»Lesen Sie das jetzt noch nicht vor«, sagte der Präsident schroff. »Wir werden den Bericht anhören, aber da ist erst no...
71 downloads
807 Views
586KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
»Lesen Sie das jetzt noch nicht vor«, sagte der Präsident schroff. »Wir werden den Bericht anhören, aber da ist erst noch etwas anderes. Ich wünsche, daß Sie dieser Versammlung die ganze Geschichte des AlphaAleph-Projektes erzählen.« »Die ganze Geschichte, Herr Präsident?« Knefhausen spielte das Spiel weiter. »Nein, Knefhausen. Nicht die offizielle Geschichte. Die Wahrheit!« »Herr Präsident!« rief Knefhausen, fassungslos vor Entsetzen. »Ich muß Ihnen sagen, ich protestiere gegen diese vorzeitige Enthüllung von lebenswichtigen –« »Die Wahrheit, Knefhausen!« schrie der Präsident. Es war das erste Mal, daß er in Knefhausens Anwesenheit seine Stimme erhob. »Ich werde diesen Raum nicht verlassen, bevor Sie ihnen nicht alles gesagt haben. Sagen Sie ihnen, warum die Russen recht hatten und wir gelogen haben! Sagen Sie ihnen, warum wir die Astronauten auf eine Selbstmordreise schickten und ihnen den Auftrag zur Landung auf einem Planeten gaben, von dem wir wußten, daß er gar nicht existiert!« DAS GOLD AM ENDE DES STERNENBOGENS von Frederik Pohl und andere Science-Fiction-Stories bekannter Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES 43 (Ullstein Buch 3096) Erzählungen von Eric Frank Russell, John W. Campbell, Arthur Conan Doyle, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION-STORIES 44 (Ullstein Buch 3102) Erzählungen von Kris Neville, J. T. McIntosh, Larry Niven SCIENCE-FICTION-STORIES 45 (Ullstein Buch 3109) Erzählungen von Robert Bloch, Robert U. Chambers, Isaac Asimov, Clifford D. Simak, Arthur C. Clarke
Ullstein Buch Nr. 3153 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernt Kling Umschlagillustration: ACE/Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus BEST SCIENCE FICTION FOR 1972, edited by Frederik Pohl Copyright © 1972 by Frederik Pohl Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03153-6
SCIENCE-FICTION-STORIES 46 (Ullstein Buch 3118) Erzählungen von Cordwainer Smith, Eric Frank Russell, H. Beam Piper, Gregory Benford SCIENCE-FICTION-STORIES 47 (Ullstein Buch 3130) Erzählungen von Eric Frank Russell, John. W. Campbell, Arthur Conan Doyle, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION-STORIES 48 (Ullstein Buch 3139) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings SCIENCE-FICTION-STORIES 49 (Ullstein Buch 3148) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings
Science-FictionStories 50 von Larry Niven James Tiptree jr. Frederik Pohl
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Der Mond scheint hell ... Larry Niven ........................................................
6
SOS im Weltraum James Tiptree jr. .................................................
51
Das Gold am Ende des Sternenbogens Frederik Pohl ......................................................
97
Larry Niven DER MOND SCHEINT HELL ... 1 Ich sah gerade die Nachrichten im Fernsehen, als die Veränderung vor sich ging. Es war wie eine huschende Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Ich lief zum Balkonfenster hinüber. Was immer gewesen war, ich kam zu spät. Der Mond schien sehr hell in dieser Nacht. Ich sah es, lächelte und ging zurück. Johnny Carson begann soeben seinen Kommentar. Bei den ersten Werbespots stand ich wieder auf, um etwas Kaffee aufzuwärmen. Die Werbung kam immer in Blöcken von drei oder vier Spots, wenn es auf Mitternacht zuging. Ich hatte Zeit. Als ich zurückkam, fiel mir der Mondschein auf. Er war schon vorher ungewöhnlich hell gewesen, aber jetzt war er noch heller. Faszinierend. Ich schob die Glastür beiseite und ging auf den Balkon hinaus. Der Balkon war nicht viel mehr als ein schmaler Sims, von einem Geländer umrandet und gerade genug Platz für einen Mann, eine Frau und ein tragbares Grillgerät. Die letzten Monate war die Aussicht schön gewesen, vor allem während die Sonne unterging. Das Elektrizitätswerk ließ ein Bürohochhaus mit riesigen Glasflächen bauen, von dem bis jetzt nur das Gerippe aus Stahlträgern stand. Als schattenhaft schwarze Silhouette vor einem roten Sonnenuntergangshimmel wirkte es oft gewaltig und surreali-
stisch und verdammt eindrucksvoll. Heute nacht ... Noch nie hatte ich den Mond so hell gesehen, nicht einmal in der Wüste. Hell genug, um dabei lesen zu können, überlegte ich, und als Nachgedanke: Aber das muß eine Täuschung sein. Der Mond konnte nie größer sein (hatte ich irgendwo gelesen) als ein Vierteldollarstück, das knapp drei Meter weit weg gehalten wurde. Er konnte einfach nicht hell genug sein, daß man in seinem Licht lesen könnte. Der Mond war erst in seiner Dreiviertel-Phase! Und dennoch, er hing strahlend hell über der San Diego-Schnellstraße nach Westen, und sogar die Lichtkegel der über die Straße gleitenden Autos schienen sich in seinem hellen Schein zu verlieren. Ich blinzelte in die Helligkeit und dachte dabei an Männer, die über den Mond schritten und schwache Fußabdrücke im Mondboden hinterließen. Wegen eines Artikels, den ich schrieb, hatte ich einmal ein knochentrockenes Stück Mondgestein anfassen und in der Hand halten dürfen ... Ich hörte, wie die Show im Fernsehen wieder anfing, und ging in die Wohnung hinein. Aber mit einem kurzen Blick zurück sah ich, daß der Mond noch viel heller wurde – als wäre er zuvor von Wolken halb verdeckt gewesen und träte jetzt erst mit seinem vollen Schein hervor. Sein Licht war jetzt unerträglich grell, zum Verrücktwerden! Das Telefon klingelte fünfmal, bevor sie abhob. »Hallo«, sagte ich. »Hör mal ...« »Hallo«, sagte Leslie, verschlafen und vorwurfs-
voll. Verflucht! Ich hatte gehofft, sie würde wie ich noch vor dem Fernseher sitzen. »Stimm jetzt bitte nicht gleich ein großes Geschrei an«, sagte ich schnell. »Ich hatte nämlich einen guten Grund, dich anzurufen. Du bist wohl schon im Bett? Steh bitte mal auf und – kannst du aufstehen?« »Wieviel Uhr ist es?« »Kurz vor zwölf.« »O Gott!« »Geh bitte auf deinen Balkon hinaus und sieh dich um.« »M-hm.« Sie legte den Hörer beiseite. Ich wartete. Leslies Balkon lag in nordwestlicher Richtung wie meiner, aber er lag zehn Stockwerke höher und bot einen entsprechend besseren Ausblick. Durch mein eigenes Fenster brannte der Mond wie eine grelle Filmlampe. »Stan? Bist du noch da?« »Ja. Was hältst du davon?« »Phantastisch! Ich habe noch nie so was gesehen. Was kann bloß den Mond so zum Aufleuchten bringen?« »Keine Ahnung, aber es ist phantastisch!« »Du bist schon länger hier.« Leslie war erst vor einem Jahr hierher gezogen. »Hör mal, ich habe den Mond noch nie so gesehen«, gab ich zurück. »Aber es gibt da eine alte Legende. Demnach verzieht sich der Smog über Los Angeles alle hundert Jahre für eine einzige Nacht, und die Luft wird klar und durchsichtig wie der interstellare Raum. Dann können die Götter sehen, ob es Los Angeles noch immer gibt. Wenn ja, legen sie
den Smog wieder drüber, damit sie es nicht mehr sehen müssen.« »Das hat mir schon mal jemand erzählt. Hör mal, ich bin ja froh, daß du mich geweckt hast, damit ich mir das ansehen konnte. Aber ich muß morgen früh zur Arbeit.« »Armes Kindchen.« »So ist das Leben. 'Nacht!« »'Nacht!« Dann saß ich im Dunkeln und überlegte, wen ich jetzt noch anrufen könnte. Wenn man ein Mädchen um Mitternacht anruft und ihr sagt, sie soll nach draußen gehen und sich das Mondlicht ansehen ... sie mag das für romantisch halten oder wütend werden, aber sicher nicht auf die Idee kommen, daß man schon sechs andere angerufen hat. Ein paar Namen fielen mir ein. Aber die Mädchen, die zu ihnen gehörten, waren alle im Lauf des letzten Jahres oder so, aus meinem näheren Gesichtskreis verschwunden, nachdem ich angefangen hatte, meine ganze Zeit Leslie zu widmen. Man konnte es ihnen kaum übelnehmen. So war Joan jetzt in Texas und Hildy wollte bald heiraten, und wenn ich Louise anrief, konnte ich auch Gordie an die Strippe kriegen. Die Engländerin? Ich konnte mich nicht mehr an ihre Nummer erinnern. Und auch nicht an ihren Nachnamen. Außerdem sind alle Leute, dich ich kenne, auf irgendeine Art von Wecker angewiesen. Ich muß zwar auch meine Brötchen verdienen, aber als Schriftsteller, freier Wortproduzent heißt das auch, kann ich mir meine Stunden aussuchen. Jeder andere, den ich jetzt aus dem Schlaf riß, würde am nächsten Morgen
gewisse Schwierigkeiten haben. Na ja ... Die Johnny Carson-Show war in ein konturloses flimmerndes Bild und atmosphärisches Rauschen übergegangen, als ich in den Wohnraum zurückkam. Ich schaltete ab und ging wieder hinaus auf den Balkon. Der Mond überstrahlte mit seiner Helligkeit das Scheinwerferlicht der Autos auf der Schnellstraße ebenso wie die Lichter von Westwood Village zu meiner Rechten. Die Berge von Santa Monica leuchteten in einem überirdisch schönen Licht. Es gab keine Sterne nahe dem Mond; sie konnten sich gegenüber seiner übergroßen Helligkeit nicht mehr behaupten. Ich lebte davon, daß ich populärwissenschaftliche und Wie-man-dieses-oder-jenes-macht-Artikel schrieb. Eigentlich hätte ich jetzt wissen müssen, was mit dem Mond los war. Konnte der Mond plötzlich größer werden? ... sich ausdehnen wie ein Ballon? Nein. Vielleicht kam er näher? Fiel der Mond zur Erde? Die Gezeiten! Fünfzehn Meter hohe Wellen ... und Erdbeben! Der Hügel von San Andreas würde auseinanderbrechen wie der Grand Canyon! In mein Auto springen, auf die Berge zu ... nein, schon zu spät ... Unfug. Der Mond war heller, nicht größer. Das konnte ich sehen. Und was könnte den Mond schon aus seiner Bahn bringen und auf uns herabwerfen? Ich blinzelte, aber trotz geschlossener Augen spürte ich das grelle Mondlicht auf der Netzhaut. So hell war der Mond. Eine gute Million Leute mußten jetzt den Mond an-
starren und sich gleich mir wundern. Ein Artikel zu diesem Thema würde sich groß verkaufen ... wenn ich ihn schrieb, bevor mir irgend jemand zuvorkam ... Es mußte eine ganz einfache, offensichtliche Erklärung geben. Also, wieso konnte der Mond heller werden? Der Mondschein war reflektiertes Sonnenlicht. Konnte die Sonne heller geworden sein? Dann konnte es erst nach Sonnenuntergang begonnen haben, oder man hätte die Veränderung schon früher bemerkt ... Der Gedanke gefiel mir überhaupt nicht. Außerdem, die Hälfte der Erde lag immer im direkten Sonnenlicht. Tausend Korrespondenten von Life und Time und Newsweek und Associated Press würden von Europa, Asien, Afrika anrufen ... es sei denn, sie hätten alle in Kellern Zuflucht gesucht. Oder waren alle tot? Oder stumm, weil die Sonne alles mit atmosphärischen Störungen überlagerte, Radio und Telefonsysteme und Fernsehen ... Fernsehen. O Gott! Eine leise Furcht kam in mir auf. Schön, fangen wir nochmal von vorn an. Der Mond war sehr viel heller geworden. Mondschein. Also, das Mondlicht war widergespiegeltes Sonnenlicht; jeder Idiot wußte das. Dann ... es mußte etwas mit der Sonne passiert sein. 2 »Hallo?« »Hallo, ich bin's«, sagte ich und spürte, wie mein Mund trocken wurde. Was sollte ich ihr sagen?
»Ich habe den Mond beobachtet«, sagte sie verträumt. »Er ist wunderschön. Ich habe es sogar mit dem Teleskop probiert, aber ich konnte nichts sehen; er ist zu hell. Er beleuchtet die ganze Stadt. Die Berge sind in Silber getaucht.« Richtig, sie hatte ein Teleskop auf ihrem Balkon. Das hatte ich ganz vergessen. »Ich habe gar nicht mehr zu schlafen versucht«, erklärte sie. »Es ist viel zu hell geworden.« Ich räusperte mich, um wieder sprechen zu können. »Hör mal, Leslie-Liebstes, ich habe eben darüber nachgedacht, daß ich dich aufgeweckt hab und du vermutlich nicht mehr schlafen konntest bei diesem grellen Licht. Laß uns doch irgendwo einen kurzen Mitternachts-Imbiß einnehmen.« »Bist du verrückt geworden?« »Nein, ich mein das ganz ernst. Diese Nacht ist nicht zum Schlafen da. Vielleicht kriegen wir nie wieder eine Nacht wie diese. Und vergiß deine verdammte Diät. Laß uns feiern! Früchte-Eisbecher mit heißer Vanillesoße, Irish Coffee –« »Das klingt schon anders. Ich zieh mich an.« »Ich komm gleich rüber.« Leslie wohnte in der 14. Etage des C-Blocks auf der Barrington Plaza. Ich klopfte an ihre Tür und wartete. Und während ich wartete, begann ich mich ein wenig zu wundern: Warum gerade Leslie? Es gab bestimmt eine Reihe von anderen Möglichkeiten, meine letzte Nacht auf dieser Erde zu verbringen, als gerade mit einem bestimmten Mädchen. Ich hätte mir ein anderes bestimmtes Mädchen aussuchen können oder mehrere nicht so bestimmte Mäd-
chen, nur daß das eben nicht so sehr zu mir gepaßt hätte, glaube ich. Oder ich hätte meinen Bruder anrufen können oder meine Eltern – Freilich, mein Bruder Mike würde nach einem verdammt guten Grund verlangen, wenn man ihn um Mitternacht aus dem Bett klingelte. »Aber Mike, der Mond ist so schön.« Das ging nicht. Meine Eltern würden ganz ähnlich reagieren. Nun, ich hatte einen guten Grund, aber ob sie mir den glauben würden? Und wenn sie mir glaubten, was dann? Ich würde wohl so eine Art von Familienfest inszenieren. Sollten sie die Sache lieber verschlafen. Was ich wollte, war jemand, der sich meiner kleinen ... Abschiedsparty anschloß, ohne die falschen Fragen zu stellen. Was ich wollte, war Leslie. Ich klopfte noch mal. Sie öffnete die Tür gerade so weit, daß ich hinein konnte. Sie war noch in der Unterwäsche. Ein starrer, etwas verdrückter Hüfthalter in ihrer einen Hand streifte meinen Rücken, als sie in meine Arme flog. »Ich wollte das gerade anziehen.« »Dann bin ich ja gerade zur rechten Zeit gekommen.« Ich nahm ihr das Ding aus der Hand und ließ es fallen. Ich bückte mich etwas, um mit meinen beiden Armen fest unterhalb ihrer Rippen anzusetzen, richtete mich mit Anstrengung wieder auf und ging mit der so leicht angehobenen Leslie in Richtung auf den Schlafraum, während ihre Füße gegen meine Fußknöchel baumelten. Ihre Haut war kalt. Sie mußte draußen gewesen sein. »Aha!« stellte sie fest. »Du glaubst wohl, du könntest mit einem Früchte-Eisbecher plus heißer Vanillesoße in Konkurrenz treten?«
»Gewiß doch. Mein Stolz verlangt es.« Wir waren beide etwas außer Atem. Ein einziges Mal hatte ich versucht, sie auf meinen ausgestreckten Armen zu tragen, im konventionellen Stil bekannter Filmliebhaber. Ich hätte mir dabei fast das Rückgrat gebrochen. Leslie war ein großes Mädchen, etwa meine Größe und fast ein bißchen zu schwer um die Hüften herum. Ich warf uns beide auf das Bett, so daß wir Seite an Seite zu liegen kamen. Dann langte ich von beiden Seiten um sie herum, um sanft ihren Rücken zu kratzen, im sicheren Wissen, daß es sie hilflos und unfähig machen würde, mir zu widerstehen, ah ha hahahaha. Sie produzierte vergnügte Geräusche, um mir zu sagen, wo ich kratzen sollte. Sie zog mir das Hemd über die Schultern und begann, meinen Rücken zu kratzen. Wir zogen uns selbst und gegenseitig Kleidungsstücke aus, wie's gerade kam, und warfen sie über den Rand des Bettes. Leslies Haut war jetzt warm geworden, fast heiß ... Nun ja, schon deshalb hätte ich mir gar kein anderes Mädchen aussuchen können. Ich hätte ihr erst beibringen müssen, wie sie kratzen sollte. Und dazu war einfach keine Zeit mehr. In manchen Nächten, in denen wir zusammen waren, tendierte ich dazu, es zu hastig zu machen. In dieser Nacht aber spielten wir ein feierliches Ritual durch. Ich wollte es verlangsamen, es länger dauern lassen. Ich wollte, daß Leslie mehr davon hatte. Und das lohnte sich. Ich vergaß den Mond und die Zukunft, als Leslies Fersen gegen meine Kniekehlen drückten und wir uns in den uralten Rhythmus hineinbewegten.
Das Bild, das mich während des Höhepunkts ergriff, war eindringlich und furchterregend. Wir befanden uns in einem Ring von blauen hitzigen Flammen, die über uns zusammenschlugen. Ich stöhnte in Erschrecken und Ekstase zugleich. Leslie muß angenommen haben, daß es nur die Erregung war. Wir lagen Seite an Seite, schläfrig, träge, uns aneinander klammernd. Mir war nach Einschlafen zumute, ich wollte, entgegen meinem Versprechen, schlafen und Leslie schlafen lassen ... aber statt dessen flüsterte ich ihr ins Ohr: »Früchte-Eisbecher mit heißer Vanillesoße.« Sie lächelte, bewegte sich und rollte sich augenblicklich aus dem Bett. Ich wollte nicht, daß sie ihren Hüfthalter anlegte. »Es ist schon nach Mitternacht. Und heute wirst du ohnehin keinen neuen Verehrer mehr finden, weil ich den Schuft sofort verprügeln würde. Also, mach dir's doch bequem.« Sie lachte und gab nach. Im Lift umarmten wir uns fest. Ohne dieses Ding fühlte es sich viel besser an. 3 Die grauhaarige Kassenbedienung war ausgelassen fröhlich. Ihre Augen schimmerten hell. Sie sprach, als würde sie uns in ein Geheimnis einweihen. »Haben Sie den Mondschein gesehen?« Ship's war ziemlich überfüllt um diese nächtliche Zeit und so nahe zur Uni. Etwa die Hälfte der Gäste waren Studenten. Heute nacht sprachen sie mit gedämpften Stimmen, sahen immer wieder zu den Glasfronten des 24-Stunden-Restaurants hin. Der
Mond hing tief im Westen, tief genug, um mit den grellen Straßenlampen draußen zu konkurrieren. »Wir haben's gesehen«, sagte ich. »Und wir feiern heute. Geben Sie uns bitte zwei Früchte-Eisbecher mit heißer Vanillesoße.« Während sie sich umwandte, schob ich einen Zehndollarschein unter die Unterlage des Einwickelpapiers. Sie würde ihn zwar nie ausgeben können, aber wenigstens noch die Freude haben, ihn zu finden. Ich hätte ihn ja auch nicht mehr ausgeben können. Ich fühlte mich ganz ungezwungen und gelöst. Eine Menge von Problemen schienen sich plötzlich wie von selbst gelöst zu haben. Wer hätte das geglaubt, daß der Friede in Vietnam und Kambodscha in einer einzigen Nacht kommen würde? Diese ganze Sache hatte so um 23 Uhr dreißig herum angefangen, hier in Kalifornien jedenfalls. Um diese Zeit mußte die Mittagssonne über dem Roten Meer stehen, mit ganz Asien, Europa Afrika und Australien im direkten Sonnenlicht, von ein paar Randbereichen abgesehen. Schon war Deutschland wiedervereinigt, die Mauer dahingeschmolzen oder durch Erdstöße zerstört. Israelis und Araber hatten ihre Waffen niedergelegt. Die Apartheid in Südafrika hatte ihr Ende gefunden. Und ich war frei. Für mich gab es keine weiteren Konsequenzen. Heute nacht konnte ich all dem dunklen Drängen nachgeben, das ich mir immer versagt hatte: zu rauben, zu töten, das Finanzamt 'reinzulegen, Ziegelsteine in große Fensterfronten zu werfen, meine Kreditkarten zu verbrennen. Ich konnte den Artikel über explosive Metallformung vergessen,
der am Donnerstag fällig war. Heute nacht konnte ich Leslies Pillen gegen Zimtbonbons vertauschen. Heute nacht – »Ich glaub, ich rauch 'ne Zigarette.« Leslie sah mich erstaunt an. »Ich dachte, das hättest du längst aufgegeben.« »Schon. Aber ich nahm mir damals vor, immer dann, wenn mich andere übergroße Bedürfnisse überkamen, mir statt dessen wieder eine Zigarette zu genehmigen. Weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, nie wieder zu rauchen!« Sie lachte. »Aber du hast schon seit Monaten nicht mehr –« »Ja, aber sie hängen jede Woche wieder ihre Zigarettenwerbung in meine Zeitschriften ...« »Das ist ja eine Verschwörung! Schön, hol dir deine Zigaretten.« Ich steckte Münzen in den Automaten, zögerte, was ich wählen sollte, und zog schließlich eine leichte Filter heraus. Nicht, daß ich wirklich eine Zigarette brauchte. Aber gewisse Ereignisse rufen nach Champagner, und andere nach Zigaretten. Es war die traditionelle letzte Zigarette, bevor ein Exekutionskommando ... Ich zündete sie an. Zigarettenrauchen kann Lungenkrebs verursachen. Es schmeckte genauso gut, wie ich es in Erinnerung hatte, obwohl da ein etwas schaler Nachgeschmack war, wie nach einer Mundvoll alter Zigarettenkippen. Der dritte kräftige Lungenzug wirkte sich ganz komisch aus. Mein Gesichtsfeld verschwamm und alles um mich herum wurde sehr still. Mein Herz schien in meiner Kehle zu hämmern.
»Wie schmeckt's?« »Komisch«, bekannte ich. »Haut mich glatt um.« Seit fünfzehn Jahren hatte ich so was nicht mehr erlebt – seit wir in der High School geraucht hatten, um diesen Zustand von Benommenheit zu erreichen, der durch die Verengung der Kapillargefäße im Gehirn verursacht wurde. Obwohl dieser Zustand nicht mehr eintrat, nachdem wir ein paarmal geraucht hatten, pafften die meisten von uns weiter ... Ich drückte die Zigarette aus. Die Bedienung brachte unsere Eisbecher. Heiß und kalt, süß und bitter: Es gibt nichts, was sich mit dem Geschmack von Fruchteis mit heißer Vanillesoße vergleichen ließe. Zu sterben ohne noch einmal diesen Geschmack zu erleben, wäre einfach traurig gewesen. Aber mit Leslie war es noch mehr eine große Sache, stand einfach für die Sonnenseite des Lebens. Es machte fast mehr Spaß, ihr beim Essen zuzusehen, als selber zu essen. Und außerdem ... ich hatte die Zigarette ausgemacht, um die Eiskrem zu schmecken. Jetzt lechzte ich nach Irish Coffee, statt das Eis voll auszukosten. Zu wenig Zeit. Leslies Becher war schon leer. Sie flüsterte ein bühnenreifes »Aahh!« und schlug sie leicht auf die Nabelgegend. Ein Gast an einem der kleinen Tische drehte durch. Ich hatte ihn schon bemerkt, wie er hereinkam. Es war ein hagerer, gelehrtenhafter Typ mit Koteletten und Stahlrandbrille, der sich dauernd herumgedreht hatte, um den Mond draußen anzustarren. Wie die Leute an den anderen Tischen schien er durch das seltene und hinreißende Naturschauspiel ganz schön
aufgedreht zu sein. »Laß uns gehen«, sagte ich zu Leslie. Ich legte ein paar Vierteldollarstücke auf den Tisch und stand auf. »Willst du dein Eis nicht fertigessen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben noch einiges vor uns. Wie wär's mit einem Irish Coffee?« »Und eine Pink Lady für mich? Da, sieh mal!« Sie wandte sich um. Der Gelehrtentyp kletterte auf einen Tisch. Mit Mühe schaffte er es und breitete seine Arme weit aus, während er rief: »Seht zu den Fenstern hinaus!« »Kommen Sie da runter!« verlangte eine Bedienung und griff wild nach einem seiner Hosenbeine. »Das Ende der Welt steht bevor! Weit von hier, auf der anderen Seite des Atlantiks: Tod und Höllenfeuer –« Aber wir waren schon aus der Tür, lachten, während wir liefen. Leslie rief keuchend: »Da sind wir wohl – einem religiösen Aufruhr – entkommen!« Ich dachte an den Zehner, den ich unter der Papierunterlage versteckt hatte; jetzt würde sich niemand mehr darüber freuen können. Da drinnen rief jetzt ein Prophet seine Botschaft vom Untergang aus, für alle, die ihm zuhören wollten. Wenn die grauhaarige Frau mit den strahlenden Augen das Geld fand, würde sie denken: Sie wußten es also auch. Vom Parkplatz des Red Barn aus konnte man den Mond nicht sehen, weil er von hohen Gebäuden verdeckt wurde. Die Straßenbeleuchtung und der indirekte Mondschein hatten etwa denselben Farbschimmer. Die Nacht schien nur etwas heller als sonst zu sein.
Ich verstand es nicht, warum Leslie in der Einfahrt plötzlich anhielt. Sie sah nach oben, wo ein sehr heller Stern strahlte, genau südlich des Zenits. »Schön«, sagte ich. Sie sah mich ganz merkwürdig an. Im Red Barn gab es keine Fenster. Die gedämpfte Innenbeleuchtung war weit schwächer als das seltsame kalte Licht draußen, erhellte dunkles Holz und die Gesichter stillvergnügter Gäste. Niemand schien zu wissen, daß diese Nacht nicht wie andere Nächte war. Die nicht allzu vielen Dienstagnacht-Gäste hielten sich fast alle um die Piano-Bar herum auf. Ein Besucher war am Mikrofon. Er sang einen Song, der mir irgendwie bekannt vorkam, mit brüchiger und schwacher Stimme, während der schwarze Pianist grinste und einen schmalzigen Hintergrund dazu spielte. Ich bestellte zweimal Irish Coffee und eine Pink Lady. Auf Leslies fragenden Blick hin lächelte ich nur geheimnisvoll. Hier war alles wie gewöhnlich. So entspannt; so zufrieden. Wir hielten unsere Hände über den Tisch hinweg, ich lächelte und wagte nichts zu sagen. Wenn ich den Bann brach, wenn ich das Falsche sagte ... Die Getränke kamen. Ich hob ein Irish Coffee-Glas am Stiel an. Zucker, Irischer Whisky, starker schwarzer Kaffee, darauf steifgeschlagene Sahne. Es floß wie ein Zaubertrank durch mich hindurch, stark und dunkel und heiß. Die Bedienung wollte mein Geld nicht nehmen. »Sehen Sie den Mann mit der Fliege da hinten, am
Ende der Piano-Bar?« fragte sie freundlich. »Er zahlt für alle. Vor zwei Stunden kam er rein und gab dem Mann hinter der Theke einen 100-Dollar-Schein.« Deshalb waren die alle so fröhlich! Freie Drinks! Ich sah hinüber und fragte mich, was der Kerl da feierte. Ein stiernackiger und breitschultriger Mann saß da, mit Maßanzug und Fliege, in sich selbst versunken, mit einer Hand krampfhaft ein Glas umklammernd. Der Pianist bot ihm das Mikrofon an, aber er winkte ab. Für einen Augenblick lang bekam ich sein Gesicht deutlich zu sehen. Ein offenes, festes Gesicht, jetzt betrunken, und mürrisch und von Angst erfüllt. Der Mann konnte jeden Augenblick aufheulen vor Angst. Jetzt wußte ich, was er feierte. Leslie verzog das Gesicht. »Sie haben die Pink Lady nicht richtig gemixt.« Es gibt nur eine Bar in der Welt, die einen Pink Lady-Cocktail so macht, wie Leslie ihn mag, und die befindet sich nicht in Los Angeles. Ich reichte ihr den anderen Irish Coffee, während ich mein Ich-hab-dir'sja-gesagt-Lächeln aufsetzte. Es mußte gezwungen wirken. Die Furcht des Mannes mit der Fliege steckte mich langsam an. Sie lächelte zurück, hob ihr Glas und sagte: »Auf den blauen Mondschein.« Ich stieß mein Glas mit ihr an und trank. Aber ich hätte lieber auf etwas anderes angestoßen. Der Mann mit der Fliege glitt vom Barhocker herunter. Vorsichtig bewegte er sich auf die Tür zu, langsam und gerade; wie ein Ozeandampfer, der in einen Hafen einläuft. Er stieß die Tür weit auf und hielt sie offen, wandte sich dann so weit zur Seite, daß an seinem schweren dunklen Umriß vorbei das seltsame
blauweiße Licht in den Raum hereinströmte. Dieser Dreckskerl! Er wartete darauf, daß es endlich jemand merkte und es herausschrie, damit es alle wußten. Feuer und Vernichtung ... »Tür zu!« schrie jemand. »Wird Zeit, daß wir gehen«, sagte ich leise. »Warum so eilig?« Warum? Er konnte schließlich zu reden anfangen. Aber das konnte ich ihr nicht sagen ... Leslie legte ihre Hand auf meine. »Ich weiß es. Ich weiß es. Aber wir können nicht davor weglaufen, oder?« »Gotteswillen. Wann bist du darauf gekommen?« »Bevor du zu mir kamst«, sagte sie. »Ich wollte es nachprüfen, aber es ging nicht.« »Nachprüfen?« »Ich ging auf den Balkon und richtete das Teleskop auf den Jupiter. Der Mars ist seit Tagen unterhalb des Horizonts. Wenn die Sonne zur Nova geworden ist, müßten alle Planeten ebenso wie der Mond hell aufleuchten. Habe ich recht?« »Stimmt. Verflucht!« Ich hätte selber daran denken sollen. Aber Leslie war die Sternguckerin. Ich wußte zwar einiges von Astrophysik, aber ich hätte den Jupiter nicht mal finden können, wenn es um mein Leben gegangen wäre. »Aber der Jupiter war nicht heller als üblich. So wußte ich also nicht, was ich von der Sache halten sollte.« »Aber dann –« Ich fühlte, wie ein bißchen Hoffnung in mir aufflammte. Bis ich mich erinnerte. »Dieser Stern über uns. Den du so angestarrt hast.« »Jupiter.«
»Grell beleuchtet wie so eine gottverdammte Neonreklame. Damit ist ja alles klar!« »Nicht so laut!« zischte sie. Ich hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen. Aber für einen kurzen Augenblick lang wollte ich tatsächlich auf einen Tisch steigen und einfach schreien! Feuer und Untergang ... Warum sollten die anderen das Privileg haben, es nicht zu wissen? Leslies Hand schloß sich fest um meine. Der innere Drang ging vorbei, nur ein leichtes Zittern blieb zurück. »Laß uns gehen! Sollen sie glauben, daß es noch eine Morgendämmerung geben wird.« »Es wird noch eine geben.« Leslie stieß ein hartes, bellendes Lachen aus, wie ich es noch nie von ihr gehört hatte. Sie ging schon voraus, während ich nach meinem Geldbeutel suchte – und mich erinnerte, daß ich gar nicht zu zahlen brauchte. Arme Leslie. Daß sie Jupiter in seiner normalen Erscheinung gefunden hatte, hatte ihr eine Gnadenfrist der Hoffnung gegeben – bis der weiße Funke am Himmel anderthalb Stunden später zu glänzender Pracht entflammte. Anderthalb Stunden, bis das vom Jupiter widergespiegelte Sonnenlicht die Erde erreichte. Als ich aus der Tür kam, entfernte sich Leslie durch die Westwood-Straße in Richtung auf Santa Monica, halb gehend, halb laufend. Ich fluchte und rannte, um sie einzuholen, während ich mich fragte, ob sie plötzlich durchgedreht hatte. Dann sah ich die Schatten vor uns. Sie verliefen alle auf der anderen Seite des Santa Monica Boulevard: Mondschatten, in querlaufenden Mustern von dunklen und blau-weißen Streifen.
Ich erwischte sie an der Ecke. Der Mond ging unter. Ein untergehender Mond wirkt immer irgendwie großartig. Aber heute strahlte er mit furchtbarer Helligkeit durch die Lücke in der Hochhäuserkette, wo die Schnellstraße verlief, und warf einen unglaublich komplizierten Teppich von Linien und Schatten über uns. Sogar das unbeleuchtete Viertel des Mondes glänzte hell ... durch das reflektierte Erdlicht. Was mir alles Notwendige darüber sagte, was jetzt auf der sonnenbeleuchteten Seite der Erde geschah. Und auf dem Mond? Die Männer von »Apollo 19« mußten im Licht der zur Nova gewordenen Sonne innerhalb weniger Minuten gestorben sein. Verloren auf der Mondebene, sich vielleicht hinter einem rapide dahinschmelzenden Felsen verbergend ... Oder waren sie auf der Nachtseite? Ich konnte mich nicht erinnern. Verdammt, sie konnten uns alle überleben. Ich fühlte eine Spur von Neid und Haß. Und Stolz. Wir hatten sie nach da oben gebracht. Wir erreichten den Mond, bevor unsere Sonne explodierte. Noch ein wenig länger, und wir hätten die Sterne erreichen können. Die Scheibe des Mondes veränderte sich zu seltsamen Formen, während sie unterging. Eine Kuppel, eine Fliegende Untertasse, eine Linse, eine Linie ... Vorbei. Vorbei. Das war es gewesen. Jetzt konnten wir alles vergessen; wieder draußen herumlaufen, ohne dauernd daran erinnert zu werden, daß da etwas nicht stimmte. Der Monduntergang hatte alle bedrohlichen Schatten von der Stadt genommen. Nur die Wolken leuchteten noch in einem merk-
würdigen Licht. So wie Wolken nach Sonnenuntergang noch weiterleuchten, so schimmerten sie heute nacht hell an ihren westlichen Rändern. Und sie bliesen zu schnell über den Himmel. Als ob sie zu entfliehen versuchten ... Als ich mich wieder Leslie zuwandte, sah ich große Tränen über ihre Wangen laufen. »Ach verdammt!« Ich ergriff ihren Arm. »Nun hör schon auf. Hör auf!« »Ich kann nicht. Du weißt, daß ich nie aufhören kann, wenn ich zu heulen anfange.« »Aber das ist es nicht, was ich wollte. Ich dachte, wir sollten Dinge tun, die wir schon lange nicht mehr getan haben. Dinge, die uns Spaß machen. Es ist unsere letzte Chance. Oder willst du so sterben, heulend an einer Straßenecke?« »Ich will überhaupt nicht sterben!« »Verdammte Scheiße!« »Vielen Dank.« Ihr Gesicht wirkte rot und verquält. Leslie heulte, wie ein kleines Kind heult, ohne sich um irgendwas zu kümmern. Ich fühlte mich schrecklich. Ich fühlte mich schuldig, obwohl ich wußte, daß die Nova nicht meine Schuld war, und das machte mich um so ärgerlicher. »Glaubst du, ich will sterben?!« knurrte ich sie an. »Sag mir, wie wir aus dieser Sache 'rauskommen sollen, und ich mach mich sofort auf den Weg! Wohin sollen wir? Zum Südpol? Es würde nur ein wenig länger dauern. Die Tagseite des Mondes muß von der Sonnenglut schon völlig zerschmolzen sein. Mars? Wenn alles vorbei ist, wird der Mars ein Teil der Sonne sein, ebenso wie die Erde. Alpha Centauri? Bei der Beschleunigung, die wir dazu brauchten, würden wir
zerfließen wie Erdnußbutter und Marmelade –« »Ach, sei endlich ruhig!« »Wie du willst.« »Hawaii! Stan, wir schaffen's bis zum Flughafen in zwanzig Minuten. Wir würden zwei Stunden gewinnen, in Richtung Westen! Zwei Stunden mehr bis zum Sonnenaufgang!« Damit schien sie recht zu haben. Zwei Stunden waren jeden Preis wert! Aber darauf war ich auch schon gekommen, als ich von meinem Balkon aus den Mond anstarrte. »Nein. Wir würden früher sterben. Sieh mal, Liebes, der Mond wurde etwa um Mitternacht plötzlich heller. Das bedeutet, daß Kalifornien sich ziemlich genau auf der Rückseite der Erde befand, als die Sonne zur Nova wurde.« »Ja, das stimmt.« »Dann müssen wir hier am weitesten von der Druckwelle entfernt sein.« Sie blinzelte verständnislos. »Was ist das?« »Betrachte es so: Erst explodiert die Sonne. Das erhitzt die Luft und die Ozeane, alles blitzartig, auf der gesamten Tagseite der Erde. Der Dampf und die überhitzte Luft breiten sich schnell aus. Eine flammende Druckwelle rast in die Nachtseite hinein. Sie schließt sich jetzt schon um uns. Wie eine Schlinge. Aber sie wird Hawaii zuerst erreichen. Hawaii liegt zwei Stunden näher zur Linie des Sonnenuntergangs.« »Dann werden wir die Dämmerung nicht mehr erleben. Wir werden nicht einmal mehr so lange leben.« »Nein.« »Du erklärst die Dinge so gut«, sagte sie mit einem bitteren Unterton. »Eine flammende Druckwelle. So bildhaft.«
»Tut mir leid. Ich hab zuviel darüber nachgedacht. Mich gefragt, wie es sein wird.« »Hör auf.« Sie kam näher und legte ihr Gesicht gegen meine Schulter. Sie weinte leise. Ich hielt sie mit einem Arm und strich ihr mit der anderen Hand über den Hals, während ich den dahinströmenden Wolken nachsah, und dachte dabei nicht mehr daran, wie es sein würde. Dachte nicht an den Ring aus Feuer, der sich um uns schloß. Es war ohnehin das falsche Bild. Ich dachte daran, wie das Wasser der Ozeane auf der Tagseite erhitzt worden war, so daß die Druckwelle zuerst vor allem aus Dampf bestehen würde. Ich dachte an die Millionen von Quadratmeilen Wasseroberfläche, über die sie hinweg mußte. Sie würde also kühler und feuchter werden, bis sie uns erreichte. Und die Erdrotation würde sie herumwirbeln gleich dem Strudel einer Badewanne. Zwei gegeneinander wirbelnde Hurrikane erhitzten Dampfes, einer nördlich, einer südlich. So würde es kommen. Wir hatten Glück. Kalifornien würde im Zentrum des nördlichen sein. Hurrikanwinde glühend heißen Dampfes. Sie würden einen Mann hochwirbeln und in der Luft zerkochen, das verdampfende Fleisch von ihm reißen und ihn wegschleudern. Es würde qualvoll sein wie die Hölle. Wir würden den Sonnenaufgang nicht mehr erleben. Das war irgendwie schade. Es würde nämlich ein großartiges Schauspiel werden. Dichte Wolkenbänke schoben sich jetzt vor die Sterne, viel zu schnell, ihre Unterseiten schimmerten
gespenstisch weiß durch das von der Stadt ausgehende Licht. Der Jupiter verblaßte zusehends, bis er nicht mehr zu sehen war. Konnte es schon losgehen? Das glühende Gewitter raste – »Morgenröte«, sagte ich. »Was?« »Es wird noch eine andere Welle geben, die der Sonnenstrahlung. Es wird eine Morgendämmerung geben, wie sie noch niemand gesehen hat.« Leslie lachte plötzlich und schrill auf. »Das ist alles so unwirklich. Wie wir an einer Straßenecke stehen und so daherreden! Stan, träumen wir das?« »Wir könnten uns vormachen –« »Nein. Der größte Teil der Menschheit ist jetzt bereits tot!« Ich nickte stumm. »Und es gibt keinen Ausweg für uns.« »Verdammt nochmal, warum fängst du schon wieder damit an? Wir haben doch schon lange alle Möglichkeiten durchgerechnet!« »Du wolltest mich nicht schlafen lassen«, sagte sie bitter. »Ich war schon kurz vorm Einschlafen, da hast du mir ins Ohr geflüstert.« Ich sagte nichts. Sie hatte ja recht. »Früchte-Eisbecher mit heißer Vanillesoße«, echote sie, um wenig später hinzuzufügen: »Aber wirklich, es war keine schlechte Idee. Meine Diät zu brechen, meine ich.« Ich lachte unsicher. »Hör auf.« »Wir könnten in deine Wohnung zurückgehen. Oder zu mir. Und schlafen.« »Schon. Aber könnten wir überhaupt noch schla-
fen? Nein, sag es nicht. Wir nehmen Schlaftabletten, und in fünf Stunden werden wir schreiend aufwachen. Ich will lieber wachbleiben. Dann werden wir wenigstens noch wissen, was mit uns passiert.« Freilich, wir konnten alle Tabletten auf einmal nehmen ... aber ich sagte es nicht. Statt dessen schlug ich vor: »Wie wär's mit einem Picknick?« »Wo?« »Am Strand vielleicht. Ist auch egal. Das können wir uns immer noch überlegen.« 4 Die Supermärkte waren alle geschlossen um diese Zeit. Aber da war der Laden nahe dem Red Barn, wo ich seit Jahren einkaufte. Sie hatten so eine Art nächtlichen Party-Service, vor allem, was alkoholische Sachen betraf. Wir holten uns dort Leberpastete, Crakkers, ein paar Flaschen eisgekühlten Champagners, sechs verschiedene Sorten Käse und eine verdammte Menge von Nüssen – ich nahm eine Packung von jeder Sorte –, noch mehr Crackers, eine Packung Eis, Tiefkühl-Fertiggerichte, eine kleine Flasche eines uralten Kognaks, die fünfundzwanzig Dollar kostete, dazu eine entsprechende Flasche Kirsch für Leslie, Kartonträger mit Bier und Bitter Orange ... Als wir das alles in einen netten kleinen Einkaufswagen gestapelt hatten, regnete es bereits. Große schwere Tropfen schlugen in heftigen Schauern gegen die Schaufensterfläche des Ladens. Der Verkäufer war in aufgeheizter Stimmung; er barst schier vor Energie. Er hatte die ganze Nacht
hindurch den Mond beobachtet. »Und jetzt das!« rief er, während er unsere Sachen in Tüten packte. Es war ein großer, muskulöser älterer Mann mit festen Armen und Schultern. »Es hat noch nie so geregnet in Kalifornien. Es kommt gerade und träge herunter, wenn es überhaupt mal regnet. Das da draußen ist ganz ungewöhnlich!« »Ich weiß.« Ich schrieb ihm einen Scheck aus und fühlte mich dabei ein wenig schuldbewußt. Er kannte mich lang genug, um mir zu vertrauen. Aber der Scheck stimmte. Er war gedeckt. Noch vor den morgendlichen Öffnungszeiten würde der Scheck zu Asche werden, und alle Banken der Welt würden in der Hitze der Sonne Blasen schlagen. Aber das war schließlich nicht meine Schuld. Er stellte die Tüten in den Wagen und ging mit uns zur Tür. »Wenn der Regen kurz etwas nachläßt, laufen wir mit den Sachen 'raus. Okay?« Ich bereitete mich darauf vor, die Tür aufzureißen. Der Regen kam, als würde eimerweise Wasser gegen das Schaufenster geworfen. Für einen Moment hörte es auf, obwohl noch immer Wasser die Glasfront herunterlief. »Jetzt!« schrie der Verkäufer, und ich warf das Tor auf und wir waren draußen. Wir erreichten den Wagen, lachten wie verrückt. Der Wind peitschte um uns herum, fegte Wasser hoch und gegen uns. »Wir haben eine gute Unterbrechung erwischt, aber es wird gleich wieder losgehen«, sagte der Verkäufer. »Wissen Sie, woran mich dieses Wetter erinnert? An Kansas. Während eines Tornados!« Und dann war der Himmel plötzlich voll von Kieselsteinen! Wir schrien und duckten uns, der Wagen schepperte unter den unzähligen kleinen Aufschlä-
gen. Ich riß die Wagentür auf und zog Leslie und den Verkäufer hinter mir herein. Wir rieben unsere schmerzenden Köpfe und starrten auf die weißen Kieselsteine, die überall aufschlugen. Der Verkäufer holte einen kleinen weißen Kiesel aus seinem Kragen. Er legte das Ding in Leslies Hand, sie gab einen verwunderten Laut von sich und reichte es mir weiter, und es fühlte sich kalt an. »Hagel!« sagte der Verkäufer. »Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr.« Ich noch weniger. Ich konnte nur daran denken, daß es irgendwas mit der Nova zu tun hatte. Aber was? Wie? »Ich muß zurück«, sagte der Verkäufer. Der Hagel hatte sich in einem einzigen kurzen Schauer verausgabt. Der Mann zögerte kurz und raste dann aus dem Wagen wie ein Marineinfanterist, der einen Hügel nimmt. Wir sahen ihn nie wieder. Die Wolken über uns wirkten aufgewühlt, formten sich blitzschnell und lösten sich wieder auf, trieben schneller aneinander vorbei, als ich jemals Wolken sich bewegen gesehen hatte; ihre Unterseiten schimmerten im Licht der Stadt. »Das muß Nova sein«, sagte Leslie schaudernd. »Aber wie? Wenn die Druckwelle schon hier wäre, wären wir längst tot – oder zumindest taub. Und der Hagel?« »Was macht das schon aus? Stan, wir haben keine Zeit mehr!« Ich schüttelte mich. »In Ordnung. Was würdest du am liebsten tun, gerade jetzt?« »Mir ein Baseball-Spiel ansehen.« »Es ist zwei Uhr morgens«, wandte ich ein.
»Das schließt schon eine ganze Reihe von Sachen aus, nicht wahr?« »Stimmt. Wir haben unsere letzte Bar abgeklappert. Wir haben unser letztes Spiel gesehen und unseren letzten guten Film. Was bleibt noch übrig?« »Ein Schaufensterbummel vor Juweliergeschäften.« »Ernsthaft? In deiner letzten Nacht auf der Erde?« Sie überlegte nur kurz, bevor sie antwortete. »Ja.« Verdammt, sie meinte es ernst. Ich konnte mir allerdings nichts Blödsinnigeres vorstellen. »In Westwood oder Beverly Hills?« »Sowohl als auch.« »Na, hör mal –« »Dann Beverly Hills.« Wir fuhren durch einen weiteren Schauer aus Regen und Hagel – ein Ausläufer des Sturms. Wir parkten einen halben Block von Tiffany's entfernt. Der Gehsteig war eine einzige fortgesetzte Pfütze. Etwas Nachregen kam von verschiedenen Höhen der Gebäude über uns herunter. »Großartig«, sagte Leslie. »Von hier aus können wir zu Fuß ein halbes Dutzend Juweliergeschäfte erreichen.« »Ich wollte eigentlich fahren.« »Nein, nein, das wäre nicht richtig. Einen Schaufensterbummel muß man immer zu Fuß machen. Das gehört zu den Regeln.« »Aber der Regen!« »Du wirst schon nicht an Lungenentzündung sterben«, sagte sie etwas zu grimmig. »Weil du keine Zeit mehr dazu hast.« Tiffany's hatte eine kleine Filiale in Beverly Hills, aber sie legten hier nachts keine teuren Sachen ins
Fenster. Da lagen ein paar faszinierende Spielzeuge von durchschnittlichem Wert, aber das war auch alles. Wir schwenkten den Rodeo Drive hinauf – und fanden unsere Goldgrube. Tibor zeigte eine umfassende Auswahl von Ringen, mit Verzierungen überladene und moderne, große und kleine, mit allen Arten von Edelsteinen und Halbedelsteinen besetzt. Auf der anderen Straßenseite zeigten Van Cleef und Arpel Broschen, Herrenarmbanduhren in eleganten Designs, Armbänder, in die kleine Uhren eingearbeitet waren, und ein Fenster, das nur mit Diamanten ausgelegt war. »Wie schön«, hauchte Leslie, in den Anblick der blitzenden Diamanten versunken. »Wie sie erst bei Tageslicht aussehen müssen! Oh –« »Nein, das ist wirklich ein guter Gedanke. Stell sie dir in der Dämmerung vor, aufflammend durch das Licht der Nova, während die Fenster schon zerschmelzen und das ungefilterte Tageslicht hereinlassen. Willst du was davon? Das Halsband?« »Oh, könnte ich?« Sie lachte. »Ich hab doch nur Spaß gemacht! Laß das sein, du Idiot! Die Glasscheibe ist doch bestimmt mit einer Alarmanlage gesichert.« »Überleg doch mal, niemand in der Welt wird dieses Zeug in der Zeit zwischen jetzt und morgen tragen. Warum sollten wir dann nicht?« »Wir würden erwischt werden!« »Wolltest du nicht ...?« »Ich will meine letzte Stunde nicht in einer Zelle verbringen. Wenn du den Wagen mitgebracht hättest, hätten wir vielleicht eine Chance ...« »... davonzukommen. Stimmt. Ich wollte den Wa-
gen ja mitnehmen –« Aber in diesem Augenblick rannten wir beide los, konnten keinen Augenblick länger stehen bleiben. Wir taumelten davon, mußten uns einander festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es gab gut ein halbes Dutzend Juwelierläden auf dem Rodeo. Aber da war noch mehr. Spielzeug, Bücher, Hemden und Krawatten in seltsamen und hochmodischen Ausführungen. Bei Francis Orr war ein riesiger Kunststoffbehälter im Fenster, voll von neuen Pennies. Ein paar Fenster weiter bewunderten wir eine Anzahl Uhren, die ziemlich skurril aussahen. Dieser Schaufensterbummel hatte etwas Besonderes an sich, weil wir wußten, daß wir jedes Fenster aufbrechen und uns herausholen konnten, was immer wir wollten. Wir gingen Hand in Hand. Die Gehsteige gehörten uns allein; alle anderen waren vor dem verrückten Wetter geflohen. Über uns jagten noch immer die Wolken. »Ich wollte, ich hätte das alles früher gewußt«, sagte Leslie unvermittelt. »Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, den Fehler in einem Programm auszubessern. Jetzt wird niemand mehr etwas damit anfangen können.« »Was hättest du mit deiner Zeit angefangen? Ein Baseball-Spiel?« »Vielleicht. Nein. Spielt doch keine Rolle mehr.« Sie sah mit mißbilligendem Ausdruck auf Kostüme hinter einem Schaufenster. »Was hättest du getan?« »Ich wäre in das Blue Sphere gegangen, um Cocktails zu schlürfen«, sagte ich ohne Überlegung. »Das
ist ein Oben-ohne-Lokal. Ich war früher oft dort. Und ich hab kürzlich gehört, sie seien jetzt auf völlig nackt übergegangen.« »Ich war noch nie in sowas. Wie lange haben die wohl auf?« »Vergiß es. Wir haben fast halb drei.« Leslie sah nachdenklich auf riesige Stofftiere in einem Spielzeugladen. »Gibt es vielleicht jemanden, den du umgebracht hättest wenn dir die Zeit dazu geblieben wäre?« »Hm. Du weißt doch, daß mein Agent in New York wohnt.« »Warum gerade ihn?« »Liebes Kindchen, warum würde ein Autor wohl seinen Agenten umbringen wollen? Wegen der Manuskripte, die er verlegt hat und nie wieder findet. Wegen der zehn Prozent, die er unverfroren an sich reißt, und wegen der verbleibenden neunzig Prozent, die er mir nur widerwillig und zu spät überweist. Wegen –« Plötzlich heulte der Wind auf und blies uns heftig ins Gesicht. Leslie deutete auf die Ladenpassage von Gucchi's, und wir rannten hinein, um Schutz vor dem heraufziehenden Unwetter zu finden. Wir preßten uns hart gegen die Glasfront des Eingangs. Der Wind trug plötzlich murmelgroße Hagelkörner. Irgendwo splitterte Glas, Alarmsirenen schlugen an, wie schwache Stimmen gegen den Wind. Dieser Wind trug mehr als nur Hagel! Das waren Felsbrokken! Ich registrierte den Geruch und Geschmack von salzigem Meerwasser. Wir klammerten uns eng aneinander, im dürftigen
Schutz des großzügig verschwendeten Raums vor dem Eingang von Gucchi's. Meine Gedanken jagten sich, und ich schrie: »Nova-Wetter! Wie zum Teufel kam es –« Aber ich hörte mich selbst nicht, und Leslie bemerkte nicht einmal, daß ich ihr etwas zuzurufen versuchte. Nova-Wetter. Wie kam es so schnell bis nach hier? Da sie über den Pol kommen mußte, hatte die Welle etwa viertausend Meilen zu überwinden – macht eine Reise von mindestens vier Stunden. Nein. Die Druckwelle würde sich durch die Stratosphäre bewegen, in der die Geschwindigkeit des Schalls größer war, und sich dann nach unten ausbreiten. Drei Stunden waren dafür Zeit genug. Trotzdem, überlegte ich, hätte sie nicht mit aufkommendem Wind beginnen sollen. Auf der anderen Seite der Welt riß die explodierende Sonne unsere Atmosphäre weg und schleuderte sie zu den Sternen. Die Druckwelle hätte vielmehr wie ein einziger großer Donnerschlag kommen müssen. Für einen Augenblick lang beruhigte sich der Wind. Ich rannte den Gehsteig hinunter, riß Leslie mit mir. Wir erreichten eine andere Passage, als der Wind wieder aufkam. Ich glaubte, eine Katastrophensirene zu hören. In der nächsten Windpause platschten wir über den bereits wasserüberschwemmten Wilshire Boulevard und erreichten das Auto. Keuchend warteten wir darauf, daß die Heizung anlief. Meine Schuhe waren aufgeweicht. Die nassen Kleider klebten an meiner Haut. »Wie lange noch?« schrie Leslie. »Ich weiß nicht! Wir müßten eigentlich noch etwas
Zeit haben.« »Wir werden unser Picknick zu Hause einnehmen müssen!« »In deiner oder meiner Wohnung? Bei dir!« entschied ich und fuhr an. Die Straße stand stellenweise bis zur Höhe der Radkappen unter Wasser. Der plötzliche Fall von Hagel und Graupelregen war in einen gleichmäßig fließenden Regen übergegangen. Nebelfetzen zogen sich bis in Hüfthöhe vor uns hin, brachen an unserer Motorhaube auseinander und bildeten hinter uns eine graue Spur. Ein unheimliches Wetter. Nova-Wetter! Die Druckwelle überhitzten Dampfes war nicht gekommen. Statt dessen raste nur heißer Wind durch die Stratosphäre und verursachte Luftturbulenzen, die sich in Form von seltsamen Stürmen bis zum Boden hinab fortpflanzten. Wir parkten auf dem oberen Parkdeck, wozu wir eigentlich keine Berechtigung hatten. Ein flüchtiger Blick auf das untere Deck verriet mir, daß es bereits überflutet war. Ich öffnete den Kofferraum und hob die beiden schweren Papiertüten heraus. »Wir müssen verrückt gewesen ein«, meinte Leslie kopfschüttelnd. »All das Zeug, wir werden es nie aufbrauchen können!« »Wir nehmen's trotzdem mit nach oben.« Sie lachte. »Wozu?« »Und warum nicht? Hilfst du mir tragen?« Beide Arme vollgepackt, kamen wir im 14. Stock an. Dabei waren noch ein paar Tüten im Kofferraum zurückgeblieben. »Macht nichts«, sagte Leslie. »Wir haben die Fertiggerichte und die Flaschen und die Nüsse. Was brauchen wir mehr?«
»Den Käse, die Crackers, die Leberpastete.« »Vergiß es!« »Nein.« »Du bist völlig verrückt!« erklärte sie mir betont langsam und deutlich, damit ich es auch ja verstehen sollte. »Auf dem Weg nach unten kannst du bei lebendigem Leibe verdampft werden! Wir haben vielleicht nur noch ein paar Minuten vor uns, und du willst Lebensmittel für eine ganze Woche! Wozu?« »Das erklär ich dir später.« »Dann hau ab!« Sie schlug die Tür mit aller Kraft zu. Der Lift war so etwas wie eine Feuerprobe. Ich fragte mich, ob Leslie recht hatte. Das grelle Pfeifen des Windes war hier im Innern des Gebäudes nur gedämpft vernehmbar. Vielleicht würde es irgendwo elektrische Kabel zerreißen, und ich würde für immer in der kleinen dunklen Aufzugszelle gefangen bleiben. Aber ich kam unten an. Jetzt stand schon das obere Parkdeck knietief unter Wasser. Es war lauwarm wie abgestandenes Badewasser, und das war meine zweite Überraschung. Es war äußerst unangenehm, durch das Wasser zu waten. Von seiner Oberfläche kräuselte Dampf weg und wurde von einem Wind mitgerissen, dessen Pfeifen zwischen den Betonwänden ein Echo erzeugte, das dem qualvollen Schreien verdammter Seelen nahekam. Die Fahrt aufwärts war eine weitere Feuerprobe. Wenn wirklich passierte, was ich jetzt dachte, wenn mich ein brüllender Windstoß hocherhitzten Dampfes erfaßte ... ich würde wie ein vollkommener Idiot sterben ... Aber die Türen glitten auf, das Licht hatte
nicht einmal geflackert. Leslie wollte mir nicht mehr aufmachen. »Geh weg!« schrie sie durch die geschlossene Tür hindurch. »Friß deinen Käse und die Crackers woanders!« »Hast du vielleicht eine andere Verabredung?« Das war ein entscheidender Fehler. Ich bekam überhaupt keine Antwort mehr. Ich konnte ihren Standpunkt fast verstehen. Das Nachholen der paar Lebensmittel war aber eigentlich kein Grund, sich groß aufzuregen; warum mußte sie nur dieses Theater machen? Und überhaupt, wie lange konnte unser Verhältnis noch andauern? Bestenfalls eine Stunde. Warum sollte ich jetzt noch versuchen, mit vernünftigen Argumenten eine so vergängliche Sache zu retten? »Ich konnte es dir noch nicht sagen«, schrie ich in der Hoffnung, daß sie mich durch die Tür hindurch hören konnte. Auf der anderen Seite mußte das Lärmen des Windes mindestens dreimal so laut sein. »Vielleicht brauchen wir Lebensmittel für eine Woche! Und eine sichere Zuflucht!« Stille. Ich überlegte, ob ich die Tür aufbrechen konnte. Sollte ich besser in der Vorhalle warten? Vielleicht mußte sie – Die Tür ging auf. Leslie wirkte blaß. »Das war grausam«, sagte sie leise. »Ich kann nichts versprechen. Ich wollte warten damit, aber du hast mich gezwungen. Ich habe mich zu fragen angefangen, ob die Sonne wirklich zur Nova geworden ist.« »Das ist einfach grausam. Ich war gerade dabei, mich mit allem abzufinden.« Sie legte ihr Gesicht ge-
gen den Türrahmen. Sie war einfach müde. Ich hatte sie zu lange wach gehalten ... »Hör mir zu«, sagte ich. »Es war alles falsch. Es hätte eine Morgendämmerung aus nördlicher Richtung geben müssen. Eine Wellenfront von fast lichtschnellen Partikeln aus der explodierenden Sonne würde in die Erdatmosphäre stoßen wie – jedes Gebäude wäre in blau-gleißendes Feuer gehüllt gewesen!« »Und dann, der Sturm kam zu langsam«, schrie ich, um durch den Donnerhall gehört zu werden. »Eine Nova würde die Hälfte des Himmels über unserem Planeten wegreißen. Die Druckwelle würde um die Nachtseite rasen mit einem Getöse, das alles Glas der Welt auf einmal zum Bersten bringen würde! Beton und Marmor würden zerbrechen – und, Leslie-Liebes, genau das ist nicht passiert! Deshalb fing ich an, mich zu fragen ...« »Was ist es also?« fragte sie, aber ich verstand kaum mehr als ein Murmeln. »Ein Flackern, ein Aufflammen. Das schlimmste –« »Ein Aufflammen der Sonne!« Sie schrie mich wütend an, als ob ich daran schuld wäre. »Du glaubst doch nicht, daß die Sonne so grell ...« »Beruhige dich –« »... auflodern könnte, den Mond und die Planeten in Fackeln verwandeln und dann einfach wieder verblassen könnte, als ob gar nichts gewesen wäre! Oh, du verdammter Idiot –« »Läßt du mich hinein?« Sie sah mich überrascht an und machte einen schnellen Schritt zur Seite. Ich nahm die Tüten wieder auf und ging in ihre Wohnung hinein.
Die Glastüren zum Balkon schepperten, als trommelten Riesen von außerhalb dagegen. Durch Ritzen und Spalten war Regen eingedrungen und hatte dunkle Pfützen auf dem Vorleger gebildet. Ich stellte die Tüten auf der Küchentheke ab. Im Kühlschrank fand ich Brot und steckte zwei Scheiben in den Toaster. Während sie zu rösten begannen, öffnete ich die Leberpastete. »Mein Teleskop ist hin«, sagte sie. Das war offensichtlich. Auf dem Balkon lag nur noch der verbogene Dreifuß. Ich drehte den Draht vom Verschluß einer Champagnerflasche. Die Toastscheiben sprangen hoch. Leslie suchte ein Messer und bestrich sie mit der Leberpastete. Ich hielt die Flasche dicht neben ihr Ohr. Sie erschrak nicht, sondern lächelte nur, als der Korken knallte. »Wir sollten unser Picknick hier stattfinden lassen. Auf dem Boden hinter der Küchentheke. Früher oder später wird der Wind die Balkontüren zerschmettern, und Glassplitter werden überall hinregnen.« Das war ein guter Gedanke. Ich ging um die Trennwand zum Wohnraum herum und suchte alle Kissen vom Boden und der Couch zusammen, trug sie zurück, und wir bauten uns ein Nest daraus. Es war irgendwie gemütlich. Die Küchentheke war gut einen Meter hoch, ging damit etwas über unsere Köpfe hinaus, und der Zwischenraum war gerade weit genug, um uns genügend Bewegungsfreiheit zu lassen. Den ganzen Boden hatten wir mit Kissen ausgelegt. Leslie goß den Champagner randvoll in kleine Kelchgläser. Ich dachte über einen Trinkspruch nach, aber es
gab zu viele Möglichkeiten, die alle wenig erheiternd waren. Wir tranken, ohne auf etwas anzustoßen. Und dann setzten wir die Gläser vorsichtig ab und fielen uns gegenseitig in die Arme. So konnten wir bequem sitzen, Gesicht an Gesicht, seitlich aneinandergelehnt. »Wir werden sterben«, sagte sie. »Vielleicht auch nicht.« »Finde dich endlich damit ab, wie ich«, sagte sie. »Du bist ja ganz nervös. Du hast Angst zu sterben. War das denn nicht eine wundervolle Nacht?« »Einmalig. Ich wollte nur, ich hätte das alles früher gewußt. Dann hätten wir noch zusammen zum Abendessen gehen können.« Das Gewitter entlud sich in einer schnellen Folge von sechs schweren Donnerschlägen. Wie bei einem Bombenangriff aus der Luft. »Das wäre schön gewesen«, sagte sie, als wir uns wieder hören konnten. »Wenn wir es schon heute nachmittag gewußt hätten ...« »Marzipan-Pralinen!« »Der Farmer-Großmarkt. Doppelt-geröstete Erdnüsse! Wen hättest du umgebracht, wenn du noch Zeit gehabt hättest?« »Da gab es ein Mädchen in unserer Studentinnenverbindung ...« ... und sie war schuldig, weil sie eine hinterhältige Nebenbuhlerin gewesen war, behauptete Leslie. Ich benannte einen Redakteur, der es sich dauernd anders überlegte. Leslie führte eine meiner früheren Freundinnen an, ich ihren einzigen früheren Freund, von dem ich wußte. So steigerten wir uns, bis uns bald niemand mehr einfiel. Mein Bruder Mike hatte einmal meinen Geburtstag vergessen. Der Schurke!
Das Licht flackerte, ging wieder an. »Glaubst du wirklich, daß die Sonne wieder normal wird?« »Sie muß wieder normal werden! Oder wir sind schon so gut wie tot. Wenn wir nur den Jupiter sehen könnten ...« »Verdammt, du sollst mir antworten! Glaubst du, daß es nur ein vorübergehendes Aufflammen war?« »Ja.« »Warum?« »Gelbe Zwergsonnen können nicht zur Nova werden.« »Und wenn unsere dennoch –« »Die Astronomen haben eine Menge über Novas herausgefunden«, erklärte ich. »Mehr als du vermuten würdest. Sie wissen bereits Monate vorher, daß es passieren wird. Unsere Sonne Sol ist ein gelber Zwerg der Spektralklasse G–O. Sie müßte erst Entwicklungsphasen durchmachen, die Millionen Jahre brauchen.« Sie schlug mir leicht auf die Schulter. Wir saßen Wange an Wange; ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. »Ich will es nicht glauben. Ich kann nicht. So etwas ist noch nie passiert, Stan. Wie können wir da wissen, was es bedeutet?« »So etwas ist schon einmal passiert.« »Wie? Das glaube ich nicht. Niemand weiß etwas davon!« »Erinnerst du dich an die erste Mondlandung? Mit Aldrin und Armstrong?« »Natürlich. Was war damit?« »Sie landeten auf der weitesten und flachsten Stelle, die sie auf dem Mond finden konnten. Sie sandten
ein paar Stunden aufregender Filmaufnahmen zurück, nahmen eine Anzahl sehr deutlicher Fotos auf, hinterließen überall ihre Fußabdrücke. Und sie kamen mit ein paar Gesteinsproben zurück. Erinnerst du dich? Man erfuhr später, daß sie eine weite Strecke gehen mußten, um die Felsstücke zu finden. Aber was am meisten an ihnen auffiel: Sie wirkten wie halb geschmolzen und wieder erstarrt.« »Irgendwann in der Vergangenheit, na, vielleicht innerhalb der letzten hunderttausend Jahre – es läßt sich nicht genauer bestimmen – flammte die Sonne schon einmal auf. Sie blieb nicht heiß genug, um bleibende Spuren auf der Erde zu hinterlassen. Aber der Mond hat keine Atmosphäre, die ihn schützen könnte. Das ganze Felsgestein schmolz auf einer Seite.« Die Luft war warm und feucht. Ich nahm meine Jacke ab, die von Regenwasser durchfeuchtet schwer herunterhing. Ich fischte die Zigaretten und Streichhölzer heraus, zündete mühsam eine Zigarette an und blies den Rauch an Leslies Ohr vorbei. »Es müßte andere Hinweise darauf geben. Also kann es nicht so schlimm gewesen sein wie diesmal.« »Da bin ich nicht so sicher. Nimm an, es geschah über dem Pazifik. Da würde es nicht so viel Schaden angerichtet haben. Oder über den beiden amerikanischen Kontinenten. Es hätte vielleicht einige Pflanzen- und Tierarten dezimiert und eine Menge Wälder niedergebrannt, und was weiß ich alles so. Die Sonne ist ein zu vier Prozent veränderlicher Stern. Vielleicht wird sie von Zeit zu Zeit auch etwas stärker veränderlich.« Etwas krachte im Schlafzimmer. Ein Fenster? Ein feuchter Windstoß fegte über uns hinweg, das schrille
Heulen des Sturms wurde noch lauter. »Dann könnten wir es doch noch überleben«, sagte Leslie zögernd. »Ich glaube, du hast den Kern der Sache erfaßt. Skål!« Ich tastete nach meinem Champagnerglas und nahm einen tiefen Schluck. Es war schon mehr als drei Uhr früh, und ein Hurrikan tobte gegen unsere Türen. »Sollten wir uns dann nicht irgendwie vorbereiten?« »Das tun wir gerade.« »Ich meine, wir könnten versuchen, in die Berge zu entkommen! Stan, es wird riesige Überflutungen geben!« »Worauf du wetten kannst, aber sie werden nicht so hoch kommen. Vierzehn Stockwerke. Ich hab mir das alles schon durch den Kopf gehen lassen. Wir befinden uns in einem Gebäude, das mit einer erdbebensicheren Konstruktion erbaut wurde. Das hast du mir selbst gesagt. Es braucht also mehr als einen Hurrikan, um es umzuwerfen.« »Und in die Berge, welche Berge? Wir kämen heute nacht nicht mehr weit, die Straßen stehen längst unter Wasser. Und selbst wenn wir die Berge von Santa Monica erreichen könnten; was dann? Schlammrutschen, das ist alles. Die Gegend wird nicht überstehen, was noch alles kommen wird. Die Sonnenhitze muß genug Wasser verkocht haben, um einen weiteren Ozean zu füllen. Es wird vierzig Tage und vierzig Nächte regnen! Liebling, dies hier ist der sicherste Platz, den wir heute nacht überhaupt hätten finden können!« »Was passiert, wenn die Eiskappen an den Polen schmelzen?«
»Hm ... naja, wir sind ziemlich hoch hier, selbst dafür dürfte es reichen. Ha, vielleicht war es das letzte Aufflammen der Sonne, das die Flutkatastrophe zu Noahs Zeit verursachte. Vielleicht passiert das jetzt wieder. Dann gibt es keine Stelle auf der Erde, die sich im Augenblick nicht inmitten eines Hurrikans befindet, darauf kannst du Gift nehmen! Diese beiden gewaltigen, gegeneinander wirbelnden Hurrikane dürften sich inzwischen in Hunderte von kleineren Stürmen aufgelöst haben –« Die Glastüren explodierten nach innen. Wir duckten uns, der Wind heulte über uns und warf Regen und Glassplitter auf uns herab. »Jedenfalls haben wir Lebensmittel!« brüllte ich. »Wir werden es durchhalten können, wenn uns die Flut einschließt.« »Aber wenn der Strom ausfällt, können wir nicht mehr kochen! Und der Kühlschrank –« »Wir kochen alles, was wir können. Kochen die Eier hart –« Der Wind kam erneut und mit aller Heftigkeit. Ich gab jeden Versuch auf, mich verständlich zu machen. Der warme Wind fegte von der Seite heran und brachte soviel Wasser mit, daß unsere Kleider klatschnaß wurden. Kochen inmitten eines Hurrikans? Ich war ein Trottel; ich hatte zu lange gewartet. Der Wind würde uns mit kochendem Wasser übergießen, wenn wir es versuchten. Oder mit heißem Fett ... »Wir müssen den Backofen benützen!« schrie Leslie. Natürlich. Der Herd war auf jeden Fall schwer genug, um nicht vom Wind erfaßt zu werden.
Wir schalteten den Ofen auf 400 Grad und stellten die Eier in einem wassergefüllten Topf hinein. Alles Fleisch, das wir hatten, kam in eine große Bratpfanne. Zwei Artischocken in einen anderen Topf. Das übrige Gemüse konnten wir roh essen. Was noch? Ich überlegte fieberhaft. Wasser. Wenn der Strom aufhörte, würde wohl auch das Wasser ausgehen und die Telefonverbindung unterbrochen werden. Ich drehte den Hahn über der Spüle an und begann, alle möglichen Sachen mit Wasser zu füllen: mit Deckeln verschließbare Töpfe, Leslies Perkolatorkanne für dreißig Tassen Kaffee, die sie immer für Parties benützt hatte, ihren Wascheimer. Leslie nahm sichtlich an, daß ich durchgedreht hätte; aber ich glaubte eben nicht, daß der Regen ein verläßliches Wasserreservoir sein könnte. Dieser Lärm! Wir hatten schon aufgegeben, ihn mit Brüllen zu übertönen. Wenn es vierzig Tage und Nächte so ging, würden wir hundertprozentig taub sein. Watte? Zu spät, ich kam nicht mehr bis zum Badezimmer durch. Papier-Handtücher! Ich riß einen Fetzen ab, zerfaserte ihn und formte vier kleine Kügelchen daraus, um unsere Ohren damit zu verstopfen. Die Toiletten? Das war noch ein Grund, warum Leslies Wohnung besser war als meine. Wenn die Spülung nicht mehr funktionierte, hatten wir immer noch den Balkon. Und wenn die Flut höher als die vierzehn Stockwerke kam, blieb uns immer noch das Dach. Zwanzig Stockwerke hoch. Wenn das Wasser noch höher stieg, dann würde es ohnehin nur noch sehr wenige Menschen auf der Welt geben, wenn alles vorbei war.
Und wenn es doch eine Nova war? Ich hielt Leslie ein wenig fester und zündete mir mit der anderen Hand eine weitere Zigarette an. Alles umsonst, wenn es eine Nova war. Aber ich hätte so oder so weitergemacht. Man hört nicht einfach auf, weil es keine Hoffnung mehr gibt. Und wenn sich der Hurrikanwind dennoch in glühend heißen Dampf verwandelte, blieb noch der Balkon. Ein kurzer Anlauf und über das Geländer; das war immer noch besser, als bei lebendigem Leibe zerkocht zu werden. Aber das wollte ich Leslie jetzt nicht sagen. Vermutlich hatte sie auch schon selber daran gedacht. Es war ungefähr vier Uhr, als die Lichter ausgingen. Ich schaltete den Herd ab, für den Fall, daß der Strom wiederkam. Sollten die Sachen eine Stunde oder so abkühlen, dann würde ich sie in Folie verpacken. Leslie war in meinen Armen eingenickt. Wie konnte sie jetzt nur schlafen? Ich stapelte Kissen hinter ihr hoch und ließ sie vorsichtig zurückgleiten. Eine Zeitlang lag ich auf dem Rücken, rauchte und sah dem Spiel von Licht und Schatten an der Decke zu, das von den Gewitterblitzen verursacht wurde. Wir hatten die ganze Leberpastete aufgebraucht und eine Flasche Champagner getrunken. Ich überlegte, ob ich den Kognak aufmachen sollte, entschied mich aber schließlich mit leisem Bedauern dagegen. Eine lange Zeit verging. Ich weiß nicht mehr, was in mir vorging. Ich habe nicht geschlafen, aber mein Bewußtsein war jedenfalls nicht so ganz da. Nur ganz allmählich dämmerte es mir, daß die Decke, in den
Pausen zwischen den grellen Lichtblitzen – grau geworden war. Mit neuer Kraft wälzte ich mich zur Seite. Ich war völlig durchweicht. Alles war naß. Meine Uhr besagte, daß es neun Uhr dreißig war. Ich kroch um die Trennwand zum Wohnraum herum. Ich hatte den Sturmlärm so lange schon nicht mehr bewußt wahrgenommen, daß ich ihn erst wieder bemerkte, als mir ein Schwung warmen Wassers ins Gesicht peitschte. Das war ein Hurrikan, was da draußen vor sich ging. Aber durch die schwarze Wolkenfront trat stellenweise eine diffuse graue Helligkeit. Also. Es war richtig gewesen, daß ich den Kognak aufgespart hatte. Fluten, Stürme, starke Strahlung, durch die Sonnenglut entzündete Feuer – wenn das Ausmaß der Zerstörung so groß war, wie ich es annahm, dann war Geld längst wertlos geworden. Wir brauchten Tauschgüter. Ich war hungrig. Ich aß zwei Eier und etwas Speck – noch immer warm – und fing damit an, den Rest der Lebensmittel zu verstauen. Wir hatten Lebensmittel für vielleicht eine Woche ... freilich alles andere als eine ausgewogene Ernährung. Vielleicht konnten wir mit anderen Appartementbewohnern tauschen. Es war ein großes Gebäude. Es mußte auch leere Wohnungen darin geben, in denen wir vielleicht Suppendosen und ähnliches finden konnten. Von den unteren Stockwerken würden Flüchtlinge nach oben kommen, wenn das Flutwasser höher stieg ... Verdammt nochmal! Jetzt fehlte mir die Gewißheit, die die Nova gegeben hatte. Das Leben war so einfach und problemlos gewesen in dieser Nacht. Und jetzt ...
Hatten wir Medikamente? Waren Ärzte im Gebäude? Die Ruhr und andere Seuchen konnten sich schnell ausbreiten. Und der Hunger! Es gab einen Supermarkt in der Nähe; ob sich irgendwo im Gebäude eine Tauchausrüstung finden ließ? Aber zuerst mußte ich etwas Schlaf nachholen. Später konnten wir dann anfangen, das Gebäude zu untersuchen. Der graue Tag war bereits um eine Nuance heller geworden. Es hätte alles viel schlimmer ausgehen können, viel schlimmer. Ich dachte an die Strahlung, die die andere Seite der Erde getroffen haben mußte, und fragte mich, ob unsere Kinder einmal Europa neu besiedeln würden, oder Asien, oder Afrika ...
Originaltitel: INCONSTANT MOON Copyright © 1971 by Larry Niven
James Tiptree, jr. SOS IM WELTRAUM »Signal kommt rein, Inspektor.« Das Coronis-Empfangsmädchen zeigte dem häßlichen Mann in dem Gürtel-Patrouillenboot, das fast eine Megameile weiter abwärts wartete, das zarte Rosa ihrer Zunge. Und auch noch dieses strähnige alte Haar, dachte sie. Igitt. Sie zog ihre Zunge ein und sagte mit süßlicher Stimme: »Es ist von – oh – Konzession zwölf.« Der Mann im Patrouillenboot sah noch häßlicher aus. Sein Name war Raumsicherheitsinspektor Gollem, und sein Magen schmerzte. Die Neuigkeit, daß es einem Gesellschaftsinspektor so schlecht ging, hätte eine Menge Leute zwischen Deimos und den Ringen erfreut. Die einzige Überraschung hätte in der Feststellung liegen können, daß Inspektor Gollem einen Magen anstelle eines versiegelten Vertragsbandes hatte. Gollem? Alle Freunde, die Gollem hatte, konnten zusammen ein Atomteilchen kolonisieren, und er wußte das. Sein Magen hatte sich freilich auch schon daran gewöhnt. Sein Magen gewöhnte sich allmählich sogar daran, daß er für Coronis Mutal arbeitete, und er hoffte noch immer, Quine, seinen Boß, überleben zu können. Was ihn zentimeterweise umbrachte, war dieses Ding, das er dort draußen hinter Konzession vierzehn am Rande des Coronis-Sektors versteckt hatte. Er sah finster auf den Schirm, wo Quines Mädchen
den Ärger eintrug, den er auf seiner nächsten Patrouille haben würde. Ein Mädchen-Mädchen wie dieses für die Vermittlung zu haben, sollte gut für die Moral sein. Auf Gollem machte es nicht den geringsten Eindruck. Er wußte, wie er aussah, und sein Magen wußte, was diese Signale von Zwölf bedeuten konnten. Als sie es auf den Schirm warf, sah er, daß es eine übliche Beschwerde war. Geistersignale auf ihren Bändern. Oh, nein. Nicht schon wieder. Nicht, da er eben schon alles in Ordnung gebracht hatte. Konzession zwölf gehörte West Hem Chemicals, eine schrottreife Anlage mit einem Haufen Cyborgs. Sie würden ihm ein Suchboot hinterherschicken, wenn er nicht bald kam. Aber wie sollte er? Er war gerade aus dieser Richtung gekommen, er mußte jetzt aufwärts in Richtung Konzession eins. »Umgekehrte Patrouille«, knurrte er. »Anfangend bei Konzession vierzehn. Zweck, äh, unvorhergesehene Überprüfung von Aggregatausfällen auf Elf und von West Hem beantragte Dienstleistung. Legen Sie zwei zusätzliche Energieeinheiten zu.« Sie trug es ein; ihr machte es nichts aus, wenn er mit Raumslang anfing. Er unterbrach die Verbindung und gab den neuen Kurs ein, während er nicht an die Zusatzenergie zu denken versuchte, die er gegenüber Quine zu rechtfertigen hatte. Wenn irgend jemand an seine Konsole kam und die gefälschte Eintragung der Umwegstrekke fand, dann würde er alsbald Erz abbauen – mit Kontrollelektroden in den Ohren.
Er verabreichte seinem Magen einen Schuß von Vageez und entdeckte einen Fehler in seiner Starteingabe, den er freudlos korrigierte. Die meisten Gürtelleute benützten natürlich den neuen billigen GSammler-Antrieb, den Gollem verabscheute. Seitwärts dahinzutreiben statt die Karre dahin zu steuern, wo man hinwollte. Auf die alte Weise, auf die richtige Weise. Ich bin der letzte Maschinen-Freak, überlegte er. Ein gottverlorener Dinosaurier im Raum ... Aber ein Dinosaurier hätte wenigstens Vernunft genug gehabt, sich nicht mit einem toten Mädchen abzugeben. Und Ragnarok. Der G-Summen-Anzeiger pendelte die Skala hinauf – er hoffte, ihn im Knoten eines Feldschwerpunkts wieder zurückzwingen zu können. Er stieß eine Hülse des neuen Biomonitors beiseite, mit dem sie sein Boot versehen hatten, und sah noch einmal nach draußen, bevor seine Schirme verdunkelten. Im Gürtel gab es immer was zu sehen. Diesmal war es ein Schwarm kleiner Meteoriten, die ihm folgten, blinkend wie Kies in den morgendlichen Sonnenstrahlen. In the sky with diamonds ... Von Ragnaroks großen Ausgangsschleusen konnte man in den nackten Raum sehen. So hatten sie es früher gemocht. Sein eiserner Schmetterling! Er kratzte seinen Bart, während er rechnete: fünf Stunden bis Ragnarok, wenn er das Siedlernest auf Vierzehn überprüft hatte. Das Wettersignal zeigte neue Daten, nachdem er die jetzigen Feldwirbel und -fronten eingegeben hatte. Er stimmte die Instrumente und fragte sich, wie
das wohl sein mußte, in einem Klima zu leben, das aus Stürmen von flüssigem und verdampftem Wasser bestand. Er war auf dem Mond aufgewachsen. Ein Paar von Asteroiden kam von Big J'S Umlauf. Jup riß gelegentlich einen der Felsen aus seiner Bahn. Dieses Paar sah nach aus der Bahn gerissenen Trojaden aus, die schätzungsweise abwärts in Richtung Themis-Sektor treiben würden. Dort gab es nichts als eine neue Medobasis. Sein Kollege dort war ein Kicherkopf namens Hara, der vermutlich zu sehr mit seinen Mutanten-Phagen beschäftigt war, um die Asteroiden zu bemerken. Schade, Trojaden waren reich an wertvollen Gasen. Fütterungszeit. Er öffnete eine Packung von Ovipuff und stellte seine Musik ein. Seine Musik. Alte menschliche kraftvolle Musik aus der Zeit der großen Abenteuer. Diese neuen sublimen Bioseufzer, das war nichts für Gollem. Er mochte es hart, mit einer ordentlichen Anzahl elektronischer Dezibel. Während er die Paste mit seinen nutzlosen großen Zähnen verschlang, begann die Kabine zu dröhnen. I can't get no satisFACTION! Der Biomonitor schrumpfte in seinen Hülsen zusammen. Gut. Niemand hat dich in Gollems Schiff gebeten, du saugender Symbiont. Der Beat half. Er begann mit seinen Übungen. Er wollte nicht zu einem Null-G wie Hara werden. Wie fast alle jetzt. Sein unschöner Körper beugte und streckte sich. Ein Gorilla: Kein Wunder, daß seine eigene Mutter nur einen Blick auf ihn geworfen hatte und davongelaufen war. Two thousand light-years from home ... was für eine Heimat für Gollem? Man fragte Quine, man fragte die Gesellschaft. Den Gesellschaf-
ten gehört jetzt der Raum. Zeit, mit Vierzehn Verbindung aufzunehmen. Vierzehn war in seiner üblichen aufgelösten Verfassung, eine riesige Brut von Bioblasen, die einen schwindenden Rest von Felsen einhüllten. Jedesmal, wenn er hier vorbeikam, hatte Vierzehn mehr Blasen – und mehr Bewohner in den Blasen. Die Gewebetanks, mit denen die Konzession bezahlt wurde, waren noch immer in Ordnung, aber an anderen Stellen waren die Blasen schon Lagen tief, die obersten nur lose befestigt. Die Felsenmasse, auf die ihr Stoffwechsel angewiesen war, ging ihnen aus. Gollem regte sich darüber jedesmal von neuem auf. »Wo ist euer Nachschub an Felsen?« fragte er, als der Siedlerchef auf seinem Schirm auftauchte. »Bald, bald, 'spektor Gollem.« Der Siedlerchef war ein dürrer Glatzkopf, an dessen einem Ohr ein Bioumformer befestigt war. »Die Gesellschaft wird kündigen, Juki. Coronis Mutual wird euch nicht im Vertragsstatut weiterführen, wenn ihr nicht auf die versicherbaren und zur Lebenserhaltung notwendigen Grundlagen achtet.« Juki lächelte, machte an dem grünen Klumpen herum. Schön, sie gaben die Felsen auf und trieben in ein symbiotisches Raumleben hinein. Hinter Juki sah er ein paar der älteren Chefs. »Ihr könnt es euch nicht leisten, auf die Dienste der Gesellschaft zu verzichten«, sagte er wütend. Niemand wußte besser als Gollem, wie gering diese Dienste tatsächlich waren, aber was wäre schon ohne sie? »Besorgt euch also etwas mehr an Felsgestein!« Er konnte hier nicht noch mehr Zeit vergeuden. Während er sich entfernte, bemerkte er, daß eine
der losen Blasen in krankem Purpur schimmerte. Das war nicht seine Sorge, zu wenig Zeit. Fluchend ließ er sich näher treiben und legte vorsichtig neben der Blase an, so daß seine Außenschleuse deren Außenhaut berührte. Sowie die Schleuse aufging, nahm er den entsetzlichen Geruch wahr. Er schnappte nach seinem Atemgerät und trat in die faule Blase. Sechs oder sieben Körper trieben zusammen inmitten eines Netzes von gelben Fäden. Er griff einen heraus, blies Sauerstoff in sein Gesicht. Es war ein Junge, ein geborener Null-G. Als seine Augen wieder aufgingen, stieß ihn Gollem in Richtung auf den verrotteten Stoffwechselkern. »Ihr habt es mit Phagen gefüttert«, stellte er fest und schlug den Jungen. »Ihr habt gehofft, daß es sich teilt, nicht wahr? Ihr habt es vergiftet.« Die Augen des Jungen irrten umher, und sahen dann starr geradeaus. Vermutlich bekam er kein einziges Wort mit, der Dialekt von Vierzehn veränderte sich schnell. Vielleicht fingen einige tatsächlich an, symbiotisch zu kommunizieren. Gemüse-ESP ... Er stieß den Jungen in das Geflecht zurück und warf den toten Stoffwechsler durch die Öffnung hinaus. Die ausgehungerte Bioblase schien kaum mehr lebensfähig zu sein. Er sprühte den Inhalt seines CO2Tanks aus und kroch zu seinem Boot zurück, um einen neuen Stoffwechselkern zu holen. Als er zurückkam, begann das quasi-lebendige Cyptoplasma der Blasenhaut schon wieder klarer zu werden. Es würde sich von selbst regenerieren, wenn sie es nicht wieder mit einem CO2-bindenden Mutanten vergifteten. Das waren die neuen Behausungen, die die Menschen im Raum jetzt benützten, weiche, heterokatalytische Fil-
me, die mit Sternenlicht zu betreiben waren und menschliche Abfälle als Nahrung aufnahmen. Gollem durchsuchte die hin und her treibenden Körper, bis er zwischen einer Frau und ihrem Baby einen Beutel mit Phagen fand. Sie jammerte, als er ihn von ihr losriß. Er nahm ihn mit zu seinem Boot zurück und stieß sich vorsichtig ab, nicht ohne die Öffnung in der Bioblase mit einem Nahrungsgel zu verschließen. Die Blase würde jetzt von selbst wieder gesunden. Endlich konnte er nach Ragnarok starten. Er lochte den Kurs für Zwölf und setzte dann mit geschickten Handgriffen das Flugaufzeichnungsgerät außer Funktion, um dann erst sein wirkliches Ziel einzusetzen. Das war auch eine dieser Sachen, die besser niemand herausfand. Dann trug er ein, was er eben an Materialien und Energie verbraucht hatte, wobei er die Zahlen wie immer großzügig nach oben aufrundete. Unterschlagung. Sein Magen stöhnte. Er stellte lauten Rock ein, um ihn zu besänftigen. Es gab da ein altes Gedicht über einen Mann, dem ein toter Vogel um den Hals gebunden war. Er hatte wahrlich seinen toten Vogel. All die guten Dinge waren tot, die freien und abenteuerlichen menschlichen Dinge. Er fühlte sich selbst wie ein Geist, das kann man wohl glauben. Ein toter Geist aus jenen Tagen, als die Menschen mit Maschinen zu den Sternen stürmten und die Algen noch in festen Behältern blieben. Bevor sie all diese stoffwechselnden marsianischen Riesenmoleküle zusammenkochten, die, Zitat, den Weltraum zähmten, Zitat Ende. Jetzt waren es gezähmte Männer, Frauen und Kinder, die durch sie atmeten, sich von ihnen ernährten, mit ihnen na-
vigierten und Berechnungen anstellten und Musik machten – und sich vielleicht sogar mit ihnen paarten! Steppenwolf heulte, ängstigte den Biomonitor. Sein Metallsucher quietschte. Ragnarok! Die Zeit zitterte, und die Vergangenheit jagte über den Bildschirm. Er gönnte sich einen kurzen Blick darauf. Die riesige Hülle aus goldener Haut glänzte im Licht der Sterne, am Rand blitzten Diamanten gegen die kleine Sonne. Die letzte Argo, die einsamste Conestoga von allen. Ragnarok. Eine große, stolze, unrentable Sternenmaschine, geschmückt mit den Symbolen der kruden Technologie, die den Menschen zu den Sternen gesprengt hatte. Ragnarok hatte den Weg zum Saturn und darüber hinaus geöffnet. Eine menschliche Faust, gegen die Götter geballt. Sie trieb jetzt als tote Hülle dahin, verloren in dem Meer, das sie erobert hatte. Verloren und vergessen von allen – außer von Gollem, dem Geist. Keine Zeit jetzt, über sie und um sie herum zu streifen, ihre archaische Ausstattung neugierig zu betrachten und daran herumzuflicken. Die Reaktoranlage in ihrem Innern war längst tot und kalt. Er konnte es nicht einmal wagen, sie zu starten, denn so etwas würde jeden Feldorter in der ganzen Zone aufheulen lassen. Die von Quine gestohlene Energie in ihren Batterien war alles, was sie jetzt noch erwärmte. Und in ihrem Innern war auch sein toter Vogel. Er drang durch die Hauptschleuse ein, die er seinem Boot angepaßt hatte. Während er durchstieß, glaubte er eine neue Blase zu erkennen in dem Stapel
von Vorräten, den er nahe Ragnaroks Frachtschleuse aufgebaut hatte. Was war mit Topanga los? Die Schleusen griffen mit einem seelenvollen metallischen Klang ineinander, er trieb hindurch, Auge in Auge mit den beiden alten Monsteranzügen, die in der Schleusenkammer hingen. Unglaublich, sie wirkten so schwerfällig. Wie hatten sie sich jemals damit bewegen können? Er schwebte durch das Halbdunkel in Richtung auf die Brücke. Für einen Augenblick sah er dort sein Mädchen. Die weiten Außenluken waren ein wirbelnder Irrgarten von Sternenlicht und feurig umrandeten Schatten. Sie saß im Kommandosessel und sah nach draußen. Er sah ihr reines und hartes Profil, in den Schatten die Andeutung eines Mädchen-Körpers. Sternenhungrige Augen. Dann wandte sich ihr Blick, das Licht ging an. Sein Sternenmädchen löste sich in dem Gegenstand auf, der es vernichtet hatte. Zeit. Topanga war eine alte, kranke, verdummte Frau in einem verlassenen Sternenschiff. Die Überreste ihres Gesichtes lächelten ihm zu. »Golly? Ich habe daran gedacht –« Wie sie sich noch immer anhörte, diese rauhe Stimme im Sternendunst. Die Geschichten, die sie ihm all die Jahre erzählt hatte. Sie war nicht immer so gewesen. Als er sie damals gefunden hatte, dahintreibend und krank – damals war sie noch immer Topanga gewesen. Die letzte, die übrig war. »Du hast den Rufer benutzt, Topanga. Ich habe dich gewarnt, weil sie zu nahe waren. Jetzt haben sie dein Signal aufgefangen.«
»Ich habe nicht gesendet, Golly.« Das seltsame Blau der weiten alten Augen erinnerte ihn an einen Ort, den er niemals gesehen hatte. Er begann die Leitungen ihrer Kontrollkonsole zu überprüfen. Kaum zu glauben, daß dieses uralte Gerümpel noch immer funktionieren sollte. Völlig intakt, eine Tonne solide verarbeiteter Stromkreise. Topanga behauptete, daß sie es nicht mehr aktivieren konnte; aber er wußte es besser, seit er ihren ersten Anfall von Irrsinn erlebt hatte. Er hatte sie damals bei Vier versteckt, in einer Ansammlung von Weltraummüll. Sie hatte auf allen Bändern Landesignale an Raumfahrer gesendet, die schon zwanzig Jahre tot waren. Fast hätten sie die Suchschiffe einer Bergungsgesellschaft für immer aus dem Weltraum gejagt, bevor er selbst ankam – und er hatte eine Kollision vortäuschen müssen, um Quine zufriedenzustellen. »Topanga. Hör mir zu. West Hem Chemicals werden ein Suchkommando auf dich hetzen. Du hast die Funkverbindung ihrer Minenleute gestört. Weißt du nicht, was sie mit dir tun werden? Das beste, das allerbeste, was dir passieren kann – du landest in der Altenabteilung eines Hospitals. Nadeln. Flaschen. Ärzte, die dich herumkommandieren, dich wie eine Sache behandeln. Sie werden Ragnarok als eine Trophäe aus der frühen Zeit der Raumfahrt unter Beschlag nehmen. Wenn sie nicht gleich alles auseinandersprengen.« Knitterfalten des Irrsinns legten sich über ihr Gesicht. »Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich werde die Laser auf sie richten.«
»Du würdest sie gar nicht erst zu sehen bekommen.« Er starrte die herausfordernde Geistererscheinung an. Er konnte hier tun, was er wollte – was hinderte ihn nur daran? »Topanga, ich werde den Sender zerstören. Es ist das beste für dich.« Sie stieß ihr eingefallenes Kinn nach vorn. »Ich fürchte sie nicht.« »Du solltest dich vor der Altenabteilung fürchten. Willst du als ein Durcheinander von Schläuchen und Ampullen enden, unter den G's? Ich werde es jetzt demontieren.« »Nein, Golly, nein!« Ihre dünnen, knochigen Arme trommelten angsterfüllt auf ihn ein. »Ich werde es nicht berühren, ich werde daran denken. Bitte, laß mich nicht hilflos zurück!« Ihre Stimme brach, und ebenso sein Magen. Er konnte es nicht ansehen, dieses Geschöpf, das sein Mädchen verschlungen hatte. Irgendwo da drin steckte Topanga, um Freiheit bettelnd, nach Gefahren dürstend. War sie in Sicherheit oder hilflos und geknebelt? »Wenn ich dich aus der Reichweite von West Hem bringe, dann bist du in Reichweite von drei anderen. Topanga, Kindchen, ich kann dich nicht noch einmal retten.« Sie verhielt sich jetzt wieder reglos, eingewickelt in der marsianischen Sauerstoffdecke, die er ihr gebracht hatte. Er bemerkte einen blauen Schimmer zwischen den Schatten, und sein Magen spie Galle. Gib auf, Hexe. Stirb, bevor du mich umbringst. Er begann die G-Summen-Einheit zu programmieren, die er mitgebracht hatte. Es war völlig unzureichend für Ragnaroks Masse, aber er konnte kurzfristig
überladen. Er würde es beim nächsten Vorbeikommen stabilisieren, wenn er kommen konnte, ohne zu viel Energie zu verschwenden. Von hinten hörte er ein heiseres Flüstern. »Das ist komisch, alt zu sein –« Das geisterhafte Echo vom Lachen eines reichen jungen Mädchens. »Habe ich dir jemals erzählt, wie sich damals das Feld verschob, auf Tethys?« »Ja, du hast.« Ragnarok bewegte sich. »Sterne«, sagte sie verträumt. »Hart Crane war der erste Dichter des Raums. Hör zu. Die Sterne kritzeln in unseren Augen die frostigen Legenden, die strahlenden Gesänge des unbezwungenen Raums. O silberne Macht –« Gollem hörte das leichte Dröhnen der Hülle. Jemand versuchte, aus der Ragnarok zu entkommen. Er warf sich selbst in Richtung auf die Frachtschleuse hinab, fand sie geschlossen und kehrte blitzschnell um, um durch die Hauptschleuse zu seinem Boot zurückzukommen. Zu spät. Als er seine Kabine erreichte, konnte er auf den Schirmen eine merkwürdige Hülse hinter der neuen Blase ausmachen, die ihm am Anfang aufgefallen war. Was war das – Er legte seinen Raumanzug an und hangelte sich quer über Ragnaroks Hülle. Die neue Bioblase war noch ganz weich, bestand vorwiegend aus Nahrungsgel. Er stieß sein Gesicht so weit und heftig hinein, daß dabei sein Atemgerät zerbrach. Wutentbrannt kehrte er zu Topanga zurück. »Du läßt einen Phagenläufer in Ragnarok 'rumlaufen!«
»Oh, du meinst Leo?« Sie lachte unverbindlich. »Er ist ein Kurier von der nächsten Zone – das ist Themis, glaube ich. Er kommt manchmal vorbei. Er ist immer sehr nett zu mir, Golly.« »Er ist ein verdammter stinkender Phagenläufer, und das weißt du. Du hast ihn hier verborgen.« Gollem fühlte sich krank. »Gib dich nicht mit Phagen ab. Von allen Dingen nicht mit Phagen, Topanga.« Ihre uralten Augenlider fielen herab. »Laß nur, Golly. Ich bin schon so lange allein«, flüsterte sie. »Du verläßt mich immer für so lange.« Ihre ausgebleichte Hand kam aus der Decke hervor, suchte nach ihm. Sie war mit dunklen Punkten und blauroten Adern übersät. Wo waren die Hände des Mädchens geblieben, das das Lager auf Tethys gehalten hatte? Er sah auf die Serie von Holographaufnahmen über der großen Außenluke und sah sie. Die Kamera hatte sie eingefangen, wie sie gegen die schwarze Unendlichkeit lächelte, das harte Licht der Saturnschen Ringe fing sich in ihrem rotgoldenen Haar ... »Topanga, alte Mutter«, sagte er schmerzvoll. »Sag nicht Mutter zu mir, du Neptunschwein aus Kunststoff!« zischte sie. Ihr Rumpf sprang aus dem Kommandosessel, und er mußte sie zurückdrücken wobei er sie kaum zu berühren wagte. Schon ein Viertel-G würde diese zerbrechlichen Glieder brechen. »Ich sollte längst tot sein«, murmelte sie. »Es wird nicht mehr lange dauern, und du bist mich für immer los.« Er hatte getan, was auf Ragnarok zu tun war. Er konnte wieder gehen. »Halte die Stellung, Topanga, gib nicht auf«,
mahnte er sie herzlich. Sein Magen wußte, was jetzt kommen würde. Es war nichts Gutes dabei. Während er ging, hörte er sie zu dem längst toten Computer sagen: »Kardanaufhängung überprüfen!« Er bereitete den Start nach Konzession zwölf und West Hem vor. Sowie er das Kursaufzeichnungsgerät wieder in Funktion gesetzt hatte, schlug sein Empfänger an. Der Schirm blieb dunkel. »Identifikation bitte!« »Habe auf dich gewartet, Gollem.« Eine schleifende Tenorstimme; Gollems Bart juckte. »Ein 'dammt feines Schiff.« Die Stimme kicherte. »Das Großmaul von Co'onis würde sich bestimmt darüber freuen.« »Laß deine Finger von Ragnarok, wenn du noch eine Zeitlang Luft atmen willst«, sagte Gollem zu dem Phagenläufer. Die Stimme kicherte erneut. »Meine Partner bedauern zutiefst, 'spektor.« Er vernahm ein Klicken und hörte dann, wie seine eigene Stimme sagte: »Topanga, Kindchen, ich kann dich nicht noch einmal retten.« »Handel, 'spektor, biete Handel. Warum wir sollen Krieg spielen?« »Zum Teufel mit euren verdammten Bändern«, sagte Gollem müde. »Mit mir könnt ihr nicht umgehen wie mit Hara.« »'panga«, sagte der unsichtbare Leo gedankenvoll. »'dammt kluger alter Fuchs. Sie dir gesagt, daß ich ihren Leitungsbrand gerichtet habe?« Gollem unterbrach die Verbindung. Der Phager mußte eine Leitung zum Schmoren gebracht haben, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Gollems Magen heulte Säure. Sie war so verletzlich. Ein
kranker alter Adler, verloren im Raum, und die Ratten haben sie gefunden ... Sie würden nicht wieder gehen. Ragnarok bot ihnen Luft, Wasser, Energie, Sendeanlagen. Vielleicht benützten sie den Rufer, vielleicht hatte sie ihm die Wahrheit gesagt. Sie konnten das Schiff übernehmen. Sie durch die Schleuse nach draußen befördern ... Gollems Hand blieb auf der Kontrollkonsole liegen. Wenn er jetzt wieder umkehrte, würde der Kursaufzeichner alles verraten. Sie werden warten und zuerst noch etwas herumschnüffeln. Sie wollen nicht nur das Schiff, sie wollen auch mich kriegen. Sie wollen herausfinden, wieviel Druck sie ausüben können. Kann nur noch beten, daß sie es nicht – Er mußte irgendwo wirkliche Energie auftreiben und Ragnarok in Sicherheit bringen. Wie, wie nur? Das war gerade so, als wollte man Big Jup verbergen. Er bemerkte, daß er auf den Biomonitor eingeschlagen und ihn durch die Kabine geschleudert hatte, so daß er sich in einen krank wirkenden gelben Klumpen verwandelt hatte. Wie lange konnte er Coronis noch hinhalten? Wie auf ein Stichwort schlug die Direktverbindung der Gesellschaft an. »Warum sind Sie nicht auf Konzession zwei, Gollem?« Es war Großmaul Quine höchstpersönlich. Gollem holte tief Atem und wiederholte, daß er seine Patrouille in umgekehrter Richtung flog. Gleichzeitig sah er, wie sich Quines kleine Schnauze unwillig verzog. »Erklären Sie mir das nachher. Und jetzt hören Sie mal zu, Gollem.« Quines rosafarbener und plumper
Körper lehnte sich in seinem Bioflex zurück. Coronis war eine Station mit allem Komfort. »Ich weiß nicht, was Sie mit Konzession drei gehabt haben, aber ich will, daß das aufhört. Die Bergleute schreien und beschweren sich, und unsere Gesellschaft hat das gar nicht gern.« Gollem schüttelte seinen zotteligen Kopf wie ein betäubter Bulle. Konzession drei? Ach ja, die schwere Metallgewinnungsanlage. »Sie überladen ihre Zugstrahlen für heiße Förderung«, erklärte er Quine. »Steht alles in meinem Bericht. Wenn sie so weitermachen, wird es ein einziges blutiges Mischmasch geben. Und sie werden nicht gedeckt sein, weil ihr Vertragsanhang die Ladegrenzen genau bestimmt.« Quines Kinnbacken zuckten unheilverkündend. »Gollem. Ich warne Sie noch einmal. Es ist nicht Ihre Aufgabe, dem Versicherungsnehmer den Vertrag zu erklären. Wenn die Bergleute ihr Erz schneller fördern wollen und dabei ihren Vertrag unwirksam werden lassen, so ist das ihre Entscheidung. Ihre Aufgabe ist es, die Vertragsverletzung zu berichten, nicht aber, sie mit Verfahrensfragen zu verärgern. Jetzt sind alle sehr aufgebracht gegen Sie. Und ich vertraue darauf, daß Sie nicht etwa annehmen, daß unsere Gesellschaft« – angemessene Pause – »Ihre Eigeninitiative schätzt.« Gollem würgte einen undeutlichen Laut aus seiner Kehle. Eigentlich sollte er an so etwas gewöhnt sein. Coronis wollte seinen Anteil schnell, aber andererseits keine Versicherungssumme auszahlen, wenn die ganze Sache auseinanderflog. Die Bergleute wurden pro Schiffsladung bezahlt, und die meisten von ihnen
wußten kaum, was ein Vertragsanhang ist. Bevor sie es herausfanden, waren sie längst tot. »Eine andere Sache.« Quine beobachtete ihn. »Sie werden vielleicht etwas aus dem Themis-Sektor hören. Sie scheinen sich dort unten alle wegen einem Stück Felsen aufzuregen.« »Meinen Sie diese Trojaden?« Gollem wunderte sich. »Was ist damit?« »Haben Sie mit Themis gesprochen?« »Nein.« »Sehr gut. Sie werden nicht, ich wiederhole, nicht von Ihrer Patrouille abweichen. Wir haben schon genug Ärger mit Ihnen gehabt, Gollem. Wenn Ihre Bänder irgend etwas in Verbindung mit Themis zeigen sollten, dann sind Sie aus der Gesellschaft entlassen, und es wird eine Klage um Ihre Pensionsberechtigung geben. Und Sie bekommen keine Beförderungsrechte. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Gollem unterbrach die Verbindung. Als er seine Hände wieder unter Kontrolle hatte, ließ er das Schaubild mit den neu berechneten Asteroidenumläufen aufleuchten. Den Berechnungen zufolge würden die beiden Felsen in den Sektor Themis, aber nicht direkt ins Zentrum eindringen. Er runzelte die Stirn. Wer oder was war in Gefahr? In seinem Kartentank fand er nur die neue Medobasis als nicht aufgenommen verzeichnet, ohne weitere Einzelheiten. Ihm schien dennoch alles klar zu sein. Wenn dieser verfluchte Hara ... Gollem gab einen Knurrlaut von sich. Er hatte verstanden. Quine hoffte darauf, daß es in Themis ein Unglück gab, das die Ceres-Kontrolle veranlassen mochte, ihm einen Teil dieses Sektors zu überschrei-
ben. Und die Medobasis war nicht Eigentum einer privaten Gesellschaft, sondern für öffentliche Zwecke verfügbar. Fein ausgedacht, überlegte er. Viele G's für Quine, wenn es funktionierte. Er näherte sich dem Bereich von West Hem Chemicals. Bevor er sein Signal geben konnte, dröhnten schon die Flüche des Cyborg-Chefs aus seinem Lautsprecher. Gollem veränderte seinen Kurs leicht, um die von seinem Boot ausgehende Störung ihrer Körperbänder zu vermindern, und der Cyborg-Chef beruhigte sich gerade so weit, daß er ihm berichten konnte, daß die Ursache der Geistersignale auf ihren Bändern beseitigt war. »Ein alter Feldorter«, log Gollem. Hatten sie die Ragnarok identifiziert? »Verschwinde! Kehr um!« Der alte CyborgSprecher hätte gar nicht abweisender reagieren können. Er hatte Elektroden überall an seinem Schädel befestigt, und aus seinen Gliedern sprossen Drähte. So sehr Gollem Metall liebte, das war einfach zuviel. Er schwenkte sein Boot so behutsam, wie er nur konnte. Die Männer – oder vielleicht die Geschöpfe – da drin waren direkt mit den robotisierten Verarbeitungsanlagen auf all den umliegenden Felsen verbunden, und er bewegte sich praktisch durch ihr zentrales Nervensystem. Wäre kaum eine Überraschung, wenn sie ihn eines Tages unter Beschuß nahmen. Sein nächster Halt war die neue Sammelanlage von Konzession elf. Es war ein langsam umlaufendes Gebilde am Rand des Kirkwood-Grabens und ein schwieriger Platz zum Arbeiten. Wenn sie einmal Felsen verloren, dann konnte das ein Chaos für die gan-
ze Zone bedeuten. Eine Sammelanlage brauchte eine ganze Menge von Energie-Einheiten. Gollem begann an Ragnaroks Energiebedarf zu rechnen. Sein Magen quälte ihn wieder; die Gruppe, die Elf gepachtet hatte, machte große Pläne für eine sich selbst unterhaltende Kolonie bei schmalem Budget. Sie brauchten diese Einheiten, um gashaltige Felsen heranzuziehen. Als er hereinkam, sah Gollem, daß sie auch noch andere Probleme hatten. »Wir haben eine Wahrscheinlichkeitsrechnung über den möglichen Verlauf aufgestellt«, wiederholte der Chef von Elf müde. Sie standen neben einem Demonstrationsschirm, auf dem die angenommenen Kurse der Felsenmassen zu sehen waren, die sie sprengen wollten. »Das reicht nicht«, erklärte ihm Gollem. »Euer Konvergenzpunkt ist zu ungenau. Wenn ihr einen großen Felsen verliert, wird er genau in Zehn hineinrasen.« »Aber Konzession zehn ist nicht besetzt«, protestierte der Chef. »Egal. Was glauben Sie, warum Sie diese Konzession so billig bekommen haben? Die Gesellschaft ist hocherfreut, daß hier mit einer Sammelanlage gearbeitet wird. Sie warten nur darauf, daß ihr einen Felsen verliert, so daß sie kündigen und die Konzession von neuem verkaufen können. Ich kann euer Vorhaben nur dann genehmigen, wenn ihr eine neue Berechnung durchführt.« »Aber das würde bedeuten, daß wir ComputerInput von der Ceres-Station kaufen müssen!« schnaufte er. »Das können wir uns nicht leisten.«
»Ihr hättet euch diese Unsicherheitsfaktoren ansehen sollen, bevor ihr unterschrieben habt«, sagte Gollem trocken. Es wäre ihm lieber gewesen, der Chef hätte nicht so viele Haare gehabt; es wäre ihm leichter gefallen, das einem Glatzkopf anzutun. »Lassen Sie mich wenigstens die Felsen hereinholen, die wir armiert haben«, bettelte der Chef. »Wieviele Ein-G-Einheiten habt ihr dort draußen?« erkundigte sich Gollem. »Einundzwanzig.« »Ich werde mir sechs davon nehmen und euch die Genehmigung geben. Das ist billiger als eine Neuberechnung.« Der Chef preßte seine Zähne vor Wut zusammen, so daß sein Kieferknochen knirschte. »Verfluchter Bastard!« Plötzlich hörte er einen gellenden Schrei hinter sich, und die Frau an der Empfangsanlage riß ihre Ohrhörer herunter. Der Chef langte hinüber und schaltete den Lautsprecher ein, der den kleinen Raum mit einem Pfeifen in allen Frequenzen erfüllte. Eine Minute lang dachte Gollem, es handle sich um eine Wellenfront, und dann fing er den Schrei eines Menschen auf. »SOS! S – O – S! GO-OLLEE –« O nein! O Jesus, nein! Er schlug den Lautsprecherschalter nieder und spürte, wie ihm der Schweiß über den ganzen Körper lief. »Große Galaxis, was –« setzte der Chef an. »Ein altes Notsignal im Kirkwood-Graben.« Gollem stieß durch sie hindurch. »Es muß von selbst wieder angegangen sein. Ich werde es ausschalten.« Er stürmte in sein Boot zurück und warf den Zu-
satzantrieb ein. Für die Energieeinheiten blieb ihm jetzt keine Zeit mehr. Dieser Schrei besagte, daß Topanga wirklich in Schwierigkeiten war. Diesmal rief sie nicht nur nach toten Raumfahrern. Wenn er noch den Notantrieb dazukoppelte, dann konnte er die Gravitationsfelder auf einem direkteren Kurs durchqueren. Strengstens verboten. Er tat es dennoch und schaltete dann alle Kanäle auf Empfang. Topanga war nicht mehr zu hören. Feuer? Ein Zusammenstoß? Viel wahrscheinlicher war, daß Leo und seine Freunde ihren Zug getan hatten. Er raste in einer Schleife verschwendeter Energien abwärts, während seine Hände automatisch am Empfänger hantierten, in der Hoffnung, wenigstens die Signale von Phagern oder irgend etwas hereinzubekommen. Er schnappte aber nur entferntes Bergleutegeschwätz und ein paar Basis-Empfangsmädchen auf, die sich gegenseitig fragten, was das SOS wohl zu bedeuten hatte. Jemand aus dem Themis-Sektor hörte nicht auf, nach Inspektor Hara zu rufen. Hara antwortete wie üblich nicht, sondern nur der AutomatikBeantworter der Themis-Zentrale. Gollem verfluchte sie alle zu gleichen Teilen, während er sein Gehirn dazu zu bringen versuchte, einen Plan zu entwerfen. Warum hatten die Phager in Ragnarok so schnell gehandelt? Das war nicht ihr Stil, eine offene Konfrontation zu suchen. Wenn er durchdrehte und schoß, dann verloren sie das Schiff und mußten dann auch noch mit einem neuen Inspektor fertigwerden. Warum sollten sie das riskieren, wenn sie ihn ohnehin schon im Griff hatten? Vielleicht nahmen sie an, daß es gar kein Risiko
war. Gollems Faust schlug in schwerem Rhythmus auf den Empfänger. Paint it black .... Aber sie müssen sie am Leben halten, bis ich ankomme. Mich wollen sie kriegen. Was tun? Würden sie ihm glauben, wenn er die Ceres-Kontrolle anzurufen drohte? Eine Antwort erübrigte sich. Sie wußten so gut wie er, daß das nur damit enden konnte, daß Topanga in einer Altenabteilung landete, Ragnarok in Quines Trophäensammlung und Gollem in einem Schädelkäfig ... Wie konnte er ihnen Topanga nur entreißen? Warum, warum habe ich sie nur allein gelassen? Er schwenkte zum x-ten Mal in diese unglückselige Umlaufbahn ein, als er darauf aufmerksam wurde, daß die Stimme von Themis verstärkt aufgekommen war und jetzt Coronis zu erreichen versuchte, seine Heimatbasis. Verbesserung, Quines Heimatbasis. Keine Antwort. Gegen den Ratschlag seines Magens nahm er die Sendung auf. »Medobasis Themis an Coronis-Zentrale, dies ist ein Notruf. Coronis, bitte antworten. Medobasis Themis ruft Coronis, wir sind in einer Notlage, bitte –« Die Frau hatte ganz offensichtlich keine Senderoutine. Endlich zirpte Quines Mädchen: »Medobasis Themis, ihr stört unseren Funkverkehr. Dämpft bitte das Signal.« »Unsere eigene Zentrale antwortet nicht! Wir brauchen Hilfe, wir haben Verletzte –« »Medobasis Themis, verständigen Sie den Offizier der Sicherheitspatrouille Ihres Sektors, wir haben
keine Autorisation für Unternehmungen außerhalb unseres Sektors. Ihr stört unseren Funkverkehr.« Eine männliche Stimme mischte sich ein. »Coronis, stellen Sie mich sofort zu Ihrem Chef durch. Diese Sache hat medizinischen Vorrang.« »Medobasis Themis, Sektorchef Quine ist zur Zeit außer Station. Wir warten auf das Sammelsignal der Frachtschiffe der Trans-Mars-Linie, unterbrecht bitte bis in zwei Stunden.« »Aber –« »Coronis Ende.« Gollem zog eine Grimasse, während er sich vorzustellen versuchte, wie Quine seine Station verließ. Er begann wieder, sein Gehirn zu zermartern. Die Frau von Themis rief noch immer. »Wir sind in Kollisionsgefahr, wir brauchen Energie, um uns in Sicherheit zu bringen. Wenn uns irgend jemand helfen kann, bitte melden. Medobasis Themis –« Er unterbrach die Verbindung. Ein Ragnarok war genug, und seines lag jetzt vor ihm. Da war vielleicht die schwache Chance, daß sie ihn nicht so schnell erwarteten. Er verringerte den Antriebsschub und schwebte näher. Als sich seine Schirme aufklarten, sah er, wie sich etwas Helles in den Blasen hinter der Frachtschleuse bewegte. Das konnte seine Gelegenheit sein, wenn sie diese Phager noch nicht ins Innere gebracht hatten. Er griff nach den Kontrollen des Laserzerstörers und stieß mit seinem Patrouillenboot genau auf Ragnaroks Hauptschleuse zu. Der Laserstrahl streifte zweimal über die Blasen, bevor er abbremsen mußte. Der Aufprall warf ihn gegen seine Kontrollen. Die Schleusen griffen ineinander, und er sprang mit dem
Kopf voraus in Ragnaroks Schleusenschacht. Während er hindurchstieß, löste er den Alarm für das ganze Schiff aus. Dann war er durch und raste den schachtartigen Korridor empor. Zwischen dem Heulen der Sirenen konnte er dröhnende Geräusche vernehmen. Die Phager stürmten durch die Frachtschleuse nach draußen, um ihre Blasen zu retten. Wenn es ihm gelang, die Brücke zuerst zu erreichen, konnte er sie aussperren. Er drehte sich, legte das Rohr an und schoß in die Brücke, streckte dann seinen Arm in Richtung auf den Hebel der Notschleusenluke. Das Ding war seit Dekaden nicht mehr benützt worden – er brach sich fast das Handgelenk, als er den Hebel mit seinem eigenen Schwung hochreißen wollte, aber er wurde durch das süße Mahlen belohnt, mit dem sich die Verschlußriegel der Schleuse weit unter ihm lösten. Dann wandte er sich dem Kommandosessel zu, in dem Topanga sitzen sollte, und ich sah, daß er zu spät kam. Sie saß da, beide Hände im Nacken und rollte mit den Augen. Hinter ihr baute sich lässig eine schmächtige, haarlose Figur auf, in der Faust das Ende einer Drahtschlinge, die um Topangas Kehle gezogen war. »Sehr schön, Inspektor.« Der Phager grinste. Einen Augenblick lang fragte sich Gollem, ob Leo nicht den Handlaser bemerkt hatte, mit dem Gollem winkte. Dann erst sah er, daß der Phagenkopf einen Schweißbogen gegen Topangas Seite hielt, dessen Sicherheitskragen entfernt worden war. »Ein Handel, Gollyboy. Wirf den Blitz weg.« Keine Chance. Nach einer Minute ließ Gollem seine
Waffe an Leos Arm vorbeischweben. Leo nahm den Köder nicht an. »Öffne.« Der Phager wies mit dem Kinn auf den Lukenhebel, und Topanga gab ein unterdrücktes Schluchzen von sich. Wenn Gollem die Luke öffnete, war das Spiel endgültig vorbei. Er verharrte wie gelähmt, sein gekrümmter Körper suchte nach etwas Festem hinter ihm, er versuchte die Sprungweite zu schätzen. Der Phager zog die Drahtschlinge enger. Topangas Arme zuckten wild hin und her. Ein Auge warf ihm einen furchtbaren Blick zu. Ein Funke darin versuchte »nein« zu sagen. »Du tötest sie. Und dann werde ich deinen Kopf abreißen und ihn durch die Abfallschleuse befördern!« Der Phager kicherte. »Warum so wild auf Töten?« Plötzlich schleuderte er Topanga so herum, daß ihre Füße in Gollems Richtung zeigten. Sie wehrten sich schwach. Seltsam, ihre bloßen Füße waren wie die eines Mädchens. »Öffne.« Als sich Gollem nicht bewegte, stieß der Arm des Phagers in einem eleganten Bogen nach vorn. Der Schweißbogen schnitt, ging zurück und schnitt wieder, während sich Topanga in wilden Krämpfen wand. Ein mädchenhafter Fuß löste sich, eine Spur von Bluttropfen hinter sich herziehend. Gollem sah, wie aus dem dunklen Stumpf ein weißer Knochen auf ihn zeigte. Topanga war jetzt ruhig. »Wir können weitermachen.« Der Phager grinste. »Wirklich zäh, der alte Vogel. Öffne.« »Laß sie los! Laß sie los! Ich öffne.«
»Öffne jetzt.« Das Schweißgerät bewegte sich wieder. Plötzlich machte Topanga eine schwache Drehung, stieß in Leos Leistengegend. Der Kopf des Phagers beugte sich zu ihr herunter. Gollem fiel ihm in den Arm, und drehte ihn heftig in die Gegenrichtung. Die Drahtschlinge flog quer durch die Kabine, während er und der Phager wild umeinander rasten, weil ihnen Topangas weiter Umhang die Sicht nahm. Der Phager hatte jetzt ein Messer, aber er konnte keinen Halt finden. Gollem spürte, wie sich Füße um seine Hüfte schlossen und benützte die Gelegenheit, um Topanga zur Seite zu stoßen. Als die Lage wieder übersichtlicher wurde, klammerte er den Phager fest und begann wütend und hemmungslos damit, die Ergebnisse seines Muskeltrainings einzusammeln. Gerade als er nach dem Draht griff, um den reglosen Körper zu fesseln, traf ihn ein heftiger Schlag hinter dem Ohr, und die Lichter gingen aus. Als er wieder zu sich kam, hörte er Topanga schreien: »Val, Val! Ich hab sie erwischt!« Sie hing auf der Konsole und benützte beide Hände, um einen altertümlichen Energiestrahler genau auf ihn zu richten. Die Mündung stieß Rauch und Schmordampf aus, die ihn fast betäubten. »Topanga, ich bin's – Golly. Wach auf, RaumfahrerMädchen. Hilf mir, ihn zu fesseln.« »Val?« Ein Mädchen lachte und schrie. »Ich werde die mordenden Mütter erledigen, Val!« Valentine Orlov, ihr Mann, lag schon seit zwanzig Jahren in den Schneewüsten von Ganymed. »Val hat zu tun, Topanga«, versuchte Gollem
freundlich zu erklären. Er hörte Geräusche von der Schiffshülle, die er nicht mochte. »Val hat mich geschickt, um dir zu helfen. Leg den Strahler weg, Mädchen. Hilf mir lieber, dieses Biest zu fesseln. Sie versuchen jetzt, mein Boot zu stehlen.« Er hatte keine Zeit gehabt, es abzusichern, erinnerte er sich jetzt. Topanga starrte ihn verständnislos an. »Und warum begegne ich deinem Gesicht hier so oft?« krächzte sie. »Deine Augen sehen wie schmutzige Teller aus –« Dann wurde sie ohnmächtig, und er warf sich abwärts in Richtung auf die Schleuse. Sein Patrouillenboot schwebte soeben davon. Die Blase eines Phagenläufers war an ihm befestigt. Er saß auf Ragnarok fest. Die Wut sprengte ihn zu den Konsolen auf der Brücke zurück. Er schaffte es, einen schwachen Strahl aus Ragnaroks Lasern hinter ihnen herzuschicken, während sie G's aufnahmen. Ohne jede Wirkung. Dann zog er den Schädel des Phagers zu sich heran und versetzte ihm eine Kopfnuß, um dann zu versuchen, Topanga mit einer Spitze in ihre alten Spinnwebenvenen wieder aufzurichten. Wie zum Teufel hatten diese schwachen Pfoten nur einen Strahler halten können? Er wickelte ein Gelpflaster über ihre Verbrennungen und preßte seine Kiefer zusammen, um den Aufruhr seines Magens zu unterdrücken. Er vollendete seine Säuberung, indem er den Phager und den Fuß zur Abfallschleuse schleppte. Eine Hand auf dem Drehknopf, sah er sich noch einmal stirnrunzelnd um. War es nicht wichtiger für ihn, von Leo zu erfahren, was sie eigentlich in seinem
Patrouillensektor wollten? Dann vermochte er wieder klar zu denken und betätigte den Auswurfmechanismus. Sein Sektor? Wenn ihn die Gesellschaften jemals in ihre Hand bekamen, dann würde sein Gehirn mit Leitungen und Elektroden verdrahtet werden, und er durfte den Rest seines Lebens für dieses Patrouillenboot bezahlen. Wenn er Glück hatte. Für ihn gab es keinen Ort mehr, an den er flüchten konnte. Der Raum gehörte den Gesellschaften. Er war tatsächlich zweitausend Lichtjahre von seiner Heimat entfernt – in einem toten Sternenschiff. Tot? Gollem warf sein dünnes Haar zurück und grinste. Ragnarok hatte ein reiches Ökosystem, darauf hatte er geachtet. Niemand außer den Phagern wußte das, und die konnte er noch eine Zeitlang abwehren. Lange genug vielleicht, um diesem alten Monsterhaus etwas Energie abzugewinnen, ohne den ganzen Sektor in Alarm zu versetzen. Plötzlich begann er laut zu lachen. Ein Ding wie ein rostiger Fensterladen öffnete sich in seinem Bewußtsein, ließ Glorienschein herein. »Mannomann!« murmelte er und steckte seinen Kopf in die Regenerationshalle, um die langen Kästen mit Kulturen zu überprüfen, die sich unter den Kunstsonnen erstreckten. Er brauchte eine gute Minute, um zu verstehen, was da nicht stimmte. Kein Wunder, daß die Phager so schnell zurückkamen, kein Wunder, daß er wie irrsinnig lachte. Sie hatten die ganzen Anlagen mit Phagenkulturen bepflanzt. Eine Fabrik. Die ersten Kästen begannen schon zu keimen, die Luft war zäh und klebrig. Er
zog sie hinaus, holte tief Luft und schleuderte die reifen Kästen über Bord. Dann kroch er zurück, um weiterzusuchen. In jedem der Gestelle begannen sich die fotosynthetischen Algen zusammenzuklumpen, zu den flechtenähnlichen Symbionten zu gerinnen, die Phagen genannt wurden. Er fand keinen einzigen sauberen Kasten. In einigen Stunden würde in der Ragnarok die Luft ausgehen. Nicht, daß es ihm und Topanga noch etwas ausmachen würde. Mit all diesem Phagenzeug konnten sie es ohnehin nicht mehr so lange aushalten. Sie saßen jetzt wirklich in der Falle. Er ließ etwas Sauerstoff in die Lufterneuerungsanlage strömen und kehrte zur Brücke zurück. Wenn der Sauerstoff ausging, mußten sie sterben. Und wo sollten sie noch Luft herkriegen? Selbst wenn er die Ragnarok in Bewegung zu setzen vermochte, alarmierte er damit zugleich die Gesellschaftsniederlassungen und Konzessionen. Da konnte er genausogut Coronis anrufen und sich selbst aufgeben. Vielleicht würde sich Quine nicht einmal bemühen, ihn und Topanga rechtzeitig zu erreichen. Was vielleicht sogar besser war. Abteilungen. Drähte. Topanga stöhnte. Er legte seine Hand auf ihre Schläfe. Heiß wie Plasma. Alte Damen, die um einen Fuß gekürzt worden waren, sollten nicht mehr Krieg spielen. Er stöberte Biogens heraus, sah verwundert auf Fläschchen, Ampullen, Aufschriften, Hyposprays. Er hätte zu gerne gewußt, was geeignet war, sie am Leben zu erhalten. Das waren Schmuggelwaren, die Val und sie in den alten Tagen aufgelesen hatten, und dieser Vorrat würde reichen –
Moment mal. Medobasis Themis. Er flippte den Empfänger an. Die Frau von Themis rief noch immer, tief und heiser. Er verbog die Antenne, um möglichst direkt senden zu können. »Medobasis Themis, verstehen Sie mich?« »Wer sind Sie? Wer ist da?« Sie war nicht wenig überrascht. »Wir sind auf einer Raumbergungsmission. Haben einen Verletzten.« »Wo –« Eine männliche Stimme übernahm. »Hier ist Chefarzt Krans, Raumfahrer. Sie können Ihren Verletzten bringen, aber ein riesiger Felsen rast mit einer Meteoritenwolke durch unseren Raum. Wenn wir keine Energie bekommen können, um die Station zu bewegen, dann werden wir in etwa dreißig Stunden durchlöchert sein. Können Sie uns helfen?« »Sie können bekommen, was ich habe. Bitte Koordinaten überprüfen.« Die Frau hatte Schwierigkeiten mit den Dezimalstellen. Es war wertlos, ihnen jetzt zu sagen, daß er ihnen nicht helfen konnte. Die G-Summen-Einheit, die er in der Ragnarok hatte, würde die Basis nicht einmal rechtzeitig für den Halley'schen Kometen in Sicherheit bringen können. Und Ragnaroks Antrieb – selbst wenn er funktionierte, das war so, als wollte man ein Auge mit einem Schweißbrenner reiben. Aber ihre Luft konnte ihm helfen. Der Antrieb. Er raste ins Maschinendeck hinunter, wohl wissend, daß die Sprungkraft seiner Muskeln teilweise auf Phagen beruhte. Nur teilweise. Tausendmal schon war er diesen Weg gegangen, tau-
sendmal hatte er sich von der Versuchung wieder losreißen müssen. Wohlgelaunt begann er die Stromkreise zu überprüfen, die er aufgespürt hatte, setzte die unzähligen Kurzschlüsse wieder instand. Da war eine versiegelte Zündungsreserve. Ein verblüffend einfacher Umwandlungsprozeß, ein Alptraum von Hitzeaustauschern und Turboladern. Verrückt, verschwenderisch, gefährlich. Genug Leitungen, um den Gürtel zu verdrahten. Unglaublich, daß es Menschen zum Saturn getragen hatte, noch unglaublicher, daß es heute noch funktionieren sollte. Er rasselte mit den Kontrollhebeln. Schwer zu sagen, was sich alles festgesetzt haben mochte. Die Betriebsstoffzuleitungen für den Umwandler gaben den in dreißig Jahren angesammelten Staub frei. Die Zündungsreserve war vermutlich nur für einen einzigen Notstart konstruiert. Würde er in der Lage sein, für das Bremsen erneut zu zünden? Probieren geht über Studieren. Eine Sache war jedenfalls sicher, wenn dieser ehrwürdige Metallvulkan ausbrach, dann würde jedes Ortungspult von hier bis Coronis aufleuchten. Als er zur Brücke zurückkam, flüsterte Topanga leise vor sich hin. »Wir haben den Himmel verlassen, hängen in der Nacht. O du stählerne Erkenntnis, zum großen Sprung verpflichtet –« »Bete, daß das Ding überhaupt springt«, sagte er zu ihr und gab den Kurs ein, wobei er alles doppelt überprüfte – wegen der Phagenmäuse, die in den Schatten umherliefen. Er legte das Sicherheitsnetz um Topanga. Er ließ die Zündfolge beginnen. Das in der Ragnarok entstehende Unterschall-
Vibrieren erfüllte ihn mit Entsetzen und Freude. Er warf sich selbst in das Sicherheitsnetz, wobei er bedauerte, daß er nichts gesagt, nicht einmal einen Countdown abgezählt hatte. Start. Zero. Das Vibrieren wuchs zu einem ohrenbetäubenden Brüllen an. G's fielen schwer auf ihn nieder. Alles in der Kabine begann auf den Boden herabzuregnen. Das Netz gab seitlich etwas nach, und das Brüllen steigerte sich zu einem einzigen Aufschrei, der sein Gehirn zerteilte und sich dann in Stille auflöste. Als er sich zum Kontrollpult zurückkämpfte, stellte er fest, daß der Antriebsstrahl genau richtig eingesetzt hatte. Die Ragnarok walzte auf Themis zu. Er sah, daß Topangas Augen weit offen waren. »In welche Richtung gehen wir?« Sie wirkte jetzt ganz vernünftig und nüchtern. »Ich bringe dich hinüber zum nächsten Sektor, Themis. Wir brauchen Stoffwechsler, Sauerstoff. Die Phager haben unsere Regeneratoren zerstört.« »... Themis?« »Sie haben dort eine Medobasis. Sie werden uns helfen.« Fehler. »Oh, nein – nein!« Sie versuchte um sich zu schlagen. »Nein, Golly! Ich will nicht in ein Hospital gehen – du kannst das nicht zulassen!« »Du kommst nicht in ein Hospital, Topanga. Du wirst hier im Schiff bleiben, während ich die Stoffwechselzellen hole. Ein paar Minuten später sind wir schon wieder weiter.« Zwecklos. »Gott möge dich strafen, Gollem.« Sie versuchte, ihn anzuspucken. »Du willst mir eine Falle stellen, ich
kenne dich. Du willst mir meine Freiheit nehmen. Aber du wirst mich nicht hier beerdigen, Gollem. Du sollst unter der Mondkuppel verrotten mit deinem häßlichen Balg – ich kehre zu Val zurück!« »Bleib ruhig Raumfahrer, du bist auf dem falschen Kurs.« Er schaffte es endlich, ihr etwas Beruhigungsmittel einzuspritzen, und beschäftigte sich weiter mit Ragnarok. Die Phagen wurden allmählich immer stärker. Als er zu den Holographaufnahmen hochsah, bemerkte er, daß sie ihm zusahen, wie er ihr Schiff steuerte. Die alten Sternenhelden. Val Orlov, Fitz, Hannes, Mura, all die Großen. Manchmal nur ein Lächeln hinter einem goldglänzenden Helmvisier, ein Name auf einem Raumanzug neben einem verrückten Maschinengebilde. Hinter ihnen die raumverlorenen Einöden, die von unbekannten Monden erhellt wurden. Alle lebendig, alle so jung. Da war Topanga, ihren Arm um dieses andere Raummädchen gelegt, die dunkle Russin, die noch immer um Io kreiste. Sie lächelte strahlend und voll von Leben an ihm vorbei. Wenn sie zu reden anfangen, dann ist es soweit ... Er setzte die Gyros, um die Ragnarok etwas zu drehen, und hoffte, daß es die richtige Position für das Bremsmanöver war. Wenn er den Anzeigen vertrauen konnte, dann war noch genug Zündenergie übrig, um zu bremsen und wieder zu starten. Aber wohin sollte er sich von der Medobasis aus wenden? In den Himmel der Diamanten ... Er hörte sich selbst summen und entschied sich dafür, die ganze Sache in den Autopiloten einzugeben. Egal, in welchem Zustand der Computer war, er war auf jeden Fall zuverlässiger als er selbst. Hast du deine Mutter gesehen, Baby, die im Schat-
ten steht? ... Als er die Stones zu hören begann, ging er hinunter und warf die Hälfte der Kästen hinaus. Die drei verbleibenden Sauerstoffbehälter kamen ihm leer vor. Er öffnete einen. Der Sauerstoff nüchterte ihn so weit aus, daß er das Wettersignal überprüfen konnte. Die Frau von der Medobasis versuchte noch immer die ThemisZentrale aufzubringen. Er widerstand erfolgreich dem Impuls, sie über die Gesellschaften aufzuklären, und konzentrierte sich auf die neuesten Umlaufbahnen der Trojadenbrocken. Er sah jetzt, was den Leuten von der Medobasis Angst machte. Der erste Felsen würde sie um Megameilen verfehlen, aber er war massiv genug, um eine Menge Meteoritenteilchen in Bewegung zu bringen. Der kleinere Felsen dahinter schleppte einen ganzen Schwanz davon hinter sich her. Der Felsen selbst würde weit entfernt vorbeigehen – aber die Meteoritenwolke würde ihre Anlagen in Fetzen reißen. Er mußte sie sehr schnell erreichen und ebenso schnell wieder verschwinden. Er schnüffelte etwas mehr Sauerstoff und berechnete die Felsenumlaufbahnen auf der Basis der jeweils schlimmsten Wahrscheinlichkeit. Es sah gut aus – für ihn. Sein Magen zuckte; selbst unter Phageneinfluß hatte er eine Ahnung davon, wie es sein würde, wenn die Ärzte erst herausfanden, daß sie nichts mehr tun konnten. Er sah, wie Topanga grinste. Die Phagen nützten ihr offenbar mehr als die Tranquilizer. »Nur nicht aufregen, Sternenmädchen. Golly läßt dich schon nicht im Stich.«
»Luft.« Sie versuchte, auf die Kontrollanzeige für die lebensnotwendigen Bedingungen zu zeigen, die schon lange ins Rot übergegangen war. »Ich weiß, Raumfahrer. Wir werden uns Luft von der Medobasis holen.« Sie schenkte ihm ein seltsames Lächeln, wie er es nicht von ihr kannte. »Was immer du sagst, kleiner Golly.« Heiser flüsterte sie weiter: »Ich weiß – du warst wunderbar –« Ihre Hand suchte verlangend nach ihm. Das konnte er wirklich nicht mehr ertragen. Schade, daß seine Musik schon aus war. »Schenk uns ein paar Verse für den langen Weg, Sternenmädchen.« Aber sie war zu schwach. »Hör mich –« Ihr Bandabtaster war voll von Versen. »In Öl-verlaufenen Kreisen blinder Ekstase.« Schwer zu verstehen, bis die stotternden Laute sich in seiner Kehle plötzlich in Musik verwandelten. »Ein Mensch vernimmt sich selbst wie eine Maschine in einer Wolke!« sang er, von Geistern begleitet. »– Jene neuen Marathonstrecken zwischen den Sternen! ... Die Seele, durch Naphta beflügelt zu neuen Weiten, spürt schon die nahe Umarmung des Mars –« Es war ein Glück, stellte er fest, daß er den Autopiloten programmiert und seinen Raumanzug anbehalten hatte. Sein erster Eindruck von der Medobasis waren die großen braunen Augen eines Schimpansen, die ihn von unterhalb einer Operationslampe anstarrten. Er zuckte unwillkürlich weg und stellte fest, daß er entkleidet und auf einem Tisch festgebunden war. Das
seltsame Gefühl war der Luxus künstlich simulierter Schwerkraft. Der Schimpanse entpuppte sich als ein untersetzter kleiner Typ in weißer Arztkleidung, der ihn soeben seiner Fesseln entledigte. »Ich habe dir gesagt, daß es kein Phager ist.« Das war die Stimme der Frau. Während er sich aufraffte, entdeckte Gollem, daß sie kein Mädchen-Mädchen war und ihr Kinn sich dadurch auszeichnete, daß es kaum vorhanden war. Der Schimpanse stellte sich selbst als Chefarzt Dr. Kranz vor. »Was für eine Art von Schiff ist das?« fragte die Frau, während er in seinen Anzug kletterte. »Ein verlassenes Raumschiff«, erklärte er ihr. »Phagenläufer haben es benützt. Meine Partnerin hat etwas zuviel mitgekriegt. Alles was sie braucht, ist Luft.« »Die Energieeinheiten«, sagte Kranz. »Ich werde Ihnen helfen, sie herüberzubringen.« »Das brauchen Sie nicht – ich habe sie schon bereitgestellt. Geben Sie mir nur ein paar Stoffwechselzellen mit, damit ich anfangen kann, die Luft zu säubern.« Ohne Argwohn bedeutete Kranz der Frau, ihm den Weg zu ihren Lagern zu zeigen. Gollem sah, daß ihre Basis eine einzige große und billige Blase hinter einem schwerwandigen Kontrollmodul war. Die Blase war unter der Außenhaut nicht einmal fest versiegelt; ein paar Meteoritenteilchen schon würden ihr Ende bedeuten. In der Krankenabteilung lagen etwas über zwanzig Leute mit Verbrennungen, die in dichten Verbandkokonen steckten. Eine alte Raumratte, die nur noch einen Teil ihrer
ursprünglichen Gliedmaßen hatten, hinkte herbei, um zu öffnen. Gollem lud sich so viele Stoffwechsler auf, wie er nur tragen konnte, und wandte sich in Richtung Schleuse. Als er dort ankam, hielt die Frau seinen Arm fest. »Sie werden uns doch helfen?« Ihre Augen waren tiefgrün. Gollem konzentrierte sich auf ihr Kinn. »Bin gleich wieder zurück.« Er stieß sich ab. Ragnarok hing an einer Leine, die er nicht gesichert hatte, wie ihm jetzt einfiel. Er hangelte sich daran entlang und fand das Ende in den Schloßriegeln der Schleuse verwickelt. Wenn es nur einen leichten Stoß gegeben hätte – auf Nimmer-Wiederseh'n! Wie er hereinkam, hörte er Topangas Stimme. Er hastete den Schacht hinauf. Und wieder kam er zu spät. Während er in den Lagern gewesen war, hatte der gar nicht argwöhnische Chefarzt Kranz seinen Raumanzug angelegt und war zur Ragnarok übergewechselt. »Das hier ist eine sehr kranke Frau, Raumfahrer«, informierte er Gollem. »Die legale Besitzerin dieses verlassenen Schiffes, Doktor. Ich nehme sie mit zur Coronis-Zentrale.« »Ich werde sie sofort in meine Krankenstation aufnehmen. Wir haben die notwendigen Einrichtungen. Geben Sie mir die Energie-Einheiten.« Er konnte sehen, wie sich Topangas Augen zu schmalen Schlitzen verschlossen. »Sie will nicht in ein Hospital gebracht werden.« »Sie ist nicht in der Verfassung, das zu entscheiden«, schnappte Kranz. Das Stoffwechslerzeug war an Bord. Doktor
Schimpanse Kranz schien sich für eine Sternenschiffsreise ins Nirgendwo entschieden zu haben. Gollem begann vorsichtig in Richtung auf das Zündungspult zu schweben, neben Topangas Sicherheitsnetz. »Ich glaube, Sie haben vielleicht recht. Ich werde helfen, sie vorzubereiten, dann bringen wir sie in die Station.« Aber in Kranz kleiner Hand steckte ein kleiner Lähmstrahler. »Die Energie-Einheiten, Raumfahrer.« Er winkte Gollem in Richtung auf den Schacht. Da waren keine Energie-Einheiten. Gollem zog sich vorsichtig etwas zurück, wartete auf das Aufflammen des Lähmstrahlers, das nicht kam. Ihm blieb nur noch eine Chance, wenn man das überhaupt eine Chance nennen konnte. »Topanga, dieser freundliche Arzt wird dich mit in sein Hospital nehmen«, sagte er laut. »Er will dich dort haben, wo er gut für dich sorgen kann.« Eines von Topangas Augenlidern zuckte, schloß sich wieder. Eine alte, geschlagene Frau. Keine Chance. »Können Sie mit ihr fertigwerden, Doktor?« »Geben Sie mir endlich die Energie.« Kranz ließ die Sicherung zurückschnappen. Gollem nickte säuerlich und ließ sich abwärts treiben, so langsam er konnte. Kranz folgte in angemessener Entfernung, um ihn zu beobachten. Was jetzt? Von hier aus konnte Gollem die Zündungsstromkreise niemals erreichen, selbst wenn er gewußt hätte, wie man sie kurzschließen konnte. Es passierte gerade, als er sich umwandte, um etwas zu suchen, mit dem sich eine Energiezelle vortäuschen ließ.
Ein Geräusch wie von einer implodierenden Bioblase echote in dem Schacht. Chefarzt Kranz segelte abwärts, sich langsam überschlagend. »Braves Mädchen!« schrie Gollem. »Du hast ihn erwischt!« Er schlug den Paralysator aus Kranz erschlaffter Hand und wandte sich wieder nach aufwärts. Als er seinen Kopf aus dem Schacht steckte, sah er genau in die Mündung von Topangas Strahler. »Verschwinde aus meinem Schiff«, krächzte sie. »Du verlogene Kleiderlaus. Und nimm deinen vieräugigen, nadelschmatzenden Freund gleich mit!« »Topanga, ich bin's – Golly –« »Ich weiß, wer du bist«, sagte sie kalt. »Aber ich werde nicht in deine Falle gehen.« »Topanga!« schrie er. Ein Blitz fegte an seinem Ohr vorbei, warf ihn um. »Hinaus!« Sie neigte sich in den Schacht hinein und umklammerte fest den Strahler. Gollem bewegte sich langsam abwärts bis zu Kranz. Um die Hexengestalt über ihm trieben Biobänder und Bandagen, und das Haar, das früher rot geschienen hatte, stand jetzt hoch wie ein weißes Feuer. Sie atmet reines Phagen, überlegte er. Sie macht nicht mehr lange. Ich muß nur Zeit gewinnen. »Hinaus!« Sie schrie. Dann bemerkte er, daß sie Kranz Sauerstoffbehälter unter einen Arm geklemmt hatte. Dies schien ein Tag zu sein, an dem er alle Leute unterschätzte. »Topanga«, begann er zu betteln und mußte einem weiteren Blitz ausweichen. Sie konnte nicht ewig danebentreffen. Er entschied sich dafür, Kranz nach
draußen zu bringen und durch die Notschleuse in das Schiff zurückzukehren. Er erinnerte sich, im Schleusengestell der Medobasis ein Strahlenschweißgerät gesehen zu haben. Er stieß Kranz an der Leine entlang und in die Schleuse der Medobasis hinein. Die Frau wartete auf der anderen Seite der Schleuse. Als sie öffnete, beförderte er Kranz schwungvoll auf sie zu und schnappte nach dem Strahlenschweißer. Das kinnlose Wunder begriff schnell – sie warf sich auf das Schweißgerät und begann mit ihm zu ringen. Unter ihrer weißen Kleidung steckten feste Frauenmuskeln, aber er setzte seine Faust dahin, wo ihr Kiefer hätte sein sollen, und warf sich selbst in die Schleuse zurück. Als diese sich zu drehen begann, begriff er, daß sie vermutlich sein Leben gerettet hatte. Die äußere Schleuse hatte eine Sichtluke, durch die man Ragnaroks Antriebsdüsen sehen konnte. Das Sternenfeld hinter ihnen begann sich aufzulösen. Er gab einen undeutlichen Seufzer von sich und warf die Schleusenkurbel in die entgegengesetzte Richtung, um in die Medostation zurückzukehren. Sowie die Dichtungen anschlugen, raste er zurück und schleppte die beiden Mediziner mit aufs Deck. Die Sichtluke hinter ihnen leuchtete grell auf wie eine Sonneneruption. Sie alle starrten auf den schweigenden Strom von Flammen, der jetzt aus der Ragnarok floß. Dann bewegte sie sich, schneller, immer schneller. Der Antriebsstrahl drehte sich, und die Schleusenluke wurde dunkel. Ein Glück, daß es den schwerwandigen Teil der Anlage traf, überlegte Gollem. Er und Kranz und die
Frau sahen zu, wie die Ragnarok zu einem Feuer dahinschwand – sie wurde ein schwindender Feuerschweif zwischen den Sternen. »Topanga mag keine Krankenhäuser«, erklärte ihnen Gollem. »Die Energie-Einheiten!« schrie Kranz. »Rufen Sie sie zurück!« Sie stießen Gollem zur Sendeanlage. »Keine Chance. Sie hat eben das letzte bißchen Zündenergie verbraucht. Sie fliegt in der jetzigen Richtung weiter.« »Was meinen Sie damit? Auf Coronis zu?« »Niemals.« Er rieb seinen zotteligen Kopf. »Ich – ich kann mich nicht genau erinnern. Mars, vielleicht die Sonne –« »Und mit den Energie-Einheiten, die diese Leute hätten retten können.« Über Kranz Gesicht legte sich ein Ausdruck, der vermutlich einem Feueralarm gleichkam. »Das haben wir Ihnen zu verdanken. Ich schlage vor, Sie halten sich für den Rest unserer gemeinsamen Existenz außerhalb meiner Sichtweite.« »Es gab überhaupt keine Energie-Einheiten«, sagte Gollem, während er sich anschickte, nach draußen zu gehen. »Die Phager haben mein Boot erwischt, und Sie haben selbst gesehen, wie dieser Antrieb aussah. Eine solche Beschleunigung hätte Ihre Station auseinandergerissen.« Die Frau ging hinter ihm her. »Wer war sie, Raumfahrer?« »Topanga Orlov«, sagte Gollem schmerzvoll. »Val Orlovs Frau. Sie waren bei der ersten Saturnmission dabei. Das war ihr Schiff, Ragnarok, das in meinem Sektor verborgen war.«
»Sie wollten also nur Luft.« Gollem nickte. Sie standen neben dem Orterschirm der Basis. Der Computer überspielte eine Vorhersage-Skizze der sich nähernden Trojaden. Der grüne Leuchtpunkt war die Medobasis, und der rote Leuchtpunkt mit der verlängerten Kurslinie war der kleinere Felsen mit dem nachgezogenen Meteoritenschwanz. Er überprüfte die Vektoren. Kein Zweifel. Es war jetzt schon Dunkelperiode, die Schlafenszeit kam. Die Leute hier mochten noch frühstücken, zum Mittagessen aber würden sie nicht mehr kommen. Gegen mittag oder so ungefähr würde die Medobasis nur noch eine organische Anreicherung in einer Wolke von Raum-Eis sein. Und das stand auch Ex-Inspektor Gollem bevor. Die beiden Mediziner gingen zu den Stationen hinaus, und Kranz taute so weit auf, daß er Gollems Angebot annahm, die Sendeanlage zu bedienen. Der Raumfahrer wankte herein, um ihm zuzusehen. Der Anblick der startenden Ragnarok hatte wieder Leben in ihn gebracht. Gollem sprach einen Routine-Notruf auf Band und begann ihn quer über die Bänder zu jagen. Der alte Mann murmelte etwas von Schiffen. Niemand antwortete, niemand würde mehr antworten. Einmal dachte Gollem, daß er einen Laut von Topanga gehört hatte, aber es war nichts. Ein verrückter alter Phagengeist auf seiner letzten Reise. Wohin hatte er sie programmiert? Er glaubte sich an etwas im Zusammenhang mit dem Mars zu erinnern. Wenigstens würden sie nicht in der Sammlung eines reichen Trophäenjägers landen.
»Wissen Sie, was in den Verbänden steckt? Siedler!« Der alte Mann zeigte sich von seiner am meisten verkrüppelten Seite, um zu sehen, wie Gollem darauf reagierte. »Glatzköpfe. Spinner und Verrückte. Sogar Phager. Die Ärzte machen da keinen Unterschied.« Er seufzte und kratzte mit dem Armstumpf über seine verbrannte Haut. »Leute, die an festen Boden gewöhnt sind. Die werden's hier nicht lange aushalten.« »Genau«, stimme Gollem zu. »Auf keinen Fall länger als bis morgen.« Das traf den alten Mann. Gegen Mitternacht übernahm Kranz. Die Frau brachte ein heißes rotes Getränk herein. Gollem wollte schon ablehnen, bemerkte dann aber, daß sein Magen überhaupt nicht mehr schmerzte. Nichts mehr, das noch wirklich Ärger machen konnte. Er schlürfte das Stimulantium in sich hinein. Die Frau sah auf das Aufzeichnungsgerät. »Sie war wunderbar«, murmelte sie. »Hör auf damit, Anna«, schnappte Kranz. Sie beschäftigte sich weiter mit den Aufzeichnungen und hielt unvermittelt den Atem an. »Ihr Name. Sie heißen Gollem, nicht wahr?« Gollem nickte und stand auf, um auf den Schirm zu sehen. Die Frau, die Anna genannt wurde, folgte ihm und sah ebenfalls auf den Orterschirm. Der alte Raumfahrer war in einer Ecke eingeschlafen. »Topanga war einmal mit einem George Gollem verheiratet«, sagte Anna leise. »Sie hatten einen Sohn. Auf Luna.« Gollem nahm ihr den Schirmzeigestab aus der Hand und warf ihn in die Abfallöffnung. Sie sagte nichts mehr. Eine Zeitlang betrachteten sie beide den
Schirm. Gollem fiel auf, daß ihre Augen das fehlende Kinn fast vergessen ließen. Sie sah ihn nicht an. Der Schirm veränderte sich nicht. Gegen vier ging sie wieder hinein und löste Kranz ab. Die Männer setzten sich und warteten. »Hier Medobasis Themis, bitte melden. Medobasis Themis an alle«, flüsterte die Frau monoton. Kranz ging hinaus. Das Atemholen schien ihm bereits schwerzufallen. Vom nächsten Raum aus schnippte Kranz mit den Fingern. Gollem ging zu ihm hinüber. »Sehen Sie.« Sie beugten sich über den Schirm. Die rote Linie war jetzt näher an dem grünen Leuchtpunkt. Zwischen ihnen befand sich ein gelber Funke. »Was ist das?« Gollem zuckte die Achseln. »Ein Felsen.« »Unmöglich, wir haben die ganze Gegend mindestens ein dutzendmal mit den Ortungsgeräten abgesucht.« »Keine Masse.« Gollem runzelte die Stirn. »Dann ist es ein Geisterbild auf dem Schirm.« Kranz begann systematisch damit, die Computerdaten zu überprüfen. Die Frau ging vom Sender weg und kam, um sich über den Schirm zu beugen. Gollem sah abwesend zu, sein Gehirn suchte nach phagenverwundenen Erinnerungen. Irgend etwas mit dem Computer. Auf einen plötzlichen Impuls hin ging er zu der Anlage und drehte die Empfangsbänder bis zur äußersten Grenze durch. Alles, was er zu hören bekam, war ein Sturm von Geräuschfetzen und Pfeifen, die Störungsfront der sich nähernden Felsen.
»Was ist das?« Annas Augen leuchteten. »Nichts.« Kranz war mit seinen Überprüfungen fertig. Die gelbe Geistererscheinung trieb weiter auf die rote Linie zu. Wenn das ein Felsen gewesen wäre, und einer mit der hundertfachen Masse, die er haben konnte, dann hätte das vielleicht den Trojaden aus seiner Bahn ablenken können. Aber das geschah nicht. Und da war der Meteoritenschwarm. Gollem hantierte mechanisch an der Funkanlage. Der alte Raumfahrer schnarchte. Die Minuten erstarrten. Kranz schüttelte sich und nahm Anna mit, um in die Krankenabteilungen zu gehen. Als sie wieder zurückkamen, blieben sie vor dem Schirm stehen. Das Was-immer-es-war blieb und näherte sich weiter dem Trojaden. Irgendwann in diesen unwirklichen Dämmerstunden fing Gollem es aus einem Sturm von Raumgeräuschen heraus auf: »Ich habe Verbindung! Val! Ich komme –« Sie versammelten sich um ihn, als er wie rasend an den Drehknöpfen kurbelte, aber da war nichts mehr. In diesem Augenblick kam ein metallisches Schnappen aus dem nächsten Raum, und sie rannten alle zum Orterschirm. Er war tot und dunkel, der Computer hatte sich selbst gegen eine Induktionsüberladung geschützt. Sie erfuhren nie, was eigentlich genau passierte. »Es ist möglich«, gab Gollem zu. Es war lange nach Mittag, als sie sich endlich wieder zu essen entschieden. »Auf dem Weg hierher habe ich die Flugbahnen der Trojaden durchgerechnet, solange ich dazu noch in der Lage war. Kann sein, daß ich eine Überbrük-
kung zum Kurscomputer eingegeben habe, vielleicht war sie schon drin. Angenommen, sie ist gestartet, ohne einen neuen Kurs zu setzen. Diese alte Mechanik kann sich den Kurs selbst aus anderen Angaben berechnen. Möglich, daß das Schiff umkehrte und genau auf die Flugbahn dieses Felsen zuhielt.« »Aber Ihr Schiff hatte keine Masse«, wandte Kranz ein. »Dieses Ding war ein Kübel von Raumschiff, durch einen vorsintflutlichen Monsterantrieb bewegt. Die Reaktorschirme waren so viel wert wie Käse. Die Ragnarok kann glatt durch die Meteoritenwolke durchgebrochen – und explodiert sein, als sie auf den Trojaden traf. Und das hätte eine kleine Sonne gegeben.« In der nächsten Dunkelperiode beschäftigten sie sich weiter damit. Und später noch, als er und Anna durch die Sichtluken nach draußen sahen, ohne etwas besonderes zu suchen. Eine lange Zeit später zeigte er ihr ein paar Zeilen, die er geschrieben hatte, um sie an der Wand der Medobasis zu befestigen, die sie inzwischen zu einer freien Enklave im Raum erklärt hatten: Hinausgeschleudert in die abgründigen Tiefen des Raums Gegen endlose Ziele, Blumen des schneller werdenden Lichts Gewaltige Maschinen drehen sich mit engelgleicher Anmut Ihre laut singenden Zylinder entschwinden der Sicht Originaltitel: MOTHER IN THE SKY WITH DIAMONDS Copyright © 1971 by Universal Publishing and Distributing Corp.
Frederik Pohl DAS GOLD AM ENDE DES STERNENBOGENS CONSTITUTION EINS Bordbuch, geführt von Lt. Col. Sheffield N. Jackman, USAF, Kommandierender des U.S. Sternenschiffs Constitution. 40. Tag. Alles in Ordnung, Freunde. Vielen Dank auch für die persönlichen Botschaften, die über die Kontrollstelle kamen. Wir haben das Konzert, das ihr für uns ausgestrahlt habt, gut empfangen und das meiste davon aufgenommen, damit wir es wieder spielen können, wenn die Verbindung schlechter werden sollte. Unsere Expedition zum Planeten Aleph im System Alpha Centauri dauert jetzt bald volle sechs Wochen, und da wir nun über die Reichweite aller bisherigen bemannten Raumflüge hinaus sind, können wir mit Recht sagen, daß wir jetzt auf unserem Weg sind. Unsere letzte Navigationsüberprüfung hat die Schätzung der Kontrollstelle bestätigt. Die Plutoumlaufbahn werden wir voraussichtlich in etwa 1631 Stunden kreuzen – Expeditionszeit, vom 40. Tag aus gerechnet, also von heute. Letski hat sich um die genaue Berechnung der Zeitdilatation gekümmert, die jetzt bedeutsam wird, da wir mit etwa sechs Prozent unter Lichtgeschwindigkeit reisen. Er meint, daß die für die Kontrollstelle gültige Erdzeit dann Viertel vor zwei sein müßte. Wir haben uns dafür entschieden, diesen Zeitpunkt als eine Art Markierung zu setzen. Denn
damit werden wir das Sonnensystem hinter uns lassen und die ersten menschlichen Wesen sein, die in die Tiefen des interstellaren Raums vordringen. Wir haben vor, eine kleine Feier zu veranstalten. Letski und Ann Becklund haben eine amerikanische Flagge vorbereitet, die wir an genau diesem Punkt unserer Reise aus dem Schiff schleudern werden – durch die Rettungsschleuse 3, zusammen mit der Gedenktafel aus nichtrostendem Edelstahl, auf der die Rede des Präsidenten zu unserem Abflug aufgeprägt ist. Wir wollen außerdem noch ein paar private Gegenstände mit hinausschleudern, jeder einen. Ich werde meinen Klassenring von der Flugakademie dafür opfern. Wenig Veränderungen seit den früheren Berichten. Nichts Aufregendes, nur Routine und Langeweile. Wir haben die nach dem Start notwendigen Überprüfungen schon vor Wochen abgeschlossen, und wie Dr. Knefhausen vorhergesagt hat, wußten wir bald nicht mehr, was mir mit unserer Zeit anfangen sollten. Es gibt kaum etwas, was uns bis zu unserer Ankunft auf dem Planeten Alpha-Aleph beschäftigen könnte und für die Funktionen des Raumschiffes wirklich wichtig wäre. Daher begannen wir mit dem von Kneffie vorgeschlagenen Freizeitprogramm, wozu wir die von der NASA-Abteilung für Flugschulung und Mannschaftsführung vorbereiteten Arbeitspapiere benützten. Zunächst – und die Jungen in der Kontrollstelle werden das sicher verstehen – war eigentlich niemand so recht davon begeistert. Wir waren uns darüber einig, daß diese Geschichten mit dem Lernen der Zahlentheorie und den Übungen in Differential – und Integralrechnen, womit wir den Anfang machen sollten, einfach für die Katz waren.
So verzweifelt waren wir jedenfalls noch nicht, daß wir damit schon anfangen wollten, und verplemperten daher unsere Zeit mit allen möglichen anderen Dingen. Ann und Will Becklund spielten Schach. Dot Letski begann damit, »Krieg und Frieden« in Versform umzuschreiben. Wir anderen spielten mit den Gerätschaften herum, machten astronomische Beobachtungen und redeten viel. Aber all das wurde doch sehr schnell ermüdend, wie Kneffie schon während der Instruktionen vorhergesagt hatte. Wir sprachen dann über die Idee, daß die beste Möglichkeit, eine lange Zeit in einem Raumschiff zu verbringen, die Beschäftigung mit mathematischen Problemen war – einmal ist kein zusätzlicher Ballast zu transportieren, zum andern wird damit kein Wettbewerbsverhalten provoziert, was Streit und Unruhe in das Team bringen könnte. So verbringt nun Letski schon seinen zehnten Tag damit, eine Formel für Primzahlen zu suchen, und meine liebe Flo versucht gerade, Goldbachs Hypothese durch die Kongruenztheorie zu beweisen. (Jawohl, das ist das Mädchen, das noch vor zwei Monaten keine Wäscheliste zusammenzählen konnte!) Jedenfalls vergeht die Zeit damit. Was unsere körperliche Verfassung angeht, könnte es uns nicht besser gehen. Ich werde im folgenden die genauen Angaben über Blutdruck, Puls usw. durchgeben, zusammen mit dem Band, das Kontrollergebnisse des Antriebs- und des Navigationssystems enthält. Und zum vorgesehenen Zeitpunkt werde ich mich dann wieder melden. Paßt uns gut auf die Erde auf – bis wir sie in ein paar Jahren wiedersehen werden.
WASHINGTON EINS Es gab in dieser Woche eine leichte Beruhigung im städtischen Guerillakrieg in Washington. Der Helikopter konnte völlig unbehindert auf der südlich vor dem Weißen Haus gelegenen Rasenfläche niedergehen – kein Feuer von Heckenschützen, keine ferngesteuerten Projektile, nicht einmal Steine flogen. Dr. Dieter von Knefhausen beobachtete mißtrauisch eine Ansammlung von etwas erschöpft wirkenden Demonstranten, die sich auf den erlaubten knapp fünfzig Metern entlang der Abgrenzung aufhielten. Sie sahen nicht besonders militant aus, vermutlich Gay Lib. Vielleicht ging es auch um natürliche Lebensmittel oder weniger Steuern, wer konnte das schon wissen; auf jeden Fall kamen keine Steine aus ihrer Richtung, nur ein paar vereinzelte Zurufe, als der Hubschrauber aufsetzte. Knefhausen machte die Andeutung einer Verbeugung, grinste dabei verächtlich und sprang dann steif auf den Rasen hinab. Mit ein paar schnellen Schritten brachte er sich in einen sicheren Abstand von dem Helikopter, der sofort wieder abhob. Er rannte dann aber keineswegs zum Weißen Haus, sondern schlenderte gemächlich darauf zu. Im Gegensatz zum Piloten des Hubschraubers fürchtete er diese einfachen Leute nicht. Und schließlich war es ihm auch nicht besonders wichtig, seine Verabredung mit dem Präsidenten pünktlich einzuhalten. Der Mann, der ihn durchsuchte, sagte kein Wort und lächelte nicht. Der diensthabende Offizier, der ihn zur westlichen Terrasse führte, salutierte nicht. Niemand nahm ihm seinen Aktenkoffer ab obwohl er schwer war. Man merkte es gleich, wenn man wieder in dieser Hundehütte ist, überlegte er. Er zog unwill-
kürlich den Kopf ein, als ihn ein heftiger Windstoß erwischte; der Pilot des Helikopters drehte noch über dem Weißen Haus, um Höhe zu gewinnen, bevor er quer über die Stadt zurückflog. Früher war das ganz anders gewesen, erinnerte er sich mit leichtem Bedauern. Er konnte sich an jede einzelne Minute zurückerinnern. Genau hier war es gewesen, in dieser Säulenhalle, wo er vor Vertretern der Weltpresse und Photographen gestanden hatte, um sie über das Alpha-Aleph-Projekt zu unterrichten. Auf allen Titelseiten hatte er sein Bild neben dem des Präsidenten gesehen, hatte sich in den TVNachrichten beobachten können, wie er über die Neue Erde sprach, mit der Amerika einen ganzen kolonisierbaren Planeten erhielt – vier Lichtjahre entfernt. Er dachte an das Essen auf dem Kap zurück, mit eineinhalb Millionen Gästen aus aller Welt, an dem ausländische Staatsmänner und Wissenschaftler mit mehr Neid als Freude teilgenommen hatten, während führende amerikanische Politiker fröhlichen Stolz zur Schau getragen hatten. Damals hatten die Offiziere noch salutiert. Seine Vorlesungshonorare waren ihm längst schon unwichtig geworden, und es wurde sogar davon geredet, daß er bei der nächsten Wahl Vizepräsidentschaftskandidat werden könnte – und das hätte auch tatsächlich passieren können, wenn die Wahlen damals gerade vor der Tür gestanden hätten, und da nicht das Problem gewesen wäre, daß er in einem anderen Land geboren worden war. Jetzt war alles anders. Er wurde in einem Dienstaufzug nach oben gebracht. Dabei sorgte sich Knefhausen gar nicht so sehr um seine eigene Person, suggerierte er sich – aber wie war nach außen durch-
gedrungen, daß es Schwierigkeiten gab? Waren es nur die Zeitungsgeschichten? Gab es eine undichte Stelle? Der Marineoffizier klopfte gegen die große Tür des Kabinettsaals, und es wurde von innen geöffnet. Knefhausen trat ein. »Komm rein, Dieter, alter Junge!« Aber kein Vizepräsident sprang auf, um ihn am Arm zu nehmen und auf die Schulter zu klopfen. Die ganze Begrüßung bestand in dreißig schweigenden Gesichtern, die sich ihm zuwandten, einige reserviert, einige offen feindselig. Das gesamte Kabinett war anwesend, zusammen mit einem halben Dutzend Staatssekretären und den persönlichen Beratern des Präsidenten, und das feindseligste Gesicht rund um den großen ovalen Tisch war das des Präsidenten. Knefhausen verbeugte sich leicht. Eine alte Vorliebe für Gymnasiastenwitze ließ ihn daran denken, die Absätze zusammenzuschlagen und ein Monokel zurechtzurücken, aber er hatte kein Monokel und pflegte Versuchungen dieser Art nicht nachzugeben. Er blieb nur am Fußende des Tisches stehen und sagte auf das Nicken des Präsidenten hin: »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich nehme an, daß Sie mich wegen dieser dummen Lügen sehen wollten, die die Russen über unser Alpha-AlephProgramm verbreiten.« Ein dumpfes Murmeln kam auf. »Sie glauben also, daß es nur Lügen sind?« erkundigte sich der Präsident in seiner schärfsten Tonart. »Lügen oder Irrtümer, Herr Präsident, was macht das für einen Unterschied? Wir haben recht und sie nicht, das ist alles.«
Gemurmel. Der Minister sah fragend zum Präsidenten, erhielt ein Nicken und sagte: »Dr. Knefhausen, ich habe lange mit Ihnen zusammengearbeitet und möchte Ihre Feststellung keineswegs bestreiten – aber sind Sie sich dessen wirklich so sicher? Uns liegen jedenfalls sehr überzeugende Zahlen vor, die von den Russen kommen.« »Sie sind falsch, Herr Minister.« »Nun ja, Dr. Knefhausen. Ich würde Ihnen ja gern glauben, aber andere vielleicht nicht. Keine Verrückten oder Unzufriedenen Dr. Knefhausen, sondern gute, anständige Leute. Können Sie ihnen irgendwelche Beweise geben?« »Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident?« Der Präsident nickte noch einmal. Knefhausen öffnete seinen Aktenkoffer und holte einen kleinen Stapel Dias heraus. Er gab sie einem Marinemajor, der den Präsidenten fragend ansah und dann tat, was Knefhausen von ihm wollte. Der Raum wurde abgedunkelt, die Brennweite des Projektors genau eingestellt und dann das erste Dia über Knefhausens Kopf hinweg an die Wand geworfen. Es zeigte eine lange Reihe von Yförmigen Metallpfosten, die sich in die Ferne einer schwach beleuchteten Staublandschaft verloren. »Dieses Bild zeigt unser Radioteleskop bei Farside, auf dem Mond«, erklärte er. »Es kann von der Erde aus nie gesehen werden, weil dieser Teil der Mondoberfläche immer von uns abgewandt ist, weshalb wir ihn als Standort für das Teleskop ausgewählt haben. Es gibt dort keinerlei elektrische Störungen. Die ganze Anlage besteht aus dreiunddreißig Millionen von einzelnen Dipolelementen, die mit der größt-
möglichen Genauigkeit ausgerichtet sind. Sie mißt etwa achtzehn Meilen im Durchmesser, aber durch die genaue Anordnung und Ausrichtung ihrer Teile entspricht ihre Leistung derjenigen eines Teleskops mit einem Durchmesser von gut sechsundzwanzig Meilen. Das nächste Bild, bitte.« Klick. Das Bild der riesigen Teleskopanlage wurde durch das Bild einer ähnlichen – aber sichtlichen kleineren und schäbigeren – Konstruktion ersetzt. »Dies ist die Anlage der Russen, meine Damen und Herren. Im Durchmesser ist sie schätzungsweise ein Viertel so groß wie unsere. Sie hat weniger als ein Zehntel Elemente, und unsere Berichte – sie sind geheim, aber ich nehme an, daß ihre Ergebnisse dieser Versammlung zugängig gemacht werden dürfen? Also – unsere Berichte besagen, daß ihre Ausrichtung ziemlich ungenau ist. Ziemlich schief, könnte man sogar sagen.« »In der Kapazität, Informationen zu sammeln, ist unsere Anlage ungefähr hundertfach überlegen. Licht an, bitte.« »Das bedeutet«, fuhr er ohne Unterbrechung fort, während er den Leuten rund um den Tisch gewinnend zuzulächeln versuchte, »wenn die Russen ›nein‹ und wir ›ja‹ sagen, man getrost auf das ›ja‹ setzen kann. Wir können unserem Teleskop vertrauen, dem russischen aber nicht.« Die Teilnehmer bewegten sich unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Sie brannten ebenso darauf, Knefhausen Glauben zu schenken, wie er sie überzeugen wollte; aber sie waren noch unsicher. Der Abgeordnete Belden, Vorsitzender des Haushalts- und Finanzausschusses, sprach für sie alle:
»Niemand hier bezweifelt die Qualität unserer Ausrüstung, zumal wir noch immer schwer an den Kosten tragen. Aber die Russen haben eine ganz einfache Erklärung abgegeben. Sie besagt, daß Alpha Centauri keinen Planeten haben kann, der größer ist als tausend Meilen im Durchmesser oder weniger als eine halbe Milliarde Meilen von dem Stern entfernt ist. Ich habe eine Abschrift der Tass-Bekanntgabe hier. Darin wird zugegeben, daß ihre Teleskopanlage weniger leistungsfähig ist als unsere, aber diese Erklärung, die von zweiundzwanzig Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, besagt, daß ihre Anlage kein Objekt ab einer bestimmten Größe und bis zu einer bestimmten Entfernung von der Sonne, wie bereits erwähnt, verfehlen könnte – oder jeden anderen Körper jedwelcher Art, der groß genug wäre, um unseren Astronauten eine Landemöglichkeit zu bieten. Ist Ihnen diese Erklärung bekannt?« »Natürlich, ich habe davon gelesen –« »Dann wissen Sie also, daß damit ausdrücklich behauptet wird, daß der Planet Alpha-Aleph, wie Sie ihn nennen, nicht existiert.« »Jawohl, Sir, das wird damit behauptet.« »Außerdem gibt es Erklärungen vom Pariser Observatorium, vom Astrophysikalischen Zentrum der UNESCO in Triest und von der Königlichen Astronomisten Gesellschaft in England, die alle besagen, daß diese Berechnungen überprüft und bestätigt wurden.« Knefhausen nickte lächelnd. »Das ist richtig, Abgeordneter Belden. Damit wird bestätigt, daß, sofern die Beobachtungen zutreffen, die von den Sowjets in Novy Brezhnevgrad in der Farside-Region daraus gezo-
genen Schlußfolgerungen ebenfalls richtig sein müssen. Ich stelle die Berechnungen nicht in Frage. Ich sage lediglich, daß die Beobachtungen mit einer ungeeigneten Ausrüstung gemacht wurden, und die sowjetischen Astronomen daher zu einer falschen Schlußfolgerung gekommen sind.« Bevor der Kongreßabgeordnete erneut zu Wort kommen konnte, fuhr er rasch fort: »Aber ich möchte Ihre Geduld nicht mit einer unbewiesenen Behauptung strapazieren, und deshalb werde ich Ihnen alles sagen, was es zu sagen gibt. Was die Russen behaupten, ist nur Theorie. Was ich dagegensetzen kann, ist nicht nur die bessere Theorie, sondern entspricht auch den objektiven Tatsachen. Ich weiß, daß Alpha-Aleph existiert, weil ich es gesehen habe. Licht aus, Major! Und das nächste Dia, bitte.« Die Leinwand erhellte sich und zeigte ein blendendes Weiß mit ein paar schwarzen Punkten versetzt, wie Staubpartikel. Ein größerer Punkt stand genau im Mittelpunkt der Leinwand und ein Dutzend kleinere darum herum. Knefhausen nahm einen Lichtzeigestab und wies mit dem Lichtkegel auf den großen Punkt. »Das ist ein Negativ der richtigen Aufnahme«, erklärte er, »daher ist hier schwarz, was tatsächlich weiß ist, und umgekehrt. Es handelt sich um astronomische Objekte. Sie wurden von unserem Briareus XII-Satelliten nahe der Jupiterumlaufbahn aufgenommen, als er sich vor vierzehn Monaten auf dem Weg zum Neptun befand. Das Objekt im Mittelpunkt ist die Sonne Alpha Centauri. Die Aufnahme wurde mit einem Spezial-Instrument gemacht, das den größten Teil der Lichtstrahlen dieses Sterns heraus-
filtert; einem elektronischen Gerät ähnlich dem Koronaskop, das benützt wird, um Oberflächenaufnahmen unserer eigenen Sonne zu machen. Wir hofften, daß wir auf diese Weise den Planeten Alpha-Aleph fotografieren könnten. Das ist uns gelungen, wie Sie sehen können.« Der Lichtkegel des Zeigestabs traf einen kleinen Punkt nahe der Sonne Alpha Centauri. »Das, meine Damen und Herren, ist Alpha-Aleph. Der Planet befindet sich genau da, wo er sich nach den Daten des Radioteleskops befinden mußte.« Am Tisch wurde geflüstert, was jetzt in der Dunkelheit lauter zu vernehmen war. Der Minister rief erregt: »Herr Präsident! Können wir diese Aufnahme nicht freigeben?« »Sie wird sofort nach dieser Sitzung freigegeben«, sagte der Präsident. Geflüster. Dann der Ausschußvorsitzende: »Herr Präsident, wenn Sie sagen, das ist unser Planet, dann weiß ich, daß es stimmt. Aber es mag Leute geben, die sich wundern werden, weil ein Punkt wie der andere aussieht. Es würde mich daher als Nicht-Fachmann interessieren, wie man feststellen kann, daß das AlphaAleph ist.« »Dia Nummer vier, bitte – und behalten Sie Nummer drei noch im Projektor.« Das gleiche Bild, nur geringfügig verändert. »Beachten Sie bitte, meine Herren, daß sich dieses eine Objekt – hier – in einer anderen Position befindet. Es hat sich bewegt. Sie wissen, daß Sterne keine sichtbare Bewegung zeigen. Es hat sich bewegt, weil diese Aufnahme acht Monate später gemacht wurde, als Briareus XII von seiner Neptunumrundung zurückkam – und Alpha-Aleph inzwi-
schen seiner planetaren Umlaufbahn um seine Sonne gefolgt ist. Das ist keine These, sondern ein klarer Beweis, und ich füge hinzu, daß die Originalfilme dieser Dias in Goldstone aufbewahrt sind, damit Zweifel an ihrer Echtheit nicht erst aufkommen können.« Das Gemurmel hob wieder an, lauter und erregter als zuvor. Im sicheren Wissen, gesiegt zu haben, kam Knefhausen auf seinen Punkt zurück. »Major, wenn Sie jetzt bitte zu Dia drei zurückgehen wollen, ja – und gehen Sie nun zwischen dem dritten und vierten Dia hin und her, so schnell Sie nur können – danke.« Der kleine schwarze Fleck, der Alpha-Aleph genannt wurde, tanzte wie ein Tennisball hin und her, während sich alle anderen Punkte nicht bewegten. »Was Sie jetzt sehen, ist das Weiß-Vergleichs-Verfahren. Ich möchte noch dazu sagen, wenn das kein Planet ist, was Sie hier beobachten können, Herr Präsident, dann ist es der merkwürdigste Stern, den Sie je gesehen haben. Außerdem befindet er sich in genau der Entfernung und an dem Punkt seiner Umlaufbahn, wie wir es schon vorher aufgrund der Daten des Radioteleskops bestimmt hatten. Gibt es noch weitere Fragen?« »Nein, Sir!« – »Großartig, Kneffie!« – »Ich glaube, damit ist alles klar.« – »Das wird's den Commies zeigen!« Die Stimme des Präsidenten übertönte sie alle. »Ich glaube, wir können das Licht wieder anmachen, Major Merton«, sagte er. »Dr. Knefhausen, ich danke Ihnen. Bleiben Sie bitte noch ein paar Minuten in der Nähe, damit wir anschließend noch zusammen den Text unserer Presseverlautbarung zur Freigabe
dieser Bilder durchgehen können.« Er nickte seinem wissenschaftlichen Chefberater noch einmal kurz zu, und dann erinnerten ihn die strahlenden Gesichter der Kabinettsmitglieder daran, ein zufriedenes und zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. CONSTITUTION ZWEI Sheffield Jackmans Logbuch. Sternenschiff Constitution. 95. Tag. Nach Letski bewegen wir uns jetzt ungefähr fünfzehn Prozent unterhalb der Lichtgeschwindigkeit, das macht fast 30000 Meilen pro Sekunde. Der Fusionsantrieb läuft problemlos; wie vorhergesagt, folgen die Explosionen so schnell aufeinander, daß wir sie nur als Vibration wahrnehmen können. Die Meßkurven für Treibstoff, Energie und die Lebenserhaltungssysteme halten sich dicht an der obersten Grenze. Wir haben keinerlei Probleme, weder mit dem Schiff, noch mit irgend etwas anderem. Die Relativitätseffekte zeigen sich wie erwartet. Jim Barstows Spektraluntersuchungen lassen erkennen, wie sich die Sterne vor uns zum blauen Ende hin verschieben, während die Sonne und die anderen Sterne hinter uns zum Rot tendieren. Ohne das Spektroskop ist allerdings nicht viel zu sehen. Nur, daß Beta Circini vielleicht ein bißchen komisch aussieht. Unsere Sonne ist noch immer sehr hell – Jim trug sie vor ein paar Stunden mit sechs Helligkeitsstufen weniger ein, und da ich sie noch nie in dieser Weise gesehen habe, könnte ich jetzt nicht sagen, ob sie von leuchtender Farbe ist oder nicht. Sie ist sicher nicht von jenem Goldgelb, mit dem ich den Typ GO assoziiere, aber Alpha Centauri vor uns ist es genausowenig, und ich
kann wirklich keinen Unterschied zwischen den beiden Sternen erkennen. Ich vermute, daß das einfach daran liegt, daß sie so hell sind und der Farbeindruck dadurch in den Hintergrund tritt; aber wie ich schon sagte, das Spektroskop zeigt die Unterschiede. Wir haben schon alle einmal nach rückwärts gesehen, was wohl nur zu verständlich ist. Wir können die Erde noch immer erkennen und mit dem Teleskop sogar den Mond, obwohl es etwas gewagt ist. Ski hätte gestern fast sein Augenlicht durch einen direkten Einfall der Sonnenstrahlung verloren, weil Erde und Sonne nur noch etwa zwölf Bogensekunden auseinander sind. In ein paar Tagen werden sie zu dicht beieinander sein, als daß man sie noch voneinander unterscheiden könnte. Mal sehen, was sonst noch so los ist. Wir haben viel Spaß mit dem mathematischen Freizeitprogramm. Ann ist in die binäre Arithmetik eingetaucht wie eine Ente ins Wasser. Sie ist mit etwas beschäftigt, was ich als eine Art von statistischen Experimenten ansehe – keiner kümmert sich nicht allzusehr darum, was die anderen machen, solange sie nicht selber darüber reden wollen – und dazu wollte sie von uns doch tatsächlich Münzen zum Hochwerfen haben. Nun ja, wir hatten natürlich kein Geld mitgenommen; wozu auch? Es stellte sich aber schließlich doch heraus, daß zwei von uns Münzen hatten. Ski gab ihr einen russischen Silberrubel, den der Onkel seiner Mutter ihm sozusagen als Glückstaler mitgegeben hatte, und ich fand eine alte Fahrtmarke der Verkehrsbetriebe von Philadelphia in meiner Tasche. Ann lehnte meine Fahrtmarke ab, weil sie zu leicht sei, aber sie verbringt jetzt schon viele Stun-
den damit, den Rubel hochzuwerfen und festzustellen, wie er fällt. Die Ergebnisse schreibt sie als sechsstellige Binärzahlen auf, 1 für Kopf und 0 für Wappen. Nach gut einer Woche war meine Neugierde so weit gestiegen, daß ich vorsichtig herauszufinden versuchte, was sie da eigentlich macht. Aber wenn ich sie direkt danach frage, sagt sie Dinge wie zum Beispiel: »Durch das Mühelose und das Einfache vermögen wir die Gesetzmäßigkeiten der Welt zu begreifen.« Wenn ich ihr dann sage, das sei ja ganz nett, aber was wolle sie denn begreifen, indem sie Münzen in die Luft werfe, dann antwortet sie schlicht: »Die Gesetzmäßigkeiten der Welt zu erfassen, bedeutet eine Vervollkommnung des eigenen Wesens.« Wie ich schon sagte, wir fragen nicht zu aufdringlich danach, was die anderen machen, und damit will ich es belassen. Aber es vertreibt die Zeit. Kneffie würde bestimmt stolz sein, wenn er sehen könnte, wie sehr uns das Freizeitprogramm beschäftigt. Zwar hat noch keiner von uns Fermats letzten Satz oder so etwas beweisen können, aber genau darum geht es ja nicht. Wenn wir die Probleme lösen könnten, dann hätten wir keine mehr – und was würden wir dann tun? Es läuft also alles genau so, wie es vorgesehen war. Das Programm hilft uns, geistig beweglich zu bleiben während dieser langen und wahrhaftig langweiligen Schiffsreise. Wie wir so miteinander zurechtkommen? Bestens, Freunde, bestens. Viel besser jedenfalls, als wir zu hoffen gewagt hatten, damals, während der psychologischen Vorbereitungen in der Kontrollstelle. Die Mädchen nehmen jeden Tag ihre gestreiften Pillen, bis drei Tage vor dem Beginn der Periode, dann
nehmen sie vier Tage lang die grünen und vier Tage überhaupt keine, und dann wieder zurück zu den Streifen. Wir haben zuerst unsere Witze darüber gemacht, aber inzwischen ist es zu einer Gewohnheit wie Zähneputzen geworden. Wir Männer nehmen jeden Tag unsere roten Pillen – Ski nennt sie »Stoplichter« – bis die Mädchen uns sagen, daß sie soweit sind (ihr wißt schon, was ich meine, was jede Frau ihrem Mann sagt), und dann nehmen wir die Blauen Teufel, wie wir das Gegenmittel nennen, und haben eine höllisch heiße Zeit, bis die Mädchen wieder mit ihren Streifen anfangen. Anfangs hat keiner von uns geglaubt, daß das funktionieren könnte. Aber es könnte gar nicht besser klappen. Ich denke überhaupt nicht mal an Sex, bis Flo mich hinterm Ohr küßt und mir sagt, daß sie bald, entschuldigt den Ausdruck, ganz heiß werden wird, und dann geht's los. So geht es uns allen. Den Hinterraum mit den beiden großen Schlafkojen nennen wir Honeymoon-Hotel. Er kann von jedem jederzeit benützt werden, aber noch nie sind beide Kojen gleichzeitig benützt worden. Ansonsten schlafen wir, wo immer es am bequemsten ist, und niemand kümmert sich weiter darum. Entschuldigt, daß ich so persönlich werde, aber ihr habt mir gesagt, daß ihr alles wissen wollt, und sonst gibt es nicht viel zu sagen. Die Anlagen unseres Schiffs funktionieren noch immer optimal. Wir überprüfen sie dann und wann, aber bis jetzt haben wir keinerlei Ärger gehabt, und es sieht auch nicht so aus, als ob wir noch welchen bekommen würden. Und draußen gibt es nichts weiter zu sehen als Sterne, und daran haben wir uns längst sattgesehen. Den Antrieb hören wir jetzt nicht einmal mehr.
An das Recycling-System haben wir uns inzwischen gewöhnt. Niemand von uns hat gedacht, daß wir mit den Saugtoiletten zurechtkommen würden, ganz davon zu schweigen, was mit deren Inhalt passiert, aber es war eigentlich nur in den ersten paar Tagen etwas ärgerlich. Jetzt denken wir uns nichts mehr dabei. Das behandelte Zeug kommt in die Algentanks. Der Matsch aus den Algentanks kommt in die hydroponischen Bassins, aber das ist dann natürlich nur noch ein grünlich-braunes Gemüse. Das geht ohnehin alles halbautomatisch vor sich, so daß wir erst in der Küche wieder mit dem System in Berührung kommen. Unsere Lebensmittel erscheinen hier in Gestalt schöner roter Tomaten, nahrhaften Reiskörnern und dergleichen Sachen. (Tierisches Eiweiß vermissen wir etwas; die Tiefgefriervorräte müssen lange reichen, so daß jeder Hamburger ein besonderes Festmahl ist das wir nur einmal in der Woche oder so einlegen können.) Unser Trinkwasser kommt tatsächlich aus der Luft; wird durch die Entfeuchter kondensiert und in unseren Reservevorrat abgeleitet, aus dem wir wieder unser Wasser beziehen. Es ist mit etwas Kohlensäure versetzt, gekühlt und schmeckt einwandfrei. Wir wissen natürlich, daß es zunächst in die Luft kommt, indem wir es ausschwitzen oder die Pflanzen von ihrer Feuchtigkeit abgeben, die wiederum mit der behandelten Flüssigkeit der Wiedergewinnungstanks bewässert werden – wir können uns daher ausrechnen, daß jedes Molekül unseres Trinkwassers mittlerweile gut vierzigmal unsere Nieren passiert hat. Aber es kommt nicht unmittelbar zurück, und das ist der entscheidende Punkt. Was wir trinken, ist klar und frisch
wie ein Tautropfen. Und daß es einmal etwas anderes gewesen ist, kann man das nicht auch vom Erie-See sagen? Ich glaube, das reicht für heute. Ihr habt sicher schon gespannt, was ich mit all dem sagen wollte: Wir sind glücklich und zufrieden hier draußen, und wir danken allen, die uns diese vergnügliche Kreuzfahrt ermöglicht haben! WASHINGTON ZWEI Während er auf seine Verabredung mit dem Präsidenten wartete, las Dr. Knefhausen noch einmal das Communiqué vom Raumschiff und lachte leise in sich hinein. »... sind glücklich und zufrieden hier draußen ...« – »... nennen wir Honeymoon-Hotel ...« – »Kneffie würde bestimmt stolz auf sich sein ...« Das war er tatsächlich. Und stolz auf sie, diese kleinen Genies da draußen! Sie hielten sich so tapfer, sie waren so stark. Er legte so viel Stolz in sie hinein, als wären alle acht seine eigenen Söhne und Töchter. Jedermann wußte, daß das Alpha-Aleph-Projekt Knefhausens Kind war, aber was er bisher vor aller Welt zu verbergen verstanden hatte, war der Umstand, daß seine väterlichen Gefühle auch die Mannschaft umfaßten. Sie waren die Elite der Welt, und er hatte sie dahin gebracht, wo sie jetzt waren. Er hob den Kopf etwas an und horchte auf den fernen Singsang von jenseits des Zauns, wo der heutige aufrührerische Mob sein bestes tat, die Leute zu belästigen, die sich um das Wohl und Wehe der Welt kümmerten. Was für widerliche Holzköpfe das da draußen waren, mit ihren langen Haaren und ihrer schmutzigen Moral. Der
Himmel stand nur den Engeln zu, und es war Dieter von Knefhausen gewesen, der die Engel ausgewählt hatte. Er hatte selbst die Auswahlvorschriften ausgearbeitet – und wenn dazu auch einiges gehörte, was besser unerwähnt blieb, so war das nur geschehen, damit auch tatsächlich die bestmögliche Auswahl zustandekam. Das sehr wichtige Freizeitprogramm stammte ebenfalls von ihm und vor allem natürlich das ganze Projekt, und er war es, der den Präsidenten dazu überredete, es zu verwirklichen. Die Technik war nicht das Problem gewesen, sondern das Geld. Die wissenschaftlichen Grundlagen waren bekannt, die Materialien vorhanden gewesen; man brauchte nur alles zusammenzusetzen. Der Wille dazu wäre nie aufgekommen, wenn nicht Knefhausen von seinem Radioteleskop auf der Mondrückseite aus die Entdeckung von Alpha-Aleph – er hatte ihm diesen Namen gegeben, obwohl er, wie alle Welt wußte, jeden beliebigen Namen hätte wählen können, sogar seinen eigenen – bekanntgegeben und dann den Kampf um das Projekt mit jedem Mittel weitergeführt hätte, bis es der Präsident schließlich akzeptierte. Es war ein harter, bitterer Kampf gewesen. Mit neuerwachter Entschlossenheit dachte er daran, daß das schlimmste noch vor ihm lag. Egal. Was immer es kostete, es war nicht mehr rückgängig zu machen, und es war jeden Preis wert. Die Berichte von der Constitution bewiesen das. Alles lief genau so, wie es geplant war, und – »Entschuldigen Sie bitte, Dr. Knefhausen.« Er sah hoch, kehrte augenblicklich aus einem halben Lichtjahr Entfernung in die Wirklichkeit der Erde zurück.
»Ich sagte, daß der Präsident Sie jetzt sehen will, Dr. Knefhausen«, wiederholte der Türposten. »Ach ja«, sagte Knefhausen. »Jaja, ich ... war gerade tief in Gedanken.« »Jawohl, Sir. Bitte hier entlang, Sir.« Sie kamen an einem Fenster vorbei und erhielten einen kurzen Eindruck von dem Aufruhr vor den Toren: Plakate, die wie Streitäxte benützt wurden, eine dünne blaue Wolke von Tränengas, und gedämpft waren auch Schüsse zu vernehmen. »König Mob ist mal wieder unterwegs«, sagte Knefhausen abwesend. »Es besteht keine Gefahr, Sir. Hier hindurch, bitte.« Der Präsident war in seinem privaten Arbeitszimmer, aber zu Knefhausens Überraschung war er nicht allein. Da war Murray Amos, sein persönlicher Sekretär, was man noch verstehen konnte; aber außer ihm waren noch drei Männer im Raum. Knefhausen erkannte den Minister, den Pressesprecher des Weißen Hauses und – warum ausgerechnet er? – den Vizepräsidenten. Wie merkwürdig, überlegte Knefhausen, wo es doch nur eine vertrauliche Unterredung mit dem Präsidenten sein sollte! Aber er faßte sich schnell wieder. »Entschuldigen Sie, Herr Präsident«, sagte er vorsichtig, »ich muß wohl falsch verstanden haben. Ich dachte, Sie hätten schon Zeit für mich.« »Ich habe, Knefhausen«, sagte der Präsident. Seine Jahre im Weißen Haus lasteten heute schwer auf ihm, stellte Knefhausen fest. Er wirkte sehr alt und sehr müde. »Sie werden diesen Herren hier jetzt sagen, was Sie mir sagen wollten.« »Ach so, ich verstehe«, sagte Knefhausen und bemühte sich, seine Verwirrung zu verbergen. Der Prä-
sident konnte bestimmt nicht gemeint haben, was seine Worte zu besagen schienen, also mußte er erst herausfinden, was er tatsächlich wollte. »Ja, natürlich. Hier Herr Präsident. Ein neuer Bericht von der Constitution! Er wurde durch Blitzübertragung vom Mondumlaufsatelliten vor gerade einer Stunde in Goldstone empfangen und soeben entschlüsselt. Ich werde ihn sogleich vorlesen. Unsere tapferen Astronauten kommen bestens voran, alles läuft genau nach Plan. Sie –« »Lesen Sie das jetzt noch nicht vor«, sagte der Präsident schroff. »Wir werden den Bericht anhören, aber da ist erst noch etwas anderes. Ich wünsche, daß Sie dieser Versammlung die ganze Geschichte des Alpha-Aleph-Projektes erzählen.« »Die ganze Geschichte, Herr Präsident?« Knefhausen spielte das Spiel weiter. »Ich verstehe. Sie wollen, daß ich ganz am Anfang beginne, wie wir damals im Observatorium erkannten, daß wir einen Planeten lokalisiert hatten –« »Nein, Knefhausen. Nicht die offizielle Geschichte. Die Wahrheit!« »Herr Präsident!« rief Knefhausen, fassungslos vor Entsetzen. »Ich muß Ihnen sagen, ich protestiere gegen diese vorzeitige Enthüllung von lebenswichtigen –« »Die Wahrheit, Knefhausen!« schrie der Präsident. Es war das erste Mal, daß er in Knefhausens Anwesenheit seine Stimme erhob. »Ich werde diesen Raum nicht verlassen, bevor Sie ihnen nicht alles gesagt haben. Sagen Sie ihnen, warum die Russen recht hatten und wir gelogen haben! Sagen Sie ihnen, warum wir die Astronauten auf eine Selbstmordreise schickten
und ihnen den Auftrag zur Landung auf einem Planeten gaben, von dem wir wußten, daß er gar nicht existiert!« CONSTITUTION DREI Shef Jackmans Tagebuch, 130. Tag. Es ist schon wieder lange her, was? Tut mir leid, daß ich ein so unzuverlässiger Korrespondent bin. Ich war mitten in einer Dreizehner-Spielserie Schach mit Eve Barstow – sie machte die Bobby Fischer-Spiele und ich spielte im Stil von Reshevsky –, als Eve etwas sagte, was mich an den guten alten Kneffie denken ließ, und das erinnerte mich natürlich daran, daß ich euch noch einen Bericht schulde. Hier ist er. Zu meiner eigenen Entschuldigung kann ich freilich vorbringen, daß wir mit anderen Dingen sehr fleißig waren. Wir brauchen ziemlich viel Energie für unsere geschwätzigen Sendungen an euch. Ein paar von uns meinen auch, daß sie es gar nicht wert sind. Je weiter wir uns entfernen, desto mehr Energie müssen wir für eine Übertragung verbrauchen. Im Augenblick ist es noch gar nicht so schlecht, aber, nun ja, ich werde euch besser gleich die Wahrheit sagen. Wie wir das Kneffie versprochen haben. Sagt immer die Wahrheit, hatte er uns eingeschärft, denn es gehört mit zum Experiment, daß wir immer ganz genau Bescheid wissen, was an Bord geschieht. Und die Wahrheit ist in diesem Fall, daß wir nicht mehr viel an verfügbarer Energie übrig haben, weil Jim Barstow eine ganze Menge für seine Forschungszwecke verbraucht hat. Sicher werdet Ihr wissen wollen, was das für Forschungen sind – aber wir haben abgemacht, daß wir nichts bereden oder kritisieren, solange der-
jenige, der an der Sache arbeitet, nicht bereit dazu ist. Jim hüllt sich noch immer in Schweigen. Ich übernehme die Verantwortung für alles, nicht nur für den Energieverlust. Ich habe Jim gesagt, daß er weitermachen kann. Wir sind jetzt ziemlich schnell, und wegen der Blau- und Rotverschiebung sind die Sterne mit dem bloßen Auge kaum noch auszumachen. Es ist vielleicht merkwürdig, daß wir Alpha-Aleph noch immer nicht haben entdecken können, selbst dann nicht, wenn er vor der Sonne seines Systems hätte stehen müssen. Durch die stärker werdende Blauverschiebung werden wir ihn daher wohl erst dann zu Gesicht bekommen können, wenn wir wieder verlangsamen. Seine Sonne können wir noch sehen, aber was wir jetzt beobachten, dürfte die Erde nur noch in Form von ultravioletter Strahlung erreichen. Die relativistischen Frequenzverschiebungen bedeuten natürlich auch, daß wir zum Ausgleich mehr Energie für unsere Sendungen aufwenden müssen; und das ist ein weiterer Grund, warum ich in Zukunft wohl nicht mehr jeden Sonntag zwischen Frühstück und Baseball-Spiel einen Bericht absenden werde, wie ich das eigentlich sollte! Die Expedition verläuft bestens. Das »menschliche Zusammenleben« könnte nicht besser sein. Wir haben inzwischen einiges an experimentellen Forschungen unternommen, was nicht auf dem Programm war, aber das ist in Ordnung. Keine Probleme, alles ist bestens gelaufen. Ich lasse jetzt vielleicht ein paar Einzelheiten aus, aber wir haben da einfach phantastische Möglichkeiten gefunden. Ach was, ich gebe euch doch einen Hinweis: Dot Letski meint, daß ich euch
Leuten in der Kontrollstelle empfehlen soll, zwei der gestreiften Pillen und eine von den »Blauen Teufeln« zu zerdrücken und sie mit einem Viertel Teelöffel schwarzem Pfeffer und etwa 2 Kubikzentimetern der Aromaflüssigkeit aus der Trinkwasserwiedergewinnung zu mischen. Man nehme das mit OrangenSorbet zusammen ein und – Mensch, Junge! Nachdem wir es das erste Mal probiert hatten, meinte Flo, daß es »befruchtend« wirke, was sich vielleicht erst wie ein kleiner Scherz anhört, aber es trifft die Sache genau. Dot hatte es schon vor Wochen herausgefunden. Wir wunderten uns, warum sie mit »Krieg und Frieden« so schnell vorankam, bis sie uns in ihr Geheimnis einweihte. Dann entdeckten wir rasch seine Auswirkungen auf das Gefühl ebenso wie auf den Verstand: es macht unglaublich kreativ, indem es einen voll aufdreht. Ann und Jerry Letski haben ihre Freizeitprogramme, die für die ganze Reise gedacht waren, schon sehr früh zu Ende gebracht – viel zu früh! Sie tauschten dann Mikrofilmkarten aus, weil sie beide an einem besonderen Aspekt der Kausalität interessiert waren und sehen wollten, was jeder bekam. Inzwischen ist Ann tief in Leute wie Kant und Carnap versunken, während Ski darüber aufgebracht ist, daß es im hydroponischen Garten keine Achilea millefolium gibt. Er braucht ihre Stiele für seine Experimente, sagt er. Mittlerweile beschäftigt er sich damit, seinen Rubel hochzuwerfen und aus den Ergebnissen Hexagramme zu entwickeln; und wir alle leihen uns sein silbernes Stück dann und wann aus. Aber die Pflanzen fehlen ihm trotzdem. Um ehrlich zu sein, ich bin der Meinung, daß man sich auch etwas um unsere Be-
dürfnisse hätte kümmern können, die über Sex und Zahlentheorie hinausgehen. Wir könnten nicht einmal mit Kotelettknochen aus den Küchenabfällen vorliebnehmen, weil es gar keine Abfälle gibt. Zugegeben, ihr Leute von der Kontrollstelle habt auch nicht an alles denken können, aber – jedenfalls improvisieren wir halt, so gut wir können, und meistens gut genug. Und was sonst noch? Habe ich euch schon Jim Barstows Beweis von Goldbachs Theorie gesandt? Es hat sich als sehr einfach erwiesen, nachdem er erst einmal auf eine Methode zur Analyse vielfältiger Gleichheiten gekommen war. Inzwischen beschäftigen wir uns allerdings mit dieser Art von Sachen kaum mehr. Wir haben allmählich genug von der Zahlentheorie, nachdem wir die interessantesten Probleme längst gelöst haben, und es gibt nur noch eine Sache, an der wir alle – abgesehen von unseren privaten Aktivitäten – arbeiten. Es ist der Versuch, eine Art mathematische Formulierung der Sprache zu finden. Wir arbeiten nicht systematisch daran, sondern nur, soweit unsere anderen Interessen uns Zeit dazu lassen. Aber wir sind ziemlich sicher, daß wir eine universelle Grammatik entwickeln können, und es liegt auf der Hand, welche Möglichkeiten das eröffnet. Flo hat bis jetzt am meisten erreicht. Sie ging davon aus, daß Boole, Venn und all diese alten Leute auf einer ganz falschen Spur waren, während an Leibniz' Vorstellung vom »Calculus ratiocinator« eher etwas daran sein könnte. Es gibt da auch einen Vorschlag von J. W. Swanson, den sie zur Vervielfältigung sprachlicher Bedeutungen anwenden möchte. (An diesem Punkt setzte auch Jim mit seiner Gleichheiten-
Analyse an.) Die Idee ist, eine Sprache mit doppelten Vokabular zu entwickeln. Ein Satz von Bedeutungen ist zum Beispiel in Phonemen enthalten, wird also durch die Form der Worte selbst ausgedrückt. Ein weiterer Satz von Bedeutungen könnte in der Betonung enthalten sein. Eine Aussage wäre also singend mitzuteilen, zur Hälfte durch die Wörter, zur anderen Hälfte durch die Melodie – wie in der Rock-Musik. Man könnte beide Sätze von Bedeutungen auf dritte, vierte und n-te Ebenen bringen und damit zahlreiche Arten von Bedeutungen auf einmal verschlüsseln – aber unsere Versuche in dieser Richtung sind noch nicht besonders fruchtbar, es sei denn, wir benützen Sex als eines der Kommunikationsmittel. Die meisten Sinneswahrnehmungen sind einfach zu begrenzt, um allzuviel durch sie vermitteln zu können. Übrigens haben wir alle bestehenden »künstlichen Sprachen« untersucht, so gut wir konnten. Wir haben zum Beispiel Will Becklund durch hypnotische Regression dazu gebracht, sich an das Esperanto zu erinnern, das er als Kind gelernt hatte. Aber das war eine Sackgasse. Diese Sprachen enthalten nicht einmal so viel an Bedeutungen wie zum Beispiel Englisch oder Französisch. Die medizinischen Daten folgen. Wir sind alle gesund. Eve Barstow hat uns untersucht, um sicher zu gehen. Ann und Ski hatten kleine Zahnlöcher, die Eve mit Füllungen versah, aber weniger weil es nötig war, sondern mehr der Übung wegen. Ich meine nicht die Übung mit Zahnfüllungen; vielmehr wollte sie es mit Akupunktur anstelle von Prokain versuchen. Es funktionierte bestens. Wir haben alle das Gefühl, als würden wir aus ei-
nem Jugendlager an die Eltern schreiben, und wir würden gern ein paar Beispiele unseres Fleißes mitschicken. Die Schwierigkeit ist nur, wir haben so viel. Jeder hat etwas anderes, das ihm persönlich am Herzen liegt, wie zum Beispiel Barstows Beweise zu den meisten klassischen Mathematikproblemen oder meine multimediale Adaption von »Sur le pont d'Avignon.« Es ist schwer zu entscheiden, was wir euch senden sollen mit der nur begrenzt verfügbaren Energie, und wir wollen sie nicht mit wertlosem Gerümpel verschwenden. Wir haben daher abgestimmt und entschieden, daß wir am besten Anns »Krieg und Frieden«-Wiedergabe in Versform senden. Sie ist ziemlich lang. Ich hoffe, die Energie reicht. Ich werde so viel übermitteln, wie ich kann ... WASHINGTON DREI Der Frühling war in Washington eingekehrt. Entlang des Potomac begannen die Kirschbäume zu blühen, und der Rock-Creek-Park trug das helle Grün junger Blätter. Selbst durch den Lärm des Hubschrauberrotors hindurch konnte Knefhausen die gelegentlichen Schüsse aus Handfeuerwaffen von der Gegend um Georgetown her hören, und beim »Water Gate«-Apartmentblock drüben am Flußrand stiegen Flammen und Rauch in den Himmel – MolotovCocktails und Tränengas. Sie hören überhaupt nie damit auf, dachte Knefhausen irritiert. Weshalb sollte man auch nur versuchen, solche Leute zu retten? Das war noch eine Ablenkung, und dabei war seine Aufmerksamkeit ohnehin schon auf drei verschiedene Bereiche verteilt – die narbenübersäte, grünende Landschaft unter ihm; die eskortierenden Kampfhub-
schrauber, die seinen Helikopter begleiteten; und die Papiere, die er vor sich hielt. Alles ärgerte ihn in gleicher Weise, und er vermochte seine Gedanken überhaupt nicht mehr zu konzentrieren. Was ihn aber am meisten aufbrachte, war der Bericht von der Constitution. Er hatte sich von Experten helfen lassen müssen, um die Bedeutung der Sendung zu enträtseln, und es gefiel ihm nicht, was dabei herausgekommen war. Da war etwas falsch gelaufen, aber was? Sie waren wie seine Kinder, er hatte sie selber ausgesucht. Es hatte nie einen Hinweis dafür gegeben, daß sie irgendwie »hip« waren, jedenfalls nicht nach dem Alter von zwanzig. Wie waren sie nur auf den »I Ching«Blödsinn gekommen und auf diese unsinnige Geschichte mit der »Achilea millefolium«, gemeinhin auch als Schafgarbe bekannt? Was für »Experimente« waren das? Wer hatte diese entsetzlich unwissenschaftliche Akupunktur-Sache aufgebracht? Wie konnten sie es wagen, die genau eingeteilten Energievorräte für ihre Forschungszwecke abzuzweigen, und was waren das überhaupt für Zwecke? Brachten sie damit nicht das Schiff und die Expedition in Gefahr? Er kritzelte auf einen Zettel: Hört sofort auf mit all diesem Unfug. Ich habe den Eindruck, daß ihr euch wie unverantwortliche Kinder verhaltet. Ihr habt die Zielsetzungen unseres Programms fallenlassen. Knefhausen Nachdem er die kurze Strecke vom Helikopterlandeplatz in den Schutz des bewachten Eingangs des
Weißen Hauses gelaufen war, gab er das Papier einem Amtsdiener des Nachrichtenzentrums zur sofortigen Kodierung und Übermittlung zur Constitution über Goldstone, den Mondsatelliten und die Farside-Basis. Sie brauchten lediglich eine Erinnerung, versuchte er sich selbst einzureden, dann würde die Sache schon wieder in Ordnung kommen. Er war noch immer in Gedanken versunken, während er in einen Spiegel äugte, sein Haar glattstrich, seinen Schnurrbart mit einer Fingerspitze glättete und schließlich dem Chefsekretär des Präsidenten gegenübertrat. Diesmal ging es nicht nach oben, sondern abwärts. Knefhausen wurde in den Kellerraum gebracht, der bisher nacheinander Franklin Roosevelts SwimmingPool, die Pressekantine des Weißen Hauses und ein Fernsehstudio (zur Aufnahme von netten kleinen Zweieraufnahmen des Präsidenten mit Kongreßabgeordneten und Senatoren, damit sie ihren Leuten zu Hause was zeigen konnten) beherbergt hatte und jetzt in einen schwer gepanzerten Bunker umgerüstet worden war, in dem jeder, der im Falle eines erfolgreichen Angriffs von der Stadt außerhalb im Weißen Haus gefangen war, es für einige Wochen aushalten konnte, und bis dahin konnte die 4. Division von ihrer Basis in Maryland aus den Boden mit Sicherheit wiedergewinnen. Abgesehen davon, daß man gegen Angriffe geschützt war, war man hier so abhörsicher wie in keinem anderen Raum der Welt, die unterirdischen Räume des Kreml oder die NOROM-Basis in Colorado nicht ausgenommen. Knefhausen wurde hereingelassen und setzte sich, während der Präsident und ein paar andere sich am
einen Ende des Raums flüsternd unterhielten; die übrigen Dutzend Anwesenden wandten sich mit starren Gesichtern Knefhausen zu. Einen Augenblick später hob der Präsident seinen Kopf. »In Ordnung«, sagte er und trank einen Schluck Wasser. Er wirkte abgekämpft, zermürbt und enttäuscht darüber, wie sich sein Jugendtraum entwikkelt hatte: die Präsidentschaft war nicht so, wie sie von Muncie in Indiana aus ausgesehen hatte. »Wir alle wissen, warum wir hier sind. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat Informationen herausgegeben, die falsch waren. Wir haben das wissentlich getan und sind dabei der Lüge überführt worden. Wir wollen, daß Sie den Hintergrund der Affäre erfahren, und daher wird Ihnen jetzt Dr. Knefhausen das Alpha-Aleph-Projekt erklären. Fangen Sie an, Knefhausen.« Knefhausen stand auf und ging ohne besondere Eile auf das kleine Pult zu, das für ihn in der Nähe des Präsidenten aufgebaut worden war. Er legte seine Papiere zurecht, ging sie einen Augenblick lang gedankenverloren durch und begann: »Wie der Präsident eben schon angedeutet hat, diente das Alpha-Aleph-Projekt der Tarnung. Einige von ihnen wußten schon vor Monaten etwas mehr darüber und benannten es mit Worten wie ›Täuschung‹ oder ›Schwindel‹. Aber keines davon trifft zu, sondern es handelt sich um eine, wenn ich das einmal auf Französisch sagen darf, ruse de guerre. Nicht ein guerre gegen unsere politischen Feinde oder gar gegen diesen blöden Jungen draußen in den Straßen mit ihren Molotov-Cocktails und Steinen. Ich meine nicht diese Kriege, sondern den Krieg gegen
Ignoranz und Unwissenheit. Wir mußten gewisse Dinge in Erfahrung bringen, um der Wissenschaft und des Fortschritts willen. Alpha-Aleph sollte uns dabei helfen. Ich werde Ihnen das Schlimmste zuerst berichten«, sagte er. »Ad eins, es gibt keinen Planeten AlphaAleph. Die Russen hatten recht. Zweitens, wir wußten das die ganze Zeit. Auch die Fotografien waren Fälschungen, und in Kürze wird auch der Rest der Welt das herausfinden und unsere ruse de guerre durchschauen. Ich kann nur hoffen, daß das nicht allzu bald sein wird. Denn wenn wir Glück haben und das Geheimnis noch eine Weile halten können, dann werden wir in der Zwischenzeit vielleicht in der Lage sein, gute Resultate vorzuweisen und unser Vorgehen damit zu rechtfertigen. Drittens, wenn die Constitution Alpha Centauri erreicht, wird es für sie keinen Landeplatz geben. Die Besatzung wird ihr Schiff nicht verlassen können und auch keine Rohstoffquellen haben, aus denen sie Treibstoff für die Rückkehr herstellen könnte. Sie werden nichts als Sterne und leeren Raum vorfinden. Aus dieser Tatsache ergeben sich bestimmte Konsequenzen. Die Treibstoffkapazität der Constitution ist nur für den Hinflug ausreichend. Die zusätzliche Reserve für Flug- und Landemanöver reicht bei weitem nicht für einen Rückflug. Die Quelle, aus der neuer Treibstoff gewonnen werden sollte, nämlich der Planet AlphaAleph, existiert nicht, und daher werden die Besatzungsmitglieder nicht mehr zurückkehren können. Folglich werden sie dort draußen sterben müssen. Das sind die bedauerlichen Tatsachen, die ich zunächst zugeben muß.«
Die Zuhörer atmeten schwer und setzten zu einem unterdrückten Murmeln an. Der Präsident wirkte abwesend und wie in sich selbst versunken. Knefhausen wartete geduldig, bis seine bittere Medizin geschluckt war, und fuhr dann fort: »Sie werden sich nun fragen, warum haben wir diese Sache dann überhaupt begonnen? Warum haben wir acht junge Menschen in den sicheren Tod geschickt? Die Antwort ist einfach: Wissen. Um es in anderen Worten zu sagen, wir brauchen das grundlegende Forschungswissen, um die freie Welt zu beschützen. Ihnen allen ist sicherlich die Tatsache bekannt, daß in diesen letzten zehn Jahren nur noch wenig an grundlegenden wissenschaftlichen Fortschritten gemacht wurde. Wir haben zwar sehr viel an Technologie und an praktischen Anwendungen hinzugewonnen, aber nur wenig neue Grundlagen in den Jahren seit Einstein – oder besser seit Weizsäcker. Aber ohne ein neues Grundlagenwissen wird die neue Technologie bald nicht mehr weiterzuentwikkeln sein. Der Dampf, der bisher alles angetrieben hat, wird ausgehen. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Es ist eine wahre und wissenschaftliche Geschichte, nicht etwa ein Witz; ich weiß nur zu gut, daß Sie jetzt keine Witze von mir hören wollen. Da war ein Mann namens de Bono, ein Malteser, der den Prozeß des kreativen Denkens erforschen wollte. Es ist nicht viel bekannt über diesen Vorgang, aber er hatte eine Idee, wie er mehr darüber herausfinden könnte. So bereitete er ein Experiment in einem völlig leeren Raum vor, der zwei gegenüberliegende Türen hatte. Man konnte durch die eine Tür hinein, quer durch den
Raum gehen und durch die andere Tür wieder hinaus. Am Eingang legte er zwei flache Bretter und einige Seile bereit. Seine Versuchspersonen waren Kinder, und er sagte zu ihnen: ›Wir wollen ein Spiel machen. Ihr müßt durch diesen Raum hindurch und zur anderen Tür wieder hinaus, das ist alles. Wenn ihr das macht, habt ihr gewonnen. Aber ihr müßt dabei eine Regel beachten. Ihr dürft den Boden nicht berühren – weder mit den Füßen noch mit den Knien oder jedem anderen Teil eures Körpers oder eurer Kleidung. Wir hatten hier zum Beispiel einmal einen Jungen, der sehr stark war und auf seinen Händen hindurchging. Wir mußten ihn disqualifizieren, weil das nicht gilt. Ihr könnt jetzt anfangen, und wer es am schnellsten schafft, bekommt eine Tafel Schokolade.‹ Er brachte die Kinder weg und ließ es dann eines nach dem anderen allein versuchen. Es waren zehn oder fünfzehn, und alle taten das gleiche. Einige brauchten länger, um es herauszufinden, während andere sofort darauf kamen, aber es war immer dasselbe: Sie banden ein Brett an jeden Fuß und gingen wie auf Skiern durch den Raum. Der schnellste erkannte den Trick sofort und war in wenigen Sekunden durch. Der langsamste brauchte eine ganze Anzahl von Minuten. Aber sie machten es alle mit dem gleichen Trick, und das war der erste Teil des Experiments. Nun ging dieser Malteser, de Bono, daran, den zweiten Teil auszuführen. Es war fast wie beim ersten Mal, nur mit einem Unterschied. Er gab ihnen nicht zwei Bretter. Er gab ihnen nur ein Brett. Und auch im zweiten Teil kam jedes der Kinder auf den gleichen Trick, der diesmal natürlich ein anderer
war. Sie banden das Seil an das Ende des einzelnen Brettes, stellten sich darauf und sprangen hoch, während sie mit dem Seil das Brett vorwärts zogen. Durch Springen und Ziehen bewegten sie sich so Stück um Stück vorwärts und erreichten alle ihr Ziel. Aber im ersten Experiment hatten sie durchschnittlich etwa fünfundvierzig Sekunden gebraucht, um den Raum zu durchqueren. Im zweiten dagegen brauchten sie nur noch etwa zwanzig Sekunden im Schnitt. Mit einem Brett kamen sie schneller ans Ziel als mit zwei Brettern. Das ist der entscheidende Punkt, auf den ich hinaus will. Warum kam keines der Kinder aus der ersten Versuchsgruppe auf diese schnellere Methode, durch den Raum zu kommen? Das ist einfach zu erklären. Sie sahen sich an, was ihnen gegeben wurde, und wollten – wie jeder von uns – alle Hilfsmittel benützen. Dabei brauchten sie gar nicht alle. Mit weniger konnten sie mehr erreichen, nur eben auf eine andere Weise.« Knefhausen machte eine kleine Pause und sah sich, den Augenblick genießend, im Raum um. Er hatte sie schon gewonnen, das wußte er. Es war genauso, wie es vor drei Jahren mit dem Präsidenten selbst gewesen war. Seine Zuhörer begannen die Notwendigkeit dessen, was getan worden war, einzusehen. Die blassen, aufgerichteten Gesichter wirkten nicht mehr feindselig, sondern überrascht und etwas unsicher. Er fuhr fort: »Genau das ist es, worum es beim Projekt AlphaAleph geht, meine Damen und Herren. Wir haben acht der intelligentesten menschlichen Wesen ausgesucht, die wir finden konnten, gesund, jung und sehr
abenteuerlustig. Sehr kreativ. Wir haben eine üble List gegen sie ausgespielt, zugegeben. Aber wir haben ihnen eine Gelegenheit gegeben, die niemand vor ihnen gehabt hat. Die Gelegenheit, zu denken. Und zehn Jahre lang zu denken. Nachzudenken über grundlegende Fragen. Dort draußen haben sie nicht das zusätzliche Brett, das sie ablenken könnte. Wenn sie etwas wissen wollen, können sie nicht in die Bibliothek laufen und nachschlagen, nur um herauszufinden, daß längst schon jemand das, was sie sich eben ausgedacht haben, für undurchführbar erklärt hat. Sie müssen alles für sich selbst ausdenken. Um das möglich zu machen, haben wir sie schwer getäuscht, und es wird sie ihr Leben kosten. Zugegeben, das ist tragisch, ja. Aber indem wir ihnen ihr Leben nehmen, geben wir ihnen zugleich Unsterblichkeit dafür. Wie wir das erreicht haben? Wiederum mit List, meine Damen und Herren. Ich gehe nicht hin und sage ihnen: ›Paßt auf, ihr müßt jetzt neue wissenschaftliche Grundlagen erarbeiten und sie uns mitteilen.‹ Ich täusche sie über die Absicht hinweg, damit sie nicht einmal davon abgelenkt werden können. Wir haben ihnen gesagt, daß es sich um ein Freizeitprogramm handelt, das ihnen helfen soll, die Zeit zu vertreiben. Das ist auch eine ruse de guerre. Diese ›Freizeiterholung‹ soll ihnen nicht helfen, die Reise durchzustehen, sondern ist der ganze Zweck der Reise. Daher fangen wir mit den grundlegenden Werkzeugen der Wissenschaft an. Mit Zahlen: das heißt, mit Größen und Mengenangaben, mit allem, worauf wissenschaftliche Beobachtungen begründet sind. Mit
Grammatik – aber nicht derjenigen, die Sie gelernt haben, als Sie dreizehn Jahre alt waren. Es ist ein technischer Fachausdruck; es bedeutet eine mathematische Formulierung der Sprache und die grundlegenden Regeln der Kommunikation. Soll heißen, damit können sie lernen zu denken, indem sie sich voll und ohne verschwommene Vieldeutigkeit mitteilen. Wir geben ihnen nur wenig mehr, nur die Gelegenheit, diese beiden Grundbestandteile in Zusammenhang zu bringen und daraus neue Formen des Wissens zu entwickeln. Was wird dabei herauskommen? Das ist eine berechtigte Frage. Unglücklicherweise gibt es darauf keine Antwort – noch nicht. Wenn wir die Antwort schon vorher gewußt hätten, wäre dieses Experiment überflüssig gewesen. So wissen wir also nicht, wie das Endergebnis aussehen wird, aber sie haben schon sehr viel erreicht. Alte Fragen, die die besten der Wissenschaftler in Jahrhunderten verblüfft haben, wurden von ihnen bereits gelöst. Ich werde ein Beispiel nennen. Sie werden fragen, ja, aber was bedeutet das? Ich kann darauf nur antworten, ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß es eine so schwere Frage ist, daß sie noch niemand hat beantworten können. Es handelt sich um den Beweis einer Sache, die das Goldbachsche Theorem genannt wird. Bisher war es nur eine Vermutung, eine Annahme. Eine Vermutung, die ein bedeutender Mathematiker vor vielen, vielen Jahren aufgestellt hat, derzufolge jede gerade Zahl als die Summe zweier Primzahlen geschrieben werden kann. Das ist eines jener einfachen Probleme in der Mathematik, die jeder verstehen und niemand lösen kann. Sie können sagen: ›Sicher, sechzehn ist die Summe
von elf und fünf, die beiden Primzahlen sind, und dreißig ist die Summe von dreiundzwanzig und sieben, ebenfalls Primzahlen, und ich kann für jede beliebige gerade Zahl, die man mir gibt, die beiden Primzahlen angeben.‹ Ja, das stimmt; aber können Sie beweisen, daß das für jede gerade Zahl immer möglich ist? Nein. Das können Sie nicht. Das konnte bisher niemand, aber unsere Freunde in der Constitution haben es getan, und das schon innerhalb der ersten paar Monate. Sie haben noch fast zehn Jahre vor sich. Ich kann nicht sagen, was sie in dieser Zeit vollbringen werden, aber es wäre beschränkt anzunehmen, daß es weniger als sehr viel sein wird. Eine neue Relativität, ein neues universelles Gravitationsgesetz – ich weiß es nicht, ich sage nur Worte. Aber es wird viel sein.« Er machte eine erneute Pause. Niemand gab einen Laut von sich. Selbst der Präsident sah nicht mehr ausdruckslos vor sich hin, sondern hatte sich ihm zugewandt. »Es wäre noch immer möglich, daß das Experiment gestört wird, und daher müssen wir das Geheimnis noch eine Zeitlang für uns behalten. Damit haben Sie, meine Damen und Herren, die Wahrheit über AlphaAleph erfahren.« Er fürchtete sich etwas vor dem, was jetzt kommen mußte, zögerte es einen Augenblick hinaus, indem er seine Papiere durchging, sah dann zu den Zuhörern hin und sagte: »Sind noch irgendwelche Fragen offen?« O ja, es gab offene Fragen. Die Zuhörer waren zwar einigermaßen überrascht und brauchten einen Augenblick, um den Zauber der einfachen und schönen Wahrheiten zu überwinden, die sie vernommen hatten. Aber dann sprang einer auf, dann noch einer,
und dann riefen zwei oder drei auf einmal. Natürlich hatten sie zahllose Fragen. Fragen, die ohne Antwort bleiben mußten. Fragen, die er kaum hören und längst nicht beantworten konnte, bevor ihm schon die nächste Frage aufgedrängt wurde. Fragen, auf die er keine Antwort wußte. Und am schlimmsten waren die Fragen, deren Antworten wirkten, wie wenn man Pfeffer in die Augen gestreut bekommt, in Wut versetzten und den Verstand lähmten. Aber er mußte sich ihnen stellen, und er versuchte sie zu beantworten. Selbst wenn so laut geschrien wurde, daß sich die Marinewachen außerhalb der dicken Doppeltüren unsicher ansahen und darüber staunten, daß dumpfe Geräusche trotz der starken Schalldämpfung nach außen drangen. »Ich möchte wissen, wer Sie zu dieser Sache angestiftet hat!« »Niemand, Herr Vorsitzender; es war alles, wie ich es gesagt habe.« »Aber sehen Sie doch, Knefhausen, wollen Sie wirklich sagen, daß Sie diese Leute umbringen um der Theorie eines Goldbach willen?« »Nein, Herr Senator, nicht wegen Goldbach, sondern weil große Fortschritte in der Wissenschaft wichtig sind, um die Freiheit der freien Welt zu bewahren.« »Sie geben also zu, daß Sie die Vereinigten Staaten in einen offensichtlichen Betrug hineingezogen haben?« »Es war eine legitime Kriegslist, weil es keine andere Möglichkeit gab, Herr Minister.« »Die Fotografien, Knefhausen?« »Gefälscht, Herr General, wie ich schon gesagt habe. Ich übernehme die volle Verantwortung dafür.«
Und so ging es weiter, die Worte »Mord« und »Betrug« und sogar »Verrat« folgten immer schneller aufeinander. Endlich stand der Präsident auf und hob seine Hand. Es dauerte noch eine ziemliche Zeit, aber schließlich trat wieder Ruhe ein. »Ob wir das mögen oder nicht, wir stecken in dieser Sache drin«, sagte er einfach. »Es gibt nichts weiter zu sagen. Sie sind zu mir gekommen, viele von Ihnen, weil Sie Gerüchte hörten und die Wahrheit wissen wollten. Jetzt haben Sie die Wahrheit, und sie ist streng geheim und darf nicht weitergegeben werden. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß ich persönlich vorschlage, daß jeder mögliche Geheimnisverrat in dieser Sache mit allen der Regierung zur Verfügung stehenden Mitteln untersucht und mit der vollen Strafe des Gesetzes geahndet wird. Ich erkläre dies zu einer Angelegenheit von nationaler Dringlichkeit und erinnere Sie daran, daß die Bestrafung bis zur Todesstrafe gehen kann, sofern sie angemessen erscheint, und in diesem Fall halte ich sie für angemessen.« Er sah sehr viel älter aus, als er tatsächlich war, und er bewegte seine Lippen so, als ob er einen schlechten Geschmack im Mund hätte. Er ließ keine weitere Diskussion zu und entließ die Versammlung. Eine halbe Stunde später trafen sich in seinem Privatbüro nur Knefhausen und der Präsident. »In Ordnung«, sagte der Präsident, »es ist alles angekommen. Aber als nächstes wird es die ganze Welt wissen wollen. Ich kann das für ein paar Wochen oder vielleicht sogar für ein paar Monate hinauszögern, aber ich kann es nicht verhindern.« »Ich bin Ihnen dankbar, Herr Präsident, daß –«
»Halten Sie den Mund, Knefhausen. Ich will keine Reden mehr hören. Es gibt nur eine Sache, die ich von Ihnen hören will, und das ist eine Erklärung. Was, zum Teufel, geht da mit Drogen und freier Liebe und so weiter vor sich?« »Ach so«, sagte Knefhausen, »Sie beziehen sich auf die letzte Botschaft von der Constitution. Ja. Ich habe deswegen schon eine hart formulierte Anweisung durchgeben lassen, Herr Präsident. Wegen der zunehmenden Entfernung wird sie erst in einigen Monaten empfangen werden, aber ich versichere Ihnen, daß die Sache damit in Ordnung gebracht wird.« »Ich möchte auch keine Versicherungen«, sagte der Präsident, »die mir nichts nützen. Verfolgen Sie das Fernsehprogramm? Ich meine nicht Familienserien oder Fußball, ich meine Nachrichten. Wissen Sie, in welchem Zustand sich dieses Land befindet? Die Demonstrationen 1932, die Rassenunruhen von 1967 – das war nichts dagegen. Die Zeit, in der wir mit Hilfe der Nationalgarde jede Unruhe niederschlagen konnten, ist längst vorbei. Letzte Woche mußte die Armee gegen drei Einheiten der Garde kämpfen. Noch ein Skandal, und wir sind fertig, Knefhausen, und das wird ein ganz großer.« »Die Absichten sind über jeden Zweifel erhaben –« »Ihre vielleicht. Meine vielleicht auch, jedenfalls versuche ich mir einzureden, daß ich das um der Wissenschaft willen getan habe und nicht nur, weil ich in künftigen Geschichtsbüchern als der Präsident genannt werden will, der der Nation zu einem entscheidenden Durchbruch verholfen hat. Aber was sind die Absichten Ihrer Freunde in der Constitution? Ich habe mich mit acht Märtyrern einverstanden er-
klärt, Knefhausen. Ich war aber nicht damit einverstanden, daß vierzig Milliarden Dollar aus den Taschen der Nation dafür ausgegeben werden, daß sich Ihre acht jungen Freunde zehn Jahre lang miteinander und mit Drogen vergnügen können!« »Herr Präsident, ich versichere Ihnen, daß das nur eine vorübergehende Phase ist. Ich habe sie angewiesen, das wieder in Ordnung zu bringen.« »Und wenn sie es nicht tun, was wollen Sie dann unternehmen?« Der Präsident, der sonst niemals rauchte, zog eine Zigarre aus ihrer Hülle, biß das Ende ab und zündete sie an. »Es ist zu spät«, setzte er fort, »um zu sagen, daß ich mich von Ihnen in diese Sache nicht hätte hineinreden lassen sollen. Ich kann daher nur noch sagen, daß Sie bald gute Ergebnisse aus dieser verkorksten Sache werden vorzeigen müssen, oder ich werde nicht mehr Präsident sein, und ich bezweifle, ob Sie dann noch am Leben sein werden.« CONSTITUTION VIER Hier ist wieder Shef, und wir haben jetzt, wartet mal, ich glaube so ungefähr 250 Tage. Oder schon 300? Nein, ich glaube nicht. Tut mir ja leid wegen dem Schiffsdatum, aber um ehrlich zu sein, ich denke kaum mehr in solchen Begriffen. Ich habe immer an andere Sachen gedacht. Außerdem bin ich heute nicht in der besten Stimmung. Wie ich den Rubel geworfen habe, stand im Hexagramm K'an, das bedeutet Gefahr, über Li, der Sonne. So was macht schlechte Stimmung, noch dazu, wenn ich den Bericht für euch verfassen soll. Wir sind ja nicht gerade Racheengel, aber es ist schon so, daß einige von uns ziemlich sau-
er wurden, als wir herausfanden was ihr getan habt. Ich glaube eigentlich nicht, daß ihr euch deswegen zu beunruhigen braucht, aber mir wäre lieber, das Hexagramm wäre besser ausgefallen. Ich fange erstmal mit den guten Nachrichten an. Unsere Geschwindigkeit hat 40c erreicht. Was wir sehen können, wird immer interessanter. Seit Wochen verschwinden die Sterne vor und hinter uns aus dem Bereich der Sichtbarkeit, die vorne lösen sich im Ultravioletten auf, die hinten versinken im Infrarot. Ihr werdet wohl annehmen, daß durch die Spektralverschiebung dafür die anderen Teile der EMF-Bänder in den Bereich des Sichtbaren kommen. Das tun sie vermutlich auch; aber die Sterne verblassen bei bestimmten Frequenzen, und offenbar meist bei den sichtbaren Frequenzen, so daß sie für uns wiederum nicht sichtbar sind. Zunächst entstand so eine Art von rundem schwarzem Punkt vor uns, innerhalb dessen wir nichts sehen konnten, weder Alpha Centauri noch Beta Centauri oder die hellen Circini-Sterne. Dann verloren wir die Sonne hinter uns, und nach und nach überdeckte das Schwarz einen wachsenden Kreis von Sternen. Beide Kreise dehnten sich immer schneller aus. Natürlich wissen wir, daß die Sterne nach wie vor existieren. Wir können sie mit unserer Phasenverschiebungs-Ausrüstung orten, ganz ähnlich, wie wir eure Botschaften durch Verschiebung der Frequenzen senden und empfangen können. Wir können sie nur nicht mehr sehen. Diejenigen in der direkten Fluglinie, wo wir eine Vektorengeschwindigkeit von 34c oder 37c haben – je nachdem, ob sie vor oder hinter uns stehen –, strahlen einfach nicht mehr in den
sichtbaren Bandbereichen. Die weiter seitlich stehenden sind durch die Relativitätseffekte unserer Geschwindigkeit unsichtbar geworden. Aber für uns sieht das eben aus, als ob wir aus einem Nichts in ein Nichts rasen würden, und das wirkt ehrlich etwas beängstigend. Selbst die ganz seitlich liegenden Sterne zeigen relativistische Farbverschiebungen. Es sieht fast wie ein Regenbogen aus, wie einer dieser kreisförmigen Regenbogen, die man manchmal vom Flugzeug aus auf den Wolken unter sich sehen kann. Nur zieht sich dieser Kreis ganz um uns herum. Nahe dem schwarzen Loch vor uns hat die Frequenzverschiebung eine matt-rote Farbe über die Sterne gelegt. Sie verändern sich durch Orange und Gelb und eine Art von Blattgrün bis zum letzten Bandbereich nahe dem schwarzen Loch hinter uns, der sich von einem hellen Blau zu Purpur verdunkelt. Jim Barstow hat seine Fernsicht an ihnen geübt, und er kann sie der tatsächlichen Sternenkarte zuordnen. Ich kann es nicht. Er sieht auch etwas in dem schwarzen Loch vor uns, was ich nicht sehen kann. Er sagt, daß er es für eine helle Strahlungsquelle hält, vermutlich Centaurus A, und er behauptet, daß es jetzt sehr stark im ganzen sichtbaren Band strahlt. Stark für ihn vielleicht, mit seinen Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt etwas sehen kann. Da ist vielleicht eine Art von sehr schwachem, diffusem Licht, wie ein Gegenschein, aber ich bin dessen nicht sicher. Und die anderen auch nicht. Aber der Sternenbogen selbst ist einfach schön. Er ist die Reise wert. Flo hat sich das Malen mit Öl beigebracht, damit sie ein Bild davon machen kann, um
es euch als Wandgemälde zu senden. Als sie aber herausfand, was ihr mit uns gemacht habt, wurde sie so aufgebracht, daß sie es mit einer versteckten Fusionsbombe oder etwas ähnlichem versehen wollte. (Aber sie ist inzwischen darüber hinweg. Glaube ich jedenfalls.) Wir sind also jetzt nicht mehr so wütend auf euch, obwohl da eine Zeit war, in der ich meine Botschaft an euch mit ganz anderen Worten abgefaßt hätte. Ich habe den bisherigen Text gerade noch einmal abgehört, und es hört sich ziemlich durcheinander und wirr an. Tut mir ja leid. Die Abfassung der Berichte fällt mir jetzt schwer. Ich meine das nicht im Sinne von intellektuell schwierig – wie das etwa Schachprobleme oder mathematische Berechnungen früher waren –, die Schwierigkeit ähnelt vielmehr dem Versuch, mit einem Teelöffel Sand zu schaufeln. Ich habe die anderen zu überreden versucht, daß diesmal einer von ihnen die Botschaft abfaßt, aber keiner wollte. Sie haben mir nur eine Menge guter Ratschläge gegeben. Dot meinte, ich sollte meine Zeit doch nicht mit der Erinnerung daran verschwenden, wie wir früher zu reden pflegten. Sie wollte einen eidetischen Bericht in einem vereinfachten Zeichensystem wiedergeben, von dem sie schätzte, daß ihr ihn mit allen denkbaren Aufwendungen in einer angemessenen Zeit, ein oder zwei Jahrzehnten vielleicht, entziffern könntet; und dieser Bericht hätte absolut alles enthalten, was wir euch mitzuteilen haben. Ich war aber wegen der praktischen Schwierigkeiten nicht damit einverstanden. Nicht wegen der Abfassung einer solchen Darstellung, das könnte jeder von uns. Ich vergesse absolut nichts mehr, ausgenommen
so unbedeutende Dinge wie die Standard-Zeit seit unserem Start, und das liegt nur daran, daß ich mich daran gar nicht mehr erinnern möchte; keinen von uns interessiert das mehr. Aber die Sendung wäre einfach zu lang geworden. Wir haben nicht mehr genug Energie, die nötigen Zahlengruppen zu übertragen, vor allem seit dem Unfall. Dot schlug vor, es zu gödelisieren. Ich sagte, daß ihr zu beschränkt seid, um es zu entgödelisieren. Sie meinte, daß es jedenfalls eine gute Übung für euch wäre. Damit hat sie recht, und es ist wirklich Zeit, daß ihr alle lernt, wie man auf eine vernünftige Weise miteinander kommuniziert. Wenn die Energie reicht, werde ich daher am Ende Dots eidetischen Bericht anhängen – in gödelisierter Form. Viel Glück. Würde mich ja wirklich nicht wundern, wenn ihr euch um eine Stelle täuscht und dann »Rebecca von der Sunnybrook-Farm« oder eine vergessene apokryphische Schrift dabei herauskommt, wahrscheinlich aber nur Kauderwelsch. Ski behauptet, daß es euch so oder so nichts nützen wird, weil Henle recht hatte. Ich gebe das ohne Kommentar weiter. Sex. Ihr wollt immer wissen, wie es mit Sex steht. Bestens. Da wir jetzt nicht mehr mit diesen Pillen herumzualbern brauchen, haben wir ein paar wunderschöne Zeiten verlebt. Flo und Jim Barstow haben angefangen, es zu einem Teil eines vielfältigen Kommunikationssystem zu machen, das ihr sehen müßtet, um es zu glauben. Wenn sie damit loslegen, setzen wir uns manchmal alle um sie herum und sehen ihnen zu, reißen Witze und singen und helfen ihnen mit zusätzlichen Berechnungen aus. Als wir letztens ein paar kleine Versuchsoperationen durchführten, ha-
ben es Ann und Ski anstelle von Narkose mit – Bumsen versucht, und sie sagten, daß es besser als Akupunktur gewesen sei. Es hat zwar nicht die Empfindungen aufgehoben. Sie spürten durchaus, wie ihre kleinen Zehen abgetrennt wurden, aber sie spürten es nicht als Schmerz. Als dann Jim an der Reihe war, versuchte er die Amputation ohne alles durchzustehen, nur in der Erwartung, daß er und Flo wenig später zusammen ins Bett gehen würden, und auch das tat seine Wirkung. Das hat ihn ganz aufgebracht; er behauptete, daß damit erstmals eine umgekehrte Kausalität bewiesen worden sei, die seine Theorien vorhergesagt hatten. Er meinte, daß er damit endlich über diese alte Geschichte »Ursache geht der Wirkung voraus« hinweg wäre. Es sei wie diese Sache mit der roten Königin und der weißen Königin und könnte einem ziemliche Rätsel aufgeben, bis man den Dreh einmal 'raus hat. (Ich glaube, ich habe diesen Dreh noch nicht 'raus.) Angenommen, er hätte nachher nicht mit Flo gebumst? Hätte er dann noch nachträglich Schmerzen empfinden müssen? Die Sache verwirrt mich etwas, und Dot meint, weil ich einfach die Phänomenologie im allgemeinen nicht verstehen würde. Ich werde wohl Anns Rat annehmen und mich durch Carnap durcharbeiten, obwohl es mir schwerfallen würde, noch etwas in der armseligen alten sprachlichen Form zu lesen. Apropos, das wird gar nicht nötig sein. Es ist schließlich alles in dem gödelisierten eidetischen Bericht enthalten. Also werde ich euch den Bericht übermitteln und ihn währenddessen noch einmal durchgehen, um mir über Kausalität und all das klar zu werden. Paßt mal auf, ich gebe euch noch einen Tip. Der Be-
richt wird auch Skis Entdeckung beinhalten, wie sich Plasma bis zu 500K für Millisekunden eindämmen läßt, und wenn ihr das herausbekommt, werdet ihr diese Kernfusionsreaktoren bauen können, von denen zu unserer Startzeit die Rede war. Das ist die Wurst vor eurer Nase, also fangt mal fleißig mit dem Entgödelisieren an. Der Trick mit dem Plasma funktioniert bestens, obwohl wir ja erst Pech hatten, als wir den Rube-Goldberg-Antrieb durch einen schönen, ständigen Plasmafluß ersetzten. Durch die Explosion wurde Will Becklund sofort getötet, und es sah für uns alle haarig aus. Nun ja, das ist vorüber. Ich muß jetzt ohnehin gleich Schluß machen, weil die Energie schon absinkt und ich den Bericht unbedingt durchgeben will. Er folgt hiermit: 1973 + 331852 + 172008 + 547 +39606 + 288 weniger 78 Viel Glück damit, Freunde! WASHINGTON VIER Knefhausen wandte sich von dem Berg von Papieren auf seinem Schreibtisch ab, rieb sich die Augen, seufzte. Er hatte zugleich mit dem Präsidenten das Rauchen aufgegeben, aber er dachte jetzt ebenso wie der Präsident daran, es wieder aufzunehmen. Es konnte einen töten, ja. Aber es konnte auch etwas Entspannung bewirken, und das brauchte er mehr denn je. Und was machte es schon aus, zu sterben. Es gab schlimmere Dinge, als getötet zu werden, überlegte er düster. Wie man es auch ansah, die letzten zwei oder drei Jahre hatten ihn schwer mitgenommen. Es hatte so gut begonnen, und dann war alles schiefgegangen. Es
war freilich noch nicht so schlimm wie jene entfernten Erinnerungen seiner Kindheit, als jedermann so arm und Berlin so kalt gewesen war, und die wenigen warmen Kleider, die er hatte, waren von der Winterhilfe gekommen. Er hatte es jetzt längst nicht so schwer wie nach Kriegsende. Es war bei weitem nicht so schwer zu ertragen wie jene ersten Jahre in Südamerika und dann im Nahen Osten, während sogar die Glücklichen und Berühmtheiten, die von Brauns und die Ehrickes um ihre Anerkennung hatten kämpfen müssen, und ein junges Kalb wie Knefhausen Kartoffeln schälen und Lifts bedienen hatte müssen, um zu überleben. Aber es war schwieriger und schlimmer, als es ein Mann auf dem Gipfel seiner Karriere eigentlich zu erwarten hatte. Das Alpha-Aleph-Projekt war im Grunde schon richtig! Er preßte seine Zähne zusammen, während er daran dachte. Es würde schon Ergebnisse bringen, nein, bei Gott, es brachte sie bereits, und es würde die ganze Welt anders gestalten. Zukünftige Generationen würden es erleben. Aber die zukünftigen Generationen waren noch nicht da, und jetzt entwickelten sich die Dinge zum Schlechten hin. Das erinnerte ihn an etwas, und er nahm den Telefonhörer in die Hand, um mit seiner Sekretärin zu sprechen. »Sind Sie schon zum Präsidenten durchgekommen?« fragte er. »Tut mir leid, Dr. Knefhausen. Ich habe es alle zehn Minuten versucht, wie Sie mir gesagt haben.« »Aha«, murmelte er. »Nein, Augenblick noch. Was für Anrufe liegen vor?« Papier raschelte. »Die Nachrichtenagenturen na-
türlich, wegen der Gerüchte. Jack Andersons Büro. Der Mann von CBS.« »Nein, nein. Ich will jetzt nichts mit der Presse zu tun haben. Sonst noch jemand?« »Senator Copley hat angerufen und gefragt, wann Sie diese Fragenliste beantworten würden, die sein Komitee Ihnen gesandt hat.« »Ich werde ihm eine Antwort geben. Ich werde ihm die Antwort geben, die der Götz von Berlichingen dem Bischof von Bamberg gab.« »Tut mir leid, Dr. Knefhausen, ich habe das nicht ganz –« »Unwichtig. Sonst noch was?« »Nur ein Ferngespräch von einem Herrn Hauptmann. Ich habe seine Nummer.« »Hauptmann?« Der Name kam ihm merkwürdig bekannt vor. Einen Augenblick später konnte er ihn einordnen: natürlich, der Fototechniker, der bei den gefälschten Bildern von Briareus XII mitgearbeitet hatte. Nun ja, der Mann hatte ja seine Befehle, sich nicht zu rühren und nichts zu sagen. »Nein, das ist nicht wichtig. Ebensowenig wie das andere, und ich will durch solchen Unfug nicht gestört werden. Machen Sie weiter, Mrs. Ambrose. Wenn Sie den Präsidenten erreicht haben, dann verbinden Sie mich sofort, aber nehmen Sie keine anderen Anrufe an.« Er legte auf und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. Traurig und verzweifelt sah er auf die Papiere. Es lag alles da: die Berichte von der Constitution, die Seiten mit seinen eigenen Interpretationen und Kommentaren und mehr als hundert Fußnoten-Texte, die seine Leute für ihn zusammengestellt hatten, um
die Bedeutungen und Implikationen dieser manchmal so rätselhaften Berichte aus dem Weltraum zu entwirren: »Henle. Bezieht sich offenbar auf Paul Henle (nicht bestätigt); vermutlich soll auf seine folgende Feststellung hingewiesen werden: ›Es gibt bestimmte Symbolformen, in denen bestimmte Dinge nicht ausgedrückt werden können.‹ Wir nehmen an, daß die englische Sprache als eine dieser Symbolformen gemeint ist.« »Orangen-Sorbet. Mit dem genannten Stoff wurde eine geheime Experimentalstudie unternommen (Akte mit Bezugszeichen Nr. CON-I30, Abschn. 4). Chemische Analyse und experimentelle Tests der empfohlenen Mischung von Drogen und anderen Bestandteilen haben ergeben, daß es sich um eine halluzinogene Substanz von beträchtlicher Stärke und bisher nur teilweise bekannten Qualitäten handelt. Hundert Versuchspersonen nahmen das Produkt oder ein wirkungsloses Placebo ein (Test mit zweifacher Kontrolle). Die Versuchspersonen, die die richtige Substanz erhielten, berichteten deutlich unterscheidbare Reaktionen. Zu den berichteten Wirkungen zählen das Gefühl stark erweiterter Fähigkeiten und einer vertieften Verständnisweise. Es wurden Versuche unternommen, diese subjektiven Behauptungen zu verifizieren durch I.Q.-Untersuchung, manipulative und andere Tests, aber die Versuchspersonen waren nicht mehr zu genügender Mitarbeit bereit. Einige entfernten sich ohne Zustimmung der Versuchsleiter.« »Gödelisierte Sprache. Eine Methode, mit der sich jede mögliche Botschaft in einer einzigen großen Zahl
ausdrücken läßt. Die Botschaft wird zuerst im Klartext ausgeschrieben und dann in Grundzahlen und Exponenten verschlüsselt. Jeder Buchstabe hat sein Gegenstück in der natürlichen Reihenfolge der Primzahlen – soll heißen, der erste Buchstabe wird durch die Grundzahl 2 ausgedrückt, der zweite durch die Grundzahl 3, der dritte durch die Grundzahl 5, dann 7, 11, 13, 17 und so fort. Welche Bedeutung ein Buchstabe an einer bestimmten Stelle der Botschaft hat, wird durch den Exponenten angegeben. Der Exponent 1 bedeutet also einfach, daß der Buchstabe an dieser Stelle ein A ist, die Zahl 2 bedeutet ein B, 3 ein C und so fort. Die Botschaft als ganzes wird dann als Produkt aller Grundzahlen und Exponenten ausgedrückt. Beispiele: Das Wort ›cab‹ kann so durch 23 x 31 x 52 wiedergegeben werden – oder 600. (= 8 x 3 x 25.) Der Name ›Abe‹ würde durch die Zahl 56 250 wiedergegeben – oder 21 x 32 x 55 . (= 2 x 9 x 3125.) Ein Satz wie ›John lives‹ würde wiedergegeben durch das Produkt der folgenden Rechnungen: 210 x 315 x 58 x 714 x 110 x 1312 x 179 x 1922 x 235 x 2919 x 3127 – wobei der Exponent ›0‹ den Zwischenraum bezeichnen soll und der Exponent ›27‹ willkürlich dazu bestimmt wurde, einen Punkt anzuzeigen. Wie man sehen kann, benötigt die gödelisierte Form selbst für eine kurze Botschaft eine sehr große Zahl, wobei aber solche Zahlen in der Form einer Summe von Grundzahlen und Exponenten doch sehr kompakt übermittelt werden können. Das von der Constitution übermittelte Beispiel dürfte schätzungsweise den inhaltlichen Umfang eines ungekürzten Standard-Wörterbuchs enthalten.« »Fernsicht. Über den Teilnehmer James Madison
Barstow ist bekannt, daß er in seinen frühen Schuljahren unter Kurzsichtigkeit litt, die er sich offenbar durch übermäßiges Lesen zugezogen hatte und die er durch Augenübungen ähnlich der ›Bates-Methode‹ zu heilen versuchte (Einzelheiten in der Anlage). Seine Sehfähigkeit zur Zeit seiner Untersuchung für das Alpha-Aleph-Projekt war optimal. Befragungen früherer Kollegen zeigen an, daß er weiterhin daran interessiert war, seine Sehschärfe zu verbessern. Alternierende Erklärung: Es gibt Anzeichen dafür, daß er sich auch mit paranormalen Phänomenen wie Hellsehen und Vorausschau beschäftigte, und es wäre möglich, obwohl das zum gegenwärtigen Zeitpunkt unwahrscheinlich erscheint, daß er sich mit diesem Begriff auf ›Voraus-Sehen‹ in der Zeit bezieht.« Und so weiter, und so fort. Knefhausen starrte auf den Papierberg, von dem er sich ebenso angezogen wie abgestoßen fühlte, und strich langsam mit der Hand über seine Stirn. Diese Kinder! Sie waren so wunderbar ... aber so ungebärdig ... und so schwer zu verstehen. Warum hatten sie nur verbergen müssen, was sie in Wirklichkeit erreicht hatten? Das Geheimnis der Wasserstoffverschmelzung! Das allein hätte das ganze Projekt gerechtfertigt, mehr als gerechtfertigt. Aber wo war es? Eingeschlossen in ein paar Zahlen, die keinen Sinn ergaben! Knefhausen wußte die überlegene Eleganz dieser Methode durchaus zu schätzen. Auch er war in der Lage, eine so sichtbar einfache Sache ernst zu nehmen. Wenn die ganze Zahl erst einmal ausgeschrieben war, mußte man nur damit beginnen, sie so oft wie möglich durch zwei zu dividieren, und aus der Anzahl der Möglichkeiten würde sich der erste
Buchstabe ergeben. Dann durch die nächste Primzahl – drei – teilen, und die Anzahl dieser Möglichkeiten bestimmte den zweiten Buchstaben. Aber die praktischen Schwierigkeiten! Man konnte so lange nicht einmal auf den ersten Buchstaben kommen, als man nicht die ganze Zahl hatte – und IBM hatte sich geweigert, auch nur ein Angebot für die Konstruktion einer Computer-Reihe zu machen, die diese Nummer ausschreiben konnte, sofern als Entwicklungszeit nicht mindestens fünfundzwanzig Jahre gegeben wurden. Fünfundzwanzig Jahre. Und währenddessen blieben in dieser Zahl das Geheimnis der Wasserstoffverschmelzung und vermutlich noch weit größere Geheimnisse verborgen, auf jeden Fall aber der Schlüssel für all das, was Knefhausen in den nächsten paar Wochen widerfahren konnte ... Sein Telefon klingelte. Er schnappte danach und rief sofort hinein: »Ja, Herr Präsident!« Aber er war zu schnell gewesen. Es war nur seine Sekretärin. Ihre Stimme war zittrig, aber bestimmt. »Es ist nicht der Präsident, Dr. Knefhausen, aber Senator Copley ist am Apparat und sagt, es sei dringend. Er sagt –« »Nein!« schrie Knefhausen und schlug den Hörer nieder. Noch während er es tat, bereute er es. Copley war sehr wichtig, Vorsitzender der Verteidigungskomitees; er war nicht der Mann, den sich Knefhausen zum Feind wünschen konnte, und er hatte sich seit Jahren vorsichtig darum bemüht, ihn als Freund zu gewinnen. Aber er konnte nicht mit ihm oder irgend jemand anders sprechen, solange der Präsident seine Anrufe nicht beantwortete. Copleys Rang war
hoch, aber er stand nicht in der direkten hierarchischen Linie über Knefhausen. Wenn die Spitze dieser Linie sich weigerte, mit Knefhausen zu reden, dann war er von der Welt abgeschnitten. Er versuchte seine Ruhe wiederzugewinnen, indem er die Lage nüchtern untersuchte. Der Druck von allen Seiten, der jetzt auf dem Präsidenten lastete ... Da waren noch immer die Schwierigkeiten in den Städten, praktisch in allen Städten. Die Parteitage rückten in die Nähe. Da war die Notwendigkeit, für eine dritte Regierungsperiode wiedergewählt zu werden, und um das zu ermöglichen, mußten erst die Wahlgesetze geändert werden. Und ja, der schwerste Druck – das mußte Knefhausen zugeben – waren schließlich die Gerüchte, die über die Constitution umgingen. Er hatte den Präsidenten gewarnt. Unglücklicherweise hatte der Präsident nicht auf ihn gehört. Er hatte ihm gesagt, daß ein Geheimnis, das zwei Leute kennen, fast schon verraten ist, und ein Geheimnis, das mehr als zwei Leute kennen, keines mehr ist. Aber der Präsident hatte auf der Enthüllung gegenüber einen immer größer werdenden Kreis von hohen Beamten bestanden – natürlich auf Geheimhaltung eingeschworen, aber was nützte das schon? Trotz allem hatte es undichte Stellen gegeben. Vielleicht weniger, als zu befürchten war. Auf jeden Fall mehr, als zu verkraften war. Fast liebevoll strich er über die Berichte von der Constitution. Diese lieben Jungen, sie allein konnten alles wieder in Ordnung bringen, sie waren so wunderbar ... Weil er es war, der sie dazu gemacht hatte, gestand er sich selbst. Es war seine Idee gewesen. Er hatte sie
ausgewählt. Er hatte Dinge getan, mit denen er sich selbst jetzt noch immer nicht abfinden konnte, nur um sicher zu gehen, daß sie und niemand anders in die Mannschaft kamen. Vor allem hatte er sich doppelt abgesichert, indem er sich ihrer Loyalität in jeder möglichen Weise versicherte. Training. Disziplin. Die Bande von Zuneigung und Freundschaft. Noch verläßlichere Bande: Er hatte die Lebensmittelvorräte bestimmt, die Unterhaltungskassetten, ihre vorgeplanten Aktivitäten mit jeder Art von Beeinflussung in seinem Sinne. Er hatte jedes Mittel psychologischer Verstärkung angewandt, das er finden oder entwikkeln konnte, damit sie nicht aufhören würden, was auch immer sonst geschah, vertrauensvoll zurück zur Erde zu berichten. Was immer auch geschah, das war es. Die Daten mochten schwer zu entschlüsseln sein, aber sie waren da. Sie konnten nicht aus; seine Anweisungen waren für sie stärker als Gottes Gebote; wie Martin Luther mußten sie sagen: »Ich kann nicht anders« – und gegen Papst oder Inquisition dabei bleiben. Sie würden lernen und berichten, was sie lernten, und damit den Aufwand um ein Vielfaches zurückzahlen ... Das Telefon! Er sprach schon, bevor er den Hörer am Mund hatte. »Ja, ja. Hier ist Dr. Knefhausen, ja!« stammelte er. Der Präsident mußte jetzt sicher – Er war es nicht. »Knefhausen!« schrie der Mann am anderen Ende. »Jetzt hören Sie mal zu, ich werde Ihnen gleich sagen, was ich dieser bescheuerten Ziege von Sekretärin eben schon gesagt habe; wenn ich jetzt nicht sofort am Telefon mit Ihnen reden kann, dann werde ich Sie
durch die 4. Armee festnehmen und in zwanzig Minuten zu mir bringen lassen. Also hören Sie zu!« Knefhausen erkannte Stimme und Ausdrucksweise gleichzeitig. Er atmete tief ein und zwang sich, ruhig zu bleiben. »In Ordnung, Senator Copley«, sagte er, »um was geht es?« »Das Spiel ist aufgeflogen, Junge! Das ist es. Dieser Junge von Ihnen in Huntsville, wie war noch sein Name, der Fototechniker –« »Hauptmann?« »Genau der! Wollen Sie wissen, wo er jetzt ist, Sie blöder Krautfresser?« »Warum, ich nehme an ... er sollte in Huntsville sein –« »Falsch, Junge! Ihr Krautfresser-Freund behauptete, daß er sich nicht gut fühle und hat sich frei genommen. Der Geheimdienst hat bis zu einem gewissen Punkt auf ihn aufgepaßt, aber sie haben ihn nicht aufgehalten, weil sie sehen wollten, was er vorhatte. Das haben sie inzwischen gesehen. Sie haben zusehen können, wie er vor einer Stunde den Flughafen Orly in einem Aeroflot-Jet verlassen hat. Setzen Sie Ihre Gehirnzellen darauf an, Knefhausen. Er ist übergelaufen! Und jetzt lassen Sie sich einfallen, was Sie in dieser Geschichte tun wollen, und es sollte vorzugsweise was Vernünftiges sein!« Knefhausen sagte etwas, er wußte nicht was, und legte den Hörer auf, er wußte nicht wann. Eine Zeitlang starrte er verloren vor sich hin. Dann schaltete er zu seiner Sekretärin um und sagte, ohne auf ihre stammelnden Entschuldigungen zu hören: »Dieses Ferngespräch, das vorhin von Hauptmann kam, Fräulein Ambrose. Sie sagten nicht,
von wo es kam.« »Es kam von Übersee, Dr. Knefhausen. Aus Paris. Ich hatte keine Gelegenheit –« »Jaja, ich verstehe. Danke, ist schon alles in Ordnung.« Er legte auf und lehnte sich zurück. Er fühlte sich fast erleichtert. Wenn Hauptmann nach Rußland gegangen war, dann nur, um ihnen zu sagen, daß das Bild gefälscht war, daß es gar keinen Planeten gab, auf dem die Astronauten landen konnten, und daß das nicht etwa ein Fehler oder Irrtum gewesen war, sondern ein wissentlicher Betrug. Damit war bereits alles aus seinen Händen. Die Geschichte würde ihn jetzt richten. Die Würfel waren gefallen. Der Rubikon war überschritten. Nicht einmal diese literarischen Anspielungen stimmten, überlegte er mißbilligend. Tatsächlich war im unmittelbaren Augenblick nicht das Urteil der Geschichte maßgeblich, sondern das Urteil sehr realer Leute, die jetzt lebten und mit Sicherheit alles andere als wohlwollend reagieren würden. Und sie würden ihn nicht nach dem richten, was sein könnte oder sein sollte, sondern nur nach dem, was war. Die Kälte dieses Urteils schüttelte ihn, und er versuchte noch einmal, den Präsidenten zu erreichen. Aber er war sich dessen ziemlich sicher, daß der Präsident nicht antworten würde, jetzt und nie wieder. CONSTITUTION FÜNF Hier meldet sich wieder der zuverlässige alte Postbote Shef. Wir haben eure Botschaft bekommen, aber darüber will ich nicht reden. Ihr habt vielleicht Nerven. Knefhausen hat wohl schlechte Laune gehabt, was? Wenn ihr schon nichts Nettes sagen könnt, dann sagt
lieber gar nichts. Wir tun wirklich unser Bestes, und wenn das nicht genau das ist, was ihr von uns erwartet, dann liegt das vielleicht daran, daß wir inzwischen eine ganze Menge mehr wissen, als ihr damals gewußt habt, als ihr uns auf das bißchen Mondschein abgeschossen habt, das ihr Alpha-Aleph nennt. Also, vielen Dank für nichts. Andererseits möchte ich aber auch ein bißchen danke sagen für das, was ihr getan habt, weil es uns immerhin so weit gebracht hat, wie wir jetzt sind, und ich meine das nicht im Sinn der räumlichen Entfernung. Ich werde daher kein großes Gezeter daraus machen. Ich möchte ganz einfach nicht mehr mit euch reden. Ich werde die anderen für sich selbst reden lassen. Hier spricht Dot Letski. Dies ist wichtig, gebt es weiter. Ich habe drei Dinge zu sagen, die ihr unter keinen Umständen vergessen sollt. Erstens: Die meisten Probleme haben grammatikalische Lösungen. Das Problem, wie man Menschen von der Erde zu einem anderen Planeten befördert, ist nicht dadurch zu lösen, daß man Stücke aus Stahl zufällig aneinanderfügt und dann herausfindet, daß man aus Versehen die Constitution gebaut hat. Es wird vielmehr gelöst, indem man ein Modell – = Gleichung (= Grammatik) – konstruiert, das die notwendigen Bedingungen beschreibt, unter denen die Beförderung geschehen muß. Wenn man einmal das grammatikalische Modell hat, braucht man es nur noch in Metall zu kleiden – und es geht los wie nichts. Wenn ihr das verstanden habt, dann seid ihr soweit für: Zweitens: Es gibt keine Kausalität. Was für eine Zeitverschwendung war der Versuch »Ursachen« zu
»Ereignissen« zuzuordnen! Man sagte zum Beispiel: »Indem man ein Streichholz an der Zündfläche reibt, bringt man es zum Brennen.« Eine zutreffende Feststellung? Nein, falsch. Man findet sich nur in einem ganzen Gewirr von Fragen wieder, ob die »Handlung« des »Reibens« »notwendig« und/oder »ausreichend« ist, und verliert sich in Worten. Eine wirklich nützliche Grammatik kennt keine Zeitformen. In einer brauchbaren Grammatik – was die englische Sprache natürlich nicht ist – kann man eine Feststellung machen wie: »Es gibt eine Verbindung verschiedener Formen von Materie – genaue Angaben –, die in der Freigabe von Energie bei einer bestimmten Temperatur zusammenwirken – was die Temperatur in Verbindung mit Reibungshitze sein könnte.« Wo liegt hier eine Kausalität? »Ursache« und »Wirkung« gehen in der gleichen zeitlosen Feststellung auf. Also ... Drittens: Es gibt keine empirisch erfahrbaren Gesetzmäßigkeiten. Ski kam darauf, daß er das Plasma unseres Antriebs unbegrenzt lange eindämmen kann, indem er die Partikel nicht durch »gewalttätige« Magnetfelder zu bezwingen versucht, sondern sie sozusagen ermutigt, zusammenzubleiben. Es gäbe auch andere Möglichkeiten, sein Vorgehen zu beschreiben – zum Beispiel: »schafft eine Umgebung, in der die zentripetalen Kräfte stärker sind als die zentrifugalen« –, aber es ist besser, wie ich es beschrieben habe, weil es euch etwas über euren Charakter sagen kann. Ihr seid ja alle so grobschlächtige Typen. Warum könnt ihr nicht nett zu den Dingen sein, wenn ihr wollt, daß die Dinge nett zu euch sind? Gebt das auf jeden Fall weiter an T'in Fa in Tientsin, Professor Morris bei »All Soul's« und den derzeitigen Inhaber des Carnap-
Lehrstuhls der UCLA. Flo ist an der Reihe. Meine Mutter würde ihre wahre Freude an meinem Garten gehabt haben. Hähnchenschenkel und Osterglocken wachsen nebeneinander aus dem schlammigen Sand. Sie erfreuen uns so sehr, und wir sie! Ich werde vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt ein ganzes Gartenbau-Handbuch übermitteln. Bis jetzt ist es allerdings eher beschämend, einen Rettich zu essen, während es Karotten andererseits ganz gern haben. Eine Feststellung von William Becklund, verstorben. Ich drang in die Welt ein, lernte, wuchs, aß, arbeitete, reiste und starb. Oder: Ich entsprang einer Wasserstoffexplosion, wurde kleiner, spie wieder aus und drang schließlich wieder in den Mutterleib ein, nach dem ich mich so sehnte. Ihr könnt das von jedem Ende aus betrachten, es macht überhaupt keinen Unterschied, wie ihr es seht. Beobachtungsdatum, Letski. Zur Zeit t, in herkömmlichen Zeiteinheiten nicht meßbar, wird folgendes Phänomen beobachtet: Die Strahlungsquelle Centaurus A stellt sich als ein einzeln-kollektives Objekt mit fester Position heraus, nicht zwei einander durchdringende Gaswolken. Es kann beobachtet werden, wie es sich kreisförmig zu einem Mittelpunkt hin zusammenzieht. Analyse und Beobachtung lassen es als Schwarzes Loch erscheinen, von dem weitere Einzelheiten noch nicht zu orten sind. Man kann annehmen, daß alle Galaxien solche zentralen »Strudel« entwickeln, was interessante
Schlußfolgerungen für Astronomen und Eschatologen beinhalten könnte. Ich, Seymour Letski, schlage vor, uns dieses Phänomen genauer anzusehen, aber die anderen ziehen es vor, zuerst unseren vorprogrammierten Flug durchzuführen. Bitte weiterleiten an den Harvard-Smithsonian-Beobachtungsdienst. »Sternenbogen«, eine vorläufige Studie für die Übertragung ins Englische eines Gedichtes von James Barstow: Unwissende Kinder, aber die besten unserer Welt Taumeln wir durch Raum und Zeit Verloren in fremden Dimensionen, singen wir: Aber leer ist das Zeichen des Pferdes und des Menschen Leer das Zeichen des Menschen und des Pferdes So nähern wir uns dem Ziel der langen Reise Getäuscht, geprellt und hintergangen, suchen wir Nach dem Kind der planetenlosen Sonne Die Täuschung ist enthüllt, die Absicht bekannt Und wir müssen bezahlen für einen schlechten Scherz O Gänserich, der du uns gemacht hast O Gans, die du uns gelegt hast Wie gemein ihr uns verraten habt! Aber wir wissen, wir sind in eurer Schuld Drum harret in Geduld Bis wir unsern Dank euch erweisen Gönnt uns etwas Glück Und wir senden euch vielleicht schon morgen Euren Topf voll Gold vom Ende des Sternenbogens
Ann Becklund: Ich glaube, es war Stanley Weinbaum, der sagte, daß ein wirklich überlegener Geist in der Lage sein sollte, aus drei gegebenen Tatsachen das ganze Universum abzuleiten. (Ski meint, daß es mit einer begrenzten Anzahl möglich wäre, die aber sehr viel größer sein müßte.) Wir sind so weit davon entfernt, wirklich überlegene Geister nach solchen Maßstäben zu sein, und selbst nach unseren eigenen Maßstäben. Aber dafür haben wir eine sehr viel größere Anzahl von Fakten als drei oder gar dreitausend, mit denen wir arbeiten können, und so haben wir eine ganze Menge schlußfolgern können. Das wird für euch aber nicht so viel bedeuten, wie ihr vielleicht gehofft habt, lieber alter Hundesohn Kneffie und all ihr anderen Hundesöhne, weil wir nämlich unter anderem schlußfolgern mußten, daß wir euch überhaupt nichts sagen können, weil ihr es nicht verstehen würdet. Wir könnten einigen von euch weiterhelfen, wenn ihr hier wärt, und mit der Zeit könntet ihr zu dem fähig werden, was für uns nur noch ein Kinderspiel ist, aber als Fernkurs geht das nicht. Aber noch ist nicht alles verloren, Leute! Habt nur Mut! Ihr zieht nicht Schlußfolgerungen, wie wir es tun, aber andererseits habt ihr sehr viel mehr, mit dem ihr arbeiten könnt. Versucht es. Macht euch klüger. Ihr könnt es, wenn ihr es wirklich wollt. Gönnt euch mehr Ruhe, konzentriert eure Gedanken, bevor ihr etwas sagt, überdenkt eure Absichten genau, bevor ihr um etwas fragt. Versucht, euren Widerwillen vor dem Ungewohnten zu überwinden. Die Zehen sind inzwischen bei uns allen nachge-
wachsen, selbst bei Will, obwohl es für ihn besonders schwierig war, weil er bei der Explosion getötet worden war, und wir haben die Knochen beschriftet und benützen sie mit sehr guten Ergebnissen dazu, Hexagramme zu entwickeln. Ich hoffe, ihr versteht, warum wir das getan haben. Wir hätten natürlich auch weiterhin Münzen oder Schafgarbenstiele werfen können (oder zumindest das Schafgarbenähnlichste, das Flo zu züchten imstande war). Aber wir wollten das nicht, weil es nicht die beste Möglichkeit war. Da könnte natürlich jemand kommen und fragen: »Na und, was macht das schon für einen Unterschied?« Das wäre eine armselige Frage, weil in ihr schon eine deterministische Antwort enthalten ist. Eine bessere Frage wäre: »Macht das einen Unterschied aus?« Und die Antwort darauf wäre: »Ja, wahrscheinlich, denn um etwas richtig zu tun, muß man es richtig tun.« Ihr könntet auch fragen: »Was für eine Art von Wissen bezieht ihr eigentlich aus den Hexagrammen?« Das ist schon eine bessere Fragestellung, weil sie keine falsche Antwort erzwingt, aber die Antwort ist wiederum unbestimmt. Ihr könntet das I Ching ähnlich wie die Tintenkleckse im Rorschach-Test ansehen, die ja eigentlich auch keine innewohnende Bedeutung haben, aber sehr nützlich sind, weil der menschliche Geist sie interpretieren und mit Sinn versehen kann. Laßt eurer Phantasie freien Lauf! Ihr könnt es auch als einen Gedächtnisspeicher voll von verschlüsselter Weisheit betrachten. Warum nicht? Ihr könnt es auch ganz sein lassen und euer Wissen aus einem anderen Tao beziehen, aus welchem Tao ihr auch immer wollt. (»Der überlegene Mensch erkennt
am Ende das Vergängliche im Licht der Ewigkeit.«) Das ist ebenso gut. Aber welchen Weg ihr auch immer wählt, geht dann diesen Weg. Wir benötigen beschriftete Knochen, um Hexagramme zu entwickeln, weil das für uns der richtige Weg war, und so war das Opfer nicht zu groß, daß sich jeder eine Zehe abtrennen ließ. Es klappt alles sehr schön, bis auf eine Sache. Großen Ärger macht es, daß die Qualität der Übersetzungen so sehr abnimmt – vom Chinesischen ins Deutsche, Deutsch ins Englische, und bei jeder Stufe schleichen sich Fehler ein. Aber wir arbeiten daran, das zu verbessern. Ich werde euch vielleicht ein anderes Mal mehr darüber berichten. Nicht jetzt. Und nicht sehr bald. Eve wird euch mehr darüber sagen. Hier ist Eve Barstow, das fünfte Rad am Wagen. Ich komme zuletzt, und das hat wohl seinen guten Grund. Als ich ein kleines Mädchen war, spielte ich sehr schlecht Schach, aber immer mit sehr guten Spielern, und das ist die Geschichte meines Lebens. Ich habe immer mehr gewollt, als ich konnte. Ich kann keine Leute ausstehen, die nicht klüger und besser sind als ich, aber die Folge ist eben, daß ich immer ein Zwerg unter Riesen bleibe. Sie sind hier alle sehr nett zu mir, selbst Jim, aber sie wissen schließlich worum es geht, und ich weiß es auch. Also halte ich mich fleißig und applaudiere dem, was ich selber nicht tun kann. Ich habe alles, was ich brauche, außer Stolz. Ich werde euch jetzt beschreiben, wie ein typischer Tag hier draußen zwischen Sol und Centaurus aus-
sieht. Wir wachen auf – wenn wir geschlafen haben, was einige von uns noch immer tun – und essen – außer Ski und natürlich Will Becklund, die nicht mehr essen. Das Essen ist sehr schmackhaft, und Florence hat es dazu gebracht, gekocht und zubereitet zu wachsen, sofern das erwünscht ist, so daß man also nur 'rüber zu gehen braucht und sich ein verlorenes Ei oder eine Tüte Pommes frites pflücken kann. (Ich ziehe morgens eigentlich brioche vor, aber aus sentimentalen Gründen kriegt sie das nicht hin.) Manchmal bumsen wir ein bißchen oder singen alte Lagerfeuerlieder. Ski kommt dafür herunter, aber nie für lang, und dann geht er wieder zurück, um das Universum zu beobachten. Der Sternenbogen ist wunderschön und erschreckend zugleich. Es ist jetzt ein Band von etwa 40°, das uns vollkommen mit farbigem Licht umhüllt. Man kann es natürlich immer auch in den anderen Frequenzen beobachten und Geistersterne vor und hinter uns sehen, aber in den ursprünglichen Bandbereichen ist es vor und hinter uns vollkommen schwarz, und das einzige Licht kommt von diesem wunderschön gestreiften Ring von bunten Sternen. Manchmal schreiben wir Stücke oder machen etwas Musik. Shef hat vier verlorene Pianokonzerte von Bach zurückentwickelt, die sehr an Corelli und Vivaldi anklingen, alles zugleich mit allen Stimmen, und wir haben sie alle zur Darbietung arrangiert. Ich habe mein Teil mit dem Moog versucht, aber Ann und Shef haben ganze Orchester damit synthetisiert. Shef ist besonders gut dabei. Man kann bei ihm zum Beispiel heraushören, daß zwei der Violinisten am Tag vorher getrunken haben. Flos älteste Tochter hat
sich ein paar Verse gemacht und singt sie jetzt als eine Art von Wiegenliedfassung von Buxtehuder Chorälen; ach so, ich habe euch noch gar nichts von den Kindern erzählt. Wir haben jetzt elf. Ann, Dot und ich haben je eines, und Florence hat acht. (Aber nächste Woche werden sie mich Vierlinge bekommen lassen.) Ich darf mich in den ersten Wochen ziemlich um sie kümmern, während sie noch so klein sind, und sie sind so lieb. So beschäftige ich mich die meiste Zeit mit den Kindern oder mit den Gleichungen, die mir Ski freundlicherweise gibt, damit ich sie für ihn ausrechne. Ich muß zugeben, daß ich mich dabei ein bißchen einsam fühle. Ich würde manchmal ganz gern eine Quiz-Show im Fernsehen ansehen und mit einer Freundin eine Tasse Kaffee trinken! Dann und wann lassen sie mich die Einrichtung unseres mobilen Heims völlig verändern. Vor ein paar Tagen habe ich sie im Stil eines Pittsburgher Vororthauses umgebaut, des Witzes wegen. Könnt ihr euch Balkontüren im interstellaren Raum vorstellen? Wir öffnen sie natürlich nie, aber es sieht wirklich nett aus mit den Chintz-Vorhängen und den Seidenstores. Und wir haben noch ein paar Räume hinzugefügt für die Kinder und ihre Haustiere. (Flo hat ihnen die süßesten kleinen Viecher aus den hydroponischen Anlagen wachsen lassen.) Also, ich habe das ja genossen, ein bißchen mit euch zu klatschen: Das wär's dann. Da ist nur noch eine Sache, die ich euch sagen muß. Die anderen haben sich dafür entschieden, daß wir keine Botschaften mehr von euch empfangen wollen. Sie mögen das nicht wie ihr versucht, ihr Unbewußtes und all das zu
beeinflussen – damit habt ihr natürlich ohnehin keinen Erfolg, aber es ist eben ein bißchen ärgerlich. Deshalb wird der Empfänger auch in Zukunft auf 66-0 stehen, aber der Schalter wird auf »Aus« gedreht sein. Es war nicht meine Idee, aber ich bin schon damit einverstanden. Ich wünsche mir zwar von Zeit zu Zeit, ich hätte etwas weniger anstrengende Gesellschaft – aber natürlich nicht die eurige. WASHINGTON FÜNF Früher war das Gebäude, das jetzt als DoDZentrum für vorübergehende Schutzhaft 7 bekannt war – man konnte es genausogut und zutreffender als Gefängnis bezeichnen, überlegte Knefhausen – ein Luxushotel der Hilton-Kette gewesen. Die ausbruchsichersten Zellen befanden sich in den unterirdischen Etagen, die früher die Versammlungsräume beherbergt hatten. Es gab hier keinerlei Türen oder Fenster nach draußen. Wenn man es schaffte, aus der eigenen Zelle zu entkommen, dann hatte man noch eine Treppenflucht vor sich, bevor man in das Erdgeschoß gelangte, und dann waren noch die Wachen zu durchbrechen, um das Freie zu erreichen. Und zuletzt hatte man noch, sofern nicht ohnehin gerade eine große Belagerung stattfand, mit den draußen umherstreifenden Anhängern und Aktivisten zu rechnen. Knefhausen beschäftigte das allerdings nicht. Er dachte nicht mehr an Flucht, oder jedenfalls nicht mehr seit den ersten angsterfüllten Augenblicken, in denen er realisiert hatte, daß er unter Arrest stand. Schon nach den ersten Tagen hatte er es aufgegeben, nach dem Präsidenten zu verlangen. Es hatte keinen Zweck, das Weiße Haus um Hilfe zu bitten, wenn es
das Weiße Haus war, das ihn hatte einsperren lassen. Er war zwar noch immer überzeugt davon, daß sich alles aufklären würde, wenn er auch nur ein paar kurze Augenblicke privat mit dem Präsidenten reden könnte. Aber als Realist hatte er sich inzwischen der Tatsache beugen müssen, daß sich der Präsident nie wieder privat mit ihm unterhalten würde. Also dachte er lieber an die guten Dinge, die ihm noch geblieben waren. Erstens, es war hier sehr komfortabel. Das Bett war bequem, die Räume waren gut geheizt. Das Essen kam noch immer aus der Bankett-Küche des Hotels, und für ein Gefängnisessen war es immerhin bemerkenswert gut. Zweitens, die Jungens waren noch immer im Raum und vollbrachten große Dinge, auch wenn sie nicht darüber berichteten. Das konnte eines Tages vielleicht doch noch alles rechtfertigen, was er getan hatte. Drittens, die Wachleute überließen ihm Zeitungen und Schreibzeug, obwohl sie ihm seine Bücher und ein Fernsehgerät vorenthielten. Er vermißte die Bücher, aber sonst nichts. Er brauchte kein Fernsehen, um zu wissen, was draußen vor sich ging. Er brauchte nicht einmal die Zeitungen, zerfetzt, dünn und zensiert, wie sie waren. Er konnte es selbst hören. Jeden Tag war da das Rattern von Handfeuerwaffen, meist entfernt und sporadisch, aber ein oder zweimal auch anhaltend, schwer und fast über ihm (es hörte sich an wie Brownings gegen AK-47er), und dann und wann das Aufschlagen und Bersten von Gewehrgranaten. Manchmal hörte er auch, wie Sirenen durch die Straßen heulten, unterbrochen durch helle Glockentöne, und er fragte sich,
ob es noch immer eine zivile Feuerwehr gab, die sich um die entstehenden Schäden kümmerte. (Oder war sie überhaupt noch zivil?) Manchmal hörte er das Mahlen schwerer Ketten, das von Panzern kommen mußte. Die Zeitungen taten nur wenig, um ihm die fehlenden Einzelheiten zu erklären, aber Knefhausen vermochte auch sehr gut zwischen den Zeilen zu lesen. Die Regierung hatte sich irgendwo versteckt – Key Biscayne, Camp David oder vielleicht Südkalifornien, niemand sagte, wo. Die Städte flammten alle in der roten Revolte auf. Herr Omnes griff nach der Macht. Knefhausen fühlte sich zu Unrecht für diese Katastrophen verantwortlich gemacht. Er verfaßte endlose Briefe an den Präsidenten, in denen er klarzustellen versuchte, daß die ernsthaften Schwierigkeiten der Regierung nichts mit dem Alpha-Aleph-Projekt zu tun hatten: Die Städte waren schon seit fast einer Generation in Aufruhr, der Dollar war seit den Indochina-Kriegen zu einem Gegenstand des Gelächters geworden. Ein paar Briefe vernichtete er wieder, ein paar wurden ihm von niemand abgenommen und nur wenige vermochte er abzuschicken – und bekam nie eine Antwort. Ein oder zweimal in der Woche kam ein Mann vom Justizministerium, der ihm immer wieder die gleichen sinnlosen Fragen stellte. Knefhausen nahm an, daß sie ein Dossier zusammenzustellen versuchten, das beweisen sollte, daß alles nur seine Schuld war. Schön, sollten sie. Er würde sich selbst zu verteidigen wissen, wenn die Zeit kam. Oder die Geschichte würde ihn verteidigen. Seine persönliche Vergangenheit war makellos. Das stimmte vielleicht in bezug
auf einige moralische Dinge nicht ganz, gestand er sich ein. Egal. Man durfte moralische Fragen nicht so hoch bewerten auf einem Gebiet, das für die Erlangung neuen Wissens so wichtig war. In den bisherigen Sendungen von der Constitution war schon sehr viel enthalten gewesen – wenn man auch zugeben mußte, daß gerade die wichtigsten Teile schwer zu verstehen waren. Es war nicht gelungen, die GödelBotschaft zu enträtseln, und die Hinweise auf ihren Inhalt blieben eben nur Hinweise. Manchmal döste er vor sich hin und träumte davon, sich selbst in die Constitution zu projizieren. Seit der letzten Botschaft war schon ein ganzes Jahr vergangen. Er versuchte sich vorzustellen, was sie inzwischen getan hatten. Sie mußten jetzt schon über die Hälfte der Strecke hinaus sein und ihren Flug verlangsamen. Der Sternenbogen würde jetzt täglich breiter und diffuser werden. Die schwarzen Kreise vor und hinter ihnen würden zunehmend schrumpfen. Bald würden sie Alpha Centauri sehen, wie es noch kein Mensch gesehen hatte. Natürlich würden sie dann auch sehen daß dort kein Planet namens Aleph um die Sonne kreiste, aber irgendwie waren sie darauf ja schon längst gekommen. Diese tapferen, wunderbaren Jungen! Sie hatten dennoch weitergemacht. Diese Torheiten mit Drogen und Sex – was machte das schon? Man ging bei der großen Masse der Menschen gegen solche Aktivitäten vor, aber es war schon immer so gewesen, daß diejenigen, die sich auszeichneten und aus der Herde herausragten, nach ihren eigenen Regeln leben konnten. Als Kind hatte er lernen müssen, daß der ehrbare Politiker Kokain schnupfte und die großen Krieger ihr sexuelles Ver-
gnügen manchmal miteinander zu erleben pflegten. Ein intelligenter Mensch beschäftigte sich einfach nicht mit solchen Fragen, und der Mann vom Justizministerium, der unaufhörlich auf Dinge in Knefhausens persönlichem Hintergrund anspielte und neugierige Fragen dazu stellte, hatte die Intelligenz auch nicht gerade gepachtet. Das Gute an ihm war aber immerhin, daß sich aus seinen Fragen manchmal einiges schlußfolgern ließ, und selten – sehr selten – beantwortete er selbst eine Frage. »Ist eine neue Botschaft von der Constitution gekommen?« – »Nein, natürlich nicht, Dr. Knefhausen. Und jetzt erzählen Sie mir noch einmal, wer Ihnen diesen betrügerischen Plan zuerst vorgeschlagen hat?« Das waren die Höhepunkte seiner Haftzeit, aber meistens verging ein Tag so ereignislos wie der andere. Er hielt die Tage nicht einmal mit Strichen an der Wand fest, wie es der Gefangene im Chateau d'If getan hatte. Es wäre einfach eine Schande gewesen, die Edelholztäfelung zu beschädigen. Außerdem hatte er Uhren und Kalender. Die Tage, an denen der Mann aus dem Justizministerium seine Besuche abstattete, waren wie Ferientage – Festtage, die kein Grund zur Freude, aber zum Feiern waren. Zuerst wurde er vom Captain der Wachen aufgesucht, während zwei bewaffnete Soldaten in der Tür stehen blieben. Knefhausen und seine Zelle wurden gründlichst durchsucht, um festzustellen, ob es ihm auch wirklich nicht gelungen war, etwas hereinzuschmuggeln ... eine Kernfusionsbombe vielleicht, oder ein Pfund Pfeffer, um es dem Justizbeamten in die Augen zu schleu-
dern. Natürlich fanden sie nie etwas, weil es nichts zu finden gab. Dann gingen sie wieder weg, und eine lange Zeit passierte überhaupt nichts. Er bekam dann nicht einmal sein Essen, selbst wenn es Zeit dafür war. Nichts geschah, bis der Justizbeamte eine oder auch drei Stunden später mit seiner eigenen Wache in der Tür erschien, die innerlich wie äußerlich gleich wachsam war, und einem Toningenieur für die Bandaufnahmen – und mit seinen Fragen. Und dann kam einmal der Tag, an dem der Mann aus dem Justizministerium noch jemanden mitbrachte. Mit ihm erschien der Sekretär des Präsidenten, Murray Amos. Wie verräterisch ist das menschliche Herz! Wenn schon alle Hoffnung aufgegeben ist, wie wenig braucht es selbst dann, um wieder zu hoffen! »Murray!« schrie Knefhausen, fast den Tränen nahe. »Das ist gut, Sie wiederzusehen! Der Präsident, geht es ihm gut? Was kann ich für Sie tun? Was hat es Neues gegeben?« Murray Amos blieb im Türrahmen stehen. Er sah Dieter von Knefhausen an und sagte mit Bitterkeit: »O ja, es hat Neues gegeben. Eine ganze Menge sogar. Die Vierte Panzerdivision hat die Fronten gewechselt, und wir müssen Washington evakuieren. Und der Präsident will Sie sofort von hier weghaben.« »Nein, nein! Ich meine ... es ist gut, daß der Präsident mich in dieser Situation nicht vergessen hat, aber das ist wirklich schlimm mit der 4. Panzerdivision! Aber was ich eigentlich wissen wollte, Murray: Hat es eine neue Botschaft von der Constitution gegeben?« Amos und der Justizbeamte sahen sich an. »Sagen
Sie mir, Dr. Knefhausen«, erkundigte sich Amos leise, »wie haben Sie das nur herausgefunden?« »Herausgefunden? Wie sollte ich etwas herausfinden können? Nein, ich habe nur gefragt, weil ich es gehofft habe. Es hat also eine neue Botschaft gegeben, ja? Obwohl sie nicht mehr senden wollten? Sie reden wieder mit uns ...?« »Ja, tatsächlich«, sagte Amos gedankenvoll. Der Justizbeamte flüsterte ihm drängend etwas zu, aber Amos schüttelte nur den Kopf. »Keine Angst, wir sind in einer Sekunde zurück. Der Konvoi fährt ohne uns nicht los. Ja, Knefhausen, die Botschaft wurde vor zwei Stunden in Goldstone empfangen. Sie ist jetzt bei der Dechiffrier-Abteilung.« »Gut, sehr gut!« schrie Knefhausen. »Sie werden sehen, das wird alles rechtfertigen. Aber was sagen sie? Haben Sie gute wissenschaftliche Mitarbeiter, die es interpretieren können? Können Sie den Inhalt verstehen?« »Das nicht gerade«, erklärte Amos, »weil es da nämlich eine kleine Schwierigkeit gibt, auf die die Leute in der Dechiffrier-Abteilung absolut nicht vorbereitet waren. Die Botschaft war nicht chiffriert. Sie kam im Klartext durch, aber in chinesischer Sprache.« CONSTITUTION SECHS Betr.: CONSIX T51/1 1055+7 STRENG GEHEIM Botschaft des U.S. Sternenschiffs Constitution. Die folgende Botschaft wurde von der DechiffrierAbteilung entsprechend den bestehenden Vorschriften aufgenommen und behandelt. Ihrer besonderen Natur wegen wurde eine Untersuchung eingeleitet,
um ihre Herkunft zu bestimmen. Die Richtungsangaben von der Farside-Basis weisen darauf hin, daß die Signale aus einer Richtung kamen, die dem Standort der Constitution entspricht der für den jetzigen Zeitpunkt vorhergesagt war. Die Signalstärke war hoch, lag aber in den möglichen Grenzen. Die Frequenzveränderungen entsprachen durchaus den relativistischen Verschiebungen und der Streuung durch Partikel und Gaswolken. Obwohl die verfügbaren Daten nicht zweifelsfrei beweisen, daß die Übertragung von dem Sternenschiff ausging, kann dies angenommen werden; es wurden keine Hinweise gefunden, die dem widersprechen würden. Die Überprüfung des Textes ergab, daß es sich um die phonetische Übertragung eines Dialektes des Mittleren Königtums Mandarin zu handeln scheint. Bis jetzt konnte nur eine teilweise Übersetzung fertiggestellt werden. (Siehe Anmerkung am Ende des Textes.) Die Übersetzung bereitete aus zwei Gründen ungewöhnliche Schwierigkeiten: Erstens war es schwierig, einen Übersetzer mit ausreichenden Fähigkeiten zu finden, dem der entsprechende Geheimhaltungsstatus zugebilligt werden konnte. Zweitens ist anzunehmen, daß die benützte Sprache keinem bestehenden Dialekt genau entspricht, sondern eine von der Besatzung der Constitution entwickelte Kunstsprache darstellt. (Siehe ABSCHN. ACHT.) Dieser Text ist eine VORLÄUFIGE UND NICHT BESTÄTIGTE FASSUNG, die nur als erster Versuch gelten kann, die Inhalte der Botschaft ins Englische zu übertragen. Die Bemühungen, die ganze Botschaft zu übertragen, werden fortgesetzt, um eine weniger
zweifelhafte Fassung herzustellen. Spätere Fassungen und Verbesserungen werden durchgegeben, sobald sie verfügbar sind. TEXT FOLGT: ABSCHN. EINS. Der eine, der für alle spricht – LtCol Sheffield N. Jackman – ruht. Gute Taten befreien von weiteren Pflichten. Ich – Identität nicht sicher, aber vermutlich Mrs. Annette Marin Becklund, weniger wahrscheinlich eines der drei anderen weiblichen Besatzungsmitglieder oder eine ihrer Nachkommen – nehme seine Stelle ein, bewegt durch Wohltätigkeit und Liebe. ABSCHN. ZWEI. Es genügt nicht, sich mit den Taten zu beschäftigen, die die Menschen dazu bewegen, die Stirn in Falten zu legen oder den Kopf zu neigen. Es genügt nicht, die Natur des Himmels oder des Meeres zu verstehen. Nur indem man alles zugleich versteht, kann man sich der Weisheit nähern, und nur durch Weisheit kann man richtig handeln. ABSCHN. DREI. Dies sind die Regeln, wie wir sie zu sehen gelernt haben: ABSCHN. VIER. Derjenige, der seinen Willen einem anderen aufzwingt, entbehrt der Gerechtigkeit. Er soll von einem Felsen geworfen werden. ABSCHN. FÜNF. Derjenige, der einen anderen veranlaßt, nach einem Stück geschnitzten Holzes oder einer Süßigkeit zu gieren, entbehrt der Höflichkeit. Er soll daran gehindert werden, weiterhin falsch zu handeln. ABSCHN. SECHS. Derjenige, der einen Knoten knüpft und sagt: »Es geht mich nichts an, wer ihn wieder auflösen muß!« ... entbehrt der Voraussicht. Er soll die Geschwüre der Armen waschen und die Nachttöpfe aller tragen, damit er zu verstehen lernt,
daß der kommende Tag der Bruder des heutigen Tages ist. ABSCHN. SIEBEN. Wir, die wir hier sind, sollten euch, die ihr dort seid, unseren Willen nicht mit Gewalt aufzwingen. Das Verstehen kommt spät. Wir bedauern den Zwischenfall in der nächsten Woche, denn er wurde in Eile und im Irrtum begangen. Derjenige, der für alle spricht, handelte ohne zu denken. Wir, die wir hier sind, haben es danach bereut. ABSCHN. ACHT. Ihr werdet euch wundern – wörtlich: die gedankenlosen Fragen des Hexagramms stellen –, warum wir in dieser Sprache sprechen. Das geschieht der Unterhaltsamkeit wie auch der neuen Erkenntnismöglichkeit wegen – wörtlich: weil man mit der Schlaghand besser zuzuschlagen lernt, wenn die Schläge mehrmals ausgeführt werden –, aber die Natur dieses Vorgangs ist von solcher Art, daß ihr ihn selbst erproben müßt, bevor euch gesagt werden kann, was es ist. Unsere Schritte haben diesen Pfad geebnet. Um die Teile des I Ching wiederherzustellen, war es zunächst notwendig, das Deutsch der Übersetzung wiederherzustellen, von der die englische Übertragung gemacht wurde. Fehler lauern dabei an jeder Ecke. (Wörtlich: Falsche Erscheinungen rufen dir jedesmal zu, wenn der Pfad sich windet.) Viele Schnitzer zieren unsere Skulptur. Beobachtet es schweigend für Stunden und Tage, bis die Fehler Teile des Werkes werden. ABSCHN. NEUN. Es wird gesagt, daß ihr noch acht Tage habt, bevor die schweren Partikel ankommen. Der Toten und Verletzten werden wenige sein. Es wird empfohlen, alle in Fluggeräten installierten Kernreaktoren sicher zu Boden zu bringen, bis der
Zwischenfall vorüber ist. ABSCHN. ZEHN. Wenn ihr den Wiederaufbau vollendet habt, dann sendet uns eine auf den Planeten Alpha-Aleph gerichtete Botschaft. Unser neues Heim sollte bis dahin vorbereitet sein. Wir werden eine Fähre senden, um Kolonisten über den Strom zu helfen, wenn wir bereit sind: Der obige Text umfaßt die ersten 852 Gruppen der Übertragung. Der Rest des Textes, der etwa 7500 Gruppen umfaßt, konnte nicht zufriedenstellend übersetzt werden. Nach Meinung eines Beraters von der Abteilung für orientalische Sprachen an der JohnHopkins-Universität könnte es sich dabei um ein Gedicht handeln. gez. Durward S. RICHTER Durward S. RICHTER Generalmajor, USMC Leiter der Dechiffrier-Abteilung Verteiler: XXX NUR PERSÖNLICH WEITERREICHEN! WASHINGTON SECHS Der Präsident der Vereinigten Staaten – Washington – öffnete das Sturmfenster seines Arbeitszimmers und beugte sich nach draußen, um seinen wissenschaftlichen Chefberater zu rufen: »Harry, mach ein bißchen schneller! Wir warten auf dich!« Harry sah hoch, winkte und fuhr dann fort, sich verbissen durch die triefend nasse Wildnis zu pflügen, die der nördliche Rasen des Weißen Hauses darstellte. Zwischen dem wuchernden Unkraut und dem Regen und dem Schlamm kam er nur langsam vor-
wärts, aber der Präsident hatte nur wenig Verständnis dafür. Er schlug das Fenster heftig zu und sagte: »Dieser Mann trödelt nur herum, um mich zu verärgern. Wie lange soll ich denn noch auf ihn warten, damit ich entscheiden kann, ob wir die Hauptstadt verlegen müssen?« Die Vizepräsidentin sah von ihren Stricksachen hoch. »Jimbo, Liebling, warum regst du dich über so etwas nur auf? Warum verlegst du die Hauptstadt nicht einfach, damit die Sache erledigt ist?« »Nun ja, das würde einfach keinen guten Eindruck machen.« Er ließ sich unentschlossen auf einen Stuhl fallen. »Und ich habe mich schon so auf die 10. Jubiläumsparade eingestellt«, beschwerte er sich. »Zehn Jahre, damit kann man schließlich wirklich prahlen! Und ich will das nicht in der hintersten Provinz zelebrieren, sondern in der Constitution Avenue, genau wie in den alten Tagen, mit jubelnden Leuten und Reportern und Kameras überall. Dann soll dieser Hurensohn in Omaha noch einmal sagen, daß ich nicht der wirkliche Präsident sei.« »Reg dich wegen dem doch nicht auf«, sagte seine Frau ruhig. »Aber weißt du, was ich gedacht habe, Liebling? Die Parade könnte in der Constitution Avenue vielleicht ein wenig dürftig wirken. Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich auf einer etwas kleineren Straße ohnehin viel besser machen würde.« Der Außenminister legte seine Patience-Karten auf den Tisch und sah interessiert hoch. »Muß ja nicht gleich Bethesda sein«, meinte er. »Ich habe da ein Stück wirklich schönes Land in der Nähe von Dulles, das vielleicht brauchbar ist. Es liegt ziemlich hoch.« »Ja, sicher. Es gibt da eine Menge schönes Land in
Richtung Virginia«, bestätigte die Vizepräsidentin. »Erinnerst du dich an unseren Ausflug nach deiner zweiten Inauguration? Das war in Fairfax. Da waren Berge rund herum. Wirklich schön.« Der Präsident schlug mit der Faust auf den Kaffeetisch und schrie: »Ich bin nicht der Präsident von Fairfax, ich bin der Präsident der U. S. of A! Wie heißt die Hauptstadt der U. S. of A? Washington! Mein Gott, könnt ihr euch nicht vorstellen, wie diese Witzbolde in Houston und Omaha und Salt Lake und alle anderen in Lachanfälle ausbrechen würden, wenn sie davon hörten, daß ich meine eigene Hauptstadt räumen mußte?« Er brach ab, weil sein wissenschaftlicher Chefberater zur Tür hereinkam, sich schüttelte und Schlamm verspritzte, während er seinen Regenumhang aus Ölleinwand ablegte. »Nun?« verlangte der Präsident. »Was haben sie gesagt?« Harry setzte sich. »Es ist furchtbar da draußen. Hat jemand eine trockene Zigarette?« Der Präsident warf ihm eine Packung zu. Harry rieb seine Finger an seinem Hemd trocken, bevor er eine herauszog. »Nun«, sagte er, »ich bin zu jedem Bootskapitän gegangen, den ich finden konnte. Sie haben alle dasselbe gesagt. Was sie von anderen Schiffen gehört, was sie selbst gesehen hatten. Es war immer das gleiche. Die Flut ist an der ganzen Küste entlang im Steigen.« Er sah sich nach Zündhölzern um. Die Frau des Präsidenten reichte ihm einen goldenen Zigarettenanzünder, auf dem das Große Siegel der Vereinigten Staaten prangte, und das er mit einiger Mühe zu entzünden vermochte. »Es sieht gar nicht gut aus, Jim-
my. Im Augenblick ist gerade Ebbe, und das ist gut, aber die Flut wird wiederkommen. Und morgen wird sie schon ein bißchen höher sein. Sie wird immer höher. Und es wird Stürme geben – nicht nur Regen wie jetzt. Ich meine, man muß damit rechnen, daß dann und wann ein tropisches Tief von den Bahamas herüberzieht.« »Wir sind hier doch nicht in den Tropen«, sagte der Außenminister verständnislos. »Das bedeutet es auch nicht«, erklärte der wissenschaftliche Berater, der früher einmal die Wetterberichte der lokalen ABC-Fernsehstation durchgegeben hatte, als es noch so etwas wie ein Fernsehnetz gab. »Es bedeutet Stürme. Hurrikane. Aber das ist noch nicht das schlimmste, sondern die Flut. Wenn das Eis schmilzt, dann wird sie unaufhörlich höher werden.« Der Präsident trommelte mit seinen Fingern auf den Kaffeetisch. Plötzlich schrie er: »Ich will meine Hauptstadt nicht verlegen!« Niemand antwortete. Seine Temperamentsausbrüche waren berühmt. Die Vizepräsidentin vertiefte sich wieder in ihr Stricken, der Außenminister nahm seine Karten auf und begann sie zu mischen, der Wissenschaftsberater hängte seinen Regenumhang sorgfältig an einen Haken an der Tür. »Ihr müßt das so sehen«, begann der Präsident, »wenn wir Washington räumen, dann werden all diese Lokaldeppen, die behaupten, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein, um so besser dastehen, und eine eventuelle Wiedervereinigung unseres Landes wird um so weiter in die Ferne rücken.« Einen Augenblick lang bewegten sich seine Lippen lautlos, dann explodierte er erneut: »Es geht mir ja gar nicht
um mich selbst! Darum ging's nie. Ich will nur die Rolle spielen, die ich im Interesse von uns allen spielen muß, und das bedeutet, daß ich meine Position als der wirkliche Präsident der Vereinigten Staaten aufrechterhalten muß, entsprechend der veränderten Verfassung der U. S. of A. Und das bedeutet verdammt nochmal, daß ich genau hier im Weißen Haus bleiben muß, was immer geschieht!« Seine Frau unterbrach ihn zögernd. »Liebling, wie wäre es damit? Die anderen Präsidenten haben sich früher eine Sommerresidenz gehalten – Camp David und so. Niemand regte sich deswegen auf. Warum sollten wir nicht das gleiche tun können? Ich wüßte da eine nette alte Farm in der Nähe von Fairfax, die man sich wirklich schön herrichten könnte.« Der Präsident sah sie überrascht an. »Das hört sich wirklich nicht schlecht an«, erklärte er. »Nur können wir nicht für dauernd von hier weg und müssen das Weiße Haus mit einer Garnison belegt lassen, damit es uns niemand abnehmen kann. Wir müßten eben dann und wann zurückkommen. Wie wäre das, Harry?« »Wir könnten vielleicht Boote bieten«, sagte der wissenschaftliche Berater nachdenklich. »Kommt darauf an. Ich weiß nicht, wie hoch das Wasser noch steigen wird.« »Ich will kein ›vielleicht‹ und kein ›kommt darauf an‹ hören! Das ist eine Angelegenheit von nationaler Priorität. Wir müssen es so und nicht anders durchführen, damit dieser Hundesohn in Omaha nicht vergißt, wer der wirkliche Präsident im Lande ist.« »Jimbo, Liebling«, sagte die Vizepräsidentin einen Augenblick später, durch seine Zustimmung zu ihrem Vorschlag mutiger geworden, »du mußt doch
zugeben, daß dich die meisten längst vergessen haben. Wann hat dir denn zum letztenmal jemand Steuern gezahlt?« Der Präsident sah sie über seine Brillengläser hinweg mit einem Ausdruck listiger Verschlagenheit an. »Da wir gerade davon reden«, sagte er, »ich glaube, daß es eine kleine Überraschung für die Leute draußen geben wird. Was man eine Geheimwaffe nennen könnte ...« »Ich hoffe nur, daß du damit mehr Erfolg hast als mit deinem letzten Krieg«, gab seine Frau zurück. »Oder weißt du nicht mehr, wie wir diesen Aufstand in Frederick, Maryland, niederschlagen wollten und dafür ohne große Umstände in die Flucht geschlagen wurden?« Der Präsident stand auf, um anzuzeigen, daß die Kabinettssitzung beendet war. »Keine Sorge«, sagte er unbekümmert. »Harry, du gehst wieder nach draußen und siehst nach, ob du in der Kongreß-Bibliothek noch irgendwelche brauchbaren Landkarten auftreiben kannst, die noch nicht verbrannt worden sind. Such uns ein nettes Gelände aus, möglichst im Umkreis von sagen wir zwanzig Meilen. Das werden wir dann von der Armee als unsere Sommerresidenz beschlagnahmen lassen, wie Mae vorgeschlagen hat, und vielleicht können wir dann zur Abwechslung wieder in Betten schlafen, die nicht schon halb vermodert sind.« Seine Frau sah ihn leicht irritiert an. »Was hast du vor, Jim?« Er kicherte leise. »Ich werde jetzt nach meiner Geheimwaffe sehen.« Er komplimentierte sie aus seinem Arbeitszimmer.
Nachdem sie gegangen waren, ging er selbst in die Küche und holte sich aus der Sechserpackung im offenen Kühlschrank eine Flasche Bier, die natürlich warm war. Der Reparaturdienst der Marineeinheit versuchte noch immer, den Gasgenerator wieder in Betrieb zu nehmen aber bis jetzt ohne spürbaren Erfolg. Nicht, daß es dem Präsidenten etwas ausmachte. Sie waren seine treuen Prätorianer, und auch wenn sie in der Wartung von Gerätschaften nicht gerade überragende Dienste leisteten, so hatten sie doch längst ihren Wert bewiesen, als die Karten zu seinen Ungunsten standen. Der Präsident hatte noch nicht vergessen, daß er während der Großen Krise nicht mehr als ein einfacher Kongreßabgeordneter gewesen war – dem ein freigewordener Sitz im Kongreß zugewiesen worden war; der seinen raschen Aufstieg zum Sprecher des Weißen Hauses und Kronprinzen und schließlich zur Präsidentschaft nicht nur seinem politischen Geschick zu verdanken hatte, sondern der Tatsache, daß er der einzige entfernt in Frage kommende Anwärter auf die Präsidentschaft war, dessen Schwager zufällig die Marinegarnison in Washington kommandierte. Tatsächlich war der Präsident mit dem Lauf der Welt ganz zufrieden. Wenn er die Präsidenten der Vergangenheit beneidete – die noch mit Raketen, atomar bewaffneten Angriffsbombern und Milliarden von Dollars spielen konnten –, so sah die Sache doch schon ganz anders aus, wenn er die Welt um sich herum ansah, wenn er seine eigene Position an der gegenwärtigen Wirklichkeit maß, in der er lebte. Er nahm den letzten Schluck aus der Flasche und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers einen Spalt
breit, um nach draußen zu spähen. Niemand war in der Nähe. Er schlüpfte hinaus und ging leise die Hintertreppe hinunter. In dem, was einmal die öffentlichen Bereiche des Weißen Hauses gewesen waren, konnte man die Beschädigungen besonders deutlich sehen. Nach den Unruhen, Plünderungen, Verbrennungen und immer neuen Putschversuchen war die Bereitschaft zu Reparaturen und Ausbesserungen allmählich geschwunden. Nicht, daß es dem Präsidenten etwas ausmachte. Er bemerkte die verkohlten Wände und den heruntergefallenen Putz nicht einmal. Er horchte auf das sich entfernende Geräusch der Benzinpumpe, während er sich dem Untergeschoß näherte, in dem seine Geheimwaffe eingeschlossen war. Die Geheimwaffe, die auf den bürgerlichen Namen Dieter von Knefhausen hörte, mühte sich mit der Vollendung der unangreifbaren Verteidigung einer jeden Handlung seines Lebens, die er auch als seine Memoiren bezeichnete. Er war mit dem Lauf der Welt weit weniger zufrieden als der Präsident. Er hätte sich manches anders wünschen können. Vor allem fehlte ihm eine bessere Gesundheit; er war sich sehr wohl dessen bewußt, daß seine allgemeine Überbeanspruchung, seine Bronchitis und seine Gicht die letzten Schlachten eines totalen Krieges ausfochten, um letztendlich festzustellen, wem die Ehre bleiben würde, ihr gegenseitiges Schlachtfeld zu zerstören: ihn selbst. Die fehlende Freiheit ging ihm weniger ab, um so mehr traf ihn dafür die sinnlose Zerstörung so vieler seiner Manuskriptseiten.
Das Originalmanuskript seiner Autobiographie war schon lange verloren, aber er hatte den Präsidenten – vielmehr den Heuchler, der sich selbst als Präsident ausgab – zu überreden vermocht, daß er jemanden nach den verbliebenen Resten suchen ließ. Ein paar zerfetzte und unvollständige Kohledurchschläge waren wieder aufgetaucht. Er hatte einige der Lücken ausgefüllt, so gut es sein Gedächtnis und die verfügbaren Unterlagen erlaubten. Noch einmal hatte er aufgeschrieben, wie er damals als Projekt AlphaAleph geplant hatte – und er berichtete dabei in allen Einzelheiten, wie er gelogen, betrogen und gefälscht hatte, um es verwirklichen zu können. Er war dabei so ehrlich, wie er nur konnte. Er versuchte sich selbst nicht zu schonen. Er gab seine Beteiligung an dem »zufälligen« Tod von Ann Barstows erstem Ehemann bei einem Autounfall zu, der es ihr möglich gemacht hatte, den Mann zu heiraten, den er ausgewählt hatte, am Flug zum Alpha Centauri teilzunehmen. Er gab auch zu, daß er gewußt hatte, daß sich das Geheimnis nicht für die Dauer des ganzen Fluges würde halten lassen – womit er den Präsidenten verraten hatte, der die Verwirklichung seines Plans erst möglich gemacht hatte. Er führte alles an, alles, woran er sich erinnern konnte, und rühmte sich seines Erfolgs. Denn für ihn war der Erfolg längst schon bewiesen. Womit konnte das besser belegt werden als mit dem, was vor zehn Jahren geschehen war. Der »Zwischenfall in der nächsten Woche« war so dramatisch und eindeutig gewesen, wie man es sich nur wünschen konnte. Wenn die Einzelheiten noch immer nicht zu verstehen waren, weil es alle vorher bestehende
Technologie zunichte gemacht hatte, so wußte man doch im großen und ganzen, was geschehen war. Der Schauer von schweren Partikeln – Baryonen? Vielleicht sogar Quarks? – war wie ein weltweiter Regen über die Erde gekommen. Als Quelle konnte ein Punkt im Himmel ausgemacht werden, der mit der angenommenen Position der Constitution identisch war. Außerdem hatte man die Botschaften empfangen; zusammengenommen entkräfteten sie jeden möglichen Zweifel daran, daß die Astronauten ein so weit fortgeschrittenes Wissen entwickelt hatten, daß sie in der Lage waren, der irdischen Menschheit aus der Entfernung von Lichtjahren »ihren Willen aufzuzwingen«. Sie hatten es getan. Mit einem Niederschlag von Partikeln war der gesamte militärischindustrielle Komplex des Planeten außer Funktion gesetzt worden. Aber wie nur? Wie? Das, überlegte Knefhausen mit einem Anflug von Neid und Stolz zugleich, war die entscheidende Frage. Aber man konnte einfach nicht draufkommen. Was man wußte, war nur, daß jede Art von nuklearer Vorrichtung – Bombe, Reaktoranlage, Strahlungsquelle im Krankenhaus, Vorräte an spaltbaren Materialien – gleichzeitig den Strom von Partikeln aufgesaugt und damit aufgehört hatte, eine Quelle nuklearer Energie zu sein. Es war nicht schnell und katastrophenartig geschehen ähnlich der Explosion einer Bombe, sondern langsam und lange anhaltend. Die Vorräte an Uran und Plutonium schmolzen einfach dahin in einem langsamen, stetigen Prozeß, der noch immer in diesen siedenden Lavaseen vor sich ging, wo einst die Reaktoren gestanden und
durch Kernspaltung elektrische Energie geliefert hatten. Dabei wurde nur wenig Strahlung frei, aber sehr viel Hitze. Knefhausen hatte es schon lange aufgegeben, zu bedauern, was nicht mehr geändert werden konnte, aber insgeheim sehnte er sich noch immer nach einer Möglichkeit, die gesamte Hitzeabgabe genau zu messen. Er war sich dessen sicher, daß es nicht weniger als 1016 Watt-Jahre sein konnten, wenn man von den Auswirkungen auf die Erdatmosphäre ausging, den Stürmen, dem allmählich und überall stattfindenden Temperaturanstieg – und vor allem waren da die Gerüchte über einen Anstieg der Meereshöhe, die auf das Schmelzen der polaren Eiskappen hinwiesen. Es gab längst kein funktionierendes Wetterbeobachtungsnetz mehr, aber wenn er die ihm verfügbaren stückweisen Informationen zusammensetzte, dann mußte er eine weltweite Zunahme von vier, vielleicht sogar schon sechs oder sieben Grad Celsius annehmen, und hitzeerzeugende Reaktionen gingen noch immer in der Tschechoslowakei, dem Kongo, in Colorado und in etwa hundert weniger bedeutenden Katastrophenorten vor sich. Gerüchte wegen der Meereshöhe? Nein, das waren keine Gerüchte, korrigierte er sich selbst, während er seinen Kopf anhob und die Schleife des festen Gummischlauchs anstarrte, die unter den Lattenrosten am entfernten Ende des Raums begann und außerhalb des vergitterten Fensters endete, wo die Benzinpumpe ihr bestes tat, um den Wasserstand innerhalb seiner Zelle unterhalb der Bretter zu halten. Der Menge des eindringenden Wassers nach zu urteilen, mußte der Grund des Weißen Hauses fast
schon unter Wasser liegen. Die Tür ging auf. Der Präsident der Vereinigten Staaten (Washington) kam herein, während er auf die Schulter des dünnen, verängstigten, ausgehungert wirkenden Jungen klopfte, der die Tür bewachte. »Wie geht es denn immer, Knefhausen?« begann der Präsident mit viel Jovialität in der Stimme. »Sind Sie schon so weit, daß Sie ein bißchen Vernunft annehmen wollen?« »Ich werde tun, was immer Sie verlangen, Herr Präsident, aber wie ich Ihnen schon gesagt habe, gibt es da gewisse Grenzen. Ich bin kein junger Mann mehr, und meine Gesundheit –« »Zum Teufel mit Ihrer Gesundheit und ihren Grenzen!« schrie der Präsident. »Legen Sie sich nicht mit mir an, Knefhausen!« »Es tut mir leid, Herr Präsident«, wisperte Knefhausen. »Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich urteile nur nach Ergebnissen. Sie wissen sicherlich, was diese Pumpe am Laufen hält, damit Sie nicht ertrinken? Benzin ist rationiert, Knefhausen! Es bedarf großer nationaler Dringlichkeit, wenn man es bekommen will. Ich weiß nicht, wie lange ich diese andauernde Verschwendung unserer Energievorräte noch werde rechtfertigen können, wenn Sie nicht zur Zusammenarbeit bereit sind.« Resigniert, mit einem leichten Anflug von Trotz, erklärte Knefhausen: »Soweit ich dazu fähig bin, Herr Präsident, werde ich mit Ihnen zusammenarbeiten.« »Ja. Sicher.« Der Präsident war heute in einer außergewöhnlich guten Stimmung, stellte Knefhausen mit der für einen langjährigen Gefangenen typischen
paranoiden Aufmerksamkeit für Einzelheiten fest, bevor der Präsident fortfuhr: »Schön, lassen wir das erst einmal. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Sagen Sie ein Wort, und ich werde diesen blöden Hundesohn Harry Stokes feuern und Sie zu meinem wissenschaftlichen Chefberater machen. Wie fänden Sie das denn? Wieder ganz oben. Ein eigenes Apartment. Elektrisches Licht! Diener – Sie können sie selbst aussuchen, und wir haben auch ein paar nette Mädchen dabei. Das beste Essen, von dem Sie je geträumt haben. Die Gelegenheit, den U. S. of A. einen wirklichen Dienst zu leisten, indem Sie mithelfen, dieses große Land wiederzuvereinigen und es erneut zu jener Großmacht werden zu lassen, die es sein sollte und sein muß!« »Herr Präsident«, sagte Knefhausen, »natürlich möchte ich in jeder nur möglichen Weise helfen, aber das haben wir doch schon oft genug durchgesprochen. Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, aber ich weiß wirklich nicht, wie man die Bomben wieder einsatzbereit machen kann. Sie wissen, was geschehen ist, Herr Präsident.« »Habe ich vielleicht von Bomben geredet? Sehen Sie, Kneffie, ich bin ein vernünftiger Mann, mit dem sich reden läßt. Wie wäre es damit: Sie versprechen mir, daß Sie Ihre wissenschaftlichen Bemühungen in jeder möglichen Weise einsetzen. Sie sagen, daß es nicht mehr möglich ist, Bomben zu aktivieren; in Ordnung. Aber es wird andere Dinge geben, die möglich sind.« »Was für andere Dinge, Herr Präsident?« »Drängen Sie mich nicht, Knefhausen. Einfach alles andere. Alles, was Sie im Dienste Ihres Landes leisten können. Sie geben mir dieses Versprechen, und Sie
können noch heute diesen Raum verlassen. Oder wäre es Ihnen lieber, daß ich einfach diese Pumpe abdrehe?« Knefhausen schüttelte den Kopf, nicht um zu verneinen, sondern als Ausdruck seiner Verzweiflung. »Sie wissen nicht, was Sie von mir verlangen. Was kann ein Wissenschaftler denn heute noch für Sie tun? Vor zehn Jahren, ja – oder vor fünf Jahren. Wir hätten damals vielleicht etwas ausarbeiten können, ich weiß nicht was. Aber jetzt existieren die Vorbedingungen nicht mehr. Als alle nuklearen Anlagen aussetzten – als die von ihnen abhängigen Fabriken keine Energie mehr erhielten – als die Düngemittelwerke keinen Stickstoff mehr binden und die Hersteller von Insektenvernichtungsmitteln nicht mehr liefern konnten – als die ersten Menschen am Hungertod starben und die Seuchen sich auszubreiten begannen –« »Das weiß ich alles, Knefhausen. Ja oder nein?« Der Wissenschaftler zögerte und sah sein Gegenüber gedankenvoll an. Ein Schimmer des früheren Scharfsinns erschien in seinen Augen. »Herr Präsident«, sagte er langsam. »Sie wissen etwas. Es muß etwas passiert sein.« »Richtig«, triumphierte der Präsident. »Sie sind klug. Und jetzt raten Sie mal, was ich weiß.« Knefhausen schüttelte den Kopf. Nach sieben Jahrzehnten vitalen Lebens und einem weiteren Jahrzehnt des langsamen Sterbens war es schwierig, noch einmal zu hoffen. Dieser furchtbare kleine Mann, dieser Emporkömmling, dieser Gauner – er war nicht ohne eine gewisse animalische Schläue, und er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. »Bitte, Herr Präsi-
dent. Sagen Sie es mir.« Der Präsident hielt einen Finger an die Lippen und lauschte dann mit einem Ohr an der Tür. Als er überzeugt schien, daß niemand zuhörte, ging er näher an Knefhausen heran und sagte leise: »Sie wissen, daß ich überall meine Handelsvertreter habe, Knefhausen. Und Handel zu treiben, ist nicht ihre einzige Aufgabe. Manchmal erfahren sie wichtige Dinge und berichten sie mir. Wollen Sie wissen, was mir mein Mann in Anaheim eben berichtet hat?« Knefhausen antwortete nichts, aber seine wäßrigen alten Augen blickten flehentlich. »Eine Botschaft«, flüsterte der Präsident. »Von der Constitution?« schrie Knefhausen. »Aber nein, das ist unmöglich! Farside gibt es längst nicht mehr, Goldstone ist zerstört, die Satelliten –« »Es war keine Funkbotschaft«, erklärte der Präsident. »Es kam von Mount Palomar. Nicht durch das große Teleskop, das ist auch schon längst zerstört, sondern durch etwas, was sie ›Schmidt‹ nennen. Was immer das ist. Es gibt da oben noch immer ein paar komische alte Käuze, die dann und wann einen Blick hindurchwerfen, der alten Zeiten wegen. Und sie haben eine Botschaft in Form von Laserstrahlen empfangen. In einfachem Morsekode. Aus der Richtung von Alpha Centauri, wie sie gesagt haben. Von Ihren kleinen Freunden, Knefhausen.« Er holte ein Stück Papier aus seiner Tasche und hielt es hoch. Knefhausen wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, aber er vermochte noch zu krächzen: »Geben Sie es mir!«
Der Präsident hielt es weiter weg. »Gilt der Handel, Knefhausen?« »Ja, ja. Alles, was Sie wollen, aber geben Sie mir die Botschaft!« »Aber natürlich«, lächelte der Präsident und reichte ihm das vielfach zusammengefaltete Stück Papier. Es besagte: IHR SOLLT WISSEN, DASS WIR DEN PLANETEN ALPHA-ALEPH ERSCHAFFEN HABEN. ER IST GROSS UND WUNDERSCHÖN. WIR WERDEN UNSERE FAHREN SENDEN, UM GEEIGNETE PERSONEN FÜR DIE ÜBERSIEDLUNG NACHZUHOLEN UND EINIGE ANDERE DINGE ZU VOLLENDEN. UNSERE BESTEN GRÖSSE AN DR. DIETER VON KNEFHAUSEN, MIT DEM WIR VIELES ZU BESPRECHEN HABEN. ERWARTET UNS INNERHALB VON DREI WOCHEN NACH ANKUNFT DIESER BOTSCHAFT. Knefhausen las es zweimal, starrte den Präsidenten an und las es noch einmal. »Ich ... ich bin sehr froh«, sagte er unsicher. Der Präsident nahm es ihm mit einem schnellen Griff wieder aus der Hand, faltete es zusammen und steckte es in seine Tasche zurück, als ob die Botschaft selbst der Schlüssel zur Macht sei. »Sie sehen also«, sagte er, »wie einfach es ist. Sie helfen mir, ich helfe Ihnen.« »Ja. Ja, natürlich«, sagte Knefhausen und sah ausdruckslos an ihm vorbei. »Sie sind Ihre Freunde. Sie werden tun, was Sie sagen. All diese Wunder, von denen Sie sagten, daß sie sie vollbringen können –« »Ja, die Partikel, die Fähigkeit der Reproduktion,
die Fähigkeit, Gott schütze uns, einen Planeten zu erschaffen –« Knefhausen hätte überhaupt nicht mehr aufgehört, die erstaunlichen Fertigkeiten der Raumfahrer aufzuzählen, aber der Präsident zeigte seine Ungeduld: »Es ist also nur noch eine Frage von Tagen, bis sie hier sind. Sie können sich vorstellen, was sie mitbringen werden. Waffen, Werkzeuge, alles – und Sie brauchen sie nur dazu bringen, daß sie mich dabei unterstützen, die Vereinigten Staaten von Amerika zu ihrer alten Größe zurückzuführen. Das wird die Sache wert sein, Knefhausen! Auch für Sie. Sie werden –« Der Präsident hielt inne, sah den Wissenschaftler aufmerksam an. »Knefhausen!« schrie er dann und sprang nach vorn, um ihn zu halten. Es war zu spät. Der Wissenschaftler war kraftlos auf die Lattenroste gestürzt. Auf den Befehl des Präsidenten hin lief die Wache zum Arzt des Weißen Hauses, der so schnell herbeihinkte, wie es seine wunden Füße und sein in Bier aufgeweichtes Gehirn erlaubten; aber auch er kam zu spät. Für Knefhausen kam jetzt alles zu spät. Sein altes Herz hatte ihn genau zu dem Zeitpunkt im Stich gelassen – wie sich ein paar Tage später herausstellte –, als die großen goldenen Schiffe von Alpha-Aleph landeten und ihre kluge und stolze Besatzung zur Erde zurückkehrten, um diese Welt wieder in Ordnung zu bringen.
Originaltitel: THE GOLD AT THE STARBOW'S END Copyright © 1971 by Conde Nast Publications, Inc.