Dingen verschieden sein konnte. Der Gedanke war ein Widerspruch in sich selbst. Und doch! Diese Stimmen aus dem Radio ... Er hätte schwören mögen, daß es menschliche Stimmen gewesen waren, nur daß sie irgendwie beschleunigt wurden. Langsam wickelte Sandra den dünnen Musselin ab, der den Verband an der Ferse festhielt, und zog ganz behutsam die Mullbinde ab. Richard stöhnte auf, er hielt sich mit beiden Händen an den Stuhllehnen fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, und er versuchte zu sprechen. Dann sank er ohnmächtig zurück. »O Dick, es tut mir leid – es tut mir ... Um Gottes willen! ...« Sandra starrte entsetzt auf Richards Fußsohle. Die Haut war mit der Mullbinde abgegangen, – das Fleisch schimmerte dunkel und roh, und aus dieser feuchten purpurnen Masse sprossen Tausende von
winzigen weißen Fühlern – wie Keimlinge ... Paradoxerweise war ihre erste Reaktion – Erleichterung, trotz dieses schrecklichen Anblicks, obwohl ihr Mann bewußtlos vor ihr lag und ihr mit Schrecken bewußt wurde, daß auch in ihrem Fleisch eine ähnlich abscheuliche Veränderung vor sich ging. Sie wußte, daß jetzt keiner von ihnen diese Welt je wieder verlassen konnte. Sie, Richard und auch Stephen konnten jetzt endlich dem verzehrenden Verlangen nachgeben, das in den letzten Wochen immer mehr von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie wollte ihre Kleider abwerfen, ins Freie hinausrennen und die heißen Strahlen der Sonne auf ihrem lichthungrigen Körper fühlen.
3 Die Tage vergingen im Flug. Sie saßen vor dem Haus, Tage und Nächte glitten über sie hinweg, sie dachten nicht mehr an die Ernte; sie betraten das Haus nur noch, um immer wieder Gläser mit frischem Wasser zu holen. Die Sonne brannte auf ihre Körper, die langsam eine dunkelgelbe Farbe annahmen; die kühle Nachtluft brachte ihnen für kurze Zeit Linderung, bis die Sonne wieder aufging und – jeden Tag schneller – ihren Bogen über den Himmel zog. Stephen ging es zusehends besser. Er lag ruhig auf einer Decke zu ihren Füßen und wurde mit jedem der vorbeifliegenden Tage kräftiger. Er schien vollkommen zufrieden, er verlangte nach nichts außer in immer kürzeren Abständen ein paar Schluck Wasser – und obwohl er nichts aß, wuchs er, und seine Glieder
wurden kräftig und stark. Eine eigenartige Euphorie hatte von der ganzen Familie Besitz ergriffen. Die drei bewegten sich fast überhaupt nicht mehr, – ja sie hielten es kaum für nötig, noch zu atmen. Richards verlangsamtes Denken beschäftigte sich schon längst nicht mehr mit abstrakten Überlegungen, sondern fast ausschließlich mit seinem fast wollüstigen körperlichen Wohlbefinden. Eines Tages, die Sonne schien sehr heiß, und ihr Licht tat ihnen allen wohl nach einer besonders kühlen Nacht, die ihre Körper mit Tautropfen wie mit Diamanten bedeckt hatte, wollte er Sandra etwas sagen, und sie hatte sich nach ihm umgedreht, um ihm zuzuhören. Er hatte vielleicht zwei Worte gesagt und dann gemerkt, daß es auf Worte gar nicht ankam, und daß sich Sandra sehr bemühen mußte, um zu verstehen, worauf er überhaupt hinauswollte – jedenfalls war es darüber wieder Nacht geworden, und der kühle Tau hüllte sie ein. Er hatte sagen wollen, daß sich seine Füße gebessert hatten. Sie waren nicht mehr wund, und sie taten nicht mehr weh. Als die ersten Abendschatten die beiden Liegestühle erreicht hatten, hatte er sich schwerfällig aufgerichtet und gesehen, daß das Fleisch an den Fußsohlen zugeheilt war, aber die Fühler waren immer noch da. – Es waren jetzt Tausende langer weißer Wurzelfäden. Er verspürte ein unbestimmtes Verlangen, und er war unfähig, es in Worten auszudrücken. Er warf einen Blick zu Sandra hinüber – in einer kurzen Tageslichtspanne –, sie sah ihn an, und er wußte, daß sie verstanden hatte. Aber er konnte seinen Körper nicht mehr dazu
bringen, die nötigen Gehbewegungen auszuführen – hinüber zum Haus, Wasser zu holen, und wieder zurück –, und so ließ er sich wieder in seinen Liegestuhl zurückfallen. Aber das Verlangen wurde stärker – und mit ihm erwuchs ein neues, aber noch undeutliches Wissen, daß es einen anderen, besseren Weg gab, dieses Verlangen zu stillen. Stephen war der erste, der sich bewegte. Sein kindlicher Verstand war noch am wenigsten durch jahrelange Gewohnheit verbildet, und daher am ehesten fähig, sich den neuen Umständen anzupassen, das Verlangen als das zu erkennen, was es eigentlich war. Er rollte sich langsam an den Rand der Decke, während seine Eltern staunend und mit weit geöffneten Augen zusahen. Dann war er auf dem Gras, hatte die fötale Haltung eines Embryos eingenommen, die Knie unters Kinn gepreßt und die Arme um die Knie gelegt, und rollte solange hin und her, bis er in dieser Kauerstellung zum Sitzen kam, die Füße flach auf der Erde. Als nächstes bewegte sich Richard. Er stemmte die Hände gegen das Gestell des Liegestuhls, und es gelang ihm, seinen träge gewordenen Körper aus der Ruhelage hochzurichten. Auch er handelte nur noch instinktiv. Sein Oberkörper kippte langsam vornüber auf die Oberschenkel. Eine Weile saß er so auf der Stuhlkante – Brust auf den Knien. Kopf nach unten. Nach und nach gelang es ihm, sich zu erheben und frei zu stehen. Zuerst kam es ihm vor, als würde er auf einer Schicht Schwämmen stehen. Er bewegte seine Füße ein wenig, grub sie tiefer ins Gras, in den lockeren Boden hinein, bis er das Gefühl hatte, einigermaßen
sicher dazustehen. Die Wurzelfäden an seinen Füßen hatten die feuchteren Bodenschichten erreicht, denn Zufriedenheit stieg in seinem Körper hoch und stillte ein Verlangen, das ihn schon seit Tagen quälte – den Durst. Wieder verspürte er dieses Glücksgefühl, das alle seine Sinne erfüllte, und er fühlte, wie sein Herzschlag immer langsamer wurde, bis er nur noch ein gelegentliches Aufseufzen seines Körpers war. Ihm gegenüber stand Sandra. Sie sah ihn ruhig an. Nach langer, langer Zeit schloß er die Augen. Das letzte, was er noch bewußt wahrnahm, war Sandras Haar und der Wind, der darin spielte. Und diese Erinnerung nahm er mit, als er langsam in den glücklichen Halbschlaf der Jade-Unsterblichkeit hinüberglitt. Langsam, ganz langsam tauchten Wahrnehmungen auf. Er befand sich wieder in horizontaler Lage, zwischen Leintüchern, und am Körper trug er eine Art Pyjama. Er fühlte sich müde, todmüde, aber irgend etwas in seinem Inneren zwang ihn immer wieder zu einem künstlichen Wachsein, wenn er gerade schlafen wollte. Die Stimme kam von überall her, so nahe, als wäre sie direkt in seinem Kopf. Die Stimme, und auch dieser bohrende Impuls in seinem Körper, wach zu bleiben, waren künstlich. Sie stammten keinesfalls aus irgendeiner Willensregung seines Bewußtseins. Sie zwangen ihm ihre Gegenwart auf, von außen, mechanisch, metallisch. Er wollte diese Stimme nicht hören, also hielt er die Augen geschlossen und wünschte, sie würde verstummen. Aber je stärker er sich das wünschte, desto wacher wurde er.
Er fing an, diese Stimme zu hassen, mit einer Vehemenz, die jeden weiteren Schlaf unmöglich machte. Er öffnete die Augen. »Wach auf, Richard.« Die Stimme drang aus einer vergitterten Öffnung in einer Art Kiste in der Nähe seiner Augen. Eine Zeitlang betrachtete er die Kiste. Ihr Aussehen kam ihm bekannt vor – die beiden Räder, die sich oben in Vertiefungen drehten. Er lag auf der Seite, stellte er fest, und die Kiste war ein Tonbandkoffer, der neben dem Bett stand. In seinem sich langsam erweiternden Gesichtsfeld sah er weiße Wände, eine weiße Decke und eine Tür, die eigenartig hin- und herwippte. Sein Blick folgte dem Verlauf der Decke und fiel auf einen rechtwinkeligen Haken direkt über ihm. An dem Haken hing eine Flasche mit dunkelroter Flüssigkeit – Blut. Ein dünner Schlauch führte von der nach unten hängenden Flaschenöffnung zu seinem Bett und verschwand unter dem Laken, mit dem er zugedeckt war. Er stellte fest, daß der Blutspiegel in der Flasche sehr schnell sank – viel zu schnell –, und die Flasche war plötzlich leer. Dann bemerkte er ein seltsames, verschwommenes Zittern, dazu ein Geräusch, so kurz, daß er sich nur noch undeutlich daran erinnerte, und dann war die Flasche wieder mit Blut gefüllt. Plötzlich war der Raum ganz dunkel, und er konnte nichts mehr sehen. Aber es wurde bald wieder hell, und der Tonbandkoffer stand an einer anderen Stelle. Die Stimme drang wieder aus dem Lautsprecher, und auch die Stimme hatte sich geändert, geringfügig zwar nur, doch der Tonfall war ein anderer. »Ich freue mich, daß Sie aufgewacht sind. Und ich
möchte Ihnen auch gleich sagen, daß es Ihrer Frau und Ihrem Sohn gut geht. Sie befinden sich in einer Wiederherstellungsklinik auf der Erde, und ich spreche zu Ihnen über dieses Tonband, denn vorläufig können Sie mich noch nicht verstehen, wenn ich normal spreche. Ich bin Dr. Svenson, und ab und zu sitze ich neben Ihrem Bett, auf dem Stuhl, den Sie hier sehen.« Richard sah den Stuhl, und er sah auch, daß er ständig vibrierte. Manchmal glaubte er, darin eine halbtransparente sitzende Gestalt zu erkennen. »Ich kann Sie nicht genau erkennen«, sprach Richard das Phantom an. Allmählich überkam ihn ein Gefühl der Angst, und das riß ihn etwas aus seiner Lethargie. »Das kommt daher, weil ich nicht immer hier bin«, antwortete das Tonband. »Die Zeit hat sich für Sie beschleunigt. Als Sie sprachen, hatte ich genügend Zeit, was Sie sagten mit einer höheren Geschwindigkeit abzuspielen. Dann nahm ich meine Antwort auf Band auf und spielte Sie Ihnen wieder mit langsamerer Geschwindigkeit vor. Ich glaube, Sie haben die Unterbrechung gar nicht bemerkt.« »Wie lange werde ich in diesem Zustand noch hier liegen müssen?« Er fühlte sich vollkommen von der Welt abgeschnitten und unsäglich allein. »Nicht mehr lange – nach Ihren Maßstäben«, gab die Stimme ausweichend zurück. »Es ist natürlich sehr relativ. Sie haben eine ziemlich schlimme Zeit hinter sich. Inzwischen sind Sie hier in Intensivbehandlung und werden sich noch eine Zeitlang ziemlich schwach fühlen. Aber Sie haben Glück gehabt.
Bei Ihnen kam die Behandlung gerade noch zur rechten Zeit. Andere hatten dieses Glück nicht – guten Tag Mr. Roberts. (leise) Guten Tag, wie geht's dem Patienten? (wieder laut) Sie machen ganz schöne Fortschritte.« Er hatte den Eindruck, als führte das Tonband Selbstgespräche. Dann war eine andere Stimme da. Richard erkannte den lauten, herzlichen Tonfall von Sandras Vater. »Wie fühlst du dich, Richard? War doch ganz gut, daß wir euch auf eurem verdammten Planeten besucht haben, nicht wahr? Haben euch gerade noch rechtzeitig gefunden. Das hat uns vielleicht einen Schlag versetzt, das kann ich dir sagen. Wie wir euch gesehen haben, wie Statuen seid ihr dagestanden. Ich hab ja immer gesagt, mit dem Planeten stimmt was nicht. – Na ja, ich hab euch jedenfalls verdammt schnell dort weggebracht, das kann ich dir sagen. Und habe sofort gegen die JadeErschließungsgesellschaft Klage eingereicht. Die haben ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut kann ich dir sagen.« Richard hörte nicht mehr hin. O Gott, wird das denn nie aufhören. Für den Rest meines Lebens wird er mir jetzt jeden Tag erzählen, wie er mein Leben gerettet hat ... und das Sandras ... Er hatte plötzlich wieder das Verlangen, auf Jade zu sein. Wieder ganz ruhig mit Sandra und Stephen in der Sonne zu liegen, keine Probleme zu haben ... Aber die Stimme seines Schwiegervaters drang wieder in seine Ohren. »Ich kann mir diese Gauner gut vorstellen. Die
Leute geben ihr ganzes gespartes Geld aus und kaufen sich so eine Farm und erfahren nicht, daß es auf dem ganzen Planeten kein tierisches Leben gibt. Ja, schau immer genau hin, wohin du springst, das habe ich schon ...« Für Richard war es eine Erlösung, als endlich wieder Dr. Svensons Stimme aus dem Lautsprecher drang. Er war schon fast soweit gewesen, in einen Zustand abwehrender Apathie zu fallen, aber jetzt nahm er noch einmal alle Kraft zusammen. »Was hat denn auf Jade nicht gestimmt? Was ist geschehen?« »Sie haben doch Ihren Schwiegervater gehört. Auf Jade kann niemals tierisches Leben gedeihen. Das ist wahr, und der Jade-Erschließungsgesellschaft hätte das auch verdächtig vorkommen müssen. Man hätte zumindest erwarten dürfen, daß der Gesellschaft das Fehlen jeglicher Fauna, was sie ja übrigens bei ihren ersten Expeditionen festgestellt hatte, Anlaß zu genaueren Nachforschungen gegeben haben sollte. Ich bin zwar kein Bio-Ökologe, aber ich habe gehört, daß dieses Problem etwas mit der ungeheuer komplexen Molekularstruktur der organischen Basissubstanzen zu tun hat. Wenn diese Moleküle in den menschlichen Körper gelangen, werden sie nicht aufbereitet. Also, die Einnahme dieser Moleküle, etwa in Form von Essen, hat bewirkt, daß Ihre eigenen Körperzellen nach und nach durch Zellen vom Jade-Typ ersetzt wurden, – und das sind grundsätzlich pflanzliche Zellen. Ihre Bewegungen wurden langsamer, Ihr Denken, Ihre Maschinen liefen viel zu schnell für Sie. Dieser Effekt hat sich zum Schluß hin immer mehr beschleunigt. Aber das Interessanteste kam erst im
Endstadium, als Sie sich nämlich nur noch durch Fotosynthese ernährten. Sie lagen immer häufiger in der Sonne, aßen immer weniger, – alles, was Sie brauchten, nahmen Sie durch Sonnenstrahlung und aus der Luft auf. Und dann war der Punkt erreicht, an dem sich Ihre physische Struktur veränderte, Wurzeln wuchsen aus Ihren Fußsohlen, die nur darauf warteten, in feuchte Erde gebettet zu werden.« Richard machte verzweifelte Anstrengungen, sich zu bewegen, aber seine Muskeln waren zu schlaff. »Ich möchte meine Frau sehen und meinen Sohn«, bat er mit schwacher Stimme. »Das ist gut«, sagte Dr. Svenson. »Versuchen Sie, immer zu denken, immer zu sprechen. Und vor allem, versuchen Sie sich immer wieder zu bewegen. Wir allein können Sie hier nicht hundertprozentig wiederherstellen – unsere normalen Übungen stehen in keinem Verhältnis zum Zustand Ihrer Muskeln. – Sie müssen selbst mithelfen. Wir können nur dafür sorgen, daß Ihr Blutkreislauf ständig frisches Blut erhält und verhindern, daß es gerinnt – das übrige müssen wir der Zeit überlassen. Ihre Frau und Ihr Kind? Drehen Sie sich um! – Versuchen Sie es.« Zentimeter für Zentimeter verschob er seinen Körper, drehte sich langsam, bis er auf den Rücken zu liegen kam. Es war furchtbar schmerzhaft, den Kopf zu bewegen; die Nackenmuskeln waren noch zu steif, weil er sie so lange nicht bewegt hatte. Aber nach etwas weniger als einem Tag hatte er den Kopf auf die andere Seite gedreht. Sandra lag in dem Bett neben ihm und beobachtete ihn. »Hallo, Dick«, sagte sie leise und versuchte zu lächeln.
Er verstand sie auch ohne Tonband. Er sprach mit ihr und fühlte sich nicht länger einsam. Die Nacht kam und verging – und die nächste, und wieder eine, immer langsamer. Sandras Haar wurde wieder braun, und die gelbe Farbe verschwand allmählich aus ihrem Gesicht. Wie er sie so sah, in ihrem Eisenbett, in diesem rechteckigen, peinlich genau aufgeräumten Zimmer, sah er die Bilder ganz deutlich vor sich, wie er sie das letzte Mal auf Jade gesehen hatte. Sie stand vor ihm und sah ihn an, Stephen neben ihr, regungslos. Er sah ihren schlanken Körper, den heiteren, unbeweglichen Ausdruck in ihrem Gesicht, ihr smaragdgrünes Haar, das manchmal in einer Brise im Licht tanzte, in diesem Bild schien die Zeit stehengeblieben zu sein, und er hatte das schmerzliche Gefühl, etwas Großes verloren zu haben. Aber durch das seidenschimmernde Grün von Sandras Haar hindurch sah er die vier gefiederten Blätterkronen der Bäume, die um das Haus der McGowans standen, und er wußte jetzt so sicher wie nur irgend etwas, was aus den McGowans geworden war. Und das lebensfrohe Lächeln auf Sandras Gesicht im Bett neben ihm sagte nur zu deutlich, daß diese Art von Unsterblichkeit ihren Preis hatte und nicht das einzige Glück bedeutete.
Originaltitel: WHATEVER BECAME OF THE McGOWANS? Copyright © 1970 by Galaxy Publishing Corp.
H. B. Hickey LUPO WEG. MENSCHEN KOMMEN »Tanz«, sagen Master. »Tanz, Moomie!« Ich tanzen. Tanzen den Tanz des Morgens. Im Haus jetzt sein zwei neue Master, gerade gekommen. Diesen Tag gekommen großes Feuerschiff und viele neue Master und zwei Master gekommen in dieses Haus und ganzen Tag sprechen mit alten Master, was gibt Neues auf Erde. Ich jetzt tanzen den Tanz des Abends. Ganzen Tag essen und trinken und jetzt sagen Master: Tanz! Neue Master zuschauen und mit offenem Mund machen – o, ho ho ho ho. Ich tanzen Tanz der Nacht und neue Master und alte Master sagen – o, hohohoho – und erst gehen hierhin und dorthin und viel schütteln. Und viel Wasser laufen von den Augen. »O nein«, sagen neue Master und rollen auf dem Boden. »Oh, du bringst mich um, Jack. Es soll endlich aufhören.« »Tanz«, sagen Master. »Tanz, Moomie!« Ich tanzen den Tanz des Windes. Auf und nieder und auf und nieder und leicht und schwer und blasen und seufzen und auf und nieder. Beide neuen Master rollen auf dem Boden und sagen: »O, hohohoho, Jack, du Hundesohn, es soll endlich aufhören zu tanzen!« »All right, Moomie. Das reicht«, sagen Master. Ich hören auf. Ich gehen holen mehr zu trinken, und neue Master sitzen da und wischen viel Wasser von den Augen und sitzen und schauen und trinken. »Wie in aller Welt machen die das?« sagen neuer
Master. »Jack, du mußt deine ganze Zeit dafür geopfert haben, es ihnen beizubringen.« »Tut mir leid, diese Ehre kann ich nicht für mich in Anspruch nehmen«, sagen alter Master. »Natürlich, seit wir herausgefunden haben, daß die Moomies tanzen können, haben wir sie nicht daran gehindert.« »Darauf möchte ich wetten«, sagen neuer Master und sagen o, hohohoho, und rollen auf Boden und werfen Drink auf Boden. »Du mußt mich schon entschuldigen, Jack, aber jedesmal, wenn ich an dieses eine lange Bein denke, das da auf dem Boden auf und nieder hüpft, kann ich mich vor Lachen nicht mehr halten.« »Wie um Himmels willen halten die denn ihr Gleichgewicht?« sagen neuer Master. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich genauso wie wir mit unseren beiden Beinen. Sie können ja auch mit ihrem einen Auge genau so gut sehen wie wir mit zweien.« Alter Master sagen: »Aber glaub trotzdem nicht daß das alles so einfach war. War ein verdammtes Stück Arbeit, bis wir die Moomies soweit hatten, daß sie mit ihrer Hopserei beim Servieren keine Drinks mehr verschütteten, das kannst du mir glauben.« »Aber natürlich. Harte Sache, nicht wahr.« Neuer Master klopfen alten Master auf den Rücken. »Und jetzt bemitleiden wir mal den alten Jack ganz ausgiebig, nicht wahr, wie er hier auf so einem alten, stinklangweiligen Planeten im Aldebaran-System herumhockt und verkommt.« Anderer neuer Master sagen: »O, hoho. Armer alter Jack und seine arme, alte Frau und die anderen armen, alten Pioniere. Im abgelegensten Winkel des
Weltraums – Entbehrungen, Mühsal, alles zum höheren Ruhm der guten alten Erde.« »Yeah, all die armen Alten! Schöpfen das ganze Fett ab! Eingeborene Diener.« Alter Master sagen: »Jetzt hör mal, so einfach war das auch nicht. Die Moomies sind hier nicht einfach so herumgehopst und haben nur auf uns gewartet und gesagt: ›Hallo, Master‹. Das haben wir ihnen alles erst beibringen müssen. Und als es dann um die Hausarbeit ging – na, Myra kann dir ein Lied davon singen, das sag ich dir!« »Arme, alte Myra. Ja, wo steckt denn überhaupt die arme, alte Myra? Sie ist einfach so verschwunden?« »Keine Ahnung. Sie hat wahrscheinlich Migräne und ist in ihrem Zimmer oben.« Alter Master sagen: »Hey, Moomie, bring uns noch ein paar Drinks.« Ich bringen. »Also gut, Jack, jetzt sei nicht beleidigt. Wir finden es ja bewundernswert, mit welchem Geschick du den Moomie abgerichtet hast. Aber sag mal, könnten wir nicht jeder auch einen für uns haben?« »Das weiß ich nicht. Gibt nicht mehr sehr viele hier.« »Jack! Jetzt sag bloß, du hättest nichts mehr für deine alten Freunde übrig. Nein, so ist unser armer, alter, guter Jack nicht. Nicht zu seinen besten Freunden.« Ich bringen Drinks. Ich bringen Tuch und wischen Drink von Boden. Helle Augen schauen wie viele grüne Hände wischen, wie Moomie gehen und kommen. »Nein, das ist kein Spaß, Jungs. Es scheint längst nicht mehr so viele Moomies zu geben wie vor zwei Jahren, als wir hier ankamen.«
»Aha, die Rasse begeht Selbstmord. Paß auf, Jack! Das ist etwas, was du den Genoquarters berichten mußt. Es werden keine Babies mehr geboren, nicht?« »Ah – ah, sie scheinen nie Babies gehabt zu haben. Sind immer irgendwie ganz ausgewachsen aufgetaucht. Ich habe nie ein Moomie gesehen, das nicht ausgewachsen war.« »Also, was soll es dann sein? He – Jack? Einfach aussterben? Vielleicht etwas Ansteckendes, das ihr von der Erde mitgebracht habt? Jack, vergiß es nicht, das mußt du den Epidemiequarters berichten.« Alter Master sagen: »Weiß nicht recht. Es scheint auch nicht, als würden sie sterben. Weißt du, das kommt mir vor wie bei den Elefanten. Sie gehen einfach in die Sümpfe und sind verschwunden. Wir haben mal versucht, ihnen zu folgen, aber war nichts zu machen, sie sind einfach verschwunden. Nicht die geringste Spur.« »Ah, mysteriös. Ein Fall für Spacelock Holmes. Erlaubst du mal, Jack?« Neuer Master sagen: »Hey, Moomie! Sag mal, wo die Moomies hingehen.« Regen schwarz und viele und Nacht schwarz und eine. Und Nacht sagen jetzt und Schwarz sagen jetzt und viele sagen Moomie Moomie Moomie. Und viele sagen auf und nieder und auf und nieder sagen komm komm komm. Moomie tanzen den Tanz des Regens. Und Morgen kommen und Morgen blau, Moomie tanzen den Tanz des Morgens. Abend gelb und Moomie tanzen den Tanz des Abends.
Wind rot und auf und nieder und blasen und seufzen. Moomie tanzen den Tanz des Windes. Auf und nieder und auf und nieder und blasen und seufzen und auf und nieder. Wind rot und Wind sagen Moomie Moomie Moomie. Wind sagen komm komm komm. Nacht schwarz und eine und Regen schwarz und viele. Und viele und eine sagen auf und nieder und auf und nieder sagen komm komm komm. Und jetzt Zeit. Moomie komm. Auf und nieder und viel gehen. Viel gehen und viel gehen. Und gehen zu Weiches. Weiches sein viele und weit. Auf und nieder und auf und nieder zu Weiches. Und jetzt Sumpf. Auf und nieder und auf und nieder und Fuß groß und Regen sagen komm komm komm. Moomie kommen. Und Sumpf weich und weich und tief und tief. Und Regen sagen hinunter hinunter hinunter. Fuß hinunter und Hand hinunter. Regen sagen hinunter hinunter hinunter, und Moomie hinunter und hinunter in Sumpf. Fuß fassen Grund und Hand fassen Griff und viele Hand viele Wurzel. Dann Regen fort und Nacht fort und Sumpf überall. Morgen kommen und Morgen nicht blau. Nur warm. Tag warm. Tief unter Sumpf Morgen und Tag warm. Wurzel wachsen, Wurzel fest. Moomie strecken. Viele Morgen und viele Tage. Viele warm. Dann Wind blasen und seufzen. Wind sagen Moomie Moomie Moomie wachsen wachsen wachsen. Moomie wachsen. Moomie grün und Tag blau und warm. Moomie wachsen.
Master sagen Moomie bring. Sagen Moomie hüpf. Moomie hüpfen und bringen. Auf und nieder und auf und nieder und holen und bringen. Master sagen: »Es könnte schlimmer sein, Jungs. Ich geb es ja zu. Wir werden zwar nicht reich, aber es gibt hier immer genug. Das Getreide wächst hier auf Moomie ganz von allein. Eigentlich ein ganz bequemes Leben.« »Yeah. Aber was meinst du mit ›auf Moomie‹? Nennt ihr den Planeten etwa auch Moomie?« »Na klar! Der Planet ist Moomie, die Moomies sind Moomie, fast jedes verdammte Ding hier ist Moomie – sogar die großen Bäume in den Sümpfen. Wenigstens nennen die Moomie sie so.« Neuer Master strecken. »Wirklich angenehm, Jack. Nicht einmal viele fremde Namen mußtest du lernen.« Neuer Master sagen: »Ich würde meinen, du hast es nicht schlecht erraten.« »Hab ich mich vielleicht beschwert, oder? Ihr habt doch die ganzen Berichte über die Kolonisierung gelesen, die wir eingereicht haben. Und in keinem einzigen haben wir uns irgendwie beklagt, das schwöre ich dir. Ausgenommen vielleicht, daß wir den Ärger mit den Lupos hatten.« »Ärger? Nichts von Ärger gelesen. Paß nur auf, Jack. Das mußt du den Lupoquarters berichten. Hey, George, das ist mein Drink!« »Irrtum, Ed. Das ist Jacks Drink. Also, auf den guten alten Jack. Also, was sind denn das, die Lupos? Gibt es hier überhaupt etwas, was nicht Moomie heißt?« »Yeah, die Lupos. So haben die Moomies sie genannt.«
Alter Master stehen auf und gehen schnell. Gehen hin und her und hin und her. »Mann, das war wirklich mal eine Abwechslung! Fast ein Sport. Weißt du noch, wie wir auf der Erde Antilopen gejagt haben?« »Antilopen? Hast du was von jagen gesagt, Jack? Ach das hier, und jagen auch noch?« »Also, verdammich, Jack. Darüber hättest du auf jeden Fall einen Bericht schreiben müssen, daß man hier jagen kann.« »Mann! Das war vielleicht ein Ding. Man kann sie ja nicht mit Antilopen vergleichen. Nein, die Lupos nicht. Stellt euch mal einen eineinhalb Meter hohen grasgrünen Blitz vor. Mit ihren acht Beinen wechseln die die Richtung schneller, als eine Frau ihre Launen.« »Fleischfresser?« »Ach, woher! Hier gibt es nichts Fleischfressendes. Die Moomies fressen Gras, und die Lupos fressen die Früchte von den Moomiebäumen. Aber zurück zum Sport, Freunde. Ein Schuß, und wenn der nicht gesessen hat, dann hast du lange warten können.« »Na also, worauf warten wir noch, Jack? Bring die Gewehre her! Du drängst uns deine Gastfreundschaft ja direkt auf!« »Ruhig Blut, mein Junge! Brauchst dich gar nicht erst aufzuregen. Es gibt keine Lupos mehr.« »Jack! Was sagst du da? Jack? Nicht einmal einen einzigen mickrigen alten Lupo? Soll das etwa heißen, daß ihr verdammten räuberischen Kolonisten keinen einzigen Lupo für uns übriggelassen habt?« »Weiß ich doch nicht. Sicher, wir haben unseren Teil davon abgeknallt. Aber zum Teufel, es schien ja Millionen von ihnen zu geben, als wir ankamen.
Kleine, große, ganze Rudel, überall! Wir können sie unmöglich alle abgeschossen haben.« »Was dann? He? Schon wieder eine Spezies, die Selbstmord begeht?« »Weiß nicht. Die hatten Babys, das stimmt. Aber sie schienen auch nicht zu sterben. Ausgenommen die, natürlich, die wir geschossen hatten. Hab jedenfalls nie einen alten oder einen toten Lupo gesehen, das heißt einen, der eines natürlichen Todes gestorben war, an Altersschwäche sozusagen, haha.« »Also ganz einfach verschwunden. So wie die Moomies, ha?« »Ja, verdrückt haben sie sich, aber wie schnell! Der Spaß hat nur ein paar Monate gedauert, und dann war es, als hätte jemand das ganze Spiel abgestellt. Ein paar einzelne Lupos noch, und dann war's aus. Und dann hatten wir auch den Ärger.« Master nicht sagen, aber Moomie gehen holen. Nicht schnell, aber Stimme folgen Moomie in Küche. »Zuerst haben die Moomies nicht viel gemacht. Nur so zugeschaut, was wir machen. Als wir dann die ersten Lupos abgeknallt hatten, schienen sie unruhig zu werden.« »Nun gut, das war wenigstens ein Lebenszeichen. Sie hatten uns keinerlei Hilfe angeboten, selbst dann nicht, als wir soweit waren, daß wir mit ihnen ein paar Worte wechseln konnten. Sie standen einfach herum. Keine Arbeit, kein Spiel, rein gar nichts. Die primitivste Horde, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Dann, auf einmal, kamen sie auf uns zumarschiert. Sie wollten, daß wir alle Lupos in Ruhe ließen. Das war vielleicht ein Spaß! Sie hüpften nur auf und nie-
der. Sie haben nicht einmal daran gedacht, Stöcke aufzuheben und uns damit zu bedrohen. Na ja, wir dachten, daß es jetzt allmählich Zeit wäre, ein bißchen Recht und Ordnung einzuführen. Die sollten mal wissen, daß sich die Zeiten geändert haben und wer die Schau hier in Zukunft abziehen würde.« »Yeah, das haben wir im Bericht gelesen.« »Dann wißt ihr's ja. Es war 'ne Kleinigkeit. Wir haben ein paarmal geballert – bum, bum – und schon hatten sie die Nase voll. Danach hat's keine Schwierigkeiten mehr gegeben. Weder wegen den Lupos, noch wegen sonst was. Im Gegenteil, als sich die Moomies wieder blicken ließen, brachten sie Geschenke! Moomiefrüchte und so was. Und sie waren willig und hilfsbereit.« Alter Master machen Mund weit auf, heben Schulter hoch und nieder. Neuer Master sagen: »Das klingt ja nicht gerade wie eine Heldensage aus dem Weltraum. Aber ich meine trotzdem, Jack, du hättest für mich und Ed ruhig noch ein paar Lupos übriglassen können.« Neuer Master sagen; »Egal, ich hab Hunger. Was gibt's denn hier in der Gegend zu essen?« »Warten wir noch ein bißchen. Vielleicht will Myra doch mit uns essen. Wie wär's mit einem Drink? Soll gut sein für den Appetit.« »Guter alter Jack!« Lupo weg. Regen schwarz und viele. Tage viele und warm. Moomie wachsen aus Sumpf. Wind rot. Laut und weich, auf und nieder und auf
und nieder. Blasen und seufzen. Wachsen, wachsen, wachsen. Moomie wachsen. Strecken aus Arm, strecken aus Bein Blätter viele und grün. Früchte fangen an. Regen und Tage und Wind. Früchte grün. Früchte wachsen. Jetzt Zeit. Jetzt Zeit für Lupo! Lupo geboren. Lupo gehen in Tag, in Wärme, in Blau. Lupo wachsen. Lupo gehen zu Lupo. Jetzt mehr Lupo. Jetzt kleine Lupo. Jetzt neue Lupo geboren. Jetzt Zeit für alle Lupo. Jetzt Zeit für Moomie. Jetzt Früchte voll und schwer. Jetzt Früchte fallen. Viele Früchte. Viele Lupo. Jetzt Lupo essen Frucht von Moomie. Früchte grün – Lupo grün. Früchte viel Samen. Lupo essen. Wind blasen und seufzen, auf und nieder und auf und nieder. Lupo essen. Wind blasen und seufzen. Lupo essen. Wind auf und nieder. Wind sind dabei. Jetzt Zeit für Lupo. Jetzt Zeit für Moomie. Wind blasen und Lupo tanzen. Auf und nieder und auf und nieder. Lupo drehen und drehen und drehen. Lupo fallen. Lupo stehen auf. Stehen auf und fallen und drehen und fallen und fallen. Lupo still. Lupo strecken. Lupo strecken und anderswerden. Anderswerden und anderswerden. Lupo werden Moomie. Moomie stehen auf. Moomie tanzen neuen Tanz. Nacht eines und schwarz und Regen schwarz und vieles. Tage blau und Tage warm. Wind rot und Wind blasen und seufzen. Früchte viele und Früchte fallen. Aber Lupo weg. Und bald auch alle Moomie.
Master heben Glas hoch. Master schauen in Licht. Master nehmen Glas an die Lippen. »Mann, ist das Zeug gut! Das hättest du uns ruhig früher wissen lassen können, daß ihr so was hier oben habt.« »Jack, du weißt schon – Bericht an die Alkoquarters!« Master machen Mund auf. Master sagen o, hohohoho. »Ich denke, wir sollten jetzt allmählich etwas essen.« »Guter, alter Jack!« »Yeah. Ich glaube, ich höre Myra schon da hinten herumwirtschaften. Wahrscheinlich ist sie hungrig wie ein Wolf. Das ist sie nämlich meistens nach ihren Migräneanfällen.« »Arme alte Myra!« »Moomie, deck den Tisch. Und sag der Mistress lieber gleich, daß wir essen wollen.« Moomie decken Tisch. Moomie legen ein Teller hier und ein Teller hier und ein Teller hier und ein Teller hier. Moomie holen und bringen. Moomie bringen Früchte. Moomie gehen zu Mistress. Auf und nieder und auf und nieder. Türe zu. Mistress still. Moomie klopfen und Mistress still. Moomie öffnen Tür. Mistress still und Mistress strecken. Mistress strekken und Mistress anders werden. Wind rot und Wind blasen und seufzen und auf und nieder. Wind sind drei. Mistress strecken und anderswerden.
Mistress Moomie. Mistress stehen auf. Mistress tanzen neuen Tanz. Master rufen. »Heh! Mach ein bißchen schneller! Sag ihr, daß die Gäste verhungern!« Moomie machen schneller. Moomie hüpfen und holen und bringen. Moomie bieten Früchte an Früchte an Früchte an. »Heh, was haltet ihr Burschen von den Moomiefrüchten. Gut, nicht?« »Gut ist gut!« »Heh, Moomie! Tanz nochmal! Tanz für unsere Gäste!« Moomie tanzen den Tanz des Morgens. Auf und nieder und auf und nieder. Bald werden neue Moomie kommen. Bald werden neue Moomie tanzen. Lupo weg. Menschen kommen.
Originaltitel: GONE ARE THE LUPO Copyright © 1970 by Coronet Communications, Inc.
R. A. Lafferty STEIN AUF STEIN Oben im Big Lime Country gibt es eine interessante geologische Formation, das Schlotgestein, das halb gegen einen Hügel jüngeren erdgeschichtlichen Datums gesunken ist. Der Felsen besteht aus sogenanntem Dawson Sandstein, durchzogen mit Schichten aus hartem Muschelkalk. Sein Entstehen datiert etwa in die letzte Eiszeit, oder kurz danach, als der Crow Creek und der Green River in diesem Schwemmland noch mächtige Ströme waren (und das ist mindestens fünfmal der Fall gewesen). Dieses Schlotgestein ist nur wenig älter als die Menschheit, und ein klein wenig jünger als das Gras. Sein Entstehen verdankt es einer Auffaltung der Erdrinde, die schon längst der Erosion zum Opfer gefallen ist. Von ihr übriggeblieben sind nur so dauerhafte Gebilde wie eben dieser Schlot und noch einige andere Felsblöcke in der näheren Umgebung. Eine Gruppe von fünf Personen näherte sich der Stelle, an der der Schlot gegen den jüngeren Hügel gesunken war. Die Leute kümmerten sich nicht um die tiefe Kalksteinschicht darunter – sie waren keine Geologen. Was sie interessierte, war der Hügel, denn der war von Menschenhand, und ein wenig interessierte sie auch der Schlot, – kurz gesagt: es waren Archäologen. Hier war Zeit angehäuft, herausgebrochen aus der Erde, herausgequollen, und unter einem dicken Schutzmantel verborgen, beschützt, ein Nebeneinan-
der, kein Nacheinander. Und hier war die Zeit gewachsen, in gebündelten Strängen, und dann – zerbrochen, verstreut. Die fünf Leute kamen am frühen Nachmittag dort an; den Wagen mit dem Arbeitsgerät stellten sie in einem trockenen Bachbett ab. Sie entluden eine Menge Gerät und errichteten ein Lager. Auf den ersten Blick eine völlig unnötige Arbeit, denn etwa zwei Meilen entfernt, oben an der Staatsstraße, war ein gutes Motel. Sie hätten dort bequem unterkommen können und wären mit dem Wagen in fünf Minuten hier gewesen, weil eine Straße herunterführte. Aber Terrence Burdock war nun einmal davon überzeugt, daß niemand das richtige Gefühl fürs Graben bekommen könne, der nicht auch auf dem Boden in dem er graben sollte, Tag und Nacht lebte. Die fünf Leute waren Terrence Burdock, seine Frau Ethyl, Robert Derby und Howard Steinleser: vier gutaussehende und ausgeglichene Menschen – und Magdalena Mobley, die weder gut aussah noch ausgeglichen war. Sie wirkte irgendwie elektrisierend, sie hatte etwas Besonderes an sich. Als sie das Lager aufgebaut hatten, streiften sie in der Gegend herum, denn es war noch Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit. Jeder von ihnen hatte diese Formationen schon früher gesehen und hielt sie für besonders erfolgversprechend. »Der sonderbaren Riffelung nach könnte es sich hier um Kernmaterial handeln«, sagte Terrence. »Es ist anders als das übrige Gestein, als ob ein Blitz der Länge nach durch den Felsen gefahren wäre. Wie für uns geschaffen. Ich denke, wir werden den Brocken Stück für Stück abtragen. Damit hätten wir auch den
besten Zugang zum Hügel, und das ist ja unsere eigentliche Aufgabe. Aber wir werden uns trotzdem zuerst den Schlot vornehmen, schon weil er so schön daliegt.« »Oh, ich kann euch jetzt schon sagen, was ihr in dem Felsen finden werdet«, sagte Magdalena mißmutig. »Und ebenso kann ich euch sagen, was unter dem Hügel ist.« »Dann frage ich mich, warum wir uns überhaupt noch die Mühe machen, danach zu graben, wenn du schon weißt, was wir finden werden«, sagte Ethyl verärgert. »Das möchte ich auch gern wissen«, brummte Magdalena. »Aber wir brauchen eben die Beweise, wir brauchen etwas zum Herzeigen. Wenn du nichts herzeigen kannst, findest du auch nirgendwo Anerkennung für deine Arbeit ... So, Robert, jetzt geh und schieß den Rehbock, der sich dort unten vierzig Meter nordöstlich von dem Schlot im Gebüsch versteckt hat! Wenn wir schon hier wie die Wilden leben, dann können wir auch ebenso gut von Wild leben.« »Aber jetzt ist doch Schonzeit«, protestierte Robert Derby. »Und außerdem gibt es hier kein Wild. Und wenn, dann höchstens in der kleinen Mulde dort drüben, wo du's nicht sehen kannst. Und dann ist es sicher kein Bock, sondern wahrscheinlich ein Reh – wenn überhaupt ...« »Nein, Robert, es ist ein zweijähriger Bock, und zwar ein ganz stattlicher. Natürlich ist er in der Mulde, wo ich ihn nicht sehen kann, denn vierzig Meter nordöstlich des Schlotfelsens ist genau die Mulde. Und wenn ich ihn wirklich sehen könnte, würdest du ihn ja auch sehen, nicht wahr? Jetzt geh schon und
schieß ihn! Was bist du denn überhaupt? Ein Mann oder eine mus microtus? Und du, Howard, schneidest ein paar starke Stöcke zurecht und baust ein Gestell, daß wir den Bock daran aufhängen und auswaiden können!« »Ich glaube, Robert, du tust besser, was sie dir sagt«, sagte Ethyl, »sonst werden wir heute abend keine friedliche Minute haben.« Robert Derby nahm einen Karabiner und ging in nordöstlicher Richtung auf die mit Büschen bewachsene vierzig Meter entfernte Mulde zu. Alle hörten sie das scharfe Peng des Karabiners. Kurz darauf kam Robert wieder zurück. Auf seinem Gesicht lag ein ungläubiges Grinsen. »Du hast ihn getroffen, Robert! Robert du hast ihn!« rief ihm Magdalena entgegen. »Du hast ihn mit einem Prachtschuß durch die Kehle ins Gehirn getroffen, als er den Kopf hochwarf. Warum hast du ihn nicht gleich mitgebracht? Hol' ihn!« »Ihn holen, allein? Ich könnte das Vieh nicht einmal hochheben. Terrence und Howard, kommt mit! Wir werden ihn an einen Stock binden und ihn hierher schleifen.« »Hast du denn ganz den Verstand verloren, Robert?« schimpfte Magdalena. »Er wiegt doch nur hundertneunzig Pfund. Ich werde ihn selber holen!« Und Magdalena Mobley ging und holte den Bock. Sie hatte ihn lässig über die Schultern geworfen wie einen Pelz, achtete nicht auf das Blut, das an ihr herunterrann, lief beschwingt und leichtfüßig, blieb ab und zu stehen und stieß mit dem Fuß prüfend ein Felsstück an, um es genauer zu betrachten. Es sah aus, als ob der Bock gut seine 250 Pfund hätte, aber
wenn Magdalena sagte, er wiege 190, dann wog er auch bestimmt kein Gramm mehr. Howard Steinleser hatte inzwischen Stöcke zurechtgeschnitten und ein Gestell gebaut. Er wußte, daß es besser war, ihren Anordnungen Folge zu leisten. Sie banden den Bock an das Gestell, brachen die Eingeweide heraus und zerlegten ihn dann nach allen Regeln der Kunst. »Jetzt bereite ihn zu, Ethyl!« befahl Magdalena. Später, als es dunkel geworden war, saßen sie alle auf dem Boden ums Feuer herum. Ethyl brachte Magdalena auf einem Teller das Gehirn des Bocks. Es war noch weich und blutig – noch nicht einmal halbgar. Sie dachte, sie könnte Magdalena damit etwas aus der Fassung bringen. Aber Magdalena schlang es gierig hinunter. Es stand ihr schließlich zu, denn sie hatte ja den Bock entdeckt. Sie werden sich sicher schon gefragt haben, woher Magdalena wußte, welche verborgenen Dinge wo stecken. Das hatten sich die anderen Teilnehmer dieser Expedition auch gefragt. »Manchmal empfinde ich es als unangenehm, daß ich der einzige bin, dem eine gewisse Analogie zwischen der historischen Geologie und der Tiefenpsychologie auffällt«, sagte Terrence Burdock, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen, als sie alle etwas nachdenklich und schweigend ums Lagerfeuer saßen. »Das isostatische Prinzip läßt sich genauso gut auf die Schichtung des Bewußtseins und des Unterbewußtseins anwenden wie für die Erdoberfläche und ihre tieferen Schichten. Auch das Bewußtsein kennt Erosionen und Witterungseinflüsse, die auf
seine Ablagerungen und Anschwemmungen einwirken. Es hat genauso seine Aufbrüche und seine Spannungen. Es schwimmt auch auf einer Art Magma, und in extremen Fällen kommt es auch da zu Vulkanausbrüchen und zur Auffaltung von Gebirgen.« »Und es hat auch seine Vergletscherungen«, sagte Ethyl Burdock, und vielleicht warf sie dabei in der Dunkelheit ihrem Mann einen Blick zu. »Aus dem Treibsand des täglichen Einerlei hat sich harter Sandstein gebildet, ja teilweise sogar schon Quarz oder Flint. Schiefer kommt aus dem uralten Schlamm täglicher Vergeßlichkeit und Gleichgültigkeit. Und Kalkstein wurde das, was einmal lebhafteres Erinnern war, denn zu Kalk wird alles, was einmal gelebt hat. Es könnte sogar reiner Marmor sein, wenn das Erleben stark genug war, oder sogar Travertin, wenn die Ströme des Unterbewußtseins es lange genug zum Brodeln und Kochen gebracht haben. Das Bewußtsein hat seine Schwefellager und seine Edelsteingruben ...«, dozierte Terrence, als ihn Magdalena unterbrach. »Sagen wir doch ganz einfach, daß wir lauter Felsbrocken im Kopf haben. Und ich behaupte, es sind ganz zufällige Felsbrocken und immer dieselben. Bei uns ist es eben nicht so wie bei der Erdkruste. Die Erde bringt zu jeder Zeit neues Gestein hervor. Aber wir begegnen immer wieder denselben Menschen, und unser Bewußtsein ändert sich keinen Deut. Verdammt nochmal, und einer von den ganz Uralten ist jetzt eben wieder aufgetaucht! Er soll mich doch einmal in Ruhe lassen. Die Antwort ist immer noch nein!« Oft sagte Magdalena Dinge, die keinen Sinn erga-
ben. Ethyl Burdock überzeugte sich, daß weder ihr Mann noch Robert oder Howard sich im Schutz der Dunkelheit an Magdalena herangemacht hatten. Ethyl war übrigens ziemlich eifersüchtig auf dieses stämmige und selbstbewußte Mädchen. »Ich hoffe, daß das hier mindestens genauso ergiebig sein wird wie Spiro Mound«, sagte Howard Steinleser. »Es ist gar nicht so ausgeschlossen, das wißt ihr alle. Es hat kaum einen weniger anziehenden Ort zum Graben gegeben und keinen vertrackteren als Spiro Mound. Ich wollte nur, wir hätten jemand dabei, der damals dort mitgegraben hat.« »Er hat natürlich schon bei Spiro mitgegraben«, warf Magdalena höhnisch ein. »Er? – Wer?« fragte Terrence Burdock. »Keiner von uns war bei Spiro mit dabei. Und du, Magdalena, du warst noch nicht einmal geboren, als dieser Hügel geöffnet wurde. Was kannst du also schon darüber wissen?« »Doch, ich erinnere mich. Er war damals bei Spiro dabei«, sagte Magdalena. »Immer hat er seine eigenen Sachen ausgegraben und den anderen gezeigt.« »Warst du wirklich bei Spiro dabei?« Terrence hatte seine Frage einfach in die Dunkelheit gerichtet. Seit einiger Zeit schon hatten sie das unbestimmte Gefühl, daß nicht mehr fünf sondern sechs Leute um das Lagerfeuer saßen. »Ja, ich war bei Spiro dabei«, sagte der Mann. »Ich habe dort gegraben. Ich hab bei vielen Ausgrabungen gegraben. Ich bin ein erstklassiger Ausgräber, wissen Sie, und ich weiß immer schon vorher, wenn wir auf etwas Wichtiges stoßen. Werden Sie mir Arbeit geben?«
»Wer bist du?« fragte ihn Terrence. Der Mann war jetzt ziemlich gut zu sehen. Die Flammen des Lagerfeuers schlugen plötzlich in seine Richtung, als ob er sie beschworen hätte. »Oh, ich bin so ein reicher, armer alter Mann, der eine Spur verfolgt, der niemals die Hoffnung verliert und der immer wieder Fragen stellt. Es gibt nämlich jemanden, der all diese Mühe wert ist, und ich werde auch nie aufhören, diesen einen zu überzeugen. Aber manchmal bin ich auch etwas anderes. Vor zwei Stunden, zum Beispiel, war ich dieser Hirsch in der Mulde. – Es ist schon komisch, wenn man sein eigenes Fleisch kaut.« Und der Mann kaute tatsächlich auf einem Stück Wildpret, das er sich genommen hatte. »Ach, immer wieder fängt er mit seiner verdammten billigen Poesie an!« rief Magdalena zornig. »Wie heißt du?« fragte ihn Terrence. »Mannypenny, Anteros Mannypenny, so werde ich immer heißen.« »Und was bist du?« »Oh, nur ein einfacher Indianer. Shawnee, Choe, Creek, Anadarko, Caddo und Prä-Caddo, 'ne ganze Menge.« »Wie kann heute jemand Prä-Caddo sein?« »Ich zum Beispiel. Ich bin einer.« »Ist Anteros ein Creek-Name?« »Nein. Griechisch. Aber vom Ausgraben verstehe ich etwas, ich bin der beste Ausgräber weit und breit! Ich werd's euch morgen beweisen.« Und beim Himmel, er war der beste Ausgräber! Am nächsten Morgen zeigte er es ihnen. Mit einem kurzstieligen Spaten fing er an, den ersten Graben in
den Hügel zu treiben, und er arbeitete so schnell, daß die anderen kaum ihren Augen trauten. »Er wird alles kaputt machen, was da drin ist. Er kann ja gar nicht wissen, auf was er alles stoßen wird«, jammerte Ethyl Burdock. »Frau, ich werde nichts kaputt machen, was immer auch da drin sein sollte«, sagte Anteros. »Sie können ein Amselei in einem ganzen Kubikmeter Sand verstecken. In einer Minute werde ich den ganzen Sand umgeschaufelt haben und das Ei finden, wo immer es auch steckt. Und ich werde das Ei nicht zerbrechen. Ich rieche diese Sachen nämlich. Ich werde jetzt gleich auf einen kleinen Topf aus der Proto-Plano-Periode stoßen. Er ist natürlich schon in Scherben, aber ich hab ihn nicht zerbrochen. Es sind sechs Scherben, und sie werden wunderbar zusammenpassen. Ich sage Ihnen das schon im voraus. Jetzt werde ich sie herausnehmen.« Und Anteros nahm sie heraus. Aber es war irgend etwas falsch daran; das Gefühl hatten sie schon, bevor er den Fund aufdeckte. Aber es war auf jeden Fall ein Fund und möglicherweise stammte er tatsächlich aus der Proto-Plano-Periode. Die sechs Scherben lagen vor ihnen. Nachdem sie sie vorsichtig gesäubert hatten, setzten sie die Scherben zusammen. Niemand konnte leugnen, daß sie wunderbar zusammenpaßten. »Aber das ist ja phantastisch!« rief Ethyl. »Fast zu phantastisch«, entgegnete Howard Steinleser. »Das war ein gedrehter Topf, und seit wann gibt es in Amerika gedrehte Töpfe ohne die Töpferscheibe? Aber die eingeritzten Glyphen entsprechen ungefähr denen der Proto-Plano-Periode. Das ist
merkwürdig, äußerst merkwürdig.« Steinleser war an diesem Morgen schlecht gelaunt, und sein Gesicht war blaß. »Ja, sie ist gekräuselt und schuppig, die Fischglyphe«, rief Anteros. »Und das Sonnenzeichen ist darüber. Es ist der Fischgott.« »Nein, etwas anderes ist merkwürdig«, sagte Steinleser hartnäckig. »Niemand macht so einen Fund schon in den ersten sechzig Sekunden. Und so einen Topf dürfte es gar nicht geben. Und ich werde erst dann glauben, daß er aus der Proto-Plano-Periode stammt, wenn wir hier auch Pfeilspitzen finden.« »Hier«, sagte Anteros. »Ich kann sie schon riechen, gleich haben wir sie. Zwei große und eine kleine. Ihr müßtet sie ja auch schon gewittert haben. Noch vier Spatenstiche, und dann habe ich sie.« Vier Spatenstiche, und Anteros hatte sie tatsächlich. Zwei große Speerspitzen und eine kleine Pfeilspitze, schmale Steinklingen mit einer Einkerbung zum Befestigen. Sie konnten aus dem späten Folsom stammen oder aus der Proto-Plano-Periode ganz wie man es betrachtete. »Das darf nicht wahr sein«, stöhnte Steinleser. »Sie sind genau das fehlende Glied, das die beiden Epochen verbindet. Und sie passen nur zu gut. Ich kann es einfach nicht glauben! Oder vielmehr erst dann, wenn wir hier in derselben Schicht auch noch Mastodon-Knochen finden.« »Einen Augenblick«, sagte Anteros und setzte den Spaten wieder an. »Ha, diese alten Biester haben aber einen seltsamen Geruch! Mit einem Elefanten hat das nichts mehr zu tun. Und es hängt immer noch ein Haufen Zeug an den Knochen. Darf es fürs erste der
sechste Thorax-Knochen sein? Ich bin wenigstens ziemlich sicher, daß es einer ist. Wo der Rest von dem Vieh ist, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat jemand hier nur das Bein abgenagt. Neun Spatenstiche und dann – ganz vorsichtig.« Neun Spatenstiche, und dann legte Anteros vorsichtig den alten abgenagten Knochen frei. Ja, (Howard sagte es fast verärgert) es war tatsächlich der sechste Thorax-Knochen eines Mastodons. Robert Derby behauptete zwar, es sei vielleicht eher der fünfte als der sechste, aber so einfach war das nicht zu entscheiden. »Hör jetzt einmal für eine Weile mit dem Graben auf, Anteros«, sagte Steinleser. »Ich möchte erst ein paar Skizzen und Fotos und ein paar Messungen machen.« Terrence Burdock und Magdalena Mobley arbeiteten am Fuß des Schlots, dort, wo die Riffelung ansetzte, die sich über die ganze Höhe des Felsens erstreckte. »Sag Anteros, er soll herkommen und versuchen, was er in sechzig Sekunden hier alles entdecken kann«, sagte Terrence. »Ach, der! Er wird ja doch wieder nur seine eigenen Sachen ausbuddeln.« »Was soll das heißen, seine eigenen Sachen? – Hier hat doch niemand etwas eingraben können. Das ist alles harter Sandstein.« »Und das hier ist noch härterer Flint«, sagte Magdalena. »Ich hätte es ja wissen müssen. Schau, daß du mir das verdammte Ding heraufreichen kannst. Ich kann mir schon ungefähr denken, was darauf steht.« »Was darauf steht? Wie meinst du das? Aber da sind ja Zeichen drauf und Verzierungen! Und ziem-
lich groß und schwer ist es auch noch. Wer hat denn damals schon Flint bearbeiten können?« »Ein Verrückter, genauso hart und unnachgiebig wie der Flint«, sagte Magdalena. »Also gut, versuchen wir, ob wir ihn herausbekommen. – Anteros, sieh zu, daß du das ganz herauskriegst! Und sei vorsichtig, sonst fällt uns der Schlot auf den Kopf. Weißt du, Terrence, das kann er nämlich ganz gut, solche Dinge konnte er nämlich schon immer ganz gut.« »Woher weißt du überhaupt, was er alles kann, Magdalena? Du hast doch den armen Kerl gestern Nacht das erstemal gesehen.« »Ja, ja, ich weiß schon, daß es wieder genau dieselbe verdammte Geschichte sein wird.« Anteros holte den Felsen unversehrt heraus. Ein paar Löcher mit dem Meißel, drei Stäbe Dynamit und eine Zündkapsel. Er schloß die Kontakte an die Batterie, als er noch unmittelbar neben der Sprengladung stand. Sie dachten, der ganze Himmel würde auf sie niederstürzen, und einige von diesen Himmelsbrokken waren auch ganz ansehnliche Felsen. Die Alten hatten sich immer schon gewundert, warum die Steine, die vom Himmel fielen, immer so schwarz und schmutzig waren und nicht blau und kristallklar wie der Himmel. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es sind immer nur Stücke aus dem Nachthimmel, die auf die Erde fallen, und selbst wenn sie bei Tag herunterkommen, dann beweist das nur, wie unermeßlich die Entfernungen sind. Die Sprengung, die Anteros ausgelöst hatte, brachte nur Brocken des Nachthimmels herunter, obwohl es heller Tag war. Die Felsbrocken, die herumlagen, waren dunkler als das Schlotgestein.
Eigentlich war die Sprengung gar nicht so stark gewesen. Der Schlot erbebte und schwankte hin und her, aber er stürzte nicht zusammen; grollend kam er wieder auf seinem Sockel zur Ruhe. In einiger Entfernung davon lag unversehrt der Flint. »Gut tausend Speer- und Pfeilspitzen könnte man aus diesem Brocken schlagen«, meinte Terrence. »Dieses Stück Flint muß für einen Primitiven damals ein Vermögen wert gewesen sein.« »Ich hatte mehrere solche Vermögen«, sagte Anteros mit dumpfer Stimme. »Und diesen hier habe ich aufgehoben und jemanden gewidmet.« Sie standen alle um den Felsbrocken herum. »Der arme Kerl!« rief Ethyl plötzlich. Aber sie sah nicht die Männer, sie sah nur den Stein an. »Ich wollte, er hätte das Ding abgekriegt«, sagte Magdalena und stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Ich mach mir nicht das geringste aus seinen Reichtümern. An jeder Straßenecke finde ich bessere Kerle als ihn.« »Was schimpfen die Frauen schon wieder?« fragte Terrence. »Aber die sehen aus wie echte Glyphen. Fast aztekisch, nicht wahr, Steinleser?« »Nahnat-Tonoan, ein mit den Azteken verwandter Stamm, oder sollte ich vielleicht besser sagen: mit dem Yaquis verwandt?« »Nenn sie wie du willst, aber wirst du es auch entziffern können?« »Schon möglich, in höchstens acht bis zehn Stunden dürfte ich die meisten der Glyphen annähernd entziffert haben. Wir können natürlich nicht erwarten, daß wir hier einen verständlichen Text vorfinden werden. Soweit ich informiert bin, hat bisher noch
keine einzige Übersetzung aus dem Nahnat – Tonoan einen vernünftigen Sinn ergeben.« »Und Terrence, denk daran, daß Steinleser ein sehr langsamer Leser ist«, sagte Magdalena gehässig. »Und er ist auch nicht besonders gut, wenn es darum geht, fremdartige Zeichen zu deuten.« Steinleser machte einen ziemlich abwesenden Eindruck und schwieg. Wie waren diese dunklen Streifen plötzlich auf sein Gesicht gekommen? Sie untersuchten an diesem Morgen noch einen Haufen Felsen und loses Gestein, sie machten ein paar Aufnahmen und versahen sie mit umfangreichen Anmerkungen. Sie hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt und arbeiteten sich langsam durch das Trümmerfeld am Fuß des Schlotfelsens. Sie stießen immer wieder auf neue Funde, aber diese waren längst nicht mehr so erregend wie die ersten. Es waren keine gedrehten Töpfe mehr dabei aus dem Proto-Plano (wie sollten da auch noch welche dabei sein?), keine vorausgeahnten Speerspitzen mehr aus dem späten Folson, aber sie fanden andere, zerbrochene, nicht vorausgeahnte. Sie fanden auch keinen weiteren ThoraxKnochen eines Mastodons mehr, aber jede Menge anderer Knochen, Bison-Knochen, Wolfs-Knochen, Knochen von Koyoten und Menschen. Daß sie alle diese Dinge gewissermaßen auf einem Haufen fanden, kam ihnen schon seltsam vor, aber es kam ihnen längst nicht so seltsam vor wie am frühen Morgen, als ihnen Anteros genau vorausgesagt hatte, was sie finden würden, und dann tatsächlich die Scherben, die drei Pfeil- und Speerspitzen und den MastodonKnochen ausgegraben hatte. Die Dinge, die sie jetzt
ausgruben, waren so authentisch, wie sie es nur erwarten konnten. Und doch machte sie die Überfülle der Funde etwas stutzig. Und dieser Anteros, der verstand wirklich etwas vom Ausgraben. Er schaufelte den Sand und drehte alle Steine um, er ließ nichts aus. Und mittags war er plötzlich verschwunden. Eine Stunde später kam er wieder zurück in einem neuen, chromblitzenden Lieferwagen, er tauchte einfach aus dem mit Dickicht bewachsenen trockenen Bachbett auf, wo niemand eine Straße vermutet hätte. Er war in der Stadt gewesen. Er hatte kalten Braten mitgebracht, Käse, Pasteten, ein paar Kisten mit kaltem Bier und alten Brandy. »Und ich habe immer geglaubt, du wärst ein armer Teufel, Anteros«, schimpfte Terrence. »Ich habe euch doch gesagt, daß ich ein reicher, alter armer Mann bin. Mir gehören 9000 Hektar Weideland, 3000 Stück Vieh, Grasweiden, Klee-Weiden, Maisfelder, Grasland ...« »Ach, hör doch auf damit!« fauchte Magdalena. Sie aßen, ruhten sich aus und arbeiteten anschließend den ganzen Nachmittag. Magdalena arbeitete genauso schnell und tüchtig wie Anteros. Sie war jung, kräftig und sonnengebräunt; schön war sie überhaupt nicht (das war Ethyl). Sie hätte jederzeit jeden Mann haben können, wenn sie gewollt hätte (das konnte Ethyl wiederum nicht). Sie war eben Magdalena. Oft unfreundlich, meistens unberechenbar, dann wieder ganz plötzlich aufgeschlossen. Sie war die Sehne, die den Bogen spannte. »Anteros!« rief sie mit schriller Stimme, als es gera-
de zu dämmern anfing. »Die Schildkröte?« fragte er zurück. »Du meinst die Schildkröte, die dort liegt, wo der Felsvorsprung die Strömung ablenkt? Aber sie ist fett, und sie ist sicher glücklich und sie hat nie jemand etwas zuleide getan. Höchstens wenn sie fressen oder sich einen Spaß machen wollte. Du willst doch nicht im Ernst, daß ich die Schildkröte hole.« »Natürlich will ich das! Sie wiegt volle achtzehn Pfund. Sie ist fett und sie wird gut schmecken. Es sind ja nur achtzig Meter von hier, sie ist dort, wo dieser Felsen in den Green River mündet. Da ist in dem Felsen eine Aushöhlung etwa einen halben Meter unter dem Wasserspiegel ...« »Ich weiß, wo sie ist. Ich werde die fette Schildkröte holen. Ich selbst bin die fette Schildkröte. Und ich bin auch der Green River.« Er ging die Schildkröte holen. »Schon wieder seine verdammte Poesie!« Magdalena spuckte hinter ihm aus, als er ging. Anteros kam mit der fetten Schildkröte zurück. Sie schien gute fünfundzwanzig Pfund zu wiegen, aber wenn Magdalena sagte, sie wiege achtzehn Pfund, dann wog sie auch bestimmt kein Gramm mehr. »Koch sie, Ethyl«, befahl Magdalena. Magdalena hatte keine Hochschulbildung, und daß sie bei den Ausgrabungen dabei sein durfte, verdankte sie einzig und allein ihrem Glück. Die anderen waren alle ausgebildete Archäologen, und Magdalena hatte überhaupt kein Recht, den anderen Befehle zu erteilen (außer ihr angeborenes Recht). »Ich weiß nicht, wie man eine Schildkröte zubereitet«, sagte Ethyl.
»Anteros wird es dir zeigen.« »Der Spätabendduft über frischen Ausgrabungsstätten«, brummte Terrence Burdock, als sie es sich am Lagerfeuer bequem machten die Bäuche voller Schildkröte und alten Brandy, und die Köpfe voller tiefsinniger Gedanken. »Ich möchte fast sagen, man kann das Alter der ausgegrabenen Schichten nach Geruchsnuancen schätzen.« »Geruchsnuancen? – Was haben sie denn mit deiner Nase angestellt?« fragte Magdalena spöttisch. Aber es stimmte. Der Geruch der Ausgrabungen hatte an sich etwas, das einem an längst vergangene Zeiten denken ließ – kühl muffig und gleichzeitig wie Moschus, wie Wasser in unterirdischen Höhlungen, wie komprimiertes Sterben, in Schichten zusammengepreßte Zeit. »Natürlich hilft es dir, wenn du schon vorher weißt, in welchem Zeitalter du gräbst«, sagte Howard Steinleser. »Aber hier scheint eine Anomalie vorzuliegen. Manchmal scheint es mir, als wäre der Schlot viel jünger als der Hügel. Aber trotzdem kann er nicht so jung sein, daß er in seinem Inneren beschriftete Felstafeln enthalten könnte. Aber genau das ist der Fall.« »Aber die Archäologie besteht doch nur aus Anomalien«, sagte Terrence. »Und wir schieben diese Widersprüche so lange hin und her, bis sie in ein Muster passen. Was sollten wir denn auch anderes tun? Es gibt kein System.« »Jede Wissenschaft besteht ursprünglich aus Widersprüchen, die so lange zusammengesetzt werden, bis sie schließlich zusammenpassen«, sagte Robert
Derby. »Konntest du den Stein entziffern, Howard?« »Ja, ganz gut sogar. Viel besser als ich gedacht hatte. Karl August kann es natürlich noch viel genauer belegen, wenn wir wieder an der Universität sind. Es ist weder ein Häuptlings- noch ein Stammeserlaß, kein Kriegsaufruf, kein Aufruf zur Jagd; es läßt sich unter keine der üblichen Kategorien einreihen. Man könnte es allenfalls eine persönliche Äußerung nennen. Die Übersetzung ist, glaube ich, noch ziemlich holprig.« »Felsig ist, glaube ich, besser«, sagte Magdalena. »Also los, Howard«, rief Ethyl aufgeregt. »Das bist alles du: die Freiheit der Wildschweine im Sauerklee die adelige Anmut des Dachses, das geschmeidige Funkeln der Schlange und das erhabene Rauschen der Schwingen des Geiers. Du bist das leidenschaftliche Brennen der Mesquite-Büsche, die der Blitz entzündet hat, und die heitere Gelassenheit der Kröte.« »Ihr müßt zugeben, daß das ein eigenartiger Stil ist«, sagte Ethyl. »Deine Liebesbriefe waren weit weniger prägnant, soweit ich mich erinnern kann.« »Was soll das überhaupt sein, Steinleser?« fragte Terrence. »Es muß doch irgendwie einzuordnen sein.« »Ich glaube, Ethyl hat recht. Es ist ein Liebesgedicht. ›Du bist das Wasser in der Felsenzisterne und die lauernden Spinnen in diesem Wasser, Du bist der tote Coyote, der unten am Ufer des Flusses liegt, und die alten eingefangenen Träume im Hirn des Coyoten, das wäßrig aus den zerborstenen Augenhöhlen rinnt, und du bist auch der Schwarm emsiger Fliegen, der sich um diese Augenhöhlen niederläßt‹.«
»Hör auf, Steinleser!« rief Robert Derby. »Das kannst du doch unmöglich alles aus ein paar Kratzern auf dem Flint lesen. Was sind zum Beispiel diese ›eingefangenen Träume‹ in der Nahnat-TonoanBilderschrift?« »Das ausgefüllte Personenzeichen neben dem leeren Personenzeichen und beide eingeschlossen in dem Nachtzeichen, – diese Konstellation ist immer schon als das Zeichen für Traum interpretiert worden. Und hier ist dieses Traumzeichen noch eingeschlossen in das Zeichen für ›Tödliche Falle‹. Ja, ich bin ganz sicher, daß das ›eingefangene Träume‹ bedeutet. Aber laßt mich weiter lesen. ›Du bist die Made im Herzen des Maiskolbens, der nackte Vogel im Nest. Du bist die Krätze des kranken Hasen, die sein Leben aussaugt und es zu deinem Blutserum verwandelt. Du bist die Sterne, in Kohle gepreßt, aber du kannst nicht geben und du kannst nicht nehmen. Am Fuß der Klippe wirst du wieder zerbrechen, und das Wort wird ungesagt bleiben auf deiner purpurnen, geschwollenen Zunge.‹« »Ein Liebesgedicht? Schon möglich – aber eigenartig«, sagte Robert Derby. »Ich habe nie so werden können, wie er es wollte, und ich habe es doch versucht –, ich habe es wirklich versucht«, jammerte Magdalena. »Hier wechselt jetzt das Subjekt, das zeigt das Zeichen mit dem aufgestellten Auge in Verbindung mit dem Zeichen für Selbst«, erklärte Steinleser. »Es erzählt jetzt in der ersten Person. ›Ich besitze 10 000 Büschel Mais. Ich besitze Gold und Bohnen und neun Büffelhörner voll Wassermelonensamen. Das Leinenkleid, das die Sonne trug, als sie am vierten Tag über
den Himmel zog, ist in meinem Besitz. Auf der ganzen Welt gibt es nur drei Leinenkleider, die älter sind und auch wertvoller. Ich rufe dich an mit mächtiger Stimme, wie der hämmernde Schrei der Reiher und das Röhren der Büffel. Meine Liebe ist stark und sehnig wie ineinander verknäulte Schlangenleiber. Sie ist beständig und unbeirrbar wie das Faultier, sie ist wie ein gefiederter Pfeil, der in deinem Unterleib steckt – das alles ist meine Liebe. Warum wird meine Liebe nicht erwidert?‹« »Steinleser, sagen Sie mir eins«, fiel Terrence Burdock ihm ins Wort. »Wie sieht das Zeichen für ›nicht erwidert‹ aus?« »Es ist das Zeichen der ausgestreckten Hand. Nur sind alle Finger zurückgebogen. Es lautet weiter: ›Ich beschwöre dich! Stürze dich nicht hinunter! Du glaubst, du stündest auf der Himmelsbrücke, aber du stehst am Rande des Abgrunds. Ich lege mich zu deinen Füßen. Ich bin nicht mehr als Hundekot.‹« »Ihr habt gehört, daß er das gesagt hat und nicht ich«, platzte Magdalena heraus. Was Magdalena sagte, schien ihnen oft unverständlich und ohne jeden Zusammenhang. »Aber lesen Sie doch weiter, Steinleser«, sagte Terrence. »Das Mädchen ist krank oder sie spricht im Traum.« »Das war die ganze Inschrift, Terrence, mit Ausnahme eines Schlußglyphen, den ich nicht ganz verstehe. Eine Bilderschrift braucht ziemlich viel Platz. Mehr Zeichen konnte der Stein nicht aufnehmen.« »Was ist das für ein Zeichen, das du nicht verstehst, Howard?« »Es ist das Zeichen für einen Speerwerfer in Ver-
bindung mit dem Zeichen für Zeit. Manchmal bedeutet es ›wegschleudern‹ oder ›hinüberschleudern‹, aber was heißt es hier?« »Es heißt ›Fortsetzung‹, du Dummkopf, ›Fortsetzung‹!« sagte Magdalena. »Keine Angst, es gibt noch mehr Steine.« »Oh, ich finde es schön«, sagte Ethyl Burdock. »Natürlich in seinem ursprünglichen Kontext.« »Warum nimmst du ihn dann nicht, Ethyl, in seinem ursprünglichen Kontext?« fragte Magdalena. »Mir ist es egal, wie viele Bündel Mais er hat. Bei mir ist es vorbei.« »Wen nehmen, meine Liebe?« fragte Ethyl. »Howard Steinleser kann aus den Steinen lesen, aber wer wird aus unserer Magdalena klug?« »Oh, ich kann sie lesen wie einen Felsen«, lächelte Terrence Burdock. Aber er konnte es nicht. Es hatte sich aber schon in ihnen festgesetzt. Es war überall um sie herum und in ihnen: das geschmeidige Schimmern der Schlange und die Heiterkeit der Kröte, die verborgenen Spinnen unter dem Wasser, die eingefangenen Träume, die aus zerborstenen Augenhöhlen sickern, die Krätze des kranken Hasen, der röhrende Büffel und der Pfeil, der im Unterleib steckte. Eingehüllt in den Nachtgeruch von Flint, aufgebrochener Erde und gluckernden Rinnsalen und die Feuchtigkeit und den einzigartigen Moschusduft, der da heißt Anmut des Dachses. Archäologie und Mythos vermischten sich in ihren Gesprächen, schließlich war es tiefe Nacht, und dann brach der Morgen des dritten Tages an. Oh, die Versuchsgrabungen verliefen prächtig.
Dieser Hügel schien tatsächlich noch reichhaltiger zu sein als Spiro, obwohl der erste Anstich nicht viel mehr brachte als ein Versprechen. Und dieser seltsame Zwillingsbruder des Hügels, der Schlotfelsen – er stand da in seiner ganzen Größe, wie selbstverständlich und doch voller Widersprüche. Die Zeit hatte sich mit dem Schlot einen Scherz erlaubt, wenigstens was die seltsame Riefelung in seinem Kern anbetraf, alles übrige war normal und uninteressant. Anteros schien an diesem Tag in ein dumpfes Brüten versunken zu sein, und auch Magdalena schien über etwas nachzugrübeln – nur wirkte das bei ihr, als ginge eine Art Leuchten von ihr aus. »Perlen, Glasperlen!« schrie Terrence zornig. »Schaut her! Wer von uns war denn der Spaßvogel? Das geht doch etwas zu weit.« Terrence hatte schon den ganzen Tag ein mürrisches Gesicht gemacht. Auch er hatte nun Kratzspuren im Gesicht wie Steinleser am Tag vorher und war auf die ganze Welt schlecht zu sprechen. »Solche Glasperlenverstecke hat man schon zu Hunderten gefunden, Terrence!« sagte Robert Derby mit ruhiger Stimme. »Und es haben sich auch schon Hunderte immer wieder denselben Spaß erlaubt«, knurrte Terrence. »Jeder dieser Glasperlen sieht man doch an, daß sie aus Hongkong stammt, ganz billige Ware, die man zentnerweise kaufen kann. In einer Schicht aus dem Jahr 700 haben die nichts verloren. Also nochmals, wer war der Spaßvogel?« »Ich glaube nicht, daß einen von uns die Schuld trifft, Terrence«, sagte Ethyl. »Wir haben sie in vier Meter Tiefe gefunden, auf der Hangseite des Hügels.
Wir haben uns durch eine 300 Jahre alte Humusschicht gegraben, bis wir auf sie gestoßen sind, und gewiß hat die Erosion auf diesem Hügel schon viel früher eingesetzt.« »Wir sind Wissenschaftler«, sagte Steinleser. »Wir finden zufällig diese Glasperlen. Auch andere haben zufällig solche Glasperlen gefunden. Versuchen wir doch lieber herauszubekommen, was daran so ungewöhnlich ist.« Es war Mittag. Sie hatten gegessen, und jetzt ruhten sie sich aus und diskutierten den seltsamen Fund. Anteros hatte ein großes Stück kalten Braten gebracht, und sie hatten Sandwiches gemacht mit Essiggurken und Bier dazu getrunken. »Es ist ja nicht nur das Seltsame an all diesen Glasperlen, daß sie überall da gefunden werden, wo man sie am wenigsten vermutet«, sagte Robert Derby. »Alle diese frühen indianischen Perlen bergen ein echtes Geheimnis, ob sie jetzt aus Knochen oder Stein oder Horn sind. Es gibt jedoch Abermillionen solcher wunderbar gearbeiteten Perlen mit einer Bohrung, die noch viel feiner ist als der feinste Bohrer, der je gefunden wurde. Es gibt Fundstellen, ganze Zentren früher indianischer Handwerkskunst, die Entwicklung jedes einzelnen Werkzeugs läßt sich zurückverfolgen, aber warum gibt es diese Millionen durchbohrter Perlen, und nicht einen einzigen Bohrer? Bisher ist kein Verfahren bekannt, mit dem man einen so feinen Bohrer herstellen könnte. Wie haben sie das also gemacht?« Magdalena kicherte. »Der Perlenspucker«, sagte sie. »Der Perlenspucker? Dein Verstand ist jetzt wohl
vollkommen durcheinander geraten«, sagte Terrence wütend. »Das ist ja wohl die dümmste und unglaubhafteste allerindianischen Legenden.« »Aber immerhin gibt es diese Legende«, sagte Robert Derby. »Und diese Legende taucht bei über dreißig vollkommen verschiedenen Stämmen auf. Die Kariben auf Kuba erzählten, daß sie ihre Perlen von den Perlenspuckern hatten. In Panama erzählten die Indianer Balboa dasselbe und die gleiche Geschichte erzählten die Pueblo-Indianer Coronado. In jeder Gemeinschaft gab es einen Indianer, der Perlenspukker war. Es gibt Greek-, Alabama- und KoasatiLegenden von Perlenspuckern. Sieh nur in der Sammlung von Swanton nach, seine Aufzeichnungen haben einen festen Platz in der Kulturgeschichte erobert.« »Aber es kommt noch dicker. Als aus Europa zum erstenmal Glasperlen als Tauschgegenstände eingeführt wurden, erzählt, eine Geschichte von einem Indianer, der diese Perlen nahm und sagte: ›Ich werde sie unserem Perlenspucker zeigen. Wenn er sie gesehen hat, kann er auch solche spucken‹. Und tatsächlich: der Perlenspucker spuckte von nun an eimerweise diese neuen Perlen. Eine andere indianische Erklärung über den Ursprung dieser Perlen gibt es nicht. Sie stammen alle von Perlenspuckern.« »Das klingt recht unrealistisch«, sagte Ethyl. Und das war es auch. »Ach Unsinn! Ein Perlenspucker aus dem Jahr 700 konnte unmöglich zukünftige Perlen spucken, er konnte keine billigen Hongkong-Glasperlen spucken, wie sie heute verkauft werden!« Terrence war wütend.
»Verzeihung, Sir, das konnte er schon«, sagte Anteros. »Jeder Perlenspucker kann zukünftige Perlen spucken, wenn er dabei genau nach Norden sieht. Das ist schon immer so gewesen.« Terrence war zornig, er schäumte förmlich vor Wut, und er verdarb den anderen den ganzen Tag damit. Die roten Striemen auf seinem Gesicht traten noch purpurner hervor als je zuvor. Aber er wurde gleich darauf noch wütender. Er hatte nämlich gesagt, daß er seltsame überhängende Felsen auf der Spitze des Schlots sehr gefährlich sei, daß er abbrechen und möglicherweise jemand von ihnen töten könnte. Und Anteros hatte ihm geantwortet, daß es an dem ganzen Schlot keinen überhängenden Felsen gäbe, daß ihm nur seine Augen etwas vorgaukelten und schließlich, daß Terrence sich besser in den Schatten setzen und etwas ausruhen sollte. Und als er dann zufällig sah, daß Magdalena etwas zu verstecken suchte, was sie in einer Spalte des Schlotfelsens gefunden hatte, schien für ihn das Maß voll zu sein. Der Stein war groß und schwer, fast zu schwer, sogar für die unglaublichen Kräfte Magdalenas. Sie hatte ihn aus der Spalte des Schlots herausgezerrt und ihn fallen gelassen. Sie war gerade dabei, ihn mit Steinen und Schotter zu bedecken. »Robert, markiere die Stelle, von der dieser Stein kommt!« rief Terrence laut. »Jetzt kann man sie noch gut sehen. Magdalena, hör auf damit! Was immer es auch ist, wir müssen es auf der Stelle untersuchen!« »Ach, es ist ja nur wieder dieselbe verrückte alte Sache! Wenn er mich doch nur in Ruhe gelassen hätte. Mit seinem Geld hätte er eine Menge anderer Mädchen haben können. Außerdem ist es meine Pri-
vatangelegenheit, Terrence. Du hast hier überhaupt nicht deine Nase hineinzustecken.« »Du bist hysterisch, Magdalena. Und ich könnte dir verbieten, weiter an den Grabungen teilzunehmen.« »Ich wollte, ich könnte gehen. Aber ich kann nicht. Ich wollte, ich könnte lieben, aber ich kann nicht. Warum genügt es nicht, daß ich sterben muß?« »Howard, mach dich am Nachmittag darüber her«, befahl Terrence. »Hier ist eine Art Schrift eingraviert. Wenn es das ist, wofür ich es halte, sind meine Befürchtungen richtig. Diese Felsplatte ist viel zu jung, um in irgendeinem beliebigen, verwitterten Schlotfelsen vorzukommen, Howard. Und sie hat es weit unterhalb der Felsspitze gefunden. Versuche es zu entziffern!« »Gib mir nur ein paar Stunden Zeit, und ich werde schon etwas herausbringen. Ich habe so etwas selbst noch nicht gesehen. Was glaubst du, was es ist, Terrence?« »Was glaubst du wohl, wofür ich es halte? Es ist viel jünger als der andere, und schon der war unmöglich. Ich will aber nicht der erste sein, der sich für verrückt erklärt.« Howard Steinleser machte sich also über den beschrifteten Stein her, und zwei Stunden vor Sonnenuntergang brachten sie ihm noch einen anderen, einen grauen Specksteinblock aus einer höheren Gesteinslage. Auch dieser war mit Zeichen bedeckt, die wiederum völlig verschieden waren von denen auf dem anderen Stein. Sonst ging die Arbeit gut voran, zu gut. Die altbekannte, und ihnen bereits anrüchige Zufälligkeit hatte
sich wieder eingestellt. Nirgendwo konnte eine Serie von Funden so lückenlos, so perfekt sein, und nirgendwo Versteinerungen in so wohlgeordneter Reihenfolge auftreten. »Robert«, rief Magdalena zu Robert Derby hinunter, gerade als die Sonne unterging. »Auf der hochgelegenen Wiese über dem Flußufer, ungefähr vierhundert Meter flußabwärts, direkt hinter dem alten Weidezaun ...« »... ist ein Dachsbau, Magdalena. Jetzt hast du mich auch schon so weit, daß ich auf diese Entfernung nicht sichtbare Dinge sehe. Wenn ich meinen Karabiner nehme und ganz ruhig zu dem Dachsbau hinterschlendere, wird der Dachs genau dann den Kopf herausstrecken, wenn ich in Reichweite bin (ich werde nämlich Gegenwind haben, so daß er meine Witterung nicht aufnehmen kann), und ich werde ihn genau zwischen die Augen treffen. Es ist ein Prachtexemplar – fünfzig Pfund.« »Dreißig. Bring ihn mir, Robert. Wenigstens zeigst du etwas mehr Verständnis als die anderen.« »Aber, Magdalena! Dachsfleisch verliert doch niemals seinen Wildgeschmack. Es wird auch kaum gegessen.« »Darf denn das verdammte Mädchen als Henkersmahlzeit nicht das haben, was es sich wünscht? Also geh schon, Robert!« Robert ging. Der dünne Knall des Karabiners war auf diese Entfernung kaum zu hören. Es dauerte nicht lange, und Robert kam mit dem toten Dachs zurück. »Brate ihn, Ethyl«, befahl Magdalena. »Ja, ich weiß schon. Und wenn ich nicht weiß wie, wird mir Anteros helfen.« Aber Anteros war nicht
hier. Sie fanden ihn, er saß auf einem kleinen Erdhügel und starrte in die untergehende Sonne. Seine Schultern waren gebeugt, und er schluchzte still vor sich hin. Sein Gesicht war wie eine geschnitzte Maske aus grauem Tuffstein. Er stand jedoch sofort auf und ging mit ihnen zurück, um Ethyl bei der Zubereitung des Dachses zu helfen. »Wenn du schon beim ersten Stein heute deine Befürchtungen hattest, Terrence, beim zweiten werden dir die Haare zu Berge stehen«, sagte Howard Steinleser. »Das sowieso, das glaub ich dir aufs Wort. Alle Steine sind nämlich viel zu jung, um in dieser Schlotformation aufzutreten. Aber der letzte ist eine glatte Beleidigung. Er dürfte noch keine zweihundert Jahre alt sein, und trotzdem lag er unter einer Schicht, die älter ist als tausend Jahre. Welche Zeit ist dort nur begraben?« Sie hatten den arg nach Wild schmeckenden Dachsbraten gegessen und dann den Geschmack mit billigem Whisky hinuntergespült (Anteros hatte den Whisky besorgt, und er hatte nicht gewußt, daß er minderwertig war), und angenehm betäubt von einem Moschusduft, der aus der Luft in ihre Poren drang und ihre Körper erfüllte, saßen sie schweigsam um das Lagerfeuer. Manchmal ereigneten sich in der Glut winzige Explosionen, und die Flammen schlugen dann höher. Bei einem solchen Höherschlagen der Flammen sah Terrence Burdock, daß auf der Spitze des Schlots wieder jener drohende überhängende Fels lag. Er erinnerte sich, daß er ihn tagsüber schon einmal gesehen hatte, aber dann war er plötzlich verschwunden gewesen – nämlich, als er sich in den
Schatten gesetzt und sich ausgeruht hatte. Und er war ganz gewiß nicht da gewesen, als er selbst den Schlot erklettert hatte, um sich von seinem Vorhandensein zu überzeugen. »Wir wollen jetzt das zweite Kapitel hören und dann das dritte, Howard«, sagte Ethyl. »In der Reihenfolge ist es doch am besten, nicht wahr?« »Ja. Also, das zweite Kapitel (der erste und unterste Stein, und offensichtlich auch der älteste, auf den wir heute gestoßen sind) ist in einer Sprache verfaßt, die noch nie zuvor jemand geschrieben gesehen hat. Und doch ist sie kinderleicht zu lesen. Selbst Terrence hatte richtig vermutet, oder besser gesagt, befürchtet, was es ist. Es ist die Anadarko-Caddo-Fingersprache – in Stein geritzt. Es ist die sogenannte Zeichensprache der Prärie-Indianer, niedergeschrieben in bildhaft-abstrahierenden Piktogrammen. Und sie muß jüngeren Datums sein, aus den letzten dreihundert Jahren. Als die Spanier kamen, gab es diese Fingersprache bereits da und dort, sie war weit verbreitet und voll entwickelt, als die Franzosen das erstemal hier landeten. Wie oft bei solchen Dingen, ist die Entwicklung beinahe explosiv verlaufen – innerhalb von hundert Jahren. Der Stein muß also viel jünger sein als sein Fundort, und doch paßt er genau in seine Umgebung.« »Lies schon vor, Howard! Lies!« rief Robert Derby. Robert schien als einziger etwas aufgekratzt zu sein, während die anderen mit traurigen Blicken ins Feuer starrten. »Ich besitze dreihundert Ponies«, las Steinleser auf der Steinplatte, als kenne er den Text auswendig. »Alles Land, zwei Tagesritte nach Norden, Osten und
Süden und einen nach Westen, gehört mir. All das soll dein sein. Meine Stimme tönt gewaltig wie der Waldbrand in den Wipfeln hoher Bäume, wie das Explodieren von Föhrenkronen im Feuersturm. Meine Stimme ist wie das Geheul der Wölfe, die ihre Beute einkreisen, wie das Aufbrüllen des Pumas, wie der heisere Schrei gerissener Kälber. Zerstöre dich nicht! Du bist der Morgentau auf dem Tollkraut, die scharfe, sichelförmige Schwinge des niederstürzenden Nachtfalken, die samtweiche Pfote eines Stinktiers, der Saft des Sauerkürbis. Warum kannst du weder nehmen noch geben? Ich bin der gewaltige, hökkerige Büffelbulle der großen Prärien, und ich bin der Fluß und die modrigen Tümpel, die er an seinen Ufern zurückläßt, ich bin die nackte Erde und der Fels. Komm zu mir, aber komm nicht zu heftig, um dich nicht selbst zu zerstören!« »Äh –, also das war der Text des ersten Steins heute, die in den Stein gravierte Anadarko-CaddoFingersprache. Und da sind noch zwei Schlußzeichen, die ich nicht ganz verstehe: ein abgeschossener Pfeil und ein Felsbrocken.« »Fortsetzung auf dem nächsten Stein, natürlich«, sagte Robert Derby. »Aber sag mal, warum wurde eigentlich die Fingersprache niemals aufgezeichnet? Die Zeichen sind doch einfach und sinnfällig stilisiert und sie wurden von einer Vielzahl von Stämmen verstanden. Es wäre doch nur natürlich gewesen, sie niederzuschreiben.« »Das hängt damit zusammen, daß das Alphabet bekannt wurde, bevor die Fingersprache ausreichend entwickelt war«, sagte Terrence Burdock. »Tatsächlich hat die Ankunft der Spanier den Anstoß zur Fin-
gersprache gegeben. Sie wurde ursprünglich für die Verständigung zwischen Spaniern und Indianern e ntwickelt und nicht zwischen Indianern untereinander. Ich glaube doch, daß schon einmal eine Fingersprache niedergeschrieben wurde; und das war der Ursprung der chinesischen Schriftzeichen. Und auch dort diente sie zunächst als Verständigungsmittel zwischen fremden Völkern. Verlaßt euch darauf, hätten die Menschen von Anfang an nur eine einzige Sprache gesprochen, so hätte es wohl nie eine Schrift gegeben. Die Schrift stellte ursprünglich immer so etwas wie eine Brücke dar, mit der zwei Seiten eine unüberwindbar erscheinende Kluft überbrücken wollten.« »Wir haben hier auch eine Kluft zu überbrücken«, sagte Steinleser. »Dieser ganze Schlotfelsen ist wie ein stinkender alter Rauch. Sein oberer Teil müßte älter sein als die Basis des Hügels, der auf einer Gesteinsschicht errichtet wurde, die die Erosion von dem Schlot abgetragen hat. Aber in vieler Hinsicht scheinen sie gleich alt zu sein. Irgendwie scheinen wir hier alle unter einem Fluch, unter einem Bann zu stehen. Wir arbeiten jetzt schon zwei Tage hier, fast schon drei, und die Widersprüchlichkeit der Situation ist uns noch nicht einmal recht bewußt geworden. Das alte Nahuatl-Zeichen für Zeit ist das Zeichen für Kamin, also Schlot. Die Gegenwart wird mit dem unteren Teil des Kamins versinnbildlicht, wo das Feuer brennt. Die Vergangenheit ist schwarzer Rauch, und die Zukunft ist weißer Rauch, der aus dem Kamin steigt. Über den ganzen Stein läuft eine Art Signatur, die ich bis jetzt nicht verstehe. Es scheint etwas darzustellen, das den Kamin herunter-, nicht hinaufsteigt.«
»Es sieht nicht einmal wie ein Kamin aus«, sagte Magdalena. »Ein Mädchen sieht auch nicht gerade wie Morgentau auf den Blättern des Tollkrauts aus, Magdalena«, sagte Robert Derby, »aber wir wollen diese Vergleiche wenigstens zur Kenntnis nehmen.« Eine Weile sprachen sie noch über die Unmöglichkeit der ganzen Sache. »Ihr habt ja alle Schuppen vor den Augen«, sagte Steinleser. »Der geriffelte Kern des Schlots ist auf jeden Fall falsch. Ich bin nicht einmal sicher, ob nicht der ganze Schlot eine Fälschung ist.« »Das ist er nicht«, sagte Robert Derby. »Wir können den größten Teil der verschiedenen Schichten des Felsens mit uns bekannten Perioden aus der Umgebung des Flusses in Verbindung bringen. Ich war heute unten am Fluß. Dort gibt es eine Stelle, wo die Erosion den Sandstein überhaupt nicht angegriffen hat, etwa dreihundert Meter neben dem alten Flußbett und unter einer etwa hundertjährigen Schicht aus Lehm und anderen Ablagerungen. Und es gibt andere Stellen, wo der Stein zum Teil abgetragen ist. Wir können genau sagen, wann etwa der größte Teil des Schlots entstanden ist, und wir finden die entsprechenden Schichten bis zu den letzten paar Jahrhunderten. Aber wann entstanden die oberen drei Meter des Schlotfelsens? Es gibt in der ganzen Gegend nichts, was dem entsprechen würde. – Leute, die Jahrhunderte, die in den obersten Schichten des Kamins repräsentiert werden, diese Jahrhunderte sind noch gar nicht angebrochen!« »Und wann ist wohl der dunkle, überhängende
Fels auf der Spitze entstanden ...?« fragte Terrence und unterbrach sich. »Ach, ich bin ja verrückt. Den gibt es ja gar nicht. Ich muß wirklich nicht bei Verstand sein.« »Nicht weniger als wir auch«, sagte Steinleser. »Ich glaube, ich hab ihn heute auch schon mal gesehen, aber seitdem ist er wieder verschwunden.« »Diese ganze Felserzählung kommt mir vor wie eine uralte Geschichte, an die ich mich nur noch undeutlich erinnere«, sagte Ethyl. »Ja, genauso ist es«, murmelte Magdalena. »Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was aus dem Mädchen wurde, das in der Geschichte vorkam.« »Ich kann mich genau erinnern, was mit ihr geschah, Ethyl«, sagte Magdalena. »Also, lies uns das dritte Kapitel vor, Howard«, sagte Ethyl. »Ich möchte wissen, wie es ausgeht.« »Ihr solltet vielleicht vorher alle einen Whisky trinken gegen die Kälte«, schlug Anteros schüchtern vor. »Aber es friert doch niemand«, entgegnete Ethyl. »Halte du dich ruhig an deine eigene Medizin, Ethyl«, sagte Terrence, »ich halte mich an meine. Ich möchte einen Whisky. Ich friere nicht, weil es hier vielleicht kalt wäre, sondern weil ich Angst habe.« Schließlich tranken sie alle Whisky. Sie unterhielten sich noch eine Weile, und einige fingen an zu dösen. »Es ist schon spät, Howard«, sagte Ethyl schließlich. »Lies uns schon das nächste Kapitel vor. Ist es das letzte Kapitel? Dann gehen wir endlich schlafen. Wir haben morgen viel zu tun.« »Unser dritter Stein, also der zweite, den wir heute gefunden haben, trägt wiederum einen anderen und
noch späteren Schrifttypus, und vor allem: diese Schrift ist vorher niemals auf Stein festgehalten worden. Es ist eine Kiowa-Bilderschrift. Die Kiowas ordneten ihre Bilder entlang einer sich öffnenden Spirale, und zwar auf samtweich gegerbten Büffelhäuten. In der ziemlich kultivierten Form, wie sie hier vorliegt, ist sie ziemlich spät anzusetzen. Möglicherweise hätte diese Bilderschrift ohne den Einfluß weißer Künstler niemals diese hohe Stufe erreicht.« »Wie alt, Steinleser?« fragte Robert Derby. »Kaum älter als einhundertfünfzig Jahre. Aber ich habe nie gesehen, daß sie auf Stein geschrieben wurde. Es ist auch gar nicht der Typ von Schrift, der sich für Stein eignet. Ich bin hier überhaupt in letzter Zeit vielem begegnet, was ich noch nie zuvor gesehen habe. Also zu unserem Text, oder vielleicht sollte ich besser sagen: zu unseren Bildern? ›Du fürchtest dich vor der Erde, vor dem nackten Boden und dem Fels, vor der Feuchtigkeit und dem verfaulenden Fleisch – überhaupt vor dem Fleisch, weil alles Fleisch einmal faulendes Fleisch sein wird. Wenn du keine Liebe hast für faulendes Fleisch, dann hast du überhaupt keine Liebe. Du glaubst, vom Himmel herunter hängt eine Brücke, sie hängt an Lianen, die nach oben hin immer dünner werden, bis sie kaum mehr die Dicke eines Haares haben. Es gibt keine solche Himmelsbrücke, und du kannst nicht über sie gehen. Hast du geglaubt, daß die Wurzeln der Liebe von unten nach oben wachsen? Sie kommen aus den Tiefen der Erde, das heißt, aus altem, modernden Fleisch, Hirnen und Herzen und Eingeweiden, aus Innereien von Büffeln und Schlangen, also aus schwarzem Blut und Fäulnis
und Stöhnen. Das ist eine alte und abgetragene und blutige Zeit, und die Wurzeln der Liebe wachsen aus ihrem geronnenen Blut ...‹« »Das scheint mir aber eine bemerkenswert detaillierte Übersetzung zu sein, Steinleser. Und das lediglich aus ein paar spiralenförmig angeordneten Bildern?« sagte Terrence. »Aber schön langsam komme ich in die richtige Stimmung.« »Hm, vielleicht habe ich auch etwas geschwindelt«, gestand Steinleser. »Sogar eine ganze Menge«, rief Magdalena herausfordernd. »Nein, das stimmt nicht. Für jeden Satz, den ich gesagt habe, gibt es hier in diesen Bildern Anhaltspunkte. Es geht weiter: ›Ich besitze zweiundzwanzig Gewehre zum Tauschen. Ich besitze Ponies. Ich besitze mexikanisches Silber, Achtunzen-Stücke. Ich bin in jeder Hinsicht reich. Ich schenke dir alles. Ich rufe es mit der Stimme des Bären, der trunken ist von gegorenem Honig, mit der Stimme eines verliebten Ochsenfrosches, mit der des Hengstes, der gegen einen Puma kämpft. Es ist die Erde, die dich ruft. Und ich bin die Erde, wolliger als junge Wölfe und härter als Fels. Ich bin der Sumpf der dich verschlingt. Du kannst nicht geben, du kannst nicht nehmen, du kannst nicht lieben, du glaubst, es gibt noch etwas anderes, du glaubst, es gibt eine Himmelsbrücke, über die du gehen kannst ohne herunterzufallen. Ich bin die Erde, störrisch und bockig wie der Eber, es gibt keine andere. Am Morgen wirst du zu mir kommen. Leichtfüßig und anmutig wirst du kommen. Oder zögernd und widerwillig, und jeder Knochen, jedes Glied wird dir gebrochen werden. Unser Zu-
sammentreffen wird dich zerschmettern. Ein Blitz der aus der Erde steigt, wird sich zerschmettern. Ich bin das rote Kalb, von dem in den Schriften zu lesen ist. Ich bin die faulende rote Erde. Ob du am Morgen leben wirst oder ob du stirbst – denk daran, daß die Liebe im Tod besser ist als überhaupt keine Liebe ...‹« »Junge! Junge! So etwas hätte wohl niemand hinter diesen kindischen Bildchen vermutet, Steinleser«, stöhnte Robert. »Also, das war das Ende der Spirale. Und eine solche Kiowa-Spirale endet entweder mit einem kleinen Einschlag nach innen oder nach außen. Diese hier endet mit einem nach außen, das heißt also –« »Fortsetzung auf dem nächsten Stein, das heißt es doch, oder?« rief Terrence heiser. »Die nächsten Steine werdet ihr nicht mehr finden«, sagte Magdalena. »Sie sind verborgen, und die meiste Zeit werden sie noch gar nicht da sein, aber es wird kein Ende nehmen mit diesen Steinen. Aber ihr werdet es ja morgen sowieso aus den Felsen lesen können. Ich möchte, daß endlich Schluß damit ist. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich will!« »Ich glaube, ich weiß, was du willst, Magdalena«, sagte Robert Derby. Aber er wußte es in Wirklichkeit nicht. Das Gespräch verstummte allmählich, und das Feuer war schon fast niedergebrannt. Schließlich krochen sie alle in ihre Schlafsäcke. Nach einer langen, unruhigen Nacht brach der Morgen des vierten Tages an. Aber halt! In den Nahuatl-Legenden bedeutet der vierte Morgen das Ende der Welt. Alle Leben, die wir gelebt haben oder von denen wir geglaubt haben, wir hätten sie gelebt, waren nur Träume der dritten
Nacht. Das Lendentuch, das sich die Sonne für die vierte Tagesreise umgeworfen hatte, war längst nicht so kostbar wie man vermutet hatte. Sie trug es kaum länger als eine Stunde. Und tatsächlich, dieser vierte Morgen hatte etwas Endgültiges. Anteros war verschwunden, Magdalena war verschwunden und der Schlotfelsen sah eigentümlich geschrumpft aus (irgend etwas fehlte an ihm) und noch viel verrückter und bizarrer. Die Sonne war in einem grellen, vom Morgendunst leicht verschleierten Grauorange aufgegangen. Die Signatur, die den ersten Stein fast ausschließlich beherrscht hatte, schien jetzt direkt in die Landschaft gezeichnet zu sein. Es war, als ob etwas den Schlot herunter käme, ein Schrecken verbreitender Rauch – aber es waren nur die Morgennebel. Nein, das stimme doch nicht ganz. Es kam noch etwas anderes den Schlot herunter – oder direkt vom Himmel, den sie nicht sehen konnten: Kiesel, kleines Geröll, Steine, unbeschreibliche Batzen faulenden Schlamms, unappetitliche Brocken, Abfälle von der Festtafel des Himmels; ein leichter alptraumartiger Regen hatte eingesetzt; es war offensichtlich, daß der Schlot in sich zusammenstürzte. »Das ist doch die verdammteste Sache, die mir je zu Ohren gekommen ist«, grollte Robert Derby. »Glaubst du, daß Magdalena wirklich mit Anteros durchgebrannt ist?« Derby war verbittert und wütend an diesem Morgen, und sein Gesicht war schrecklich gezeichnet. »Wer ist Magdalena? Wer ist Anteros?« fragte Ethyl Burdock.
Terrence Burdock stand oben auf dem Hügel und rief zu ihnen hinunter. »Kommt alle herauf! Hier ist ein Fund, der alle unsere Mühen belohnt. Wir werden ihn fotografieren müssen und skizzieren, genau vermessen, und auch die Umgebung, damit wir genügend Beweise haben. Es ist der feinste Basaltkopf, den ich je in meinem Leben gesehen habe, so groß wie der eines Mannes, und ich nehme an, da steckt noch der ganze Körper eines Mannes in der Erde. Wir werden ihn dann anschließend ganz frei legen und säubern. Mensch! Das muß ein verrückter Kerl gewesen sein!« Aber Howard Steinleser studierte gerade einen leuchtend farbigen Gegenstand, den er mit beiden Händen umklammert hielt. »Was ist das, Howard? Was machst du da?« fragte Derby. »Äh, ich glaube, das ist der nächste Stein in der Reihe. Die Schrift ist irgendwie alphabetisch, aber deformiert – ein Element fehlt. Ich glaube fast, es ist modernes Englisch. Die Deformierung werde ich bald durchschaut haben. Dann dauert es keine Minute mehr, bis ich den Text entziffert habe. Er scheint von etwas ...« Steine und ganze Felsbrocken lösten sich von dem Schlot und stürzten herunter, Nebel stieg auf, der ihr Gedächtnis auslöschte, ihnen den Verstand nahm. »Steinleser, fehlt dir etwas?« fragte Robert Derby teilnahmsvoll. »Das ist doch kein Stein, was du da in der Hand hast.« »Es ist kein Stein. Ich dachte, es wäre einer. Was ist es dann?« »Es ist eine Osage-Orange. Die amerikanische Meracea. Das ist kein Stein, Howard.« Und das Ding
war wirklich eine kleine verdorrte, runzelige, holzige Orange und sah aus wie eine winzige Wassermelone. »Du mußt doch zugeben, Robert, daß diese runzelige Oberfläche ein wenig einer Schrift ähnelt.« »Ja, es sieht ein wenig wie Schrift aus, Howard. Aber gehen wir weiter hinauf. Terrence ruft schon die ganze Zeit. Du hast in der letzten Zeit zu viele Steine gelesen. Außerdem ist es hier nicht sicher.« »Warum hinaufgehen, Howard? Das andere kommt doch sowieso gleich herunter.« Es war die Erde, die widerborstig-eberköpfige, die sich jetzt grollend erhob. Ein Blitz schlug aus der Erde empor und fand sein Ziel. Wie von einer Explosion weggeschleudert und aufbrüllend schnellte der dunkle überhängende Fels von der Spitze des Schlots und prallte mit furchtbarer Gewalt auf die Erde. Er zerbarst in tausend Stücke. Und mit ihm die Gestalt, die in dem Moment auf der Spitze des Felsens gestanden hatte. Dann stürzte der Schlot ein. Der Aufprall hatte sie zerschmettert. Jeder Knochen und jedes Glied in ihrem Körper war gebrochen. Sie war tot. »Wer – wer ist sie?« stotterte Steinleser. »O Gott! Magdalena, natürlich«, rief Robert. »Ich kann mich ein wenig an sie erinnern. Hab sie aber nie so recht verstanden. Sie tanzte immer so herausfordernd herum wie eine Motte ums Licht, aber sie ließ sich nie fangen. Letzte Nacht wäre sie mir beinahe ins Gesicht gesprungen, als ich ihre Hinweise falsch verstanden hatte. Sie glaubten an so eine Art Himmelsbrücke. Die kommt in einer Menge Mythologien vor. Aber es gibt natürlich keine, weißt du. Ach verdammt.«
»Das Mädchen ist tot! Verdammt nochmal! Was machst du da, du wühlst immer in diesen Steinen herum?« »Vielleicht ist sie in diesen Steinen noch nicht tot, Robert. Ich werde in diesen Steinen lesen, was ich nur lesen kann, bevor etwas mit ihnen geschieht. Dieser überhängende Fels, der herunterfiel und zerbarst – das ist natürlich unmöglich. Das ist eine Schicht, die sich noch gar nicht geformt hat. Ich wollte schon immer die Zukunft lesen, und ein zweites Mal wird sich diese Möglichkeit wohl nicht mehr bieten.« »Du Narr. Das Mädchen ist doch tot! Kümmert das denn niemand? Terrence, hör doch auf, deinen Fund zu begackern. Komm herunter! Das Mädchen ist tot.« »Kommt schon rauf, Männer! Laßt doch dieses Geröll dort unten. Es hat keinen Wert«, rief Ethyl begeistert. »Es ist ein wunderschönes Stück! Ich habe noch nie in meinem Leben so etwas gesehen.« »Ethyl, ist denn alles an diesem Morgen wahnsinnig?« fragte Robert Derby, als er schließlich zu ihr hinaufkam. »Sie ist tot. Erinnerst du dich wirklich nicht mehr an sie?« »Ich weiß nicht ... Ist es das Mädchen dort unten? Das ist doch dasselbe Mädchen, das seit ein paar Tagen hier herumlungert. Sie hätte nicht auf diesen Felsen steigen sollen. Es tut mir leid, daß sie tot ist. Aber schau doch, was wir hier gefunden haben!« »Terrence. Du erinnerst dich doch an Magdalena, nicht wahr?« »Das Mädchen dort unten? Sie hat etwas Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das mir letzte Nacht die Hölle heiß gemacht hat. Bei der nächsten Gelegenheit muß jemand von uns in die Stadt fahren und den Sheriff
benachrichtigen, daß hier ein totes Mädchen liegt. Robert, hast du jemals so ein Antlitz gesehen? Wir haben schon etwas weiter gegraben, die Schultern sind auch noch dran. Ich glaube, das ist eine lebensgroße Figur. Wunderbar, einfach wunderbar!« »Terrence, du hast den Verstand verloren. Also – kannst du dich noch an Anteros erinnern?« »Aber gewiß, das ist der Zwillingsbruder des Eros. Aber niemand hat es jemals für wert befunden, diesem Symbol einer unerwiderten Liebe dauerhafte Gestalt zu verleihen. Donnerwetter! Das ist der richtige Name für ihn! Er paßt wunderbar auf ihn. Wir werden ihn Anteros nennen.« Nun, es war Anteros, so wie er lebte – oder gelebt hatte, ganz aus Basalt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, sein Schluchzen lautlos und erstarrt, und seine Schultern in leidenschaftlicher Bewegung erstarrt. Es war faszinierend, wie diese Figur gezeichnet war von ihrer erbarmungswürdigen Leidenschaft. Diese zu Stein gewordene Liebe hatte niemals Erfüllung gefunden. Vielleicht war er jetzt noch viel eindrucksvoller als später, wenn man ihn ganz von der Erde gesäubert haben würde. Er war noch Erde, er war die Erde selbst. Belanglos, welcher Epoche dieses Kunstwerk angehörte, es war einfach übermächtig, überwältigend. »Anteros, so wie er lebte, Terrence. Erinnerst du dich denn nicht mehr an unseren Ausgräber, Anteros Mannypenny?« »Aber sicher. Er hat sich heute morgen nicht zur Arbeit gemeldet, nicht wahr? Du kannst ihm sagen, daß er entlassen ist.« »Magdalena ist tot! Sie war doch eine von uns!
Verdammt, sie war die wichtigste von uns!« schrie Robert Derby. Terrence und Ethyl Burdock schienen ihn gar nicht gehört zu haben. Sie waren damit beschäftigt, den Rest der Statue freizulegen. Und unten am Fuß des Hügels stand Howard Steinleser und studierte dunkle, rissige Steinbrocken, die bald verschwinden würden, eine Schicht, die noch gar nicht geboren war; er las eine dunkle nebelhafte Zukunft.
Originaltitel: CONTINUED ON NEXT ROCK Copyright © 1970 by Damon Knight