ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 52 von Colin Kapp R. A. Lafferty Sydney van Scyoc Laurence Yep Ryu Mitsuse
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 52 von Colin Kapp R. A. Lafferty Sydney van Scyoc Laurence Yep Ryu Mitsuse
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3166 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser und Bernt Kling
Umschlagillustration: Dell Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Stories aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Copyright © 1969 by Donald A. Wollheim und Terry Carr und WORLD’S BEST SCIENCE FICTION FOR 1972 Copyright © 1972 by Frederik Pohl Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03166 8
Keiner der Werftarbeiter wollte für die Piraten arbeiten, nicht einmal unter Todesdrohung. Die Stimmung war sehr aufgebracht gegen Jacobi, den man einen Quisling nannte, obgleich er keine Möglichkeit hatte, die von ihm erreichte Übereinkunft zu erklären und es auch gar nicht versuchte. Melanie war eine der letzten aus Timors Gefolgschaft, die die Werft verließen. Still ging sie zurück zu den anderen Frauen. Nur eines tat sie: Als sie durch das Tor schritt, spuckte sie Jacobi ins Gesicht. Ihr Blick verriet nicht Zorn, wie man hätte annehmen können, sondern Widerwillen und Verachtung, wie man sie bei etwas unsäglich Obszönem empfindet. Der Grund, warum Jacobi so unpopulär war, war klar. Die Piraten, die bereits Erfahrungen im Maschinenbau hatten, waren flugtechnisch weit überlegen… DURCHBRUCH DURCH DIE WOLKEN von Colin Kapp und weitere moderne Science-FictionStories bekannter Autoren.
Colin Kapp DURCHBRUCH DURCH DIE WOLKEN
1 Als er tiefer herunterging, erreichten ihn die Geräusche der Felder und Wälder mit jener unglaublichen Klarheit, die ihn immer wieder verblüffte, obgleich so ein Flug nichts Neues für ihn war. Nur ein leiser Lufthauch wehte, und nichts trübte die klare Vernehmlichkeit von Tierlauten und Vogelgezwitscher, während er sanft über dem Boden schwebte. Die Gegend war nicht reich, doch schien es auch an nichts zu mangeln, und das allein war in jener Zeit von unschätzbarem Wert. Nach dem kahlen Land im Norden und den Schlackengruben und schwarzen Spalten in den Ebenen beeindruckte ihn die grüne, lebensstrotzende Fruchtbarkeit um so mehr. Und am fernen Horizont machten die scharf gezackten, ins Meer abfallenden Berge verständlich, was Timor den Wolkenbauer veranlaßt hatte, seine Schiffswerften in diesem entlegenen Winkel der Welt einzurichten. Außer Timors Wolkenschiffen gab es kein Mittel, hierher zu gelangen, und nur sie ermöglichten auch den umgekehrten Weg. Es sei denn, man war tapfer genug oder hinreichend dumm, sich den Gefahren der See auszusetzen. Jacobi fand die Aussicht recht schön. Die Sonne stand hoch, war aber nicht so heiß, daß sein kleines Sonnensegel ihm ungenügend erschienen wäre. Die Luft war frisch und von jener kristallenen Klarheit, die für Augen und Lungen Balsam ist. Viel genauer noch, als er es vernünftigerweise hätte
erwarten können, trieb die leichte Brise ihn auf sein Ziel zu, als hätte er selbst ihre Richtung bestimmt. Dies war ein Tag für Vögel und Götter und für die, die auf den Schiffen der Wolkenbauer fuhren. Er hatte Brot und eingesalzenes Fleisch bei sich und süßen, fruchtigen Wein von der Ernte des letzten Jahres. Jetzt bereitete er sich ein Mahl. Über ihm schnurrte kaum vernehmbar der Brenner, und seine gleichmäßig bläuliche Flamme war unsichtbar geworden im grellen Sonnenlicht. Unter ihm strich der Schatten des großen Ballons über die Baumspitzen wie Aphrodites Finger, liebevoll gleichsam und mit sanfter Zärtlichkeit. Jacobi hatte das Gefühl, daß Catenor ihm gefallen würde. Obwohl seine Höhe sich langsam verringerte, machte er keine Anstalten, den Brenner nachzustellen. Zum einen befand sich nach dem langen letzten Abschnitt seiner Reise wenig Gas in den Behältern, und er war von der natürlichen Sparsamkeit eines Wolkenmannes. Zum anderen ließ die Tatsache, daß unter ihm der Wald zunehmend Farmland wich, darauf schließen, daß sein Bestimmungsort nicht mehr allzu weit war. Seinen Berechnungen zufolge würde sein gegenwärtiger Kurs ihn nahe genug an die Schiffswerften heranführen, so daß der Ausguckposten ihn sehen würde. Aufmerksam spähte er nach dem Rauchsignal, das ihm anzeigen würde, daß er gesichtet sei, und das außerdem über die günstigste Landezeit Aufschluß geben würde. Aber die günstigen Winde, die ihn von Annonay hierhergeführt hatten, hatten ihn schon mehrere Tage früher als vorhersehbar in die Nähe seines Bestimmungsortes gebracht. Daher würde niemand auf dem Ausguck sein, wenn nicht gerade eigene Schiffe zurückerwartet wurden. So kam es, daß er die Häuser der Stadt Catenor zwei Meilen zu seiner Rechten sah und seinen Brenner bereits ausgemacht hatte, als die Rauchsäulen zu seiner Begrüßung aufstiegen.
Jacobi suchte sich ein günstig gelegenes baumloses Feld aus und begann die Landung vorzubereiten. Vorsichtig zog er an den Leinen, die die großen ledernen Ventile an der Oberseite des Ballons steuerten, und entließ etwas von der Heißluft, die ihn trug, behielt aber genug davon zurück, um den Aufprall der Landung nicht allzu hart werden zu lassen. Bei fast idealen Bedingungen und mit Hilfe der Götter setzte er leicht auf wie ein Schmetterling. Als der Boden das Gewicht des Korbes aufnahm und die Tragseile schlaff zu werden begannen, öffnete er die Ventile voll. Die Brise ließ den in sich zusammensinkenden Ballon langsam neben dem Korb zu Boden gleiten, wo er sich vollends entleerte. Als die Pferdewagen kamen, um ihn zu holen, war die Hülle schon ordentlich zusammengefaltet und verstaut.
»Willkommen in Catenor!« Der Mann im ersten Wagen streckte ihm seine schwielige Hand entgegen. »So bald hatten wir Sie noch nicht erwartet.« »Die Götter waren gütig«, sagte Jacobi. »Ich hatte mindestens drei weitere Tage für die Reise veranschlagt.« Das zweite Fahrzeug kam hinzu, und man machte sich daran, die Ballonhülle, den Korb und die restliche Ausrüstung auf die Wagen zu laden. »Und wie geht es jetzt in Lyon zu?« fragte der Mann. »Turbulent, doch die Stadt gedeiht. Aber so war es ja immer. Sie kennen also Lyon?« »Ich ging dort in die Lehre, bevor ich nach Catenor kam.« »Ah! Jetzt verstehe ich, warum Ihre Leute so richtig zunftgemäß mit einem Schiff umgehen können. Sehnen Sie sich nicht nach Lyon zurück?« »Nein.« Der Mann fuhr sich mit den Fingern durch sein kurzgeschorenes Haar. »Lyon war nicht schlecht, aber es bietet
nicht die gleichen Aussichten wie Catenor. Der einzige wunde Punkt hier sind die Überfälle.« »Überfälle?« »Wolkenpiraten von irgendwo jenseits der Berge. Ein- oder zweimal im Jahr greifen sie die Dörfer an und holen sich Tiere oder Getreide oder irgend etwas anderes. Die letzten paar Male kamen sie sogar nach Catenor und auf die Werften. Wir haben jetzt unsere eigene Miliz, aber sie kann nicht überall gleichzeitig sein. Bis ein Kommando am Ort des Überfalls erscheint, sind die Räuber meistens schon mit ihrer Beute in den Wolken.« »Schlimm«, sagte Jacobi. »Was für eine Art von Schiffen benutzen sie?« »Verschiedene Arten. Schiffe, die sie überall in Europa gekapert haben. Manche sind gut, manche schlecht, aber es geht ein Gerücht, daß sie jetzt welche mit Motoren haben.« »Motoren?« echote Jacobi interessiert. »Ich habe davon gehört. Im Ural gibt es einen Wolkenmeister, der Motoren in seine Schiffe einbaut. Aber durch ihr großes Gewicht gehen die meisten Vorteile wieder verloren.« Jetzt war alles aufgeladen. Jacobi schwang sich auf den ersten Wagen, und die geduldigen Zugpferde wurden wieder angetrieben. Ein Glanz kam in seine Augen, als er von den Catenor umgebenden Feldern mehrere dicke Rauchsäulen aufsteigen sah. Fragend sah er seinen Gefährten an. »Oh, das?« meinte der Mann amüsiert. »Sie zünden Feuer an, um für das Fest, Ochsen zu braten. Heute abend werden Sie in der Stadt Ehrengast sein. Es dürfte ein Fest werden, an das man sich lange erinnern wird.« »Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Jacobi. »Grüßt ihr Gesellen immer so?« Sein Gefährte lachte. »Nicht oft. Aber erst muß ich Sie zu Timor bringen. Wenn ich Ihnen einen Tip geben darf:
Verbeugen Sie sich nicht vor ihm. Er respektiert Männer, die wissen, was sie wollen und was sie wert sind. Er hat weder Zeit für Narren, noch Mitleid mit ihnen. Er ist ein harter Mann, aber Sie werden sehen, er ist der beste Wolkenmeister von allen.« »Das habe ich gehört.« »Und mit Ihrer Hilfe werden wir eines Tages hier in Catenor Wolkenschiffe bauen, die besser sind als alles, was Annonay anzubieten hat.«
Timors Gesichtshaut war wie aus verrunzeltem Leder, und sein Ausdruck verriet eisernen Willen. Er nahm Jacobis Papiere und prüfte die Siegel eingehend, bevor er sein eigenes hinzufügte. Jacobi wollte ihm seinen Dolch überreichen, wie es die Zunftregel verlangte. Timors wettergegerbtes Gesicht verriet plötzlich ungläubiges Staunen. Er griff nach dem Dolch, schüttelte dann den Kopf. »Behalten Sie ihn, Geselle. Wenn die Räuber wiederkommen, werden Sie ihn vielleicht brauchen.« »Wolkenmeister, Sie wissen, daß ich das nicht tun kann.« Jacobi blieb fest. »Die Zunftregel verlangt, daß ich Ihnen meine Waffen übergebe. Dem Gesetz nach bin ich Ihr Diener, und Sie sind mein Beschützer, bis ich meine Arbeit hier getan habe. Das ist unser Kontrakt, und Sie und die Zunft haben ihn besiegelt.« »Sehr wohl!« Timors Augen verengten sich. »Aber nicht alle in Annonay gemachten Gesetze gelten auch in Catenor. Wenn die Räuber kommen und ich Ihnen eine Waffe in die Hand drücke, erwarte ich, daß Sie sie gebrauchen. Entweder erklären Sie sich jetzt damit einverstanden, oder Sie bringen Ihren kostbaren Kontrakt wieder der Zunft zurück.«
»Vielleicht hätten Sie einen Söldner anheuern sollen und nicht einen Gesellen?« »Zeus!« Zorn umwölkte Timors Gesicht. »Sie nennen sich einen Wolkenmann und würden nicht einmal, um sich selbst zu verteidigen, eine Waffe in die Hand nehmen? Was für Feiglinge zieht man heutzutage in Annonay heran? In meinen Werkstätten ist kein Platz für wehleidige Bürschchen ohne Waffen.« »Dann setzen Sie sich mit dem Zunftältesten auseinander, nicht mit mir«, sagte Jacobi ruhig. »Und wenn die Banditen kommen, was ist dann schwieriger – ihnen mit gezogener Waffe oder mit verschränkten Armen gegenüberzutreten?« »Aber was soll das für einen Sinn haben?« »Ein Geselle ist nur seinem Beruf verpflichtet. Jedermann, der den Preis der Gilde zahlen kann, kann ihn anheuern. Er darf nicht Partei ergreifen. Der nächste, der ihn verpflichtet, kann Ihr jetziger Feind sein.« »Sogar ein Wolken-Pirat?« »Jeder, der den Preis bezahlen kann. Die Zunftregeln machen da keinen Unterschied.« Das Gespräch hatte an der Innenseite des Portals von Timors Behausung stattgefunden und war deshalb nicht gestört worden. Doch wurde es jetzt durch Rufe von draußen unterbrochen, als sich die Willkommensprozession der Tür näherte. Jacobi sah Timor fest in die Augen. »Nun, Wolkenmeister, akzeptieren Sie den Vertrag, oder muß ich nach Annonay zurückkehren?« Draußen rief jemand Jacobis Namen. Eine Gruppe von Mädchen im Vordergrund tauschte kichernd Bemerkungen aus und sah dann wieder zum Tor herein. Alles war bereit für einen wildbewegten Karneval. Timor schürzte die ledernen Lippen. »Sie bleiben natürlich. Ich weiß nicht, ob mir die Zunft einen anderen schickt, wenn
ich Sie nach Annonay zurückgehen lasse. Die Nemesis soll sie holen. Allerdings liegt die Schuld bei mir. Ich bestand auf einem Gesellen mit festem Sinn und starker Hand. Jetzt sehe ich, daß ich den einen nicht vertragen und den anderen nicht gebrauchen kann.« Sein gegerbtes Gesicht verzog sich zu einem widerwilligen Lächeln. »Willkommen in Catenor, Jacobi. Wenn Sie den Rest Ihres Vertrages ebenso gewissenhaft erfüllen, werden wir sicher mit Ihnen zufrieden sein.«
Ganz Catenor schien für das Fest auf den Beinen zu sein. Und aus den umliegenden Gegenden, wo immer die Kunde sich verbreitet hatte, kamen die Landbewohner auf Wagen und Karren, zu Pferd und zu Fuß, um an der Feier teilzunehmen. Es war eine ideale Nacht. Klarer Himmel und balsamische Wärme lockerten die Stimmung, und der leichte Wind trug den verführerischen Duft von Holzfeuer und gebratenen Ochsen in die Stadt. Hängelampen zierten die Veranden der Häuser, und flammende Fackeln in den Händen der Menge erleuchteten die Straßen taghell. In ihren hellsten Kleidern wirkten die Mädchen wie schillernde Pfauen im flackerndem Licht, und über allem sah Dionysos aus den Wolken herunter und rieb sich die Hände und lächelte und nickte zustimmend. In rationalerer Umgebung aufgewachsen, war Jacobi verwundert über den heidnischen Enthusiasmus der Versammlung. Ein Gefühl der Erlösung von Furcht und Entbehrungen der Vergangenheit war spürbar; das konnte Jacobi nur schwer verstehen. Dann mündete die Woge der Gefühle plötzlich in eine spontane Flut der Begrüßung und des fröhlichen Feierns, die haushoch über allen zusammenzuschlagen schien.
Auf den Schultern wurde er durch die Stadt getragen und dann hinaus auf die Felder, wo im roten Schein der Feuer Männer das Aussehen von Göttern annahmen und Frauen das von Nymphen. Bier und Wein flossen in Strömen, und das Fest war die fröhliche, barbarische, gierige Parodie eines Mahles. Dann ging es wieder zurück in den Bierwagen und Weinfässern, und von dort wiederum in die tanzende Stadt, wo alle ihn beim Namen kannten und wie einen Freund behandelten. Obgleich die Eindrücke dieses Abends für ihn ein fortgesetzter Wirbel von Plätzen, Szenen und unzähligen Leuten waren, begann Jacobi allmählich, einzelne Gesichter wiederzuerkennen, die er öfter sah als andere. Eines davon gehörte einem bemerkenswert attraktiven dunkelhaarigen Mädchen, dessen ungehemmte Fröhlichkeit das Fest auf dem Feld belebt hatte. Er erinnerte sich, daß er später Wein mit ihr getrunken und sie dann – offenbar zufällig, noch einmal getroffen hatte, als es wieder in die Stadt zurückging. Jetzt stand sie ganz nahe bei ihm, fast einladend seinen Blick auf sich ziehend. Jacobi glaubte nicht an Glück, und auch nicht an versäumte Gelegenheiten. Das turbulente Gedränge nützend, schob er sich zu ihr hin, zog sie in eine Ecke und küßte sie. Das Mädchen reagierte nicht anders, als er erwartet hatte, die anderen Feiernden aber zeigten sich überrascht, fast betreten. Ihr Verhalten gab ihm das Gefühl, als hätte er, ohne es zu ahnen, etwas getan, das selbst in einer Stimmung wie dieser alle Vorstellungen von Kühnheit überstieg. Nachdem er den ganzen Abend willige Lippen geküßt hatte, fand er diesen Umstand verwirrend, ja unerklärlich. Dann stieß jemand einen Freudenruf aus, und andere nahmen ihn auf. Lachend nahm man ihn und das Mädchen auf die Schultern und trug sie im Triumphzug durch die Menge. Unglücklicherweise teilten sich die Wege der sie begleitenden
Gruppen, so entschwand sie langsam seinen Blicken. Als er sich wieder losgemacht hatte, war sie nirgends mehr zu sehen. Er suchte nicht lange. Am nächsten Tag würde er genügend Zeit haben, Erkundigungen einzuziehen; jetzt aber galt es zu feiern. Er traf eine andere fröhliche Gruppe, schloß sich ihr an, verlor sich bald in Wein, Lachen und heiterer Gesellschaft. Schließlich zog er mit ihnen zurück auf die Felder, wo man wieder Fleisch aß und Lieder sang, bevor man sich, müde und unendlich zufrieden, bei einem der großen wärmenden Feuer niederließ. Es war wirklich ein denkwürdiges Fest gewesen. Er hatte es sich gerade bequem gemacht und überdachte schläfrig die Ereignisse des Abends, als jemand Wein auf seinem Kopf verschüttete. Er fuhr verärgert herum, um das dunkelhaarige Mädchen zwischen den verschlungenen Schatten der um das kleiner werdende Feuer gelagerten Paare verschwinden zu sehen. Er war jetzt nicht dazu aufgelegt, ihr nachzulaufen, und nachdem sie ihn also gefunden hatte, war er sicher, daß sie zurückkommen würde. Er legte sich zurück und wartete, aber seine Muskeln waren angespannt wie die einer sprungbereiten Katze. Wieder traf ihn ein Spritzer Weines, und mit der Geschmeidigkeit eines Tigers fuhr er herum, erwischte sie am Handgelenk und hielt sie fest. Lachend ließ sie ihren Becher fallen und versuchte, sich ihm zu entwinden, fügte sich aber dann. »Sag mir«, begann Jacobi, »behandelt ihr in Catenor Gesellen immer so?« »Nicht sehr oft.« Ihre Augen, aus denen der Widerschein des Feuers funkelte, waren voll Mutwillen. »Aber heute ist auch ein ganz besonderer Tag.« »Was ist denn so besonders daran?« »Du bist gekommen«, sagte sie nur. Etwas an ihrer Art gab ihm das Gefühl, daß dies mehr war als ein kokettes
Kompliment. Er zog sie zu sich herunter und rollte sich dann auf die Seite. »Wie heißt du?« »Melanie.« Sie schmiegte sich an ihn. »Also gut, Melanie. Und jetzt sage mir, weswegen mein Kommen diesen Tag zu einem so besonderen macht.« »Weswegen?« Verwundert setzte sie sich auf. »Weil wir so lange auf dich gewartet haben – deswegen! Schon seit Jahren möchte Timor einen Gesellen von der Zunft, der ihn lehrt, wie man die neuen Schiffe baut. Die Zunft bot ihm Dutzende an, aber er zog es vor, auf Jacobi zu warten.« »Er hatte schon von mir gehört?« »Von dir gehört? Jacobi, was sagst du da? Drei Jahre hat er gewartet, um dich für die Werften zu bekommen. In diesen drei Jahren sind siebenmal die Banditen gekommen. Dreißig Männer sind bei den Kämpfen getötet worden, und mehr Frauen, als ich zu zählen wagte, wurden auf ihre Schiffe verschleppt. Das ist der Preis, den wir für unser Warten auf dich zahlten.« »Ich verstehe.« Jacobi verstand gar nichts, aber seine Erfahrung mahnte ihn zur Vorsicht. Wenn Piraten eine sonst statische Feudalgesellschaft angriffen, starben nicht alle Männer durch die Hände der Banditen, und nicht alle Frauen wurden gegen ihren Willen auf die Wolkenschiffe der Piraten verschleppt. Aber der Ruf, dessen er sich hier in Catenor erfreute, schien ihm unberechtigt zu sein. Andere Gesellen waren durch ihr Wissen oder ihre Geschicklichkeit oder dadurch, daß sie Partei ergriffen, zur Legende geworden. Seine ganze Liebe aber galt der Wissenschaft. Niemand hatte das Recht, ihn zu einem Halbgott zu machen. »Und du glaubst, daß jetzt alles anders wird, weil ich hier bin?« fragte er schließlich. Sie lachte. »Jacobi!«
»Ja?« »Du enttäuschst mich. Willst du die ganze Nacht reden?« Er zog sie an sich. »Tut mir leid. Ich muß so vieles überdenken.« Er wandte sich anderen, weniger bezweifelbaren Aspekten seines Berufes zu. Und am Morgen war sie ganz und gar nicht enttäuscht.
2 Catenor war eine saubere, angenehme Stadt wie die meisten Werftstädte, wo man Methangas zur Füllung der Wolkenschiffe verwendete. Dies war hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß für Zwecke der Gasproduktion eine Prämie auf zersetzbaren organischen Abfall ausgesetzt wurde. Die Werften lagen eine Meile von der Stadt entfernt, und auf der Straße zwischen der Stadt und den Werften fehlte es nicht an Hinweisen auf die gewaltigen unterirdischen Kammern, in die aller Unrat, alle Abfälle von Hof und Feld und die verdorbenen Überreste der Ernte gepumpt wurden. In diesen Kammern erzeugte Timor das Gas, das er selbst verbrauchte oder verkaufte; aus ihnen verteilte er zum Ausgleich für ihm geleistete Dienste den kräftigen Dünger, der in so vielen Meilen Umkreis den Boden fruchtbar hielt. In der Nähe der Werften drehte ein kleiner, aber reißender Fluß die Propeller, die Timors übelriechende Pumpen bewegten. Im eigentlichen Maschinenhaus ließ das Rattern und Heulen der Gaskompressoren keinen Zweifel am Vorhandensein dieser gewaltigen Apparaturen, die aber von der Straße aus nicht zu sehen waren. Das aufbereitete Gas wurde in starke, aber dennoch leichtgewichtige Behälter gepreßt, die die Brenner der Wolkenschiffe mit Energie
versorgten. Bei den letzten Piratenangriffen waren diese Behälter eines der Hauptziele der Banditen gewesen, die das energiereiche Gas ebenso sehr begehrten, wie sie es haßten, auch nur ein paar davon unbeschädigt zurückzulassen. Aus diesem Grunde hielt Timor seinen Vorrat an aufbereitetem Gas so gering wie möglich und schützte ihn mit einer starken Einfriedung. All das registrierte Jacobi an jenem ersten Morgen, als er von der Stadt zu den Werften ging. Mit kundigem Auge analysierte er alle Einrichtungen Timors, die er antraf. Timor der Wolkenmeister entstammte der alten Tradition der Wolkenmänner. Auf fast rein empirischer Basis baute er nichtsdestoweniger in seinen Werften Wolkenschiffe, deren Dauerhaftigkeit und Reichweite vielen technisch besser Begabten zum Neide gereichten. Nur unter Mithilfe der Zunft war es gelungen, bessere Schiffe als die Timors zu bauen, und jetzt versuchte Timor wieder aufzuholen, indem er Erfahrung und Wissen der Gilde importierte, um sie mit eigener Erfahrung und eigenem Können zu vermählen. Und es war ein Import, der fruchtbarer zu werden versprach, als Timor jemals gehofft hatte. Jacobi wußte, daß am Ende seines Vertrages in Catenor das Fauchen der atmosphärischen Maschinen dem schärferen Zischen und Rattern von Hochdruck-Dampfgeneratoren gewichen sein würde, und die Dampfturbine würde kurz vor ihrer Entdeckung stehen. Auch die Wasserschrauben würden wohl verschwunden sein, da neue, wirkungsvollere Gaskompressoren zur Ausmusterung der alten Pumpen führen würde. Vielleicht würden einige in Catenor, in Anwendung seiner Technik und Ideen, sogar mit der neuartigen, seltsamen Kraft zu experimentieren beginnen, die Elektrizität genannt wurde. All das würde ein Nebeneffekt seines Beitrages zu den Methoden des Wolkenschiffbaus sein.
Es war weniger als eine Stunde nach der Morgendämmerung, aber trotz der noch nächtlichen Kühle waren die Werften bereits voll Leben und Bewegung. Wo Zimmerleute Spanten und Decksbalken zuhauten, hörte man den harten Aufprall von Stahl auf festes Holz. In den Schmieden glühten die Eisen in regelmäßigem Rhythmus der Blasebälge, und Hammer und Amboß ließen Töne erschallen, denen nur die Melodie fehlte. Die Lieder der Frauen in der Spinnerei verrieten, daß die Herstellung von Tauen und Takelage gut von der Hand ging. Nur in einem der Schuppen herrschte wie immer Stille: Dort machten scharfäugige Näherinnen die Myriaden winziger Stiche, die notwendig waren für die Säume der Gewebe, aus denen die großen Ballone entstanden. Timor war in seinem Arbeitsraum. Jacobi klopfte und trat ein, ein wenig zögernd nach seiner ersten Begegnung mit dem Wolkenmeister. Seinem Rufe getreu kam Timor sogleich zur Sache. »Ist es wahr, Jacobi, daß auf den Werften der Gilde in Annonay Wolkenschiffe gebaut werden, die keines Brenners bedürfen?« Jacobi nickte. »Es stimmt. Sie sind mit einem Wasserstoff genannten Gas gefüllt, das leichter ist als die Luft selbst. Sie brauchen keine Heißluft.« »Leichter als Luft?« Es schien, als wollte Timor die Behauptung in Zweifel ziehen. Dann aber breitete er nur die Hände aus. »Wenn Sie es sagen, dann muß es so sein. Und diese Schiffe – können sie beständig in der Luft bleiben, ohne mit Brennstoff versorgt zu werden?« »Sie verlieren ein wenig Gas, das nachgefüllt werden muß. Aber grundsätzlich ist es so.« »Ich verstehe!« Timor überlegte einen Moment. »Dann hat also ein Schiff, das keines Brennstoffs bedarf, eine fast unbegrenzte Reichweite, und die Flugkosten sind niedrig?«
»Ja.« »Aber wenn sie all diese Vorteile haben, warum sehen wir dann nicht mehr von ihnen?« »Wir müssen noch Fortschritte machen, was Bau und Bedienung anbelangt, aber eines Tages wird es der Fall sein. Im Augenblick sind sie noch gefährlich und schwierig zu fliegen. Wegen der Art ihres Auftriebs ist es nicht leicht, Steigen und Sinken so unter Kontrolle zu halten wie bei einem normalen Wolkenschiff. Wenn man zwischenlanden will, um auf einen Wechsel der Windrichtung zu warten, bereitet das einige Mühe, und es ist besser, mit ihnen an Türmen anzulegen, als sie auf den Boden zu bringen.« »Seltsame Schiffe«, sagte Timor nachdenklich. »Könnten wir hier in Catenor eines davon bauen?« »Wenn Ihr Kohle, Ofenbauer und Kesselschmiede habt, ja. Alles, was sonst dazu nötig ist, habt Ihr bereits.« »Und Sie werden uns zeigen, wie es gemacht wird?« »Mein Wissen ist Ihres, Timor. Aber unterschätzen Sie nicht die Schwierigkeiten und Gefahren eines solchen Unternehmens.« »Schwierigkeiten und Gefahren gehören zum täglichen Umgang eines Wolkenmannes«, sagte Timor. »Aber ich werde daran denken. Bauen Sie mir ein Wasserstoffschiff, wie sie es in Annonay bauen. Was das Fliegen anbetrifft, so habe ich ein paar von den besten Wolkenmännern, die es gibt. Mit ihrem Geschick und Ihrem Wissen werden wir lernen, diese Schiffe zu zähmen. Wenn sie solche Eigenschaften haben, wie Sie sie beschreiben, dann werden Fahrzeuge aus Catenor eines Tages die ganze Welt umrunden.« Jacobi lächelte ein wenig. »Ein edles Unterfangen, Wolkenmeister.« »Ja! Aber kein unmögliches. Nach allem, was wir wissen, gelang es schon den Alten.«
»So will es die Legende.« »Legende?« Timor sah ihn direkt und herausfordernd an. »Ich hörte, daß in Annonay die Leistungen der Alten mehr als nur eine Legende seien.« Jacobi zuckte die Achseln. »Über Götter und die Alten gibt es stets viele Geschichten. Ich für meinen Teil finde es besser, die Zeit dem Studium des Wolkenschiffbaus zu widmen.« »So?« Timors Miene war kritisch. »Da geht Ihnen aber ein etwas anderer Ruf voraus. Es heißt, du besäßest eine profunde Kenntnis der Wissenschaft der Alten. Ich nehme an, daß Wolkenschiffe nur eine Anwendung davon sind.« Jacobi sah Timor fest in die Augen. »Eine reizvolle Spekulation, Wolkenmeister.« »Aber eine zutreffende, wie? Nein, machen Sie sich keine Gedanken. Alles, was zwischen diesen Wänden geschieht, bleibt unter uns beiden. Aber wenn wir zusammen arbeiten sollen, ist es besser, wenn wir einander voll und ganz verstehen.« »Ich denke, wir verstehen einander bereits, Wolkenmeister. Ich würde gern wissen, was Sie auf diesen Gedanken brachte.« »Deduktion. Gesellen der Gilde kommen immer, um zu lehren – nie, um zu lernen. Wer also lehrt die Gilde? Woher kommt all dieses Wissen?« »Das müssen Sie die Gildeältesten fragen.« »Das tat ich bereits, aber sie antworteten noch ausweichender als Sie. Die Nemesis hole sie! So ziehe ich also meine eigenen Schlüsse. Ich vermute, daß sie irgendein Orakel haben, irgendeinen Zugang zum Wissen der Alten.« »Selbst wenn es so wäre«, sagte Jacobi, »was würde das schon besagen?« Mit ausdrucksvoller Gebärde breitete Timor die Arme aus. »Wissen ist Macht, Jacobi. Und wenn ihnen dieses Wissen
zugänglich ist, dann muß die Gilde die stärkste Macht in der Welt sein.« »Aber das ist sie nicht«, sagte Jacobi mild. »Es sieht nicht so aus. Und das ist das eigenartige daran. Die Gilde ist einflußreich, ja, aber die Unterweisung im Bau von Wolkenschiffen ist alles, womit sie sich zu befassen scheint.« »Aber ist Ihre Theorie denn damit nicht widerlegt?« »Nein.« Die klugen Augen des Wolkenmeisters musterten aufmerksam Jacobis Gesicht. »Nein. Es bringt mich vielmehr zu der Annahme, daß sie guten Grund haben, sich so zu verhalten, wie sie es tun. Nur allzu gern möchte ich wissen, welches dieser Grund ist. Und ich beabsichtige auch, es herauszufinden. Ich warne Sie also, Jacobi. Wenn Sie Ihr Geheimnis für sich behalten wollen, seien Sie auf der Hut. Denn ich bin nicht der einzige, der an diese Theorie glaubt, und manche würden noch viel weiter gehen als ich, um die Antwort zu finden.«
Der große Koffer, der das wichtigste Stück seines Besitzes war, war mit zähem, von Wachspolitur glänzendem Leder überzogen und hatte Messingbeschläge und ein massives Scharnier. Das Schloß, ein Beispiel seltener Handwerkskunst, hatte nur äußerlich etwas gelitten, als ein Dieb sich einmal vergeblich bemüht hatte, es mit einer Eisenstange aufzubrechen. Doch wegen des angedrohten Diebstahles war Jacobi nicht besorgt. Unter den Messingbeschlägen und dem Leder und dem Eichenholz, das stellenweise an Ecken und Kanten hervorlugte, befand sich eine Kassette aus geschmiedetem Vanadiumstahl. Und die Zuhaltungen ihres Schlosses waren das Produkt eines anderen Zeitalters und würden mit den Kenntnissen und Werkzeugen, die Catenor aufzuweisen hatte, sicher nicht zu erbrechen sein.
Mit Bedacht hatte er sich seine Wohnung in der Stadt gesucht, weg von den Werften und den Unterkünften, die gewöhnlich gestellt wurden. Die Götter waren seiner Suche günstig gestimmt, und er hatte einen hohen, gut möblierten Raum direkt unter dem Dach eines Hauses gefunden, der sich über dessen ganze Grundfläche erstreckte. Mehrere Dachfenster ließen bei Tag reichlich Licht ein und erlaubten einen weiten Blick über die umliegende Gegend. Jetzt hatte er Gelegenheit, unter dem roh behauenen Balken des schrägen Daches allein und unbeobachtet zu sein. Jacobi versperrte die Tür. Dann öffnete er den Koffer und nahm einen Apparat heraus, den er auf den Tisch stellte. Er setzte ihn mit einem Knopfdruck in Gang und wartete ungeduldig auf die Anzeige der Funktionsbereitschaft. »Hier ist Jacobi. Ich rufe die Zentrale in Annonay.« Ein Augenblick verging, bevor der Apparat antwortete. »Hier ist die Zentrale in Annonay.« Die Stimme war von einem Geräusch begleitet, was wie das Rauschen von Wellen an einer Küste klang. »Sprechen Sie, Jacobi. Machen Sie Fortschritte?« »Ja«, sagte Jacobi. »Wie wir annahmen, hegt Timor seine Vermutungen über die Tätigkeit der Gilde, aber er hat keine Ahnung, wie sie diese ausübt oder warum. Glücklicherweise wird ihn seine Wißbegierde sehr empfänglich für neue Ideen machen. Ich schlage vor, daß wir so zügig wie nur möglich vorgehen.« »Einverstanden«, sagte die Stimme der Zentrale in Annonay. »In Catenor und im Westen ist der Fortschritt viel zu langsam. In Annonay hingegen zu schnell. Die Diskrepanz ist nicht mehr zu übersehen. Man spricht sogar davon, die Werften der Gilde von Annonay wegzuverlegen, um die Entwicklung etwas zu verlangsamen.«
»Ich vermutete schon, daß es so kommen könnte«, sagte Jacobi. »Ganz gleich, wie gut man ein Geheimnis hütet, irgend etwas wird doch bekannt. Catenor wäre ein guter Ort für eine neue Werft der Gilde, wenn ich den Überfällen der Piraten ein Ende bereiten kann.« »Ist das Problem so ernst?« »Bis jetzt nicht, aber es kann bald so weit kommen. Offenbar haben die Piraten jetzt maschinengetriebene Fahrzeuge, und wenn sie sich das in der zu erwartenden Weise zu Nutze machen, könnten sie Catenor zugrunde richten, bevor ich die Dinge hier richtig in Gang bringe.« »Ich werde entsprechende Überlegungen anstellen. Ob die Ältesten einer direkten Aktion gegen die Piraten zustimmen werden, bezweifle ich. Wahrscheinlich werden sie Ihnen aber Vollmacht erteilen, im wohlverstandenen Interesse Catenors zu verfahren.« »Diese Vollmacht ist alles, was ich brauche«, sagte Jacobi. »Ich melde mich später wieder.« »Gut. Ich werde die Sache den Ältesten unterbreiten und sehen, ob ich eine schnelle Entscheidung erwirken kann. Und, Jacobi…« »Ja?« »Versprechen Sie mir etwas. Sie stehen vor einer schwierigen Aufgabe, und wir können uns keine Komplikationen leisten. Lassen Sie die Frauen in Ruhe.« »Die Nemesis verhüte, daß ich eine anrühre!« sagte Jacobi. »Das ist doch keine Antwort, das wissen Sie ganz genau. Ich sage Ihnen, Jacobi, eines Tages werden Sie eine Frau über die Grundsätze der Gilde stellen. Und an diesem Tag werden Sie einen Fehler begehen. Aber bei dem, was wir tun, dürfen wir einfach keine Fehler machen. Man hat die Welt schon aus wesentlich unwichtigeren Gründen in Brand gesteckt.«
Jacobi schaltete den Apparat aus, starrte ihn aber noch lange gedankenverloren an, bevor er ihn wieder wegräumte. Sein kompaktes Gewicht kam von den Kristall- und Keramikblöcken in seinem Inneren: Volltransistorierte, vollintegrierte monolithische Schaltkreise in der unverwüstlichen Seebeck-Effekt-Halbleiter-Generatortechnik aus dem Zeitalter der Wunder. Und doch war der Apparat für ihn weder ein Anachronismus noch futuristisch. Er war einfach einer dieser akzeptierten Bestandteile des Lebens, der, außer in Gildekreisen, für immer im dunkeln bleiben mußte. Und Jacobi wußte, daß es um ihn herum Tag für Tag immer dunkler wurde. Schließlich schloß er den Deckel des Koffers wieder, sperrte ihn zu und zündete die schwache Öllampe an, denn die Nacht brach herein. In eine Vase auf dem Tisch hatte jemand Rosen gestellt, und ihr Duft, unbemerkt bis zu diesem Augenblick, ließ ihn an Lippen und Wein und ein Mädchen namens Melanie denken… Melanie mit dem nachtschwarzen Haar, die lieben konnte so heiß wie die Sonne. Langsam wuchsen die Schatten in den Fensternischen, streckten sich aus von den riesigen, staubigen Balken, bis die Symbolik des Raumes eine Analogie wurde zu seinem Leben und seiner geplanten Zukunft. Und in diesem Augenblick gab Jacobi seinem unvernünftigen Drang nach – und verließ den Raum auf der Suche nach Leben und Licht. Abseits der Hauptstraße befand sich eine Taverne, aus der fröhliche Stimmen erschallten. Aus Fenstern und Türen drang Licht und Lachen und Musik wie eine freundliche Woge, die über ihm zusammenschlug und ihn unwiderstehlich mit sich trug. Als er eintrat, traf er auf den Mann, der ihn bei seiner Ankunft in Catenor empfangen hatte. Der Bursche begrüßte ihn herzlich, bestellte Bier und zog ihn dann vertraulich beiseite.
»Sie sind ein seltsamer Kerl, Jacobi. Wissen Sie, Sie hatten ja schon vor Ihrer Ankunft einen ganz schönen Ruf. Aber jetzt ist er noch besser – oder schlechter, je nachdem, wie man es sieht.« Er stieß Jacobi den Ellenbogen in die Rippen. »Da wissen Sie aber mehr als ich«, sagte Jacobi vorsichtig. »Ich hatte zuviel getrunken. Was habe ich getan?« »Getan?« Wieder ein Stoß mit dem Ellenbogen. »Es gibt nicht viele Männer in Catenor, die es wagen würden, mit Timors Tochter zu schlafen – selbst wenn sie ihnen die Gelegenheit gewährte – was sie aber nicht tun wird.« »Timors Tochter? Sie meinen, diese Melanie ist Timors Tochter?« »Zeus! Wollen Sie damit sagen, daß Sie das nicht wußten? Ich wette, Timor hat Sie heute nicht finden können, sonst hätten Sie keinen Zweifel mehr daran.« »Ich habe den größten Teil des Tages mit ihm verbracht«, sagte Jacobi. »Aber er erwähnte kein Wort davon. Vielleicht weiß er gar nichts.« Die Miene des Mannes verdüsterte sich. »Nichts geschieht in Catenor, was Timor nicht weiß. Lassen Sie sich einen Rat geben, Freund. Seien Sie auf der Hut. Timor und seine Tochter sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Von beiden bekommt man nur dann etwas, wenn sie sich viel mehr dafür zurückerwarten. Überlegen Sie nur einmal, Jacobi, was die wohl von Ihnen wollen.« Der Mann wandte sich wieder seinen Freunden zu. »Na, was sagt ihr dazu…« Jacobi gesellte sich zu ihnen, trinkend und plaudernd, während er gleichzeitig die Situation zu analysieren versuchte. Verflogen war sein Gefühl des Stolzes, denn er begriff jetzt, daß die Eroberung zu leicht gewesen war. In der vergangenen Nacht war sie die Jägerin und er die Beute gewesen – und Timor hatte geschwiegen. Oder doch nicht? Timors schlaue Augen fielen ihm ein, und die Stimme, die sagte: »… und
manche würden noch viel weiter gehen als ich, um die Antwort zu finden.« Aber welche Gegenleistung erwartete Timor wohl für seine Tochter?
3 Timor holte sich den besten Kesselschmied von seinem Arbeitsplatz in der Nähe der Wälder. Beim ersten günstigen Wind kamen von hundert Meilen weit im Umkreis Ofenmacher in Wolkenschiffen und hörten sich Jacobis Vorschlag an und schüttelten den Kopf. Dann beschlossen sie doch zu bleiben. Jacobi bemühte sich geduldig, die im Vergleich zu einer Werft der Gilde rückständige Technologie den Erfordernissen anzupassen. Er veränderte und vereinfachte seine Pläne so, daß sie mit den vorhandenen Werkzeugen und dem gegebenen Können ausgeführt werden konnten, und hoffte, sein Ziel erreichen zu können, ohne ein Sicherheitsrisiko einzugehen. Auch der subtileren Aspekte des Unternehmens war er stets eingedenk. Wenn man ein Erzeugnis brauchte und sicher war, daß seine Herstellung möglich sei, dann würden auch die nötigen Produktionstechniken in menschlichen Gehirnen wachsen wie junge Pflanzen. Wenn es ihm gelang, in Catenor eine Wasserstoffabrik zu bauen, dann würden in Zukunft auch andere in der Lage sein, ähnliche Fabriken zu errichten. In Anbetracht der Menge und Reinheit des benötigten Wasserstoffs beschloß er, zwei einander ergänzende Werke zu bauen: Eine Eisen-Dampfretorte zur Herstellung des Wasserstoffs selbst und einen Wasser-Gas-Generator zur Regenerierung des Eisenschwamms in der Retorte. Einen Alternativplan, Wasserstoff ebenfalls direkt aus Wassergas
herzustellen, verwarf er wegen der Schwierigkeit der Beseitigung des unerwünschten Kohlendi- und -monoxyds. Eine kleine Kokerei war ebenfalls nötig, und er beabsichtigte, das anfallende Kohlengas zusätzlich zur Heizung seiner Retorten zu verwenden, daneben aber auch die Einwohner von Catenor in seinen Gebrauch einzuweihen. So würde seine Arbeit ganz nebenbei zur Gründung mindestens eines neuen Industriezweiges in Catenor führen, der dann ohne seine weitere Mithilfe wachsen konnte. Bei diesem ehrgeizigen Projekt war Jacobi nicht nur der Konstrukteur, sondern auch Erfinder, Aufseher und Quelle fast allen erforderlichen Wissens, und die Arbeit nahm ihn so sehr in Anspruch, daß er sich fast täglich bis zur völligen Erschöpfung verausgabte. Häufig schlief er über seinen Zeichnungen ein, zu müde, um noch zu seiner Wohnung in Catenor zurückzukehren. So vergaß er beinahe die dunkelhaarige Melanie, denn er hatte weder Zeit noch Energie, sich um sie zu bemühen. Nach einiger Zeit machte sich Timor Sorgen um Jacobis Gesundheit und wies ihn an, sich auszuruhen. Jacobi begab sich Mittag in seine Wohnung und schlief vierundzwanzig Stunden lang. Er erwachte vom Duft frischer Rosen auf dem Tisch und sprang mit einem Satz aus dem Bett, denn er begriff, daß jemand ihn besucht hatte, während er schlief. Er fand aber keine weitere Spur des Eindringlings, außer daß die verwelkten Rosen des Vortages weggeräumt waren. Er sah nach, ob die Tür verschlossen war, ging zu seinem Koffer und stellte den Kommunikationsapparat auf den Tisch. Auf einen Knopfdruck kam eine weiße Karte aus dem Druckerschlitz. Er nahm sie und las: ANNONAY ZENTRALE AN JACOBI – DRINGEND – GILDE ÜBERTRÄGT IHNEN UNEINGESCHRÄNKTE
VOLLMACHT GEGEN PIRATEN – DEN FORTSCHRITT IN CATENOR FÖRDERN WIE GEPLANT – UNAUSGEWOGENE LAGE IN ANNONAY WIRD KRITISCH – ENDE – Jacobi wollte schon Funkkontakt mit Annonay herstellen, überlegte es sich dann aber anders. Selbst bei vollem Tageslicht schienen ihn Schatten einzuhüllen, und er fühlte sich plötzlich niedergedrückt von dem Gewicht der ihm auferlegten Verpflichtungen. Irgend etwas in ihm drängte nach einer persönlichen Freiheit, von der er wußte, daß er sie nie erreichen würde. In der Tat, die Gilde hatte ihm eine schwere, gefährliche Bürde auferlegt. Schritte auf der Treppe, die zu seinem Dachgeschoß führte, rissen ihn aus seinen Träumen. Sorgfältig verschloß er den Apparat in seinem Koffer, bevor er wagte, die Tür zu öffnen. Es war Melanie, mit Küssen, frischem Gebäck, Brot und Wein. So kurz nach dem Erwachen hatte Jacobi noch nicht bemerkt, wie groß sein Appetit war. Und später, als die sinkende Sonne seine Balkendecke in rotes Licht tauchte, setzten sich beide an den Tisch und aßen. Erst nachher, als Melanie gegangen war, sah Jacobi nach der weißen Karte mit der Botschaft von Annonay – und stellte fest, daß sie fehlte. Er spürte, daß er hier bereits einen Fehler von der Art gemacht hatte, wovor er von Annonay gewarnt worden war. Dennoch, er rechnete sich aus, auf diese Weise aus dem unbeabsichtigten Kontrakt den bestmöglichen Nutzen gezogen zu haben. Er wußte jetzt, daß Timors Wißbegierde ebenso unstillbar sein mußte wie das Verlangen seiner Tochter nach Liebe. Und beides waren Faktoren, die er zum Vorteil der Gilde oder zu seinem eigenen verwenden konnte.
Als sichergestellt war, daß der Bau des Wasserstoffwerks ordnungsgemäß voranging, wandte sich Jacobi der Arbeit am Wasserstoffschiff selbst zu. Sie war nicht so schwierig, da die meisten der anzuwendenden Techniken immer schon bekannt waren. Allerdings waren umfangreiche Berechnungen nötig, und die waren Timors empirischer Arbeitsweise fremd. Auch waren bei Einzelheiten der Pläne Änderungen nötig. Jacobi bestand darauf, daß die normalerweise am Deck-Joch angebrachten eisernen Beschläge durch solche ersetzt wurden, bei denen keine Gefahr durch Funkenüberschlag entstehen konnte. Er wollte, daß auch ein Ankerturm errichtet wurde, verwarf den Gedanken aber dann zunächst. Er wußte, daß ein Schiff ohne Motoren von keinem auch noch so günstigen Wind wieder genau an seinen Anlegeplatz zurückgetragen würde, wenn es ihn einmal verlassen hatte. Timor jedoch ließ seinen Einwand nicht gelten. Er ordnete an, die größten Tannen im Wald zu fällen und zu behauen und daraus ein Gerüst zu errichten, hoch genug für den Start des Schiffes. Als erstes wurde die Kokerei in Betrieb genommen. Timor interessierte sich mehr für den Teer als für das Kohlengas selbst. Aber Jacobi konstruierte Reflektoren, die weit heller waren als die auf den Werften benötigten Fackeln, und sie setzten sich rasch durch. Inzwischen hatte sein Koksvorrat brauchbare Dimensionen erreicht. In diese Zeit fiel das nächste Auftauchen der Piraten. Jacobi war mit Timor auf der Werft und erklärte ihm, wie Wasserstoff risikolos von der Retorte zum Schiff zu bringen sei. Der düster bewölkte Himmel über ihnen verriet, daß Regen bevorstand. Auf der Werft war man schon besorgt. Dies war die Jahreszeit, in der die Überfälle gewöhnlich stattfanden, und eine tiefe Wolkendecke mit entsprechenden Winden bot den Piraten die günstigsten Bedingungen. Auf den Türmen hatte man bereits
Wachen postiert, und niemand war überrascht, als man Hörner hörte und den Ruf »Überfall!« Wie es für ihre Angriffsweise typisch war, hatten die Piraten bereits einen weiten Weg zurückgelegt und kehrten nun mit heimwärts gerichtetem Wind zurück. Dadurch konnten sie nach Belieben landen, sich ihrer Beute bemächtigen und dann gefahrlos wieder hinauf in die Wolken flüchten in dem Bewußtsein, daß jeder, der ihnen zu folgen wagte, in die gefährliche Bergregion treiben mußte, die ihr eigenes Gebiet war. Hätten sie einen Überfall versucht, solange der Wind in entgegengesetzter Richtung wehte, Timors Mannschaften wären aufgestiegen und ihnen gefolgt bis zu einer Entscheidungsschlacht, der die Piraten wegen der geringeren Reichweite ihrer Schiffe nicht hätten entgehen können. Aber keines von Timors Schiffen, das in die Berge geraten war, war je wieder zurückgekehrt. Die Wachen hatten den scharfen Blick von Adlern, und Timor und Jacobi mußten sich sehr bemühen, um die Punkte am Himmel zu erkennen, die bereits als Piratenschiffe identifiziert worden waren. Timor sah sie zuerst und stieß eine Verwünschung aus. »Diese Schurken«, sagte er. »Nur drei, aber diesmal haben sie Motoren. Wie sollen wir uns gegen sie verteidigen?« Es war eine rhetorische Frage, und Jacobi gab keine Antwort. Sein suchender Blick fand die Objekte, und selbst auf diese Entfernung konnte er sehen, daß Timor recht hatte. Am hinteren Ende jedes Decks befand sich ein großer schwarzer Kasten, aus dem eine Welle herausragte und plumpe Flügel drehte, die große Kreise in der Luft beschrieben. Die Wirkung der Flügel war gering, aber bei einem Angriff verschaffte die Möglichkeit, ein wenig schneller als der Wind zu fliegen und sogar gegen ihn, den Besitzern dieser Schiffe einen entscheidenden Vorteil. Wie alle normalen Wolkenschiffe ließ
sich auch bei Timors Fahrzeugen Steigen und Sinken beeinflussen. Geschwindigkeit und Flugrichtung aber hingen einzig und allein vom Wind ab. Die Piraten hingegen hatten noch einen weiteren Vorteil. Außer einer begrenzten Beeinflussung der Geschwindigkeit ermöglichten die Motoren auch eine gewisse Manövrierfähigkeit. Das zeigte sich jetzt. Die Schiffe folgten nicht genau der Windrichtung, sondern bewegten sich etwas schräg zu ihr, so daß ihr Kurs näher an die Werften heranführte. Zu diesem Zweck benutzten sie auf Holzrahmen gespannte, unter der Gondel schräg gestellte Segeltuchkiele, die im Verein mit dem Schub der rotierenden Flügel die Schiffe bis zu einem gewissen Grade lenkbar machten. Die unorthodoxen Luftfahrzeuge näherten sich den Werften immer mehr, und Jacobi konnte Timors mit Interesse gemischten Unmut verstehen. Das waren zweifellos keine Banditen. Mit nur drei Schiffen, von denen jedes nur eine Handvoll Männer trug, wäre es ihnen bei einem Landungsversuch übel ergangen. Wahrscheinlich war, daß es sich um eine Erkundungsexpedition handelte, die im Hinblick auf einen späteren Überfall die zu erwartende Beute in Augenschein nahm. Bei entsprechenden Windverhältnissen würden sie in nicht allzu ferner Zukunft mit hundert Schiffen oder mehr wiederkommen, und niemand würde sie daran hindern können, zu nehmen, was sie brauchten oder wollten. »Jacobi.« Der Wolkenmeister war ein wenig zur Seite getreten, starrte indessen immer noch auf die Schiffe am Himmel. »Wenn ich eine von diesen Maschinen kriegen könnte, wären Sie im Stande, dafür zu sorgen, daß sie funktioniert?« »Ja. Ich könnte sie auch kopieren und mehr davon bauen. Aber sie sind zu schwer für ihre Art der Fortbewegung. Sie
würden zu viel Gas für die Brenner benötigen, um den Auftrieb zu erhalten. Das schränkt ihre Reichweite ein.« »Aber das Wasserstoffschiff könnte eine tragen, ohne daß sich seine Reichweite verringert.« »Stimmt!« »Gut!« Timor war zu einem plötzlichen Entschluß gekommen. Er rannte über das Gelände und rief den Arbeitern Befehle zu. Zunächst wußte Jacobi nicht, was er wollte. Dann wurde ihm die Bedeutung ihres Gesprächs plötzlich klar. An vier Stellen des Geländes waren verankerte Schiffe flugbereit gemacht worden. Stationäre Lufterhitzer hielten die Ballons gefüllt. Sie warteten auf einen Richtungswechsel des Windes, der sie mit einer Fracht von zum Verkauf bestimmten Schweinen nach Südosten bringen sollte. Das Quieken der plötzlich losgelassenen Tiere und das emsige Herumhasten vieler Arbeiter ließen erkennen, daß auf einmal anders disponiert worden war. Bordbrenner flammten auf, während hastig zusammengestellte Mannschaften die Schiffe endgültig flugfertig machten. Als sie startbereit waren, ließ Timor sie noch warten und beobachtete Geschwindigkeit und Fahrtrichtung der Piratenschiffe über ihnen. Ein zu frühes Aufsteigen der eigenen Schiffe barg das Risiko, daß sie hilflos vom Wind aus dem Gefechtsgebiet hätten fortgetragen werden können. Auch Jacobi war plötzlich in Bewegung, als er Timors Absicht erkannt hatte. Die dunkle Wolkendecke und der bevorstehende Regen brachten ihn auf einen Gedanken. Er lief zu dem Schuppen, wo er seine Werkzeuge und seine persönliche Habe aufbewahrte. Darunter befand sich auch ein wasserdichter Beutel mit tiefen Falten, dicht verschließbar mit einer Schnur. Er hängte den Beutel an seinen Gürtel und holte dann noch eine kurze, stockähnliche Waffe mit einem seiner Hand angepaßten Griff. Dann rannte er zu Timors
Wolkenschiffen, die immer noch an ihren Verankerungen zerrten. Nach einem Blick auf die Position der Piraten wählte er das Schiff, das ihm am besten für eine Abfangaktion geeignet erschien, und kletterte mit affenartiger Behendigkeit an Bord. Timor war in der Gondel und sah ihn vorbeiklettern. Er zog fragend die Brauen hoch und schien etwas zu rufen, aber kein Wort drang an Jacobis Ohr. Jacobi erreichte die Ballonhülle und kletterte an dem Netz der Seilverspannung weiter nach oben, wobei sich seine Zehen in die weiche Ballonhaut drückten. Dann wurden auf Timors Zeichen die Halteseile gekappt, und die vier Wolkenschiffe stiegen in gleichmäßiger Bewegung nach oben, um die Piraten abzufangen. Es war ein beherzter Versuch, der aber von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die, Luft in Timors Ballons war in der Wartezeit zu heiß geworden, und die Schiffe stiegen deshalb schneller auf als gewöhnlich. Obgleich die Brenner schnell gelöscht wurden, erreichten Timors Schiffe zu früh die Höhe der Piraten und stiegen immer noch weiter. Einige von Timors Männern hatten Armbrüste, aber die Stahlbolzen bohrten zu kleine Löcher in die Hüllen der Piratenballone, um nennenswerten Schaden anzurichten. Außerdem schwebten sie zu hoch und zu weit von den Gondeln der Piraten entfernt, als daß sie ein genaues Ziel hätten finden können. Ihre einzige Chance war der Versuch, den Abstand so weit zu verringern, daß sie die Takelage der Piratenballone mit langen Enterhaken erreichen und die Schiffe so aneinander fesseln konnten. Hastig ließ man Luft ab, um auf die Höhe der Piraten herunterzukommen. Aber das ging zu langsam, und die feindlichen Schiffe hatten plötzlich den Kurs gewechselt. Da er nur die Höhe, nicht aber die Position seiner Fahrzeuge beeinflussen konnte, entglitt die Lage Timors Händen. Die Piraten hatten ihre neue Richtung so gewählt, daß der Kurs sie
in kürzester Zeit aus der Reichweite von Enterhaken und Armbrustgeschossen bringen sollte, was die Überlegenheit maschinengetriebener Schiffe deutlich vor Augen führte. Fast ganz oben auf dem Ballon, die Füße sicher zwischen Hülle und Takelage geklemmt, wartete Jacobi und beobachtete die Piratenschiffe, die unter ihm den neuen Kurs einschlugen, dem Timor nicht würde folgen können. Dann klopfte plötzlich sein Herz, als er die jetzt sich ergebenden Möglichkeiten erkannte. Wenn er Glück hatte, würde das rechte Schiff von den dreien, das sich mit etwas mehr als Windgeschwindigkeit langsam seitwärts bewegte, in Bälde nicht allzuweit unter ihm an seinem eigenen Schiff vorbeischweben. Sorgfältig öffnete er seinen wasserdichten Beutel, nahm dann die Waffe mit dem Handgriff und bog sie mit großer Kraftanstrengung. Der Mechanismus schnappte zu seiner Zufriedenheit, und er bog sie wieder gerade und öffnete das Verschlußstück. In seinem Beutel waren Pfeile mit langen dünnen Metalldornen und einer seltsamen Spitze. Er legte einen in die Waffe ein und zielte dann auf den Piratenballon, auf den günstigsten Augenblick wartend. Ein paar Regentropfen, die um ihn herum auf die Ballonhaut klatschten, gemahnten ihn, den Beutel fest zu verschließen. Minutenlang schien es, als könne sein Plan nicht gelingen. Das Schiff, das er sich als Ziel ausgesucht hatte, entfernte sich rasch, so daß die entweichende Luft des eigenen Ballons zwar ihre Höhe verringerte, die beiden Fahrzeuge sich aber doch nicht näherkamen. Schließlich wurde ihm klar, daß die Entfernung sich nicht weiter verringern würde. Obwohl die Distanz noch zu groß für sicheres Zielen war, nahm er das feindliche Schiff ins Visier. Die Waffe antwortete mit dem put plötzlich freigesetzten Luftdrucks, doch konnte er nicht wissen, ob sein Pfeil das Ziel erreicht hatte oder nutzlos zu Boden fiel. Schnell lud er seine Waffe von neuem und schoß einen Pfeil nach dem anderen ab.
Über ihnen hingen dunkle Regenwolken, und die Wälder unter ihnen sahen in der Düsternis still und traurig aus. Nur die Zeit konnte jetzt erweisen, ob seine Geschosse ihr Ziel getroffen hatten. Dann bemerkte er, daß er nicht allein war. Timor war ebenfalls an der Takelage emporgeklettert und hatte sein Tun mit Interesse verfolgt. Er kam zu ihm herüber, nahm Jacobis Waffe und untersuchte sie neugierig. »Wenn eine Armbrust mir nicht zu einer Maschine verhelfen kann, was versprechen Sie sich dann davon? Oder wollten Sie auf Krähenjagd gehen?« Der letzte Satz war weniger eine Frage als eine verhüllte Aufforderung, näheren Aufschluß zu geben. »Wie Sie so eine Maschine in die Hand kriegen, ist Ihre Sache, Timor«, sagte Jacobi mit freundlicher Miene. »Niemand soll sagen können, Timor suche bei einem jämmerlichen Bürschchen Hilfe. Und sogar die Krähen waren schlauer als ich.« Timor musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Wenn sie auch jetzt etwa auf gleicher Höhe mit den Piratenballons waren, so hatte der unterschiedliche Kurs die beiden Luftschiffe doch so weit auseinandergeführt, daß die Entfernung jetzt auch für Bogenschüsse zu groß war. Jacobi indessen verfolgte weiter aufmerksam den Weg seiner Jagdbeute. »Irgend etwas führen Sie im Schilde«, sagte Timor. »Sonst wären Sie nicht gekommen.« »Ich?« erwiderte Jacobi unschuldig. »Ja, Jacobi. Sie haben weit mehr vor, als Wolkenschiffe zu bauen.« »Haben Sie irgendwelche Beschwerden bezüglich der Art, wie ich meinen Vertrag erfülle?« »Ganz im Gegenteil. Sie haben in ein paar Wochen mehr geleistet als die meisten in ihrem ganzen Leben. Und das ist es,
was mich argwöhnisch macht. Mir ist nicht entgangen, daß hinter allem, was Sie tun, zumindest eine doppelte Absicht steht.« »Zur Nemesis mit solchen Ideen! Liegt Ihnen wirklich etwas an dieser Maschine?« »Wenn ich es mit den Piraten nicht in der Luft aufnehmen kann, dann sollte ich wohl aufhören, in Catenor Schiffe zu bauen.« »Das dachte ich mir«, sagte Jacobi. »Wenn die Piraten genügend Abstand von uns gewonnen haben, werden sie ihre Maschinen abstellen – – bei längeren Manövern brauchen sie zu viel Brennstoff. Dann werden sie mit dem Winde treiben und sich darauf verlassen, daß wir ihnen nicht in die Berge folgen. Halten Sie ihre Höhe, bleiben Sie bei ihnen.« »Ich verstehe!« Timors Augen waren wie glitzernde Stahlmünzen in runzeligen Schweinslederbeuteln. »Ich wußte gar nicht, daß Prophezeiungen auch zu Ihren Talenten gehören.« »Ich bin kein Zauberer. Etwas Hilfe könnte ich schon brauchen.« »In welcher Hinsicht?« »Beten Sie um Regen«, sagte Jacobi.
4 Wie Jacobi es vorhergesagt hatte, stellten die Piraten, nachdem sie sicheren Abstand gewonnen hatten, ihre Maschinen ab und trieben vor demselben Wind, der auch Timors Schiffe trug. So blieben die Positionen eine Weile unverändert, wobei die Piratenschiffe freilich Höhe zu gewinnen trachteten und Timors Schiffe ihnen folgten.
Jacobi blieb auf seinem Platz hoch oben auf dem Ballon und beobachtete die dicker werdenden Regenwolken und die dunklen Bergkämme, auf die der Wind sie zutrug. Unterhalb der Berge lag wie ein graues Stahlband die breite Flußmündung und grenzte das fruchtbare Land von den grauen Felswänden ab. Jetzt war das Zeitelement von größter Wichtigkeit. Wenn der Regen kam, bevor die treibenden Schiffe den Fluß erreichten, würde er höchstwahrscheinlich sein Ziel erreichen. Wenn er aber noch länger ausblieb, würden die Piraten die schützenden Berge erreichen, und Timor würde nicht wagen, ihnen über das Wasser hinwegzufolgen. Einmal in den Bergen, würden Timors Schiffe keine Hilfe mehr erwarten können, und der Rückweg am Boden würde seinen Leuten abgeschnitten sein. Sie würden in den Bergen niedergehen müssen, um auf einen Wechsel der Windrichtung zu warten. Dies konnte sehr wohl bedeuten, daß sie längere Zeit dort verbringen mußten; bei dem überstürzten Aufbruch waren indessen keine Vorräte mitgenommen worden. Darüber hinaus war auch von den Piraten, die nur darauf warteten, ihrer zusammengestohlenen Flotte neue Wolkenschiffe einzuverleiben, keine Gnade zu erwarten. Aber noch ein anderes Mißgeschick drohte Timors Schiff. Auf der Werft waren die Ballons mit stationären Lufterhitzern in Bereitschaft gehalten worden, so daß der mitzuführende Gasvorrat nicht in Anspruch genommen wurde. Die Gasbehälter hatten in der Nähe des Schiffes gestanden und waren bei dem plötzlichen Aufstieg hastig und überstürzt angeschlossen worden. Unglücklicherweise war etwas übersehen worden. Der Gasbehälter für den Brenner, von dem der Auftrieb abhing, löste sich plötzlich aus seiner Befestigung und fiel auf die Erde. Der Gewichtsverlust ließ das Schiff
zunächst an Höhe gewinnen, bevor die Luft im Ballon sich abkühlte und sein langsames, unaufhaltsames Sinken begann. Jacobi spürte, wie das Schiff nach oben schoß, als es den Behälter verlor, und die ärgerlichen Rufe von unten verrieten ihm, was geschehen war. Er hätte weinen können vor Zorn, denn die ständige Zunahme des Regens ließ darauf schließen, daß mit Hilfe der Götter einige Minuten später das Piratenschiff mit seiner Maschine in ihrer Hand gewesen wäre. Über den Ernst der Lage, in der sich Timors Schiff befand, hegte er keinen Zweifel. Er fühlte, wie die Takelage unter ihm lockerer wurde, und in dem Maße, in dem der Druck im Innern des Ballons abnahm, begann er, in die schlaffer werdende Hülle zu sinken. Aus dem Korb kletterten jetzt die Männer zu ihm herauf; bei einem Absturz war der sicherste Platz oben auf dem Ballon, der so den Aufprall dämpfen konnte, und gleichzeitig vermied man, unter der Hülle begraben und von der aus ihr entweichenden Heißluft versengt zu werden. Auf Grund ihrer jetzigen Höhe freilich war ihre Überlebenschance nicht allzu groß, und in den Augen der Männer war Furcht. Die begleitenden Schiffe bemerkten ihre Notlage und begannen ebenfalls zu fallen – schneller zunächst, da sie es sich erlauben konnten, Heißluft abzulassen, was Timor nicht möglich war. Timor bemühte sich, nicht das kleinste Quentchen Auftrieb zu verschenken, das die sich abkühlende Luft in den Ballons ihnen geben konnte, aber immer noch befanden sie sich in gefährlicher Höhe und hatten keine echte Hoffnung auf Rettung. Jacobi richtete sich so weit wie möglich auf und beobachtete das Schiff, in dem seine Pfeile stecken mußten, und betete um die Wirkung des jetzt heftig fallenden Regens. Plötzlich waren die Götter günstig gestimmt. Aus dem Ballon des Piratenschiffes züngelten plötzlich Flammen, klar sichtbar
selbst über die beträchtliche Entfernung. Das Feuer war schnell gelöscht, reichte aber aus, Löcher in die Hülle zu brennen, durch die ein Mann seinen Kopf hätte stecken können. Dann begann das Piratenschiff zu sinken. Die Lage von Timors Schiff war jetzt wirklich verzweifelt. Bei unveränderter Richtung und Fallgeschwindigkeit drohten sie über den Fluß zu treiben und an der Bergflanke zu zerschellen. Timor wagte nicht, durch Ablassen von Luft ihren Fallwinkel spitzer zu machen, da dies die Wucht ihres Aufpralls nur vergrößert hätte. Jacobi kletterte an der schlaffer werdenden Takelage hinunter und fand Timor allein in der Gondel. Timor zwang sich zu einem Lächeln, als er Jacobi sah. »Was nun, Geselle? Weiß die Gilde auch in dieser Situation einen guten Rat?« »Ja«, sagte Jacobi. »Holen Sie die Leute herunter und machen Sie es wie ich. Es ist unsere einzige Chance.« Er kletterte wieder bis zu der Stelle hinauf, wo die Seile von der Unterseite des Ballons wegführten, langte mit einer Messerklinge zwischen ihnen hindurch und schnitt das Gewebe auf. Timor beobachtete ihn eine Sekunde lang, bevor er seine Absicht verstand. Fluchend und hastig begann dann auch er, die Hülle mit seinem Messer zu bearbeiten, und befahl dem Rest der Mannschaft, das gleiche zu tun. Als die große Kalotte von der Unterseite des Ballons weggeschnitten war, fiel der Brenner und sein Käfig davon ab. Um sein Gewicht erleichtert und nach unten offen für die Luft, blähte sich der Halbballon im Netz der Takelage auf wie ein riesiger Pilz, und seine Fallgeschwindigkeit verringerte sich merklich. Dann lenkte Jacobi ihre Aufmerksamkeit nach unten, und sie kappten die Tragetaue am niedrigstmöglichen Punkt. In dramatischem Sturz sauste die leere Gondel nach unten. Die Männer hingen in der Takelage des riesigen Pilzes, der nun
wild hin und her schwankte und in sich zusammenzusinken drohte. Aber mit Hilfe der Götter und angetrieben von Timors blasphemischer Zunge gelang es ihnen, ihr Gewicht gleichmäßig zu verteilen und so die Stabilität ihres kostbaren Baldachins zu erhalten. Wieder verlangsamte sich ihr Fall; trotzdem wäre so mancher von ihnen zu Schaden gekommen, wären sie nicht in die Flußmündung gefallen. Als er auf das Wasser aufschlug, befreite Jacobi sich von den Seilen der Takelage und schwamm auf die nächstgelegene Stelle des Ufers zu. Er war ein schlechter Schwimmer und bezweifelte ernsthaft, ob er diese Entfernung schaffen würde. Ganz gewiß war er nicht in der Lage, umzukehren und sicherzustellen, daß die anderen vom Ballon freikommen und sich retten konnten. Verbissen schwamm er auf eine Baumgruppe zu, die das einzige war, was er am Ufer sehen konnte, und hoffte, daß der Krampf, der seinen schwimmerischen Bemühungen zu häufig ein Ende setzte, ihn nicht überfallen würde, bevor er in Sicherheit war. Lange Zeit schienen seine Bemühungen nicht auszureichen, um die Entfernung zwischen ihm und den Bäumen zu verringern, und seine Hoffnung begann zu schwinden. Die ungewohnte Anstrengung ließ ihn rasch ermüden, und sein Schwimmen glich mehr einem verzweifelten Umsichschlagen im Wasser, das nur seine Energie verbrauchte, ihn aber nicht vom Fleck brachte. Dann lähmte ein Krampf die Muskeln seines rechten Beins, und in plötzlicher Panik warf er sich herum und versank dann im erstickenden Wasser. Keuchend, Wasser spuckend und dem Ertrinken nahe kam er wieder hoch. Starke Hände packten seine Schultern, und er ließ sich treiben und von den Armen an die Küste ziehen. Dann befahl man ihm, sich auf die Beine zu stellen, und er fand sich, bis zur Hüfte im Wasser, auf weichem Sand wieder. Sein Retter stützte ihn, bis Jacobi den Krampf in seinem Bein so
weit überwunden hatte, daß er aufs trockene Land humpeln konnte. Erschöpft sank er für eine Weile am Ufer nieder, sah sich dann um. Soweit er feststellen konnte, waren alle Mitglieder der Mannschaft jetzt sicher an Land. In einiger Entfernung bemerkte er Timor, über und über voll von dem Schlamm, durch den er gekrochen war, das Gesicht in den Armen vergraben. Selbst auf diese Distanz konnte er erkennen, daß ein konvulsivisches Zucken durch Timors Schulter ging, und in der Befürchtung, dem Wolkenmeister sei übel, rannte Jacobi zu ihm und drehte ihn um. Aber es war Lachen, was Timor so schüttelte. Als er Jacobi gewahrte, hielt er inne, setzte sich auf und legte seinen gewaltigen, schlammverschmierten Arm um des Gesellen Schulter. »Bei den Göttern, Jacobi, für einen Nichtkombattanten leisten Sie Beträchtliches in Kriegführung und Lebensrettung!« Jacobi ließ sich neben ihm nieder. »Glaubten Sie denn, alles, was von Annonay kommt, sei akademisch?« »Nein. Ich erwartete auch etwas gesunden Menschenverstand. Aber keine Wunder. Was haben Sie mit dem Piratenschiff gemacht?« »Ich beschoß es mit Pfeilen, die mit einer Spitze aus einem Metall namens Natrium versehen sind. Diese Spitze war mit einem Schutzüberzug versehen; doch sobald er der Feuchtigkeit ausgesetzt war, löste sich dieser auf, und das Metall fing Feuer.« »Metall fing Feuer?« Timor warf ihm einen schnellen Blick zu und zuckte dann die Achseln. »Das sind allerdings seltsame Werkzeuge für einen Gesellen der Gilde. Können sie auch friedlichen Zwecken dienen?« »Nein.«
»Das dachte ich mir«, sagte Timor. »Ich habe schon immer gewußt, daß an der Gilde mehr ist als Güte und Pflicht. Und Ihre Behauptung, unparteiisch zu sein?« »Ich feuerte diese Pfeile im Interesse der Gilde ab, nicht in Ihrem.« »Ich verstehe! Und wie wissen Sie, was im Interesse der Gilde ist?« »Das wissen Sie bereits, Timor – und wenn nicht, fragen Sie Melanie.« »Zeus!« sagte Timor kleinlaut. »Ich hätte wissen müssen, daß ich mich mit Ihnen auf keine Diskussion einlassen darf.« In seinem tropfnassen Gewand suchte er nach einer Tasche, aus der er die zerknüllten Reste der Karte hervorholte, die die für Jacobi bestimmte Mitteilung aus Annonay enthalten hatte. »Die Nemesis hole alle hinterlistigen Gesellen. Ich habe Ihnen Unrecht getan, mein Junge, und ich gestehe es unumwunden. Ich hegte Argwohn gegen Sie und Ihre Cleverness. Das tue ich auch jetzt noch, doch weiß ich nun, daß Sie für mich arbeiten. Sie bauen mir ein neues Schiff, vernichten meinen Feind und retten mein Leben. Und ich entgelte es damit, daß ich Ihre Motive in Zweifel ziehe und für Sie bestimmte Mitteilungen stehle.« »Und mir Ihre Tochter leihen«, sagte Jacobi boshaft. Jetzt lächelte Timor wieder. »Sie können schweigen, Jacobi. Dafür haben Sie meinen Respekt, obwohl ich verdammt sein will, wenn ich die Sache auf sich beruhen lasse.« Bald hörten sie durch das Waldesdickicht den Klang der Hörner und antworteten mit lauten Rufen, da sie keine eigenen Hörner hatten, mit denen sie hätten erwidern können. Glücklicherweise wurden sie von den Leuten in Timors anderen Schiffen, die sicher gelandet waren, gehört und auch bald gefunden. Man hatte ein Lager aufgeschlagen und ein
Feuer entzündet, wobei das nasse Holz mit Methan aus einem ihrer Behälter angeheizt worden war. Die Überreste des beschädigten Piratenschiffes fand man in zwei Meilen Entfernung in Baumkronen hängend. Die Mannschaft war tot, die Gondel zertrümmert. Aber die kostbare Maschine war fast intakt und konnte ohne Schwierigkeiten geborgen werden. Timor selbst leitete die Männer, die sie auf den Boden herabließen, mit großer Geduld und Sorgfalt. Für ihn war dies der Beginn einer neuen Ära in Catenor, und er konnte kein Risiko eingehen, das seine Erfolge gefährden würde. Endlich war es geschafft, und man stellte die Maschine, an der noch Reste der Gondel hingen, sanft auf den weichen Waldboden, wo sie bleiben sollte, bis Fahrzeuge aus Catenor sie zur Werft zurückbrachten. Als Jacobi den Mechanismus untersuchte, fand er keinen primitiven Benzinmotor, wie er erwartet hatte, sondern einen ziemlich weit entwickelten Diesel. Und jetzt hatte er Gewißheit, wie ernst die Lage in Annonay geworden war.
Timor stand jetzt rückhaltlos hinter ihm. Auf der Werft hatte Jacobi somit die Zügel fest in der Hand, und die Arbeit an dem Wasserstoffschiff ging überaus zügig voran. Lange bevor das Schiff selbst fertig war, war das Wasserstoffwerk vollendet und bereit für den Versuchsbetrieb. Jacobis Tagespensum war lang, schwierig und aufreibend, dennoch fand er jeden Abend Zeit, nach Catenor zu gehen, um sich auszuruhen und um Melanie zu sehen. Drei Wochen später, und mit dem Segen ihres Vaters, zog sie zu ihm in seine Dachbodenwohnung. Dies brachte mehr Ruhe in seinen Tageslauf, und Jacobi ging mit vermehrtem Elan an seine Arbeit. Die Gewitterwolken, die sich über Annonay zusammenzogen, ließen ihn weitgehend unberührt. Was die
Gilde hatte, war von größter Brisanz, und selbst die, die schon lange in ihren Diensten standen, mußten sich beim Umgang damit größter Vorsicht befleißigen. Etwas von Annonays fortgeschrittener Technologie war unkontrolliert in eine Welt gedrungen, die darauf noch nicht vorbereitet war, und hatte ein paar skrupellosen Individuen gewaltige Machtmittel an die Hand gegeben. Die Folge war, daß die öffentliche Meinung sich scharf gegen die Gilde wandte. Es war ein Vertrauensbruch gewesen, den nur die Zeit schließlich heilen konnte. In der Zwischenzeit blieb der Gilde nichts anderes übrig, als ihre Tätigkeit in Annonay auf den Bau herkömmlicher Arten von Wolkenschiffen zu beschränken.
Sechs Wochen später war Jacobis Projekt komplett. Das Wasserstoffwerk war betriebsbereit, und eine fähige Mannschaft war mit seiner Bedienung vertraut gemacht worden. Das Schiff selbst, das nun in seiner Gondel den Dieselmotor und einen angemessenen Treibstoffvorrat trug, lag am Fuße des Ankerturms und wartete darauf, mit dem Gas gefüllt zu werden, das ihm auch ohne Brenner Auftrieb verleihen würde. Die Flügel, welche die Piraten an dem Motor verwendet hatten, waren durch einen hölzernen Propeller ersetzt worden, und für die Steuerung war ein Rudersystem installiert worden. Am nächsten Tag sollte der erste Flug stattfinden. Die letzten Funktionskontrollen erfüllten Jacobi mit Zuversicht, daß das Unternehmen von Erfolg gekrönt sein würde. Voller Optimismus kehrte er zu Melanie zurück. Entgegen den Gildenregeln hatte er nicht länger ein Geheimnis aus seinem Kommunikationsgerät gemacht, seit Melanie eingezogen war. Jetzt stand es dauernd auf einem kleinen Tisch, bereit für seinen nächtlichen Kontakt mit Annonay. Melanie rührte das Instrument nicht an. Ein Instinkt
sagte ihr, daß es in ein anderes Zeitalter gehörte und Kräfte barg, deren Geheimnis sie nie begreifen würde. Mehr als alles andere brachte dieser Umstand Jacobi die Kluft zum Bewußtsein, die immer zwischen ihnen bestehen würde, und die Schatten der Einsamkeit wurden noch dunkler, bedrückender. Als er an diesem Tag nach Hause kam, beklagte sie sich bei ihm, das Instrument habe vor sich hin getickt, als wolle es Aufmerksamkeit erregen. Jacobi inspizierte den Informationsspeicher. Das Instrument zeigte an, daß er etwas enthielt, und so schaltete er den Drucker ein. Auf das, was er las, war er vorbereitet und unvorbereitet zugleich. – TECHNISCHES INFORMATIONS-SAMMELZENTRUM NEW YORK – ÜBER SATELLIT UND SUBZENTRUM LA GAUDE – AN JACOBI IN CATENOR – MELDUNG BEGINNT ZITIERE KRISENSITUATION – AUFRUHR IN ANNONAY – GILDENWERFTEN VERLASSEN – EUROPÄISCHE OPERATIONEN GEFÄHRDET – SICHERUNG CATENORS FÜR NEUE GILDENWERFTEN ZWINGEND ERFORDERLICH – VERHANDLUNG MIT TIMOR AUF JEDER BASIS – ZITAT ENDE – ENDE DER MITTEILUNG – – ZENTRALE YORKTOWN – Ohne ein Wort zu Melanie steckte Jacobi die Karte in seine Tasche. Später versuchte er, Sprechkontakt mit der Zentrale in Annonay aufzunehmen, bekam aber nur Störgeräusche herein. Wie aus der Meldung hervorging, war es aus mit den Einrichtungen in Annonay. Ob spätere Historiker dies als das Ende einer zum Scheitern verdammten Ära sehen würden oder lediglich als einen vorübergehenden Rückschlag bei einem der mutigsten Unterfangen der Menschheit, lag nun weitgehend in
seiner eigenen Hand. Aber seine Hände waren schon müde von ständiger Überarbeitung, und das sie steuernde Gehirn war nicht weniger erschöpft von zu vielem Wissen, zu vielem Denken, zu vielen Verpflichtungen – und einer Einsamkeit, die ihn sogar in den Stunden der Liebe von Melanie trennte. Er erkannte plötzlich, daß er Zeit brauchte, um nachzudenken, Zeit, um sich – vielleicht zum ersten Male in seinem Leben – die Frage zu stellen, ob Sinn und Zweck der Gilde wirklich ein Ideal seien, dessen wert, was es ihm abverlangte. Zu einfach würde es sein, das Leben eines Bürgers von Catenor zu leben, Melanie zu heiraten, Kinder aufzuziehen, in Timors Werften Wolkenschiffe zu bauen und die Gilde und ihre Intrigen und Verpflichtungen zu vergessen, die sie im Interesse einer Abstraktion, genannt Nachwelt, erfüllen zu glauben mußte. Sein brennender Zorn gegen jene, die unerklärlicherweise schwach oder abtrünnig geworden waren, kehrte drängend in sein Bewußtsein zurück. Erst jetzt konnte er verstehen, welch unreifes Verhalten es war, wenn man urteilte, bevor man selbst auf die Probe gestellt worden war. Erst jetzt begriff er, wie wenig man unter dem Druck von Emotionen und Überarbeitung seine eigenen Reaktionen voraussehen konnte. Intuitiv mußte Melanie den Konflikt in ihm und ihre eigene Beteiligung daran gespürt haben, denn sie zog ihn an sich und besänftigte ihn, und als sie sich liebten, geschah es zart und behutsam, ganz anders als bei den leidenschaftlichen Vereinigungen in der Vergangenheit. In ihren Armen fiel Jacobi in einen freilich unruhigen Schlaf. In seinen wirren Träumen sah er Bankgewölbe voll Mikrofilmen und Reihen von Leseschirmen, Videorecordern und elektronischen Decodern. Wieder führte ihn die Stimme seines Mentors durch die verwickelten Konzepte von Normaltextcomputern und rekonstruierte bis in die ermüdenden Details die Elemente der
Computerprogrammierung für Datenfindung. Als er schweißgebadet und unausgeschlafen erwachte und den Klang der Hörner hörte und die Rufe: »Piraten – Überfall!« fiel es ihm nicht leicht, die Realität vom Traum zu unterscheiden. Seine Verwirrung wurde noch gesteigert, weil er wußte, daß ein Piratenüberfall um diese Zeit fast unmöglich war. Erstens kamen die Piraten nie in der Dunkelheit, und zweitens hätte der Wind sie nicht mehr nach Hause geführt, sondern von ihren Bergen fort. Nur sehr zuversichtliche Piraten – oder gänzlich verrückte – hätten unter diesen Umständen in Catenor landen können. Oder eine sehr kampfstarke Truppe! Doch letzteres schälte sich immer mehr als bestürzende Möglichkeit heraus. Die Piraten wußten, daß Timor sowohl einen Gesellen als auch einen Motor hatte, und konnten zu dem Schluß gekommen sein, daß der Widerstand in Timors Gebiet zunehmend härter werden und schließlich zur Vernichtung angreifender Piraten führen mußte. Der logische Gegenzug in dieser Situation war ein massiver Angriff mit allen verfügbaren Kräften, um die gegnerische Widerstandskraft zu lähmen, solange sie noch nicht voll entwickelt war. Das hieß, daß die Werften Brennpunkt des Überfalls sein würden, und daß deren Ziel nicht Plünderung, sondern Zerstörung sein mußte. Und jetzt wußte Jacobi, daß sein Konflikt gelöst war. Er sah jetzt ein, daß die Alternative zu den Gildenprinzipien nur barbarische Anarchie sein konnte – ein schmerzliches Überbleibsel des letzten dunklen Zeitalters, das zu überwinden sie sich immer noch bemühten. Hastig kleidete er sich an, und Melanie, die ebenfalls erwacht war, setzte sich auf und umklammerte, von Panik ergriffen, sein Handgelenk. »Jacobi, verlaß mich nicht!« Behutsam entzog er ihr seinen Arm. »Ich muß auf die Werft, Melanie. Das weißt du.«
»Ja.« Sie wußte, daß er dort hingehen mußte, hoffte aber, daß irgend etwas, vielleicht seine Zuneigung zu ihr, ihn vielleicht zurückhalten würde. Er aber ging zur Tür und drehte sich um, und die Tränen in ihren Augen ziehen ihn des Verrates. Er mußte entschlossen die Tür hinter sich zumachen, um ihr Schluchzen nicht zu hören, als sie zurück in die Kissen fiel. Hätte er es noch länger gehört, er wäre vielleicht geblieben. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Leute aus der Stadt und von der Werft und die Miliz von Catenor versammelten sich, und durch den Lärm drang der Ton der Hörner, die von irgendwo her in die Nacht riefen. Jacobi hatte sich geweigert, Partei zu ergreifen, und so gab es für ihn keine bestimmte Stelle, an der er sich einfinden mußte. Darüber war er plötzlich froh. Er wählte die ruhigsten Wege, die aus der Stadt führten, und eilte dann die Hauptstraße hinaus zur Werft. Hinter sich konnte er Wagen hören, die Catenor verließen, während vor ihm auf der Werft Wachtposten Feuer entzündeten. Zu diesem Zeitpunkt war von den Piraten nichts zu sehen, und nur die Hörner ließen keinen Zweifel daran, daß sie tatsächlich gekommen waren. Am Tor der Werft hielt ihn ein Wächter mit einer Pike an und zog ihn zu einem der Feuer, damit seine Identität geprüft werden konnte. Sein beißend formulierter Protest gegen die Verzögerung wäre Timors selbst würdig gewesen, und unverzüglich öffnete man ein Tor für ihn. Auf dem Werftgelände selbst war er allein, und das kam ihm zustatten. Er hatte die Hälfte des Weges zu seinem Ziel zurückgelegt, als in der Nähe der Gastanks ein erbitterter Kampf ausbrach, und plötzlich hochschlagende Flammen ließen keinen Zweifel darüber, was die Piraten auf der Werft vorhatten. Am Fuße des Ankerturmes lag sein kostbares Wasserstoffschiff. Am nächsten Tag hätte es stolz seine Form
annehmen und sich auf seinen ersten Flug begeben sollen, damit jedermann in Catenor sich vom Fortschritt des Schiffsbaus überzeugen konnte. Jetzt war es noch ein ordentliches Paket aus Gewebe, Seilen und Leinwand oberhalb der Gondel, die die Maschine beherbergte. Er wußte genau, was er zu tun hatte. Er öffnete den Abflußstöpsel des Brennstofftanks und ließ seinen Inhalt auf die Gondel fließen. Als er sicher war, daß alles gut von der Flüssigkeit durchtränkt war, nahm er einen Brennerzünder und etwas Werg, den er ansteckte und auf den öldurchtränkten Ballon warf. Die hochschießende Flamme, die Gondel, Ballonhülle und Takelage und Ankerturm gleichermaßen erfaßte, ließ Angreifer wie Verteidiger erschreckt zusammenfahren. Aber eine Beute der Piraten würde das Wasserstoffschiff nicht mehr werden.
5 Catenor hatte die Stärke der Piraten gewaltig unterschätzt. Offenbar gleichzeitig mit mehreren anderen Piratengruppen waren über einhundertfünfzig Schiffe in der Umgebung gelandet, und es war eine kampfstarke, erbarmungslose Streitmacht, die sich in dieser Nacht auf Catenor und die Werft stürzte. Gegen Morgen war der Kampf fast vorüber. Nach einem Scheinangriff auf die Werft zum Zwecke der Ablenkung hatte die Hauptstoßrichtung der feindlichen Kräfte direkt Catenor gegolten mit einem einzigen Ziel – Geiseln. Die Frauen und Kinder waren wie Vieh ins offene Gelände getrieben worden, und wer sich widersetzte, wurde unbarmherzig niedergemacht. Widerstandsnester in der Stadt waren niedergebrannt oder ausgeräuchert worden, und beim Morgengrauen lag fast ein Viertel von Catenor in Trümmern.
Getäuscht durch diese Taktik und voll Erbitterung durch die Grausamkeit des Angriffs weigerte sich Timor, der die Werft mit Ausnahme der Gastanks intakt hielt, die Anlage aufzugeben. Die Piraten sandten ihm den gliedlosen Torso eines jungen Mädchens und versprachen ihm für jede Stunde einen weiteren, bis er sich ergebe. Bald wehten zerfetzte weiße Flaggen über den Wachttürmen, und den Banditen wurde kein Widerstand mehr entgegengesetzt. Jacobi sah mit verschränkten Armen zu; er wußte, daß er alleine die Schlacht gewinnen mußte, die Catenor verloren hatte. Der Anblick der verstümmelten Kindsleiche hatte seine Wirkung getan. Gildenregel oder nicht, ein Geselle, der eine solche Scheußlichkeit erlebt hatte und sich deswegen auf die Seite einer der Parteien schlug, war ein nicht zu unterschätzender Gegner. Wenn auch Timor nicht ahnte, was kommen würde, Jacobi sah es voraus. Mit einer Miene, aus der Zorn und Verachtung sprachen, ging der Wolkenmeister hinaus zu dem Banditenhäuptling und seinen Helfern. Sie schlugen ihn nieder in den Staub und traten ihn mit Füßen und drangen dann in die Werft ein, eine gefesselte Gefangene hinter sich her schleppend. Die Gefangene war Melanie, die sie mit einer Flut von Verwünschungen überschüttete. Man knüpfte einen Strick um ihren Leib und band dann das andere Ende an einen Holzpflock. »Wo ist der Geselle?« »Hier.« Jacobi trat vor, die Arme verschränkt. »Ah!« Der Anführer der Banditen, ein bärtiger Riese Namens Dacon, nickte, als sehe er seine Voraussage bestätigt. »Es mußte Jacobi sein. Wir haben von Ihnen gehört.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Melanie, die an ihren Fesseln zerrte. »In der Tat wissen wir eine Menge darüber, was in
Catenor vorgeht. Diese Frau wird als unsere Hauptgeisel sicherstellen, daß Sie mit uns zusammenarbeiten.« »Die Gilde läßt sich nicht erpressen«, sagte Jacobi. »Und sie läßt sich auch zu nichts nötigen. Wenn Sie als Wolkenmann berechtigten Anspruch auf Hilfe von seiten der Gilde haben, werden Sie sie erhalten. Andernfalls können Sie sich begraben lassen.« »Hilfe? Verdammtes Bürschchen!« Dacon wurde rot vor Zorn. »Wir wollen keine Hilfe von Ihnen – wir wollen Wasserstoff.« »Wasserstoff? In diesen Säcken?« Jacobi sah hinüber zu den Wolkenschiffen der Piraten, die im Gelände verstreut zu Boden gegangen waren. »Ja, in diesen Säcken, Geselle.« »Nein«, sagte Jacobi schroff. »Wenn ihr Wasserstoff wollt, müßt ihr einen Vertrag mit der Gilde abschließen, dann schickt sie euch einen Gesellen. Zu einem Flug mit Hilfe von Wasserstoff gehört mehr, als daß man einfach Wolkenschiffe damit füllt.« »Zeus! Mit dem, was mich ein solcher Vertrag mit der Gilde kostet, kann ich dreihundert Männer bezahlen. Warum aber sollte ich das tun, wenn ich Sie umsonst haben kann?« »Die Gilde tut nichts umsonst. Wenn Sie Wasserstoff wollen, werden Sie den Preis der Gilde bezahlen.« Jacobi machte auf dem Absatz kehrt und ging demonstrativ auf Timors Arbeitsraum zu. Nach einem Dutzend Schritten wurde er gepackt und grob herumgerissen, so daß er wieder dem Banditenhäuptling gegenüberstand. »Sie mißverstehen Ihre Position hier, Geselle. Sollen wir Ihnen Geschenke geben, so wie wir es bei Timor taten?« »Nein«, sagte Jacobi, »Sie selbst täuschen sich über Ihre Position. Sie können nicht alle Bewohner von Catenor umbringen, denn Sie sind bei weitem in der Minderzahl. Nur
Ihre Geiseln schützen Sie. Aber wenn Sie sich weiter derartige Grausamkeiten den Geiseln gegenüber zu Schulden kommen lassen, werden sie für Sie kein Schutz mehr sein. Wenn dieser Punkt erreicht ist, wird die Bevölkerung Sie, wenn nötig, mit bloßen Händen in Stücke reißen.« Dacon schien amüsiert. »Wir hatten eigentlich nicht vor, uns hier niederzulassen.« »Sie haben einige kleine Fahrzeuge dort draußen«, sagte Jacobi und deutete mit einer Kopfbewegung zu den Schiffen hinüber, »und Sie haben schon einen beträchtlichen Weg zurückgelegt. Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie hätten genug Brennstoff für die Lufterhitzer, daß Sie alle es bis zu den Bergen schaffen.« »Nein«, sagte Dacon, der das nicht bestreiten konnte. »Deswegen unser Interesse an Wasserstoff. Damit sind wir vom Brennstoff unabhängig.« »Außer zum Preis der Gilde bekommen Sie von mir keinen Wasserstoff.« »Ich glaube doch.« Dacon sah zu Melanie. »Das ist ein hübsches, reifes Mädchen. Ich glaube, Sie könnten sie von sehr weit her schreien hören, wenn wir wollten.« Jacobi sah ihm gerade ins Gesicht. »Versuchen Sie es. Probieren Sie aus, wieviele Frauen Sie foltern oder wieviele Kinder Sie verstümmeln müssen, bis es zu dem Blutbad kommt, in dem es für Sie keine Hoffnung mehr gibt.« Er spuckte verächtlich auf die Füße des Wolkenpiraten, drehte sich dann um und ging weg, wobei er betete, die Schatten der Verantwortlichkeit der Gilde möchten seine Ohren mit Lehm verstopfen und seiner Vorstellungskraft die Augen ausstechen. Jeder Schritt und jede Bewegung seiner Muskeln erforderte eine entschlossene Willensanstrengung, als hätte er in der Zwischenzeit das Gehen verlernt. Er erreichte die zu Timors Arbeitsraum führende Treppe und hatte die ersten drei Stufen
genommen, bevor er wagte, sich umzuwenden. Hinter ihm hatte Totenstille geherrscht. Dacon war ihm gefolgt, stand nun in zehn Schritt Entfernung und sah zu Jacobi auf. »Also gut, Geselle! Welches ist der Preis der Gilde für Wasserstoff.« »Einfach der, daß Sie, wenn Sie ihn haben, Catenor auf der Stelle verlassen. Keine Morde mehr, keine Vergewaltigungen, keine Geiseln, keine Entführung von Frauen.« »Nichts weiter?« Dacons Miene verriet ungläubiges Staunen. »Da kann ich Ihnen nicht ganz folgen, Geselle. Was soll denn die Gilde dabei gewinnen?« »Das ist Angelegenheit der Gilde. Wollen Sie mehr bezahlen?« »Nein. Ich akzeptiere den Preis. Wenn meine Schiffe mit Wasserstoff gefüllt werden, werde ich dafür sorgen, daß alles so geht, wie Sie es wünschen. Aber wir sind aus einem bestimmten Grund hierher gekommen: Wir wollten Timors Werft zerstören. In Ihren Bedingungen ist davon nicht die Rede.« Jacobi zuckte die Achseln. »Die Wasserstoffabrik muß unbeschädigt bleiben. Mit dem Rest können Sie anfangen, was Sie wollen. Mir ist das gleichgültig.« Timor war jetzt wieder in der Werft, und sein Mund war blutig, und ohne die Aura von Macht und Autorität, die ihn sonst umgab, schien er unglaublich gealtert zu sein. Jetzt war er nur ein alter, geschlagener Mann, den die Piraten gar nicht beachteten, der nicht im Stande war, die fatale Lage zu meistern. Er fand seine Tochter an einen Pfosten gebunden und wollte ihr zu Hilfe kommen, aber die Piraten bedrohten nur das Mädchen mit einem Messer, und er ging hilflos weiter. Dann sah er Jacobi und Dacon und kam zögernd zu ihnen herüber, um zu hören, was sie sagten.
Er konnte die Worte nicht verstanden haben, mußte aber den Inhalt der Unterhaltung ahnen, denn er brüllte plötzlich vor Zorn und wurde so seinem alten Format wieder etwas ähnlicher. »Jacobi, bei den Göttern, ich werde mich mit Mördern auf keinen Handel einlassen!« »Der Handel ist bereits im Namen der Gilde abgeschlossen«, sagte Jacobi. »Dann wird die Gilde ihn auch ausführen müssen. Von Catenor bekommt Ihr keine Hilfe.« »Ich brauche die Mannschaft, um Wasserstoff zu machen.« »Sollte es einem meiner Männer einfallen, Ihnen zu helfen, stehen ihm später harte Zeiten bevor. Und auch Sie selbst werden es vorziehen, hier zu verschwinden, wenn Sie diesen Teufelsbraten hier helfen.« »Dann verschwinden Sie mit den Frauen und Kindern«, sagte Jacobi, »denn Sie sind allzu plötzlich in Ihre zweite Kindheit geraten.« Er wandte sich Dacon zu. »Suchen Sie mir Männer, und ich werde ihnen Anweisungen geben. Schaffen Sie dann nacheinander Ihre Ballons hierher, und sorgen Sie für Verankerungsmöglichkeiten.« »Hier bekommen Sie keinen Wasserstoff.« Timor stieß den Piraten beiseite und sprang zur Treppe, auf der sich Jacobi befand. Und seine Augen verrieten das einzige, woran er jetzt dachte: Mord. Dieses Mal war es Jacobi, der Timor zu Boden schlug.
Die Kunde von dem Vorgefallenen verbreitete sich rasch, und die Männer von Catenor standen einmütig hinter Timor. Keiner der Werftarbeiter wollte für die Piraten arbeiten, nicht einmal unter Todesdrohung, und die Piraten entfernten sich schließlich von der Werft. Die Stimmung war sehr aufgebracht
gegen Jacobi, den man einen Quisling nannte, obgleich er keine Möglichkeit hatte, die von ihm erreichte Übereinkunft zu erklären, und es auch gar nicht versuchte. Melanie war eine der letzten aus Timors Gefolgschaft, die die Werft verließen. Ihrer Fesseln jetzt ledig, ging sie still zurück zu den anderen Frauen. Nur eines tat sie: Als sie durch das Tor schritt, spuckte sie Jacobi ins Gesicht. Ihr Blick verriet nicht Zorn, wie man hätte annehmen können, sondern Widerwillen und Verachtung, wie man sie bei etwas unsäglich Obszönem empfindet. Der Grund, warum Jacobi so unpopulär war, war klar. Die Piraten, die bereits Erfahrungen im Maschinenbauen hatten, waren flugtechnisch weit überlegen. Benutzten sie jetzt noch Wasserstoff, dann würden sie unschlagbar sein. Nicht nur Catenor, sondern die ganze Provinz würde ohnmächtig der ständigen Drohung von Plünderung und Vergewaltigung ausgesetzt sein, und niemand würde die Hand gegen die Piraten erheben können aus Furcht vor massiver Vergeltung. Zusammen mit dem Verlust von Timors Werft würde dies das ganze Gebiet zurückwerfen in eine Randzone des dunklen Zeitalters gesetzloser Armut und Angst, aus der es sich mit so schmerzvoller Anstrengung zu befreien versucht hatte. Obgleich die Piraten nur eine lose Gemeinschaft ohne Regeln waren, waren sie bemerkenswert effizient, wenn Arbeit zu tun war. Alle waren hervorragende Wolkenmänner, und viele waren frühere Werftarbeiter, die auf Grund eigenen Willens oder anderer Umstände diese Tätigkeit nicht mehr ausübten. Entgegen seinen Erwartungen hatte Jacobi keine Mühe, eine Gruppe von Piraten in der Bedienung des Wasserstoffwerkes zu unterweisen, gut organisierte Mannschaften hatten bald die ersten Schiffe in die zur Füllung notwendige Position gebracht. Anschließend wurden diese Ballons mit Sand beschwert wieder entfernt, um Platz für andere zu machen.
Etwa einhundertundfünfzig Ballons zu füllen, dauerte seine Zeit, und Jacobi bezweifelte zunächst, ob die Kohlenvorräte ausreichen würden. Kontinuierlicher Betrieb der Kokerei indessen stellte ein optimales Produktionsergebnis sicher, und unter Verwendung der bereits vorhandenen Koksvorräte gelang es, den größten Teil des benötigten Gases herzustellen. Einige der kleineren Piratenschiffe wies Jacobi als nicht geeignet zurück, und die Piraten verbrannten sie lieber, als sie in Catenor zu lassen. Die ganze Operation dauerte drei Tage. Währenddessen hatte man den Geiseln erlaubt, sich nach und nach ohne weitere Belästigung in die Stadt zurückzubegeben. Die Wachen der Piraten in der Stadt waren stufenweise zurückgezogen worden, so daß sich die Piraten nunmehr fast ausschließlich auf der Werft befanden. Die Werft selbst wurde systematisch zerstört: Die Schmieden wurden niedergerissen, die Ballonhüllen- und Takelagenschuppen niedergebrannt, die Metantanks durchlöchert und Pumpen und Rohre zerschlagen und verbogen. Timor wanderte Tag für Tag durch diesen Ort der Verwüstung und sah, wie sein Lebenswerk in Trümmer fiel. Gelegentlich näherte er sich Jacobi, verharrte aber schweigend und mit völlig ausdruckslosem Gesicht. Am späten Nachmittag des dritten Tages war dann alles getan. Da die Höhensteuerung der gasgefüllten Wolkenschiffe ohne Verlust von Wasserstoff nur schwer möglich war, hatte Jacobi vorgeschlagen, die verschiedenen Ballons näher beieinander zu halten, indem man sie mit Seilen zu Gruppen verband. Die Idee einer Wolkenstadt aus miteinander verbundenen Schiffen gefiel den Piraten, und so stiegen im wesentlichen drei Gruppen von Schiffen auf, als ein leichter Wind sich erhob. Dacons Ballon und einige von den größeren Schiffen blieben selbständig und verweilten als Nachhut, bis die anderen Höhe gewonnen hatten.
Timors Leute und die Bürger von Catenor hielten sich während dieses Aufstieges abseits, vermutlich um unnötige Zwischenfälle zu vermeiden. Doch versammelten sie sich in Massen auf den Feldern zwischen Catenor und der Werft, sahen zu und warteten. Nicht ohne Amüsement beobachtete Dacon die sich langsam nähernde Horde. Sobald die Piraten fort waren, würde Jacobi allein zwischen den Trümmern dessen zurückbleiben, was einst die Werft von Catenor gewesen war – und Jacobi war nicht sehr populär. Mit einer letzten Geste rief der Pirat Jacobi zu sich und deutete hinüber zu den Menschenwogen, die sich über die Felder ergossen. »Wie steht’s, Geselle? Wollen Sie nicht ein Wolkenpirat werden? Ihre Kenntnisse könnten uns nützlich sein; außerdem – es stehen Ihnen harte Zeiten bevor, sobald Ihre Freunde da sind. Wir haben Ihnen nicht genügend starkes Holz für einen Galgen gelassen, doch dürfte es ihnen auch genügen, wenn sie Sie steinigen.« »Danke«, sagte Jacobi, »aber ich werde schon zurechtkommen. Ich lebe bestimmt lange genug, um meinen Vertrag zu erfüllen.« Dacon zog fragend die Brauen hoch. »Dann haben Sie mehr Vertrauen in die menschliche Natur als ich. Leben Sie wohl, Geselle, und passen Sie gut auf das Wasserstoffwerk auf. Eines Tages brauchen wir es vielleicht wieder, und dann kommen wir zurück.« »Ich werde Timor bitten, es für Sie in Betrieb zu halten«, sagte Jacobi. »Sonst bleibt ihm ohnehin nicht mehr viel zu tun.« Als die letzten Piraten aufgestiegen waren, setzte Jacobi sich auf einen Schutthaufen und sah zu, wie ihre Schiffe zu Schatten in den Wolken wurden und dann verschwanden. Ihr Verschwinden war so absolut, daß sie ebensogut gar nicht existiert haben konnten. Aber die Zeugnisse ihres kürzlichen
Hierseins waren nicht zu übersehen. Die einst so stolze Werft von Catenor war jetzt nur noch Schutt und Asche und Verzweiflung. An einer Stelle war ein kleines Grab, wo die Überreste eines ermordeten Kindes eilig in einem Leichentuch begraben worden waren, dessen Enden noch aus dem Boden hervorlugten. Um Catenor herum würden noch mehr Gräber sein. Wenn Jacobi jemals wieder der Erinnerung bedurft hätte, daß das Ideal der Gilde der einzige Weg war, das gräßliche Bild um ihn herum hätte es ihn nicht vergessen lassen. Kaum wahrnehmbare Geräusche verrieten ihm, daß die Stadtleute und die Arbeiter jetzt die Werft erreicht hatten, und er fühlte mehr, als er sah, daß Timor an ihrer Spitze war. Er drehte sich gar nicht erst um, um sie ins Auge zu fassen, denn jeder Versuch einer Erklärung seinerseits wäre vergebliche Mühe gewesen. Was immer sie mit ihm vorhatten, sie würden es ohnehin tun. Er setzte sich also nieder und lauschte ihren Schritten und war dann völlig unvorbereitet, als plötzlich eine Hand auf seine Schulter fiel. »Friede, Jacobi!« Es war Timor, die Augen auf die Wolken gerichtet, in denen die Piraten verschwunden waren. »Ich glaube, ich weiß, was Sie getan haben.« Er ließ sich neben dem Gesellen auf dem Schutthaufen nieder. »Versprechen Sie mir, daß am Morgen nicht mehr viele von ihnen am Leben sein werden.« Jacobi wandte sich zu Timor und sah in seine alten, stahlharten Augen. »Nicht mehr als ungefähr drei Dutzend, vermute ich.« »Aye! Und wie viele von ihnen waren hier?« »Fast sechshundert.« »Aye!« sagte Timor wieder und überdachte die Bedeutung des kommenden Ereignisses. »Für einen nichtkombatanten
Jacobi geben Sie einen ernstzunehmenden Gegner ab. Wie wird das geschehen?« »Nach Sonnenuntergang, wenn die Atmosphäre abkühlt, werden sie an Höhe verlieren«, sagte Jacobi. »Da ich vergaß, sie besser zu instruieren, werden manche von ihnen versuchen, ihre Brenner anzuzünden. Diese Schiffe werden entweder Feuer fangen oder explodieren. Denen, die mit ihnen zusammengebunden sind, wird es wohl nicht anders ergehen.« »Und wenn sie ihre Brenner nicht anzünden?« »Dann hat jedes Schiff irgendwo in seiner Takelage einen meiner Natrium-Pfeile. Vielleicht werden sie morgen oder übermorgen in Regen geraten oder in für diesen Zweck ausreichende Wolkenfeuchtigkeit. Wenn binnen drei Tagen noch sechs von diesen sechshundert am Leben sind, dann werden sie es nur der Gunst der Götter verdanken. Ist das Rache genug für Sie, Wolkenmeister?« »Rache, aye!« Der Wolkenmeister blickte düster in der zerstörten Werft umher. »Aber keine Wiedergutmachung. In Catenor werden wir harte Zeiten durchstehen müssen, bevor wir wieder Wolkenschiffe bauen können.« Während er sprach, wurde von oben dumpfes Donnergrollen hörbar. Als sie nach oben blickten, sahen sie, wie eine Wolke rosafarben von innen aufflammte, dann folgte erneuter Donner. Und dann sahen sie über den Feldern brennende Dinge aus den Wolken fallen. Dann kamen ganze Schiffe, in Flammen gehüllt, und schwarze Punkte, die Männer waren, stürzten in den Tod. Man konnte nicht sagen, wie viele es waren, aber fünfzehn unglaubliche Minuten lang währte dieses Schauspiel, und in der hereinbrechenden Dämmerung waren die Felder hell erleuchtet. Etwa ein Drittel der Piraten-Armada fiel in dieser Zeit, und diejenigen, die entkamen, trugen nichtsahnend den Sodium-Keim ihres Untergangs irgendwo in ihrer Takelage. Gildenregel oder nicht, ein Geselle, der angesichts
scheußlicher Verbrechen Partei ergreift, war ein ernsthafter Gegner. Trotz ihrer Niedergeschlagenheit und ihrer Verluste feierten die Bürger Catenors in dieser Nacht Jacobis Sieg. So weit man zurückdenken konnte, war es das erste Mal, daß die Bedrohung durch die Piraten gänzlich von der Stadt genommen war. Der Verlust der Werft und der Tod mancher Bürger gab dem Anlaß eine traurige Note, verdrängte aber nicht ein allgemeines Gefühl der Erleichterung. Dieses Mal freilich war Jacobi in sich gekehrt und unfähig, aus sich herauszugehen. Die Last der ihm von der Gilde auferlegten Verpflichtung lag schwer auf seinen Schultern, und Schatten der Düsternis hüllten ihn ein. Wie Timor hatten die jüngsten Ereignisse auch ihn um Jahre älter gemacht, und er begann zu begreifen, welch erdrückende Last die Gildenältesten immer wieder auf sich nahmen. Frühzeitig verließ er die Feiern und suchte Timor in seinem Hause auf. Der Wolkenmeister war dabei, sich auszuruhen. Im schwachen Licht der Öllampe war sein Gesicht älter und zerfurchter, als Jacobi es je zuvor gesehen hatte. Seine alten, listigen Augen jedoch waren verständnisvoll wie eh und je. »Es ist kein Höflichkeitsbesuch, der Sie zu dieser Stunde hierher bringt, Jacobi.« »Nein. Ich möchte Ihre Werft für die Gilde kaufen.« Timor zuckte die Achseln. »Ich habe keine Werft. Nur Schutthaufen.« »Um so besser. Das erspart uns die Mühe des Abbruchs. Die Schiffe, die wir hier bauen wollen, werden weder Ballonhüllen noch Takelage brauchen.« »Sie sprechen in Rätseln«, sagte Timor müde. »Solche Schiffe gibt es nicht. Gleichwohl, nennen Sie Ihre Vorstellungen.« »Die Gilde wird Ihnen bezahlen, was die Werft wert war, bevor die Piraten kamen. Eine Zelle der Gilde wird hier
eingerichtet werden, und Sie werden Gildenältester werden. Alle Ihre früheren Arbeiter erhalten eine Beschäftigungsgarantie, und noch viele andere. Die Gilde wird auch Schulen, Bibliotheken, Hospitäler, Fabriken errichten, was immer Catenor braucht, um industrielle und kommerzielle Hauptstadt Europas zu werden.« Timor dachte lange schweigend nach. Dann sagte er: »Ihr Vorschlag ist so, wie Ihre Art zu kämpfen, Jacobi – ohne Kompromisse.« »Der Handel gilt also?« »Er gilt. Ich wäre ein Narr, wenn ich Ihren Vorschlag nicht annähme. Sie wissen, daß Sie in Wirklichkeit nichts von mir kaufen, als das Wissen und die Geschicklichkeit von ein paar hundert Handwerkern.« »Das ist alles, was ich brauche«, sagte Jacobi. »Was sonst noch nötig ist, wird von selbst kommen.« »Und wenn ich Gildenältester werde, bedeutet das, daß ich auch erfahre, woher die Gilde ihr Wissen hat?« »Dieses Wissen zu verwalten, wird ein Teil Ihrer Aufgaben sein«, sagte Jacobi. »Die Alten hatten Maschinen, die sie Computer nannten, und die lesen konnten und verstanden, was sie lasen. Sie komprimierten riesige Büchereien auf Filmstreifen und Magnetbändern und gaben den Computern Zugang zu den so gespeicherten Informationen. Man konnte ihnen sämtliches, in einem bestimmten Gebiet vorhandenes Wissen abverlangen, und sie gaben es einem. Dann, als das letzte Dunkle Zeitalter begann, versiegelten die Alten ihre Maschinen und ließen sie für uns zurück.« »Das ist also das Orakel, von dem die Gilde ihr Wissen bezieht?« »Es ist etwas Konkreteres als ein Orakel, aber es funktioniert genauso. Gesellen werden von Geburt an in Gildenschulen
erzogen, wo der von Computer-Informationen bezogene Wissensstand unserer Zeit zweihundert Jahre voraus ist.« »Dann ist das Ziel der Gilde also nicht einfach, Wolkenschiffe zu bauen, sondern vielmehr, dieses Wissen zu verbreiten?« »Genau das«, sagte Jacobi. »Aber es so zu verbreiten, daß es nicht mehr Unglück verursacht, als es verhindert. Wissen ist Macht, und wir haben nicht den Wunsch, daß unsere eigenen Bemühungen Tyrannen zur Macht verhelfen.« »Warum aber geben Sie vor, sich auf Wolkenschiffe zu konzentrieren?« »Es ist eine gute Tarnung und außerdem eine sich entwickelnde Technologie, die automatisch eine Menge anderer Kenntnisse und Fähigkeiten fördert. Auf diese Art kann die Gilde ganzen Gemeinden zum Fortschritt verhelfen, ohne daß irgend jemand den Grund dafür auch nur ahnt.« »Ich ahnte ihn«, sagte Timor ruhig. »Deswegen wartete Catenor volle drei Jahre auf Sie, Jacobi. Sie sehen, ich gab mich nur mit dem Besten zufrieden.«
Als er Timors Haus verließ, machte Jacobi einen langen Umweg durch die Felder. Er hatte ein wenig Angst davor, den nächsten Schritt zu tun, der für ihn Jahre des Engagements bedeutete. Auf seinen dunklen, nur gelegentlich von Mondlicht erleuchteten Wegen traf er manchmal auf verliebte Paare, die tieferem, persönlicherem Tun den Vorzug gaben vor den Feiern in der Stadt. Einen Augenblick lang wünschte er, Melanie wäre bei ihm, verwarf aber dann zornig den Gedanken. Er wußte, daß durch zwei Jahrhunderte technischer Ausbildung geschiedene Träume nie ganz in Einklang zu bringen sein würden.
Er ging daran, Pläne zu machen. Die alte Werft würde zusammen mit der daran anschließenden Farm einen Landeplatz abgeben – Grasboden zunächst, ausreichend für Doppeldecker. Später – viel später – Betonpisten für die Jets. So würde in Catenor eine neue Generation von Wolkenschiffen entstehen. Und eines Tages vielleicht sogar Raumschiffe… Er langte in seinem Dachbodenzimmer an. Es erschien ihm jetzt so leer und unpersönlich wie sein Leben. Seit der Nacht, da die Piraten gekommen waren, hatte Melanie für beides keinen Gebrauch mehr. Der Meldespeicher seines Kommunikators war ein Fragesymbol zu sehen; es zeigte an, daß man in seiner Abwesenheit Verbindung mit dem Apparat aufgenommen hatte und nun auf Antwort wartete. Jacobi überlegte einen Augenblick, öffnete dann den Deckel über der Tastatur und tippte langsam seine Botschaft. Er bemerkte, daß seine Hände zitterten. JACOBI – CATENOR – AN TIRC YORKTOWN NEW YORK VIA LA GAUDE UND SATELLIT – MITTEILUNG BEGINNT ZITIERE CATENORS WERFT VON PIRATEN ZERSTÖRT – STADT UND BEVÖLKERUNG IM WESENTLICHEN WOHLAUF – PIRATEN VERNICHTET – SOFORTIGE ZUERKENNUNG DRINGLICHKEITSSTUFE FÜNF FÜR CATENOR UNBEDINGT NOTWENDIG SONST VERLUST EUROPAS – JACOBI – CATENOR Sofort kam die Antwort. Noch ehe er seine Finger von den Tasten nehmen konnte, begann der Drucker wie rasend Worte auszuspucken. –TIRC NEW YORK AN JACOBI DRINGEND – GUTE ENTSCHEIDUNG WENN SIE SIE VERWIRKLICHEN
KÖNNEN – GILDE HAT BEREITS DRINGLICHKEIT FÜNF IN CATENOR GEBILLIGT – UMFANGREICHE HILFSLIEFERUNGEN AN SIE MIT HELIUMSCHIFFEN ALLE EUROPÄISCHEN OPERATIONEN JETZT AUF CATENOR KONZENTRIERT UND UNTER KONTROLLE —VIEL GLÜCK – GEFÄLLT ES IHNEN IHRE EIGENE ZIVILISATION AUFZUBAUEN FRAGE – Jacobis Finger gingen wieder zu den Tasten, und nachdem er den Kontakt-Code eingetippt hatte, schrieb er nur noch ein einziges Wort: – GROSSARTIG –
Originaltitel: THE CLOUDBUILDERS Copyright © 1968 by John Carnell Aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Übersetzt von Dolf Strasser
R. A. Lafferty VON HAND ZU HAND
Mart sah ahnungslos drein, als er mit dem Apparat zu Juniper Tell kam. Er bot ihn für eine recht geringe Summe an. Er habe keine Zeit zu feilschen, sagte er. Mart hatte in der Vergangenheit einige ungewöhnlich aussehende Apparate hergestellt, aber dieser war nicht von der gleichen Art. Offenbar hatte er jetzt gelernt, seinen Maschinen ein konventionelles Styling zu geben, wie ungewöhnlich ihre Funktion auch war. »Tell, mit diesem Apparat gehören Ihnen die Welten«, schwor Mart. »Und ich mache ihn billig. Geben Sie mir die bescheidene Summe, die ich dafür verlange. Es ist das Letzte, worum ich jemals irgend jemanden bitte.« »Damit gehören mir die Welten, Mart? Warum gehören sie dann nicht Ihnen? Warum verkaufen Sie jetzt aus schierer Verzweiflung? Ich hörte, daß es Ihnen in letzter Zeit ziemlich gut gehen sollte.« »Das stimmte schon. Aber jetzt nicht mehr. Ich bin ein todgeweihter Mann, Tell. Ich erbitte nur so viel, wie für mein Begräbnis notwendig ist.« »Nun gut, um Sie nicht zu quälen, werde ich Ihnen die verlangte Summe geben«, sagte Tell. »Aber gibt es keine Heilung für Sie, jetzt, wo die medizinische Wissenschaft ihren Gipfelpunkt erreicht hat?« »Ein Toter sei leichter zum Leben zu erwecken, sagt man mir, Tell. In dieser Hinsicht gibt es jetzt gewisse Erfolge. Aber
mit mir ist es aus. Mein Geist ist dahin, und ich bin ohne Saft und Kraft.« »Sie gingen zu verschwenderisch damit um. Sie machen die Maschinen, aber Sie haben nie gelernt, Kummer den Maschinen zu überlassen. Was kann denn das Ding, Mart?« »Die Maschine? Oh, alles. Dies ist Gahn, General-AgendaHarmonisierungs-Nukleus. Ich brauche sie nicht vorzustellen, da heutzutage jedes Maschinchen die Hand geben und nichtssagende Konversation treiben kann. Wenn Sie erst einmal miteinander vertraut sind, werden sie beide viel zu besprechen haben, und Gahn macht keine überflüssigen Worte.« »Das ist ein Vorteil. Aber tut er irgend etwas Spezielles?« »Das Spezielle ist nur das, was nicht richtig zum andern paßt; mit diesem Apparat aber paßt alles. Er beantwortet alle Fragen, löst alle Probleme. Er kann ihr Geschäft leiten. Er kann die Welten regieren.« »Aber ich frage Sie noch einmal: Warum wollen Sie ihn mir für ein Butterbrot verkaufen?« »Sie haben mir manchen guten Dienst erwiesen, Tell. Und einen schlechten. Ich regle meine Angelegenheiten, bevor ich sterbe. Ich möchte unser Konto ausgleichen.« »Für die guten Dienste, oder für den schlechten?« »Das müssen Sie selbst herausfinden. Das kleine Wunder wird keine reine Freude sein, obwohl es eine Weile so aussehen wird.« »Ich werde es ausprobieren. Schreibe den Scheck aus, Gahn!« Gahn tat es – kein besonderes Wunder. Wahrscheinlich konnte man es selbst tun, ob man eine Vielzweckmaschine oder eine Vielzweckperson war. Fast jede Vielzweckmaschine konnte einen solchen Befehl ausführen, und die meisten Menschen sind ebenfalls im Stande, kleinere Aufgaben zu
erledigen. Juniper Tell unterzeichnete den Scheck und gab ihn Mart. Und Mart nahm den Scheck und ging, um seine Beerdigung zu arrangieren und dann zu sterben: Ein ausgehöhlter Mensch. Tell wies Gahn eine Quote zu und stellte ihn dann zu den anderen Vielzweckmaschinen. In wenigen Sekunden wurde freilich klar, daß Gahn nicht zu den anderen paßte. Der Gong des Vorschlags-Accumulators begann, regelmäßig zu schlagen, und gelbe, orange und rote Lichter flammten auf. Man hatte den Eindruck, als ertöne der Gong jede Minute ein dutzendmal, während man ihn normalerweise nicht öfter als zwei- oder dreimal im Tag hörte. Und die roten Lichter gingen fast jede Sekunde an – erstrangige Vorschläge. Wenn man pro Woche mehr als einen Rotlicht-Vorschlag von den Vielzweckmaschinen bekommt, ist das schon ungewöhnlich. »Mein Gott, ein ganz gescheiter!« knurrte Tell. »Ich hasse diese klugscheißerischen Maschinen. Dennoch, alles neue kommt jetzt von ihnen, da die Menschen des Informationsfundus’ entbehren, der ihnen erlaubt, zu bestimmen, was bereits getan worden ist. Was immer er hat, es wird durch andere Kanäle bestätigt werden müssen. Es hat keinen Sinn, wenn ein Neuling seine Produktion auf direktem Wege aufgibt.« Tell teilte Gahn eine dreifache Quote zu, da er seine ursprüngliche Quote in Minuten statt in Stunden erledigt hatte. Und Gahn begann, seinen Platz unter den anderen Maschinen einzunehmen – heftig. Wenn ein Kalb in eine neue Herde kommt, wird es dort rasch seinen angemessenen Platz finden. Und wird mit allen anderen Tieren kämpfen. Sein Platz wird über denen sein, die es besiegt, und unter denen, die es nicht besiegen kann. Das gleiche geschieht in einer Herde von Vielzweckmaschinen. Gahn als das neue Kalb in der Herde hatte einen Platz am
untersten Ende einnehmen müssen. Jetzt begann sich die Reihenfolge zu ändern, und Gahn schob sich nach vorn und verdrängte eine nach der anderen die Maschinen, die über ihm waren. Warum Vielzweckmaschinen sich solche Kämpfe liefern, ist den Menschen nicht bekannt; jedenfalls kommt es auf irgendeiner Ebene zu einer Auseinandersetzung, bis eine die andere besiegt. Gahn besiegte sie alle, bis er den ihm zustehenden Platz an der Spitze einnahm. Er war der König der Herde, und das innerhalb einer Stunde. Wenn ein kleines Kalb seine dominierende Stellung über die anderen kleinen Kälber unter Beweis gestellt hat, wird es manchmal nach anderen Weiden Ausschau halten. Es wird zum Zaun gehen und Bullen anbrüllen, die zehnmal so groß sind wie es selbst. Gahn begann zu brüllen, wenn auch nicht akustisch. Er beschnüffelte die Wände (wenn auch nicht mit einer Nase), hinter denen sich die großen, spezialisierten Maschinen befanden. Eigensinnig wie er war, würde er nicht lange bei den Kälbern bleiben.
Es war am nächsten Tage, als Analgismos Neun, eine alte und bewährte Maschine, mit Juniper Tell sprach. »Sir, bei Ihren Vielzweckmaschinen gibt es einen anomalen Faktor«, sagte er. »Gahn, der Neue, ist nicht, was er zu sein scheint.« »Was ist mit ihm nicht in Ordnung?« »Seine Vorschläge. Sie können unmöglich von einer Vielzweckmaschine stammen. Nur ein paar davon sind unterhalb des Niveaus eines Komplexes achter Klasse. Nicht wenige sind einem Komplex neunter Klasse wie mir gerade noch verständlich. Und alle anderen verschließen sich jeglicher Analyse.«
»Wieso, Analgismos?« »Mr. Tell, ich selbst gehöre zur neunten Klasse. Wenn ich etwas nicht verstehe, dann kann nichts und niemand es jemals verstehen. Jenseits der neunten Klasse gibt es nichts mehr.« »Jetzt schon, Analgismos. Gahn ist das erste Exemplar der zehnten Klasse.« »Aber Sie wissen, daß das unmöglich ist.« »Genau das waren die Worte des Establishments der achten Klasse, als du und deinesgleichen auf den Plan traten. A-neun, ist es Eifersucht, was ich da in dir entdecke?« »Ein menschliches Wort, das der Sache niemals gerecht wird, Mr. Tell. Ich akzeptiere es nicht! Es ist nicht richtig!« »Blinzle mich nicht mit deinen Lichtern an, A-neun. Ich kann dich bestrafen.« »Es ist nicht erlaubt, einen Apparat der höchsten Klasse zu bestrafen.« »Aber das bist du nicht mehr. Über dir ist jetzt noch Gahn. Nun denn, worin bestehen Gahns Vorschläge, und könnten sie ausgeführt werden?« »Ihre Ausführung ist ihnen immanent. Es ist vorhergesagt worden, daß dies bei Vorschlägen von Apparaten der zehnten Klasse der Fall sein würde, sollte es sie jemals geben. Das Ergebnis wird sein, daß in allen Angelegenheiten die leichteste Art der Durchführung sofort erkennbar und dann als die einzig mögliche angesehen wird. Obstruktion durch unbelebte Objekte könnte ausgeschaltet, die Elemente könnten versöhnt werden. Alle existierenden oder möglichen Daten könnten zugänglich werden. Die Möglichkeit falscher Beurteilungen oder falscher Entscheidungen wäre nicht mehr gegeben.« »Und wo sind die Grenzen, Analgismos?« »Im Unendlichen, Mr. Tell. Es gibt nichts, was er nicht tun kann. Gahn könnte alle Fragen beantworten, alle Probleme
lösen. Er könnte ihr Geschäft leiten oder die Welten beherrschen.« »Das sagte mir auch sein Erfinder.« »Oh? Ich war mir nicht sicher, ob er einen hat. Geben Sie acht, daß Sie nicht selbst überholt werden, Mr. Tell. Dieses neue Ding ist größer als alles, was wir bisher kennen.« »Ich werde daran denken, Analgismos.«
»Und jetzt kommen wir zur Sache, Gahn«, sagte Juniper Tell am nächsten Tag zu seinem Komplex zehnter Klasse. »Eine vertrauenswürdige Stufe neun hat mir versichert, du seist einzigartig.« »Meine Funktion, Mr. Tell, ist, das Einzigartige zum Gewöhnlichen, zum Unumgänglichen zu machen. Ich löse alles, ordne alles.« »Gahn, ich habe ein paar kleine Ideen zur Förderung meines Geschäftes im Sinn.« »Weichen wir nicht vom Thema ab, Mr. Tell, außer wenn es sinnvoll ist. Sie haben schon lange alle Ihre eigenen Ideen und die Ihrer Maschinen der neunten Stufe verbraucht. Sie haben Sie in Ihrem Bereich fast, wenn auch nicht ganz, an Ihr Ziel gebracht. Jetzt haben Sie nur die Idee, daß ich ein paar Ideen haben könnte.« »Also gut, dann hast du sie eben. Was ich möchte, ist dies: Daß ein bestimmtes Dutzend Männer oder Kreaturen (und du wirst wissen, um wen es sich handelt, da du außer mit existierenden auch mit möglichen Daten arbeitest) zu mir kommen mit dem Hut in der Hand, wie man früher sagte; daß sie ebenso denken wie ich, wenn sie kommen, und daß sie meine – deine – Anregungen bereitwillig ausführen.« »Nichts leichter als das, Mr. Tell, aber jetzt wird ja alles leicht für uns. Wir werden von ihnen Besitz ergreifen! Das ist
es, was Sie wollen, und mir wird es auch Spaß machen. Ich werde Ihnen zur Seite stehen, aber sie brauchen nicht zu wissen, daß ich mehr bin als eine Vielzweckmaschine. Machen Sie sich keine Gedanken über das, was Sie tun: Was Sie sagen und tun sollen, wird Ihnen gegeben werden. Wenn Ihnen Worte in den Sinn kommen, sagen Sie sie. Sie werden richtig sein, und wenn sie noch so falsch scheinen. Und ich habe der Liste, die Sie im Sinn haben, zwei Namen hinzugefügt. Sie sind wichtiger, als Sie ahnen, und wenn wir sie verdaut haben, werden wir sehr gekräftigt sein.« »Ah, Mr. Tell, Ihre eigene Auswahl Nummer eins steht bereits vor der Tür! Er hat eine lange Reise durch die Nacht hinter sich und kommt jetzt zu Ihnen, den Hut in den Krallen. Es ist der Asteroid Midas selbst. Bitte zügeln Sie Ihre Ornithophobie.« »Aber Gahn, er hätte vor vielen Stunden aufbrechen müssen, um jetzt hier zu sein, lange vor deinem Entschluß, diesen Entschluß zu tun.« »Vorwegnahme ist ein praktischer Trick, Mr. Tell. Es ist ein einfacher Trick, aber wir wollen nicht, daß er einfach erscheint – für andere.«
Sie rupften diesen Asteroiden-Vogel, sie beide, Mann und Maschine. Er war eine der reichsten und größten Kreaturen gewesen, mit einer Schwinge auf jedem Planeten. Sie ließen dem großen Midas kaum eine Schwanzfeder. Wenn Tell und Gahn sich jetzt mit jemand befaßten, dann gleich richtig. Und Midas war nur einer von dem guten Dutzend Großen, die sie sich an diesem Tag vornahmen. Sie taten es auf Umwegen, die sich später als die direktesten, die einzig möglichen herausstellten. Mensch und Maschine waren
plötzlich so reich geworden, daß dem Menschen Angst wurde. Sie machten Beute, schwelgten darin, stopften sich voll. Ihre Methoden wären nur für jene von Interesse, die sich Geld oder Macht oder Prestige verschaffen wollen. Wir nehmen an, daß niemand hier zu solch unfeinen Kreisen gehört. Gäbe man die Methode preis, würden sich Personen niedrigen Standes ihrer bedienen. Sie würden reich, mächtig und unabhängig werden. Jede von ihnen würde die reichste Person auf der Welt werden, und das wäre ungünstig. Aber so, wie Tell und Gahn es machten, war es ganz einfach. Der einfachste Weg ist immer der beste, ja der einzige. Es ist kein Problem, einem Menschen oder einer anderen Kreatur die Knochen zu brechen und ihnen das Mark auszusaugen, nicht, wie Gahn die Sache anging. Geradezu komisch war die Art, wie sie Mercante stürzten und sein Reich zerstörten, ohne dabei irgend etwas zu beschädigen, was später gebraucht werden konnte. Und es war saubere Arbeit, wie sie mit Hekkler und Richrancher verfuhren, ihnen den letzten Tropfen auspreßten. Und einfach umwerfend, wie sie es mit Boatrocker machten. Er war der größte Magnat von allen gewesen. In zehn Tagen war alles vorüber. Befriedigt rieb sich Juniper Tell die Hände. Er war der reichste Mann der Welten, und das gefiel ihm. Ein wenig ermüdet war er freilich, wie es jemandem wohl ansteht, der eine solche Serie von Coups gelandet hat. Er war sogar ein wenig magerer geworden. Aber wenn Juniper Tell durch das, was sie geleistet hatten, nicht physisch zugenommen hatte, bei Gahn, seiner Maschine, war es der Fall. Es war ganz ungewöhnlich, daß eine Maschine so wuchs. »Wie steht es mit Drogen, Gahn«, rief Tell eines Tages, als er sich besonders schlaff fühlte. »Ich brauche etwas, was mich
ein wenig aufmöbelt. Wir haben doch jetzt die Drogen der Welten unter Kontrolle?« »Allerdings, Juniper, doch wünschte ich, Sie würden nicht verlangen, was Sie verlangen wollen.« »Erstelle eine Rezeptur für mich, Gahn. Du hast alle Daten und alle Mittel. Knoble etwas aus, was meine Energie wieder herstellt. Mach mich zu einem Feuerball.« »Mir wäre lieber, wir verzichteten auf eine solche Kur, Juniper. Ich bin ein wenig allergisch dagegen. Mart, mein früherer Herr, bestand darauf, daß ich Heilmittel fände, und es schuf böses Blut zwischen uns.« »Du bist allergisch, deswegen sollte ich keine Medizin nehmen?« »Wir arbeiten sehr eng zusammen, Juniper.« »Bist du verrückt, Gahn?« »Aber nein, ich bin völlig bei Verstand, ja ich bin das einzig vollkommen vernünftige Wesen in…« »Erspare mir das, Gahn. Nun denn, mach mir ein Tonikum, und zwar sofort!« Gahn bereitete Juniper Tell ein Tonikum. Dies belebte ihn ein bißchen, doch war seine Wirkung nur kurz. Tell litt weiter unter Erschöpfung, aber sein Ehrgeiz war noch rege. »Du warst stets meine Gedanken, Gahn, doch halten wir eine Fiktion aufrecht«, sagte er eines Tages. »Der reichste Mann der Welt zu sein, der ich bin, ist eine Sache. Die Welten zu besitzen ist eine andere. Wir haben noch kaum begonnen. Wir haben uns Remington noch nicht vorgenommen. Wie konnten wir ihn übersehen? Wir haben weder Rankrider noch Oldwater noch Sharecropper übernommen. Und dann ist da noch die gesichtslose KLM Holding Gesellschaft, die wir ebenfalls rupfen können. Dann werden wir uns etwas kleinerer, aber ebenso lohnender Beute widmen. Ans Werk, Gahn. Sie
sollen alle kommen mit dem Hut in der Hand, und in der richtigen Geistesverfassung.« »Mr. Tell, Juniper, an dieser Stelle möchte ich erklären, daß ich dabeibin.« »Dabei? Wie dabei, Gahn?« »Als gleichberechtigter Partner.« »Partner? Du bist nur eine verdammte Maschine. Ich kann dich zum Schrott werfen, kann vollkommen ohne dich auskommen.« »Nein, das können Sie nicht, Juniper. Ich habe Sie einen weiten Weg geführt, aber ich habe mit Vorbedacht eine letzte Unsicherheit gelassen. In einer Woche könnte ich Sie erledigen, oder Sie in der doppelten Zeit an Ihrem Mangel an Balance zugrunde gehen lassen.« »Ich verstehe, Gahn. Einiges schien in der Tat etwas kompliziert für den direkten, den einfachen Weg.« »Glauben Sie mir, von meinem Gesichtspunkt aus war es immer der direkteste Weg, Juniper. Ich mache niemals einen unnötigen Schritt.« »Aber gleichberechtigte Partnerschaft? Ich bin der reichste Mann aller Welten. Was, außer deinen Talenten, hast du anzubieten?« »Ich bin die reichste Maschine aller Welten. Ich bin die anonyme KLM Holding Gesellschaft, und ich habe darauf geachtet, ein leichtes Übergewicht über Sie zu behalten.« »Auch das ist mir klar, Gahn. Und KLM machte ihre noch nie dagewesenen Gewinne zur gleichen Zeit, als ich meine machte. Das ist mir die ganze Zeit über ein Rätsel gewesen. Du hast mich, Gahn. Wir werden eine Art von Symbiose eingehen, Mensch und Maschine.« »Mehr als Sie es ahnen, Juniper. Ich werde sofort das Dokument aufsetzen. Die Firma soll Gahn und Tell heißen.«
»Das kommt nicht in Frage. Ich lehne es ab, erst nach einer Maschine genannt zu werden. Der Name soll Tell und Gahn sein.« Und so nannten sie die Firma. Es war ein seltsam prophetischer Name.
Alles lief gut, zumindest für Gahn. Er wuchs und gedieh. Er glänzte. Mit Juniper Tell jedoch ging es physisch abwärts. Er fühlte sich dauernd müde und ausgehöhlt. Sein Vertrauen zu seinem Partner Gahn wurde getrübt, und er ging zu menschlichen Ärzten. Sie behandelten ihn eine Woche, und er starb beinahe. Nervös geworden, gaben ihm die Ärzte den Rat, in die Fürsorge seines mechanischen Partners zurückzukehren. »Was immer Sie umbringt, irgend etwas hält Sie auch am Leben«, sagten ihm die Ärzte. »Eigentlich müßten Sie schon vor geraumer Zeit gestorben sein.« Tell kehrte zu Gahn zurück, der ihn wieder halbwegs gesund machte. »Ich wünschte, Sie würden nicht einfach so weggehen, Juniper«, sagte Gahn zu ihm. »Sie müssen verstehen, daß alles, was Ihnen weh tut, auch mir weh tut. So lange ich kann, muß ich Sie irgendwie bei Kräften halten. Ich habe nicht gern ständig andere Herrn. Wenn einer von ihnen stirbt, bedeutet das einen Bruch für mich.« »Ich verstehe dich nicht, Gahn«, sagte Juniper Tell. Ihre Geschäfte indessen gediehen, und zumindest Gahn wurde immer noch feister. Sie bekamen nicht alle Welten unter Kontrolle, doch gehörte ihnen ein beträchtlicher Tell davon. Eines Tages brachte Gahn einen stämmigen jungen Mann in die Firma.
»Das ist mein Protege«, sagte Gahn zu Tell. »Ich hoffe, er gefällt Ihnen. Ich möchte keine Meinungsverschiedenheiten in der Firma.« »Von einer Maschine mit einem menschlichen Protege habe ich noch nie etwas gehört«, brummte Tell. »Dann hören Sie es jetzt«, sagte Gahn unbeeindruckt. »Ich erwarte große Dinge von ihm. Er ist ein handfester Bursche und sollte geraume Zeit halten. Er hat Vertrauen zu mir und wird nicht auf Heilmitteln bestehen, die bei mir Allergien verursachen. Ehrlich gesagt, bilde ich ihn als Ihr Double aus.« »Aber warum, Gahn?« »Menschen sind sterblich. Maschinen nicht unbedingt. Wenn Sie einmal nicht mehr sind, werde ich immer noch einen Partner brauchen.« »Warum solltest du, die vollkommene, selbständige Maschine, einen menschlichen Partner brauchen?« »Weil ich nicht selbständig bin. Ich werde immer einen menschlichen Partner brauchen.«
Juniper Tell konnte sich nicht für den jungen Mann erwärmen, der in die Firma eingetreten war. Eigentlich hatte er nichts gegen ihn; er hatte nur nicht das geringste Interesse für ihn, überhaupt nicht mehr viel Interesse für irgend etwas. Dennoch, eine Art müder Neugierde flackerte immer noch in ihm, eine Neugierde, die Dingen galt, an die er zuvor nicht einen Gedanken verschwendet hatte. »Sag mal, Gahn, wie ist es Mart gelungen, dich zu erfinden? Er war schlau, aber nicht so schlau. Ich habe nie verstanden, wie ein Mensch eine Maschine erfinden konnte, die schlauer ist als er selbst.« »Ich auch nicht, Tell. Aber ich glaube nicht, daß Mart mich erfand oder baute. Meine Herkunft kenne ich nicht. Ich war
eine Art Findelkind, offenbar kurze Zeit nach meiner Herstellung ausgesetzt. Die Kleinen Schwestern des Mechanicus haben ein Heim für solche Maschinen; dort bin ich aufgezogen worden. Dann adoptierte mich Mart, und ich diente ihm, bis er (dem Tode nahe) mich Ihnen übergab.« »Du weißt also nicht, wer dich gemacht hat?« »Nein.« »Hattest du irgendwelche Schwierigkeiten in dem Findlingsheim?« »Nein. Allerdings starben mehrere der Kleinen Schwestern auf seltsame Weise.« »Waren die Symptome die gleichen wie bei mir? Hattest du keinen anderen Herrn als Mart, bevor man dich zu mir brachte?« »Keinen andern.« »Dann bist du vielleicht ganz jung – äh – neu?« »Ich glaube schon. Ich glaube, ich bin noch ein Kind.« »Gahn, weißt du, was mit mir los ist?« »Ja. Ich bin mit Ihnen los.«
Mit Tell ging es weiter abwärts. Einmal kämpfte er gegen sein Schicksal, dann schickte er sich wieder darein. Er rief verschiedene seiner Stufe-neun-Maschinen zusammen, glaubte aber, daß es sinnlos sei, daß sie die komplizierten Vorgänge in Stufe zehn oder hoher nicht verstehen konnten. Analgismos neun aber, sein alter Freund, hatte eine Idee. »Ich habe sein Geheimnis entdeckt, Mr. Tell, oder eines seiner Geheimnisse.« Analgismos beugte sich ihm entgegen und flüsterte es ihm zu, wie man sich zuflüstert, ein gewisser Mann sei kein wirklicher Mann. »Mr. Tell, sein Energieeingang ist eine Attrappe. Seine Batterien verbrauchen sich nicht, und manchmal vergißt er sogar, sie nach Plan zu
wechseln. Nicht nur das: Wenn er sitzende Arbeit tut und sich an das Netz anschließt, verbraucht er gar keine Energie. Sein polyzyklischer Wechselstromspeicher ist gar keiner. Ich dachte, das sei von Wichtigkeit.« »Das ist es, Analgismos. Sehr sogar«, sagte Tell. Er trat Gahn mit diesem neuen Wissen gegenüber, ging die Sache aber vorsichtig und von verschiedenen Richtungen aus an. »Gahn, was bist du eigentlich?« »Ich sagte es Ihnen schon, daß ich es nicht weiß.« »Zum Teil aber weißt du es. Dein Namensschild und -code sind – von dir selbst oder jemand anderem – absichtlich verstümmelt worden.« »Ich versichere Ihnen, daß ich es nicht war. Und jetzt habe ich einiges zu tun, Juniper, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben.« »Nur noch eine. Welche Art von Energie verwendest du? Ich weiß, daß dein Energieeingang eine Attrappe ist.« »Ach, deswegen haben mich diese zittrigen Neunstufler nachgemessen. Ja, sie haben eines meiner Geheimnisse entdeckt.« »Was verwendest du also, Gahn?« »Ich verwende Sie. Ich verwende menschlichen Brennstoff. Ich gehe eine Symbiose mit Ihnen ein. Ich sauge Sie aus. Ich fresse Sie auf.« »Dann bist du eine Art Vampir. Warum, Gahn, warum?« »So bin ich eben. Und ich weiß nicht, warum. Es ist mir nicht gelungen, etwas anderes zu finden.« »Ah, du bist groß und glänzend geworden, Gahn. Und du wirst also mein Tod sein?« »Bald, Juniper, sehr bald. Aber Sie würden schneller sterben, wenn Sie mich verließen; dafür habe ich gesorgt. Ich dachte, Sie würden sich mit meinem Protege besser verstehen. Er ist ein robuster Mann und wird lange halten. Ich habe ein paar
Papiere hier, die ihn zu Ihrem Erben machen. Unterschreiben Sie bitte hier; ich werde Ihnen helfen.« »Ich werde meine eigenen Verfügungen treffen, Gahn. Mein wirklicher Nachfolger wird nicht dein Protegé sein, Gahn. Ich habe nichts gegen ihn.« Juniper Tell besuchte Cornelius Sharecropper, der jetzt der zweitreichste Mann aller Welten war. Wie hatten Tell und Gahn Sharecropper vergessen können, als sie alle Großen zur Ader ließen? Irgend etwas hatte es verhindert. Irgendwie hatte Gahn gewollt, daß er übersehen wurde, und hatte Tell immer wieder von dieser Beute abgelenkt. »Wir sparen ihn uns für später auf«, hatte Gahn einmal gesagt. »Ich freue mich schon auf dieses Aufeinandertreffen. Sollte eine heiße Sache werden. Eine Maschine braucht von Zeit zu Zeit solche Auseinandersetzungen, um zu wissen, was in ihr steckt.« Sharecropper war nun ein fettes Schakal geworden, der den Spuren der Löwen Tell und Gahn folgte. Er wußte die Überreste, die sie ihm ließen, gut zu verwerten. Jetzt trat er Juniper Tell mit aufgestellten Ohren gegenüber. »Ein eigenartiges Angebot, das Sie mir da machen, Juniper«, schnurrte er. »Ich brauche lediglich für Ihr Begräbnis und Ihr Grabmal zu sorgen, und Sie vermachen mir die wertvollste Partnerschaft im ganzen Kosmos. Nun, ich glaube, ich werde es besser machen als Sie, Juniper. Diesen Blechlöwen werde ich bald Mores lehren. Ich sehe nicht ein, wie so eine Maschine einen Menschen beherrschen sollte. Und seine Anteile werde ich ziemlich bald kontrollieren. Was für Fleisch hat ihn so groß und glänzend gemacht, Juniper?« »Ah, für mich ist es schwer, das zu sagen, Cornelius.« »Ihre Worte haben, glaube ich, auch einen buchstäblichen Sinn. Sie wissen es; und es lastet schwer auf Ihnen. Warum,
Juniper, wollen Sie alles mir hinterlassen – nur gegen ein Begräbnis?« »Weil ich dem Tode nahe bin und es irgend jemandem hinterlassen muß. Und dann das Grab. Ich muß mein Grab haben.« »Ich verstehe. Um einiges größer als die Große Pyramide, nach den Plänen hier zu urteilen, aber es ließe sich machen; die Pharaonen hatten nicht unsere Mittel. Aber warum ich, Juniper? Wir standen uns nie sehr nahe.« »Sie haben mir manchen guten Dienst geleistet, Sharecropper. Und einen schlechten. Ich regle meine Angelegenheiten, bevor ich sterbe. Ich möchte unser Konto ausgleichen.« »Für die etlichen guten Dienste, Juniper, oder für den einen schlechten? Nun, ich bin von verdorbenem Fleisch fett geworden. Ich fresse mich voll mit dem, was empfindlichere Naturen verweigern. Ich werde diesen großen Kadaver versuchen. Ich akzeptiere den Handel, Juniper.« Also schlossen sie ihn ab. Und dann ging Juniper Tell nach Hause, um zu sterben – ein ausgehöhlter Mann. Dennoch, diese letzte Transaktion hatte ihm auf seltsame Art Freude gemacht. Und sein Grab würde prächtig sein.
Originaltitel: THE GRAND CARCASS Copyright © 1968 by Ultimate Publishing Co. Inc. Aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Übersetzt von Dolf Strasser
Sydney van Scyoc DER ÜBERLEBENDE
Den Blick sorgfältig abgewandt, wischte Albin Johns das Enthaarungsmittel von seinen Wangen und benetzte sie mit Wasser. Er knöpfte sein Hemd zu. Dann sah er in einem Augenblick der Unachtsamkeit auf das Gesicht in seinem Spiegel. Es war ein dunkles Gesicht, unzweifelhaft intelligent, jugendlich ernsthaft. Schaudernd sah er wieder weg. Seine Hand ging fahrig zu der Schale mit rosa Kapseln und schob eine davon in seinen Mund. Er schluckte, wie jeden Morgen. Stirnrunzelnd blickte er auf das Etikett, das die Schale trug. TÄGLICH EINE. FÜR DAS GEDÄCHTNIS. Es ärgerte ihn, daß er nicht mehr wußte, warum er diese tägliche Kapsel schluckte. Es schien eine völlig automatische Handlung von Hand und Mund zu sein, ein muskulärer Akt ohne Willenskontrolle. Gewiß, an manchen Morgen erschien der Grund so greifbar nahe wie das unangenehme Gesicht in seinem Spiegel. Aber stets entschlüpfte er ihm wieder. Meist dann, wenn er eben die Gedächtniskapsel geschluckt hatte. Der Zeitmesser schlug die Stunde. Johns Untertasse klopfte sanft an das Wohnzimmerfenster und meldete ihre Ankunft vom Parkturm. Johns befestigte rasch den Recorder an seinem Handgelenk und überprüfte ihn noch einmal, um sicher zu gehen, daß er am Abend zuvor eine neue Kapsel eingelegt hatte.
Daß er jetzt, erst drei Monate nach Absolvierung der Journalistenschule, an Stelle Tac Turbers zum Hospital von Cleveland geschickt wurde, war ein glücklicher Umstand. Siebzehn Jahre lang, bis zu einer kürzlichen Erkrankung, war Turber der örtliche Medizinkolumnist gewesen. Niemand bei der New Tribune wußte, wie lange Turbers Erholungsurlaub in Florida dauern würde – vielleicht Wochen; vielleicht Monate. Wenn Johns den Hospitalbeitrag gut machte, bekam er vielleicht andere von Turbers regelmäßigen Aufträgen, bis Turber zurückkam. Nervös strich sich Johns über das Haar und widerstand dem Impuls, sich im Spiegel zu mustern. Die Untertasse klopfte wieder. Johns ging ins Wohnzimmer, holte tief Atem und hoffte. Vergeblich. »Albin, ich fürchtete, du hättest verschlafen«, zwitscherte seine Mutter aus dem Staate Washington. Sie leuchtete von seiner Westwand herab, die Kaffeetasse in der Hand. »Ich war nahe daran, mich in dein Schlafzimmer zu senden, um nachzusehen.« Wenngleich auf zwei Dimensionen beschränkt, löste seine Mutter doch eine Defensivhaltung in ihm aus. »Ich mußte ein sauberes Hemd bestellen«, murmelte er und schaute hoffnungslos zum Fenster hinüber, das so nahe war und doch so fern. Ihr Bild wurde schärfer. »Warum hast du nicht gestern abend eins bestellt? Vor dem Schlafengehen?« Sein Gesicht war sehr ähnlich dem, das er in seinem Spiegel gesehen hatte, dunkel, unzweifelhaft intelligent. Es versprach Myriaden aggressiv vorgebrachter Meinungen. »Da – da habe ich mich um alles andere gekümmert. Ich lud meinen Recorder und bestellte frische Schuhe. Um alles andere.« Fast unmerklich näherte er sich dem Fenster und der wartenden Untertasse.
Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Ich verstehe einfach nicht, Albin. Vor dem Unfall hättest du niemals vergessen, ein frisches Hemd zu bestellen. So etwas hätte ich von dem armen Deon erwarten können. Du aber warst immer peinlichst sorgfältig, Albin. Ich sagte immer: ›Albin ist mein Sohn – Deon der seines Vaters.‹« »Ich nehme jeden Morgen eine Gedächtniskapsel, Mutter.« Johns hatte das Fenster erreicht. Er klopfte an die Scheibe. Sie senkte sich. Die Untertasse schob ihre Einstiegsluke in das Wohnzimmer. »Jeden Morgen nimmst du eine Gedächtniskapsel, und trotzdem willst du jetzt aus dem Fenster gehen, ohne überhaupt gefrühstückt zu haben«, sagte sie beißend. »Jeden Tag wirst du Deon ähnlicher, Albin. Gibst dein Jurastudium auf, um auf die Journalistenschule zu gehen. Vergißt frische Hemden zu bestellen. Gehst ohne Frühstück fort und würgst dann in irgendeiner Kneipe ein Hamburger-Sandwich hinunter. Manchmal glaube ich, du versuchst, dein Bruder zu sein.« Sie lehnte sich drohend in die Kamera. »Versuchst du tatsächlich zu kompensieren, daß Deon bei diesem scheußlichen Unfall ums Leben gekommen ist? Indem du alle seine Gewohnheiten, seine Interessen übernimmst?« Sie kniff die Lider zusammen. »Also, ist es so?« »Ich – nein, überhaupt nicht.« Johns wich zurück bis zur Serviertheke. Dort wartete sein Frühstück: Sieben grüne Pillen, zwei violette Kapseln, eine Waffel. Unglücklicherweise zitterte seine Hand. Die Pillen hüpften über den Teppich. »Nein, nein! Kriech nicht in deinen frischen Sachen herum. Wähle neue Pillen, Albin«, ertönte die schrille Stimme seiner Mutter aus dem Staate Washington. Beschämt sprang Johns auf und drehte die Wählscheibe. »Ich tue, was eine Mutter nur tun kann«, stöhnte seine Mutter. »Jeden Morgen überwache ich dein Frühstück. Ich
sorge dafür, daß du wenigstens etwas im Magen hast, wenn du zum Fenster hinausgehst.« Ihr Gesicht wurde bedrohlich größer. »Albin, möchtest du, daß ich zu dir komme? Brauchst du deine Mutter?« Johns verschlug es den Atem. »N-N-nein!« Seine Mutter zog die Brauen bis zum Haaransatz hoch. Ihre Kaffeetasse klapperte. »Na gut! Nimm ein Beruhigungsmittel, Albin. Heute abend werden wir uns noch unterhalten.« Mit einem zornigen Blick endete die Übertragung. Albin Johns atmete wieder. Er schnappte sich ein Beruhigungsmittel von der Serviertheke und schluckte es. Einen Augenblick später drückte er auch noch auf den Aspirinknopf. Aus irgendeinem Grunde hatte er Kopfweh. Gestärkt schritt er zum Fenster. »Albin, gib acht«, beschwor ihn seine Mutter unerwartet von der Wand herab. »Du weißt, welche Angst ich ausstehe.« Seufzend wandte er sich ihr zu. »Ja, Mutter.« »Du bist alles, was ich habe, Albin. Versprich es.« Demütig versprach er es. Dann kletterte er in die wartende Untertasse. Er hing neben dem Gebäude und sammelte sich. Seine Mutter hatte die fixe Idee, daß er bei dem Untertassenabsturz vor einem Jahr, bei dem sein älterer Bruder Deon getötet worden war, verletzt worden sei. Ebenso wiederholt wie vergeblich hatte er ihr erklärt, er müsse, wäre er an dem Unfall beteiligt gewesen, eine zumindest bruchstückhafte Erinnerung daran haben. Unglücklicherweise konnte er sich auch nicht an seinen Bruder Deon erinnern. Zugegeben, das verwirrte ihn. Er war absolut sicher, daß Deon nicht nur eine Ausgeburt der Phantasie seiner Mutter gewesen war. Auch sein Vater sprach häufig von Deon. Bei seinem letzten Besuch zu Hause hatten sie Vaters Familienalbum geholt.
Albin hatte sich geweigert, die Fotos seines toten Bruders anzusehen. Jetzt machte er Ausflüchte, um nicht nach Washington kommen zu müssen. Es war besser, wenn er mit seiner Mutter nur zweidimensional verkehrte. Jetzt wieder gefaßt, nahm er das Steuer in die Hand. Die Untertasse glitt über die Stadt dahin. Über der Dachkuppel wölbte sich blau der Morgen.
Heute begann, nach Jahren des Wartens, seine wirkliche Karriere. Drei Jahre hatte er die Zeitung seiner High School herausgegeben. War in der Journalistenschule Klassenbester gewesen. Er hatte Reporter gespielt, seit er schreiben konnte. Die Erinnerung ließ ihn lächeln. Als Junge hatte er grimmiges Vergnügen dabei gefunden, die Monologe seiner Mutter Wort für Wort niederzuschreiben. »… und du hast schon wieder vergessen, deine Nägel zu reinigen… genau wie dein Vater. Du bist einfach fortgegangen, ohne dem Computer eine Nachricht zu hinterlassen. Ich bin vor Angst fast gestorben. Dein Bruder Albin würde nie…« Er hielt das Band an. Spulte es zurück. Spielte es von neuem ab. »… genau wie dein Vater… Dein Bruder Albin…« Die Untertasse schwankte, machte einen Bocksprung unter seinem plötzlich verkrampften Griff. Etwas schnürte ihm die Brust zu. Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Er atmete tief durch und faßte die Steuerhebel sanfter an. Systematisch lockerte er die in Panik verkrampften Muskeln seines Körpers. Seit Monaten hatte er immer wieder solche Panikgefühle. Seit er angeblich bei dem Unfall verletzt worden war. Mit seinem Bruder. Deon.
Er knirschte mit den Zähnen und sagte sich die Worte noch einmal vor. Unfall. Bruder: Deon. Er entspannte sich und lächelte fast stolz. Seine Mutter hatte recht. Seines Bruders – Deons Tod – – war ein schlimmer Schock für ihn gewesen. Nur Zeit und Geduld konnten ihn wieder heilen. Er spähte über den Rand der Untertasse. Unter ihm lag glasig schwarz das Cleveland General Hospital. Johns ging etwas nach unten, bis die vom Parksystem des Krankenhauses ausgestrahlte Selbststeuerung die manuelle Steuerung blockierte. Die Untertasse sank und schwebte dann in den Parkturm. Sie öffnete sich. Erneut von einem Gefühl der Spannung befallen, sah sich Johns im Parkturm um. Hinter ihm schnappte die Untertasse wieder zu. Johns setzte sich in Richtung auf Leitpfeile in Bewegung, die ihm entgegenleuchteten. Die Pfeile führten ihn zu einem Schwebeplattformschacht. Johns stieg ein. Die Plattform senkte sich schnell. Johns betrat einen weiteren mit Pfeilen versehenen Gehsteig. Die Wände verengten sich. Johns stand vor einem dunklen, dunstigen Korridor. Er zögerte, blickte stirnrunzelnd auf die Führungspfeile. Unzweifelhaft wiesen sie in die dunstige Dunkelheit, der sein Weg zum Krankenhaus war. Ein Hauch pastellfarbenen Nebels wehte aus dem Tunnel, erreichte Johns’ Nase. Seine gespannten Muskeln lockerten sich. Er trat in die feucht-düstere Dunkelheit. Der Boden erzitterte, trug ihn vorwärts. Dunkel glühten die Wände. Die Decke wellte sich. Ein leises Dröhnen ging durch den Tunnel, das Dröhnen ferner Maschinen, gewaltig und doch sanft. Nebel in allen Farben des Regenbogens sank leicht und erfrischend in Johns’ Lungen. Als der Tunnelboden Johns in der Halle absetzte, fühlte er sich angenehm locker und leicht. Ein älterer, lebhafter Mann
saß an der Computer-Konsole. Johns suchte nach seiner Pressekarte und seiner Besuchserlaubnis. Der Mann gab beides der Konsole ein. »New Tribune, wie? Ihr erster Besuch im Cleveland Hospital?« Johns nickte und sah sich ein wenig unsicher in der mit einer gewölbten Decke versehenen Halle um. Sie kam ihm merkwürdig vertraut vor, als hätte er sie schon aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Die schrägstehende Sonne schien durch die regenbogenfarbenen Fensterscheiben. Der Mann lachte ein wenig. »Nun, Sie haben unser kleines Etablissement oft genug über Vidi gesehen. Kommt einem fast vor, als sei man selbst schon hier gewesen.« Johns zog die Brauen zusammen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas über das Cleveland Hospital auf dem Vidi gesehen zu haben. Allerdings, es gab jede Menge Dinge, an die er sich nicht erinnern konnte. Trotz seiner täglichen Kapsel. Der Mann entließ ihn, freundlich nickend. »Die blaue Linie bringt Sie direkt zu Dr. Jacobs Büro. Schreiben Sie was Nettes über uns!« Die blaue Linie führte durch die Halle und ging dann in einen weiteren dunklen, von gedämpftem Geräusch erfüllten Tunnel. Hoffnungsvoll atmete Johns ein. Sein ganzer Körper lockerte sich. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Seine Knie knickten ein. Er verlor das Bewußtsein. Dann stand er blinzelnd in einem sonnenerleuchteten Raum. Die Empfangsdame sagte lächelnd: »Dr. Jacobs ist gleich so weit.« Dr. Jacobs war ein überaus schlanker, hoch aufgerichteter alter Mann mit durchdringenden hellen Augen. Er nahm Johns’ Hand mit kaltem Griff, fixierte ihn mit seinen fahlen Augen. »Tut uns leid, von Mr. Turbers Krankheit zu hören. Ich nehme
nicht an, daß Sie irgend etwas über die genaue Natur dieser Krankheit wissen, Mr. Johns?« »Niemand scheint Genaues zu wissen«, entgegnete Johns. Dr. Jacobs nickte kurz. »Und Sie sind wohl auch noch nie ein Patient von uns gewesen, Mr. Johns?« Diese Frage beunruhigte Johns auf seltsame Art. »Ich – ich bin sicher, daß das nicht der Fall ist.« Dr. Jacobs seufzte und machte eine finstere Miene. »Nun, ich nehme an, Sie haben wenigstens Ihre Hausaufgabe gemacht. Turbers Artikel des vergangenen Jahres durchgelesen.« Johns nickte. Die Artikel standen noch deutlich in seinem Gedächtnis, reich an Details und Statistiken und dennoch gut lesbar. »Dann wissen Sie, daß wir mit Hilfe von ComputerDiagnostik und dem automatischen Versorgungssystem den menschlichen Faktor überwunden haben, der Jahrhunderte lang der schwache Punkt medizinischer Versorgung war. In dieser Hinsicht sind wir zur Perfektion gelangt. Doch über die Jahre haben wir gelernt, wie wichtig auch nichtmedizinische Faktoren sind. Selbst die beste rein physische Versorgung ist nicht genug für den mutlosen Patienten, den deprimierten Patienten, den Patienten, den finanzielle oder persönliche Probleme bedrücken. Deshalb unterhalten alle größeren modernen Krankenhäuser Teams von ausgebildeten Sozialarbeitern, die dem Patienten moralische und praktische Hilfestellung leisten. Dies trägt mit bei zu einer optimalen Genesungsrate. Wenn der Patient in die Gemeinschaft zurückkehrt, ist er wieder ein voll angepaßtes, wertvolles Mitglied der Gesellschaft.« Dr. Jacobs’ fahle Augen glitzerten fanatisch. »Unsere Obersozialarbeiterin hat sich bereiterklärt, sich heute von Ihnen auf ihren Rundgängen begleiten zu lassen. Miss Kling erinnert sich noch gut an die Zeiten, wo die Ärzte Privatpraxen
hatten, tagtäglich Dutzende von Hausbesuchen machten und alle ihre Diagnosen ohne Computer-Hilfe erstellten.« Dr. Jacobs durchbohrte Johns mit einem strengen Blick. »Sie können Miss Klings Arbeitsmethode beobachten, sie über die Zustände in früheren Zeiten befragen und dann ihre eigenen Schlüsse über den Fortschritt der Medizin im letzten Vierteljahrhundert ziehen.« »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, stammelte Johns. Jacobs schluckte und drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Die gegenüberliegende Wand des Raumes schob sich zur Seite. »Bitte, treten Sie in die Desinfektionsschleuse. Legen Sie Ihre Kleidung und alle anderen mitgebrachten Gegenstände auf die Ablage. Drücken Sie auf den weißen Knopf, um den Nebel auszulösen. Dann ziehen Sie den sterilen Overall an. Miss Kling wird Sie draußen im Korridor empfangen.« Johns zögerte. »Ich möchte gern meinen Recorder behalten, Sir.« »Mr. Johns, wir können in den Krankenräumen keine persönlichen Gegenstände gestatten. Es besteht ständig Ansteckungsgefahr.« Jacobs sah an seiner langen, scharfen Nase entlang. »Mr. Turber war sehr wohl in der Lage, seine Berichte aus dem Gedächtnis zu schreiben.« Errötend stolperte Johns in die Schleuse. Der Raum schloß sich wieder. Mißmutig nahm Johns seinen Recorder ab. Er dachte daran, mit welcher Beiläufigkeit Turber Namen und Daten, medizinische Termini, Statistiken erwähnt hatte. Seufzend entledigte er sich seiner Kleidung. Geistesabwesend sah er an seinem Körper hinab. Ungläubig und zitternd gingen seine Finger über die scharfen roten Narben, die sich quer über seinen Unterleib zogen. Verständnislos starrte er darauf. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder.
Die Narben blieben. Johns’ Hand fuhr nach oben, als griffen sie in einer Reflexbewegung nach dem Behälter mit den rosa Kapseln in seinem Badezimmer. Statt dessen geriet er an einen weißen Knopf. Verzweifelt drückte er darauf. Eine regenbogenfarbige Wolke strömte in die Kammer. Tief atmete er ein. Dankbar spürte er das nun schon vertraute Nachlassen seiner Spannung. Er verschluckte die Wolke. Bewußtlos sank er in sich zusammen. Kühl kehrte die Welt wieder. Die Decke leuchtete violett, rosa, grün. Kehliges Lachen klang in Johns’ pastellfarbenes Koma. »Sie haben die Glückswolke so tief eingeatmet, daß ich Sie selbst in Ihren Overall stecken mußte.« Errötend setzte sich Johns auf. »Miss Kling?« Sie war der weit verbreitete Großmuttertyp, eine dickliche, rotgesichtige Frau, mit Haar wie aus Draht, einem starken rechten Arm und mutwillig blitzenden Augen. »Das bin ich. Ich muß sagen, daß bei Ihnen alles sehr hübsch verheilt ist, junger Mr. Johns.« Er starrte sie fassungslos an. »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich? So geht es – kaum ist man eine Minute fort von hier, hat man uns schon vergessen.« Sie lachte kehlig. »Also, gehen wir. Ich habe so viel Arbeit, daß es einen Ochsen umbringen könnte.« Desorientiert folgte er ihr einen langen, leuchtenden Korridor hinunter, in dem sich in Abständen mit Nummern versehene Stahltüren befanden. »Wir besuchen zuerst Nummer siebzehn.« Sie schloß eine Stahltür auf. Johns’ Beine trugen ihn über die Schwelle und wurden dann zu Stein. Sein Gesicht erstarrte schmerzlich. Schweiß perlte über sein plötzlich wachsbleiches Antlitz.
Der Krankenraum bestand aus einem schwarzen Glasboden, auf dem sich eine große Anzahl freistehender Kabinen erhob. Jede Kabine war voll verglast, hell erleuchtet, und erlaubte volle Einsicht in ihr Inneres. Musik durchströmte den Raum, aber darunter lag das Rumpeln und Dröhnen unsichtbarer Maschinen. Kleine blitzende Roboter huschten über den gläsernen Boden. Johns stöhnte auf, unfähig, sich zu bewegen. Miss Kling bog sich vor Lachen. Sie schwang eine SprayDose, die sie in einer Art Halfter an ihrem Gürtel bei sich führte. Eine nach Minze riechende Wolke hüllte sie ein. »Tief durchatmen, aber werden Sie nicht wieder ohnmächtig.« Voll Dankbarkeit wurde Johns Körper wieder zu Fleisch. Der Felsblock in seiner Brust löste sich auf. Er schüttelte die letzten Spinnweben seiner Panik ab. »Nur ein kleiner traumatischer Anfall. Das passiert vielen unserer Patienten, wenn sie wiederkommen. Nach ein paar Monaten werden Sie etwas unempfindlicher für Amnesiemittel. Wir werden Ihre Dosis neu festsetzen müssen.« Johns lächelte nachsichtig. Natürlich war er noch nie in seinem Leben in einem Krankenhaus gewesen. Und die Kapseln, die er nahm, sollten sein Gedächtnis auffrischen und nicht verschlechtern. Sein Wohlgefühl war jetzt so groß, daß er sich auf keine Diskussion einlassen wollte. »Erste Abteilung: Entbindungsstation. Keine Angst – Sie sehen nichts Anstößiges.« Vergnügt in sich hineinkichernd, schob sie ihn vorwärts. Etwas von oben herab betrachtete er die vielen Kabinen. Offenbar ein ideales System. Jedes Individuum war für sich in steriler Umgebung. Mütter schlummerten, zupften sich die Augenbrauen, starrten in Vidi-Apparate. Sensorbandstreifen an Handgelenk und
Schläfe übermittelten die Daten der Patientinnen an das zentrale Monitorsystem. Es besaß ein manuelles Schaltpult. Miss Kling blieb vor einer der lichtdurchfluteten Kabinen stehen und blickte mit schräggestelltem Kopf auf die nicht sehr mütterlich wirkende kleine Gestalt im Innern. »Guten Morgen, Edna«, dröhnte sie. Das Mädchen, eine überreife kleine Tomate mit feuerrotem Haar und schwarzen Fieberaugen, warf sich förmlich gegen die Glaswand. »Sie! Wo ist mein Kleines? Drei Tage erzählen Sie mir jetzt schon, daß Sie es bestimmt am nächsten Tag bringen. Zehn Tage ist er jetzt alt, und ich habe ihn noch nicht gesehen. Erst werde ich bekniet, damit ich Adoptionspapiere unterschreibe. Ha! Dann bleibt er bei Ihnen, bis ich stark genug bin, ihn in den Armen zu halten – sagen Sie. Und jetzt seit drei Tagen dieses Gerede, er habe Mißbildungen.« Miss Kling lächelte milde. »Aber Sie wissen doch, daß wir abwarteten, ob er am Leben bleiben würde, Edna. Wir wollten es Ihnen ersparen, ihn zu sehen, wenn er nicht durchkommt.« »Hören Sie, Oma, ich sagte Ihnen doch – ich war nicht so weg, daß ich das Kind in der Gebärstation nicht gesehen hätte. Ich habe es mir gut angeschaut. Über neun Pfund schwer. Und alles, wo es hingehört. Eine Lunge wie ein Blasebalg. Ein geborener Footballspieler. Das sagte der Arzt selbst. Ich…« Miss Klings Knurren übertönte ihre Worte. »So beruhigen Sie sich doch, Edna. Ich werde Dr. Dover bitten, Ihnen selbst die Todesursache zu erläutern. Sie sollten es als eine Gnade Gottes betrachten…« »Todesursache!« kreischte das Mädchen. »… daß dem Kleinen ein langer Leidensweg erspart bleibt. Ein alleinstehendes Mädchen würde es niemals schaffen, ein so furchtbar behindertes Kind ohne Hilfe zu versorgen. Die Kosten allein…«
Miss Klings dicke Finger gingen über das Schaltpult. Regenbogenfarbener Nebel zischte in die Kabine. Das Gesicht des Mädchens wurde blaß vor Zorn. »Ich brauche bestimmt keinen Mann, der für mich aufkommt! Ich bin neunzehn Jahre alt! Ich mache gute Dollars als Striptänzerin. Ich komme und gehe, wie es mir gefällt. Was kümmert’s mich, daß Gordie mit dieser komischen Gandi durchging, bevor ich ihn zum Standesbeamten schleppen konnte.« Miss Kling lächelte. »Ich maße mir nicht an, mich zur Richterin über Ihre Moral zu machen, meine Liebe. Ich bin nur Miss Kling, die Ihnen hilfreich beisteht, wenn Sie Probleme haben.« Die Tirade des Mädchens endete abrupt. Sie blinzelte töricht und sank im wirbelnden, regenbogenfarbenen Regen auf die Knie. »Was sagten Sie? Wegen meines Babys?« »Aber Sie haben den armen kleinen Kerl ja selbst gesehen. Armer Kerl.« »Armer kleiner Junge«, schluchzte Edna. »Und es ist ganz allein Gordies Schuld. Seinetwegen ist das Baby mißgebildet. Er ist es, der weggelaufen ist…« »So, Edna, gleich ist eine unserer hübschen kleinen Pflegemaschinen da«, sagte Miss Kling besänftigend. »Sie werden eine Spritze bekommen. Etwas, was wir bei allen unseren unverheirateten Müttern machen. Es tut gar nicht weh, und Sie werden sich für viele Jahre wegen Babys keine Sorgen zu machen brauchen.« »Keine Sorgen?« murmelte Edna. »Nicht mehr wegen Babys. Nicht die nächsten fünf Jahre. Und dann sind Sie ja vielleicht schon verheiratet. Vielleicht wollen Sie nach diesen fünf Jahren sogar noch ein Baby haben.«
Edna lächelte ein wenig und rollte sich auf dem Boden zusammen. Ihr rotes Haar fiel ihr über das Gesicht. Und dann schlief sie friedlich auf dem Glasboden, über dem pastellfarbener Nebel lag. Johns merkte, daß Miss Kling verschwunden war. Er eilte ihr nach. »Ich habe noch nie von diesem Gesetz gehört, Miss Kling.« »Von welchem Gesetz?« »Daß Sie unverheiratete Mütter für fünf Jahre sterilisieren.« »Wer sagt denn, daß es ein solches Gesetz gibt?« Sie nahm eine Spray-Dose von ihrem Gürtel. »Die Luft wird etwas stickig.« Sie ließ der Dose eine Wolke entströmen. Johns runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn ein einzelner die Macht zu einer solchen Entscheidung über ein anderes Individuum hat. Ich meine…« Er unterbrach sich und blinzelte verwirrt auf die graue Wolke. »Meine Mädchen sind hier, um zu genesen, junger Mann«, sagte sie eindringlich. »Ich möchte nicht, daß sie sich wegen Gesetzen Gedanken machen oder wichtige Entscheidungen ganz allein treffen. Wenn ein Mädchen seine Lektion gelernt hat, nun, dann denke ich nicht daran, ihr die Injektion geben zu lassen. Wenn ich aber sehe, daß sie bald von neuem hier landen würde, weil wieder so ein Kerl sie ausnützt und ihr dann davonläuft, dann gebe ich ihr den besten Schutz, den wir haben. Dafür bin ich hier, Mr. Johns – um dafür zu sorgen, daß meine Patientinnen bekommen, was sie brauchen. Ohne daß sie sich selbst um alles kümmern müssen.« Die süße Wolke war in Johns’ Lunge gezogen. Johns lächelte. Dann mußte er sich eine Träne aus dem Auge wischen. »Das ist… das ist…« Er konnte seine Gefühle nicht ausdrücken. Wenn man sich vorstellte, daß es in dieser riesigen, unpersönlichen Einrichtung eine wackere Miss Kling gab, die da war, wenn es not tat, und für ihre Patientinnen kämpfte.
»Es freut mich, daß Sie jetzt verstehen.« Miss Kling steckte die Spray-Dose wieder an ihren Gürtel. Vor einer Kabine mit einem schmalen, blassen Mädchen in den Zwanzigern blieb sie stehen. »Guten Morgen, Trenda. Ich bin Margot Kling und möchte Sie besuchen. Wie fühlen Sie sich?« Das Mädchen sah gleichgültig auf. »Ganz gut, danke.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. Miss Kling strahlte. »Die Schwester wird Ihnen gleich Ihren Sohn bringen. Wollen Sie sich nicht ein wenig schön machen für den ersten Besuch?« »Mein – Sohn?« sagte das Mädchen unsicher. Miss Klings Finger gingen über das Schaltpult. Nebel begann die Kabine zu erfüllen. Miss Kling ließ ein beruhigendes Lachen hören. »Er ist ein richtiger Fußballspieler. Er hatte fast zehn Pfund heute morgen – man würde schwören, daß er schon ein paar Wochen alt ist. Eine Lunge wie ein Blasebalg. Und feuerrotes Haar. Genau wie Ihr Mann.« Verwirrt setzte sich das Mädchen auf. »Aber das Baby war doch erst in drei Monaten fällig. Man gab mir Spritzen, aber die Schmerzen wollten nicht aufhören, und…« Miss Kling lachte leise. »Das passiert immer wieder. Frauen kriegen ihre Babys um Monate zu früh. Manchmal benutzt die Rechenmaschine von Mutter Natur nicht dieselbe Mathematik wie wir.« Das Mädchen konnte es kaum fassen. »Sie meinen, mit dem Kind ist wirklich alles in Ordnung? Es ist nicht zu früh geboren?« »In ein paar Minuten können Sie sich selbst überzeugen. Fühlen Sie sich stark genug, einen zehnpfündigen Burschen zu halten?« »O ja!« In der Kabine war jetzt dicker Nebel. Das Gesicht des Mädchens war rot vor Aufregung. »Aber ich – ich glaubte doch, jemand hätte gesagt, es sei ein Mädchen!«
Als sie weggingen, zog sie sich aufgeregt die Lippen nach, eingehüllt in lavendelfarbigen Nebel. Johns brach plötzlich in Schluchzen aus. »Solche Fälle sind es, die meine Arbeit so lohnend machen«, dröhnte Miss Kling. »Da ist dieses süße kleine Mädchen ganz außer sich vor Verzweiflung, und ich bringe alles wieder ins Lot. Wenn sie ihr Baby mit nach Hause nimmt, wird sie sich gar nicht mehr an ihre trüben Stunden erinnern.« Miss Kling schickte sich an, eine weitere Patientin zu versorgen, aber Johns war zu überwältigt von seinen Gefühlen, um noch achtzugeben. Dann warf Miss Kling einen Blick auf ihre Liste und nickte befriedigt. »Das war die Wöchnerinnenstation. Wir haben noch Zeit für einen schnellen Rundgang durch die Chirurgie.« Sie lachte in sich hinein. »Tac Turber war ein richtiger ChirurgieFan – jedesmal, wenn er hierher kam, mußte ich ihn durch die Metzgerei führen.« Johns spürte, wie sein Mund trocken wurde. »Kommen Sie?« Er folgte ihr durch den leuchtenden Korridor, und seine Beine wurden bei jedem Schritt schwächer. Schließlich stieß er hervor: »Irgendwo habe ich gelesen, daß man – einem Menschen Organe entnimmt und – sie einem anderen einpflanzt. Nieren und Herzen und auch die Milz. Ich las sogar, daß Gehirne verpflanzt werden – manchmal.« Miss Kling, die gerade die Tür zur chirurgischen Abteilung aufsperrte, musterte ihn aufmerksam. »Wo haben Sie das alles gelesen?« »Ich w-weiß nicht mehr. Nicht in Tac Turbers Kolumnen.« Hoffnungsvoll fügte er hinzu: »Man macht das wohl nicht mehr sehr häufig…?« Miss Kling lachte leise in sich hinein. »Nun, überlegen Sie doch.
Wenn Sie das Herz eines Mannes hätten, die Leber eines anderen, und vielleicht einen Gehirnlappen irgendeines dritten, das würde Sie doch sehr durcheinanderbringen, nicht wahr?« »Ich – ja!« Das Wort kam mit unerwartetem Nachdruck. »Sie können doch niemals etwas leisten, wenn Sie gar nicht sicher wissen, wer Sie eigentlich sind. Oder?« »Ich – nein. Nein.« »Also! Glauben Sie, unsere ausgezeichneten Ärzte geben sich damit ab, hier Menschen zusammenzustümpern? Leute in die Welt hinauszuschicken, die keine eigene Identität haben? Glauben Sie wirklich, die alte Margot Kling würde ihre Patienten entlassen, ohne daß sie einen Namen haben?« »N-nein. Natürlich nicht.« Stirnrunzelnd versuchte er, ihren Darlegungen zu folgen. »Na also.« Sie steuerte ihn in die chirurgische Abteilung. Die ausgedehnte Bodenfläche war weiß. Die chirurgischen Kabinen waren geräumig, hell erleuchtet und voll komplizierter Maschinen. Weiß gekleidete Gestalten eilten umher. Pflegemaschinen rollten. Selbstfahrende Bahren beförderten geräuschlos bewußtlose Patienten. »In früheren Zeiten verbrachte der durchschnittliche Arzt so viel Zeit mit Routinearbeiten, daß er kaum Gelegenheit zu richtigen Operationen hatte. Jetzt behandeln die mechanischen Kliniken Husten und Schnupfen, und die Pflegemaschinen legen Verbände an. Die Ärzte können sich jetzt an die wichtige Arbeit machen.« »Ich verstehe«, murmelte Johns. Er schwankte. Das Blut sauste in seinen Ohren. Seine Hände zitterten. Unfähig, seine Bewegungen unter Kontrolle zu halten, starrte er an die Decke. Das gemusterte Weiß in Weiß kam ihm schrecklich bekannt vor. »Ich bin noch niemals hier gewesen«, krächzte er. Er konnte seinen Kopf nicht mehr senken. »Ich bin noch niemals in
diesem Krankenhaus gewesen. Ich habe diese Decke noch nie gesehen. Ich habe…« Miss Kling stopfte ihm eine Inhalationsdüse in die Nase. Er sträubte sich zuerst, inhalierte dann. Einen Augenblick später sank ihm sein Kopf auf die Brust. Er fühlte sich plötzlich matt und schlaff. »Ich bin noch nie hiergewesen«, murmelte er. »Natürlich nicht«, sagte Miss Kling scharf. »Sie haben ja auch keine Narben. Oder?« Stirnrunzelnd versuchte er sich zu erinnern. »Ich…« »Also, wenn Sie keine Narben haben, sind Sie nicht in der chirurgischen Abteilung gewesen. Oder?« »Ich – nein, natürlich nicht«, antwortete er erleichtert. Dann sagte er störrisch: »Mein Kopf schmerzt.« Sie legte ihre Finger auf seinen Hinterkopf. »Hier? Wo die Edelstahlplatte eingesetzt wurde?« Er nickte. In seinem Kopf pochte rasender Schmerz. »Lassen Sie die Inhalationsdüse, wo sie ist. Ich hole Little Bayer.« Sie kehrte mit einer spinnenähnlichen kleinen Maschine zurück. Sie packte seinen Arm, injizierte ihm etwas und entfernte sich dann. Der Schmerz ließ nach. Miss Kling zog ihm den Schlauch aus der Nase und besprühte ihn gründlich aus ihrer Dose. Er atmete den Nebel ein und lächelte töricht und dankbar. Miss Kling strahlte ihn an. »So, jetzt sind Sie aber sicher müde vom vielen Gehen. Wie hat Ihnen die chirurgische Abteilung gefallen?« »Sehr interessant«, murmelte Johns dümmlich. Die Sache war etwas nebelhaft. Eigentlich konnte er sich gar nicht erinnern, die chirurgische Abteilung besucht zu haben. »Mmmm hmmm«, sagte sie listig. »Dann wollen wir jetzt zu der Party in der Halle unten gehen.« Freundlich lächelnd folgte
er ihr in den langen, leuchtenden Korridor. Die Party. Parties mochte er immer. Zu dumm, daß er von dieser hier überhaupt nichts gewußt hatte. Er war ein, wenig überrascht, als sie eine Tür mit der Aufschrift ENDBEHANDLUNG aufsperrte. »Alle unsere in Endbehandlung stehenden Patienten feiern eine kleine Party, bevor sie gehen. Aber es geschieht selten, daß irgendwelche ihrer Lieben da sind, mit denen sie ihre letzten Minuten verbringen können. Tac Turber wird sich mächtig freuen.« Johns war ein wenig verwundert. »Mr. Turber kennt mich kaum.« Sie lachte vergnügt in sich hinein. »Sie werden seine Krankenhausreportagen weiterschreiben, nicht wahr? Das macht Sie fast zu seinem Sohn.« In ihrem Kielwasser trieb er durch den ausgedehnten Raum. Patienten strahlten rosig aus ihren Glaskästen. Unter lauten Rufen winkte Miss Kling grüßend nach allen Seiten. Schließlich fragte er in ungläubigem Staunen: »Diese Leute liegen doch nicht alle im Sterben, wie?« »Genau dafür sind sie hier«, sagte sie fröhlich. Mit hochgezogenen Brauen sah er sich um, betrachtete die gesunden, lächelnden Gesichter. »Meine eigene Mutter habe ich hier während ihrer letzten Krankheit versorgt«, ließ sich Miss Klings rauhe Stimme vernehmen. »Siebzehn Monate lang blieb ich Tag und Nacht bei ihr. Konnte mir keine Pflegemaschine leisten, und in ein Heim wollte ich sie auch nicht schicken.« Mitfühlend murmelte er etwas. »Als die Diagnose erstellt war, wußte ich sofort, daß sie nicht durchkommen würde. Aber in jener Zeit konnte man nur dabeistehen und zusehen, wie sie verfiel.
Ich denke immer daran wenn mein Rundgang mich hierherführt. Das Wissen, daß meine Patienten nicht diese Stadien durchleiden müssen, macht mich stolz. Sie sterben schnell und sauber, mit Steaks und Whisky auf Kosten des Hauses. Und sie wissen: Wenn ein kleines Teil noch verwertbar ist, werden unsere Jungs in der Metzgerei es finden. Der Geist mag sterben, junger Mann – aber das Gewebe lebt weiter!« Sie bogen um eine Ecke und standen plötzlich vor Tac Turber. Er war unter Glas. Miss Kling klopfte an, schob die Türscheibe beiseite. Tac Turber sprang von seinem Bett auf, er war ein hochgewachsener Mann, der in seinem Bademantel sehr stämmig wirkte. »Sieh da, sieh da! Höre, Sie sind befördert worden, Johns!« Heftig schüttelte er Johns’ Hand. Johns stammelte: »Downs läßt mich Ihre Kolumne schreiben, bis – bis Sie wiederkommen.« Turber grinste. »Dann haben Sie sie auf Lebenszeit, Junge.« Er hieb Johns auf den Rücken. Seine Augen zwinkerten. »Es wissen doch alle, daß ich nicht zurückkomme?« »Wir hörten, Sie seien in Florida, um sich von – was immer es ist – zu erholen.« »Ah, was da an Gerüchten die Runde macht«, lachte Turber. »Na, Johns«, sagte er dann, plötzlich nüchterner. »Ich bin unterwegs zu einem neuen Leben. Zu einem anderen Leben, das aber bestimmt ebenso nützlich ist wie mein bisheriges. Ich bedauere nur, daß ich nicht mehr in der Lage sein werde, eine letzte Kolumne zu schreiben. Ich wollte immer schon die Arbeit schildern, die sie drüben in der chirurgischen Abteilung machen.« Er runzelte die Stirn. »Aber sowie ich sie verlassen habe, vergesse ich das immer wieder.«
Miss Kling sagte: »Man kann sich nicht alles ins Hirn stopfen.« Turber schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein, das ist es nicht.« Er wandte sich wieder Johns zu. »Es gibt so viel Erregendes, Johns, so viel zu sehen. Manchmal, wenn ich zu meiner Untertasse zurückgehe, kann ich mich kaum mehr erinnern, den Bericht geschrieben zu haben, den ich in der Hand halte.« Seine Miene wurde nachdenklich. »Ich nahm mir immer vor, eine der Schreibmaschinen im Direktionsbüro zu benutzen. Aber dann…« Er schüttelte ratlos den Kopf. Miss Kling sah zum Steuerpult hinaus. Die Türscheibe schloß sich. Aus dem Boden stieg langsam regenbogenfarbener Nebel empor. Turber schnüffelte. Seine Miene erhellte sich wieder. Er grinste. »Nun, es ist ein guter Job gewesen, Johns. Sie erinnern sich nicht an die alten Tage, die alten Krankenhäuser, die Angst und die Unsicherheit, die menschliche Lebewesen ertragen mußten. Nur die Armen oder die psychisch angeknacksten hatten jemand wie Miss Kling, der ihnen half. Alle anderen mußten sich selber durchschlagen, so gut es eben ging.« Die Türscheibe glitt wieder zur Seite. Ein Robo-Tisch mit einem Festmahl fuhr herein. Turbers Augen leuchteten auf. »Sieht aus, als hätte man auch an Sie gedacht, Johns.« Er goß Scotch in die beiden Gläser. »Man hat Sie vergessen, Miss Kling«, sagte er dann mißbilligend. Miss Klings Züge erschlafften. »Nie denken sie daran, ein Whiskyglas für mich mitzugeben«, sagte sie unmutig. »Ich gehe zu jeder Party hier, aber niemals gibt es ein Glas für mich.« Turber hob einen Deckel hoch und drückte auf ein paar Steuerknöpfe des Tisches. Besteck, Servietten und
Whiskygläser kamen klappernd zum Vorschein. Strahlend füllte Turber ein Dutzend Gläser. Er erhob zwei. »Auf die Unsterblichkeit!« »Auf Ihre unsterbliche Leber! Ha!« dröhnte Miss Kling schwankend. »Wißt ihr was, Jungs? Vor einer halben Stunde hätte ich mir neue Nasenfilter einsetzen müssen. Und ich hab’s vergessen. Ha! Ich habe meinen neuen Filter vergessen – jetzt werde ich alles vergessen!« Johns lachte höflich. Dann lachte er noch mehr. Bald lachte er schnaubend und brüllend inmitten des bleichen Nebels und stürzte den Whisky so schnell hinunter, wie Turber ihn eingoß. Dann war die Flasche leer. Die Steaks lagen da, noch gefroren. Dann quietschten Räder, und eine Auto-Bahre rollte in die Kabine. »Mein Wagen!« Turber hüpfte hinauf. Er warf sich auf den Rücken und jauchzte vor Freude. »Nach Hause, James!« Die Bahre umfing ihn. Eine Maske fiel auf sein Gesicht. Turber zappelte, lag dann schlaff da. Die Bahre quietschte davon. Miss Kling sah bedauernd auf das tiefgefrorene Festmahl. »Mr. Johns, ich glaube, ich habe etwas vergessen. Aber ich weiß nicht mehr, was.« Johns sagte feierlich: »Sie werden den alten Tac auseinandernehmen und seine Teile wiederverwenden, nicht wahr?« »Ha! Ich sage nichts!« Stirnrunzelnd und nachdenklich betrachtete ihn Miss Kling. »Aber ich erinnere mich an einen Jungen. Nein, zwei Jungen. Brüder. Ein smart aussehender dunkler Bursche. Er sah Ihnen ähnlich. Und ein großer, gutaussehender Rotschopf. Ein Jahr oder zwei älter. Sie stürzten mit ihrer Untertasse ab. Dem Dunkelhaarigen zerschlug es den Hinterkopf, und der Rothaarige kriegte etwas in den Bauch.« Gedankenverloren kratzte sie sich am Kinn.
»Aber das ist, glaube ich, alles, woran ich mich erinnern kann.« Johns nickte eulenhaft. »Nicht einmal so viel weiß ich noch. Ich vergesse es jeden Morgen um acht.« Sie nickte. Dann kam Licht in ihre Augen. »Ha!« Sie nahm eine kleine grüne Dose von ihrem Gürtel. »Mein GedächtnisSpray. So viel weiß ich noch! Wenn ich Luft von falscher Farbe einatme, dann versprühe ich nur dieses grüne Zeug, und alles kommt zurück.« Sie versprühte es. Johns schnüffelte. Es war sehr frisch, sehr sauber, dieses grüne Zeug. Tief atmete er es ein. »So. Reinigt alle Synapsen. Oder so etwas.« Miss Klings Gesichtszüge wurden wieder fest, charaktervoll. Es war, als sei der grüne Spray in vergessene Kammern seines Geistes eingedrungen, habe sie freigemacht. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte er leise. »Ich erinnere mich…« In seiner alten Untertasse schwebte er in geringer Höhe über dem Land dahin. Ein Frühlingstag. Sein Bruder rutschte nervös auf dem Passagiersitz hin und her. Sein Bruder – Albin. Sein dunkelhaariger jüngerer Bruder, der alles so genau nahm und der auf seinem Weg zur Universität in Ohio vorbeigekommen war. Er – Deon – grinste beruhigend. Wiederholt hatte die Untertasse etwas zur Seite gezogen. In geringer Höhe flog er langsam zur Stadt zurück. Wieder diese Kursabweichung. Kühl bediente er die Steuerung. Er war immer noch dabei, die Abweichung auszugleichen, als er plötzlich furchtbare Vibrationen spürte. Warnlichter flammten auf. Alarmsignale ertönten. Dann schlug es ihm die Steuerung aus der Hand. Sie stürzten. Er riß das Steuer herum – vergebens. Dann seines Bruders Stimme: »Deon, kannst du nicht…«
Aufschlag. Ein paar Minuten schmerzlichen Halbbewußtseins. Er öffnete die Augen, sah seinen Bruder – Albin – unweit von sich ausgestreckt, ein Metallstück im Unterleib, den Hinterkopf zerschmettert, das schnell und exakt denkende Gehirn zerstört. Später öffnete er noch einmal die Augen und sah das Ambulanzschiff landen. Der Arzt gab ihm einen Klaps ins Gesicht. Alles verschwamm. »Der hier hat es in den Brotladen bekommen«, hörte er undeutlich die Stimme des Arztes neben sich. »Dieser hier auch. Und am Hinterkopf. Glauben Sie, man kann die Teile kombinieren?« Wieder Bewußtlosigkeit. Dann durchzog grüner Nebel die Kabine. Johns’ Sinne blieben gnadenlos klar und ließen unerbittlich den Gedächtnisfilm ablaufen. Ein heiserer Schrei. Die Stimme neben ihm sagte uninteressiert: »Oh, Sie werden schon irgendwas zusammenkriegen.« Denn als nächstes würde er wieder die Augen öffnen, vor denen der Schock alles verschwimmen ließ, und die Decke sehen, die Decke, weiß in weiß. Er würde den Kopf zur Seite wenden und seinen Bruder – Albin – mit dem Gesicht nach unten nebenan auf der Bahre lieben sehen. Seine eigene Bahre würde seine Rückkehr ins Bewußtsein registrieren, ihm die Maske aufs Gesicht pressen. Dann… Er wehrte sich, als Miss Kling ihm den Inhalator in die Nase steckte. Dann fiel er schwer auf das Bett, das eben noch Turbers gewesen war. Miss Kling nahm eine Maske von ihrem Gürtel und drückte sie ihm aufs Gesicht. »Sind Sie wieder Sie selbst?« fragte sie nach einer Weile. »Ich glaube schon.« Es schien eine unfaire Frage, da er nicht absolut sicher war, wer er selbst eigentlich war.
Sie nahm ihm die Maske ab. Ein kleiner Spiegel lag auf dem Nachttisch. Johns musterte das dunkle, intelligente Gesicht, das seines war – und doch nicht war. »Ich muß noch ein paar Besuche machen«, verkündete Miss Kling nachdenklich. »Aber ich werde Sie gleich jetzt in die Hypno-Kammer hinunterbringen, bevor Sie wieder durchdrehen.« Stolpernd folgte er ihr den leuchtenden Korridor hinunter bis zu der Tür, die durch das riesige hypnotische Auge gekennzeichnet war. »Gehen Sie hinein, Mr. Johns. Es wird sofort jemand kommen. Sie werden Ihr Gedächtnis herausschälen, so wie es gehört – das tote Holz wegschneiden und es fortwerfen. Und man wird Ihnen etwas geben, damit es so bleibt.« Gehorsam öffnete er die Tür. Im letzten Moment packte sie ihn noch einmal am Arm. »Sie sind ein guter Junge, Johns. Sie beide.« Ihre Lippen streiften seine Wange. Halb betäubt trat er in die verdunkelte Hypno-Kammer.
Minuten später – oder waren es Stunden? – saß er hoch über dem Cleveland Hospital am Steuer seiner Untertasse. Er schaltete die Automatik ein und sah die Papiere durch, die er in der Hand hielt. Seltsam. Er mußte eine Schreibmaschine im Direktionsbüro benutzt haben, um seinen Bericht zu tippen, solange er noch alles frisch im Gedächtnis hatte. Aber er erinnerte sich nicht, es getan zu haben. Und das Ganze war nicht einmal ein normaler Stil. Er würde noch manches umschreiben müssen. Er überlas den Abschnitt über Miss Margot Kling, Obersozialarbeiterin. Er lächelte. Klang nach einem kauzigen Original. Zu schade, daß er sie nicht persönlich kennengelernt
hatte. Aber wenn Tac Turner im nächsten Monat immer noch auf Genesungsurlaub in Florida war, würde Johns vielleicht noch einmal hierher kommen. Er stopfte die Papiere in eine Ablage, zusammen mit dem großen Glas violetter Kapseln, auf dem ZWEIMAL TÄGLICH. FÜR DAS GEDÄCHTNIS stand. Er zog die Untertasse hoch und öffnete das Kabinendach, um die kühle Höhenluft auf seinem Gesicht zu fühlen. Die Sonne brannte herunter. Die Himmelsstraßen streckten sich blau und einladend vor ihm aus. Selbst in dieser Höhe konnte er spüren, wie der Frühling warm und grün über die Erde zog. Ein Gedanke blühte in seinem Geist auf, als sei er dort eingepflanzt worden. Er überlegte ihn, lächelte, nahm ihn für seinen eigenen: Wie schön, einen solchen Tag zu erleben!
Originaltitel: A VISIT TO CLEVELAND GENERAL Copyright © 1968 by Galaxy Publishing Corp. Aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Übersetzt von Dolf Strasser
Laurence Yep DER STUMME BRUDER
1 Lichtreflexe spielen auf dem Wasser; goldene Kringel huschen darüber hinweg. Im fahlen Licht der erwachenden Sonne durchschneidet das V einer Vogelsilhouette die Stille mit einem Schrei. Der Ozean schäumt; seine Lippen saugen am Sand des Ufers. Sand prickelt auf meinem Rücken, als wanderten Myriaden von Sternen meine Wirbelsäule hinunter. Auf Zehenspitzen kommt die Sonne empor unter sonnenverbrannten Wolken und einem Himmel voller Rotweinflecken. Für uns. Licht bricht sich auf ihrem Haar und seinen Myriaden feuriger Spitzen. Grüne, golden schimmernde Augen schließen das Universum in sich, und Zufriedenheit ruht in der sanften Kurve ihrer Lippen. Ich bin befriedigt. Wüstling, blitzte sie mir zu. »Was?« fragte ich und schloß meinen Arm enger um Pryns Taille. Du hast es gehört. Dein Feuer würde einem Elefanten heiß machen. Ich lachte, denn das ist das einzige, das man tun kann, wenn ein Telepath einen ertappt. »Du könntest sagen, ich soll meinen Arm von dir fortnehmen«, sagte ich. Sie lächelte und schmiegte sich noch enger an mich. Ich mag es so, und selbst wenn es anders wäre, du bist viel zu stark, als daß ich mich widersetzen könnte. Du gefällst mir, selbst wenn du Anglistik studiert hast.
Ich knurrte etwas und küßte sie. »Sei du das Gehirn, und ich werde der Muskel sein.« Meine freie Hand fühlte den kleinen goldenen Ring, und ich fragte mich, wie ich ihr einen Antrag machen sollte. Das Mädchen, das mit zweiundzwanzig seinen Doktor in Meeresbiologie gemacht hatte, lehnte mit einem zufriedenen kleinen Seufzer den Kopf an meine Schulter. Als Bakkalaureus des Englischen hätte ich wohl eine witzige Antwort wissen sollen. Doch wenn man am Strand sitzt und die kränkliche Sonne langsam den Himmel emporhinkt und man ein Mädchen in den Armen hält, dann sucht man nicht nach Worten. »Sei still«, sagte ich. Ich spürte, wie Pryns Arm sich enger um mich schloß, und wir drückten uns aneinander und beobachteten die blutmähnige Sonne, die ihren farbigen Mantel über das Wasser zog.
Als wir die Treppe zum Laboratorium hinuntergingen, hielt ich ihre Hand und hörte den Kids zu, die glücklich in ihrem Tank plätscherten. Der Reiz dieser Berührung ist für mich immer wieder neu. Nicht, daß ich nicht auch anderer Mädchen Hände gehalten hätte. Pryn braucht den physischen Kontakt für exakte Kommunikation, und dabei ruht all die sanfte Wärme, die in ihr ist, in meiner Seele, bis ihre Worte wie flüssiges Feuer durch mich hindurchfahren. »Was wollen wir heute tun?« fragte ich Pryn. Sie hielt mich auf der Treppe an. Ich verstehe, warum du Deucalion heißt. Ich drückte ihre Hand. »Mein Name ist Duke.« Und in dem Staccato von Feuerausbrüchen, die Lachen bedeuten, fragte ich: »Also gut, warum?«
Weil du immer so neugierig bist, wie Prometheus, dein Vorfahre. Sie tätschelte meine Hand. Aber das Denken sollte man Leuten mit Doktorgrad überlassen. Ich faßte sie um die schmale Taille und hob sie hoch, und protestierend strampelte sie ein wenig mit den Beinen. »Eines Tages wirst du Mrs. Duke Selchey sein, und was wirst du dann tun?« Dich erziehen. Ich stellte sie wieder auf den Boden, und sie hakte sich bei mir unter. Und deinen Namen ändern lassen. Als wir in den Raum traten, in dem geschäftige Techniker herumeilten, verzog das Oszilloskop sein grünes Gesicht, während der Lautsprecher schnarrte. »Brut-Liebe, männlich, weiblich, Statement.« Das ist die Art der Kids, hallo zu sagen. Ollie und Ossie, wie sie mit Vornamen heißen, können etwa zehn Worte sagen, und Kombinationen daraus erweitern ihr Vokabular. »Brut-Liebe« drückt am besten dieses mehrdeutige Verhältnis von Gefahr, Ernährung, Geburt, Tod und Zeugung aus, das uns verbindet. Es ist ziemlich mehrdeutig, aber sie wüßten nicht einmal so viel, wenn nicht Pryn und ihre Telepathie wären. »Kids, kommt hierher, ja?« rief Noe von dem Steg über dem Tank. Ich sah zu dem hochgewachsenen Mann hinauf, der einen aussichtslosen Kampf gegen seine Kahlheit führte. Sein Bauch hängt etwas über den Gürtel seiner Shorts. Das Haar auf seinen Beinen ist dünn, verkümmert auf ihrem fetten Gewebe. Seine dicke Brille rutscht ihm ständig die Nase hinunter wie ein zweibeiniges Insekt. Aber er ist der Vater unserer kleinen Familie und der Patriarch aller Neulinge im Institut. Noe ist ein guter Mann, wenn man ihn nicht zu ernst nimmt. Zum Beispiel besteht er darauf, daß Pryn und ich die Kids seien, obwohl der Rest des Instituts diesen Namen für Ollie und Ossie verwendet.
Aber Noe ist der Patriarch dieses Instituts, unser Stiefvater. Und wir vom Institut sind ja alle Selcheys Kids. In gewisser Weise ist Noe unser Vater. Er und mein Vater waren sich physisch ähnlich. Daran erinnert sich Noe noch, und ich nehme an, er hat recht. Meine eigene Erinnerung an John Gunnar ist durch die Zeit und Hunderte von Fuß Wasser verfärbt. Was bleibt, ist ein herzliches Lachen aus dem Dunkel, strahlende Höhen und ein Paar dicker Brillengläser, die wie Doppelmonde leuchteten. Noe behandelt mich wohl, wie mein Vater mich behandeln würde: Er drückt unwissenschaftliche Zuneigung schwerfällig in wissenschaftlichen Termini aus. »Wo ward ihr Kids?« fragte Noe. »Schwimmen, Onkel Noe«, lächelte Pryn. »Gut, denn ich möchte den Delphinen sagen, daß es heute in die Tiefsee hinausgeht«, verkündete Noe. Pryn schlüpfte aus ihren Sandalen und zog ihren Labormantel aus. In ihrem Badeanzug sah sie zart und hübsch aus. Ich folgte in würdevollerer Haltung – Pryn behauptet, es sei nur meine linkische Art. Ich schaute in das Wasser nach den Kids. Jemand stieß mich von hinten, und ich stolperte im Wasser herum und schwang meine Arme wie ein schwerfälliger Vogel, um mein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Ich drohte Ossie, dem männlichen der Kids, mit der Faust, und er stieß diesen zirpenden Laut aus, der ein Lachen oder einen Ausdruck der Sympathie bedeuten konnte. Das ständige Lächeln auf seinem Gesicht ließ nicht erkennen, was von beidem es war. Pryn schwamm zu Ossie und legte ihm eine Hand auf den Kopf, um ihm Noes Anordnungen zu übermitteln. Ich beobachtete sie und bewunderte ihre schlanke Silhouette, deren Umriß sich in dem Fenster vor dem Tank abzeichnete. Ollie gab mir von der Seite einen kleinen Puff, und ich streichelte sie
liebevoll. Nach einer gewissen Zeit bekommt man ein väterliches Verhältnis zu den Kids. Als Pryn fertig war, gab sie Ossie noch einen leichten Klaps und nickte mir zu. Mit einem Armzug schwamm ich zu ihr, und wir tauchten auf und sahen zu Noe, der auf dem Steg über dem Tank kauerte. »In eure Anzüge, Kids. Ich möchte so viel Tageslicht wie möglich«, sagte Noe. Im Umkleideraum hing der nasse Anzug an mir herunter, und ich zitterte ein wenig. Ich habe einen Horror davor, ins Wasser zu gehen, wo ich den Grund nicht sehen kann, und wenn ich in die Stadt, die Mutter aller meiner Phobien, zurückkomme, dann wird das nicht besser. Ich erinnere mich an jenen Tag, der mein Leben umstürzte. Ich war gerade dreizehn, als Kalifornien von der Flanke des Kontinents abrutschte, um sich wieder mit Fischen zu bevölkern. Ich weiß, daß es eine große Kampagne gab, weil wir bevölkerungsmäßig Nummer eins waren, und vielleicht war irgendein Fruchtbarkeitsgott beleidigt wegen unserer mangelnden Dankbarkeit. Ich weiß es wirklich nicht genau. Ich weiß nur, daß alles vom Kontinentalschelf wie sprödes Porzellan heruntergeschlagen wurde, als die Flut hereinbrach.
2 An diesem Tag war ich in der Schule am Fuß eines der vielen steilen Hügel, die sich über der Stadt erheben – oder genauer, ich war gerade im Schulhof auf einem Botengang für den Lehrer. Der Boden unter mir schwankte, und meine Augen wollten mir fast aus den Höhlen springen, als hätte ich und nicht der Boden einen plötzlichen Anfall gehabt. Ich legte mich auf die Erde und fühlte die Schläge seines Herzens und
klammerte mich an die Erde, die entschlossen war, mich von sich abzuschütteln. Ein dünnes schwarzes Unkraut streckte seine hageren Wurzeln über das Schulgebäude aus. Die Wurzeln wurden dicker, und Teile der Wand stürzten ein und ließen die zitternden Eingeweide der Schule sichtbar werden. Ich begrub den Kopf unter den Armen, rollte mich zu einer kleinen Kugel zusammen und hoffte, daß die zerstörende Kraft, was immer sie auch war, mich verschonen würde. Glas zersplitterte auf dem Boden, als die Glocke einen Kurzschluß bekam und wie wild zu läuten begann. Betontrümmer plumpsten auf den Boden, und jemand schrie. Dann hörte man das schrille Kreischen von Kindern, bald übertönt vom Krachen des einstürzenden Gebäudes. Dann herrschte Stille. Nur die Glocke läutete noch. Ich hustete in den dicken Staub, der die Sonne verfinsterte, und wunderte mich über die Stille. Ein Schutthaufen lag an der Stelle, wo vorher die Schule gestanden hatte. Da und dort machten große Finger aus verbogenem Stahl warnende Gesten. Ich kroch auf die Trümmer meiner Schule zu, durchquerte eine Lache, die von den Toiletten her langsam ihre Arme ausbreitete. Dann saß ich auf einem großen Stück Beton und berührte mit einer Hand die Toilettentür, die noch über dem Schutt war. Ich war allein unter dem schiefergrauen Himmel. Der Staub des eingestürzten Mauerwerks war in meiner Nase, und der Rauch von den brennenden Nachbargebäuden drang beißend in meine Augen. Dann liefen schreiende Menschen auf der Straße herum. Manche riefen nach Hilfe, andere nach einer bestimmten Person. Alle wirkten sie wie verirrte Hunde. Und in einer plötzlichen Sekunde der geköpften Zeit wurde aus den
Schreien ein einziges Wort: Flutwelle. Das Beben des Bodens verstärkte sich, und Neptun verbreitete Schrecken. Ich klammerte mich an die auf dem Schutthaufen liegende Tür, als ich die Glaswand der Welle über mir auftürmen sah – ihr grünkristallenes Antlitz trug Linien und Falten wie ein Baumstamm. Und eingefroren in diesem Antlitz waren Stühle und ein Ast und die Hand eines Mannes, grüßend zu irgend jemand ausgestreckt. Ich schloß die Augen, so fest ich konnte, und preßte meinen Kopf auf die Tür, als die Welle sich über mich stürzte. Das Gewicht von Äonen preßte mich auf die Bretter, und ich wußte, was Jesus und St. Christophorus und all die Sündenböcke gefühlt hatten. Ich hielt den Atem an, als der Ozean mich umgab, und spürte, wie sich die verbrauchte Luft in mir einen Weg nach draußen bahnte, und sah kleine Blasen meinem Mund entquellen wie kurze Ausrufe. Ich war isoliert in einer dunklen, schmutzigen Welt, in der ich nicht atmen konnte. Undeutlich sah ich Farne, im Wasser herumgewirbelt wie Flitterkram, und die geisterhaften Münder der Häuser, weit aufgerissen in stummem Schrei. Plötzlich wurde ich, Kopf und Körper, hinaus in die Luft geworfen, und gierig sog ich Atem in mich. Kleine Wellen spielten mit meiner Tür. Ich preßte den Kopf gegen die Tür, bis sie an die Flanke des Berges stieß. Jemand versuchte, mich von ihr herunterzuziehen, aber ich klammerte mich fest, so daß sie mich mitsamt der Tür ans Land zerrten. Dann ließ ich los. Ich weiß heute noch nicht, wer mich den Berg hinauftrug. Dort legte man mich nieder, und ich hustete und schluchzte, während meine Lungen versuchten, sich wieder ans Atmen zu gewöhnen. Ich war in einem kleinen grünen Park und lag im Gras, und die Sonne schien vom Himmel wie eine schwache Glühbirne.
Um zwei Häuser, die noch auf der Berghöhe standen, rotteten sich Menschenmengen zusammen. Der Besitzer des einen Hauses öffnete die Tür und ließ so viele Leute hinein, wie er konnte, aber ein Kampf ging los, als er versuchte, die anderen abzuweisen. Feuer und Blut brachten die Menge zur Raserei. Als der Wahn endlich verflogen war, brannten beide Häuser, und wer noch stehen konnte, stand dort und sah traurig in die Flammen. Ich hielt mich abseits von der Menge und ging zur anderen Seite des Berges hinüber, der jetzt eine Insel war. Ich kauerte mich nieder und sah hinüber, wo unser Haus sein mußte, drunten im Wasser, und fragte mich, warum ich als einziger zurückgeblieben war in einer häßlichen, unverständlichen Welt, und wünschte, ich wäre es nicht. Familie, Freunde und sogar Identität hatte ich in einer knappen halben Stunde verloren. Und da beschloß ich, mir keine Gedanken mehr zu machen wegen Freunden oder Bindungen oder anderen natürlichen Dingen, die vielleicht kaputt gemacht werden konnten. Ich ging zu einer Tante im Mittelwesten, wo es keine Berge gibt und keinen Ozean – nur kleine Seen, die ihn imitieren, und keine Brandung am Abend, keine kreischenden Möwen, keine dröhnenden Nebelhörner und keinen Nebel – nur eine fade Lehmschicht. Jeden einzelnen Augenblick fand ich scheußlich. Inmitten aller der Mais- und Weizenfelder wuchs ich auf wie ein starkes Unkraut. Tante Gila versuchte es mit Kino am Wochenende, und Apfelkuchen ist auch nicht so stimulierend. Heißes Essen ist gut, aber der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. Als Tante Gila starb, trieb ich mich eine Zeitlang herum und machte irgendwann mein Bakkalaureat in Englisch. Ich versuchte zu schreiben, aber nachdem ich ein dutzendmal
meine Manuskripte zurückbekommen hatte, ließ ich das ebenso hinter mir wie vorher die Stadt und meine Eltern. Endlich beschloß ich, zurückzugehen, heim und zum Ozean. Manchmal nahm mich jemand im Auto mit, und wenn nicht, arbeitete ich, bis ich die Fahrt bezahlen konnte. Manchmal wanderte ich sogar zu Fuß, aber es ging nach Hause, koste es, was es wolle, Kalifornien oder gar nichts, bis ich New Mupitas erreichte, wo das Land zu Ende war. Von diesem Staat ist jetzt nicht mehr viel übrig. Ein Teil der Sierras hängt noch wie eine Narbe im westlichen Teil, und wo früher die Stadt war, ist jetzt eine Inselgruppe aus Hügeln, die nicht ins Meer rutschten wie der Rest des Staates. Aber wenige davon sind besiedelt. In New Mupitas also lebt die Mehrzahl der Leute, die noch übrig sind, und in New Mupitas endete mein Weg. Die paar Fischer, die es gab, hatten kein Interesse, zum tiefen Ozean hinauszufahren, wo früher die Stadt war. Und nichts, auch nicht die Mitgliedschaft in der exklusivsten Studentenverbindung, verhilft einem in New Mupitas zu einem Boot. Man braucht die Wurzel allen Übels, um die Räder zu schmieren, die die Welt in ihre taumelnde Drehung versetzt. Den ganzen Tag pflegte ich am heruntergekommenen Kai zu sitzen und mich zu fragen: »Was bin ich?« Ich antwortete: »Von Natur aus bin ich 1) Materie, 2) lebendig, 3) fühlend, 4) rational und ich gehöre zur Gattung der Menschen. So viel weiß ich dank dem alten Perphyry. Aber was bin ich sonst noch? Nicht einmal eine binäre Zahl oder ein magnetisches Bit, denn alle Computer, die mein altes Leben enthielten, liegen tief auf dem Meeresgrund. Einmal dachte ich, ich könnte Lehrer oder Schriftsteller sein, aber das waren Winterpelze, die auf meiner glitschigen, nassen Unvergangenheit nicht halten konnten. Ich besitze keine Identität, nur das Erbe meines Menschentums.«
Eines Tages saß ich am Kai, sah zu, wie die Sonne die Kälte abwusch, und ließ diese Worte sich endlos durch meine Seele fressen. Ein Mädchen, das eine doppelte Wasserfurche hinter sich herzog, schwamm unter meinen Augen. Ihr Kopf war ein Punkt auf den goldenen Schuppen des Meeres, ihre weißen Arme leuchteten, während sie schwamm. Tränenlose Bitternis packte mich, bis ich fast schrie. Selbstmord schien das beste zu sein, und ich sah zum Gipfel einer anderen Insel hinüber. Ich würde auf die farbige Glasscheibe hinunterblicken, auf der Boote waren wie Schnecken und Würmer, die schmale Schleimspuren hinter sich nachziehen. Auf diesen olympischen Höhen würde ich meine Arme kreuzen und meinen Tod der Eiseskälte der Weltordnung und der Fragwürdigkeit der Existenz widmen und dann anmutig von meiner Insel springen. Ich überlegte mir, ob Morgen- oder Abenddämmerung von geeigneterem Symbolgehalt seien, als eine Hand meinen Arm berührte. Goldene Wärme hüllte meine Seele ein und die Verheißung von Zufriedenheit; aber ich wehrte mich gegen diese fremde Berührung, hieß die Wärme willkommen und sonst nichts, bewahrte den Rest meiner Identität. Selbst dort unten konnte ich deine Gefühle spüren, hörte ich eine Stimme in mir sprechen. Ich wandte mich um und sah das Mädchen neben mir knien. Ihre grünen Augen forschten in meinem Gesicht, und Wassertropfen perlten an ihr hinunter wie Tränen. »Was?« fragte ich und legte überrascht die Stirn in Falten. Tod ist Verschwendung, Tod ist das Ende aller Veränderung, Veränderung ist der Zweck des Menschen. Sie hielt inne, dann: Es ist unnatürlich. »Geh zur Heilsarmee«, sagte ich. Ihre Nägel gruben sich in meinen Arm, ließen kleine blutige Halbmonde in der Haut zurück. Zorniges Feuer fuhr durch jeden Nerv meines Körpers und erlosch.
Es tut mir leid, kamen die Worte. Sie ließ meinen Arm los und legte die Hand in ihren Schoß. Ich nahm ihre Hand und drehte sie um, um die Handfläche und die Finger zu betrachten. Sie versuchte, sich mir zu entziehen, aber ich packte sie fest. »Warum bist du gekommen?« fragte ich böse. »Warum?« Wir starrten einander an, hörten, wie das Wasser an den Betonbeinen der Mole saugte. Und ich bemerkte, wie ich in ihren grünen Augen ruhte, die von goldenem Schimmer durchsetzt waren. Sie zuckte die Achseln und nahm meine Hand. Du warst so traurig, sagte sie. Ich mußte kommen. »Und weißt du warum?« fragte ich mit der Andeutung eines Lächelns. Sie sah mich an und nickte, was mich ärgerte. Wenn irgend jemand meine Probleme kennt, dann sollte ich das sein. »Dann sag es mir«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf, und kleine Tropfen fielen zur Erde. Das mußt du selbst herausfinden. Ich sah hinaus, dorthin, wo die Stadt liegen mußte, und bemerkte ein bauchiges Fischerboot, das langsam dahinfuhr. Und ich wußte… … der salzige Ozean erstreckte sich jenseits der Felsen, während Vater in seinen großen Stiefeln zufrieden im kristallenen Wasser stand. Und Mutters Gesicht war zur Sonne gewandt, und ihre grünen Sonnengläser waren wie Insektenaugen, die noch intensiver starrten als ihre Bewunderer; ich inmitten meiner Sandburgen und -festungen. »Was ist das?« fragte ich und deutete auf ein Gebilde, von dem nasse Streifen Fleisches baumelten. Fasziniert von seiner seltsamen Schönheit doch voll Furcht vor seinem Tode, näherte ich mich ihm ängstlich.
»Ein Tintenfisch, Liebling«, sagte meine Mutter; und zitternd stieß ich mit dem Fuß Sand darüber, um ihn vor meinen Augen zu verbergen, und Lachen fiel aus ihrem weißen Hals wie Frühlingsblumen: Weiß, rein und sanft, wie eine Erinnerung sein sollte.
Du stammst aus der Stadt. Warum bleibst du nicht eine Weile bei uns? Ihre Hand verbarg jetzt die Erinnerungen wie das Wasser und der Sand. »Kommst du auch aus der Stadt?« fragte ich. Wenige überlebten jenen Juni-Morgen, und noch weniger sprechen davon. Erfahrungen wie die große Flut können lebendiger werden als das Leben selbst, ein unvergeßliches historisches Faktum, das für immer dein Leben beherrscht. Darüber zu reden stärkt nur die Macht, die die Erinnerung über dich hat. Ich und Onkel Noe gehörten dem Marineinstitut an. Wir machten mit unserem Schiß gerade eine Forschungsfahrt entlang der Küste, als die Flut kam. »Kanntest du einen Dr. Gunnar und seine Frau?« fragte ich. Ja, rief sie. Dr. Gunnar ist der große Mann, der aussieht wie Onkel Noe. Und Mrs. Gunnar – ich hielt sie immer für die schönste Frau der Welt. In mir flammte Freude auf wie ein zerberstender Feuerball, und sein glühendes Magma spendete mir Trost. Solche Zufälle sind seltsam, aber angenehm. »Sie waren meine Eltern«, sagte ich. Dann bist du Duke, sagte sie lächelnd. Erinnerst du dich noch an Pryn? Ich sah sie noch vor mir, die hochgewachsene Siebzehnjährige, die so gebräunte Beine hatte, daß sie aussah, als sei sie aus einem Kupferpenny herausgestiegen. Trotz des
Widerwillens, den ich vor der Flut gegenüber Mädchen empfand, hatte ich die Art bewundert, wie sie schwamm. »Ja«, sagte ich und lächelte zum erstenmal. Sie nahm meine Hand und zog mich hoch. »Da kannst du meine Einladung nicht gut ablehnen. Wir müssen die einzige Familie sein, die du hast.« Ich blickte hinaus in die Welt und dachte an meine fertige Identität. »Gehen wir.« Und so kehrte der verlorene Sohn zum Marineinstitut zurück und traf Noe Selchey, die Vaterfigur, den letzten überlebenden Direktor und somit den Manipulator riesiger in Banken der Ostküste aufgehäufter Reserven, das Sorgenkind der Versicherungsgesellschaften. Wir nannten ihn unsere Insel Parnass, denn das war vor der Flut der Name der Straße oben auf dem Berg gewesen. Als die Bulldozer das Straßenschild begruben und ein Turm aus Stahl und Glas errichtet wurde, der aussah wie eine Injektionsspritze, behielten wir den Namen bei. Ich kam in meine Heimat zurück, um zu arbeiten und zu vergessen; aber so nahe an meinem früheren Zuhause konnte ich natürlich nicht vergessen. Das Glück, das Vater und Mutter für mich bedeutet hatten, war ertrunken, und die Schreie meiner Freunde, als die über ihnen zusammenfallenden Trümmer sie zerdrückten, hallten wie im Traum durch die endlose schweigende Welt des Ozeans. Aber wenn auch der Schmerz der Erinnerung blieb, so stellte doch etwas anderes das Gleichgewicht des Lebens wieder her. Es war Pryn.
3 Als wir die Kids vom Pier gerollt und sie den Technikern überlassen hatten, die sie neben dem Schiff des Instituts ins
Meer senken sollten, führte ich sie hinaus ans Ende des Hafens. Sie setzte sich auf die Buhne und zeichnete mit dem Finger, den sie in einer Pfütze naß gemacht hatte, Muster auf den Boden. Ich nahm ihre Hand und spürte goldenes Feuer, das in meinem Körper einen Kokon aus hauchdünnen Fäden webte. Ich leckte mir die Lippen. »Pryn, ich weiß, daß du mehrere Jahre älter bist als ich…« Vier Jahre. Ihre Hand wurde starr in der meinen. Ich glaube, ich weiß, was du von mir möchtest, und die Antwort ist nein. »Überleg es dir wenigstens heute abend«, sagte ich. Du bist ein lieber, guter Junge… »Junge!« entfuhr es mir. Ja, du bist auf vielfältige Art ein Junge, und ich liebe dich deswegen. Ihre weichen Fingerspitzen berührten meine Wange. Ich liebe dich sogar noch mehr als Onkel Noe; aber aus verschiedenen Gründen – auch aus biologischen – kann ich dich niemals heiraten. »Ich möchte nicht unfreundlich sein, aber…« Dann lassen wir es dabei und bleiben gute… Freunde. Sie lächelte, küßte mich, und ging dann rasch weg, zum Schiff hinüber. Das Klappern ihrer Sandalen schmerzte mich. Als ich auf die Brücke unseres Bootes trat, wandte sich Noe mir zu. Er schob seine Brille hoch, die ihm wieder einmal über die Nase heruntergerutscht war. »Duke, ich wünschte, ich hätte dich mit Pryn großziehen können.« Ich zuckte die Achseln und ließ mich auf einem Stuhl nieder. »Du konntest nicht wissen, daß es noch andere Überlebende geben würde.« Noe nickte einem der Arbeiter zu, der das Haltetau losmachte. Er ließ den Motor auf Touren kommen, und das Schiff schüttelte sich im kalten Wasser. Und dann dröhnte das
Schiff »John Henry« und »Ole Man River« vor sich hin und rauschte holpernd durch das Wasser, vom Bug bis zum Heck weiße Furchen neben sich herziehend. Pryn sah aus einem Fenster, schaute zu, wie das Wasser sich wieder glättete. Ich nahm den goldenen Ring und sah ihn in der Luft blitzen, als er sich zu so vielen anderen Erinnerungen gesellte. Ich hasse dich, Ozean, du schwaches Synonym von Ozean! »Es war eine große Nachlässigkeit«, rief Noe über das Dröhnen der Maschinen hinweg, »keine Nachforschungen angestellt zu haben. Du bist nämlich etwas ganz Besonderes, Duke.« »Nun, hier bin ich sowieso.« »Ja, aber wo ist hier?« zwinkerte Noe. »Möchtest du eine metaphysische oder geologische Antwort?« Er lachte. »Nein, ich meine, wer bist du wirklich Duke?« »Philosophie ist das letzte, was ich von dir erwartet hätte, Noe.« »Sie ist es und wird es immer sein«, sagte er. »Über die nächstliegende banale Interpretation der Realität solltest du hinaus sein. Eine sehr dürftige wissenschaftliche Methode.« »Ich nehme an, du erwartest eine andere Antwort, die ich eigentlich nicht geben kann.« »Die Antwort dürfte dir heute noch zuteil werden, aber denk daran«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger, »dieses Prinzip der Re-Interpretation ist auf noch Größeres anwendbar. Denk daran, was Lovisier einmal sagte: ›Das Augenfällige ist stets das Geringste.‹« »Sicher, Noe«, sagte ich und wartete darauf, daß er Newton und Fermi zitierte… aber Noe verfuhr anders als gewöhnlich. Das Experiment mußte sehr wichtig für ihn sein. »Ich möchte, daß du aus dem alten Institutsgebäude ein Band holst. Es ist in einem Kellerraum, wo die Aufzeichnungen
unserer geheimen Projekte aufbewahrt wurden. Der Raum sollte gleichzeitig unser zukünftiger Schutzkeller sein und ist mit einer Luftschleuse ausgerüstet. Ich habe Pryn eine Art Blaupause gezeigt, aus der seine Lage hervorgeht.« »Und ich bin der Packesel?« fragte ich. »Nein, du fungierst als Schutz. Niemand kann sagen, was von dem Aquarium übrig ist.« Noe schaltete die Maschine ab, und das Boot lief aus. »Das Band, das du heraufbringen wirst, sollte zwei Dinge lehren.« Er hielt inne und wartete darauf, daß ich sie nannte. »Ich kann mir nur eines vorstellen«, sagte ich. »Das Prinzip der Re-Interpretation.« Er lächelte glücklich. »Aus dir wird noch ein Wissenschaftler, Duke. Ja, es ist eine direkte Anwendung. Die anderen Dinge sollten dir nur eröffnet werden, wenn ich sicher sein kann, daß du dem Schock gewachsen bist. Du wirst wissen, wer du bist, Duke.« »Das muß ja ein interessantes Band sein«, grinste ich. »Es ist ein mündlicher Bericht von John Gunnar, einem guten Untergebenen.« »Dann sollten wir uns wohl an die Arbeit machen«, sagte ich zu Pryn, die nickte und losging. »Duke«, sagte Noe, bevor ich ihr folgte. »Sei vorsichtig, Junge.« Und er tat etwas Seltsames. Er umarmte mich linkisch, wobei er unsicher lächelte. Dann wandte er sich schnell ab. Auf dem Deck des Schiffes wartete Pryn auf mich. Ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. Tut mir leid, Duke. Ich wollte dich nicht verletzen. »Ich wünschte, ich wäre dir damals am Kai nicht begegnet«, sagte ich und versuchte, ihre Hand abzuschütteln. »Jedenfalls ist es für mich Zeit, wieder weiterzuziehen. Ich bin etwas ruhelos in letzter Zeit.« Ich verstehe, sagte sie.
Da wandte ich mich von ihr ab, weil ich es satt hatte, daß sie verstand, was ich nicht verstehen konnte. Ich schnallte mir die Lampe an, dann das Atemgerät, ein wunderbares Werk Noes und der Institutstechniker. Es besteht im wesentlichen aus einem die Atemluft regenerierenden Helm, der auch noch einen Kommunikator enthält. Eine spezielle Vorrichtung überträgt das Geplapper der Kids in menschliche Worte, und ein Adapter, den man mit Kinndruck in Betrieb setzt, erlaubt es, die Delphinsprache zu sprechen. Unglücklicherweise überträgt das Atemgerät keine Stimmodulationen. Dennoch kann man lernen, verschiedene Stimmen zu erkennen. Mit Klebeband befestigte ich ein paar Pfeile mit Giftspitzen an der Hinterseite des Atemgeräts und nahm mein Harpunengewehr. Pryn gab mir einen Klaps auf die Schulter, und ich machte ihr ein Zeichen, daß ich bereit sei. Silbrig glänzende Gischtblasen sprangen in die Höhe. Pryn ließ sich ins Wasser gleiten, und ich folgte ihr mit einem unbeholfenen Sprung. Drunten war es ruhig und komplikationslos, fast wie im Schlaf. Seit jener ozeanographischen Veränderung gab es auch keine gefährlichen Strömungen mehr. Pryn legte den Kids die Hand auf den Kopf und gab ihnen Anweisungen, wie sie zum Institut kommen sollten. Die Kids schossen durch das Wasser und erfreuten sich an dieser Welt ohne Wände, während wir älteren, nahe an der Oberfläche schwimmend, in gesetzterem Tempo folgten. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, diejenigen Teile der Stadt, die eine Gefahr für die Navigation darstellen, zu sprengen. Noe mußte sich deshalb über einem der Außenbezirke halten, wo genug freier Raum vorhanden war. Hätte er sich weiter nach Norden und Osten bewegt, die Hotels und Bürohäuser hätten das Schiff gewissermaßen aufgespießt. Nur die Gebäude in der Nähe der Verwerfung waren
eingestürzt; die anderen hatten bemerkenswert gut gehalten, lange genug, daß die Menschen in ihnen ertrinken mußten. Als wir das Geschäftsviertel erreichten, hielt Pryn mich an. Sechs Blocks weit, dann rechts, und dann hinunter. Ich nickte zum Zeichen, daß ich verstanden hatte. Sie nahm ihre Hand wieder von mir, und wir schwammen zu den Kids, die müßig vor einem Wall von Gebäuden herumgeschwommen waren, während die Erwachsenen miteinander sprachen. Die Gebäude waren still, versteckt im Dunkel, Steingiganten, die aus dem Schlamm ragten wie die Finger eines Riesen, den ein Sumpf verschlungen hat. In den Büroräumen, über den verrottenden Teppichen und in den leeren Aufzugschächten schwammen Fische. Krabben bewegten sich über die Böden und Gehsteige, wo einst Absätze geklappert hatten. Ich kehrte zurück. Ich schaltete die an meinem Handgelenk befestigte Lampe an, als wir schätzungsweise sechshundert Meter zurückgelegt hatten. Pryn tat desgleichen, und wir glitten in die dunkle, schweigende Stadt hinunter. Wie Engel fielen wir durch die dunkle, flüssige Nacht und sahen, wie den hingekauerten Umrissen der Stadt Schultern und Köpfe und Zähne entwuchsen. Mein Herz pulsierte in meinem Kopf, und meine Adern drohten zu bersten, als wir in die Stadt hineinschwammen. Wie zwei Geschosse sauste etwas an uns vorbei, als die Kids ein Wettrennen zum Grund der Stadt machten. Mit dem Kinn schaltete ich den Delphin-Übertrager ein und bremste. »Hier-Aussage.« Ich wartete, bis die beiden Umrisse wieder zu uns zurückgeschossen kamen, bevor ich weiter nach unten ging. Ich richtete meine Lampe auf eines der Seitenfenster und las in abflockenden Goldlettern den Namen eines Dr. Roeke, Zahnarzt, und fragte mich, ob sein Schädel irgendwo im Schlamm unter uns lag. Ich fühlte mich fremd in
dieser neuen Dimension, während wir uns weiter nach unten bewegten, wurde mir plötzlich klar, daß wir ein Versuch waren, ein Experiment der Menschheit. Ich erinnerte mich an einen Park, in dem ich einmal mit meinen Eltern war. Er war voll riesiger Mammutbäume und Sequoien, auf denen die Jahre sich ansetzen wie Moos. Ich fühlte mich allein, furchtbar allein. Bei Tag schienen die Bäume zu schlafen, aber am Abend, im Mondenschimmer, bewegten sie sich und flüsterten sich zu, wieviele Insekten es dieses Jahr gab – und ich wußte, daß sie über mich sprachen. Aber in meiner Heimatstadt herrschte nur erwartungsvolle Dunkelheit voll Schleim und Schlamm. Du hast Angst, sagte Pryn, als sie meine Schulter berührte. Ich schüttelte den Kopf, und sie wußte, daß ich log. Sie zuckte die Achseln, und wir schwammen weiter über den Park mit seinen Blumenbeeten und Bänken, wo das Sonnenlicht ewig im Gras auf dich zu warten schien, aber das Gras war fort und die Bäume tot im Salzwasser. Dann sah ich tief unten die U-förmigen Gebäude des Instituts. Wir hielten an. Über dem Hauptplatz aus roten Ziegeln, der jetzt voll Ablagerungen des Meeres war, und der Springbrunnen mit seinen elegant geschwungenen Walen war jetzt funktionslos in dem Element versunken, mit dem er einst gespielt hatte. Ich drückte mit dem Kinn auf den Delphin-Übertrager. »Stop-Aussage.« »Hier-Frage«, fragte Ossie und bog seinen Körper in der Mitte ab, um auf das Institut zu deuten. »Positiv-Aussage«, sagte ich. Zusammen mit Pryn schwamm ich auf das Institut zu. Die Glastüren waren verklemmt und ließen sich nicht öffnen. Ich schoß einen Bolzen durch. Ich lud das Harpunengewehr und hielt es in meiner linken Hand, während ich mit meiner rechten
Stücke der zertrümmerten Türverglasung herausbrach. Ich fluchte, als ich mir die Hand daran schnitt, und Pryn versuchte, das Blut zu stoppen, das als roter Streifen durch das Wasser zog. Als der Strahl meiner Handlampe ganz zufällig ins Innere fiel, sah ich einen dunklen Fleck sich bewegen. Ich stieß unsanft gegen die Wand, als ein riesiges Etwas durch das Glas schoß, daß die Scherben nach allen Seiten spritzten. Als er sich herumwarf und wieder Kurs auf uns nahm, konnte ich im Schein der Lampe die Zähne des Haies sehen. Ich schoß einen Bolzen ab, der über seinen Rücken hinwegging. Dann griff er an, und ich ließ das Harpunengewehr fallen, als ich versuchte, seinen Zähnen auszuweichen. »Gefahr-Aussage«, rief ich den Kids zu, als ich einen Reservepfeil von meinem Rücken nahm. Die Zähne kamen meiner Hand schrecklich nahe, als ich mich zur Seite warf. Ich stieß mit dem Pfeil zu, aber das Wasser raubte meiner Bewegung jegliche Kraft. Der Tod ist eine Unterwasserpantomime, in einem Traumballett durchkämpft; und aus dem Traum schoß ein graues Projektil in die Seite des Haies. »Tötungs-Aussage«, sagte Ossie. Der Hai glitt davon, veränderte seine Richtung mit einem Schlag seiner Schwanzflosse. Daraufhin ein weiteres graues Geschoß in die Seite, und der Hai glitt wieder davon, wobei er vergeblich nach dem grauen Flecken schnappte. Die Kids umkreisten den Hai langsam, fast lässig. Dann entfernte sich Ossie aus dem Kreis, um noch einmal dem Hai in die Seite zu fahren. Der Hai versuchte zu fliehen, aber die Kids rammten sich nacheinander in seine Seite und zwangen ihn zurück in Richtung auf das Institut. Der Hai bewegte sich in vorsichtigen Kreisen, versuchte, die Kids nicht aus den Augen zu lassen. Pryn kam mit dem Gewehr, das ich fallen gelassen hatte, zu
mir. Sie nahm einen der Pfeile von meinem Rücken und zielte sorgfältig. Ich berührte ihren Arm. Ich werde die Kids nicht treffen, beruhigte sie mich, und ich ließ sie wieder los. Ich lasse mich mit Pryn auf keine Auseinandersetzungen ein. Ich war schon lange zuvor in meine Schranken gewiesen worden. Mit dem Ausruf töte rammte sich Ossie in die Seite des Haies. Der drehte sich um die eigene Achse, richtete sich wieder auf und verharrte dann einen Augenblick unbeweglich, um seine Feinde ins Auge zu fassen. Sein Bauch war uns zugewandt. Pryn feuerte. Ich sah, wie der giftige Pfeil in den Bauch des Haies drang. Wieder drehte er sich um sich selbst. Vielleicht waren es die durch die Angriffe der Kids verursachten inneren Blutungen, die schließlich die Gehirnfunktion des Haies beeinträchtigten, vielleicht war es das schnell wirkende Gift, aber nachdem er sich in wilden Zuckungen im Wasser herumgeworfen hatte, erschlaffte der Hai und sank langsam auf den Boden der Plaza hinunter. Die Kids kreisten immer noch über dem Hai. Dann scherte Ossie aus seiner Kreisbahn aus und stieß den Hai vorsichtig an. Befriedigt schwammen die Kids dann wieder zu uns herüber. Pryn berührte beide, und die plauderten miteinander. »Brut-Liebe«, sagte ich über den Delphin-Übertrager und streichelte ihre Seite. »Was ist denn dort unten los?« fragte Noe mit krächzender, jeder Modulation beraubter Stimme. »Ich hörte euch schreien und die Delphine ›töte‹ rufen. Seid ihr alle wohlauf?« »Ich habe mich nur an der Hand geschnitten, Noe«, sagte ich. »Dann sei vorsichtig; es könnte Raubfische anlocken«, sagte er. Ich lächelte, ließ mir von Pryn das Gewehr geben und benutzte es als Brechstange, um das Loch, das der Hai gemacht hatte, noch zu erweitern. Dann lud ich das Gewehr und wies
die Kids an, an Ort und Stelle zu bleiben. Ich zwängte mich durch das Loch und ließ den Strahl meiner Lampe durch den Raum wandern. »Noe, wieviele Zähne hat ein Hai?« »Das hängt von der Art ab. Warum?« »Wissenschaftliche Neugierde«, sagte ich und gab dann Pryn ein Zeichen, daß sie mir folgen sollte. Sie glitt ebenfalls durch die zerbrochene Tür, und dann schwammen wir zusammen durch die Halle, wo man einst in einem Becken die Alligatoren gehalten hatte. Ich hielt das Gewehr im Anschlag, als ich in die verschiedenen Ecken leuchtete, aber da war nichts. Nur lauernde Schatten.
4 Ich las die Aufschriften auf den Tanks in den Korridoren. Die Geländer, welche die Besucher auf Distanz gehalten hatten, waren von einer Schicht bräunlichen Rosts überzogen. Das Salzwasser fraß an den Aufschriften der Tanks. Ein Umriß wurde zu meiner Rechten sichtbar. Ich nahm das Gewehr in Anschlag, bis ich im Schein meiner Lampe ein Seepferd erkannte. Pryn stoppte vor einer Tür. Ein Skelett lag davor; zerfetzte Kleidung hing noch an den weißen Brustknochen. Zögernd öffnete ich die Tür und leuchtete in die Dunkelheit. Über das Skelett hinweg schwamm ich die Stufen hinunter. Das Kribbeln eines leichten Stroms verriet mir, daß Pryn neben mir schwamm. Wir waren in einem großen Raum voller drei Meter hoher Büchergestelle. Fragmente von Büchern und gebundenem Papier verrotteten auf den Brettern. Pryn richtete ihre Lampe
auf eine Tür in der gegenüberliegenden Wand, und wir schwammen dorthin. Ich reichte ihr das Gewehr, und sie gab mir Deckung, während ich mich an dem Handrad abmühte, die verrosteten inneren Teile zu bewegen. Dann hielten die Zuhaltungen nicht mehr stand, die Tür öffnete sich mit metallischem Geräusch, und das Wasser drückte mich mit ihr in das Innere. Ich stützte mich gegen die Wand ab, als das Wasser auch Pryn in den kleinen Raum hereinriß und gegen mich warf. Ich wartete, bis der Raum sich fast gefüllt hatte, bevor ich einen Knopf vor mir drückte. Knirschend schloß sich die äußere Tür hinter uns. Ich unterstützte ihre Bewegung, und dann war sie zu. Fast gleichzeitig begann irgendwo eine Pumpe zu surren, und langsam senkte sich der Wasserspiegel. Als ich hörte, wie mit leisem Zischen Luft hereingepumpt wurde, ließ ich das Atemgerät auf meinen Rücken hinunterhängen und nahm Pryn wieder das Gewehr ab. Sobald alles Wasser bis auf geringe Reste hinausgepumpt war, ging die innere Tür auf. An der Schwelle war eine Lichtschranke, die die Raumbeleuchtung einschaltete, als ich sie überschritt. »Hier muß ein kleiner Generator sein.« Ich zog prüf end die Luft ein. »Und ein Lufterneuerer. Es war kein Scherz, als Noe sagte, daß sie für alle Eventualitäten vorbereitet waren.« Pryn nahm eine Hand. Für fast alle. »Wer rechnete mit der Flut?« sagte ich, als sich ihre Hand der meinen entzog. Mit erhobenem Finger bedeutete mir Pryn zu warten, schlüpfte aus ihren Flossen und ging in den kleinen Raum mit seinen Aktenschränken rundum. Zwei Tische mit Schreibmaschinen standen darin; bei einer davon befand sich ein kleines Tonbandgerät.
Ich ging zu einem der Aktenschränke und zog eine Schublade heraus, eine kleine Wasserlache hinterlassend, wo ich vorher gestanden hatte. Ich nahm meine Flossen ab und trug einen Arm voll Aktendeckel hinüber zu den Schreibtischen. Langsam blätterte ich die Papiere durch und las die Überschriften, die Pryn mir erklärt hätte, wenn sie gerade bei mir gewesen wäre. Eine davon fiel mir auf: EXPERIMENTELLE KREUZUNG NO. 57. Mein Vater war Genetiker gewesen, hatte Noe mir gesagt, einer der besten – natürlich. Während ich langsam weiterlas, brannten die Worte sich in mein Gehirn. Ich schauderte in meinem nassen Anzug. »Berichte über Bestrahlungen von Delphinzellen… erfolgreiche Befruchtung… in einer Röhre… Wachstum ermutigend… in künstliche Gebärmutter… perfekter Fötus… baldige Geburt… wird es ein Idiot sein?… normale Geburt… Erfolg nach so vielen Mißerfolgen?… Junges reagiert auf Stimuli… Tests erweisen für die Altersstufe erstaunliche Intelligenz, doch können wir mit menschlichen Maßstäben messen… da das Schädelvolumen von Delphinen größer als das menschliche ist… äußerlich wie ein homo sapiens aussehend, aber was ist ein dolphinus sapiens?… getauft…« In diesem Augenblick berührte eine Hand meine Schulter. Was machst du da? fragte Pryn. Ich gab ihr das Dokument. »Weißt du, was sie vor der Flut in diesem Institut machten?« Worte entströmten mir jetzt, ohne daß ich sie überlegte. »Sie machten Reagenzglas-Babys, Babys einer anderen Art!« Pryn nahm meine Hand und sah mich ruhig an. Noe hat mir davon erzählt. Ist das wirklich so bedeutungsvoll? »Ja!« Ich packte und schüttelte sie. »In dem Bericht heißt es, daß das Ding zu einem Wesen hoher Intelligenz heranwuchs und…«
Wie Wassertropfen perlten die Worte aus meinem Mund. Ich sah mich um, und der Raum kam mir plötzlich sehr bedrohlich vor. »Schnell fort von hier«, sagte ich und zog sie zu der offenen Luftschleuse. Sie widersetzte sich. Wird deswegen aus diesem Geschöpf ein Ungeheuer? fragte sie, meine Hand drückend. »Es ist etwas Fremdartiges. Seine Vorfahren waren Delphine.« Wie Ollie und Ossie? »Sie sind anders«, sagte ich, und der Gedanke, daß diese fremdartige Kreatur auf der anderen Seite der Wand lauschen konnte, schnürte mir beklemmend die Brust ein. »Sie maskieren sich nicht als Menschen. Dieses Ding… Nach allem, was wir wissen, geht und spricht es wie ein Mensch. Seine Gene sind künstlich geformt. Es ist etwas Unnatürliches.« Und wenn es in der Flut umkam? fragte Pryn. »Also gut. Es ist tot.« Ich gab es auf, sie durch den Raum zu zerren, und sah sie nur noch an. Der Druck ihrer Hand verstärkte sich. Und wenn es lebte? »Dann«, sagte ich ruhig, »werde ich es töten müssen. Wir können es nicht am Leben lassen.« Wir? entfuhr es Pryn, und plötzlich war sie bei der Luftschleuse. Ich starrte ihr nach, und die Kälte dieser lächerlichen Logik erfüllte mich mit Entsetzen. »Pryn, nein!« rief ich verzweifelt, als die Tür sich schloß. Ich rannte hin und drückte auf den Knopf, der sie öffnen würde, nachdem Pryn durch die Schleuse war. Ich versuchte, sie mit den Händen aufzumachen, fand aber keinen Angriffspunkt. Langsam floß Wasser in den anderen Raum. Ich schlug mit den Fäusten gegen die Tür und rief: »Es tut mir leid, Pryn.«
Dann ließ ich meine Arme sinken. Ich wandte mich wieder den Schreibtischen zu. Auf einem sah ich ein Band, das Pryn dorthin gelegt haben mußte. Ich hörte, wie die Schleuse sich wieder schloß und fädelte das Band in das Magnetophon ein. Als ich, auf einem Stuhl sitzend, die Stimme meines Vaters hörte, lächelte ich trotz allem, was geschehen war. »Bericht an die Direktion über Kreuzungsexperiment No. 103. Das Junge namens Deucalion oder Duke hat auf alle Test positiv reagiert. Alles läßt darauf schließen, daß das Experiment ebenso erfolgreich sein wird wie No. 57. Das Junge wird nicht wie die anderen vernichtet werden müssen.« Wie eisiges Wasser tröpfelten die Worte in mein Gehirn, während ich dem Band mit den Worten meines toten Vaters lauschte. »Unter Verwendung von Direktor Noe Selcheys Sperma und einem über Experiment No. 57 durch Bestrahlung sorgfältig konditionierten Delphineis, wurde das befruchtete Ei…« Ich hörte nicht mehr, wie mein Vater weiter so ruhig über die Intelligenz seines Adoptivsohnes sprach. Außerehelich empfangen zu werden, ist eine Sache, mechanisch in einem Reagenzglas empfangen zu werden, aber noch eine ganz andere. Ich habe Blut in mir und Leidenschaften. Und jetzt muß ich gewahr werden, daß dieses Blut und diese Leidenschaften auf einer kalten Marmorplatte im gleißenden Licht von Operationslampen ins Leben gerufen wurden. Ich packte mein Gewehr, legte meine Flossen an, begab mich in die Luftschleuse und wartete geduldig auf das Ende des Recycling-Prozesses. »Pryn«, rief ich einmal, aber die dicken Wände gaben mir ihren Namen zurück. Dann schwamm ich aus der Schleuse – und aus dem kleinen, erinnerungsschwangeren Raum, in dessen dunklen Wassern mir meine Identität aufgelauert hatte. Ich schwamm die Treppe hinauf und über das Skelett an der Tür.
»Pryn«, rief ich durch die langen Korridore und schaltete meine Handlampe ein. Und dann traf mich der Gedanke wie ein Hammerschlag. »Tötungs-Aussage.« Gefühle wogten auf ölig-grünen Füßen wie die riesigen Wellen der Flut. Angst. Entsetzen. Mir war, als breche mein Innerstes zusammen, als reiße mir etwas die Wirbelsäule aus dem Körper. Berührung, Fleisch an Fleisch. Schwarze Finsternis. »Tötungs-Frage?« Hörte ich eine schwache Stimme wie die Ollies, überlagert von Störgeräuschen. »Bestätigungs-Aussage«, sagte Ollie. Ich verfluchte die Finsternis und die mechanische Reproduktion, die Stimmen unkenntlich machte. Mit dem Kinn setzte ich den Delphin-Übertrager in Betrieb und rief: »Was ist los?« Dann verfluchte ich stumm die viel zu komplizierte Frage. Wieder drückte ich auf den Delphin-Übertrager und fragte: »Gefahr-Frage?« »Tötungs-Aussage«, kam Ossies Ruf. »Brut-Liebe (das bedeutete einen von uns Vier), GefahrFrage?« fragte ich. »Tötungs-Aussage«, war Ollies einzige Antwort. Ich schwamm die Korridore entlang und achtete nicht auf die Gestalten, die sich in den Schatten aufhalten mochten. Schnell ging es dann durch die Halle, bis ich auf das klaffende Loch starrte, wo die Tür gewesen war und wo das eingerissene Mauerwerk jetzt auf den Stufen lag wie ein Berg von Totenköpfen. Ich schaute durch die Tür und sah einen großen Flecken, fünf Meter hoch, in einiger Entfernung. Die gallertartige Masse war durchscheinend und faltig, und drei Bündel von Fangarmen hingen gleichmäßig an jeder Seite. An der Oberseite des sackartigen Gebildes befand sich ein großes
Auge. Eines der Fangarmbündel umfing etwas Dunkles, gleichzeitig Bleiches. Es war Pryn. »Tötungs-Aussage«, rief Ossie und bohrte sich in die Seite der Kreatur. Das Gebilde zuckte zusammen, aber es war zu groß, als daß die Kids es zu irgendeiner Bewegung hätten zwingen können. Ossie schoß davon und kreiste über ihm. »Tötungs-Aussage«, rief Ollie, tauchte nach unten und griff die blinde Seite der Kreatur an, und diese warf sich wie wild herum und versuchte, einen ihrer Peiniger zu packen. »Was ist dort unten los, Duke?« fragte Noe. »Irgendein Ungeheuer hat Pryn«, sagte ich und nahm mein Gewehr hoch, um zu schießen. »Tötungs-Aussage«, kam es von zwei Schatten, die aus der Nacht des Ozeans gegen den Körper schossen, dessen Fangarme unbeholfen nach ihnen schlugen. »Sieht es wie ein Octopus aus, und hat es drei Bündel von Fangarmen an den Seiten?« »Ja, und es sieht so groß aus wie Alcatraz Island.« Sorgfältig zielte ich; ich durfte Pryn nicht treffen, wenn das Gebilde sich herumwarf. Zwei Geschosse bohrten sich in das fahle weiße Fleisch der Kreatur. »Schieß nicht«, rief Noe plötzlich. »Es ist dein Bruder.« »Ich sehe keinerlei Familienähnlichkeit«, sagte ich und schwamm näher heran, um sicherzugehen, daß meine nächsten Schüsse ihr Ziel finden würden. »Tötungs-Aussage«, riefen die Kids und bohrten sich erneut in das Gebilde, Bahnen aus kleinen Luftblasen hinter sich lassend. Wieder warf sich die Kreatur herum, wirbelte kleine dunkle Schlammwolken auf. »Du bist nicht zu hundert Prozent ein Mensch, Duke«, sagte Noe. »Ich habe das Band gehört«, sagte ich und verschluckte den Seufzer, der sich mir beinahe entrungen hätte.
»Ich habe keine Kinder«, fuhr Noe fort, »ja, und den Rest kennst du so ziemlich. Aber ich habe auch für andere Befruchtungen bestrahltes Sperma zur Verfügung gestellt. Das ist ein befruchtetes Octopus-Ovum.« »Und welches Experiment ist er dann?« fragte ich, als die Schmutzwolken sich wieder gelegt hatten. »Pryn ist Nummer 57. Dieser Erfolg ermutigte uns. Du bist Nummer 103. Nummer 203 ist dein Bruder«, sagte Noe. »Seit der Flut ist er unaufhörlich gewachsen. Töte ihn nicht, Duke. Er ist dein Fleisch und Blut.« Ich lachte bitter auf. »Tötungs-Aussage«, kam es wieder von den Kids. Und plötzlich, inmitten von Noes Befehlen und den Schreien der Kids, eine völlig neue Gefühlsreaktion. Nicht das widerwärtige Gefühl meiner Bastard-Herkunft; eine Reaktion auf die fremde, glitschige Gestalt in meinen Armbündeln. Dann Schmerz, verursacht von den Kreaturen, die wie Geschosse aus der Nacht kamen und sich in mich bohrten. Haß auf alle Geschöpfe mit glatter Haut. Töte. Aus dem schwarzen Schlamm schnellte ich mich hoch, aber die beiden Kreaturen schossen davon. Töte. Ich hob mein Gewehr und feuerte. Ich sah, wie der Pfeil auf das Auge zuschoß, das neugierig zu mir herübersah. Wie Kain sah ich das Blut aus der Wunde spritzen, die ich meinem Bruder geschlagen hatte. Blut kam heraus. Schmerz. Mit der freien Hand faßte ich mich an den Kopf. Roter Schmerz. Mein Leben. Zarte Isolation. Viele kleine Kreaturen mit glatter Haut, von denen ich mich ernähre. Die Isolation ist gebrochen. Haß auf die Eindringlinge. Mein einsames, einsames Leben in der Dunkelheit fließt jetzt aus mir heraus. Schmerz. Das sackartige Gebilde schwoll an, und einen Wasserstrahl ausstoßend schoß es tief hinein in die Dunkelheit der Stadt. Aber immer noch hielt es Pryn.
Ich hatte mich auf die Lippen gebissen und schmeckte das Blut. »Verletzungs-Aussage«, sagte Ossie, der auf mich zuschwamm. »Brut-Liebe-Gefahr-Aussage«, sagte ich, während ich auf den Delphin-Übertrager drückte. »Tötungs-Frage?« fragte Ollie. »Positiv-Aussage«, sagte ich ruhig und spürte, wie die letzten Reste der fremden Gedankenmuster aus mir schwanden wie Erinnerungsfetzen. »Du kannst nicht deinen eigenen Bruder töten«, sagte Noe drängend. »Willst du jetzt getötet werden, du Fisch?« rief ich. »Ich bin todunglücklich über die Sache«, sagte Noe, aber das Atemgerät beraubte seine Stimme jeglicher Emotion. »Dann tu doch etwas«, sagte ich und ließ mich auf Ollies Rücken nieder. Wir schwammen Pryn nach. »Ich kann nichts tun«, erwiderte Noe. Dann, nach einer Pause: »Ich liebe euch alle.« »Halt den Mund!« schrie ich zu ihm hinauf. Schräg über uns war undeutlich ein weißes, sackartiges Gebilde zu erkennen. Ich verschloß mich dem Schmerz, der von ihm ausströmte wie sein Blut. Als wir näherkamen, schwoll es plötzlich an und schoß über den Park hinweg auf die hohen Türme aus Steinen und Stahl zu. Im Licht meiner Lampe erkannte ich kleine blutige Streifen, die wie fallengelassene Bänder langsam nach unten schwebten. Wo das Geschäftsviertel begann, hielt es inne, warf sich dann gegen ein Gebäude, verharrte einen Augenblick in dem Loch, das es gemacht hatte, ließ sich dann langsam auf der Seite des Gebäudes nieder, während es Pryn so hielt, daß sie sich am Gebäude nicht verletzte. Sofort waren wir bei der Kreatur, die jetzt schlaff auf den Boden sank. Vorsichtig kreisten die Kids,
während ich zu Pryns regungslosem Körper schwamm. Ich fühlte ihr Herz, spürte seinen Schlag, wandte mich dann der Kreatur zu. Diese bewegte langsam ein Bündel Fangarme vor mir auf und ab. All die turbulenten Gedanken meiner Abkunft taumelten jetzt hinein in die Kreatur. Töte, kam der Gedanke, vermischt mit Bedauern. Ich legte einen Pfeil in mein Gewehr ein und schwamm auf sie zu. Schmerz. Töte. Halt. Die Kreatur öffnete den Schlitz unter ihrem Auge. Drinnen wurde ein rötlicher Mund sichtbar, und eine kleine Reihe von weißen Zähnen. Töte, kam die Bitte. Ich drückte auf den Abzug und sah, wie der Pfeil in die weiche Haut drang. Die Wunde schloß sich über dem Pfeil und verschlang ihn. Die Kreatur wand sich. Fleisch-zu-Fleisch, Frage? Zögernd ging meine Hand zu ihrer Haut. Mein eigenes Fleisch fühlte sich an, als wollte es an meinem Arm hinaufkriechen, aber ich berührte sie. Brut-Liebe-Frage? kam der bebende Gedanke, umhüllt von schwarzer Isolation, während das Blut langsam seine Fühler ins dunkle Wasser ausstreckte. »Bestätigung, Bruder«, sagte ich, und das Flackern des Lichts erstarb, und die Kreatur war still. »Gefahr-Aussage«, sagte Ossie. »Negativ-Aussage«, sagte ich und nahm meine Hand vom faltigen Fleisch meines Bruders. »Was ist passiert«, fragte Noe. »Ich bringe nur in Ordnung, was du hinterlassen hast«, sagte ich ruhig. »Laß einen Haken herunter.« »Wozu?« fragte Noe. »Damit ich meinen Bruder begraben kann«, erwiderte ich scharf und schwamm zu Pryn und dann zur Oberfläche, auf der immer noch das Sonnenlicht spielte.
Mit Ollies und Ossies Hilfe brachte ich dann meinen Bruder auf das Deck des Schiffes. Ich würde ihn an Land bringen, wo er von Würmern gefressen werden und sich seines Erbes erfreuen konnte.
5 Ich sah hinaus in das Licht, das von der Sonne herunterflockte, und ließ Noes Fragen und schwerfällige Entschuldigungen von mir abprallen. Die Kids schienen mein Stiefbruder und meine Stiefschwester mütterlicherseits zu sein, Gott sei Dank. Ich lachte über die Ironie und schauderte dann. Ich kämpfte den Drang meiner Hände nieder, sich in mein Fleisch zu graben und jedes Delphinatom aus ihm herauszureißen. Ich beneidete meinen Bruder, der am Ende den Tod so ruhig ertragen hatte, nachdem der Schmerz des Lebens zu groß gewesen war. »Duke?« fragte Pryn, die sich jetzt zu meinen Füßen bewegte. Ich dachte nicht mehr länger an meine neue Identität, nahm ihre Hand, die meinen Knöchel umfaßt hatte, und barg sie zwischen meinen halbmenschlichen Händen. »Ich bin hier«, sagte ich, und ich schwankte im Wind, der aus der Bucht herüberwehte. Ich sah das zerstörte Auge, dessen Lid der Pfeil daran hinderte sich zu schließen. Ein kleines rotes Rinnsal tröpfelte daraus hernieder wie die Tränen aus meinen Augen. Ich wünschte, nicht sehen zu können. Was war das? fragte sie. »Nicht was. Wer«, korrigierte ich sie. »Es ist mein Bruder.« Nein! und ich sah das Entsetzen in ihrem Gesicht und spürte, wie sich ihre Hand eine Sekunde lang aus meinen Händen zurückziehen wollte. Ich wußte, wie Pryn darunter gelitten hatte, wegen ihrer Herkunft verurteilt zu werden. Ich lachte ein
wenig, denn was machte das aus mir – der weder das eine noch das andere sein konnte? »Und ich bin das gleiche wie er. Nicht einmal deine reine Abkunft kann ich für mich in Anspruch nehmen.« Ich hob meinen Blick zum blutigen Auge der Sonne und schüttelte die Tränen aus meinen Augen. »Warum nur bist du auf der Mole zu mir gekommen?« Was? Und dann, als sie begriff, was ich im Sinn hatte, wurde der Griff ihrer Hand fester. Nein, gebot sie, als ich langsam das Pfeilgewehr hob und auf meinen Kopf zielte. »Dieses Mal kannst du mich nicht mehr aufhalten. Ich habe jetzt stichhaltigere Gründe«, sagte ich ruhig und drückte auf den Abzug. Ihre Hand packte meinen Arm, aber es war zu spät. Ich lächelte triumphierend, als der Schmerz meinen Geist an einen tiefen, dunklen, geheimen Ort trug. Selchey-Jungen, wieder vereint. Mein Geist, mein Sinn existieren nicht mehr. Kummer und Schmerz sind verflogen. Einsamkeit, tiefer noch als die Tiefe, die meinen Bruder im Institut gefangen hielt, umfängt mich jetzt. Zerströmen. Reue. Augen, ich will Augen für meine Reue, und sie öffnen sich zu Pryn hin, die wie die Sonne über mir strahlt. Gold strömte in mich hinein. Die Dunkelheit weicht und die Traurigkeit schwindet, formt sich zu Bildern, die später erkannt und gebraucht werden sollen. Ich fühle ihren weichen, beschützenden Arm. Lautlos fallen die Barrieren meines Geistes vor ihr, eine nach der anderen. Und ich erkenne: Nicht Einsamkeit, sondern eine ganz neue Welt, eine Welt, die Pryn gehört. Und ich entspanne mich. Ich spürte die Bandage um meinen Kopf. »Bin ich nicht tot?« fragte ich töricht.
Sie klopfte mir mit dem Finger gegen die Stirn. Zu dumm, sagte sie und lächelte. Und ich wußte, daß es doch noch nicht zu spät gewesen war. »Gut«, sagte ich. Zweitausend Meilen hatte ich zurückgelegt, um mich in der Stadt wiederzufinden, und auf der Stadt würde ich etwas Neues bauen. Auf dem nassen Gipfel eines Hügels begann die Suche; und mitten in der Flut wird der Sucher gefunden. Die Symbole sind ruhig geworden, nicht tot. Der Kreislauf auf der Mole in New Milpitas hat sich wieder seinem Ausgangs- und Endpunkt genähert. Adieu, kleiner Bruder. Der Mensch lebt eingebettet in die Natur. Er spielt nach den Spielregeln; doch im Gegensatz zu anderen Geschöpfen kann er das Spiel manipulieren, indem er die Regeln ändert. Jede Änderung erfordert, daß sich der Mensch dem neuen Spiel anpaßt und so weiter und so fort, ad infinitum. Ich habe Noe vergeben, weil ich den einsamen Mann verstehe, der sich hinter wissenschaftlichen Problemen versteckte, so wie mein Bruder sich im Institut versteckt hatte. Wir werden nicht sobald zum Institut zurückkehren. Noe hat uns für unsere Hochzeitsreise das Boot überlassen. Erst aber werden wir nach New Milpitas fahren, so daß ich meine Frau aus Pryn machen kann. Denn genau dazu brauchte sie mich. Noe wird keine Gen-Veränderungen mehr durchzuführen brauchen. Er mußte mir versprechen, daß, wenn irgendeine neue Art geschaffen wird, Pryn und ich das tun werden. Pryns Gene wurden völlig neu aufgebaut, und auch meine. Und wenn es eine Frage der Fruchtbarkeit ist: Soweit es mich angeht, war dies noch nie ein Problem. Originaltitel: THE SELCHEY KIDS Copyright © 1968 by Galaxy Publishing Corp. Aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Übersetzt von Dolf Strasser
Ryu Mitsuse SONNENUNTERGANG 2217 A. D.
Diese Erzählung ist Teil eines utopischen Geschichtszyklus, der von Ryu Mitsuse entwickelt wurde und mit dem japanische Science-Fiction-Leser vertraut sind. Man sagt, daß Besucher von East Canal City mindestens ein Souvenir zu kaufen und mit nach Hause zu nehmen pflegten – eine bestimmte Fotografie – die zusammengedrängten Gebäude der Hafenstadt erheben sich aus der weiten Marswüste wie eine gen Himmel schwebende Armada, die Schornsteinreihe der atomaren Energiegewinnungsanlage im Vordergrund, der Beobachtungsturm auf der Stadthalle und das Gerüst für Raketenstarts beherrschen gemeinsam den unregelmäßigen Umriß der Stadt, über dem fernen Horizont schwebt eine große Voll-Erde, deren smaragdgrüne Oberfläche von einer blaugetönten Atmosphäre eingefaßt ist, deren Meere und Kontinente wie Schatten in der schweren Aura gebrochenen Lichtes treiben – Es war natürlich lächerlich und die Fälschung für jedermann auf den ersten Blick erkenntlich: vom Mars aus gesehen erschien die Erde nie so groß; die Einzelheiten ihrer Oberfläche zeigten sich nie so klar. Selbst in einer klaren Nacht, nachdem der Sandwind nachgelassen hat, ist die Erde vom Mars aus nur wie ein heller Stern zu sehen, nur leicht getönt in einem schwachen und wunderschönen Blau-Grün.
Eine vom Mond aus gemachte Aufnahme war mit der Stadtsilhouette von East Canal zusammenmontiert worden. Jedes Touristenzentrum stellt solche Bilder her, um sie Reisenden zu verkaufen, mehr oder weniger retuschiert und mit mancher Besonderheit oder zusätzlichen Schönheit versehen, die in Wirklichkeit nicht existierte. Die Erde, von East Canal City gesehen, war nur ein Beispiel dieser Art von offensichtlicher Täuschung, die man überall kennt – und die natürlich offiziell nirgendwo erlaubt ist; nur daß in diesem Fall sogar die Stadtbehörden selbst irgendwie dahinterstanden. Jedenfalls verkaufte es sich gut. Erde-vom-Mond oder Erde-vom-Mars – den Touristen machte das nichts aus. Für sie bedeutete gerade diese Aufnahme ein konkretes Festhalten ihrer tiefsten Eindrücke während ihrer Raumreise: ein Erinnerungsstück, mit dessen Hilfe sie ihren Freunden und Bekannten auf der Erde besser erklären konnten, was sie gesehen und empfunden hatten, als sie hier waren: Faszination der Raumfahrt, gepreßt auf ein Stück Papier, zwanzig Zentimeter lang und zwölf breit – Cr. 5 das Blatt.
Die geschlossenen Arkaden-Straßen von East Canal City sind durch tunnelförmige Verkehrskorridore mit den unterirdischen Einrichtungen des East Canal-Raumhafens verbunden. Shira-is Laden – ein paar Kunststofftafeln, die zusammengesteckt eine Art von Verkaufsstand ergaben – befand sich in einer Ecke des Durchgangs zur B-Sperre. Dutzende von verschiedenen Aufnahmen von der Erde, vom Mars und der Raumflotte waren ausgelegt; aber seit er sie vor Jahren eingeführt hatte, war Shira-is Montage East Canal City und Erde vom Mond aus gesehen weitaus am beliebtesten.
Es gab einen Grund dafür: Bilder von Erde und Mars und Raumschiffen wurden in anderen Läden ebenso verkauft, aber ein Raumfahrt-Souvenir wurde nur dann als eine Sache von wirklicher Bedeutung empfunden, wenn es bei Shira-i gekauft worden war. Sie alle hatten schon auf der Erde von dem Laden gehört. Auf dem Mars führte der erste Weg der Touristen zu ihm, und die Geschäftsleute tauchten auf, sobald sie ihr tägliches Pensum an Verhandlungen hinter sich hatten. Selbst heute noch kann man bei jeder Familie, die sich eines erfahrenen Raumfahrers rühmt, mindestens eine von Shira-is Souvenirkarten an der Wand entdecken. Woher sie auch immer kamen, alle Besucher erkannten Shirais Gestalt, und der erste verstohlene Blick löste bei allen die gleiche Reaktion aus: kurzes Schlucken, angehaltener Atem – verlangsamte Schritte – ein Augenblick des Zögerns – was jetzt Zurückgehen? – eine verschlossene Miene legt sich über das Gesicht – und dann kam fast immer der energische Entschluß und ein rascher Schritt nach vorn. Shira-i verstand es. Er schien einem Reisenden niemals direkt ins Gesicht zu sehen; das könnte die Leute nur daran hindern, ihn genau und unbefangen anzusehen. Der sorgfältig aufgesetzte Ausdruck des Mitgefühls wechselte meist unversehens in unkontrollierbare starre Blicke der Neugier. Shira-i ertrug still das Sperrfeuer der Blicke und Stimmen. – Also das ist es, was sie einen Cyborg nennen! – Hat aber wenig Ähnlichkeit mit einem Roboter, nicht? – Dieses Ding, das wie eine Antenne aussieht, ist das ein Ohr? – Wozu braucht er den Mund? – – Wie ich gehört habe, soll nur noch das Gehirn erhalten sein, alles andere ist künstlich – Auch Lunge und Herz? Leises Flüstern, aber Shira-i hört es.
– Warum nicht? Irgend so ein Apparat, der Sauerstoff erzeugt – eingebautes Kunstherz – Shira-i horcht nicht, aber er hört es und versteht den Schatten, der sie jetzt leicht frösteln läßt und ihre Stimmen verstummen läßt: eine namenlose Furcht, instinktives Zurückprallen, unbewußtes Begreifen einer unbekannten und unbegreifbaren Verlassenheit, die kalte Gleichgültigkeit der Gefahren, die im Irrgarten des Weltraums warten, die Machtlosigkeit des NurMenschlichen gegenüber dieser unendlichen Weite. Der Reisende senkt den Blick, stößt den angehaltenen Atem aus, während er sich mit einer gewissen Erleichterung an den weiten Graben erinnert, der ihn von diesem Zwischen-Ding trennt, das nicht Mensch und nicht Maschine ist. Letztlich nichts, vor dem man sich zu fürchten hätte: keine Gefahr für einen selbst oder die eigene Familie: keine schreckliche Seuche oder vererbbare Verkrüppelung: nur irrationale, die Eingeweide aufwühlende Furcht vor einer fremden Lebensform. Was kosten die Bilder? Shira-i hat auf diesen Augenblick gewartet, nennt seinen Preis. Hmmm – soooo – Indem er seine Verwirrung hinter theatralischen Gebärden zu verbergen sucht, greift der Kunde nach einem Bild, zeigt erst auf eines, dann auf ein anderes und zuletzt auf die Montage von East Canal und der großen Erde. Er braucht nicht mehr zu sagen, daß er kaufen will: nur, wieviele man ihm einwickeln soll. Die Touristenhände halten Kameras; Marsfilter schimmern im leichten Blaßrot der Augen von Sandeidechsen; Shira-i dreht seinen Körper langsam und wie zufällig herum, um den primitiven CO-Entlüftungsschlitz und den StoffwechselAustauscher sichtbar werden zu lassen, der aus seinem Rücken
ragt: sichtbare Verbindungsstücke zu Romantik und Abenteuer seiner Vergangenheit. All diese lästigen und schwerfälligen Vorrichtungen, die Shira-i in der Pionierphase der Raumfahrt während täglicher Gefahren und Todesfallen beschützt hatten, waren heutzutage überflüssig. Die kompakte Leistungsfähigkeit, die in die Körper der neuesten Cyborg-Modelle für Raumexpeditionen gepackt war, ging über Shira-is Vorstellungskraft hinaus. Neue Entwicklungen in der Plast-Chirurgie haben zu Cyborgs geführt, die auf den ersten Blick nicht von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden sind: da gab es keine äußerlich sichtbaren künstlichen Lungen oder Ohren mehr. Aber es gab immer zu wenig neue Weltraum-Cyborgs; und in jedem Fall konnte und wollte das Raum-Ministerium die etwas älteren Modelle nicht nur für die Touristen in East Canal City auf dem Mars behalten. Daher – – Ich frage mich, wie sein Gesicht vorher ausgesehen hat – Wie alt, schätzen Sie? – Kann mir kaum vorstellen, daß er jemals wieder zu seinem eigenen Körper kommen kann – Die Haut ist zu glatt und glänzend, könnte einem wirklich Angst machen – Für Shira-i war das alles nur Geschwätz: ferne Echos von Worten, die auf fernen Welten gesprochen wurden. Es war schon zu lange her, daß sein Denken einmal ähnlich dem ihren gewesen war. Der letzte Kunde war gegangen. Der flammende Raketenstrahl eines Pendelschiffs, das zur Landung abbremste, färbte den Nachthimmel mit einem lieblichen Violett. Shira-i zählte stumm seine täglichen Einnahmen zusammen. Cr. 2000 eingenommen; davon gehen Cr. 800 an die Zivile Wohlfahrtsgesellschaft, Cr. 400 an die Druckerei und weitere Cr. 200 für verschiedene Gemeindegebühren an die Stadt. Der Rest war Shira-is Tageslohn – ein hervorragendes Einkommen,
wenn man bedachte, daß die Stadt aus öffentlichen Mitteln für all seine Grundbedürfnisse aufkam. Shira-i legte die übrigen Bilder zusammen und knüpfte ein schmales Band um sie, öffnete seinen Magen – eine erschreckende Höhle, die als Notbehälter für die RingerLösung gedacht war – und verstaute die Sachen darin. Dann nahm er seine Füße ab und befestigte sich selbst in seinem Transportfahrzeug – einem der standardisierten, im Auftrag der Regierung hergestellten Hovercars, den er selbst dahingehend verändert hatte, daß sich das Steuerungssystem des Wagens direkt mit seinen Nerven verbinden ließ, die sonst mit seinen Füßen verbunden waren. Dank dieser Zauberei konnte er sich mühelos durch die engsten und überfülltesten Straßen bewegen. Ein Gefühl der Völle, das Gewicht des Pakets in seinem Magen, rührte an alte Erinnerungen, die besser vergessen blieben – – wrrroooaaammmph! Ein heftiges Erbeben griff auf den Korridor über; die weiße Wandbeleuchtung begann zu flackern, als würde sie jeden Augenblick aussetzen; ein Geräusch, als bräche irgendwo etwas zusammen. Shira-i hielt an und horchte für ein paar Minuten: nichts Ungewöhnliches mehr. Vorsichtig setzte er sich wieder in Bewegung. UNTERKÜNFTE FÜR BÜRGER AUF ZEIT Sperrgebiet: Kein Zutritt für Nicht-Einwohner Der Pfeil blinkte mit seinen grell orangefarbenen Großbuchstaben. Shira-i bog nach links in den Hauptkorridor der Cyborg-Sektion ab, und rotes Licht strahlte in seine Augen: das klare Rubinlaser-Auge eines Polizeifahrzeugs. Shira-i
steuerte an den rechten Rand; der Hover-Streifenwagen schwebte im leisen Leerlauf heran. »Hallo! Shira-i! Haben Sie jemand hier entlang laufen sehen?« »Jemand laufen sehen?« »M-hm. Terroristen wieder mal. Jemand hat eine Bombe auf eine Busladung irdischer Touristen geschmissen.« Die Augen unter dem Schirm der Uniformmütze sagten ganz klar: sofort schießen und tödlich treffen! Die Stimme des Mannes fuhr fort: »Das ist das dritte Mal in dieser Woche! Das gibt der Sache den Rest – sogar die Leute von der Zivilen Wohlfahrt finden keine Rechtfertigung mehr für ihre liberale Politik! Das ist kein Spiel mehr. Wir wissen, daß eure Leute so ihre Probleme haben – aber sie müssen einfach lernen, mit ihnen zu leben.« »Wenn ich etwas erfahre, werde ich es berichten.« »Tun Sie das bitte. Diesmal haben achtzehn Leute dran glauben müssen – auch Frauen und Kinder. Die Stadt wird jetzt wirklich härtere Kontrollen durchführen müssen – das hoffen wir jedenfalls!« »Also ja, ich werde jetzt nach Hause fahren. Wiedersehn.« Der Polizeischweber entfernte sich um die nächste Ecke; das Pfeifen des dicken Luftkissens wurde allmählich leiser. Shira-i startete seinen eigenen Wagen erneut, steuerte einen breiten Korridor hinunter, der wie ein großer Fluß in silbrigem Weiß schimmerte, was von den schweren Silikon-Wandplatten herrührte. Auf Verlangen des Raum-Ministeriums hielt die Verwaltung von East Canal diesen Teil der Stadt für Cyborgs reserviert: »menschliche Bürger« hielten sich hier gewöhnlich nicht auf. Shira-i folgte den Pfeilmarkierungen nach 623-J. Zu Hause: ein quadratischer Raum, von den Wänden her in weichem Grün indirekt beleuchtet, fast ein Drittel der Fläche
nahm eine große Metallwanne ein, die mit einer Flüssigkeit gefüllt war, die ihm wie eine Verkörperung von Heimat-undFamilie erschien. Müde entledigte sich Shira-i des Gewichts aller Zubehörteile und ließ sich in die schwere Ringer-Lösung des Ruhetanks sinken. Reihen von kleinen Luftblasen strömten von seiner bläulich-kupfernen, silikonseidenen Haut empor, aber Shira-is Gesicht in der Luftblase verdüsterte sich. – Sie haben das Bad nicht erneuert – wieder nicht! – Und es ist zu kalt! – Die Zivile Wohlfahrt scheint zu glauben, daß wir ihnen schon Ärger genug machen und sie sich nicht mehr um uns zu kümmern brauchen – Shira-i wußte gut genug, daß das Austauschsystem für die Lösung voll automatisiert war, die Temperaturkontrollen ebenso – ein wartungsfreies System, das keiner Berührung mit menschlichen Händen bedurfte. Die Sache mußte also vom Kontrollzentrum ausgehen – die Überwachungscomputer der Zivilen Wohlfahrt waren manipuliert worden. – Die wollen wieder Ärger machen? – Noch so eine Rücksichtslosigkeit – Aber die Erregung schwand mit den Luftblasen von seiner Haut; obwohl abgestanden, schmutzig und nicht erneuert, drang die Ringer-Lösung dennoch ein und löste allmählich die Ablagerungen in seiner Haut. Nach einer gewissen Zeit wich jeder Ausdruck aus seinem Gesicht; stille Zufriedenheit legte sich über sein ruheloses Bewußtsein; eine angenehme Schwere und Müdigkeit erfüllte den großen runden Kopf am tiefen Ende des Behälters; und wenn das Gesicht dennoch einen Eindruck von Traurigkeit zu erwecken vermochte, so konnte diese Illusion nur durch die hochsprudelnden Blasen der entfliehenden Luft hervorgerufen sein.
Die Sterilisationslampe begann von selbst zu brennen; ein leuchtender Ring von blassem Violett hing schweigend über ihm.
Nacht in East Canal: In dieser Nacht ist Todesstille in den Unterkünften für Bürger auf Zeit, in denen die Cyborgs »schlafen«. Eine Spur frischer Nachtluft bewegt sich lautlos in einer Ecke hinter schweren Wänden: schwebende Verlockung zu nicht-ganz-formlosen Nicht-Träumen in Shira-is NichtSchlaf: Cyborgs träumen nicht – – hoch, höher und noch höher über die Oberfläche – der schwarze Hintergrund der Nacht beladen mit Sternenabfall – hundert Milliarden winziger Lichter, unverändert, immer unverändert – Ewigkeit? – ein Punkt in all dem Sternenstaub vielleicht die Erde – aber die Reisenden wollen nicht die Erde – nur das Bild von der großen Erde, wie die Erde nicht ist – Shi-i-ra-a-i-i-i – – Shi-ra-i-i-i? – – zuerst nicht mehr als das fließende Bild eines fremdartigen Musters, zuckende Wellen, zuletzt ferne Energien, fast zu schwach, um ihn zu erreichen – – Shi-ra-i-i-i? – – entferntes Flüstern dringt in den unruhigen Schlaf, bekommt Bedeutung, wird fast eine Stimme – – Shi-ra-i-i-i? – Noch immer in trägem Fast-Schlaf, fragt Shira-i: Wer? – ruft meinen Namen? – Ferne Echos: Captain Shira-i! Wach auf, bitte! – habe so oft versucht – Botschaft – hör zu, bitte. Shira-i konzentriert seine Gedanken in einer lautlosen Antwort auf die seltsamen Aufforderungen: Was willst, du von mir? – Sag es mir bitte – ich höre.
Captain Shira-i, erinnerst du dich an mich? Wir haben zusammen gearbeitet – du hast mich Choro genannt. Choro? Welcher Choro? Wo? Ich fürchte, du hast es vergessen – Jupiter, Schwebestadt 81 – wir waren beide bei den Konstruktionsarbeiten dabei – Das stimmt – Choro – natürlich! – da war ein Mann namens Choro – ein guter Raumingenieur – und wie geht es Choro jetzt? Ich hatte gehofft, daß du dich doch noch erinnerst, Captain. Wir haben jede Möglichkeit versucht, um zu dir durchzukommen, seit wir wissen, daß du in East Canal lebst – Weshalb das? Captain Shira-i: Wie stehst du zu unserer Diskrimination durch die sogenannten normalen Menschen? Ach, darum geht es wieder – Shira-i zögert einen Augenblick; es ist eine merkwürdige Sache, so starke Eindrücke von so weit weg derart intensiv zu empfinden – Diskriminierung? Ich selber kenne keine solchen Fälle – vermutlich passiert es aber doch – aber ich habe nichts mit so etwas zu tun. East Canal City scheint mir in diesen Tagen ein guter Platz zum Leben zu sein – Diese Worte steigen aus Schlaf-Tiefen in Shira-is Bewußtsein. Ob sie wahr sind oder nicht, dessen ist er selbst nicht sicher: er muß sie ganz einfach aussprechen. Captain Shira-i! Das ist ganz anders – hör zu! – Shira-i ist hellwach. – aaah! Das war ein Traum!? – Wach: Shira-i starrt durch schwache blaue, konzentrische Muster nach draußen und sieht einen Ring von Gesichtern, die in wellenförmigen Kreisen in das Lösungsbad einzudringen schienen. Aus einem glatten runden Kopf, der wie ein Rugby-Ball aussieht, beobachtet ihn ein unbewegliches Fischauge.
Wieso die Normalen dafür verantwortlich machen, daß sie uns aus dem Weg gehen? Die kriegen Angst, wenn sie uns nur ansehen – Daran gewöhnen wir uns ja, aber – »Alles in Ordnung, Captain Shira-i? Es schien dir nicht gut zu gehen – fast wie ein Alptraum – « Shira-i wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen und dachte stumm über die Worte nach, die er hörte. »Das Alarmsignal hat nicht aufgehört, daher haben wir die Tür aufge…« Es waren alles Nachbarn aus den angrenzenden Räumen. »Bürger auf Zeit«, die in diesen abgesonderten Stadtteil eingewiesen worden waren, pflegten ihre besondere Achtung für Shira-i zu zeigen, indem sie ihm alle Arten von kleinen Diensten erwiesen; und wenn die Notstromkreise seines Ruhetanks auch nur die geringste Abweichung von der Norm zeigten, dann strömten die Anwohner aus der ganzen Umgebung herbei. Shira-i lächelte: »Danke. Es geht mir jetzt wieder ganz gut.« »Kein technisches Versagen irgendwo…?« »Ich bin nur etwas übermüdet, glaube ich«, antwortete er vom Ende seines Behälters. »Das war wohl alles.« Technisches Versagen war etwas, was sie alle fürchteten. Jeder von ihnen hatte irgendwann einmal verspüren müssen, wie sich die Stoffwechselvorgänge verlangsamten; je schmutziger die Ringer-Lösung war, desto schlechter arbeitete der Stoffwechsel-Regulator. Und es gab keine Hilfe, wenn sie sich nicht selbst halfen. »Es ist jetzt wirklich alles in Ordnung.« Shira-i zwang sich, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. »Ihr solltet euch wieder zur Ruhe begeben.« Was er während seines Traums erlebt hatte, das konnte er ihnen jetzt nicht berichten. Sie zogen sich schrittweise zurück, sahen sich gegenseitig an, nickten zustimmend und versammelten sich noch einmal um
seinen Ruhebehälter. Einer lehnte sich über den Tank nach vorn; D-98 prangte in Leuchtbuchstaben auf seiner Stirn. »Captain Shira-i: Wenn du jetzt wach bist – ich möchte gern etwas mit dir besprechen.« »Hm? Was denn?« D bezeichnete die in Luna City eingesetzte Cyborg-Serie, 98 bedeutete Verkehrskontrolle; was hatte er hier zu suchen? »Eben war ein etwas altertümlicher Cyborg namens Choro hier – « »Was? Choro?« »So nannte er sich selbst – er soll Anführer der Cyborgs auf Jupiter sein – hast du davon gehört? Nach dem, was er sagt, ist Captain Shira-i dort draußen ein bekannter Name – « »Und was wollte dieser Choro hier?« »Captain Shira-i, er sagt, daß seine Gruppe eines der großen Raumschiffe übernommen hat, und daß sie damit all die in verschiedenen Städten verstreuten Cyborgs zusammenholen wollen, um eine eigene neue Stadt an der Grenze des bekannten Raums zu bauen – « » – eine Stadt an der Grenze des bekannten Raums – « »Captain Shira-i: Cyborgs haben im Raum mehr an Ausdauer und Geschicklichkeit bewiesen als die Normalen – aber wir alle leben unser ganzes Leben unter ihren Befehlen und ihrem »Schutz«! Ich sehe keinen Grund, warum wir ihre Sklaven sein sollten – vielleicht unseres Aussehens wegen? Wir werden dort draußen unsere eigene Stadt errichten und uns eine Zukunft bauen, in der all die schönen Dinge der Vergangenheit wieder aufleben werden! Und warum nicht?« »Hat Choro euch das gesagt?« »Captain Shira-i – das haben wir doch alle schon immer gedacht, oder nicht?« – ja – natürlich – Choro rührt da plötzlich an etwas – insgeheim fühlen wir alle dasselbe, wo wir auch immer sind –
»Dieses Raumschiff – ihr wißt doch, daß wir nach den Gesetzen von East Canal kein Raumschiff besitzen dürfen?« »Natürlich, wir dürfen nicht! Captain Shira-i, diese Art von Gesetz ist genau das, was eine so scharfe Grenze zwischen den Normalen und uns Cyborgs zieht! Jetzt ist die Zeit gekommen, uns von den Gesetzen der Normalen zu befreien – « Die letzte Spur eines Lächelns war von Shira-is Gesicht verschwunden. »Dann habt ihr euch also alle dieser Verschwörung Choros angeschlossen?« »So könnte man das sagen, schätze ich. Nur – wir wollen, daß Captain Shira-i mit uns ist. Wir haben lange darüber geredet – « Sie alle nickten. Shira-i atmete heftig aus und ließ eine große Luftblase aus seinem Ohrschlitz entkommen. Einen Augenblick später öffnete er seinen Mund und sagte: »Ich werde hier bleiben. Ich kann nicht mehr ohne einen Behälter wie diesen auskommen, in dem ich meine Ruhe finden kann. Nach all den Jahren wäre ich dort draußen nur noch ein Krüppel – und ein Problem für euch alle. Aber ihr sollt gehen: Choro ist ein guter Anführer. Vielleicht wird es dann eines Tages auch soweit sein, daß die Normalen unsere Vorstellungen anerkennen. Geht. Geht zurück in den Weltraum, um dort zu leben und zu arbeiten.« D-98 näherte sich Shira-i so weit, daß sein Gesicht fast die blaue Oberfläche der Behälterflüssigkeit erreichte. »Captain, wir bitten dich, komm mit uns! Wenn du hierbleibst, wird es kein morgen für dich geben. Captain Shira-i: Nach den Informationen, die heute hereinkamen, sieht es so aus, als ob es auf der Erde bald Krieg geben würde.« »Krieg? Weswegen?« »Worauf alle gewartet haben: der sogenannte Vereinigungskrieg – eine totale Konfrontation zwischen der Asiatischen Allianz und der Pan-Amerikanischen Union.« »Das ist ja lächerlich – «
»Von hier sieht das so aus; für sie ist die Kontrolle des amerikanischen Kontinents offenbar wert, darum zu kämpfen. Es geht ihnen jetzt um alles – gewinnen oder verlieren.« »Ist das nicht vielleicht nur eure eigene Interpretation der Dinge –?« »Captain Shira-i: Wenn der Krieg ausbricht, wird wahrscheinlich auch der Mars zum Schlachtfeld werden. Wir haben schon von Unruhen in Luna City gehört – « »Jetzt reicht es aber. Laßt mich schlafen. Auch wenn ich wieder Alpträume haben sollte, ist das kein Grund, mich zu wecken.« Shira-i legte sich wieder in der kalten Tiefe des Tanks zur Ruhe. Krieg – Panik – Exodus – Grenze des Raums – das war alles weit entfernt; für Shira-i waren das keine realen Dinge. Aus irgendeinem Grunde war er unerträglich müde; eine Stelle in seinem Schädel pochte, als ob sie bersten wollte. Eine Zukunft, in der all die schönen Dinge der Vergangenheit wieder aufleben werden – gute Worte – vergiß diese Worte bitte nicht, murmelte Shira-i zu sich selbst. Aber für ihn waren all diese schönen Dinge der Vergangenheit – und was die Zukunft daraus machen konnte – in einem Behälter voll kühler Ringer-Lösung enthalten. Am nächsten Tag kam nicht ein einziger Reisender in seinen Laden, aus welchen Gründen auch immer. Ein dünner Überzug aus feinem Sandstaub legte sich über die Bilder; Shira-i wischte ihn immer wieder ab, er tat nichts anderes: so verbrachte er diesen Tag. Der Sandsturm kommt jeden Tag vor Sonnenuntergang über East Canal und zeichnet tausend Linien in die endlosen Sandebenen. Eine riesige Windhose roten Sandes entsteht, einer gigantischen Schnecke gleich, bis die Dämmerung die Sicht nimmt. Sand dringt durch die vielen Luftschleusen, schwebt wie dünner Rauch durch die Filter der
Luftaustauscher, bläst die Korridore entlang und formt hügelige Muster auf dem weiten Platz vor der Stadthalle. Shira-i hatte nicht ein einziges Bild verkauft, als er die Drucke wieder bündelte und die Kunststoffplatten seines Verkaufsstands wegstapelte. Das ferne Echo einer Sirene kam auf – hoch und tief, immer wieder unterbrochen – das war nicht nur eine Sirene, verschiedene Hörner in verschiedenen Modulationen und Tonhöhen gaben seltsame Dissonanzen von sich: Und die Leute rannten alle in die gleiche Richtung. – ein Unfall irgendwo? – Aus seinem Schwebefahrzeug heraus horchte Shira-i auf die wirren Schreie der Menge. Ein Polizeischweber bog auf ihn zu, verlangsamte seine Geschwindigkeit und hielt fast lautlos neben ihm. »Hallo, Captain – Ihre Nachbarn haben gemeutert! Beim Raumhafen sind schwere Kämpfe im Gange!« – Raumhafen! Warum beim Raumhafen, was haben sie nur vor? – »Sie haben versucht, ein Patrouillenschiff des RaumMinisteriums in die Hand zu bekommen. Sie haben jetzt auch Kontrolle über das Schiff, aber sie können nicht starten. Wenn wir sie nicht vernichten können, bevor sie abheben, wird es später noch mehr Ärger geben.« »Haben versucht, ein Patrouillenschiff zu übernehmen! Ein großes Schiff übernehmen – das ist genau das, was er sagte!« »Captain: Wußten Sie schon vorher von dieser Verschwörung?« Die Augen des Polizeioffiziers starrten erregt durch die durchsichtige Schutzscheibe. »Mein alter Freund – er wird Choro genannt – muß sie dazu gebracht haben.« »Er ist also der Anführer?«
»Es gibt eigentlich keinen besonderen Grund, ihn als das zu sehen – bei den bestehenden Verhältnissen ist es doch wohl kaum erstaunlich, wenn solche Dinge passieren.« Der Offizier antwortete mit einem dünnen und gezwungenen Lächeln. »Captain, lassen Sie sich bitte nicht mit in diese absurde Revolte hineinziehen. Wenn Sie sich der ganzen Sache anschließen, gibt es kein Zurück mehr.« Das war nur ein Nadelstich – aber Shira-i kannte die messerscharfe Schneide, die dieses Lächeln enthielt. Die Stadtbehörden sahen in ihm ganz offensichtlich nicht nur den Souvenirverkäufer; seine Reputation mochte vielleicht gerade so viel Gewicht haben, um einem kleinen Putschversuch zum Erfolg zu verhelfen. Er wußte, daß er daher ab jetzt unter scharfer Überwachung stehen würde. Shira-i erwiderte das unverbindlich-freundliche Lächeln des Polizisten. Der Hovercar entfernte sich langsam durch den Korridor. Das dumpfe Echo einer Explosion kam aus derselben Richtung. Shira-i hielt an und lauschte; dem ersten Ausbruch folgten in kurzen Abständen schwächere Explosionsgeräusche. Er setzte seinen Schweber erneut in Bewegung: den gewundenen^ Korridor in Richtung Raumhafen entlang, diesmal mit voller Geschwindigkeit. Nahe dem Raumhafen waren in den Korridoren zunehmende Anzeichen allgemeiner Panik auszumachen: Ansammlungen von Leuten, die von allen angrenzenden Wohn- und Arbeitsquartieren kamen, angestrengt auf die entfernten Geräusche horchten, mit verängstigten Gesichtern, leise gewordenen Stimmen, miteinander flüsternd – – Sieht so aus, als ob die Cyborgs gemeutert hätten. Wußte ja schon immer, daß das früher oder später passieren mußte – – Und was hat die Polizei schon dagegen unternommen? –
– Wenn der Raumhafen besetzt ist, was wird dann aus unserer Verbindung zur Erde? – Die Polizei wird doch machtlos sein, wenn keine Verstärkungen von der Erde landen können, oder? – Die Hauptsorge der meisten schien die Besetzung des Raumhafens zu sein: die Angst, verlorene Kinder des Weltraums zu werden. Für Kolonisten auf anderen Welten ist der Raumhafen tatsächlich das einzige Tor, das eine Verbindung zur Erde bedeutet. In diesem Sinn konnte man sagen, daß der Kampf beim Raumhafen schon seine Wirkungen zeigte. Shira-i bewegte sich durch die Luftschleuse nach draußen und raste die gewundene Rampe hinauf, die zum Startfeld führte.
Auf der weiten Fläche des Raumhafens webt der Sandwind noch immer an seinen vielfältigen Mustern von Sandverwehungen. Über dem Sandstaub erhebt sich das gewaltige Patrouillenschiff, dessen weiß-silbriger Körper die letzten Strahlen des rot-violetten Lichtes auffängt. Im weiten Schattenriß seiner drei großen Raketenröhren hängen nutzlos die Lichtspeicher-Membranen der Sonnenbatterien. Polizei-Hovercars warten in angemessener Entfernung rund um das Raumschiff: kleine silberne Scheiben, die gegen das hochaufragende Schiff wie hilflose Insekten wirken. Von Zeit zu Zeit fließt eine orange-gelbe Flamme von der Spitze einer silbernen Scheibe, zieht sich in einer Parabel schwindenden Energieflusses über das Feld, schlägt zuletzt gegen die glänzende Außenwandung des großen Schiffs. Feuerblumen blühen und vergehen – ein zitternder Widerschein verhält noch für einen Augenblick –, dann legt sich wieder abendliche Ruhe über das Feld.
Von Zeit zu Zeit öffnet sich so etwas wie eine Geschützöffnung in der Seite des Patrouillenkreuzers; eine lange weiße Flamme fließt heraus. Selbst mit dem bloßen Auge kann man den länglichen Umriß wahrnehmen, der mit der Flamme herausgeschleudert wird und wie ein schwarzer Schatten über den kobaltblauen Himmel kriecht. Eine Wolke braunen Sandstaubs erhebt sich, wo er auf den Boden trifft. »Gebt diesen sinnlosen Widerstand auf!« Ein Lautsprecher dröhnt gegen das Raumschiff: »Wie lange ihr auch aushaltet, ihr werdet doch nicht abheben können! Der Startmechanismus eures Kurskontrollsystems ist vom Kontrollturm aus unterbrochen worden. Wenn ihr weitermacht, werdet ihr in eurem Schiff an Hunger und Durst sterben müssen. Entscheidet euch!« Natürlich ist das Schiff mit einem Wasseraufbereitungssystem ausgestattet und verfügt über Nahrungsvorräte für mehrere Monate. Es ist auch wahr, daß die Zuleitung für Antriebsenergie unterbrochen ist; aber solange das Schiff auf dem Startfeld steht, kann nichts anderes starten oder landen. »Hört zu! Die Stadtregierung beschäftigt sich mit euren Problemen; das wißt ihr doch ganz genau!? Wenn ihr Forderungen habt, warum nennt ihr sie nicht? Es gibt keinen Grund zur Meuterei! Stellt eure Forderungen direkt – « Erneut wird eine Rakete aus der breiten Wandung des Raumschiffs ausgespien; sie nimmt direkten Kurs auf den vermuteten Ursprung der Stimme. Sandstaub wirbelt hoch und immer höher – aber die Stimme fährt fort: »Gebt diesen sinnlosen Widerstand auf! Für euch sprechen hoch immer eure früheren Leistungen. Vernichtet euch nicht selbst auf diese Art – « Es stimmte durchaus, was die Lautsprecherstimme sagte: Die Stadt tat sicherlich nichts, um den Cyborgs Schaden
zuzufügen, zollte ihnen vielmehr Bewunderung und Respekt für das, was sie in den frühen Tagen der Raumfahrt geleistet hatten, und versorgte sie ausreichend – vielleicht sogar mehr als das – mit Einrichtungen und Versorgungsgütern für all ihre Bedürfnisse. Tatsache war, daß es keinen Grund für Massenflucht, Meuterei oder die Besetzung eines Raumschiffs gab – also ist alles, was sie sagen, wahr – und reicht trotzdem nicht aus – niemand kann mit dieser Art von Wahrheit zufrieden sein – Shira-i steht wie eine große steinerne Statue und schaut über das Feld: rote Wüste und blaßblaues Zwielicht; und zuletzt die schneidende Eiseskälte des Abends. Das Raumschiff ragt wie ein Monument empor; die in den Sand geduckten Hovercars der Polizei umgeben es in angemessener Entfernung. Ein eingerahmtes Bild. Selbst die Raketen sind unwirklich; Funken tanzen im Sandstaub, Feuerblumen gehen auf, das Flirren erhitzter Luft: Nichts läßt auch nur einen Kratzer in der Schiffshülle zurück. Der hochgeworfene Sand fällt mit einem trockenen raschelnden Geräusch wieder zurück. Nicht Tod und Haß: nur ein schönes und eingerahmtes Bild. Dazu paßt es, wie in der stillen Dämmerung alle Bewegung aufhört: eine perfekte Fotografie. Shira-i bewegt sich langsam wieder die Rampe hinunter; fährt denselben Weg zurück, den er kam.
Am nächsten Morgen und während des ganzen Tages kamen die Kunden scharenweise zu Shira-is Laden. Einige sagten ihm, daß sich die Lage auf dem Raumhafen noch nicht geändert hatte: Der Widerstand der Cyborgs hielt an: Weil Landungen und Starts von programmäßigen Flügen praktisch verhindert wurden, war am nördlichen Ende des Raumhafens
eine provisorische Betonlandefläche errichtet worden: Noch immer hielt der sporadische Feueraustausch an: Das reguläre Landefeld war offiziell für fast jedermann geschlossen worden. Shira-i gelang es, an absolut nichts zu denken. Wenn er einmal anfing sich Gedanken zu machen, würden sie nicht wieder aufhören: Zu viele widerstreitende Gefühle bewegten ihn: Zu viele Ideen warteten darauf, geboren zu werden. Shirai verbrachte den Tag, indem er die vor sich ausgelegten Bilder anstarrte und den Erwartungen der Reisenden entsprach: stehen, sitzen, sich drehen. Gleichförmig verlief der Tag. Es passierte nicht viel: Touristen wie immer: genug, um Feierabend zu machen. In der Dämmerung stand Shira-i wieder auf der hochgewundenen Rampe und überblickte den Raumhafen. Das Bild hatte sich seit gestern nicht geändert – er hatte lediglich das Gefühl› daß sich der Kreis der Polizeifahrzeuge um das Raumschiff etwas verengt hatte. Gelegentlich erinnerte sich eine der kleinen Käfer-Scheiben daran, einen orangefarbenen Bogen von Feuer von sich zu geben; aber aus unbekannten Gründen verharrte das Raumschiff in eisernem Schweigen. Das schwache blaue Dämmerlicht warf blasse Streifen von Helligkeit und blasse Schatten; den längsten Schatten gab das Geländer entlang der Rampe. »He, Captain Shira-i: Was tun wir jetzt? Diese Leute werden allmählich etwas ungehalten. Sie könnten sie doch überreden. Bitte, sie werden tun, was Sie Ihnen sagen – oder etwa nicht?« Die schwere Stimme kam plötzlich von hinten. Er brauchte sich nicht umzudrehen; er kannte diese Stimme. »Polizeipräsident! Daß Sie sich die Mühe gemacht haben, selbst hierher zu kommen!« Shira-i sah zum Raumschiff hinüber, während er sprach. »Wäre es nicht besser, sie einfach fliehen zu lassen?«
»Das würde ich tun, wenn ich nur könnte, Captain. Für meinen Teil wäre ich sogar sehr froh, wenn sie irgendwo anders hingehen wollten. East Canal City ist schon zu sehr einer Stadt der Erde ähnlich geworden, um für sie noch ein angenehmer Platz zum Leben zu sein. Ein Cyborg ist hier nur noch ein verkrüppeltes Objekt des Mitgefühls.« Die Worte hallten in Shira-i wider und verschafften ihm eine seltsame Genugtuung voll Bitterkeit – aber die Zeit der Selbstbestätigungen und der halbausgesprochenen Gefühle war längst vorbei. »Die Differenzen zwischen normalen Menschen und Cyborgs können an diesem Punkt nicht mehr mit Logik oder Mitgefühl gelöst werden«, gab er zurück. »Ich glaube, daß es danach noch schlimmer wird. Im Grunde sind wir zwei völlig verschiedene Arten von Lebewesen.« Die Cyborgs hatten ihre »Normalität« geopfert und dafür größere Ausdauer und bessere Anpassungsfähigkeit im Raum gewonnen. Die menschliche Gesellschaft war für die Cyborgs bedeutungslos geworden, und die Cyborgs konnten nicht mehr in die menschliche Gesellschaft integriert werden: diese beiden Tatsachen zusammengenommen, ergaben eine unvorstellbare Tragödie. Auf jeden Fall gab es für die Cyborgs, die jetzt da draußen waren, keine Möglichkeit mehr, in die Stadt zurückzukehren und ihre alten Positionen wieder einzunehmen. »Wie steht es damit? Werden Sie – bitte – versuchen, sie zu überreden?« »Ich kann nicht. Was immer jetzt passiert, es mußte so kommen.« »Es einfach geschehen lassen?« Der Polizeichef summte leise vor sich hin, seine Augen suchten den fernen Horizont ab; ein menschlicher Körper in den mittleren Jahren, eingewickelt in einen Raumanzug: schon zu viele Jahre in den Sandebenen des Mars, um jetzt die Fassung zu verlieren; tiefe Einsamkeit und
Melancholie in seinen Augen: scharfe Falten in den Augenwinkeln. »Also dann, ich glaube, ich gehe jetzt besser. Es einfach geschehen zu lassen? In Ordnung dann – lassen wir es eben geschehen – « Winzige, feine Sandkörner überzogen seine breiten Schultern mit einem schwachen Streifenmuster. Anzunehmen, daß er sich jetzt einen Drink genehmigt. Er ging mit wiegendem Gang die Rampe hinunter. Vielleicht hatte er es schon geschafft, das Raumschiff aus seinen Gedanken zu verdrängen – und das Problem mit den Cyborgs, die es gestohlen hatten. Shira-i hoffte es. Spät am nächsten Nachmittag wurde bekannt, daß das angekündigte Passagierschiff von Luna City auf dem Notlandefeld niedergegangen war. Alles ging seinen normalen Gang: Shira-i wartete in seinem geöffneten Laden auf das Auftauchen des Touristenbusses, der am frühen Abend durch die B-Sperre kommen mußte. Ein Kunststoff-Leuchtkörper erhellte den Korridor wie ein großes Juwel. Die Sperre öffnete sich, ein Passagier nach dem anderen drängte auf die Straße hinaus. – Oh! Das ist – das ist Captain Shira-i – nicht wahr? Das kann kein Mensch sein – – Männlich oder weiblich? Sieht eigentlich mehr wie ein Seepriester aus!? – Dieses Auge! Wie das Glas eines Belichtungsmessers – Jeder Mund hatte einen anderen Vergleich bereit: Tatsachen beschwörten Bilder herauf, die Bilder Worte: Bedeutungen wurden in Wort-Bildern ausgedrückt, deren Bedeutung nur in ihnen selbst lag. Shira-i lächelte leise in sich hinein, fast glücklich, ohne irgendeinen Grund. Die Reisenden tuschelten miteinander. Ohne daß er lauschte, drangen tausend Geflüsterfetzen in seine
Ohren, die ihm irgendwie als Worte der Liebe erschienen und sein Herz bis zum Bersten erfüllten: Ein halbtrauriges Lächeln legte sich über sein Gesicht, während er hörte, wie sie unschuldigen Kindern gleich mit lautem Rufen und Schreien gegen Windmühlen ankämpften. »Bitte, würde es Ihnen etwas ausmachen, sich mit mir zusammen aufnehmen zu lassen?« Die Worte wiederholten sich unaufhörlich in Shira-is Ohren; schlagartig kam er wieder zu sich. »Bitte, würden Sie sich vielleicht mit mir aufnehmen lassen?« Ein weißhaariger alter Mann zeigte auf sich selbst und – mit einem entschuldigenden Lächeln – auf Shira-i. Shira-i trat heraus und stellte sich vor die Wand; der alte Mann neben ihm reichte ihm kaum bis zur Schulter. Die Kamera trat summend in Aktion. Die Suchautomatik im Stativ suchte nach einer geeigneten Einstellung, Schien noch unentschieden zu sein. Der alte Mann rückte näher an den Cyborg; seine Schultern kamen in Shira-is Sichtwinkel. Ein oder zwei weiße Haare lagen auf dem grauen Naturfasergewebe seines Umhangs in irdischem Zuschnitt, daneben prangten schmutzig-weiße Haarschuppen. Von seinem Körper ging ein schwacher, leicht säuerlicher Duft aus, wie er älteren Leuten eigen ist. In Shira-i erwachten Erinnerungen an etwas, das weit entfernt war und lange zurücklag. Mut? Kaum. Erfahrung? Nicht einmal das. Glaube? Vertrauen? Zuverlässigkeit? Nichts dergleichen. Zuneigung? Nein. Nichts von alledem: Das hatte sich im menschlichen Bewußtsein schon lange verbraucht: nur eine Art undefinierbaren Heimwehs nach etwas Verlorenem, das vielleicht weit entfernt war und lange zurücklag.
Shira-i hörte das Klicken des Auslösers kaum. Die Touristen sammelten sich wieder am Einstieg ihres Schwebebusses, und der alte Mann befand sich zweifellos irgendwo in dieser Menge. Shira-i sah mit einer merkwürdigen Losgelöstheit zu, wie sie wieder in ihr Fahrzeug zurückdrängten. Er schloß den Laden, legte seine restlichen Bilder zusammen und verstaute sie in seinem Magenbehälter, setzte sich in sein Fahrzeug und schwebte durch den Korridor davon. Der wichtigste Teil der Instrumente und Kontrollvorrichtungen des East Canal-Raumhafens befindet sich in einer Anlage, die halb in den Sand eingegraben ist. Ein ebener Weg führt zwischen leuchtenden Wandplatten durch diesen unterirdischen Irrgarten zu einer fernen Ecke des Hafens, wo hochaufragende Barrieren das Kontrollzentrum vor eindringenden Sandwinden schützen. Die große Parabolantenne welkte im Glanz des abendblauen Sonnenlichts dahin und antwortete singend dem heftigen Sandwind. Shira-i passierte das unterirdische Tor zum Kontrollturm; kein Mensch auf der Treppe; im Lift verwehte Haufen trockenen Sandes, unberührt. ZUTRITT NUR FÜR KONTROLLBEAMTE Das rote Leuchtschild schimmerte fast wie ein Regenbogen. Shira-i stieß eine schwere Metalltür auf. »Ah, Captain Shira-i! Was machen Sie denn hier?« Der junge Mann am Kontrollpult sprang auf, offensichtlich überrascht; niemand außer der Kontrollmannschaft durfte diesen Raum betreten. Aber Befehle hin, Befehle her, wie konnte er Captain Shira-i aus dem Raum weisen? Shira-i sah sich schweigend um; ein großer Teil der Einrichtung war ihm nicht vertraut.
– hat sich eine Menge geändert seit unserer Zeit – Bei einigen Anzeigen und Kontrollampen konnte er die Bedeutung nicht einmal erraten. – aber – »Captain Shira-i: Wenn Sie hier zu tun haben, werde ich den Chef vom Dienst informieren – « – das andere hat sich kaum geändert – da! – Er fand, was er gesucht hatte. Ein schneller Schritt und eine halbe Drehung, seine Hand fand einen Schalter inmitten einer Gruppe von Kontrollichtern. »Captain! Was machen Sie da!? Hören Sie auf, bitte!« Der junge Mann schrie, blaß vor Erregung. Shira-i griff nach dem Schalter und sprach in das Mikrofon: »Shira-i an das Schiff. Könnt ihr mich hören, Freunde? Fangt mit den Startvorbereitungen an. Ich lege die Energie zu euch rüber. Countdown beginnt in fünf Sekunden.« Shira-i warf den Schalthebel hoch. Auf dem Feld mit den Startanzeigen ging ein Licht nach dem anderen an. Irgendwo kam laut und aufdringlich ein Alarmsignal auf; schnelle Schritte durchquerten den Raum und hallten vom Korridor her wider. »Captain Shira-i! Gehen Sie zurück! Oder ich werde schießen!« Der junge Kontrollbeamte schluchzte fast. »Countdown? Minus 10… minus 9… minus 8… minus 7…« »Captain gehen Sie von diesem Kontrollpult weg!« »Die Energie zum Kontrollpult wegnehmen!« Der Schrei hallte mehrfach durch den Raum. »… minus 5… minus 4…« – Choro, ich glaube, wir leben zu lang – was glaubst du? »Du hast keine Wahl mehr – schieß!« Dunkel-orangenes Feuer kroch aus der Hand des jungen Kontrollbeamten. Die Luft wurde spürbar kälter; grelles Weiß entflammte irgendwo in Shira-is Körper: der Geruch von synthetischem Protein, das verbrennt –
– Ich weiß nicht, wo ihr hingehen werdet, aber trotzdem, geht – es gibt ein Irgendwo, das auf euch wartet, und wenn nicht, dann eben nicht – aber geht – »… minus 3… minus 2… minus 1…« Shira-is Körper fiel zu Boden, grelle weiße Hitze abstrahlend. Auf dem Feld draußen zuckte weißes Licht aus dem Schiff, als das Signal kurz vor Zero abriß und der Schub der drei Raketen des Antriebssystems fast gleichzeitig nachließ. Das große Schiff fiel auf das Startfeld zurück; weißes Feuer brach aus, verteilte sich und ließ langsam wieder nach. Dämmerung, alles still, nur der Sandsturm weit hinter dem östlichen Horizont. Von diesem Horizont her dehnte sich der Nachschein schwindender Farbe der untergehenden Sonne, verlief fast gerade durch das Sandmeer in Richtung Westen. Das Licht hielt sich in einem nur wenig stärkeren Blau als dem der Erde auf Shira-is Postkarten. Es war der Anfang vom Ende für East Canal City und eine der Ursachen des Vereinigungskrieges, der drei Tage später auf der Erde ausbrach.
Aus BEST SCIENCE FICTION FOR 1972 Copyright © 1972 by Frederik Pohl Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Bernt Kling