6 KLASSIKER DER SCIENCE-FICTION-LITERATUR 6 ERZÄHLUNGEN VON PACKENDER EINDRINGLICHKEIT NUR EIN MARSWEIB von John Wyndha...
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6 KLASSIKER DER SCIENCE-FICTION-LITERATUR 6 ERZÄHLUNGEN VON PACKENDER EINDRINGLICHKEIT NUR EIN MARSWEIB von John Wyndham DIE NEUN MILLIARDEN NAMEN GOTTES von Arthur C. Clarke FIRST LADY von J. T. McIntosh DIE STUNDE NULL von Ray Bradbury BILDER LÜGEN NICHT von Katherine MacLean DER RUUM von Arthur Porges SCIENCE-FICTION DER SPITZENKLASSE BEI ULLSTEIN 2000
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 21 bis Band 60 SCIENCE-FICTION-STORIES 61 (Ullstein Buch 3260) Stories von Vernor Vinge, Harlan Ellison, Christopher Anvil, Fritz Leiber und anderen SCIENCE-FICTION-STORIES 62 (Ullstein Buch 3265) Erzählungen von Frank Herbert, Edgar Pangborn, Kris Neville, Roger Zelazny, Robert Silverberg und Philip Latham SCIENCE-FICTION-STORIES 63 (Ullstein Buch 3285) Phantastische und utopische Erzählungen von Ray Bradbury
Ullstein Buch Nr. 3378 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Leopold Voelker Umschlagillustration: Sphere Books Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Stories aus »Best SF« und »Best SF Two«, herausgegeben von Edmund Crispin Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1959 by Verlag Ullstein GmbH. Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1977 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03378-4 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
SCIENCE-FICTION-STORIES 64 (Ullstein Buch 3298) Erzählungen von Thomas M. Disch, Colin Free, Edward Maskin und Jack B. Lawson SCIENCE-FICTION-STORIES 65 (Ullstein Buch 3314) Erzählungen von Algis Budris, Brian W. Aldiss, Fritz Leiber und James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 66 (Ullstein Buch 3323) Erzählungen von H. Beam Piper. Henry Kuttner und Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 67 (Ullstein Buch 3338) 3 Erzählungen von James H. Schmitz SCIENCE-FICTION-STORIES 68 (Ullstein Buch 3351) Stories von James H. Schmitz, Frederik Pohl, James E. Gunn und Daniel F. Galouye
Science-fiction-Stories / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl. Walter [Hrsg.] 69. Von John Wyndham ... – 1977. (Ullstein-Bücher; Nr. 3378: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03378-4 NE: Wyndham, John [Mitarb.] Vw: Harris, John Beynon (wirkl. Name) –› Wyndham, John
Science-FictionStories 69 von John Wyndham Arthur C. Clarke J. T. McIntosh Ray Bradbury Katherine MacLean Arthur Porges Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Nur ein Marsweib John Wyndham ..................................................
6
Die neun Milliarden Namen Gottes Arthur C. Clarke ................................................
51
First Lady J. T. McIntosh .....................................................
63
Die Stunde Null Ray Bradbury ..................................................... 108 Bilder lügen nicht Katherine MacLean ............................................ 126 Der Ruum Arthur Porges ..................................................... 158
John Wyndham NUR EIN MARSWEIB Bevor Duncan Weaver Lellie kaufte ... nein, es könnte Ärger geben, es so zu formulieren ... bevor Duncan Weaver Lellies Eltern 1000 Pfund als Entschädigung für den Verlust ihrer Arbeitskraft zahlen mußte, hatte er mit einem Betrag von 600 oder höchstens 700 gerechnet. Jedermann in Port Clarke, den er darüber befragte, versicherte ihm, daß dies ein angemessener Preis sei. Doch es hatte sich bald herausgestellt, daß es nicht ganz so einfach war, wie die Leute von Port Clarke zu glauben schienen. Die ersten drei Marsfamilien, mit denen er verhandelte, hatten keinerlei Neigung gezeigt, ihre Töchter überhaupt zu verkaufen. Die nächste verlangte 1500 Pfund und wollte nicht heruntergehen. Lellies Eltern hatten mit 1500 angefangen, und sie hatten sich auf 1000 geeinigt. Er nahm das Mädchen gleich mit, und als er während der Rückfahrt nach Port Clarke den Handel noch einmal überdachte, fand er, daß er dabei letzten Endes gar nicht so schlecht abschneiden würde. Umgerechnet auf die fünf Jahre seiner Versetzung würde sie ihn schlimmstenfalls 200 Pfund pro Jahr kosten, d.h., wenn es ihm nicht gelingen sollte, sie nach seiner Rückkehr für 400 oder gar für 500 Pfund weiterzuverkaufen. So betrachtet, hatte er sogar mit ihrem Kauf ein gutes Geschäft gemacht. In der Stadt angekommen, begab er sich sofort zu dem Agenten der Gesellschaft, um mit ihm die Dinge
zu regeln, die sich aus der neuen Situation ergaben. »Sie wissen doch«, sagte er zu ihm, »ich habe einen Fünfjahreskontrakt als Verwalter der Zwischenlandestation auf Jupiter IV/II. Nun, das Schiff, das mich hinbringt, fliegt leer, um dort Fracht aufzunehmen, und ich wollte fragen, ob ich auf ihm eine zweite Passage für meine Begleiterin haben kann.« Er hatte bereits vorsorglich in Erfahrung gebracht, daß die Gesellschaft in solchen Fällen großzügigerweise Freipassage zu gewähren pflegte. Der Agent war nicht überrascht. Nachdem er in seinen Listen nachgesehen hatte, meinte er, dem stünde nichts im Wege, und fügte hinzu, für solche Zwecke würde die Gesellschaft auch die zusätzliche Verpflegungsration liefern, und zwar zum Selbstkostenpreis, 200 Pfund pro Jahr, zahlbar durch Abzug von Gehalt. »Wie? Tausend Pfund?« rief Duncan aus. »Das ist billig«, erwiderte der Agent. »Wie gesagt, Selbstkostenpreis. Die Gesellschaft verzichtet gern auf den Verdienst, wenn sie einen Angestellten davor bewahren kann, daß er überschnappt. Das könnte leicht passieren, wenn einer allein auf einer Zwischenlandestation Dienst macht, meinen sie, und ich glaube es ihnen gern. Ein Tausender ist nicht viel, wenn es gilt, den Verstand nicht zu verlieren.« Aus Prinzip versuchte Duncan zu feilschen, doch der Agent blieb eisern. Es würde bedeuten, daß Lellies Preis auf 2000 Pfund stieg, also 400 pro Jahr. Doch bei seinem Jahresgehalt von 5000 Pfund, von denen er während seines Dienstes auf Jupiter IV/II nichts ausgeben konnte und die nicht nur steuerfrei waren, sondern sich sogar mit sechs Prozent verzin-
sten, war der Schaden immer noch zu ertragen. Er gab sich zufrieden. »Gut«, sagte der Agent. »Ich werde das Nötige veranlassen. Aber vorher müssen Sie noch das Ausreisevisum für Ihre Begleiterin besorgen. Sie kriegen es automatisch, wenn Sie die Heiratsurkunde vorlegen.« Duncan machte große Augen. »Heiratsurkunde? Ich soll ein Marsweib heiraten?« Der Agent schüttelte bedauernd den Kopf. »Ohne Trauschein gibt es kein Ausreisevisum für Marsmädchen. Anti-Sklaverei-Vorschriften. Bei den Behörden würde man glauben, Sie wollten sie verkaufen, vielleicht sogar, daß Sie sie gekauft haben.« »Ich?« rief Duncan entrüstet aus. »Gesetz ist Gesetz«, erwiderte der Beamte trocken. »Im übrigen kostet Sie die Heiratsurkunde nur zehn Pfund, es sei denn, Sie haben schon eine Frau auf der Erde. In diesem Fall wird es ein bißchen teurer werden, hinterher.« Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verheiratet«, versicherte er. »Um so besser«, sagte der Agent. »Dann wäre ja alles in Ordnung.« Am nächsten Tag kam Duncan wieder und brachte die Heiratsurkunde und das Ausreisevisum für Lellie. Der Agent sah sich die Papiere an. »Na also«, sagte er. »Jetzt kann ich die Passage buchen. Meine Gebühr beträgt 100 Pfund.« »Ihre Gebühr? Für was?« »Nehmen Sie an, für die Wahrung Ihrer irdischen Interessen«, erwiderte der Agent grinsend. »Es ist so üblich.« Dasselbe hatte auch der Beamte gesagt, der 100
Pfund für die Ausstellung des Visums verlangt hatte. Duncan erwähnte es nicht. Er sagte nur mit Bitterkeit: »Dieses blöde Marsweib kostet mich eine Stange Geld.« »Blöd?« Der Agent sah ihn fragend an. »Und stumm dazu. Diese Martianer sind doch alle halbe Tiere.« »Meinen Sie?« sagte der Agent. »Sie haben nie hier gelebt?« »Nein«, gab Duncan zu. »Ich bin nur ein paar Mal hier zwischengelandet.« Der Agent nickte. »Ja, jetzt vegetieren sie nur noch dahin wie die stumme Kreatur, und mit ihren komischen Gesichtern sehen sie für uns wirklich alle aus wie Kretins«, sagte er, »doch sie waren früher einmal ein hochintelligentes Volk.« »Früher? Das muß lange her sein.« »Schon lange, bevor wir hierherkamen, hatten sie das Denken aufgegeben. Ihr Planet war im Sterben, und sie hatten sich damit abgefunden, mit ihm zu sterben.« »So blöd können auch nur Martianer sein«, sagte Duncan. »Schließlich sind alle Planeten am Sterben. Das ist doch kein Grund, das Denken aufzugeben, solange man noch lebt.« Der Agent lächelte. »Haben Sie jemals gesehen, wie ein alter Mann in der Sonne sitzt und döst?« fragte er. »Das muß nicht heißen, daß er verblödet ist. Es mag so aussehen, aber so ein alter Bursche kann ganz hübsch munter werden, wenn er plötzlich sieht, daß es sich lohnt. Doch meistens findet er es nicht der Mühe wert. Es ist we-
niger anstrengend, die Dinge einfach treiben zu lassen.« »Schön, mag sein«, erwiderte Duncan, »aber das Mädel ist erst zwanzig, nach euren Marsjahren also zehneinhalb, doch es läßt jetzt schon die Dinge, wie Sie sagen, treiben, und zwar gründlich. Und ich behaupte, es gibt keinen besseren Beweis dafür, daß einer blöd ist, als wenn er nicht weiß, was mit ihm bei seiner eigenen Trauung geschieht.« Duncans Laune wurde nicht besser, als er noch weitere 100 Pfund ausgeben mußte, um Kleider und andere unerläßliche Bedarfsgegenstände für Lellie zu kaufen, was die Gesamtkosten für seine Begleiterin auf 2310 Pfund erhöhte. Dies war eine Summe, die vielleicht gerechtfertigt gewesen wäre für ein wirklich flottes Mädel, aber für Lellie ... Nun, es war nicht mehr zu ändern. Er hatte die Geschichte angefangen, und wenn er das bereits investierte Geld nicht verlieren wollte, mußte er sie durchstehen. Und schließlich auf einer einsamen Zwischenlandestation war Lellie, außer daß sie sich nützlich machte, in ihrer Anspruchslosigkeit vielleicht gerade die richtige Gesellschaft. Der Erste Offizier rief Duncan in den Navigationsraum, um ihm seinen künftigen Wohnraum zu zeigen. »Hier ist er«, sagte er und zeigte auf einen Radarschirm. Duncan sah einen Halbmond mit zerklüfteten Rändern. Das Bild sagte nichts aus über seine Maße. Das Ding konnte so groß sein wie Luna, der Erdmond, oder so klein wie ein Basketball; in jedem Falle
war es ein kahler Felsbrocken, der langsam im Leeren rotierte. »Wie groß?« fragte er. »Ungefähr 40 Meilen Durchmesser im Mittel.« »Wie ist die Schwerkraft?« »Hab' ich noch nicht ausprobiert. Nehme an, sie ist sehr gering. Rechnen Sie damit, daß es überhaupt keine gibt, dann kann nichts schiefgehen.« »Danke«, brummte Duncan. Auf dem Rückweg zur Messe steckte er den Kopf in seine Kabine. Lellie lag in ihrer Koje, zugedeckt mit der eingehakten elastischen Decke, um das Gefühl von Eigengewicht zu haben. Als sie ihn erblickte, richtete sie sich halb auf, stützte sich auf den Ellenbogen. Sie war klein, nicht viel größer als 1 Meter 50. Ihr Gesicht und ihre Hände waren sehr zart; sie war von einer Zartheit, die nichts zu tun hatte mit schwachem Knochenbau. Für einen Erdmenschen waren ihre Augen unnatürlich rund und gaben ihrem Gesicht einen ständigen Ausdruck überraschter Unschuld. Ihre Ohrläppchen sahen ungewöhnlich lang unter der Masse des braunen Haares hervor, dessen Wellen einen roten Schimmer hatten. Die Blässe ihrer Haut wurde noch betont durch den Puder auf ihren Wangen und das lebhafte Rot auf ihren Lippen. »Heh«, sagte Duncan, »du kannst anfangen zu packen.« »Packen«, wiederholte sie unsicher mit einer seltsam singenden Stimme. »Ja, packen«, erwiderte Duncan ungeduldig, trat ein, öffnete einen Koffer, legte einige Kleidungsstücke hinein und erklärte ihr mit einer Geste, daß sie so
weitermachen solle. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch sie schien begriffen zu haben. »Wir sein gekommen?« fragte sie. »Ja, wir sind gleich da. Also ein bißchen rasch mit dem Packen«, erwiderte er. »Da ... gut«, sagte sie und begann die Decke loszuhaken. Duncan schloß die Tür hinter sich und gab sich einen Schwung, der ihn schwebend den Gang zum Messeraum hinuntertrug. In der Kabine schob Lellie die Decke beiseite. Vorsichtig griff sie nach einem Paar Metallsohlen und befestigte sie mit den Clips an ihren Pantoffeln. Sich an dem Kojengestell festhaltend, schwang sie die Füße über den Rand und ließ sie langsam hinunter, bis die magnetischen Sohlen klickend mit dem Fußboden Kontakt bekamen. Jetzt schon zuversichtlicher, richtete sie sich auf. Der anliegende, braune Overall verriet Proportionen, die bei Martianern Bewunderung erregen mochten, für Erdmaßstäbe jedoch als abnorm gelten mußten. Es hieß, diese Deformierung sei eine Folge der dünneren Luft auf dem Mars und der hierdurch mit der Zeit bewirkten größeren Lungenkapazität. Immer noch sehr unsicher in ihrem Zustand der Schwerelosigkeit, ließ sie, um Kontakt zu behalten, die Füße über den Boden schleifen, als sie sich auf den Kleiderschrank zubewegte. Vor dem Wandspiegel blieb sie einen Moment stehen, betrachtete sich mit ausdruckslosem Gesicht. Dann wandte sie sich um und begann zu packen. »... eine Schweinerei, eine Frau dorthin mitzunehmen«, hörte Duncan Wishart, den Schiffskoch, sagen, als er die Messe betrat.
Duncan gab zwar nicht viel auf das, was Wishart sagte, seit dieser 50 Pfund von ihm erpreßt hatte für den Unterricht in schwerelosem Kochen, den Lellie, wie sich herausgestellt hatte, dringend brauchte, doch es war nicht seine Art, sich taub zu stellen. »Eine Schweinerei, einen Mann dorthin zu schikken«, bemerkte er grimmig. Niemand widersprach ihm. Sie wußten alle, wie ein Mann zu einem solchen Posten kam. Die Altersgrenze von 40 Jahren für fliegendes Personal müsse nicht notwendigerweise für ihre Angestellten eine Härte bedeuten, pflegte die Gesellschaft immer wieder zu betonen; die Gehälter waren gut, und es gab viele pensionierte Piloten, die sich mit den Ersparnissen aus ihrer Raumfahrtdienstzeit eine glänzende Existenz gegründet hatten. Doch diese Chance winkte nur einem Mann, der sparen konnte und nicht hartnäckig an der Tatsache interessiert war, daß ein vierbeiniges Tier schneller laufen konnte als ein anderes. Daß einer sein Geld auf diese Weise vertan hatte, war keine Empfehlung, und als Duncan den Raumfahrtdienst quittieren mußte, hatte ihm die Gesellschaft nur das in solchen Fällen übliche Angebot gemacht. Er war nie auf dem Jupiter IV/II gewesen, er wußte nur, daß er der zweite Mond der Callisto und in der Reihenfolge der Entdeckungen der vierte Mond des Jupiter war, wahrscheinlich ein gottverlassenes Exemplar kosmischen Kiesels. Sie ließen ihm keine Wahl, und so unterschrieb er den Vertrag, der ihm für die fünf Jahre der eigentlichen Dienstzeit ein Jahresgehalt von 5000 Pfund und freie Unterkunft und Verpflegung garantierte, ein halbes Gehalt für die
fünf Monate, die er bis zum Abflug des nächsten Raumschiffes nach Jupiter IV/II warten mußte, und das gleiche für die sechs Monate, die er brauchen würde, um sich wieder an die Schwerkraftverhältnisse der Erde zu gewöhnen. Das bedeutete eine gesicherte Existenz für die nächsten sechs Jahre, davon fünf ohne die Möglichkeit, Geld auszugeben, und am Ende ein nettes Sümmchen auf der Bank. Das Haar in der Suppe aber war die Frage, ob er fünf Jahre vollständiger Einsamkeit aushalten könne, ohne verrückt zu werden. Auch wenn die Psychologen einen als tauglich getestet hatten, konnte man nie sicher sein. Manche hielten aus, andere drehten nach fünf Monaten durch und mußten als Nervenwracks zurückgeholt werden. Man sagte, wenn einer zwei Jahre durchgehalten habe, dann schaffe er auch den Rest. Der einzige Weg, festzustellen, ob das stimmte, war, es zu versuchen ... »Könnte ich nicht die Wartezeit auf dem Mars verbringen?« hatte er gefragt. »Das Leben ist dort billiger.« Die Beamten hatten in ihren Fahrplänen und Passagierlisten nachgesehen und herausgefunden, daß es auch für die Gesellschaft billiger wäre. Sie hatten sich zwar geweigert, ihren Profit mit ihm zu teilen, ihm aber eine Flugkarte für das nächste Raumschiff nach dem Mars und einen Kreditbrief für den dortigen Agenten der Gesellschaft ausgestellt. Unter den Marskolonisten in und um Port Clarke waren viele Ex-Raumpiloten, die es vorzogen, den Rest ihres Lebens unter den hier herrschenden Verhältnissen geringerer Schwerkraft, leichterer Moral
und niedrigerer Preise zu verbringen. Sie waren alle groß im Erteilen von Ratschlägen. Duncan hörte ihnen geduldig zu, doch das meiste von dem, was sie ihm empfahlen, imponierte ihm nicht. Selbstbeschäftigungsmethoden zur Erhaltung der geistigen Gesundheit, wie das Auswendiglernen der Bibel oder der Dramen Shakespeares, das tägliche Abschreiben von drei Seiten des Konversationslexikons oder das Einbauen von Raumschiffmodellen in Whiskyflaschen, hielt er für langweilig und außerdem für wahrscheinlich wenig wirksam. Der einzige Vorschlag, der das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden schien, hatte ihn dann zu dem Entschluß geführt, Lellie mitzunehmen als Arbeitshilfe und Zeitvertreib, und diese Lösung dünkte ihn auch jetzt noch die vernünftigste, obwohl sie ihn 2360 Pfund kostete. Er wußte zu gut, wie die anderen über die Angelegenheit dachten, um Wishart übers Maul zu fahren. Statt dessen sagte er nur: »Eine richtige Frau würde ich vielleicht auch nicht mitnehmen; aber ein Marsweib, das ist ja schließlich was anderes ...« »Auch ein Marsweib ...«, begann Wishart, doch er sprach nicht weiter, als er merkte, daß er langsam durch den Raum segelte. Die Bremsraketen waren in Aktion getreten. Die Unterhaltung verstummte, da jedermann sich daranmachte, alle losen Gegenstände zu sichern. Jupiter IV/II war ein Submond und wahrscheinlich ein eingefangener Asteroid. Seine Oberfläche war keine Kraterlandschaft wie die Lunas, sie war nur ein
Meer wildzerklüfteter Felsen. Im großen gesehen hatte der Satellit die Form eines deformierten Eies; er war ein öder, kahler Felsbrocken, abgesplittert von einem längst verschwundenen Planeten, von ihm nicht mehr verratend als seine Position. Zwischenlandestationen auf den Außenmonden waren unerläßlich im Weltraumverkehr. Es wäre hoffnungslos unwirtschaftlich gewesen, große Schiffe zu bauen, die auf den Hauptplaneten landen konnten. Eine Reihe älterer und kleinerer Schiffe waren seinerzeit noch auf der Erde hergestellt worden und mußten von ihr abgeschossen werden, doch das erste große, auf dem Mond montierte Schiff eröffnete eine neue Praxis. Die Schiffe wurden zu ausschließlichen Raumschiffen und brauchten nicht mehr so gebaut zu werden, daß sie den Anforderungen starker Gravitation gewachsen waren. Sie unternahmen nur Fahrten zwischen den Satelliten, bei denen sie Treibstoffe, Lebensmittel, Frachten und Personen beförderten. Neuere Typen landeten nicht einmal mehr auf Luna, sondern benutzten den künstlichen Satelliten Pseudos als ihre Erdendstation. Den Frachtverkehr zwischen den Außenstationen und den Hauptplaneten besorgten unbemannte Güterraketen; Personen wurden auf sogenannten kleinen Raumfähren hin- und herbefördert. Zwischenstationen wie Pseudos oder Deimos, die Hauptaußenstation des Mars, erforderten zu ihrem Betrieb eine größere Besatzung, doch für kleinere Umschlagposten genügte ein Mann, der gleichzeitig als Verwalter und Wächter fungierte. Die großen Schiffe landeten nur selten auf ihnen, auf Jupiter IV/II, wie man Duncan gesagt hatte, durchschnittlich alle acht bis neun
Monate, nach Erdzeit gerechnet. Das Schiff verlangsamte seine Fahrt immer mehr, um seine Geschwindigkeit der des Satelliten anzupassen, während es sich ihm in einer Spirale näherte. Die Stabilisierungskreisel begannen zu summen. Die kleine zackig geränderte Welt wurde immer größer, bis sie den Bildschirm ausfüllte. Das Schiff wurde in eine enge Kreisbahn gesteuert. Meilen nackter, riesiger Felsenriffe glitten eintönig unter ihm hinweg. Die Stationsanlage schob sich von links in den Bildschirm, eine roh planierte Fläche von wenigen Morgen, das erste und einzige Anzeichen von Ordnung in dem steinernen Chaos. An dem hinteren Rand standen zwei halbkugelförmige Hütten, eine größer als die andere, an dem vorderen lag eine Reihe von Frachtraketen neben einer aus dem Felsen gehauenen Abschußrampe. Entlang den beiden Seiten reihten sich Segeltuchbehälter, einige vollgefüllt und von konischer Form, die anderen leer oder halb leer und schlaff oder ganz flach. Hinter der Station war ein riesiger Parabolspiegel auf eine Felsenspitze montiert; er wirkte wie eine riesige, unwirkliche Blume in dieser Steinwüste. In dem gespenstischen Bild war nur ein einziges Zeichen von Bewegung zu erkennen, eine kleine Gestalt, bekleidet mit einem Raumanzug, die auf dem mit Metallplatten ausgelegten Vorplatz der größeren der beiden Kuppelbauten einen wilden Tanz vollführte, die Arme wie verrückt zum Willkommen schwenkend. Duncan verließ den Navigationsraum, wo er den Bildschirm beobachtet hatte, und begab sich in seine Kabine. Dort fand er Lellie im Kampf mit einem großen Koffer, der unter dem Einfluß der sich vermin-
dernden Geschwindigkeit entschlossen schien, sie an der Wand plattzudrücken. Er schob die Kiste beiseite und half ihr auf die Beine. »Wir sind da«, sagte er zu ihr. »Lege deinen Raumanzug an.« Ihre runden Augen wandten sich ab von dem Koffer und richteten sich auf ihn. Es war in ihnen nicht zu lesen, was sie empfand, was sie dachte. Sie sagte nur: »Raumanzug. Da ... gut.« Als sie in der Luftschleuse der Wohnkuppel standen, schenkte der Mann, den Duncan ablösen sollte, Lellie mehr Beachtung als dem Druckanzeiger. Er wußte aus Erfahrung genau, wie lange der Ausgleich dauerte, und öffnete sein Helmfenster, ohne auf den Zeiger des Manometers zu sehen. »Ich wollte, ich wäre auch so schlau gewesen, mir eine mitzubringen«, bemerkte er. »Hätte sie verdammt gut gebrauchen können, auch für den Haushalt.« Er öffnete die innere Tür. »Das wär's also. Und herzlich willkommen«, sagte er. Das Wohnzimmer hatte auf Grund der Architektur der Hütte eine seltsame Form, doch war es sehr geräumig, wenn auch ebenso schmutzig. »Immer wollte ich mal saubermachen, kam aber irgendwie nie dazu«, brummte er, sich entschuldigend. Er sah Lellie prüfend an. In ihrem Gesicht hinter dem Helmfenster war nicht zu erkennen, was sie über ihr neues Heim dachte. »Bei diesen Martianern weiß man nie, wo dran man ist«, sagte er mit einem Achselzucken zu Duncan. »Sie machen immer das gleiche Gesicht.« Duncan erwiderte: »Ich denke mir, diese da ist seit
ihrer Geburt nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen. Man gewöhnt sich daran.« Der andere hatte kein Auge von Lellie gelassen. Dann wanderte sein Blick von ihr zu einer Galerie irdischer Pin-up-girls, die an der Wand prangten, und wieder zurück. »Ulkige Figuren haben diese Marsweiber«, meinte er grinsend. »Immerhin, wo sie herkommt, galt sie als eine Schönheit«, bemerkte Duncan kurz. »Glaub' ich dir, Kamerad. Nichts für ungut. Ich fürchte, mir werden sie alle etwas ulkig vorkommen, nach diesen fünf Jahren Kloster.« Er wechselte das Thema. »Ich denke, ich erkläre dir jetzt mal den ganzen Rummel hier.« Duncan machte Lellie ein Zeichen, ihre Helmfenster zu öffnen, damit sie ihn hören konnte, und dann sagte er zu ihr, sie solle ihren Raumanzug ablegen. Die Hütte war vom üblichen Typ: doppelter Fußboden und doppelte Wände mit isolierten und luftleeren Zwischenräumen, die Außenwand aus einem Stück gefertigt und festgehalten durch Metallpfosten, die in den Felsen eingelassen waren. Der Wohnteil enthielt noch drei weitere Räume, die für den Fall vorgesehen waren, daß die Besatzung wegen wachsenden Verkehrs verstärkt werden mußte. »Das andere sind Lagerräume«, erklärte Duncans Vorgänger, »meistens Proviant, Luftzylinder, Ersatzteile aller Art und vor allem Wasser. Beim Wasser wirst du ein bißchen auf sie aufpassen müssen. Die meisten Frauen scheinen zu glauben, daß es von selbst in den Röhren nachwächst.« Duncan schüttelte den Kopf. »Marsweiber nicht. Das Leben in ihren Wüsten hat
sie daran gewöhnt, sparsam damit umzugehen.« Der andere griff nach einem Bündel Lagerlisten. »Wir werden sie später kontrollieren und abzeichnen. Es ist ein gemütlicher Posten hier. Die einzige Fracht sind zur Zeit seltene metallhaltige Erze. Callisto ist erst wenig erschlossen. Der Verkehr ist leicht zu handhaben. Sie geben dir Bescheid, wenn eine Rakete unterwegs ist, und du brauchst nur den Richtstrahl einzuschalten, um sie hereinzuholen. Beim Zurückschicken kannst du keinen Fehler machen, wenn du dich an die Zeittafel hältst.« Er sah sich im Raum um. »An Komfort ist alles vorhanden. Liest du gern? Bücher sind genug da.« Er zeigte auf das volle Regal, das die Hälfte der inneren Trennwand einnahm. Duncan sagte, er sei nie ein großer Leser gewesen. »Nun, es hilft manchmal«, sagte der andere. »Ich hab' sie ziemlich alle gelesen. Hier sind Schallplatten. Machst du dir etwas aus Musik?« Duncan meinte, einen guten Schlager höre er ganz gern. »Hm. Versuche es lieber mit dem anderen Zeug. Schlager machen einen leicht heimwehkrank. Spielst du Schach?« Er deutete auf ein Schachbrett, in das Figuren eingepflockt waren. Duncan verneinte. »Schade. Drüben auf der Callisto ist ein Kamerad, mit dem ich viel gespielt habe, übers Radio. Er wird enttäuscht sein, daß wir diese Partie nicht beenden können. Immerhin, wenn ich so ausgestattet gewesen wäre wie du, hätte ich mich vielleicht nicht so sehr für Schach interessiert.« Er warf einen Blick auf Lellie. »Was denkst du, was sie hier tun soll, außer für dich kochen und dir ein bißchen die Zeit vertreiben?«
fragte er. Dies war eine Frage, die sich Duncan noch nicht gestellt hatte; er zuckte die Achseln. »Oh, ich denke, in dieser Beziehung ist sie in Ordnung. Martianer sind von Natur etwas dumpf und blöde; sie können stundenlang herumsitzen, ohne etwas zu tun. Scheint eine Gabe zu sein, die sie alle in der Wiege mitkriegen.« »Nun, das wird ihr hier zustatten kommen«, meinte der andere. Die mit dem Besuch des Raumschiffes verbundenen Arbeiten waren in vollem Gange. Kisten wurden ausgeladen, die Erze aus den Lagerbehältern in die Frachträume des Schiffes gesaugt. Eine kleine Raketenfähre kam von der Callisto und brachte zwei Prospektoren, deren Dienstzeit abgelaufen war, und startete wieder mit ihren Ablösungen. Die Ingenieure des Schiffes überprüften die Maschinen und Apparate der Station, bauten Ersatzteile ein, füllten die Wassertanks und die Luftzylinder auf, kontrollierten, regulierten und kontrollierten wieder, bis sie alles in Ordnung fanden. Duncan stand draußen auf dem metallenen Vorplatz, auf dem vor kurzem sein Vorgänger seinen grotesken Willkommensgruß getanzt hatte, und sah zu, wie das Schiff startete. Es löste sich langsam, von den Startdüsen angeschoben, vom Boden. Die Kontur seines Rumpfes zeichnete sich wie ein schimmernder Halbmond von dem schwarzen Himmel ab. Jetzt begannen seine großen Antriebsraketen weiße, rosa geränderte Flammen auszustoßen, und es gewann schnell an Geschwindigkeit. Bald war es nur noch ein flimmernder Punkt, der schließlich hinter der ge-
zackten Himmelslinie versank. Und plötzlich hatte Duncan das Gefühl, selbst zu einem Punkt zusammengeschrumpft zu sein, zu einem winzigen Punkt auf einer toten Felsmasse, die selbst nur ein Punkt war in der Unendlichkeit des Raumes. Der teilnahmslose Himmel über ihm war ohne Tiefe, eine schwarze Leere, in der seine Muttersonne und Myriaden anderer Sonnen in ewiger Gleichmäßigkeit flackerten, scheinbar ohne Sinn und Zweck. Auch das Bild der schroff in den Himmel ragenden Felsenklippen war ohne jede Perspektive. Er konnte nicht sagen, welche nahe oder welche fern waren, er konnte in dem Gewirr von grell beleuchteten Flächen und schwarzen Schatten nicht einmal ihre Form ausmachen. Urlandschaften dieser Wildheit gab es weder auf der Erde noch auf dem Mars. Die Grate und Kanten der unverwitterten Felsen waren scharf wie Messer; so waren sie seit Jahrmillionen und würden es bleiben, solange der Satellit existierte. Diese zeitlose Unveränderlichkeit vor ihm und hinter ihm schien sich zur Unendlichkeit auszudehnen. Nicht nur er selbst, sondern alles Leben war nur ein Punkt, eine winzige, zufällige Blase auf dem Strom der Zeit, ein Nichts im Universum. Sekundentanz einer armen kleinen Motte im Licht der ewigen Sonnen. Wirklich waren nur die riesigen Feuerbälle und Steinkugeln, die gefühllos durch die Leere rollten durch unausdenkbare Zeiten und Räume, für immer und immer ... Duncan erschauerte in seinem geheizten Raumanzug. Nie zuvor hatte er sich so allein gefühlt, war er sich der leeren, kalten Öde des Weltraumes so be-
wußt gewesen. Er starrte hinauf in die gähnende Schwärze und dachte daran, daß die Lichtstrahlen der Sterne, die seine Augen jetzt trafen, vor Jahrmillionen ausgesandt worden waren. »Warum?« fragte er sich laut. »Wozu überhaupt das alles?« Der Klang seiner eigenen, unbeantworteten Frage weckte ihn aus seiner melancholischen Stimmung auf. Er schüttelte den Kopf, um ihn freizumachen von den müßigen und sinnlosen Grübeleien. Er drehte dem Universum den Rücken, machte es wieder zu dem, was es zu sein hatte, ein fraglos hingenommener Hintergrund für das Leben, und das menschliche insbesondere, und betrat die Luftschleuse. Was die Arbeit betraf, so war der Posten wirklich, wie sein Vorgänger bereits gesagt hatte, sehr gemütlich. Duncan nahm zu festgelegten Zeiten seine Sprechfunkverbindungen mit Callisto auf. Gewöhnlich waren sie nicht viel mehr als gegenseitige Bestätigungen, daß man noch existiere, gelegentlich auch ergänzt durch einen Meinungsaustausch über Radionachrichten von der Erde. Nur selten meldeten sie ihm die Absendung einer Frachtrakete und forderten ihn auf, seinen Leitstrahl einzuschalten. Pünktlich erschien dann der große Metallzylinder und schwebte langsam in die Station ein. Es war eine einfache Angelegenheit, ihn an einen der Segeltuchbehälter anzukuppeln und die Ladung umzufüllen. Der Tag des Satelliten war zu kurz, um sich nach ihm zu richten, und seine Nächte, erleuchtet von Callisto und manchmal auch von Jupiter, waren ebenso hell; daher kümmerte er sich nicht um sie und lebte nach der Kalenderuhr, die auf die Erdzeit des Meri-
dians von Greenwich eingestellt war. Im Anfang war er vollauf beschäftigt, die Fracht zu versorgen, die das Schiff zurückgelassen hatte. Einiges davon brachte er in die Haupthütte, Dinge, die sie selbst benötigten, und andere, die in Luft und Wärme gelagert werden mußten. Einen Teil verstaute er in der kleineren, nicht geheizten und nicht mit Luft gefüllten Kuppelhütte, das meiste jedoch verpackte er sorgfältig in die Frachtraketen, die er von der Abschußrampe aus nach ihrem Bestimmungsort, der Hauptbasis auf Callisto, weiterschickte. Doch nachdem er diese Arbeit einmal hinter sich hatte, war nur noch wenig zu tun, zu wenig. Um die überflüssige Zeit hinzubringen, stellte sich Duncan ein Beschäftigungsprogramm auf. In regelmäßigen Abständen wollte er dieses und jenes kontrollieren; er würde selbst die Felsspitze hinter der Station erklettern und den Sonnenmotor überprüfen, der dort montiert war, und so weiter. Doch es ist schwer, immer wieder Dinge zu tun, die sich als nicht notwendig oder als sinnlos erweisen. Ein Sonnenmotor z.B. war so gebaut, daß er lange Zeit lief, ohne eine Wartung zu benötigen. Das einzige, was er tun konnte, wenn der Motor aussetzte, war, von Callisto eine Raumfähre anzufordern, die sie nach dort mit zurücknehmen würde, bis das nächste Schiff landete, um die Reparatur vorzunehmen. Im übrigen war, wie die Gesellschaft betont hatte, das Versagen des Sonnenmotors der einzige Grund, der ihn berechtigte, nach der Callisto zu fliegen und seine Station und die kostbaren Erze unbewacht zu lassen, und man hatte ihm auch deutlich zu verstehen gegeben, daß es zwecklos wäre, eine solche Panne vorzutäuschen, um
sich eine Abwechslung zu verschaffen. Es dauerte nicht lange, bis er sein Programm aufgab. Immer öfter fragte sich Duncan, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, Lellie mitzunehmen. Gewiß, er hätte nicht so gut gekocht, wie sie es tat, und sein Haushalt wäre wahrscheinlich bald ebenso verwahrlost gewesen wie der seines Vorgängers, aber der Zwang, für sich selbst sorgen zu müssen, hätte ihm die Zeit weniger lang werden lassen. Und was die Unterhaltung betraf, die er sich von ihr versprochen hatte, nun, damit war es auch nicht weit her. Sie benahm sich wie ein Roboter, apathisch wie eine seelenlose Kreatur. Von Spaß konnte keine Rede sein. Es gab Augenblicke, und sie wurden immer häufiger, in denen allein schon ihr Anblick und ihre Existenz ihn in Wut versetzten. Da war ihre träge Art, sich zu bewegen, wenn sie nicht stumpf herumsaß, das alberne Babygestammel, das sie von sich gab, wenn sie einmal den Mund auftat, ihre sture Teilnahmslosigkeit, überhaupt ihre so gänzliche Andersartigkeit und schließlich die Tatsache, daß er um 2360 Pfund reicher wäre ohne sie. Sie unternahm auch keinen ernsthaften Versuch, sich zu ändern oder ihre Mängel abzustellen, selbst da nicht, wo sie die Mittel dazu hatte. Ihr Gesicht zum Beispiel. Man hätte meinen sollen, daß sie wie jede Frau versuchen würde, sich nett herzurichten, aber sie dachte nicht daran. Im Gegenteil. Schon wieder einmal saß ihre linke Augenbraue so schief, daß sie aussah wie ein Clown; sie aber merkte es nicht! »Zum Teufel noch mal«, sagte er zu ihr, »setz doch endlich deine Augenbrauen gerade. Weißt du denn immer noch nicht, wie sie aufgeklebt werden? Und
geschminkt bist du auch wieder vollkommen verkehrt. Hier, schau dir das Bild an ... und jetzt schau in den Spiegel! Angeschmiert hast du dich, aber an der falschen Stelle. Und dein Haar! Es hängt herunter wie Seegras. Du hast das Zeug da, um es in Wellen zu legen, also tu es in drei Teufelsnamen und lauf nicht herum wie eine schlampige Meerjungfrau. Du kannst nichts dafür, daß du nur ein Marsweib bist, aber versuche wenigstens so auszusehen wie eine normale Frau.« Lellie betrachtete das Farbfoto des Pin-up-girls und dann ihr Spiegelbild, ohne daß sich ihr Gesichtsausdruck änderte. »Da ... gut«, sagte sie wie geistesabwesend. Duncan schnaubte. »Da ist noch etwas. Deine blöde Babysprache! Es heißt nicht ›Da‹, es heißt ›Ja‹! Jott ... a! Also los, sag mal ›Ja‹!« »Da«, sagte Lellie gehorsam. »Oh, zum ... Hörst du denn nicht den Unterschied? Ja, nicht da! Jiia!« »Da«, sagte Lellie. »Nein! Nimm die Zunge vom Gaumen weg! Leg sie unten hin, hinter die Zähne! So ...« Der Sprechunterricht ging eine Weile so weiter. Duncan wurde wütend. »Ich glaube, du machst dich lustig über mich, was? Nimm dich in acht, Mädel! Also noch mal, sag ›Ja‹!« Sie zögerte, blickte ihm unsicher in die zornig blitzenden Augen. »Los! Sag es!« »Dja«, brachte sie mühsam hervor. Seine Hand traf ihr Gesicht härter, als er beabsich-
tigt hatte. Der Stoß löste ihren magnetischen Kontakt mit dem Fußboden, und sie segelte, mit Armen und Beinen um sich schlagend, durch den Raum. Sie prallte an der gegenüberliegenden Wand ab, um wieder hilflos mit dem Kopf nach unten in die Luft zu schweben. Er lief zu ihr hin und stellte sie wieder auf die Füße. Mit der linken Hand packte er sie bei ihrem Overall, unmittelbar am Hals, und hob die Rechte zu neuem Schlag. »Noch mal!« Ihre Augen flackerten hilflos. Er schüttelte sie. Sie setzte mehrere Male zu einem Versuch an. Beim sechsten Male brachte sie ein »Dji ... dja!« heraus. Er gab sich damit zufrieden. »Du kannst es, siehst du ... wenn du nur willst. Was du brauchst, ist eine starke Hand.« Er ließ sie los. Sie stolperte aus dem Zimmer, beide Hände vor dem geschwollenen Gesicht. Während der nächsten Wochen, die sich immer länger hinzogen, fragte sich Duncan mehrere Male, ob er durchhalten würde. Er streckte jede Arbeit, die zu tun war, so sehr er konnte, doch es blieb ihm immer noch zuviel Zeit übrig, mit der er nichts anzufangen wußte. Ein Mann in mittleren Jahren, der in seinem Leben nie mehr gelesen hat als gelegentlich einen Magazinartikel, gewöhnt sich nicht mehr an Bücher. Auch die Schlager waren ihm, wie sein Vorgänger ihm prophezeit hatte, bald über, und ernste Musik sagte ihm überhaupt nichts. Aus einem Buch lernte er die Züge beim Schach und brachte sie auch Lellie bei, in der Absicht, nach einiger Übung den Mann auf der Callisto herauszufordern. Lellie jedoch brachte es fer-
tig, mit solcher Beharrlichkeit zu gewinnen, daß er zu dem Schluß kam, er habe wohl nicht die richtige Begabung für dieses Spiel. Statt dessen lehrte er sie eine Art von Doppel-Solitaire, doch auch das dauerte nicht lange; die Karten schienen mit Lellie im Bunde zu sein. Manchmal konnte er Nachrichten und Unterhaltungssendungen im Radio hören, doch da die Erde jetzt gerade irgendwo auf der anderen Seite der Sonne kreiste, der Mars die Hälfte der Zeit durch die Callisto verdeckt wurde und der Satellit selbst sehr schnell rotierte, war der Empfang immer sehr schlecht und wurde ständig unterbrochen. Meistens saß er sinnlos herum, haßte den Satelliten, ärgerte sich über sich selbst und fühlte sich durch Lellie gereizt. Besonders ihr unerschütterliches Phlegma, das sie bei allem zur Schau trug, brachte ihn oft zur Weißglut. Es erschien ihm als eine Ungerechtigkeit, daß sie bessere Nerven haben sollte, nur weil sie ein stumpfsinniges Marsweib war. Wenn sich seine schlechte Laune akustisch äußerte, brachte das Gesicht, mit dem sie ihm zuhörte, ihn vollends zur Verzweiflung. »Zum Teufel noch mal«, brüllte er sie bei einer solchen Gelegenheit einmal an, »kannst du denn überhaupt kein anderes Gesicht machen? Kannst du nicht lachen oder weinen oder Grimassen schneiden? Da muß einer ja verrückt werden, wenn du ewig mit einem Gesicht herumläufst, als hättest du eben den ersten schmutzigen Witz gehört. Ich weiß, du kannst nichts dafür, daß du blöd bist, aber das ist doch kein Grund, dauernd mit dieser gefrorenen Visage 'rumzurennen. Versuch doch, wenigstens ab und zu mal
zu lächeln.« Sie fuhr fort, ihn anzuschauen, ohne auch nur den Schatten einer Veränderung in ihrem Gesicht zu zeigen. »Hast du mich nicht verstanden? Du sollst lächeln! Los, du störrisches Luder ... lächle!« Ihr Mund verzog sich kaum merklich. »Das nennst du lächeln? ... Hier, so lächelt man!« Er zeigte auf den Kopf eines Pin-up-girls, das lachend ein überdimensionales Reklamegebiß zeigte. »Ja, so! ... Oder so!« Er bleckte die Zähne. »Nein«, sagte sie. »Mein Gesicht nicht kann wakkeln wie Erdgesicht.« »Wackeln«, brüllte er wütend, »wackeln nennst du das?« Er löste die elastische Haltedecke seines Sessels und ging auf sie zu. Sie wich vor ihm zurück bis zur Wand. »Ich werde dir dein Gesicht zum Wackeln bringen, mein Mädchen, paß mal auf! ... Los! Lächle! Lächle!« Er hob die Hand. Lellie schlug beide Hände vor das Gesicht. »Nein!« jammerte sie. »Nein! Nein! Nein!« Am gleichen Tage, da Duncan den letzten Tag des achten Monats seines Aufenthaltes auf Jupiter IV/II abstrich, ging von der Callisto eine Meldung ein, daß ein Raumschiff im Anflug sei. Zwei Tage später konnte er selbst Radio-Kontakt mit ihm aufnehmen und erfuhr, daß es in einer Woche eintreffen würde. Ihm war zumute, als hätte er mehrere steife Whiskys getrunken. Jetzt gab es eine Menge zu tun. Er kontrollierte die Lager, die Listen, die Vorräte, vervollständigte die Eintragungen in ein Logbuch, notierte die Bestellungen, die er aufgeben wollte. Er wurde
immer aufgeregter, summte und sang bei der Arbeit und hörte auf, sich über Lellie zu ärgern. An ihr war keine Reaktion auf die Neuigkeit wahrzunehmen ... aber was konnte man von ihr schon erwarten ... Genau zur geschätzten Stunde erschien das Schiff über ihnen, wurde langsam größer, während die Vertikaldüsen es nach unten drückten. Im gleichen Augenblick, da es festgemacht hatte, ging Duncan an Bord, mit dem Gefühl, daß alle, die er zu Gesicht bekam, alte Freunde waren. Der Kapitän begrüßte ihn herzlich und brachte einen fast feierlichen Toast aus. Es war das übliche Zeremoniell für solche Fälle, und zu ihm gehörten auch Duncans Freudengestammel und sein leicht überschwengliches Benehmen. Die einzige Abweichung vom Schema ergab sich, als der Kapitän auf den Mann wies, der neben ihm stand, und sagte: »Wir haben eine Überraschung für Sie mitgebracht, Mr. Weaver. Dies ist Doktor Whint. Er wird für eine Weile Ihr Exil mit Ihnen teilen.« Duncan schüttelte dem Fremden die Hand. »Doktor ...?« bemerkte er erstaunt. »Ich bin kein Arzt«, erklärte ihm Alan Whint, »ich bin Geologe. Die Gesellschaft hat mich hierhergeschickt, um eine geologische Untersuchung vorzunehmen, wenn das Wort Geo hier am Platze ist. Die Sache wird etwa ein Jahr in Anspruch nehmen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« Duncan erwiderte höflich, er sei glücklich, Gesellschaft zu bekommen, doch mehr sagte er nicht. Später nahm er den Neuankömmling mit hinüber in die Wohnkuppel. Alan Whint war überrascht, als er Lellie erblickte. Offensichtlich hatte ihm niemand etwas
von ihrer Anwesenheit gesagt. Er unterbrach Duncan, der ihm die Räume erklärte, und sagte: »Wollen Sie mich nicht Ihrer Frau vorstellen?« Duncan tat es, sichtlich widerwillig. Der tadelnde Unterton in dieser Aufforderung paßte ihm nicht, und noch weniger, daß Whint Lellie begrüßte, als sei sie eine Erdfrau. Er bemerkte auch mit Mißvergnügen, daß er die blutunterlaufene Stelle auf ihrer Backe entdeckt hatte, die selbst von der dicken Schminkschicht nicht verdeckt wurde. In Gedanken ordnete er Alan Whint der Klasse jener überheblichen Moralprediger zu, die er nicht riechen konnte, und hoffte, daß es nicht zu einem Zusammenstoß mit ihm kommen würde. Es ist schwer zu sagen, wer schuld daran war, als es drei Monate später tatsächlich zu diesem Zusammenstoß kam. Schon vorher hatte es einige sehr kritische Momente gegeben, und die Spannung hätte sich wahrscheinlich schon früher entladen, wenn Whints Arbeit ihn nicht so häufig von der Wohnhütte ferngehalten hätte. Den unfreiwilligen Anlaß zum offenen Streit gab Lellie, als sie von dem Buch aufschaute, das sie gerade las, und fragte: »Was bedeutet ›Frauenemanzipation‹?« Alan begann, ihr den Begriff zu erklären. Er hatte den ersten Satz noch nicht beendet, als Duncan ihn unterbrach: »Hören Sie mal, wer hat Ihnen gesagt, daß Sie ihr solche Ideen in den Kopf setzen sollen?« Alan zuckte die Achseln und sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte er. »Warum sollte sie nichts dazulernen, wenn es sie danach verlangt?« »Sie wissen genau, was ich meine.«
»Tut mir leid. Da müssen Sie sich schon etwas deutlicher ausdrücken.« »Das können Sie haben. Es paßt mir nicht, daß Sie sich um Dinge kümmern, die Sie nichts angehen. Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen, es hat mir von Anfang an nicht gepaßt, daß Sie so geschwollen daherreden mit ihr und versuchen, eine Dame aus ihr zu machen.« »Ich verstehe Sie immer noch nicht. Das könnte Ihnen doch nur recht sein.« »Sie wollen mich nicht verstehen. Glauben Sie, ich wüßte nicht, warum Sie das machen?« »Was Sie denken, ist nicht, mein Lieber. Es sind nicht alle Leute so primitiv wie Sie. Sie bilden sich ein, ich lege es darauf an, Ihnen Ihr Mädel auszuspannen, und das wurmt Sie besonders wegen der 2360 Pfund, die Sie dafür ausgegeben haben. Aber Sie irren sich, nichts liegt mir ferner als das.« Duncan war für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht. Dann besann er sich und sagte: »Sie ist nicht mein Mädel. Sie mag nur ein Marsweib sein, aber sie ist meine Frau, und wenn sie dumm ist, dann ist das meine Sache.« »Ich habe zwar andere Vorstellungen darüber, wie man seine Frau behandelt, auch wenn sie nur ein Marsweib ist, wie Sie sich auszudrücken belieben, aber wenn Sie glauben, daß Lellie dumm ist, dann irren Sie sich ganz gewaltig. Ich halte sie sogar für sehr intelligent. Überlegen Sie nur einmal, wie schnell sie lesen gelernt hat, nachdem sich jemand die Mühe gemacht hatte, ihr die Anfangsgründe beizubringen. Ich glaube nicht, daß Sie so schnell vorwärtsgekommen wären in einer Sprache, von der Sie nur ein paar
Worte kannten.« »Ich habe Sie nicht gebeten, bei ihr den Schulmeister zu spielen. Sie braucht nicht lesen zu können.« »Huh, die Stimme des Sklavenhalters aus grauer Vorzeit. Nun, dann war es ja Zeit, daß ich gekommen bin, um die Ehre der Erdmenschheit zu retten.« »Dummes Geschwätz! Das verzapfen Sie nur, um ihr zu imponieren und mich bei ihr madig zu machen. Sie soll wohl glauben, daß Sie ein besserer Erdmensch sind als ich?« »Ich rede mit ihr nicht anders, als ich mit jeder Frau rede, eher noch etwas einfacher, weil Sie ihr bis jetzt keine Chance gegeben haben, sich weiterzubilden. Und es sollte mich freuen, wenn sie merkt, daß nicht alle Männer der Erde solche Barbaren sind wie Sie.« »Ich werde Ihnen zeigen, wer hier ein Barbar ist ...« brauste Duncan auf. »Das brauchen Sie nicht«, unterbrach ihn Whint. »Daß Sie eine verkrachte Erdexistenz sein mußten, das konnte ich mir schon ausrechnen, bevor ich hierherkam, sonst wären Sie nämlich nicht auf diesem Posten. Und ich habe nicht lange gebraucht, um festzustellen, was für ein übler Vertreter des Menschengeschlechts Sie sind. Glauben Sie, ich hätte die blutunterlaufenen Stellen in Lellies Gesicht nicht gesehen? Glauben Sie, es hätte mir Freude gemacht, zuhören zu müssen, wie Sie eine Frau anbrüllen, die Sie absichtlich in Unwissenheit gehalten haben, obwohl sie zehnmal mehr Verstand hat als Sie? Mitansehen zu müssen, wie ein brutaler Dummkopf sich als Despot aufspielt gegenüber einem wehrlosen Geschöpf? So, jetzt wissen Sie, warum ich Sie für einen Barbaren halte.«
Duncan kochte vor Wut, und anderswo hätte er den Mann nicht ausreden lassen. Doch er hatte 20 Jahre Raumfahrt hinter sich und wußte, wie sinnlos es war, sich im Zustand der Schwerelosigkeit, dem sie beide unterworfen waren, in ein Handgemenge einzulassen, bei dem jede heftige Bewegung einen selbst umwarf und hilflos in der Luft schweben ließ. Sie wußten es beide, und sie beherrschten sich. Der Zwischenfall schien bald vergessen zu sein, doch Alan änderte sein Verhalten Lellie gegenüber nicht. Er setzte seine Expeditionen in dem kleinen Raumschiff, das er mitgebracht hatte, fort, erkundete weitere Teile des Satelliten, kam zurück mit Gesteinsproben, die er untersuchte und sorgfältig etikettiert in seine Sammlung einordnete. In seinen freien Stunden jedoch beschäftigte er sich weiter damit, Lellie zu unterrichten. Daß er es in der Hauptsache tat, um sich die Zeit zu vertreiben, und auch weil er sich einbildete, es tun zu müssen, verkannte Duncan nicht, aber er glaubte ebenso sicher zu sein, daß bei dem ständigen Zusammenhocken der beiden früher oder später sich etwas anderes entwickeln würde. Bis jetzt hatte er noch nichts entdeckt, was zu einem direkten Verdacht berechtigte, aber Alans Aufenthalt dauerte noch etwa neun Monate. Lellie schien ihren Lehrer zu vergöttern, soweit sie ihre Gefühle überhaupt verriet. Und Whint verdarb sie jeden Tag mehr durch seine verrückte Art, sie wie eine Erdfrau zu behandeln. Eines Tages mußte das Unvermeidliche doch passieren, und dann würden sie in ihm ein Hindernis sehen und versuchen, ihn zu beseitigen. Da nach seiner Meinung Vorbeugen besser war als Nachsehen, kam Duncan
zu dem Schluß, daß es nur Notwehr wäre, wenn er dafür sorgen würde, daß diese Situation nie eintrat. Das konnte ohne viel Aufhebens geschehen. Und so geschah es auch. Eines Tages startete Whint zu einem Erkundungsflug zur anderen Seite des Satelliten. Er kam einfach nicht zurück. Das war alles. Es war unmöglich, zu erkennen, wie Lellie über das Ausbleiben ihres Gönners dachte; doch irgend etwas schien in ihr vorzugehen. Während der nächsten Tage stand sie in ihren freien Stunden fast immer vor dem großen Fenster des Wohnraumes und starrte hinauf in den von flackernden Pünktchen übersäten dunklen Himmel. Mit Alans Rückkehr rechnete sie bestimmt nicht mehr, denn sie wußte so gut wie Duncan selbst, daß hierfür nach Ablauf von 36 Stunden keine Hoffnung mehr bestand. Sie sagte nichts. Ihr Gesicht behielt unverändert den aufreizenden, leicht überraschten Ausdruck. Nur in ihren Augen zeigte sich eine kaum merkbare Veränderung; ihr Blick wurde leerer, als habe sie sich in sich selbst zurückgezogen. Duncan konnte nicht sagen, ob sie wußte oder ahnte, was geschehen war. Und er sah keine Möglichkeit, es herauszufinden, ohne ihren Argwohn zu wecken, falls sie die Wahrheit noch nicht erkannt hatte. Er wagte es auch nicht, ihr Vorwürfe zu machen, weil sie stundenlang untätig am Fenster stand. Sehr unbehaglich war ihm die Vorstellung, wie viele Möglichkeiten es selbst für ein »dummes Marsweib« gab, einen Unfall auf der einsamen Station vorzutäuschen. Als Vorsichtsmaßnahme gewöhnte er sich daran, neue Luftflaschen an seinem Raumanzug zu befe-
stigen, wenn er hinausging, und zu kontrollieren, ob sie richtig gefüllt waren. Er klemmte auch jedes Mal einen Stein so unter die äußere Tür der Luftschleuse, daß sie sich nicht hinter ihm schließen konnte. Ferner achtete er unauffällig darauf, daß sein Essen und das ihre immer aus dem gleichen Topf kamen, und beobachtete sie scharf beim Kochen. Er wußte immer noch nicht, ob sie Verdacht geschöpft hatte oder nicht. Nachdem es klargeworden war, daß Alan nicht zurückkommen würde, erwähnte sie nie wieder seinen Namen. Dieses rätselhafte Benehmen behielt sie etwa eine Woche bei, um dann ihre Haltung mit einem Schlag zu ändern. Der Dunkelheit vor dem Fenster, in der Alan verschwunden war, schenkte sie keine Beachtung mehr. Statt dessen begann sie zu lesen, verschlang gierig und unterschiedslos Buch auf Buch. Duncan fiel es schwer, ihre Lesewut zu begreifen, und er war auch nicht sehr erbaut davon, aber er beschloß fürs erste nicht einzuschreiten. Es hatte den Vorteil, daß sie nicht auf dumme Gedanken kam. Allmählich begann er, sich sicherer zu fühlen. Die Krisis war uberstanden. Entweder hatte sie nichts bemerkt, oder sie hatte beschlossen, nichts zu unternehmen. Ihr Leseeifer aber ließ nicht nach. Obwohl Duncan ihr mehrere Male vorhielt, daß er die nicht unbeträchtliche Summe von 2360 Pfund in sie investiert hatte, damit er Gesellschaft habe, las sie weiter, als ob sie entschlossen sei, sich durch die ganze Bibliothek der Station durchzuarbeiten. Als das nächste Schiff eintraf, bewachte er sie ängstlich für den Fall, daß sie im stillen diese Gelegenheit abgewartet hatte, der Besatzung ihren Ver-
dacht mitzuteilen. Doch seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Sie zeigte keinerlei Neigung, mit irgend jemandem über die Sache zu sprechen, und als das Schiff wieder abflog und die Gefahr vorüber war, konnte er sich mit großer Befriedigung sagen, daß er doch mit seiner Meinung über sie recht gehabt hatte; sie war eben nur ein stumpfes Marsweib, sie hatte das Verschwinden Alan Whints einfach vergessen wie ein Kind eine verlorene Puppe. Doch während Monat um Monat seiner Dienstzeit verging, sah er sich immer mehr genötigt, sein Urteil über ihre Intelligenz zu revidieren. Aus den Büchern lernte sie Dinge, die er nicht wußte. Das hatte gewisse Vorteile, doch weniger angenehm war es ihm, wenn sie ihn, was öfters geschah, nach der Bedeutung von Fremdwörtern fragte und er zugeben mußte, daß er sie nicht kannte. Aus der Abneigung des Ungebildeten allem Buchwissen gegenüber bemühte er sich, ihr klarzumachen, daß vieles von dem, was in den Büchern stand, Unsinn sei und daß diese Federfuchser mit den wirklichen Problemen nie so gut fertig würden wie ein Mann der Praxis, wie zum Beispiel er selbst. Und er erzählte ihr aus seinem Leben, von seinen Abenteuern und Erfahrungen; ohne daß er es ahnte, wurde er so ihr Lehrmeister in den kleinen, schmutzigen Tricks, die er für wahre Lebensweisheit hielt. Er brachte ihr auch technische und praktische Dinge bei; sie lernte sie ebenso schnell wie »den Unsinn in den Büchern«. Und wieder mußte er seine Ansicht über die Marsmenschen ändern; sie waren nicht so dumm, wie er geglaubt hatte, sie waren nur zu
dumm, den Verstand, den sie hatten, praktisch zu verwerten. Lellie war ein richtiger Schwamm für Wissen jeder Art; bald wußte sie fast genausoviel über den Betrieb der Station und die Handhabung der Maschinen wie er selbst. Es war gewiß nicht seine Absicht gewesen, das fortzusetzen, was Alan Whint begonnen hatte, doch jetzt schmeichelte es seiner männlichen Eitelkeit, Lellies Lehrer zu sein, und außerdem war eine solche Beschäftigung immer noch der gefährlichen Langeweile der ersten Zeit vorzuziehen. Und dann war ihm eingefallen, daß sich die aufgewandte Mühe vielleicht sogar einmal bezahlt machen konnte. Er beschäftigte sich immer mehr mit diesem Gedanken. Früher hatte er Bildung für Zeitverschwendung gehalten, doch jetzt begann er sich auszurechnen, daß er, wenn sie zum Mars zurückgekehrt waren, von den 2360 Pfund, die er in Lellie investiert hatte, wesentlich mehr wieder hereinholen konnte, als er erwartet hatte. Vielleicht konnte eine gebildete Lellie eine brauchbare Sekretärin für einen der MarsKolonisten abgeben. Und er begann, ihr die Grundbegriffe kaufmännischer Buchführung beizubringen, soweit er sie selbst kannte. Die Tage, Wochen und Monate vergingen jetzt immer schneller. Nachdem er einmal die Gewißheit hatte, daß er durchhalten würde, war es ein wunderbares Gefühl, hier oben in dem Bewußtsein zu sitzen, daß zu Hause sein Bankkonto ständig wuchs. Auf der Callisto wurde ein neues Erzlager entdeckt, und die Anlieferungen auf Jupiter IV/II wurden etwas häufiger; doch sonst blieb der Betrieb unverändert. In unregelmäßigen Abständen kamen die
Raumschiffe, luden auf und ab und starteten wieder zum Rückflug. Und dann, überraschend bald, war Duncan in der Lage, zu sich selbst zu sagen: Noch ein Schiff, und ich hab's überstanden! Und noch schneller und überraschender kam der Tag, an dem er auf der Metallscheibe vor der Wohnkuppel stand, zusah, wie ein Schiff sich vom Boden löste und fauchend im schwarzen Himmel verschwand, und sagen konnte: Dies ist das letzte Mal, daß ich das sehe! Wenn das nächste Schiff von diesem gottverlassenen Felsklumpen startet, dann werde ich an Bord sein, und dann ... Junge, Junge ...! Er beobachtete das Schiff, das bald nur noch ein flackernder Punkt unter vielen anderen war, bis der Horizont des rotierenden Satelliten es seinen Blicken entzog. Dann wandte er sich um, ging zur Luftschleuse hinüber und fand die Tür geschlossen ... Nachdem er einmal zu dem Schluß gekommen war, daß die Sache mit Alan Whint keine Folgen haben würde, hatte er seine Gewohnheit, die Tür mit einem Stück Fels festzuklemmen, aufgegeben. Immer, wenn er hinaus mußte, ließ er sie angelehnt, und so blieb sie, bis er zurückkam. Es gab keinen Wind auf dem Satelliten und kein Lebewesen, das die Tür bewegen konnte. Verwirrt legte er die Hand auf die Klinke und drückte. Sie bewegte sich nicht. Duncan schwor darauf, daß die Tür sich festgeklemmt habe. Er ging an der runden Außenwand der Kuppelhütte entlang bis zu dem großen Fenster des Wohnraumes, um hineinzusehen. Lellie saß in einem Sessel, die Haltedecke über den Knien, und schien in Gedanken versunken zu sein. Die Innentür der Luftschleuse stand offen, die äußere konnte also nicht
bewegt werden. Sowohl die SicherheitsSchnappvorrichtung als auch der Luftdruck in der Hütte hielten sie geschlossen. Ohne daran zu denken, daß es zwecklos sei, klopfte Duncan gegen das dicke Glas des Doppelfensters, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie konnte das Geräusch nicht gehört haben; es mußte sein bewegter Schatten gewesen sein, der sie veranlaßte, aufzublicken. Sie wandte den Kopf und sah zu ihm herüber, ohne sich sonst zu bewegen. Duncan starrte sie an. Ihr Haar war noch gewellt, aber Augenbrauen, Schminke, Puder und Lippenrot, alles, worauf er bestanden hatte, damit sie einer Erdfrau möglichst ähnlich sähe, war verschwunden. Ihre Augen, die unverwandt auf ihn gerichtet blieben, saßen wie zwei kalte Steine in der Maske eingefrorenen Überraschtseins. Die plötzliche Erkenntnis der Wahrheit traf Duncan wie ein körperlicher Schlag. Für mehrere Sekunden war sein Bewußtsein wie ausgelöscht. Dann versuchte er, sich und ihr weiszumachen, daß er die Situation nicht verstanden habe. Durch Gesten forderte er sie auf, die Innentür der Luftschleuse zu schließen. Sie aber starrte ihn weiter mit ihrem leeren Blick an und rührte kein Glied. Dann sah er das Buch, das sie in der Hand hielt, und erkannte es. Es war kein Buch aus der Bibliothek der Station. Es war ein Gedichtband, blau gebunden. Er hatte einmal Alan Whint gehört ... Panische Angst überfiel Duncan. Er sah hinunter auf die Reihe kleiner Luftdruckmesser vor seiner Brust und seufzte erleichtert auf. Sie hatte nicht versucht, seine Luftzufuhr zu stören; es war genug
Druck vorhanden für etwa 30 Stunden. Der Schweiß, der ihm auf die Stirn getreten war, erkaltete, und er gewann wieder die Kontrolle über seine Nerven. Ein Druck auf den Knopf seiner Rückendüse brachte ihn schwebend zurück zur Luftschleuse, wo er seine magnetischen Schuhe wieder anlegte und versuchte, in Ruhe nachzudenken. So ein Luder! Ließ ihn die ganze Zeit in dem Glauben, sie habe alles vergessen. Ließ ihn seine Zeit abarbeiten, während sie ihre Pläne schmiedete. Wartete bis zum letzten Augenblick, um sie auszuführen. Mehrere Minuten vergingen, bis seine Wut und seine Angst sich so weit gelegt hatten, daß er einen klaren Gedanken fassen konnte. 30 Stunden! Eine Menge Zeit, um etwas zu unternehmen. Und selbst wenn es ihm innerhalb 20 Stunden nicht gelingen sollte, in die Hütte zurückzugelangen, dann blieb ihm immer noch die letzte, verzweifelte Möglichkeit, sich in einer der Frachtraketen zur Callisto hinaufzuschießen. Und wenn Lellie später die Geschichte mit Whint wieder aufrühren wollte, war auch nichts zu befürchten. Er war sicher, daß sie nicht wußte, wie er es gemacht hatte. Es würde das Wort eines dummen Marsweibes gegen das seine stehen. Bestimmt würde man sie für raumverrückt erklären. ... Und trotzdem, etwas könnte hängenbleiben. Es war klüger, hier und jetzt mit ihr ins reine zu kommen. Außerdem war die Sache mit den Frachtraketen ziemlich riskant und nur im äußerten Notfall in Betracht zu ziehen. Zunächst mußte er andere Möglichkeiten ausprobieren. Duncan überlegte weiter und schoß sich dann zu
dem kleineren Kuppelbau hinüber. Dort schaltete er die Leitungen ab, die den Strom der von dem Sonnenmotor gespeisten Hauptbatterie heranführten. Jetzt brauchte er nur abzuwarten. Es würde lange dauern, bis die isolierte Kuppel ihre ganze Wärme verlor, doch in ihrem Inneren mußte sehr bald ein merkbarer Temperatursturz erfolgen, wenn der Heizstrom einmal abgeschaltet war. Die kleinen schwachen Batterien, die sich in der Hütte befanden, würden ihr nicht viel helfen, selbst wenn sie auf die Idee kam, sie hintereinanderzuschalten. Er wartete eine Stunde, während die ferne Sonne unterging und der leuchtende Rand der Callisto über dem Horizont auftauchte. Dann ging er zurück zur Wohnhütte und näherte sich dem Fenster, gespannt, welche Wirkung sein Gegenzug gehabt habe. Er kam gerade zurecht, um zu sehen, wie Lellie im Lichte einiger Notlampen ihren Raumanzug anlegte. Er fluchte. Mit dem Ausfrieren war es also nichts. Nicht nur würde der geheizte Anzug sie schützen, auch ihr Luftvorrat würde länger vorhalten als der seine; wenn die freie Luft in der Kuppel zu kalt wurde, stand das ganze Lager an Ersatzluftflaschen zu ihrer Verfügung. Er wartete, bis sie ihren Helm aufgesetzt hatte, und schaltete dann das Radio in seinem eigenen ein. Er sah, wie sie beim Klang seiner Stimme in ihren Bewegungen stockte, doch sie antwortete nicht. Jetzt schaltete sie sogar ihren eigenen Empfänger ab. Er selbst tat es nicht; er ließ ihn eingeschaltet, um bereit zu sein für den Augenblick, da sie wieder zur Vernunft kommen würde.
Duncan ging zurück zu dem magnetischen Metallvorplatz und überlegte von neuem. Es war seine Absicht gewesen, in die Hütte einzudringen, ohne sie zu beschädigen. Wenn er Lellie nicht durch Erfrieren erledigen konnte, dann war dies kaum möglich. Was die Luft anging, so war sie ihm gegenüber im Vorteil, und wenn sie in ihrem Raumanzug weder essen noch trinken konnte, so traf dies auch für ihn zu. Der einzige Weg in die Hütte schien durch die Wand zu führen. Nur sehr widerstrebend ging er zu der kleineren Hütte zurück und stöpselte den elektrischen Schneidbrenner ein. Das Kabel schnellte hinter ihm her, als er wieder zur Wohnhütte zurückschoß. Er stand vor der metallenen doppelwandigen Halbkugel und überlegte, wie er vorgehen müßte, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Wenn er einmal durch die äußere Wand hindurch war, würde er auf das Isolationsmaterial stoßen; dieses würde wegschmelzen wie Butter und auch nicht Feuer fangen in der sauerstofffreien Raumatmosphäre. Schwieriger wurde es schon mit der inneren Metallhülle. Es würde klug sein, zunächst einige Löcher in sie zu bohren, um die Luft entweichen zu lassen. Während dies geschah, mußte er genügend weit zur Seite treten, um in seinem schwerelosen Zustand nicht von dem Luftstrom weggeblasen zu werden. Und wie würde sie reagieren? Nun, wahrscheinlich würde sie versuchen, die Löcher sofort abzudecken, und besonders unangenehm wäre es, wenn sie dazu Asbestplatten verwenden würde; dann bliebe ihm nichts anderes übrig, als den Luftstrom auszuhalten, um schneller zu sein als sie. Die beiden Hüllen konnte er später wie-
der dichtschweißen, bevor er die Kuppel von neuem aus den Reserveflaschen mit Luft füllte. Der geringe Verlust an Isolierung würde nichts schaden. Also, ans Werk! Er verschaffte sich genügend Halt, um dem Gegendruck des Schneidbrenners standhalten zu können. Dann setzte er ihn an und drückte auf den Schalthebel. Er drückte wieder, und dann fluchte er, als er sich erinnerte, daß er den Strom abgeschaltet hatte. An dem Kabel treidelte er zurück zur anderen Hütte und schaltete den Strom wieder ein. Aus den Fenstern der Wohnhütte fiel plötzlich heller Lichtschein auf die nahen Felsen. Er fragte sich, ob der wiedereingeschaltete Strom Lellie verraten würde, was er vorhatte. Und wenn, was würde sie dann tun? Nun, sie würde es ohnehin bald merken. Er ließ sich wieder vor der Hüttenwand auf die Knie nieder, setzte den Schneidbrenner an. Dieses Mal funktionierte er. In wenigen Minuten hatte er ein rundes Stück von etwa einem halben Meter Durchmesser herausgeschnitten. Er bog es zur Seite und untersuchte die Öffnung. Als er den Apparat wieder ansetzen wollte, hörte er in seinem Empfänger ein Klicken, und an seinem Ohr sprach Lellies Stimme: »Versuche nicht, einzubrechen. Ich bin darauf vorbereitet.« Er zögerte und überlegte, welchen Gegenzug sie sich ausgedacht haben konnte. Der drohende Ton in ihrer Stimme bereitete ihm Unbehagen. Er beschloß, zu dem Fenster zu gehen und festzustellen, ob sie nicht vielleicht nur geblufft hatte. Sie stand am Tisch, immer noch im Raumanzug,
und fingerte an einer Vorrichtung herum, die sie sich selbst zusammengebastelt haben mußte. Zunächst konnte er nicht ausmachen, was sie damit bezweckte. Es war eine halbaufgeblasene Plastiktüte, die sie irgendwie am Tisch befestigt hatte. Sie war eben dabei, eine Metallplatte in einem kleinen Abstand über der Tüte aufzuhängen. Auf der Oberseite der Tüte war ein Draht angeklebt. Duncans Blick folgte diesem Draht; er führte zu einer Batterie und dann weiter zu einer Zündkapsel, die in einem Bündel von etwa einem Dutzend Sprengstoffstäben steckte ... Und jetzt verstand er. Es war sehr einfach, was sie sich da ausgedacht hatte, und es konnte seine Wirkung nicht verfehlen. Wenn der Luftdruck in der Kuppel nachließ, würde sich die Tüte ausdehnen, der Draht würde den Kontakt mit der Metallplatte herstellen, und der ganze Bau würde in die Luft gehen ... Lellie befestigte nun auch den zweiten Draht, der von der Metallplatte ausging, an der Batterie. Dann wandte sie sich um und sah ihn vor dem Fenster stehen. Auf ihrem Gesicht lag immer noch der aufreizende Ausdruck kindlicher Überraschung, und es war schwer, zu glauben, daß sie wirklich begriff, was sie tat. Duncan versuchte, zu ihr zu sprechen; doch sie hatte ihr Radio abgeschaltet und machte keine Anstalten, es wieder einzuschalten. Sie stand nur da und sah ihn mit leeren Blicken an, während er wütete und tobte. Nach einer Weile ging sie langsam quer durch den Raum zu einem Sessel, setzte sich, befestigte die elastische Haltedecke über ihrem Schoß und beachtete ihn nicht mehr. »Gut! Wie du willst, du verdammtes Luder!«
brüllte Duncan innerhalb seines Helmes. »Dann gehst du eben mit hoch!« Es war natürlich nur eine leere Drohung blinder Wut, denn er hatte weder die Absicht, die Wohnhütte noch sich selbst in die Luft zu sprengen. Er hatte nie gelernt, genau zu erkennen, was hinter ihrem »blöde staunenden« Gesicht vorging; sie konnte kalt entschlossen sein, das geschehen zu lassen, was sie eingefädelt hatte, vielleicht ging es aber doch über ihre Kräfte. Wenn sie einen Hebel hätte betätigen müssen, um die Kuppel und sie beide zu vernichten, hätte er es vielleicht darauf ankommen lassen, daß sie im letzten Augenblick davor zurückschreckte. Doch jetzt würde er es sein, der im gleichen Augenblick die Explosion auslösen mußte, wenn er ein Loch in die innere Wand bohrte und die Luft ausströmte. Wieder zog er sich zurück auf die Metallplatte, um sich durch seine Magnetschuhe einen besseren Halt zu verschaffen und in Ruhe zu überlegen. Er mußte einen Weg finden, in die Hütte zu gelangen, ohne die Luft herauszulassen. Er dachte lange nach; doch wenn es einen solchen Weg gab – er fiel ihm nicht ein. Außerdem, wer garantierte ihm, daß sie ihre Höllenmaschine nicht selbst einschaltete, wenn sie befürchtete, daß er sie überlisten könnte? Nein, es blieb ihm keine andere Wahl; er mußte es mit der Frachtrakete versuchen. Er blickte hinauf zur Callisto, die jetzt riesig am Himmel hing, und über ihr, kleiner, doch heller, Jupiter. Es war nicht der Flug selbst, der ihm Kopfschmerzen bereitete, es war die Landung. Vielleicht konnte er den Aufprall gut überstehen, wenn er ge-
nügend Material fand, um die Rakete innen auszupolstern. Später würden ihn die Männer der Callisto in ihrer Fähre hierher zurückbringen. Mit ihrer Hilfe würde er schon einen sicheren Weg in die Wohnhütte ausfindig machen, und dann hätte Lellie endlich einen guten Grund, ein erstauntes Gesicht zu machen. Am hinteren Rand der Landefläche lagen drei Frachtraketen, mit Treibstoff versehen und fertig zum Gebrauch. Er machte keinen Hehl daraus, daß er vor der Landung Angst hatte, aber wenn sie nicht einmal ihr Radio einschaltete, um ihn anzuhören, dann blieb ihm keine andere Wahl. Und noch länger abzuwarten, war nicht ratsam. Er legte seine Magnetschuhe ab, trat von der Metallscheibe und schoß sich über den Platz zu den Frachtraketen hinüber. Bald hatte er die zunächst liegende auf die Abschlußrampe geschafft. Ein Blick auf die Callisto zeigte ihm, daß sie in einer günstigen Position war und er sie sicher erreichen würde. Wenn sie drüben auch ihren Richtstrahl nicht eingeschaltet hatten, konnte er doch die Radioverbindung mit ihnen aufnehmen, wenn er näher herangekommen war, und sich zur Landung einweisen lassen. Es war nicht sehr viel Polstermaterial in der Rakete. Er trug einiges aus den anderen Raketen heran und füllte den leeren Laderaum damit aus; so konnte auch ein sehr starker Aufprall ihn nicht ernstlich gefährden. Während er überlegte, wie er die Rakete abschießen könnte, nachdem er eingestiegen war, spürte er, daß ihm kalt wurde. Er griff nach dem Schaltknopf, um die Heizung seines Raumanzuges stärker zu stellen, und als er gleichzeitig einen Blick auf das Voltmeter an seinem Gürtel warf, wußte er,
daß er verloren war. Sie hatte damit gerechnet, daß er nur seine Luftflaschen kontrollieren würde, und war auf den teuflischen Gedanken verfallen, seine Heizbatterie auf irgendeine Weise zu entladen oder stillzulegen. Die Spannung war so schwach, daß die Nadel kaum noch ausschlug. Der Anzug mußte schon seit geraumer Zeit Wärme verlieren. Er wußte, daß er nicht mehr lange durchhalten konnte, vielleicht nicht mehr als ein paar Minuten. Die Todesangst, die ihn befiel, wich bald einer ohnmächtigen Wut. Sie hatte ihn überlistet, hatte ihm die letzte Chance zum Überleben genommen – nun, daran war nichts mehr zu ändern, aber, beim Himmel, er konnte verhindern, daß sie ungestraft davonkam. Er würde dran glauben müssen, aber nur ein kleines Loch in der Innenwand der Kuppel, und sie ging mit ihm ... Er erschauerte. Die Kälte schien wie mit Eisfingern durch den Anzug hindurch nach ihm zu greifen. Er drückte auf den Knopf seiner Rückendüse, die ihn taumelnd zur Wohnhütte zurückbeförderte. Die Kälte fraß sich in ihn hinein. Seine Füße und seine Hände begannen zu erstarren. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er die Bremsdüse betätigen, kurz bevor er gegen die Wohnhütte prallte. Doch er war nicht nahe genug herangekommen. Er hing etwa einen Meter über dem Boden. Der Schneidbrenner lag noch an der Stelle, wo er die Außenwand aufgeschnitten hatte, nur wenige Zentimeter außerhalb seiner Reichweite. Verzweifelt versuchte er, die Düse noch einmal in Betrieb zu setzen, die ihn nach unten drükken sollte, doch seine Finger wollten sich nicht mehr bewegen. Stöhnend, fluchend, weinend vor Wut be-
mühte er sich vergeblich, die Hand an den Knopf zu bringen. Die Kälte hatte auch seine Arme gelähmt. Und plötzlich verspürte er einen brennenden Stich in der Brust, der ihn aufschreien ließ. Er glaubte, erstikken zu müssen, atmete tief ein ... und die eisige Luft strömte in seine Lungen, ließ sie im gleichen Augenblick erfrieren ... Im Wohnraum der Kuppelhütte stand Lellie reglos und wartete. Sie hatte die Gestalt im Raumanzug mit anomaler Geschwindigkeit über den Platz heranschießen sehen. Sie begriff sofort, was dies zu bedeuten hatte. Ihre Höllenmaschine hatte sie bereits unschädlich gemacht. Sie stand in der Nähe der Außenwand, in den Händen eine dicke Gummimatte, bereit, sie über jedes Loch zu decken, das sich zeigen würde. Sie wartete eine Minute, zwei Minuten ... Als fünf Minuten vergangen waren, trat sie zum Fenster. Das Gesicht gegen die Scheibe drückend und nach der Seite schauend, sah sie hinter der Rundung der Metallkuppel zwei Beine in einem Raumanzug hervorragen. Sie schwebte horizontal etwa einen Meter über dem Boden. Sie beobachtete sie. Ihre langsame Abwärtsbewegung war kaum zu erkennen. Sie trat vom Fenster zurück, ließ die Gummimatte los und schob sie zur Seite, so daß sie wie ein fliegender Teppich durch den Raum segelte. Mit hängenden Armen stand sie eine Weile da und starrte vor sich hin. Dann ging sie zu dem Bücherregal und zog den letzten Band des Lexikons heraus, setzte sich an den Tisch, schlug den Buchstaben »W« auf, suchte das Wort »Witwe« und las sorgfältig mehrere Male, was dort an Rechten und Erbansprüchen aufgeführt war. Lange saß sie, einen Bleistift in der Hand, vor ei-
nem Schreibblock und rief sich ins Gedächtnis zurück, was sie an Buchführung gelernt hatte. Dann begann sie, Zahlen niederzuschreiben. Als sie ihre Rechnung beendet hatte und den Kopf hob, war keine Veränderung in ihren Zügen vor sich gegangen, obwohl fünfmal 5000 Pfund, zuzüglich sechs Prozent aufgelaufener Zinsen und Zinseszinsen einen Betrag ergaben, der für einen Marsmenschen ein Vermögen darstellte. Auch als sie dann in einem plötzlichen Einfall von der Endsumme die Zahl 2360 abzog, änderte sich der Ausdruck leichter Überraschung in ihrem Gesicht nicht.
Originaltitel: DUMB MARTIAN
Arthur C. Clarke DIE NEUN MILLIARDEN NAMEN GOTTES »Dies ist ein etwas ungewöhnliches Anliegen«, sagte Dr. Wagner mit der ihm als geboten erscheinenden Zurückhaltung. »Soweit ich informiert bin, ist dies das erste Mal, daß jemand aus unserer Branche den Auftrag erhalten hat, einen automatischen ReihenKalkulator an ein tibetanisches Lama-Kloster zu liefern. Ich möchte nicht indiskret sein, doch ich kann mir schlecht vorstellen, daß Ihre ... äh ... Institution viel Verwendung für eine solche Maschine hat. Könnten Sie mir erklären, was Sie damit zu tun gedenken?« »Mit großem Vergnügen«, erwiderte der Lama, legte behutsam den Rechenschieber nieder, den er zur Umrechnung des Währungskurses benutzt hatte, und strich die weiten Ärmel seines seidenen Gewandes glatt. »Ihr Mark-V-Varianten-Kalkulator ist in der Lage, jede mögliche Kombination mit Zahlen bis zu zehn Stellen durchzuführen. Für unser Vorhaben kommen jedoch Buchstaben in Frage, keine Ziffern. Da wir Sie gebeten haben, die Typen der Schreibmaschine, die die Resultate wiedergibt, entsprechend zu ändern, wird sie uns Worte liefern und nicht Zahlenkolonnen.« »Ich verstehe nicht ganz ...« »Es handelt sich um eine Aufgabe, an deren Lösung wir seit drei Jahrhunderten, seit der Gründung unseres Klosters arbeiten. Die Sache mag für Ihre Oh-
ren etwas fremd klingen, und deshalb möchte ich Sie bitten, aufmerksam und unvoreingenommen zuzuhören, während ich sie Ihnen zu erklären versuche.« »Äh ... selbstverständlich!« »Im Grunde ist das Ganze sehr einfach. Wir stellen eine Liste zusammen, die alle möglichen Namen Gottes enthalten soll.« »Wie bitte?« »Wir haben Gründe, anzunehmen«, fuhr der Lama unerschüttert fort, »daß alle diese Namen mit den neun Buchstaben eines Alphabets geschrieben werden können, das wir entworfen haben.« »Und das haben Sie drei Jahrhunderte lang getan?« »Ja. Inzwischen haben wir ausgerechnet, daß wir 15 000 Jahre brauchen würden, um unsere Aufgabe zu vollenden.« »Oh!« Dr. Wagner konnte seine Verblüffung nicht verbergen. »Jetzt verstehe ich, warum Sie eine unserer Maschinen mieten wollen. Doch was ist der Zweck dieses Unternehmens?« Der Lama zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, und Dr. Wagner befürchtete, daß er ihn verletzt habe. Wenn dem so war, dann ließ der Lama in seiner Antwort nichts davon merken. »Sie mögen es für ritualistisch, für äußerlich halten, doch es ist ein fundamentaler Bestandteil unseres Glaubens. Alle die vielen Namen des höchsten Wesens, wie Jehovah, Gott, Allah usw., sind nur von Menschen erfundene Bezeichnungen. Hier liegt ein philosophisches Problem von letzter Bedeutung vor, das ich hier nicht erörtern möchte; doch unter sämtlichen möglichen Kombinationen unserer neun Buchstaben müssen auch jene Worte vorkommen, die den
wahren Namen Gottes darstellen. Durch die systematische Permutation der Buchstaben haben wir versucht, sie alle zu erfassen.« »Ich verstehe. Sie haben mit AAAAAAAAA begonnen und wollen dies fortsetzen bis zum ZZZZZZZZZ ...« »Ja, so ungefähr, obwohl wir natürlich unser eigenes Alphabet benützen. Die elektromatischen Schreibmaschinen auf dieses Alphabet umzustellen, dürfte leicht sein. Ein schwierigeres Problem stellt es schon dar, den Umlauf des Rechenautomaten so zu regulieren, daß keine überflüssigen, ich möchte sagen, lächerlichen Kombinationen entstehen. So soll z.B. ein Buchstabe nie mehr als dreimal hintereinander erscheinen.« »Dreimal? Sie meinen sicher zweimal.« »Nein, ich meine dreimal. Ich fürchte, es würde zu lange dauern, Ihnen zu erklären, warum, selbst wenn Sie unsere Sprache verstehen würden.« »Das befürchte ich auch«, sagte Dr. Wagner beflissen. »Fahren Sie nur fort.« »Glücklicherweise wird es einfach sein, Ihren Automaten-Reihen-Kalkulator für diese Arbeit einzuspannen, denn wenn er einmal richtig programmiert ist, wird er alle Buchstaben nacheinander permutieren und die Resultate selbst aufschreiben. Wozu wir 15 000 Jahre gebraucht hätten, das werden wir mit ihm in 100 Tagen erledigen können.« Dr. Wagner war sich kaum der schwachen Geräusche bewußt, die aus Manhattans Straßenschluchten heraufklangen. Er fühlte sich in eine andere Welt versetzt, in eine Welt natürlicher, nicht von Menschen geschaffener Berge. Hoch oben in ihren Bergklöstern
hatten diese Mönche geduldig, Generation auf Generation, daran gearbeitet, Listen von sinnlosen Worten zusammenzustellen. Gab es eine Grenze für die Torheit der Menschen? Doch er mußte seine geheimen Gedanken für sich behalten. Der Kunde hat immer recht ... »Sicher ist es möglich«, erwiderte Dr. Wagner, »die Mark V so einzustellen, daß sie solche Listen liefert. Mehr Kopfzerbrechen macht mir die Frage des Transports und der Überwachung und Instandhaltung. Nach Tibet hinaufzukommen, ist auch heute noch keine leichte Sache.« »Daran haben wir gedacht. Die Einzelteile der Maschine sind klein genug, um per Luft befördert zu werden; dies ist auch der Grund, weshalb wir Ihr Fabrikat gewählt haben. Wenn Sie die Teile bis Indien bringen, werden wir für den Weitertransport sorgen.« »Und Sie möchten zwei unserer Ingenieure engagieren?« »Ja, für die drei Monate, die das Vorhaben in Anspruch nehmen wird.« »Ich bin sicher, daß unser Personalbüro das arrangieren kann.« Dr. Wagner kritzelte eine Notiz auf seinen Block. »Da wären noch zwei andere Punkte ...« Bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte der Lama ein kleines Stück Papier zum Vorschein gebracht. »Dies ist mein beglaubigter Kreditbrief der Asiatischen Bank.« »Oh, danke sehr! Das ... äh ... genügt. Der zweite Punkt ist so banal, daß ich zögere, ihn zu erwähnen; doch es ist erstaunlich, wie oft man die selbstverständlichsten Dinge übersieht. Was haben Sie an
elektrischer Energie zur Verfügung?« »Ein Diesel-Aggregat, das 50 Kilowatt von 110 Volt Spannung liefert. Es ist vor fünf Jahren installiert worden und arbeitet sehr zuverlässig. Wir erzeugen auch Licht damit; das macht das Leben im Kloster angenehmer. Doch angeschafft haben wir es natürlich, um den Strom für die Motoren zu erzeugen, die unsere Gebetsmühlen treiben.« »Natürlich«, antwortete Dr. Wagner, »darauf hätte ich selber kommen müssen.« Die Aussicht über die Brüstung, die das Felsplateau abschloß, war schwindelerregend, doch mit der Zeit gewöhnt sich der Mensch an alles. Jetzt, nach drei Monaten, war George Hanley unempfindlich geworden gegen den Blick in den 500 Meter tiefen Abgrund, in den der Felsen steil abfiel, oder auf das Schachbrett der Felder, das die Ebene zu seinen Füßen scheinbar endlos bedeckte. Lässig gegen den vom Wind geglätteten Stein gelehnt, starrte er verdrossen über das Tal hinweg auf die fernen Berge, deren Namen zu erfahren er sich bis jetzt nicht die Mühe gemacht hatte. Dieser Job, dachte George, war das Verrückteste, das er je erlebt hatte. »Unternehmen Kauderwelsch« hatte ein Witzbold zu Hause diesen Auftrag getauft. Seit Wochen spie die Mark V nun Meilen von Papierstreifen aus, die mit sinnlosen Buchstabenzusammenstellungen bedeckt waren. Geduldig und unerbittlich ordnete die Maschine die neun tibetanischen Lettern in sämtlichen möglichen Kombinationen, immer wieder von vorn beginnend, wenn eine Variationsreihe beendet war. Und unermüdlich nahmen die Mönche
die aus dem elektromatischen Schreiber hervorquellenden Bänder in Empfang, schnitten sie sorgfältig in gleich lange Stücke und klebten sie in große Folianten ein. In einer Woche, dem Himmel sei Dank, würde der Apparat die ihm gestellte Aufgabe bewältigt haben. Welche dunklen Überlegungen die Mönche davon abhielten, diese Operation auf zehn, 20 oder 100 Buchstaben auszudehnen, das wußte George nicht. Er lebte unter dem ständigen Alpdruck, daß der Plan doch noch in letzter Minute geändert würde und daß der höchste Lama, den sie »Old Sam« nannten, ihnen plötzlich eröffnete, das Projekt sei erweitert worden und würde ungefähr bis zum Jahre 2060 dauern. Es war ihnen zuzutrauen. George hörte das schwere Holztor hinter sich zuschlagen, und Chuck trat neben ihn an die Brüstung. Chuck rauchte wie üblich eine seiner Zigarren, die ihn im Kloster so beliebt machten. Denn die Mönche schienen den kleinen und auch den meisten der größeren Annehmlichkeiten nicht abhold zu sein. Dies war etwas, das zu ihren Gunsten sprach; sie mochten verrückt sein – Kostverächter waren sie nicht. Dafür zeugten z.B. auch ihre häufigen, nächtlich-heimlichen Ausflüge in das Dorf, das am Fuße des Felsens lag. »Hör zu, George«, sagte Chuck aufgeregt, »ich habe etwas erfahren, das Ärger bedeutet.« »Was ist los? Panne in der Maschine?« Dies war die schlimmste aller Möglichkeiten, die George sich vorstellen konnte. Es würde ihre Heimkehr verzögern, und nichts konnte für ihn gräßlicher sein. In der Gemütsverfassung, in der er sich befand, hätte er jetzt selbst eine Fernseh-Werbesendung wie Manna vom Himmel genossen; sie wäre wenigstens ein Stück
Heimat gewesen. »Nein, nichts dergleichen.« Chuck setzte sich auf die Mauer, was sehr ungewöhnlich war, denn bisher hatte er immer Angst gehabt, hinunterzufallen. »Ich habe herausgefunden, was der ganze Rummel hier bedeutet.« »Wie meinst du das? Ich denke, das wüßten wir.« »Sicher, wir wissen, was die Mönche wollen. Aber wir wußten nicht, warum. Es ist die verrückteste Geschichte ...« »Wem sagst du das?« brummte George. »Old Sam hat mir soeben reinen Wein eingeschenkt. Du weißt doch, daß er jeden Nachmittag hereinkommt, um eine Weile stumm zu beobachten, wie die Streifen aus der Maschine herausflattern. Nun, heute erschien er mir ein bißchen aufgekratzt, soweit das bei ihm überhaupt möglich ist. Als ich ihm sagte, daß wir bei der letzten Variantenreihe seien, fragte er mich in seinem ulkigen Englisch, ob ich mich niemals gewundert hätte, warum sie das eigentlich machten. Ich erwiderte: ›Sicher‹, und er sagte es mir.« »Schieß los! Ich bin auf alles gefaßt.« »Nun, sie glauben, wenn sie alle Namen Gottes in ihren Büchern hätten – und sie rechnen, daß es ungefähr 9 Milliarden sind –, dann wäre der Wille des Schöpfers erfüllt. Die menschliche Rasse hätte damit vollendet, wozu sie geschaffen war, und es bestünde kein Grund mehr für sie, weiterzuexistieren.« »Und was erwarten sie von uns, das wir dann tun sollen? Uns umbringen?« »Das wird nicht nötig sein. Wenn die Listen vollständig sind, dann tritt Gott in Aktion und räumt auf
... Tableau!« »Aha, ich verstehe. Wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind, geht die Welt unter.« Chuck kicherte nervös. »Genau das habe ich zu Old Sam gesagt. Und weißt du, wie der reagiert hat? Er hat mich angeschaut wie einen Schuljungen, der eine dumme Frage gestellt hat, und sagte: ›Nichts ist natürlicher als dies.‹« George dachte eine Weile nach. »Das nenne ich, die Dinge von höchster Warte sehen«, sagte er dann. »Doch was glaubst du, was wir jetzt tun sollen? Ich sehe keinen Grund zur Aufregung. Daß sie verrückt sind, haben wir schon immer gewußt.« »Ja, aber siehst du denn nicht, was uns passieren kann? Wenn die Listen fertig sind und dann die Posaunen des Letzten Gerichts nicht ertönen – oder was sie sonst erwarten –, dann werden sie uns die Schuld geben. Es ist unsere Maschine, die sie benutzen. Mir gefällt die Sache ganz und gar nicht.« »Ich verstehe«, sagte George langsam. »Da ist etwas dran. Aber so etwas ist schon oft passiert, mußt du wissen. Ich erinnere mich, als ich ein Kind war, hatten wir in Louisiana einen Dummkopf, der predigte, daß am nächsten Sonntag die Welt untergehen würde. Hunderte Menschen glaubten ihm, verkauften sogar ihre Häuser. Als dann nichts geschah, wurden sie keineswegs auf ihren falschen Propheten böse. Sie kamen zu dem Schluß, daß er sich nur im Datum geirrt hatte und glaubten weiter an ihn. Ich schätze, einige von ihnen tun es heute noch.« »Ja, aber hier ist nicht Louisiana, wenn du es noch nicht gemerkt haben solltest. Wir beide sind hier al-
lein unter Hunderten von diesen Mönchen. Ich mag sie gern, und Old Sam wird mir leid tun, wenn sein Lebenswerk platzt. Trotzdem wünschte ich, ich wäre anderswo.« »Das wünsche ich mir schon seit Wochen. Doch wir können nichts unternehmen, bevor unser Kontrakt abgelaufen ist und das Flugzeug kommt, um uns abzuholen.« »Vielleicht«, meinte Chuck nachdenklich, »können wir versuchen, mit ein bißchen Sabotage nachzuhelfen.« »Den Teufel werden wir! Das würde die Sache nur noch schlimmer machen.« »Nicht, wenn wir tun, was ich mir ausgedacht habe. Paß mal auf! Die Maschine wird in vier Tagen mit dem letzten Zyklus zu Ende sein, wenn sie wie bis jetzt 24 Stunden am Tag läuft. Das Flugzeug kommt in einer Woche. Wir müssen also nur bei der nächsten Überholpause etwas finden, das eine Reparatur nötig macht, etwas, das die Arbeit um ein paar Tage verzögert. Wir werden die Maschine natürlich wieder in Ordnung bringen, aber nicht zu schnell. Wenn wir die Zeit genau berechnen, können wir unten auf dem Flugplatz sein, wenn der letzte Namen aus dem Kasten springt. So werden sie das Nachsehen haben, falls es ihnen einfällt, sich an uns rächen zu wollen.« »Der Gedanke gefällt mir nicht«, erwiderte George. »Es wäre das erste Mal, daß ich eine Arbeit im Stich lasse. Außerdem würde sie das erst recht argwöhnisch machen. Nein, ich bleibe und warte ab, was kommt.« »Die Sache gefällt mir immer noch nicht«, sagte er
sieben Tage später, als sie auf den zähen Bergponys den steilen, gewundenen Pfad hinunterritten. »Und glaube ja nicht, daß ich weglaufe, weil ich Angst habe. Mir tun nur die armen Burschen dort oben leid, und ich möchte nicht dabei sein, wenn sie entdecken, was für Narren sie gewesen sind. Wissen möchte ich nur, wie Old Sam es hinnehmen wird.« »Es ist ulkig«, erwiderte Chuck, »doch als ich mich von ihm verabschiedete, hatte ich den Eindruck, er verstünde, daß wir ihn sitzen ließen, machte sich aber nichts daraus, weil er wußte, daß die Maschine ordnungsgemäß lief und ihre Arbeit bald vollendet haben würde. Hinterher ... nun, für ihn gibt es eben kein Hinterher ...« George drehte sich im Sattel halb um und schaute zurück, den Pfad hinauf. Hier war die letzte Stelle, von der aus man einen freien Blick auf das LamaKloster hatte. Die niederen, eckigen Gebäude zeichneten sich scharf gegen die Abendröte ab. In ihren Mauern glühten vereinzelte Lichtpunkte wie die Bullaugen eines Ozeandampfers. Es waren die elektrischen Birnen, die ihren Strom mit der Mark V teilten. Wie lange noch, fragte sich George. Würden die Mönche die Rechenmaschine in ihrer Wut und Enttäuschung zertrümmern? Oder würden sie sich ruhig hinsetzen und ihre Riesenarbeit von vorn beginnen? Er wußte genau, was in diesem Augenblick auf dem Berge geschah. Der höchste Lama und seine Assistenten saßen in ihren seidenen Gewändern am Boden und sahen zu, wie die jüngeren Mönche die beschriebenen Papierstreifen der Maschine entnahmen, sie zerschnitten und Blatt für Blatt in die großen Bände einklebten. Keiner sprach ein Wort. Das einzige
Geräusch war das ununterbrochene Klappern der Tasten des automatischen Schreibers, die wie ein nicht endenwollender Regenschauer auf das Papier niederprasselten. Denn die Mark V selbst blieb vollkommen stumm, während sie Tausende von Operationen in der Sekunde durchführte. Und das drei Monate lang, dachte George, genug, um den stärksten Menschen die Wände hochgehen zu lassen. »Da ist sie!« rief Chuck und zeigte hinunter ins Tal. »Ist sie nicht wunderbar?« Sicher war sie das, dachte George. Die alte verwitterte DC 3 lag wie ein winziges, silbernes Kreuz am Ende der Startbahn. In zwei Stunden würden sie von ihr davongetragen werden, zurück in Bezirke der Freiheit und des gesunden Menschenverstandes. Es war ein Gedanke, wert, genossen zu werden wie ein guter Tropfen. George schlürfte ihn, während das Pony geduldig den Berg hinuntertrottete. Die Nacht kommt schnell im hohen Himalaja, und bald war es dunkel. Glücklicherweise war der Weg gut, was man so »gut« nennt in dieser Gegend, und sie trugen beide eine Fackel. Sie fühlten sich außer jeder Gefahr; nur die Kälte wurde immer schärfer. Der Himmel war vollkommen klar, und über ihnen funkelten die vertrauten Sternbilder. Bei diesem Wetter würde der Pilot keine Schwierigkeiten mit dem Start haben, dachte George. Das war nämlich seine einzige Sorge gewesen. Er begann zu singen, gab es aber bald wieder auf. Das urweltliche Panorama der Berge, die wie weißbemützte Geister von beiden Seiten auf sie herunterstarrten, ließ keine übermütige Stimmung aufkommen. George warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»In einer Stunde dürften wir unten sein«, rief er über die Schulter Chuck zu. Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Ob die Mark V schon Schluß gemacht hat? Um diese Zeit ist der letzte Ausstoß fällig.« Chuck antwortete nicht, und George drehte den Kopf nach hinten. Er sah gerade noch Chucks Gesicht, ein weißes Oval, gegen den Himmel gerichtet. »Sieh!« flüsterte Chuck, und George hob die Augen zum Firmament. Alles tut der Mensch irgendwann zum letzten Mal. Über ihren Köpfen verlöschten lautlos die Sterne.
Originaltitel: THE NINE BILLION NAMES OF GOD
J. T. McIntosh FIRST LADY Wir waren nur noch wenige Stunden vom Lotrin entfernt, und während ich Shirley und Ellen ansah, fragte ich mich, ob es uns gelänge, die Angelegenheit rechtzeitig ins reine zu bringen. Es war keine Sache, bei der es um Leben und Tod ging; wahrscheinlich würde keiner von uns sterben müssen, wie die Geschichte auch ausgehen mochte. Es gab natürlich den Ausweg, daß wir alle drei Selbstmord begingen. Doch das traute ich keinem von uns zu, selbst Shirley nicht, auch wenn sie gewußt hätte, was wir wußten. Selbstmord ist nie eine Lösung, er ist bestenfalls ein Kompromiß. Wir saßen nicht nur da und sahen einander an. Wir redeten miteinander. Große Worte wurden gesprochen, begleitet von dramatischen Gesten. Ellen war es, die das meiste sagte, jetzt, da sie gezwungen war, sich wieder dafür zu interessieren, was vorging. Shirley war nie sehr gesprächig, und ich verstand mich besser aufs Zuhören. Nebenbei gesagt, das Problem ging weniger Ellen als Shirley und mich an, aber oft reden die Leute am meisten, die am wenigsten betroffen sind. Ich bin eine jener gelassenen Naturen, die, wenn sie einmal in einer Patsche sitzen, zunächst versuchen, zu verstehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ich ließ mir also, während Ellen redete, die ganze Geschichte unseres Abenteuers mit Shirley noch einmal durch den Kopf gehen, beginnend mit
unserer ersten Begegnung auf der Erde. Sie wußte, daß wir kamen und erwartete uns, so daß wir keine Chance hatten, sie unbemerkt beobachten zu können. Schon als wir abfuhren, war Ellen, wie übrigens meistens, in gereizter Stimmung, und da sie Ellen war, ließ sie es sich angelegen sein, mich unterwegs über die Verschlechterung ihrer Laune durch Kommentare über die Fragwürdigkeit unserer Mission auf dem laufenden zu halten. Sie saß am Steuer, die Augen auf die Fahrbahn gerichtet, und sprach ihre gelegentlichen kurzen Bemerkungen gegen die Windschutzscheibe. »Schließlich sind wir ja keine Kindermädchen«, stellte sie sarkastisch fest. »Jeder andere hätte das erledigen können«, murmelte sie später. »Nie haben wir etwas zu tun gehabt, das mir mehr zuwider gewesen wäre«, bekannte sie schließlich mit herabgezogenen Mundwinkeln. Hierin stimmte ich ihr zu, wenn auch nur im stillen. Wir waren Agenten des Welt-Kontroll-Dienstes und hatten einen Auftrag zu erledigen, den irgend jemand erledigen mußte; daß man ihn uns gegeben hatte, war unser Pech. An sich war es ein einfacher Auftrag, eher langweilig, eine Tatsache, auf die sich Ellens Beschwerde bezog, daß wir keine Kindermädchen seien. Doch war es nicht die vor uns liegende leichte und uninteressante Arbeit, die uns verdroß, sondern daß wir genau wußten, worin sie bestehen würde. Wir waren vom WKD oft zu Missionen ausgeschickt worden, bei denen wir nicht wußten, was uns erwartete, und wir hatten das nicht sehr geschätzt. Dieses Mal wußten wir im voraus, was wir
zu tun hätten, und das schätzten wir noch weniger. »Es gibt wichtigere Dinge für uns zu erledigen, als ein ausgewachsenes Schulmädchen zum Lotrin zu bringen«, murrte Ellen. In ironischem Ton zitierte ich einige Passagen aus den Radiokommentaren. »Doch was für ein Mädchen!« rief ich pathetisch aus. »Welch ein Leben liegt vor ihr! Welche Memoiren wird sie eines Tages schreiben können!« »Spare dir deine Sprüche auf für das große galaktische Publikum«, unterbrach sie mich schnippisch. »Sie ist ein ganz alltägliches Mädel, und man hat sie genommen, eben weil sie alltäglich, normal, durchschnittlich und typisch ist.« Wir fuhren am Gartentor des Kleinstadthäuschens vor, in dem die zukünftige First Lady des Lotrin wohnte. Ellen hielt in ihrer üblichen Art, mit dem Knirschen vier blockierter Räder. Sie wartete nicht auf mich, sprang heraus und stampfte schon durch den Kies des Gartenweges auf das Haus zu, während ich noch aus dem nachzitternden Wagen kletterte. Zunächst dachten wir, es sei niemand zu Hause, und Ellen sagte schon naserümpfend etwas von kalten Füßen. Doch als wir um das Haus herumgingen, erblickten wir sie. Sie aber tat so, als sähe sie uns nicht. Sie lag malerisch in einem Gartensessel, bekleidet mit einem Spielanzug, in ein Buch vertieft. »Nur um zu zeigen, wie wenig sie durch unser Kommen beeindruckt ist«, sagte Ellen. Dieses Mal hatte Ellen unbestreitbar recht. Shirley Wynsome – wir hatten Bilder von ihr gesehen, und sie war es – war ein gutaussehendes Mädchen. Sie war hübsch, nicht schön, und in einigem wichen ihre
Maße beträchtlich ab von den geltenden Normen weiblicher Vollkommenheit, doch es war nichts an ihr, was eine Million Männer davon hätte abhalten können, sich in sie zu verlieben. Und Ellen flüsterte prompt: »Wegen ihrer Schönheit hat man sie bestimmt nicht ausgesucht.« Ich warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Warum können Frauen es nicht unterlassen, überflüssige Werturteile über das Aussehen ihrer Geschlechtsgenossinnen abzugeben? Es sollte sich ja schließlich nicht eine Million Frauen in Shirley verlieben. Wir traten näher und stellten uns vor. Shirley schob den Augenblick, da sie zugeben mußte, uns gesehen zu haben, unhöflich lange hinaus, und die Unterhaltung, in die sie sich dann gnädig mit uns einließ, war betont beiläufig und betraf auch zunächst nicht den Grund unseres Besuches. Auch wir sahen keinen Anlaß, uns zu verbeugen und unser Vergnügen auszudrücken, die First Lady des Lotrin kennenzulernen. Im Gegenteil, wir taten alles, um sie gleich von vornherein auf den richtigen Platz zu verweisen. Vor allem Ellen ließ sich dies angelegen sein. Ellen sieht immer aus, wie dem Modealbum entstiegen, und ich kann von mir in aller Bescheidenheit sagen, daß ich schlechter aussehende Männer von fünfunddreißig gesehen habe. Shirley war eine sehr jung wirkende Einundzwanzigerin, und deshalb war ihr kurzhosiger Spielanzug, wie Ellen ihr bald, ohne ein Wort zu sagen, mehr als deutlich zu verstehen gab, ein doppelter Fehler. In ihrem Alter einen Spielanzug zu tragen, war schon schlimm; das Ding aber, das sie trug, war eine Katastrophe. Innerlich zitterte sie natürlich vor Erregung; das
sah man ihr trotz ihrer vorgetäuschten Gleichgültigkeit an. Ihre Nasenflügel waren weiß, sie atmete schnell und geräuschvoll, und es war nicht zu überhören, daß sie um zwei Töne höher sprach als sonst. Doch das hätte man ihr verzeihen können, nicht aber den Spielanzug. Sie hatte ihn angezogen, um zu zeigen, daß sie vollkommen Herrin der Situation sei und nicht im mindesten beeindruckt durch die Feierlichkeit der Stunde und daß sie nicht die geringste Angst vor uns habe. Sie erreichte damit so ziemlich das Gegenteil. Wir übersahen die Nervosität ihrer Hände und ihres Gesichtes: unsere Blicke wurden gefangen von dem schreienden Gegensatz zwischen ihrem Körper und seiner Bekleidung; die weißen, gekräuselten Höschen, mit denen sie ihre Unbefangenheit und Reife demonstrieren wollte, zeugten nur für ihre kindliche Naivität. Und wenn wir hätten gemein sein wollen, wozu Ellen in solchen Fällen immer bereit war, brauchten wir nur einen Blick auf Shirleys Beine oder Busen zu werfen und dann mit einem mokanten Lächeln wegsehen, um zu zeigen, daß wir diese Zurschaustellung geschmacklos fanden, ohne dem Mädchen Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Nun, ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, aber man kann sich ungefähr vorstellen, wie peinlich die Situation war. Und Ellen tat ihr möglichstes, sie für Shirley noch peinlicher zu machen. Ich versuchte, sie zu bremsen, aber Ellen zu bremsen, wenn sie einmal in Fahrt ist, hat noch niemand fertiggebracht. Besonders nicht, wenn es sich darum handelte, einem anderen Menschen den letzten Rest von Selbstbewußtsein zu nehmen.
Und als sie das arme Mädchen so weit hatte, daß es jeden Augenblick in Tränen ausbrechen konnte, sagte Ellen mit unerwartet heiterer Stimme zu mir: »So, Joe! Jetzt kannst du ein wenig spazierengehen«, und deutete mit einer unmißverständlichen Kopfbewegung auf den hinteren Teil des Gartens. Gehorsam trollte ich mich davon. Ich machte halt hinter einem Strauch, wo ich die beiden zwar noch sehen, aber nicht hören konnte. Es ist eine merkwürdige Sache mit Ellen, daß die Menschen sie nicht hassen, obwohl man annehmen sollte, daß sie es müßten. Andere bemühen sich eifrig um Zuneigung und erlangen sie nicht: Ellen scheint alles zu tun, um gehaßt zu werden, doch sie erreicht damit das Gegenteil. Sie ging sehr behutsam mit Shirley um, wie ich beobachten konnte, berührte sie zunächst nicht einmal. Dann aber lagen sie einander in den Armen mit jener Plötzlichkeit, wie sie nur bei Frauen möglich ist. Jetzt weinte Shirley natürlich. Ihre weißen Schultern und ihr haselnußbraunes Haar vermischten sich mit dem Blau von Ellens Kleid, und nackte Arme verschlangen sich mit ellbogenlangen Stulpenhandschuhen. Mit einem Kloß im Hals wandte ich mich ab. Bei der nächsten Phase unseres Auftrages hatte ich so gut wie nichts zu tun. Shirley sah ich überhaupt nicht, denn sie verbrachte den größten Teil der folgenden zwei Monate in Büstenhalter und Höschen oder ohne beides und wurde befühlt und betastet von Ärzten, geknetet und gerieben von Masseuren, gedrillt und trainiert von Anstands- und Gymnastiklehrern, und immer wieder untersucht und getestet; und zwi-
schendurch schlüpfte sie zur Anprobe in unzählige neue Kleider, Blusen, Röcke, Hosen und was es sonst noch an weiblicher Ober- und Unterkleidung gibt. Man sollte glauben, daß Kleider für die First Lady des Lotrin keine große Bedeutung hätten, die buchstäblich als erste Frau ihren Fuß auf den Planeten setzte und dort sicher für lange und möglicherweise für immer die letzte Frau bleiben würde. Doch Shirleys Aufgabe war es, ihr ganzes Geschlecht auf dem Lotrin zu vertreten. Dazu konnte sie nicht weiblich genug sein, und einige Garderobekoffer mehr wurden von dem WKD nicht als Luxus betrachtet, auch wenn sie mit phantastischen Unkosten Hunderte von Lichtjahren weit befördert werden mußten. Es geschah nicht für Shirley persönlich, es geschah zum Wohle Lotrins. Wie gesagt, ich war nicht dabei, wohl aber Ellen, und so erfuhr ich alles. Ich mußte mir die Geschichte jeder einzelnen Untersuchung, jedes Testes, aller Kuren und Prozeduren anhören. In allen Einzelheiten von Shirleys Ausstattung wurde ich wider Willen eingeweiht, bis zum letzten Knopf und zur letzten Spitzenrüsche. Ellen ging das ganze Theater auf die Nerven, und sie sah nicht ein, warum mein Geschlecht mich vor dem gleichen Schicksal bewahren sollte. Wenn also jemand wissen will, was mit einer First Lady alles geschieht, bevor sie die Zentrale des WKD in New York verläßt, dann mag er mich fragen. Nichts ist zu nebensächlich, zu intim, ich kann ihm alles verraten. Doch glauben Sie mir, es ist nicht sehr interessant.
Ich habe noch nicht viel gesagt über den WeltKontroll-Dienst. Da wäre zunächst einmal der Name; er bedeutet die Kontrolle der Erde über alles, was im Weltall geschieht. Manche sagen, es sei ein absurdes und gefährliches System, letztlich zum Scheitern verurteilt. Mag sein, doch in dieser Generation wird es nicht zusammenbrechen, und auch nicht in der nächsten. Inzwischen gilt, was der WKD bestimmt. Und was Shirley betraf, so waren Ellen und ich der WKD. Ich sage immer so wenig wie möglich für oder gegen den WKD. Nicht, weil meine Stellung davon abhängt. Der WKD ist autokratisch, jedoch nicht in diesem Sinne. Wenn man einen großen Auftrag erhält, sagen wir die Kolonisierung eines neuen Sonnensystems, dann gibt es nur eine Möglichkeit, ihn durchzuführen. Bevor man anfängt, mag es viele Möglichkeiten geben, und wenn der erste Versuch scheitert, kann man auch eine andere Möglichkeit ausprobieren. Doch wenn er gelingt, dann bleibt es dabei, gleichgültig, ob ein anderer Weg besser wäre. Ich maße mir nicht an, darüber zu rechten; ich sage nur, wie es ist. Einer der Hauptgrundsätze des WKD ist: die menschliche Rasse muß menschlich bleiben. Der Krieg gegen Mars hat gezeigt, was geschieht, wenn Menschen nicht-menschlich werden und anderswo Menschen menschlich bleiben. Die Menschen gewannen den Krieg, und es blieben keine Martianer übrig. Es wird nie wieder Martianer geben, solange der WKD herrscht. Menschen können nicht auf dem Mars leben und dabei menschlich bleiben. Mars ist ein Seuchenherd im All, und die Ruinen menschlicher Behausungen auf dem roten Planeten zerfallen zu Staub.
Anders ist es mit Venus. Ebenso die Planeten des Aldebaran-Systems und die anderen verstreuten Welten, die jetzt ihre eigenen Namen haben und nicht mehr nach ihren Sonnen benannt werden wie Jenta, Smith, Babylon, Eyrie, Nostral, Hover, Gluckstein, Fortan, Jissel und Maple. Andere sind ausgestrichen, wie eben Mars – Robinson, Dahlia, Mantor, Arka: längst vergessene Namen, gemieden wie Pestbeulen der Schöpfung, die meisten von ihnen schon tot, einige noch im Sterben. Wieder andere, wie Civnet, Lotrin, Martin, Beckland, Everest, Red Dawn, sind noch mit einem Fragezeichen versehen. Es dauert lange, bis ein solches Fragezeichen gelöscht werden kann. Dazu bedarf es einer besonderen Prüfung. Falls der Planet die Prüfung nicht besteht, werden die Menschen anderswo angesiedelt. Ihre weitere Entwicklung wird überwacht, sie werden vielleicht sterilisiert, aber sie werden immer noch als Menschen betrachtet. Der letzte Test einer solchen Prüfung ist die Geburt eines Kindes, das auf der betreffenden Welt empfangen worden sein muß. Wissenschaftler und Ärzte nehmen das arme Kind geradezu auseinander. Dann geben sie ihr Urteil ab. Sie sagen entweder: weitermachen, oder vorsichtig weitermachen, oder vorläufig abwarten, oder ganz aufhören, oder ... Niemand denkt gern an die letzte Möglichkeit. Und dies ist der Grund, warum die First Lady so wichtig ist. Sie ist zur Mutter dieses ersten Kindes auserwählt. Auch der Vater wird nach bestimmten Gesichtspunkten ausgesucht. Der WKD ist Ehestifter und Taufpate zugleich. Shirley und irgendein Siedler auf dem Lotrin, des-
sen Namen ich damals noch nicht kannte, waren die Zukunft des Lotrins. Shirleys weiteres Leben und das Schicksal einer ganzen Welt hingen von einem Kind ab, das sie von einem Mann bekäme, den sie heiraten mußte, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Es war eine seltsame Situation, doch durchaus nichts Neues mehr. Die First Lady der Jenta war längst gestorben; auch die des Smith. Die First Lady in Babylon war über hundert Jahre alt und ging, wie man sich erzählte, immer noch jeden Morgen in einem Gebirgsstrom schwimmen. Die First Lady der Eyrie war dreiundneunzig, die des Nostral war zugleich Präsidentin ihres Planeten. Und so weiter bis zu der First Lady des Maple, die immer noch einen Spielanzug tragen konnte, und mit größerem Erfolg als Shirley, wie ich mir habe sagen lassen. Über das Schicksal der First Ladies von Robinson, Dahlia, Mantor oder Arka möchte ich mich nicht äußern. Es muß weibliche Intuition gewesen sein, die Ellen veranlaßt hatte, Shirley ein ausgewachsenes Schulmädchen zu nennen, bevor sie von ihr nicht mehr gesehen hatte als ein paar Fotos. Denn das war Shirley wirklich, ein Zwischending zwischen Kind und Frau. Ich weiß nicht, ob der WKD für die Wahl einer First Lady Normen festgelegt hat, die auch den Grad der Gemütsreife berücksichtigen; ich habe nicht viele First Ladies kennengelernt. Doch wenn es solche Normen gab, und Shirley entsprach ihnen, dann mußte eine First Lady scheu, zurückhaltend, unerfahren und vor allem jungfräulich sein, ein Mädchen also, schon erwachsen aber noch ein Kind. Man sollte meinen, eine First Lady müßte eine dy-
namische, selbstbewußte und betörende Frau sein. Der WKD dachte offenbar nicht so. Ich will damit nicht sagen, daß Shirley schüchtern, farblos und ohne Sex-Appeal war, sie war eher bieder. Man konnte sie sich vorstellen als jemandes Schwester, Freundin oder Frau, aber nicht als öffentliche Person, als WKDAgentin, wie Ellen und ich es waren, als Chorgirl oder Sportsmädel, nicht als jemand, der Verantwortung übernehmen und sich rücksichtslos durchsetzen muß. Es ist schwer, Shirley zu beschreiben, denn was man über sie aussagt, muß man sofort wieder einschränken. Wenn man sagen würde, sie war scheu, müßte man hinzufügen, daß sie nicht sehr scheu war. Und wenn sie auch nicht sehr intelligent war, so durfte man sie keineswegs als dumm bezeichnen. So bestand sie zum Beispiel darauf, inkognito zu reisen, um der Zeremonie eines feierlichen Abflugs in New York zu entgehen. Wir taten ihr den Gefallen, aber ich glaube, als es soweit war, wünschte sie, wir hätten nicht so leicht nachgegeben. Sie würde nie das Rampenlicht gesucht haben, aber einmal von ihm angestrahlt, wäre sie wohl fähig gewesen, es zu genießen. Es waren keine jubelnden Menschenmassen und keine Reporter und Fotografen anwesend, als wir vom New Yorker Raumhafen starteten. Shirley reiste als Ellens Schwester. Es schien ihr Spaß zu machen. Sie war Ellen mit Haut und Haaren verfallen. Der WKD pflegte in solchen Fällen die Presse irrezuführen. Man sollte meinen, einige schlaue Journalisten hätten sich ausrechnen können, daß die First Lady des Lotrin mit unserem Schiff fliegen müßte; denn ihre Abreise stand bevor, unser Schiff berührte auf
seiner Reise den Lotrin, und Shirley wies alle Kennzeichen einer First Lady auf. Doch der WKD hatte offiziell bekanntgegeben, daß die First Lady noch nicht endgültig bestimmt sei, und gleichzeitig das Gerücht ausgestreut, sie sei schon gewählt und würde mit dem nächsten Schiff abfliegen. Die Presse ignorierte die amtliche Meldung und glaubte dem Gerücht. Und wenn jemand die Passagierlisten der Sardonia überprüft hätte, so hätte er gelesen, daß wir ausgeschickt wurden, um uns in der Kolonie des Aldebaran anzusiedeln. Shirley sah sich interessiert um. »Ein wundervolles Schiff«, sagte sie mit einem Blick auf den glatten Rumpf. »Ach nein?« bemerkte Ellen in einem Ton, als fände sie es überraschend, daß jemand so etwas überhaupt für wunderbar halten konnte. »Warte, bis du drin bist. Dann wirst du feststellen, daß jeder Meter nur 75 Zentimeter hat. Daran wirst du dich gewöhnen, aber wenn du zum Mond kommst, wirst du entdecken, daß der Meter auf 50 Zentimeter zusammengeschrumpft ist. Auf dem nächsten Leichter werden es noch 40 und auf dem Schiff selbst nur noch 25 sein.« Shirley starrte sie an. »Ist dies denn nicht die Sardonia?« »Manchmal«, seufzte Ellen, »frage ich mich, Shirley, wo du in den letzten 21 Jahren gelebt hast. Erkläre es ihr, Joe.« Der Humpelrock war wieder in Mode gekommen. Ellen trippelte auf den Leichter zu. Sie konnte es sich leisten, Shirley so zu behandeln. Wenn ich es versucht hätte, wären Tränen geflossen. Ich fragte mich, wieviel Liter Shirley wohl schon geweint hatte, seit der
WKD sie entdeckte. Die meisten hatten, laut Ellen, ihrer Mutter gegolten und sich auf Ellens Kleider ergossen. »Dies ist nur ein sogenannter Leichter oder Tender, der uns zum Mond bringt, liebe Shirley«, sagte ich. »Sein Kraft-Schwere-Verhältnis ist natürlich höher als das des Raumschiffes, das uns durch die Lichtjahre zu unserem Ziel tragen wird. Auf dem Mond werden wir in einen anderen Leichter umsteigen, der uns zur Sardonia weiterbefördert, die selbst nicht auf dem Mond landen kann, sondern ihn umkreist, während sie auf uns wartet.« Ich faßte Shirley beim Arm, um sie hinter Ellen herzusteuern. »Die großen Raumschiffe landen überhaupt nie«, fuhr ich fort. »Sie werden im Raum montiert, und wenn sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zu stark radioaktiv werden, dann zerstört man sie im Raum.« »Ich werde aus dir und Ellen nicht klug«, sagte Shirley unvermittelt und zeigte mir, wie interessant sie meinen Vortrag über Raumfahrt fand. »Liebst du sie, Joe?« Ich weiß nicht, wieweit es mir gelang, gönnerhaft zu lächeln, jedenfalls erwiderte ich: »Shirley, manchmal bist du zu schüchtern, um einfache Dinge offen auszusprechen, und manchmal bist du zu offen. Außer in Romanen fragen die Leute nie andere Leute, ob sie jemanden lieben.« »Nun, ich habe dich gefragt. Also sage es mir: Liebst du sie?« Ich seufzte. »Dann mußt du mir zuerst sagen, was du unter Liebe verstehst. Wenn du das getan hast, und zwar zu meiner Zufriedenheit, kannst du mich
noch einmal fragen. Und solltest du eine Antwort erhalten, sagen wir am Morgen, dann vergewissere dich, ob sie am Nachmittag noch stimmt, und ebenso am nächsten Tag und in der folgenden Woche.« »Ihr seid doch miteinander verheiratet?« »Warum nimmst du das an?« Sie schien verwirrt. »Ihr lebt doch zusammen?« fragte sie verlegen. »Oder nicht?« »Wir arbeiten zusammen, gewiß, aber das bedeutet nicht, daß wir miteinander verheiratet sind.« Sie schwieg, während wir in die Luftschleusen kletterten und begannen, uns seitlich durch den schmalen Gang zu schieben. »Ich glaube, ich weiß, was ihr seid«, sagte sie dann. »Ihr seid Geheimagenten. Die Art, wie du Fragen beantwortest, zeigt, daß du daran gewöhnt bist, Dinge zu verheimlichen.« »Ein Kompliment für deinen Scharfsinn«, erwiderte ich lächelnd. Einige Minuten später – es war eine langwierige Angelegenheit, bis man das Ende des Ganges erreicht hatte – murmelte Shirley hinter mir: »Du heißt Joe Dell. Und sie heißt Ellen Dell.« »Nach deiner Logik kann das nur eins bedeuten, nämlich, daß wir verheiratet sein müssen«, antwortete ich grinsend. »Kannst du dich nie klar ausdrücken, Joe?« Ich wandte mich halb um und blickte sie vorwurfsvoll an. »Hast du nicht zugehört, als ich dir die Sache mit den Leichtern und der Sardonia erklärte?« »Das hätte mir der Steward ebenso gut erklären können. Er kann mir aber nicht sagen, ob du Ellen liebst.«
»Nun, dann geht es ihm wie mir«, bemerkte ich trocken. »Ich kann es auch nicht.« »Du willst es nicht.« Wir hatten Ellen fast erreicht, und sie drehte sich jetzt um und wartete auf uns. »Was will er nicht?« fragte sie. Ich stand zwischen den beiden Frauen, so daß sie einander nicht sehen konnten. Gänge auf Raumschiffen muß man gesehen haben, um glauben zu können, daß sie so eng sind. Ellen und Shirley wären vielleicht aneinander vorbeigekommen, doch nur unter Verlust von Knöpfen und Schmerzenstränen. Wenn ich jemanden hätte überholen wollen, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als über ihn hinwegzuklettern oder unter ihm hindurchzukriechen. Shirley schwieg. Ihre Frage hatte mir gegolten, nicht Ellen. Ellen hätte sie nie eine solche Frage zu stellen gewagt. »Es ist unwichtig«, sagte ich, »da es ja feststeht, daß ich es nicht tun werde.« Ellen gab sich für den Augenblick mit dieser Antwort zufrieden. Sie hatte unsere Kabine entdeckt. »Deine ist um die Ecke, Shirley«, sagte sie. »Komm, ich will dir zeigen, wie man sich beim Start verhält.« Ich trat in unsere Kabine und gab ihnen den Weg frei. Sie gingen an mir vorbei. Shirley warf mir einen letzten, fragenden Blick zu. Die Anpassung an die Beschränkungen der Raumfahrt vollzieht sich bei uns immer auf die gleiche Weise. Ellen machte die gleichen sarkastischen Bemerkungen, formulierte sie nur etwas anders. Dieses Mal fragte sie, warum man uns nicht mit Kondensmilch und Zwieback ernährte, das wäre doch ein gu-
tes Geschäft. Sie stellte fest, daß sie sich den Kopf schon rieb, bevor sie sich ihn beim Aufstehen anstieß. Meinte, jetzt begreife sie auch, warum RaumSchönheiten auf den Umschlagbildern der Magazine immer enge Hosen trugen; sie könnten sich wohl kaum durch Raumschifftüren zwängen, wenn sie mehr anhätten. Schlug vor, wir sollten, um die frische Luft gerechter zu verteilen, umschichtig ein- und ausatmen. Shirley, für die alles neu war, nahm es als selbstverständlich hin. Sie bemerkte nur überrascht, wie wenig Raum vorhanden sei, paßte sich aber schnell den engen Verhältnissen an und vergaß, wie es früher war. Als wir auf dem zweiten Leichterschiff waren, das uns zur Sardonia brachte, fragte ich Ellen: »Wieviel weiß Shirley?« Sie schien ausnahmsweise nicht in sarkastischer Stimmung zu sein, denn sie beantwortete meine Frage nur mit dem, was ich wissen wollte. »Nicht viel«, sagte sie. »Sie weiß z.B. nicht, daß sie diesen Burschen, nennen wir ihn Bill, heiraten muß. Man hat es ihr gesagt, aber sie hat noch nicht begriffen, wie absolut unausweichlich es ist, daß sie gerade ihn heiraten muß und keinen anderen. Sie weiß nicht, daß sie zu einer Million anderer Männer liebenswürdig sein muß, aber nicht zu liebenswürdig. Gewiß hat sie sich ihre Gedanken darüber gemacht, was sie erwartet, aber was sie nicht erfaßt hat, ist, daß sie die vollkommene, ideale Vertreterin ihres Geschlechtes darstellen muß, das Traumbild aller Männer und das Vorbild aller Frauen, gleichzeitig vestalische Jungfrau und treue Gattin, jedermanns Schwester und jeder-
manns Mutter.« »Ich verstehe«, erwiderte ich. »Nicht jede könnte es.« »Eins scheint sie zu wissen«, fuhr Ellen fort, »die Sache mit dem Kind.« Ich trat ihr heftig auf den Fuß. »Ich nehme an, sie weiß«, sprach Ellen unbeirrt weiter, »daß sowohl ihr eigenes Schicksal als auch das ihres Bill und des ganzen Lotrin besiegelt ist, wenn das Kind nicht den Anforderungen der Prüfung entspricht. Vermutlich weiß sie auch, worin dieses Schicksal besteht. Aber ich glaube nicht, daß sie es in all seinen Folgen zu Ende gedacht hat. Wer könnte das? Ich bestimmt nicht. Ich werde beim WKD bleiben, und man wird weiterhin die unmöglichsten Dinge von mir verlangen, wie Raumpiraten zu jagen, mich mit Rebellen herumzuschießen oder mich halbtot prügeln zu lassen, wenn es gilt, den Mund zu halten. Doch ich bin froh, daß ich ein paar Jahre zu alt bin, als daß man von mir verlangen könnte, eine First Lady zu werden.« Shirley trat in die Kabine. Es war ein geschicktes Manöver von Ellen gewesen, Andeutungen über unsere sonstige Beschäftigung zu machen. Da niemand von uns beiden in ihrer Gegenwart je darüber gesprochen hatte, mußte Shirley glauben, Ellen hätte nicht bemerkt, daß sie in der Tür stand, während sie das Ungeheuerliche aussprach. Shirley war leichenblaß, behielt sich aber in der Gewalt. »Du bringst mich also auf den Lotrin«, sagte sie mit beherrschter Stimme, »um etwas zu tun, was du nicht tun könntest.« Ellen wandte den Kopf und sah Shirley offen an. Sie schien nicht überrascht zu sein, daß Shirley alles
gehört hatte; das hätte nicht zu ihr gepaßt. »Ja, so ist es, Shirley«, sagte sie ruhig. Ich war sicher, daß es jetzt zu einer Szene kommen würde, zwischen Ellen und Shirley natürlich; denn es war Ellen gewesen, der sich Shirley anvertraut hatte. Doch nichts dergleichen geschah. Ich beobachtete, wie in Shirley die Erkenntnis aufdämmerte, daß Ellen falsch zu ihr gewesen war, daß alle sie belogen und betrogen hatten. Ich sah, daß sie sich schämte, in den Armen Ellens geweint zu haben, die sie die ganze Zeit für eine arme Närrin gehalten hatte, weil sie tat, was sie von ihr verlangte, obwohl sie es selbst für Wahnsinn hielt. Langsam drehte sich Shirley um und ging hinaus. »Meinst du nicht, daß es besser wäre, wenn du ihr nachgingest?« sagte ich. »Ich bin ihr oft genug nachgelaufen.« »Sie könnte aber ...« »Was könnte sie?« »Irgend etwas anstellen. Selbstmord begehen.« »Wenn sie das vorhat, dann soll sie es gleich tun und nicht warten, bis wir auf dem Lotrin sind.« Ich schwieg und überlegte. Shirley würde sich nicht umbringen; Ellen hatte recht mit ihrer Kaltschnäuzigkeit. Mädchen, die zu so etwas fähig waren, wurden nicht zu First Ladies ausgewählt. Shirley würde Schlimmeres zu verkraften haben als ihre Enttäuschung über Ellen. Ich verstand jetzt auch, warum Ellen so brutal offen gesprochen hatte. Ellen würde keine Rolle mehr zu spielen haben in Shirleys Leben auf dem Lotrin. Je eher sich Shirley von ihr löste, um so besser war es für die zukünftige First Lady. Und da hatte Ellen eben
kurzen Prozeß gemacht. Ich glaube, sie tat es in der Hauptsache deshalb, weil sie es satt hatte, Kindermädchen zu spielen. Wir sahen Shirley kaum, als wir in die Sardonia umstiegen. Ellen hatte mir klargemacht, daß sie ihren aktiven Anteil an unserer Mission geleistet habe und daß ich jetzt an der Reihe wäre. Sie würde vielleicht später noch einmal, kurz bevor wir den Lotrin erreichten, in Aktion treten, um den Schaden wiedergutzumachen, den ich bis dahin angerichtet hätte, doch in der Zwischenzeit würde sie sich von Shirley Wynsome erholen. So also sprach Ellen. Das bedeutete, daß ich für den Rest des Fluges mich um Shirley kümmern mußte und verantwortlich war für das, was sie tat oder unterließ. Ich wartete, bis das Schiff sich klar vom Mond abgesetzt hatte, und machte mich dann auf die Suche nach meinem Schützling, den wir bis dahin nur bei den Mahlzeiten zu Gesicht bekommen hatten. Die Sardonia flog jetzt einen unsteten Manövrierkurs, stoppte, wendete, schoß davon wie ein suchender Fisch. Die Passagiere sollten in diesem Stadium der Fahrt nicht umhergehen; es war ihnen geraten worden, sich hinzulegen oder wenigstens zu sitzen. Denn bei den Bewegungen des Schiffes konnte es einem passieren, daß man gezwungen wurde, abwechselnd auf der Decke oder auf den Wänden zu laufen. Die Schwerkraft war allerdings nur gering, so daß man sich dabei nicht verletzen konnte. Wer die Schwerkraft nicht herausfordern wollte, blieb auf seinem Bett liegen oder sitzen, das in GleichgewichtsScharnieren aufgehängt war und alle Bewegungen
des Schiffes ausglich. Shirley schien es auf ein paar Purzelbäume ankommen lassen zu wollen, denn sie war nicht in ihrer Kabine. Es war kein Platz für gesellschaftliches Leben auf der Sardonia. Der einzige Raum, der eine größere Anzahl von Personen faßte, war der Speisesaal, und da das Schiff einschließlich Besatzung etwa 400 Menschen beförderte, wurde schichtweise gegessen und während der ganzen 24 Stunden des Tages serviert. Wir hatten schon gegessen, auch Shirley. Wenn sie also nicht in ihrer Kabine war, mußte sie in einer anderen sein, da sie nicht im Speisesaal sein konnte. Ich überdachte die Situation noch einmal gründlich. Shirley hatte einen schweren Schock erlebt. Aus einem Leben herausgerissen, das sie 21 Jahre lang geführt hatte, war ihr Ellen ein Halt, ein Idol geworden. Ellen hatte dies geduldet, bis wir unwiderruflich unterwegs waren, um dann abzudanken. Sie hätte Shirleys Vertrauen jederzeit wiedergewinnen können, aber sie legte keinen Wert darauf. Was also würde Shirley tun? Niemand kümmerte sich um sie. Sie war frei. Sie konnte sich amüsieren, wenn sie wollte, konnte Ellen zeigen, daß auch sie sich nichts mehr aus ihr machte. Auf dem begrenzten Raum, den die Sardonia für solche Zwecke bot, gab es nur eine Möglichkeit. Ich zog meine Schlüsse. Wenn Shirley sich einem Mann an den Hals werfen wollte, dann würde es aller Wahrscheinlichkeit jemand von unserer Tischgesellschaft sein, jemand, den sie zumindest gesehen oder gesprochen hatte. Ich tippte auf Glen Mavor. Mavor war ein schüchterner Jüngling, der als Kolonist nach
der Civnet geschickt wurde. Die Civnet, ein noch nicht sehr lange besiedelter Planet, war noch ohne First Lady, also frauenlos. Ich suchte Mavors Kabine. Ich klopfte an, trat aber sofort ein. Ich hatte mich nicht geirrt. Shirley war hier. Sie stand, oder vielmehr lag halb, gegen die schiefe Wand gelehnt. Mavor saß auf seinem Bett. Für eine dritte Person wäre kein Platz mehr gewesen in dem kleinen Raum. »Hallo, Shirley«, sagte ich. »Ich dachte mir, daß du hier bist.« Das Schiff machte einen seiner plötzlichen Sprünge, und Shirley und ich landeten nach einem Purzelbaum auf der Decke, Shirley mit wirbelnden Beinen und fliegenden Röcken, ein Anblick, der Mavors Augen aus den Höhlen treten ließ. Sie lachte. Mavor brauchte sich nicht zu bewegen. Das Bett hielt sein Gleichgewicht. Ich erfaßte die Situation. Shirley war unbefangen glücklich, auf eine gefährliche Weise. Mavor war fasziniert von ihr, doch seiner selbst sehr unsicher. Er war von Natur sehr schüchtern, aber er wußte, daß er unterwegs war zu einer Welt, in der es lange keine Frauen geben würde, und daß Shirley bereit und willens war, ihm im voraus etwas Trost zu spenden. Dies war nicht die Shirley Wynsome, die wir im Garten ihres Elternhauses getroffen hatten. Diese Shirley war kein schlaksiges Schulmädchen mehr, sie war ein verführerisches junges Weib. Und sie war verführerisch, weil sie es sein wollte. Unschuld ist eine Geisteshaltung, nicht nur ein Mangel an Erfahrung. Shirley, wie sie sich jetzt, die Arme hinter dem Kopf, gegen die Wand lehnte, war
weit davon entfernt, unschuldig auszusehen. An Erfahrung war sie nicht reicher geworden, doch ihr Geist hatte sich gemausert. Ihre dünne kanariengelbe Bluse hatte sie aus zwei sehr augenfälligen Gründen gewählt, und ihr oben enger und unten weiter scharlachroter Rock tat sein Bestes, um anzudeuten, was er nicht sehen lassen sollte. So konnte Shirley nicht lange herumlaufen, ohne Unheil anzurichten. Es mußte etwas geschehen. »Mavor«, sagte ich ruhig, »ich werde Ihnen ein Geheimnis anvertrauen.« Mavor, ein hübscher junger Bursche, sah zu Shirley hinüber, doch sie lächelte nur und betrachtete dann ihre Fesseln. Er wandte sich wieder mir zu. »Ich weiß nicht, ob ich Ihr Geheimnis zu erfahren wünsche«, sagte er. »Sie werden es erfahren, ob Sie wollen oder nicht. Und Sie werden es für sich behalten. Es ist an sich unwichtig, ob Sie es ausplaudern oder nicht, aber es wäre unangenehm, wenn jemand auf dem Schiff es jetzt schon erfahren würde. Shirley ist die First Lady des Lotrin.« Ich erkannte sofort, daß ich richtig gehandelt hatte, es ihm zu sagen, als ich sein Gesicht sah. »Ich erwähne es nur zu Ihrem Besten«, fuhr ich gelassen fort, »denn wenn Leute mit Dynamit spielen, dann sollen sie wenigstens wissen, daß es Dynamit ist. Kommst du, Shirley?« Das Schiff machte wieder einen Satz. Dieses Mal landete Shirley genau auf Mavor, die Arme um seinen Hals. Es mochte nur ein Zufall gewesen sein, aber es war kein Zufall, als sie sein Gesicht an das ihre zog und ihn küßte. Sie tat es nicht Mavor zuliebe, sondern
mir zum Trotz. Sie löste sich lässig aus der Umklammerung und folgte mir. Ich führte sie zu ihrer Kabine. »Warum hast du ihm das gesagt?« fragte sie. Es berührte sie nicht. Sie war nur neugierig. »Um ihn dir vom Leibe zu halten«, erwiderte ich grimmig. »Er wird es jetzt nicht mehr wagen, dich auch nur mit einem Bootshaken zu berühren. Er ist zu Tode erschrocken.« »Warum?« »Du scheinst nicht sehr gut Bescheid zu wissen über den WKD. Er hat lange Arme und läßt sich von niemandem ungestraft in den Schwanz kneifen.« »Du meinst, der Welt-Kontroll-Dienst würde Glen liquidieren?« »Wofür?« fragte ich. Es war eine gute Frage. Sie brachte sogar die neue selbstsichere Shirley außer Fassung. »Ich meine, wenn ...« murmelte sie. »Wenn was?« »Warum soll ich mich nicht amüsieren, solange ich noch kann? Bevor ich in mein Gefängnis komme?« »Niemand hat etwas dagegen, daß du dich amüsierst, solange es keine Form annimmt, die sich abträglich auswirkt für die Zukunft.« »Ich pfeife auf die Zukunft. Vielleicht gibt es keine Zukunft für mich.« Wir kamen zu ihrer Kabine. Ich öffnete, schob sie hinein und folgte ihr. Wir setzten uns auf das Bett und beobachteten schweigend den Tanz der Wände um uns. »Was macht das Schiff?« fragte sie plötzlich nach einer Weile.
»Es sucht das Gleis«, erwiderte ich. Ich kann sehr langmütig sein. Ich wollte nicht über das Schiff und seine Kapriolen mit ihr sprechen, aber ich war bereit, auf ihr Spiel einzugehen, bis zu einer gewissen Grenze. »Das Gleis?« rief sie aus. »Ja, das Gleis. Du weißt doch, daß Raumfahrt sich immer in zwei verschiedenen Phasen vollzieht. Die erste besteht in der langsamen Loslösung aus dem Gravitationsfeld eines Planeten und seiner Satelliten und endet mit diesem schwerfälligen Suchmanöver. Die zweite vollzieht sich dann glatt und in einem Zug und mit einer unvergleichlich größeren Geschwindigkeit. Bei unserem augenblicklichen Tempo würden wir 20 000 Jahre bis zu den Aldebarans brauchen, nicht zu reden vom Lotrin.« »Aber wir brauchen doch nur ein paar Wochen?« »Ja, weil wir auf dem Gleis fliegen werden«, erwiderte ich geduldig. »Es ist natürlich kein richtiges Gleis, aber so etwas Ähnliches. Es ist ein Gravitationsfeld, das sich von hier bis zu den Aldebarans erstreckt. Es ist bei seiner Länge eher ein Strahl. Sie nennen es das Catterick-Feld. Wir haben es schon mehrere Male durchquert, und wenn wir weiter so herumsuchen, so geschieht dies deshalb, weil wir haargenau in seine Mitte zu liegen kommen müssen, und es ist ziemlich schmal, nur ein paar Meilen breit.« »Das Schiff ist doch keine Meile breit?« »Nein, aber der kleinste Irrtum würde sich erst nach Millionen von Meilen bemerkbar machen. Hast du schon einmal etwas vom Beharrungsvermögen gehört?« »Das ist doch Trägheit?«
»Ja, man nennt es auch die Trägheit der Materie. Wenn die Materie in Ruhe ist, kann sie sich nie aus eigener Kraft bewegen, und es erfordert große Anstrengung, sie in Bewegung zu setzen. Und wenn sie einmal in Bewegung ist, kann sie sich selbst nicht abbremsen; es gehört der gleiche Kraftaufwand dazu, sie wieder in Ruhe zu versetzen. Nun könnten die Maschinen der Sardonia genug Kraft erzeugen, um uns auch ohne das Catterick-Feld in wenigen Wochen zum Lotrin zu bringen. Doch das Schiff würde diese Beschleunigung nicht aushalten. Es würde zerfallen. Und bei einem Bruchteil dieser Geschwindigkeit würden wir zu Brei zerdrückt werden. Im Augenblick beträgt die Beschleunigung nicht mehr als drei Meter in der Sekunde.« Zur Veranschaulichung faßte ich sie beim Gürtel, hob sie mit etwa einem Drittel der Erdschwerkraft hoch und stieß sie in die Mitte des Raumes, im gleichen Augenblick, da das Schiff wieder zwei kurze Wendungen hintereinander vollführte. »Du siehst, schon bei dieser Beschleunigung kann das eine sehr turbulente Angelegenheit werden«, bemerkte ich, als Shirley an die gegenüberliegende Wand prallte und einen Kobolz schoß. Sie schien sich für solche Eventualitäten angezogen zu haben, jedenfalls erzielte sie mit ihrer kanariengelben Wäsche einen frappanten Effekt, als ihre Beine in der Luft strampelten. Ich packte sie um die Hüfte, stülpte sie um und setzte sie wieder neben mich aufs Bett. »Nun stelle dir vor, was geschehen würde, wenn die Beschleunigung zehn Kilometer pro Sekunde betragen würde«, fuhr ich so sachlich wie möglich fort. »Oder 1000 Kilometer. Oder 10 000.«
»Das kannst du dir auch nicht vorstellen«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Also, wenn man Hunderte von Lichtjahren weit reisen will, muß man etwas gegen die Trägheit der Materie unternehmen. Nimm einmal an, es gäbe keine Trägheit der Materie auf der Erde. Das ist in Wirklichkeit natürlich unmöglich, denn solche Felder gibt es nur im Weltraum. Aber wenn es so wäre und Schwerkraft und Luftwiderstand blieben bestehen, dann könntest du aus dem Stand heraus sofort deine größte Schnelligkeit erreichen. Wenn du kehrtmachen und zurücklaufen wolltest, könntest du es tun, ohne jeden Aufenthalt.« »Das glaube ich nicht«, sagte Shirley. »Ich würde mir bestimmt eine Sehne oder irgend etwas anderes verzerren oder zerreißen.« »Nein, das würde geschehen, wenn die Trägheit der Materie nicht aufgehoben wäre; aber wir nehmen doch an, sie wäre es. Dann würdest du dir nichts zerreißen. Schwerkraft und Luftwiderstand spielen dabei nur eine geringe Rolle. Das Beharrungsvermögen ist es, was wir überwinden müssen, und das tun wir, indem wir das Catterick-Feld benutzen.« Shirley war des Themas offensichtlich müde. Doch ich fuhr eisern fort: »Wenn wir genau in der Mitte des Feldes liegen, das nebenbei vom Mond ausgeht, dann erst fliegen wir mit voller Geschwindigkeit los, unbehindert durch Schwerkraft oder Trägheit der Materie; nur ein kleiner Bruchteil davon wird innerhalb des Schiffes aufrechterhalten, damit wir uns bewegen können, nicht einmal der millionste Teil der normalen Stärke. Wir werden in der Lage sein, im Bruchteil einer Sekunde zu starten und zu halten. Im Anfang
werden wir nicht mehr als ein paar hundert Meilen in der Stunde machen, weil wir vielleicht immer noch nicht genau auf dem Gleis sind. Wenn der Kapitän sicher ist, daß wir es sind, dann fliegen wir mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit weiter, bis wir die Aldebarans erreichen. Dort halten wir mit einem Ruck, ohne ...« »Ich werde jetzt brausen«, unterbrach mich Shirley. »Du willst also, daß ich gehe?« »Bleibe, wenn du willst, vorausgesetzt, daß du mit diesem Catasowieso-Feld aufhörst.« Die Brauseeinrichtung war ein winziges Gelaß in der gegenüberliegenden Wand. Es gab keine Waschbecken. Wenn man sich waschen wollte, mußte man die Brause benutzen. Ich hätte Shirley erzählen können, daß ich eine ganze Menge mehr gelesen und erlebt hatte als sie und daß sie, um mich zu schockieren oder außer Fassung zu bringen, schon etwas mehr tun müßte als das, was sie zu tun im Begriffe war, etwa im Schiff herumspazieren und auf die Passagiere schießen, oder die Maschinen anhalten, oder versuchen, in den Weltraum hinauszuklettern. Doch das hätte sie vielleicht wirklich auf dumme Gedanken gebracht, denn sie wollte ja nur eins, nämlich, daß ich protestieren sollte. Ich glitt vom Bett und ging zur Tür, obwohl ich wußte, daß sie in Wirklichkeit nicht allein gelassen werden wollte, zumal Glen Mavor von nun an ausfallen würde. »Auf später«, sagte ich. Shirleys Trotzperiode war bald abgeklungen. Glen Mavor zog sich zurück, und es schien ihr nicht nahezugehen. Sie hatte sich wieder vollkommen gefangen
und sprach auch wieder mit Ellen, anstatt sie beim Essen zu schneiden, wie sie es eine Weile getan hatte. Ellen nahm ihre Wiederannäherungsversuche genauso auf, wie sie ihren Groll ertragen hatte, gelassen, großmütig und ohne Ressentiment. Doch die frühere Intimität zwischen den beiden Frauen war verschwunden. Shirleys Aufmerksamkeit galt jetzt in der Hauptsache mir und nicht mehr Ellen. Die Zeit vergeht schnell, wenn die Tage sich alle gleich sind, und noch schneller, wenn es keinen wirklichen Tag gibt. Wir schliefen alle ungefähr zwölf Stunden von jeweils vierundzwanzig. Ausreichende körperliche Betätigung war unmöglich. Ellen machte sich die üblichen Sorgen um ihr Gewicht und tat das übliche dagegen; sie schloß mich aus unserer Kabine aus und turnte, verbissen, systematisch, stundenlang. Sie hätte nie erlaubt, daß jemand zuschaute, wenn sie die Arme schwang oder, auf dem Rücken liegend, mit den Beinen strampelte. Auch Shirley wurde ein- oder zweimal höflich hinausgewiesen. »Sie hat doch oft genug zugesehen, wenn ich so was machte«, bemerkte sie einmal. »Ist sie anders gebaut als andere Frauen, oder warum tut sie das?« Es war eine Rückerinnerung an die Zeit, da sie Ellen noch vergötterte, und ich empfand dies als ein gutes Zeichen. »O nein«, erwiderte ich. »Hat sie vielleicht X-Beine oder einen Spitzbauch?« »Nichts von alledem«, protestierte ich. »Sie würde sich überall und jederzeit im Badeanzug zeigen, doch nur, wenn sie weiß, daß sie einen vollkommenen Eindruck macht.« »Hältst du sie denn immer für vollkommen?«
»Oh, was ich denke, zählt nicht. Ich will damit nur folgendes sagen: Ellen ließe niemals zu, daß ihr jemand zuschaut, während sie mit den Fingerspitzen ihre Zehen greift und sich dann nach hinten beugt, um zu versuchen, ihre Fersen zu berühren, wenn sie nicht ganz sicher ist, daß es ihr gelingt.« »Das wird ihr nie gelingen«, beschloß Shirley das Thema. So kam es, daß Shirley und ich einander oft Gesellschaft leisten mußten. Doch wir entdeckten eine gewisse Ähnlichkeit in unserer Veranlagung, die Zeit totzuschlagen. Wir konnten stundenlang in Shirleys Kabine sitzen, lesend, plaudernd, vor uns hindösend. Wir langweilten uns nicht, auch wenn wir schwiegen. Und dann machte Shirley auch diesem Stadium ein Ende. Ich war in einen Roman vertieft, als sie ihren Kopf zwischen mein Gesicht und das Buch schob und mich küßte. Ich stehe nicht an, zu bekennen, daß mich dies im ersten Moment wirklich aufs höchste überraschte. Doch sofort wurde mir dann mit einem Schlag eine ganze Menge Dinge bewußt, die mich darauf hätten vorbereiten müssen. Sie hatte, kaum waren wir unterwegs, wissen wollen, ob ich Ellen liebte, ob wir verheiratet seien. Sie hatte sich mit Ellen zerstritten. Sie hatte zugelassen, daß ich die Affäre mit Glen unterband, und ihm nicht nachgetrauert. Sie hatte versucht, mich zu verwirren, mich zu provozieren. Sie hatte bissige Bemerkungen gemacht über Ellen. Sie hatte fast alle ihre wachen Stunden in meiner Gesellschaft verbracht. Und jetzt küßte sie mich. Es war zu plötzlich gekommen für mich, obwohl es im Grunde logisch war.
Da mein Verstand ausgesetzt hatte, legten sich meine Arme um ihre Taille und preßten ihren jungen Leib an mich, hielten ihn umklammert, bis uns beiden die Luft ausging. Im gleichen Augenblick, da mein Kopf sich anschickte, wieder Herr der Situation zu werden, erkannte ich, daß Shirley von den Ereignissen ebenso überrumpelt worden war wie ich. Ich begriff jetzt, was die Leute meinen, wenn sie sagen, die Liebe sei eine stets zu spät erkannte Krankheit. Ich hatte alle Gründe, mich nicht in Shirley zu verlieben, hatte nie daran gedacht, es zu tun, hätte es nie für möglich gehalten, daß ich es tun könnte. Und jetzt war es passiert. Shirley lag in meinen Armen, und ich wagte nicht, zu denken oder mich zu bewegen, denn wenn dieser Zustand beendet war, mußte ich Problemen ins Auge sehen, vor denen mir graute. Shirley empfand wahrscheinlich das gleiche. So hielten wir uns umschlungen und versuchten, die Zeit anzuhalten. Es gelang uns nicht besser als je zuvor einem anderen Paar. Ich fühlte, daß ich Shirley weh tat und lokkerte meinen Griff. Sie nahm ihren einen Arm von meinem Hals und ließ ihn neben mir niederfallen. So lösten wir uns langsam aus unserer Umarmung. Wir taten so, als sei uns eines jener Dinge widerfahren, die nur geschehen, weil man nichts getan hat, sie zu verhindern, die im Grunde aber wenig oder nichts bedeuteten. Wir sprachen überhaupt nicht darüber, benahmen uns genauso wie vorher. Eins hatte sich allerdings für mich geändert; ich fand, daß Shirley unvergleichlich hübscher geworden
war. Ich hatte mich zunächst im Verdacht, daß nur meine Augen sie so sahen, aber eines Tages bemerkte auch Ellen, sie verstehe jetzt nicht mehr, warum sie einmal gesagt habe, Shirley sei bestimmt nicht wegen ihrer Schönheit ausgesucht worden. Shirley und ich sprachen immer noch nicht über ihre zukünftige Rolle als First Lady. Dies geschah erst am letzten Tage, als es zum Kurzschluß kam. Wir waren theoretisch noch ungezählte Lichtjahre vom Lotrin entfernt, praktisch jedoch nur noch wenige Stunden. Wir waren unterwegs nirgends gelandet, hatten nur mehrere Male gestoppt, und Leichter hatten an der Sardonia angelegt; doch das hatte uns nicht berührt, außer daß bei Tisch neue Gesichter auftauchten. Es hat jemand einmal gesagt, die Armen hätten deshalb so große Familien, weil ein Mann und eine Frau, die in einem engen Raum zusammengepfercht sind, nichts anderes zu tun fänden, als Kinder zu zeugen. Doch Shirley und ich waren unserer, trotz der einen gefährlichen Panne, so sicher, daß wir fast unsere gesamte freie Zeit gemeinsam in einem Raum verbrachten, der nicht viel größer war als ein Schrank. Unsere Gespräche waren frei von jeder erotischen Anspielung, und obwohl wir nicht umhin konnten, uns ständig zu berühren, geschah es ohne jede Spur von Sinnlichkeit. An diesem Tage saß Shirley auf dem Bett und las, ich saß am Boden und dachte darüber nach, was für einen Auftrag Ellen und ich wohl als nächsten bekommen würden, in der festen Überzeugung, daß unser jetziger Auftrag bald erledigt und vergessen sein würde. Ich fragte mich wieder, warum der WKD
ausgerechnet uns beide mit der Aufgabe betraut hatte, Shirley nach dem Lotrin zu bringen. Doch dies war ein Gedankengang, bei dem mir unbehaglich zumute wurde, und ich schüttelte den Kopf, so wie man es tat, wenn man nach einer Ablenkung sucht. Mein Blick begegnete Shirleys rotem Pantöffelchen und glitt weiter hinauf an ihren Beinen. Shirley hatte gute Beine, doch ihr Rock war so züchtig heruntergezogen, daß ich nicht einmal ihre Knie sehen konnte. Wider alle Logik nahm ich Anstoß daran, fühlte mich gereizt. Wie kam sie dazu, sich so prüde in ihren Rock einzuwickeln? Es war, wie wenn jemand einen Brief vor einem verdeckt, als wollte man versuchen, mitzulesen. Ich saß nicht am Boden, um mir ihre Beine betrachten zu können. Ich hatte überhaupt nicht an ihre Beine gedacht, bevor ich bemerkte, daß sie sie versteckte wie eine zimperliche, alte Jungfer. Ich streckte die Hand aus und berührte Shirleys Fessel, doch diese Berührung bewirkte etwas, das ich keineswegs beabsichtigt hatte. Sie warf ihr Buch weg, und ließ sich vom Bett herunter in meine Arme gleiten. Wir küßten, liebkosten uns wie zwei Teenager, erregt, aber unschuldig. Plötzlich warf Shirley sich zurück, schloß die Augen, blieb liegen, abwartend. Und die Wirkung auf mich war das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. »Shirley«, sagte ich schroff, »das ist unmöglich.« Sie setzte sich wortlos auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bett, sah mich lauernd an. »Hast du denn noch immer nicht begriffen, was eine First Lady ist?« fuhr ich beschwörend fort. »Sie ist ein Symbol. Eine Göttin. Eine ganz neue Welt hängt
von ihr ab, liebt sie und würde für sie sterben. Sie ist mehr als eine Königin in der Geschichte der Erde.« »Sie sollen sich eine andere First Lady für den Lotrin suchen«, unterbrach mich Shirley heftig. »Ich danke ab.« »Das kannst du nicht. Schon vor Wochen ist auf der Erde bekanntgegeben worden, daß die First Lady des Lotrin Shirley Wynsome heißt, daß sie schon unterwegs ist. Für die Erde hat es nicht die gleiche Bedeutung wie für den Lotrin, aber es ist jetzt offiziell bekannt, es ist amtlich. Es kann nicht rückgängig gemacht werden. Nimm an, du gehst zurück. Die Männer auf dem Lotrin werden es erfahren. Man wird ihnen eine andere First Lady schicken, einen Ersatz für die erste, die versagt hat, bevor sie ankam. Sie wird keine Chance haben. Oder nimm an, der WKD entschließt sich, zu sagen, du wärst unterwegs gestorben. Die zweite First Lady wird ihrem Planeten kein Glück, sondern nur Unglück bringen. Wenn die Ernte schlecht ausfällt, dann wird es heißen, der Lotrin ist verflucht, weil seine erste First Lady ihn nie erreichte. Der WKD kann auch die ganze Geschichte vertuschen und später ein anderes Mädel als Shirley Wynsome hinaufschicken, mit irgendeiner Ausrede für die Verzögerung. Doch sie wird es wissen. Sie wird wissen, daß die richtige Shirley Wynsome ...« »Warum hast du nicht vorher an all das gedacht?« »Ich habe daran gedacht. Eben deshalb ...« »Niemand kann mich zwingen, eine gute First Lady zu werden. Ich kann die Zukunft des Lotrin ruinieren, wenn ich will. Und ich würde es tun, wenn ...« »Eine Welt zum Tode verurteilen, weil du deinen Willen nicht durchsetzen konntest? Weil du dein ge-
gebenes Wort nicht halten willst? Wegen einer Laune?« Wir waren beide ungerecht gegeneinander. Und wir wußten es. Wir stritten noch eine Weile herum, redeten aneinander vorbei, beschuldigten uns gegenseitig, doch ohne uns wirklich böse zu sein, eher in ohnmächtiger Wut, daß alles, was ich gesagt hatte, nur allzu wahr war. Das Kolonisationssystem des WKD gleicht in seiner Struktur einer Pyramide. Das Fundament bilden die eigentlichen Pioniere, Männer, die nicht wissen, ob sie Tod oder Ruhm, Armut oder Reichtum erwartet. Sie ziehen aus in eine unbekannte Welt und versuchen, sie zu einem Ort zu machen, wo Menschen leben können. Wenn sie Fuß gefaßt haben, folgen ihnen immer mehr, Hunderte, Tausende, Hunderttausende. Doch keine Frauen. Jeder vor ihnen weiß es, akzeptiert es. Jede neue Welt kann ein neuer Lebensquell oder ein Krebsgeschwür sein. Wenn das Krebsgeschwür ausgeschnitten werden soll, muß es geschehen können, bevor die Gefahr einer Vererbung akut geworden ist. Deshalb keine Frauen. Die neue Welt wird besiedelt, erforscht, geprüft und immer wieder geprüft vor jedem neuen Schritt. Die Männer werden immun gemacht gegen alle bodenständigen Krankheiten, Allergien und ungewohnten Umwelteinflüsse. Ihre Zahl wächst, fünfhunderttausend, eine Million. Und immer noch keine Frauen. Der WKD überwacht den gesamten Weltraumverkehr. Keine Frau kann ohne sein Wissen und gegen seinen Willen eine jungfräuliche Welt betreten. Die erste Frau darf nur die First Lady sein. Mit ihr beginnt das wahre Leben des neuen Planeten. Sie ist
Anerkennung, Belohnung, Versprechen, Hoffnung. Dies ist die eine Möglichkeit. Die andere, wenn sich herausstellt, daß der neue Planet ungeeignet ist zur Züchtung eines neuen Geschlechts. Dann wird die First Lady sterilisiert, und das unglückliche Kind mit ihr, wenn es weiblichen Geschlechts ist. Dies bedeutet das Todesurteil für die Bevölkerung der neuen Welt. Sie muß aussterben; denn es gibt keine Frauen mehr. Jeder weiß dies, anerkennt es als unumstößliches Gesetz. Es ist ein verrücktes, grausames System, ein Spiel mit dem Glück, ein Leben zwischen Furcht und wilder Hoffnung, doch es ist ein sicheres und gesundes System. Ich konnte ebensowenig dagegen angehen wie Shirley. Sie war die First Lady des Lotrin, und vor diesem Schicksal gab es kein Entrinnen mehr. Doch Shirley und ich wagten nicht, die Konsequenzen unserer Situation zu Ende zu denken, wir spielten nur mit ihnen. Als mir dies bewußt wurde, sagte ich: »Wir wollen hören, was Ellen zu der Sache zu sagen hat.« Shirley sprang auf. »Bist du verrückt?« Wenn wir vor uns selbst und voreinander so getan hatten, als hätten wir uns nur in der Hitze des Augenblicks einmal gehen lassen, so hatten wir uns Ellen gegenüber immer so benommen, als sei nicht einmal dies geschehen. »Sie muß eingeweiht werden«, sagte ich, »es sei denn, wir beide können hier und jetzt entscheiden, daß wir fertig miteinander sind.« Ich hoffte, Shirley würde sagen, es wäre so, und befürchtete es gleichzeitig. Sie sagte nichts. Und so sagte ich: »Bleibe hier«, und ging, um Ellen zu holen.
Ich klopfte nicht einmal an. Ellens Arme waren nach oben gestreckt. Sie bewegte den Oberkörper im Kreise. Sie ließ die Arme fallen, sah mich wütend an. »Etwas sehr Wichtiges«, sagte ich. »Shirley und ich benötigen deine Hilfe. Du brauchst dich nicht zurechtzumachen. Komm bitte sofort mit.« Ich klärte sie nicht auf, bis wir uns in Shirleys Kabine gezwängt hatten. Dann sagte ich zu ihr, Shirley und ich, wir liebten uns. Ellens Zornfalten waren wie durch einen Zauber weggewischt. Jetzt wurde es interessant. Dies war ein Bruch mit der Routine, ein echtes Problem, eine Herausforderung. Doch sie konnte sich es nicht verkneifen, zu seufzen und zu sagen: »Ich wußte, daß irgend etwas passieren würde, als ich die Zügel abgab. Ich wußte allerdings nicht, daß es so etwas sein könnte. Ich kann nicht alles wissen.« »Wirklich nicht?« höhnte Shirley. Ellen maß sie mit einem kalten Blick. »Glaubst du, daß dieser Ton uns weiterhilft? Ist das Ganze nicht nur Theater von dir, um mir zu zeigen, daß du deine alberne Verliebtheit in mich überwunden hast?« Das war gesagt worden, um Shirley klein zu machen. Es verfehlte seine Wirkung, denn Shirley wußte jetzt, daß sie jemand war. Nur eine First Lady zu sein, das war nichts, doch jetzt hatte sie jemanden, der sie liebte. Sie fand sich großartig in ihrem Erfolg, und das machte sie beinahe wirklich groß. »Ich schäme mich nicht, daß ich dich einmal bewundert habe«, erwiderte sie. »Du bist eine große Schauspielerin. Du kannst sogar die Rolle eines anständigen Menschen spielen.« Ellen lächelte. Dieses Lächeln bewies Ellens wahres
Talent. Shirley hatte recht. Ellen war vor allem, was sie sonst auch an Vorzügen besitzen mochte, eine Schauspielerin. »Das ist nicht schwer«, sagte sie ruhig. »Ehrlich, Shirley, hast du jemals einen Menschen gekannt, der nicht anständig war?« Shirley hatte es nicht; es war ihr Glück. Und es war ganz Ellen, darauf zu bauen. »Laßt uns der Situation ins Auge sehen«, sagte Ellen. »Wenn es ausgemacht ist, daß Shirley nicht Lotrins First Lady sein wird, müssen wir uns über die Folgen dieses Entschlusses klarwerden. Habt ihr daran gedacht?« Niemand antwortete ihr. »Nun«, fuhr sie in freundlichem Ton fort, »dann wollen wir gemeinsam überlegen. Shirley, hast du dabei an deine Mutter gedacht?« »Das sieht dir ähnlich«, zischte Shirley. »Dir ist keine Waffe zu schmutzig! Kein Gefühl ist dir heilig, wenn du ...« »Gut, wie du willst«, unterbrach Ellen sie. »Lassen wir deine Mutter aus dem Spiel. Du hattest dich ja schon damit abgefunden, daß du sie nie wiedersehen würdest, und wirst sie auch jetzt wahrscheinlich nicht wiedersehen.« Beklommenes Schweigen. Dann sagte Shirley zaghaft: »Nehmen wir an, ich denke noch an meine Mutter. Was ändert das?« »Ich will dir in die Erinnerung zurückrufen, wie alles gekommen ist, dann verstehst du mich vielleicht von selbst. Du warst ein junges Mädchen wie alle anderen, glücklich, auf der Erde zu sein, zufrieden, dort bleiben zu können. Dann kamen die Leute vom WKD
und redeten mit dir, überredeten dich, dich einigen Prüfungen zu unterziehen, und dann ließen sie die Katze aus dem Sack. Sie sagten dir, du könntest etwas werden, etwas Bedeutendes. Nur müßtest du dann die Erde verlassen und deine Mutter, und deine Antwort müßte ja oder nein sein und nicht vielleicht.« »Sie haben mich überrumpelt!« rief Shirley aus. »Zugegeben, sie haben ihre besonderen Methoden. First Ladies wachsen nicht auf den Bäumen. Aber hast du wirklich geglaubt, du könntest nicht nein sagen?« Shirley schwieg. »Nun, du konntest etwas Großes werden«, fuhr Ellen nachdenklich fort, »oder du konntest die Chance ausschlagen. Du liebst deine Mutter. Du wolltest sie nicht verlassen. Du dachtest daran, nein zu sagen. Du hast nicht, wie die Zeitungen schreiben, an die Weltraumeroberung, an Fortschritt, an die Erhaltung der reinen Menschheit gedacht. Niemand tut das, es liest sich nur gut. Die wirkliche Frage für dich war, ob du die unerhörte persönliche Chance, die dir geboten wurde, ausschlagen konntest.« Für den Fall, daß ich es noch nicht gesagt habe: Ellen versteht es meisterhaft, die simpelsten Dinge spannend zu erzählen. Wir hingen beide an ihren Lippen. Ich vielleicht etwas weniger als Shirley, aber immerhin. »Du konntest es nicht«, sagte Ellen, »obwohl du vieles aufgeben mußtest, Dinge, von denen ich nichts weiß.« Ich sah, was jetzt kam. Ich hätte es längst sehen müssen, doch ich war auf mehr als einem Auge blind gewesen in der letzten Zeit. »Im Grunde ist es heute gleichgültig, ob du damals
nein sagen konntest oder nicht. Aber die gleiche Frage stellt sich dir heute wieder.« Ellens Stimme klang jetzt sanft, fast teilnahmsvoll. »Bist du bereit, all die Dinge aufzugeben, die du aufgeben wolltest, um First Lady werden zu können? Das wirst du tun müssen, auch wenn du darauf verzichtest, First Lady auf dem Lotrin zu werden.« »Joe werde ich nicht aufgeben«, stieß Shirley trotzig hervor. Ellen nickte, als sei dies vollkommen vernünftig. »In Ordnung«, fuhr sie gelassen fort. »Die Sache ist nur die: um etwas aufgeben zu können, muß man es haben. Hast du Joe?« Sie sah mich an. Ich wich ihrem Blick aus. »Du wirst es nicht verstehen«, sagte ich. »Ich liebe Shirley wirklich.« »Oh, ich verstehe das sehr gut. Aber siehst du irgendeine Zukunft für eure Liebe?« »Nein. Und ich habe es Shirley auch gesagt.« »Ich habe mich bemüht, fair zu sein gegenüber Shirley, und sie geschont«, sagte Ellen, »weil sie nicht alles weiß. Dich aber kann ich etwas härter anfassen, ohne unfair zu werden; denn du weißt mehr als sie.« Ja, ich hatte recht gehabt. Das war Ellen. Ich hätte wissen müssen, daß sie ein Problem, das ich ihr zuschob, auf meinem Rücken lösen würde. Der wirkliche Unterschied zwischen Shirley und mir lag nicht in unserem Alter oder Geschlecht, sondern in der Tatsache, daß ich den WKD kannte. Ich liebte Shirley und hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, sie zu bekommen. Doch ich wußte, daß ich, um im Bilde zu bleiben, den WKD nicht bewegen konnte. Ich machte einen letzten geheuchelten Versuch.
»Du sprichst davon, daß Shirley eine Chance aufgibt«, sagte ich. »Die Chance, eine tragische Königin zu sein? Nimm an, der Lotrin ist ungeeignet für menschliches Leben, läßt es nicht menschlich bleiben? Wäre sie dann nicht besser ...« »Erspare dir den Rest«, unterbrach mich Ellen. Dann wandte sie sich an Shirley. »Höre, Shirley. Joe benimmt sich so, weil er ein ausgemachter Narr ist. Ihm ist nicht zu helfen; dazu ist es zu spät. Du aber hast dich nur in ihn verliebt, weil du Angst hast. Im letzten Augenblick, wenige Stunden vor der Ankunft auf dem Lotrin, glaubst du erkannt zu haben, daß du nicht ertragen könntest, was dich dort eventuell erwartet.« »Du hast zugegeben, daß du es auch nicht könntest«, warf Shirley ein. »Ich habe aber auch nicht gesagt, daß ich es könnte; wohl aber du. Doch lasse mich aus dem Spiel. Als du gemerkt hast, daß du allein bist, hast du dich Joe an den Hals geworfen, und Joe, der ein Narr ist, hat es sich gefallen lassen. Ich bin eine Frau, vergiß das nicht. Ich weiß, wie man so etwas macht. Du brauchtest jemanden, der dir hilft, einen Ausweg zu finden. Der einzige, der in der Nähe war; war der letzte, in den du dich verlieben durftest, aber er war auch ein Narr und ließ es zu. Dir kann ich deswegen keinen Vorwurf machen, wohl aber ihm, denn er hätte dir sagen können ...« »... dieser Narr«, warf ich ein. Ellen machte eine ungeduldige Handbewegung. »Er hätte dir etwas sagen können, was deine Angst überflüssig gemacht hätte. Auch der WKD hätte dir es sagen können. Doch jetzt muß ich es dir sagen.
Shirley, der WKD hat die besten Hirne der Erde zu seiner Verfügung, die besten Wissenschaftler. Höre gut zu, Shirley, dies ist sehr wichtig für dich und deine Situation. Die ganze Geschichte mit den First Ladies ist nur Theater! Ja, gewissermaßen ein Betrug, ein frommer Betrug allerdings. Gewiß, du wirst auf den Lotrin geschickt, um ein Kind zu bekommen, und du wirst es auch bekommen, und die Ärzte und Wissenschaftler und Psychologen werden dieses Kind auf Herz und Nieren prüfen, und zwar ehrlich prüfen, ob es von den Normen der menschlichen Rasse abweicht oder nicht. Aber glaubst du denn wirklich, der WKD hat einen solchen Test noch nötig?« Ellen ging aufs Ganze. Ich wußte, als ich sie holen ging, daß sie Shirley wenigstens teilweise die Wahrheit würde sagen müssen; aber ich hatte gehofft, daß sie einen weniger grausamen Ausweg finden würde. Jetzt brauchte sie ihre schauspielerischen Künste nicht mehr spielen zu lassen. Shirley hielt den Atem an vor Spannung. Ellen bewegte ihren Kopf langsam hin und her, als sie fortfuhr: »Nein, Shirley, die Männer, die eine Welt untersuchen, bevor sie kolonisiert wird, mögen in diesem Stadium nicht sicher sein, wie Menschen auf ihr gedeihen werden, aber nachdem einige Tausend ein Jahr lang und Hunderttausende mehrere Jahre dort gelebt haben, und wenn schließlich eine Million dort angesiedelt worden ist, wissen die Fachleute mehr über den Planeten und seine Einwirkung auf die menschliche Natur, als ein einzelnes Experiment ihnen sagen kann. Du weißt, daß die First Lady ein Symbol ist. Nun, der Test der ersten Geburt ist es auch. Der WKD kennt das Resultat im voraus. Doch
solange die Menschen unvernünftig und abergläubisch und ungebildet und seelisch unreif sind, wird dieser symbolische Test nötig sein, der Test, der angeblich beweist, ob eine Welt lebensfähig ist oder nicht. Doch für den WKD ist er kein Beweis, er ist nur die Bestätigung einer neunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit, die nach vernünftigem Ermessen so viel bedeutet wie Sicherheit. Sagt dir das etwas? Verstehst du, was das für dich bedeutet?« »Ja«, hauchte Shirley. »Und nun möchtest du gerne hören, wie es mit Lotrin steht. Bis jetzt durftest du es nicht wissen. Doch nun muß und werde ich es dir sagen, und noch etwas mehr. Höre gut zu und behalte es für dich: Das ganze Kolonisationssystem ist auf den First Ladies aufgebaut. Sage es auch nicht deinem Bill, oder wie er sonst heißen mag. Er weiß es nicht. Niemand weiß es außer dem WKD. Du warst niemals in Gefahr, Shirley. Lotrin ist gesund, ist sicher. Dein Kind wird normal sein wie das Kind jeder anderen Frau in einer menschlichen Welt. Ich wiederhole, der WKD weiß das. Und jetzt frage ich dich, willst du immer noch Joe nicht aufgeben?« So kam es, daß ich kurz darauf mit Shirley auf dem Lotrin landete. Ohne Ellen. Die Gesetze des WKD ließen es nicht zu. Keine Frau, außer der First Lady, durfte, nicht einmal für fünf Minuten, den Boden eines Planeten in der Situation des Lotrin betreten. Ich sah, was Shirleys Ankunft für die neue Welt bedeutete. Alextown war die Hauptstadt des Lotrin, und buchstäblich ihr letzter Einwohner war auf dem Flugplatz, um sie zu bewillkommnen. Was sich dabei
abgespielt hat, kann ich nicht beschreiben. Sie würden denken, ich sei verrückt. Haben Sie je gesehen oder gehört, was eine Fahne oder ein Kreuz oder irgendein anderes Zeichen für ein Volk bedeuten kann, das buchstäblich auf der Scheide zwischen Sein oder Nichtsein lebt? Nun, dann stellen Sie sich vor, dieses Symbol ist nicht eine Fahne oder ein Kreuz oder sonst ein Zeichen, sondern eine lebendige, atmende, schöne Frau, und versuchen Sie sich dann weiter vorzustellen, daß diese Frau in ein Land kommt, das noch kein weiblicher Fuß je betreten hat. Ihre Phantasie wird Millionen von Meilen hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Als ich mich von Shirley verabschiedete, mußte sie sich sichtlich anstrengen, meiner Existenz wieder Beachtung zu schenken. Nicht, daß ihr Gefühl, in mich verliebt zu sein, so oberflächlich, beiläufig oder gar unecht gewesen wäre. Es war die Tatsache, daß sie inzwischen etwas erlebt hatte, das, wenn das Bild erlaubt ist, jeden Heiden zum Christen gemacht hätte. Ich war für sie schon nichts anderes mehr als eine Episode in einer vollkommen bedeutungslos gewordenen Vergangenheit, und es spielte keine Rolle, wie wichtig im Grunde diese Episode für ihre Zukunft gewesen war. Ellen schien mich mit Ungeduld erwartet zu haben, als ich zur Sardonia zurückkam. Sie stellte mir keine Frage, sie sah mir nur in die Augen. Und auch dann sagte sie nichts, sie seufzte nur. »Ich weiß nicht, wie ich es durchgestanden habe«, murmelte ich. »Ich weiß es von mir auch nicht«, erwiderte Ellen mit jener bestrickenden Liebenswürdigkeit, die Shir-
ley zweimal entwaffnet hatte. »Laß es mich als erste sagen, Joe. Dies war das letzte Mal, daß wir so etwas getan haben.« »Es ist immer das letzte Mal für den, der es tun muß«, sagte ich. »Das ist der Grund, weshalb wir diesen Auftrag bekommen haben. Keiner kann es zweimal tun. Und in jeder Generation kann es immer nur wenige geben, die den traurigen Mut haben, es auch nur einmal zu tun.« Sie gab mir keine Antwort hierauf, und ich hatte auch keine erwartet. Alles, was Ellen zu Shirley gesagt, entsprach der Wahrheit, bis auf den Schluß. Natürlich wußte der WKD, was geschehen würde, bevor er die First Lady in eine neue Welt schickte. Nicht lange vorher, nicht eher, als bis diese Welt so weit kolonisiert war, daß genügend Unterlagen vorhanden waren, um Schlüsse daraus ziehen zu können, doch bestimmt vor der Wahl der First Lady. Wir wußten es, bevor wir Shirley aufsuchten. Der Auftrag war uns im tiefsten zuwider, doch wir sahen ein, daß er ausgeführt werden mußte. Der Lotrin mußte seine First Lady haben. Pioniere, die gearbeitet, geschuftet und ihr Leben eingesetzt hatten, um eine neue Welt zu bauen, würden einem Reagenzglas keinen Glauben schenken. Sie würden es nicht fassen können, wenn man ihnen ohne den vorausgegangenen letzten gewohnten Test der First Lady verkünden würde, daß die Kolonisation nicht fortgesetzt würde, daß ihre Welt zum Aussterben verurteilt sei auf Grund von Laboratoriumsversuchen. Aber sie werden ihren eigenen Augen glauben, wenn sie Shirleys Kind sehen. Und darüber, wie dieses Kind aussehen würde, hatte Ellen das Gegenteil
von dem gesagt, was sie wußte. Shirley hatte geglaubt, ich hätte mich in sie verliebt, weil eine Frau immer bereit ist, das von jedem Mann zu glauben. Sie konnte nicht vermuten, daß es mir unmöglich war, ständig mit ihr zusammen zu sein und sie so ahnungslos zu sehen, ohne daß sie mir leid tat ... Nein, Ellen war nicht schlechter als ich. Sie hatte Shirley mit Worten betrogen, ich durch die Tat. »Es ist nicht neunzigprozentig sicher«, sagte sie leise. »Nur ungefähr 75 Prozent Wahrscheinlichkeit. Es bleibt immer noch eine Chance ...« Ich wollte sie fragen: Würdest du sie eingehen? Aber ich tat es nicht. Ja, Ellen wäre eine 1 : 4-Chance eingegangen, für eine ganze Welt. Und es war ihre zweite Lüge gegenüber Shirley gewesen, als sie sagte, sie würde es nicht tun, eine Lüge, um Shirleys Zuneigung zu ernüchtern, bevor Ellen sie erwidern mußte. Nein, es war kein absolut auswegloses Schicksal, dem wir Shirley überantwortet hatten, versuchte ich mir einzureden. Ellen hätte es auf sich genommen, Ellen, die meine Frau war. Ich versuchte auch, mich mit dem Gedanken zu trösten, daß Ellen eine der wunderbarsten Frauen war, die je geboren wurden. Dies war auch der Grund, weshalb alle Menschen sie wider alle Vernunft lieben mußten, sagte ich zu mir. Ich gab es nicht oft zu, aber Ellen war ... Ich sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick. Doch alles, was ich sah, war Shirleys Gesicht. Originaltitel: FIRST LADY
Ray Bradbury STUNDE NULL Oh, es war wunderbar, das neue Spiel! Seit Jahren hatte es nichts Schöneres, nichts Aufregenderes gegeben! Die Kinder schossen hin und her auf dem grünen Rasen, versteckten und jagten sich, schrien durcheinander, faßten sich bei den Händen, tanzten im Kreise, kletterten auf die Bäume, strahlten, lachten, jauchzten. Hoch über ihnen rauschten die Raketenschiffe, auf den Straßen summten die AtomSkooter vorbei, doch die Kinder beachteten sie nicht, spielten weiter, begeistert, fanatisch. Mink kam ins Haus gerannt, zerzaust, schwitzend, schmutzig. Für ihre sieben Jahre war sie ein geräuschvolles, energisches, entschiedenes Persönchen. Ihre Mutter, Mrs. Morris, sah sie in der Küche verschwinden, folgte ihr und stellte entsetzt fest, daß ihr Töchterchen dabei war, Schubladen und Schränke aufzureißen und Pfannen, Töpfe und anderes Küchengerät in einen großen Sack zu füllen. »Um Himmels willen, Mink, was machst du da?« »'s ist für unser Spiel!« japste Mink. »Was ist das für ein Spiel?« »Das dollste, was wir je gespielt haben!« verkündete Mink mit glühenden Bäckchen und glänzenden Augen. »Du bist ja vollkommen außer dir, Kind. Ruh dich erst einmal aus, bevor du weiterspielst.« »Ich bin nicht müde«, keuchte Mink. »Darf ich die Sachen haben, Mammi?«
»Gut. Aber verbeule sie nicht.« Mrs. Morris mußte lächeln. »Nein, Mammi! Danke, Mammi!« Und Mink flitzte aus der Küche. Mrs. Morris rief ihr nach: »Wie heißt denn euer aufregendes Spiel?« »Invasion!« krähte Mink. Knallend schlug die Tür zu. Aus allen Häusern der Straße trugen die Kinder Messer, Gabeln, Schürhaken, alte Ofenrohre, Büchsenöffner und andere Haushaltsgeräte und Werkzeuge auf den Spielplätzen zusammen. Es war auffallend, daß diese seltsame Geschäftigkeit sich nur der kleineren Kinder bemächtigt hatte. Die älteren, etwa vom zehnten Lebensjahr ab, fanden das neue Spiel zu »kindisch«, wandten sich verächtlich ab von dem albernen Getue und spielten ihre eigenen, ihres Alters würdigeren Spiele. Die Erwachsenen, die vorbeikamen, freuten sich an dem Anblick der tobenden Kleinen, wunderten sich vielleicht etwas über den wilden Eifer, mit dem sie sich ihrem unbekannten Spiel hingaben, lächelten dann aber großmütig über den kindlichen Unsinn und wünschten sich wohl insgeheim, mitmachen zu dürfen. »Du machst so, und du so, und du so!« kommandierte Mink die anderen Kinder, die Löffel und Schraubenschlüssel in den Händen hielten. »So, und jetzt macht es mir nach und lauft dann hierher! los! ... Nein! Hierher, du Dummkopf! ... So ist's richtig. Und jetzt geht zurück, damit ich meins mache. Paßt auf!« Die Zunge zwischen den Zähnen, die kleine Stirn in grimmigen Falten, vollführte sie rätselhafte Bewegungen mit zwei Bratpfannen. »So ... und so ... und
so! Habt ihr jetzt verstanden?« »Jaaaa!« schrien die Kinder. Der zwölf Jahre alte Joseph Connors näherte sich, blieb neugierig stehen. »Geh weg!« fuhr Mink ihn an. »Ich möchte mitspielen«, sagte Joseph. »Nein!« erwiderte Mink finster. »Warum nicht?« »Du willst uns nur verspotten.« »Ehrenwort, bestimmt nicht.« »Doch. Wir kennen euch. Geh weg, oder ich tret' dir ans Schienbein!« Ein anderer zwölfjähriger Junge sauste herbei auf kleinen Motorrollschuhen. »He, Joe! Komm! Laß doch die dummen Gören!« Joseph runzelte die Stirn. »Ich will aber mitspielen!« »Nein. Du bist zu alt«, sagte Mink energisch. »Aber doch nicht so alt«, schmollte Joe. »Doch. Du würdest nur über uns lachen und die Invasion verderben.« Der Junge auf den Motorrollschuhen lachte höhnisch. »Komm, Joe! So ein blöder Quatsch!« Joseph entfernte sich zögernd und warf immer wieder sehnsüchtige Blicke zurück auf die Kinder, die ihr Spiel sofort wieder aufgenommen hatten. Unter Minks Anleitung bauten sie jetzt mit den zusammengetragenen Gegenständen einen geheimnisvollen Apparat. Dann gab Mink einem anderen kleinen Mädchen eine Notizblock und einen Bleistift und begann, der unbeholfenen Schreiberin, die mit ihrem mühsamen Gekritzel nur langsam folgen konnte, sonderbare Worte zu diktieren. Die hellen Stimmchen
stiegen schrill in die warme Sommerluft. Und rings um sie herum summte die große Stadt. Die Straßen waren gesäumt von blühenden Beeten und schattenspendenden Bäumen. In den Blättern spielte ein sanfter Wind, der vom Meer zu seiner Reise über das Land aufgestiegen war, über den Kontinent, über tausend andere Städte, in denen wie hier die Erwachsenen ohne Hast ihrer Arbeit nachgingen und die Kinder auf grünem Rasen spielten. In dem blauen Himmel schossen die silbernen Passagier- und Frachtraketen wie Weberschiffchen von Horizont zu Horizont. Über allem lag die unbekümmerte Ruhe einer Menschheit, für die der Frieden eine Selbstverständlichkeit geworden war, weil sie wußte, daß nie wieder ein Krieg kommen würde. Alle Länder und Völker der Erde waren vereint in einem einzigen Bündnis. Die vollkommenen Waffen waren im Besitz aller Nationen, das harmonische Gleichgewicht der Kräfte hatte ein nie erlebtes Vertrauen geboren. Die gemeinsame, friedliche Ausnutzung der gebändigten Atomkraft hatte zum Wohlstand aller geführt. Es gab keine Verräter auf der Erde, denn es gab keine Unzufriedenen mehr. Während jetzt die eine Hälfte der Menschheit sich des Lebens und der Sonne freute, schlief die andere ohne Angst einem sorglosen Tag entgegen. Minks Mutter stand an einem Fenster der ersten Etage und schaute auf den Spielplatz hinunter. Diese Kinder! Halb belustigt, halb besorgt schüttelte sie den Kopf. Nun, je schlimmer sie tobten, um so besser würden sie essen und schlafen. Am Montag begann ohnehin wieder die Schule. Gott segne ihre zarte Gesundheit.
Mrs. Morris horchte auf. Mink stand etwas abseits von den anderen bei dem Rosenstrauch und sprach mit ernstem Gesicht zu jemandem, der nicht da war. Einfälle haben diese Kinder! Das kleine Mädchen, das da am Boden hockte, ... wie hieß es noch? ... richtig, Anna! ... Anna hatte einen Schreibblock auf den Knien und machte Notizen. Zuerst stellte Mink dem Rosenstrauch eine Frage und rief dann Klein-Anna die Antwort zu. »Triangel«, diktierte Mink jetzt. »Was ist ein ... ein Triang?« stotterte Anna. »Das ist doch gleich. Schreib's nur auf!« Mink wurde ungeduldig. »Wie schreibt man das denn?« fragte Anna ängstlich. »T- r - i -« buchstabierte Mink stockend, unterbrach sich ärgerlich: »Oh, schreib's doch, wie du willst!« Dann lauschte sie in den Rosenbusch und rief Anna ein neues Wort zu: »Strahl!« »Ich bin noch nicht fertig mit dem Tri«, jammerte Anna. »Los! Los! Mach doch schnell!« schrie Mink wütend. Minks Mutter lehnte sich aus dem Fenster und rief Anna zu: »A - n - g - e - l!« »Oh, danke schön, Mrs. Morris«, antwortete Anna aufatmend. »Oh, bitte!« sagte Minks Mutter, zog schnell den Kopf zurück, weil sie laut auflachen mußte, und ging die Treppe hinunter. Die Stimmen der Kinder folgten ihr. »Strahl«, wiederholte Anna.
»Vier – neun – sieben – A und B und X«, diktierte Mink weiter. Ihre Stimme klang erregt. »Und eine Gabel und eine Schnur und ein ... Hex – Hex – agony ... Hexagonal!« Zum Mittagessen stürmte Mink herein, trank ihre Milch in einem Zuge aus und war schon wieder an der Tür. Energisch schlug ihre Mutter auf den Tisch. »Hier bleibst du sitzen!« befahl Mrs. Morris. »Zuerst ißt du deine Suppe.« Sie drückte auf einen roten Knopf des Küchenautomaten, und zehn Sekunden später plumpste aus der Rohrpostleitung für fertige Gerichte ein Kunststoffbehälter in den KautschukEmpfänger. Mrs. Morris nahm ihn heraus, entfernte mit einem Ruck den Vakuumverschluß und goß heiße Suppe in eine Schüssel. Unterdessen rutschte Mink auf ihrem Stuhl unruhig hin und her. »Schnell, Mammi! Es geht um Leben und Tod! Ich ...« »Als ich so alt war wie du, ging es auch immer um Leben und Tod. Ich kenne das.« Mink schlang ihre Suppe hinunter. »Langsam! Langsam!« mahnte die Mutter. »Hab keine Zeit«, schluckte Mink. »Drill wartet auf mich.« »Wer ist Drill? Ein komischer Name!« »Du kennst ihn nicht«, antwortete Mink, ohne aufzuschauen. »Ist er neu hier in der Nachbarschaft?« fragte die Mutter. »Ganz neu«, sagte Mink und machte sich über ihren zweiten Teller Suppe her. »Welcher von den Jungen war Drill?« »Du hast ihn nicht gesehen«, wich Mink aus. »Er ist
... ich kann's dir nicht sagen. Du lachst mich aus. Alle Erwachsenen lachen uns aus.« »Ist Drill schüchtern?« »Ja ... nein ... doch. O weh, Mammi, ich muß rennen, wenn die Invasion klappen soll!« »Wer will eine Invasion machen? Und wohin?« »Die vom Mars ... bei uns. Das heißt, eigentlich sind sie nicht vom Mars. Sie sind ... ich weiß nicht. Von oben.« Sie deutete mit dem Löffel zur Decke. »Ich glaube, sie sind von hier drinnen«, sagte Mrs. Morris und legte ihre Hand auf Minks glühende Stirn. Das Kind wich zurück. »Siehst du! Jetzt lachst du mich aus. Du wirst damit Drill und die anderen alle töten.« »Oh, das wollte ich nicht ... Ist Drill ein Marsmensch?« »Nein. Er ist ... Ich weiß nicht. Vielleicht kommen sie vom Jupiter oder vom Saturn oder von der Venus. Drill sagt, sie haben es schwer gehabt, bis sie soweit waren mit der Invasion.« »Das kann ich mir denken.« Mrs. Morris hielt die Hand vor den Mund, um ihr Lächeln zu verbergen. »Sie wußten zuerst nicht, wie sie auf der Erde landen könnten.« »Und wissen sie es jetzt?« »Drill sagt, sie mußten einen Weg finden, uns zu überraschen, und dazu brauchten sie jemand auf der Erde, der ihnen hilft.« »Sieh mal an! Eine fünfte Kolonne also!« »Ja, Mammi, so hat Drill es genannt!« »Und die haben sie jetzt gefunden?« Mrs. Morris wandte sich schmunzelnd ab und begann, den Tisch
abzuräumen. »Ja.« Mink blieb sitzen und starrte vor sich hin, als sähe sie, wovon sie sprach. »Aber nicht gleich. Doch eines Tages ist ihnen das mit den Kindern eingefallen.« »Und was war das?« »Drill hat gesagt, es hätte etwas damit zu tun, daß Kinder mehr Phantasie haben als die Großen und daß die Großen keine Zeit haben, auf dem Rasen zu spielen und unter die Rosenhecken zu schauen.« »O doch, wenn sie Pilze suchen!« »Nein, nicht so! Drill sagt, es hat etwas zu tun mit ... mit Mater... Materation ... Matersisation.« »Materialisation?« »Ja, so hat er gesagt. Und mit ... Dim... Dimensonen.« »Dimensionen?« »Ja, Mammi, du weißt ja schon alles. Aber Drill hat gesagt, es gibt vier davon, und nur Kinder unter neun Jahren können die vierte begreifen. Ja, so hat er gesagt. Weil wir noch an Märchen glauben. Oh, es ist schön, zuzuhören, wenn Drill Märchen erzählt.« »So? Und meine Märchen gefallen dir nicht mehr?« sagte Mrs. Morris mit gespieltem Schmollen. »Nein, Mammi. Drill sagt, eure Märchen können nicht wahr werden, weil ihr nicht daran glaubt.« Mrs. Morris wurde nachdenklich. Dann sagte sie: »Nun, mein Kind, das wirst du verstehen, wenn du größer geworden bist. Und jetzt laß deinen Drill nicht länger warten. Ihr müßt euch beeilen, wenn eure Invasion noch vor dem Abendessen stattfinden soll. Und vorher mußt du noch in die Badewanne.« »Warum muß ich immer baden?« maulte Mink.
»Weil du immer schmutzig bist wie ein kleines Ferkel. Mein Gott, wie kommt es, daß Kinder sich so ungern waschen? Na, zu meiner Zeit war es ja auch schon so, und das wird wohl immer so bleiben.« »Drill sagt, nach der Invasion brauche ich nicht mehr zu baden.« »Meint er?« »Er hat's zu allen Kindern gesagt. Wir brauchen uns nur noch zu waschen, wenn wir wollen. Und abends dürfen wir aufbleiben bis zehn Uhr, und samstags können wir zweimal ins Kino gehen anstatt nur einmal.« »Und das bestimmt Mr. Drill! Ich glaube, dieser junge Herr sollte sich mal lieber um seine Schulaufgaben kümmern. Wenn er euch noch mehr solche Flöhe ins Ohr setzt, werde ich mal seine Mutter anrufen.« Mink ging zur Tür, wandte sich noch einmal um und sagte ernst: »Ich hätte dir nichts sagen sollen. Mit Pete Britz und Dale Jerrick war es auch so. Sie sind zu erwachsen für unser Spiel, haben sie gesagt. Sie glauben nicht an Drill. Sie sind schlimmer als Eltern. Sie lachen uns aus. Ich hasse sie. Wir werden sie zuerst töten.« »Und Vater und mich zuletzt.« »Drill sagt, ihr seid gefährlich. Weißt du, warum? Weil ihr nicht an die vierte Dimen... Dimension glaubt! Er sagt, sie würden uns die Welt regieren lassen. Natürlich nicht nur uns von unserem Viertel, auch die vom nächsten und alle anderen, die mitspielen. Ich werde vielleicht Königin.« Ihre Augen leuchteten. »Mammi?«
»Ja, was ist denn noch?« »Was ist lo... logisch, Mammi?« »Logisch? ... Nun, mein Kind, logisch ist, wenn man weiß, was wahr ist und was nicht wahr ist.« »Davon hat er auch gesprochen«, sagte Mink. »Und was ist naiv?« Die Mutter sah ihr Kind zärtlich lächelnd an. »Naiv, das bedeutet, ein Kind zu sein, mein Kleines.« »Danke fürs Essen, Mammi!« Mink schlüpfte hinaus, steckte aber sofort wieder den Kopf durch die Tür. »Mammi, ich versprech dir, daß es nicht weh tun wird, bestimmt!« »Oh, danke, mein Kind!« Knallend schlug die Tür zu. Um vier Uhr summte das Fernsehtelefon. Mrs. Morris setzte sich vor das Gerät und drückte auf eine Taste. »Hallo, Helen«, begrüßte sie lächelnd die junge Frau, die auf dem Bildschirm erschien. »Hallo, Mary. Wie geht es bei euch in New York?« »Gut. Und bei euch in Scranton? Du siehst müde aus.« »Du auch. Ja, die Kinder. Sie machen einen fertig«, erwiderte Helen. Mrs. Morris seufzte. »Mink ist außer Rand und Band. Sie erwartet die große Invasion.« Helen lachte. »Spielen die Kinder bei euch dieses Spiel auch?« »Ja, seit einigen Tagen. Aber morgen kommen dann wieder Motorrollschuhe oder etwas anderes dran. Sag, waren wir auch so schlimm, als wir so alt waren?« »Schlimmer. Das war 1948. Wir haben Japs und Nazis gespielt. Unsere armen Eltern tun mir heut noch leid. Wir müssen ihnen böse zugesetzt haben.«
»Eltern lernen es, nicht hinzuhören.« Die beiden Mütter schwiegen. »Was ist mit dir, Mary?« fragte Helen. Mrs. Morris hatte die Augen halb geschlossen. Ihre Zunge glitt langsam über die Oberlippe. »Wie?« Sie fuhr zusammen. »Oh, nichts. Ich dachte darüber nach, über das Nichthinhören und Nichthörenwollen. Entschuldige. Wovon sprachen wir?« »Ich wollte dir noch sagen, Tim, mein Junge, hat einen Narren gefressen an einem neuen Freund, der unsichtbar ist. Ich glaube, Drill heißt er.« »Oh, das ist das neue Spiel. Mink schwört auch auf ihren Drill.« »Ich hatte nicht gewußt, daß er auch schon New York erobert hat. Das geht ja schnell wie ein Lauffeuer. Ich habe mit Josephine in Boston gesprochen, und sie erzählte mir, daß auch ihre Kinder ganz verrückt sind auf das neue Spiel. Das scheint eine richtige Landplage zu sein.« Die Haustür wurde aufgerissen. Mink sauste in die Küche, um ein Glas Wasser hinunterzustürzen. Mrs. Morris wandte sich um. »Nun, wie steht's mit eurer Invasion?« »Bald ist's soweit.« »Wunderbar!« Mrs. Morris lächelte und stutzte. »Was ist denn das?« »Ein Jo-Jo«, erwiderte Mink stolz. »Paß mal auf!« Sie ließ das Jo-Jo an der Schnur herunterlaufen. Als es das Ende der Schnur erreicht hatte ... verschwand es. »Hast du gesehen?« fragte Mink triumphierend. »Und jetzt ... wuppdich!« Sie schnipste mit den Fingern. Das Jo-Jo erschien wieder und lief an der
Schnur hinauf. »Mach das noch einmal«, sagte Mrs. Morris verblüfft. »Keine Zeit. Um fünf Uhr ist Stunde Null. Ich muß ...« Ihr Jo-Jo tanzen lassend rannte Mink hinaus. Mrs. Morris hörte vom Bildschirm her ein Lachen, und Helen sagte: »So ein Jo-Jo hat auch Tim heute morgen nach Hause gebracht. Als ich neugierig wurde, sagte er, er dürfte es mir nicht zeigen. Ich hab's ihm schließlich weggenommen und den Trick versucht. Bei mir hat es aber nicht geklappt.« »Kein Wunder! Du bist nicht naiv genug«, sagte Mrs. Morris rätselhaft lächelnd. »Was willst du damit sagen?« »Ach, nichts. Ich dachte an den Unsinn, den Mink erzählt, von ihrem Drill. Reden wir nicht mehr davon. Weshalb hast du angerufen, Helen?« »Weißt du, ich bin dieses fertige Zeug aus der Zentralküche leid. Ich möchte mal wieder einen richtigen, altmodischen Kuchen backen. Hast du noch das Rezept für den wunderbaren Marmorkuchen, den wir das letzte Mal bei euch ...?« Träge verrann Stunde um Stunde. Der Tag ging zur Neige. Im friedlichen Blau des Himmels sank die Sonne dem Horizont entgegen. Die Schatten auf dem grünen Rasen wurden länger. Das Spiel der Kinder ging weiter, wurde immer erregter, lauter. Weinend entfernte sich ein kleines Mädchen von dem Spielplatz. Mrs. Morris trat vor die Haustür. »Mink, war das Peggy Ann, die da eben weinend weglief?« Mink stand vornübergebeugt in der Nähe des Rosenstrauchs. »Jaaa. Sie ist 'ne Heultrine. Sie darf nicht
mehr mitspielen. Sie ist zu alt. Ich glaube, sie ist auf einmal erwachsen geworden.« »Und deshalb fängt sie an zu weinen? Das ist doch Unsinn. Gib mir eine anständige Antwort, mein Fräulein, oder du kommst sofort herein!« Mink richtete sich auf, störrisch, gereizt. »Ich kann jetzt nicht hier weg. Es ist gleich soweit. Ich will brav sein. Ich muß jetzt ...« »Hast du Peggy Ann geschlagen?« »Nein. Ehrenwort. Du kannst sie fragen. Sie hat Angst vor Drill, die dumme Gans.« Der Ring der Kinder schloß sich wieder um Mink, die aufgeregt mit einem Löffel an dem Aufbau herumzuhantieren begann, den sie aus Töpfen und Röhren und allen möglichen und unmöglichen Gegenständen errichtet hatten. »Los! So zieht doch! Los! Fester!« hörte Mrs. Morris ihre Tochter schimpfen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« rief sie hinüber. »Drill ist steckengeblieben. Auf halbem Weg. Wenn wir ihn ganz heraus haben, wird's leichter. Dann können die anderen auch durch.« »Kann ich helfen?« »Nein, danke, Mammi! Ich schaff's schon.« »Gut. In einer halben Stunde rufe ich dich zum Baden. Und sei artig. Ich habe keine Lust, dauernd auf dich aufzupassen.« Sie ging ins Haus zurück und setzte sich in den elektrischen Schaukelstuhl, trank einen Schluck aus dem halbleeren Bierglas und schaltete den Schaukelmechanismus ein. Die Lehne massierte wohltuend ihren Rücken. Sie schloß die Augen. War sie auch so, als sie noch ein Kind war? Wie sieht es in so einem
Kinderherzen aus? Gibt es das, Haß und Liebe nebeneinander? Müssen denn Kinder ihre Eltern nicht manchmal zugleich lieben und hassen? Können sie denn die oft unverstandenen Schläge und Scheltworte, die unerfüllten Wünsche und strengen Verbote vergessen und verzeihen? Haben nicht früher auch die Erwachsenen ihre grausamen Diktatoren gleichzeitig angebetet und gehaßt? Die Zeit kroch schläfrig dahin. Eine seltsame Stille senkte sich auf die Straße, auf die Stadt, wurde immer tiefer. Irgendwo im Haus begann eine Uhr zu schlagen, begleitet von einer singenden Stimme: »Fünf Uhr! Fünf Uhr! Eile mit Weile! Zeit ist Illusion! Fünf Uhr!« Und wieder herrschte Schweigen, als stünde das Leben still. Stunde Null. Mrs. Morris lächelte ... Stunde Null! Ein Atom-Skooter summte in die Einfahrt. Es war Mr. Morris. Mrs. Morris lächelte. Mr. Morris stieg aus und rief Mink, die in ihr Spiel vertieft war, ein Grußwort hinüber. Mink beachtete ihn nicht. Er lachte und sah den Kindern, die dicht gedrängt in einem Haufen stumm um den Rosenstrauch standen, eine Weile zu. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf und ging die Stufen hinauf. »Hallo, Liebling.« »Hallo, Henry.« Sie beugte sich in ihrem Sessel nach vorn, lauschte. Die Kinder waren still. Zu still. Er klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie wieder. »Ein wunderbarer Tag heute. Da lernt man es so richtig
schätzen, daß man lebt.« Sssssss! Das Summen kam von draußen. »Was ist das?« fragte Henry. »Ich weiß nicht.« Mrs. Morris erhob sich jäh, ihre Augen weiteten sich. Sie wollte etwas sagen. Sie sagte es nicht. Lächerlich ... ihre Nerven gingen mit ihr durch. »Die Kinder haben doch nichts Gefährliches da draußen zum Spielen?« fragte sie. »Nur Rohre, Töpfe und harmloses Werkzeug. Warum?« »Nichts Elektrisches?« »I wo, nein«, antwortete Henry. »Ich habe nichts gesehen.« Mrs. Morris wandte sich zur Küche. »Geh doch lieber hinaus und sage ihnen, sie sollen aufhören. Es ist fünf Uhr vorbei. Sage ihnen ...« Ihre Augenlider flatterten. »Sage ihnen, sie sollen ihre Invasion auf morgen verschieben.« Sie lachte nervös. Das Summen wurde lauter. »Was machen sie denn da draußen? Ich will doch lieber nachschauen.« Wumm! Eine dumpfe Explosion erschütterte das Haus. Die Eltern erstarrten. Weitere Explosionen klangen herüber von den benachbarten Straßen, aus anderen Teilen der Stadt. Mrs. Morris kreischte auf. »Schnell nach oben!« schrie sie dann, ohne zu wissen, warum, und lief zur Treppe. Es war keine Zeit mehr, Henry zu überzeugen. Sollte er glauben, sie sei irrsinnig geworden. Ja, es war Irrsinn! Schreiend rannte sie die Stufen hinauf.
Er lief ihr nach, wollte sie zur Vernunft bringen. »In der Dachkammer!« schrie sie. »Dort ist es!« Es war nur eine schwache Ausrede, um ihn rechtzeitig in die Dachkammer zu bekommen. Oh, mein Gott ... rechtzeitig! Draußen knallte es wieder. Dieses Mal heller. Und es knatterte weiter. Die Kinder brachen in Jubelgeschrei aus, als ob ein großes Feuerwerk eingesetzt hätte. »Es ist nicht in der Dachkammer!« rief Henry. »Es ist draußen! Bei den Kindern!« »Nein, nein!« Wimmernd, keuchend mühte sie sich ab, die Tür der Dachkammer aufzuschließen. »Ich zeig dir's! Schnell, komm! Ich zeig dir's!« Die Tür flog auf. Sie stolperte hinein, riß ihren Mann mit sich, schlug die Tür wieder zu, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um, zog ihn heraus und warf ihn in eine Ecke hinter Gerümpel. Sie stammelte sinnloses Zeug. Es brach aus ihr heraus, alle Ahnungen und Ängste, die ihr im Laufe des Nachmittags gekommen und von ihrer Vernunft unterdrückt worden waren, alle die kleinen Enthüllungen und Erkenntnisse, die sie als Unsinn verworfen hatte; sie hatten in ihrem Unterbewußtsein weitergewirkt, ihre Erwachsenen-Logik hatte sich dagegen gewehrt, und nun waren sie wahr geworden. Doch wie sollte Henry es verstehen, das Entsetzliche, Unfaßbare? Ein wildes Schluchzen schüttelte sie. Sie starrte auf die Tür und stammelte: »Hier sind wir sicher bis zur Nacht! Vielleicht können wir in der Dunkelheit das Haus verlassen! Vielleicht können wir uns retten!« Henry verlor die Geduld, wurde böse. »Bist du ver-
rückt geworden? Warum wirfst du den Schlüssel weg? Was soll das?« »Ja, ja, ich bin verrückt, wenn du willst, aber bleibe hier bei mir!« »Wie soll ich denn hier heraus, verflixt noch einmal, ohne Schlüssel.« »Still! Sonst hören sie uns. O Gott, wenn sie uns finden ...« Die Eltern sahen sich an. Sie hörten unter sich die Stimme Minks. Und dann klang ein Summen und Zischen herauf, ein Plappern und Kichern von Kindern. Dazwischen schrillte jetzt auch das Läutewerk des Fernsehtelefons, laut, eindringlich, drohend. Ist das Helen? dachte Mrs. Morris. Ruft sie an, weil ... Schritte kamen ins Haus. Schwere Schritte. »Wer dringt da ins Haus ein?« fragte Henry ärgerlich. »Wer trampelt dort unten herum?« Immer mehr schwere Füße betraten das Haus. 20, 40, 50 Personen mußten es sein. Das Summen wurde stärker. Die Stimmen der Kinder kamen näher. »Hier hinauf!« rief Mink. »Wer ist unten«, brüllte Henry. »Wer erlaubt sich ...« »Still! Nicht, nicht!« jammerte seine Frau schwach. »Um Himmels willen, sei still! Vielleicht gehen sie wieder.« »Mammi?« rief Mink. »Pappi?« Eine Pause. »Wo seid ihr?« Schwere Schritte stampften die Treppe herauf, langsam, immer näher. Voran trippelten Minks Füßchen. »Mammi?« Ein Zögern. »Pappi?« Und wieder
fürchterliches Schweigen. Ein Summen. Minks Schritte kamen auf die Dachkammer zu. Die schweren Füße schlurften hinterher. Zitternd standen Mr. und Mrs. Morris hinter der Tür. Das elektrische Summen, das plötzlich unter der Tür erscheinende kalte, seltsame Licht, der fremde Geruch, der hereindrang, und der so unheimliche Ton von Eifer und Tücke in Minks Stimme ließen jetzt auch in Henry die Erkenntnis dessen aufdämmern, was geschehen war. Erschauernd umschlang er seine Frau, die sich an ihn klammerte. »Mammi! Pappi!« Zwei hastige Schritte. Ein Zischen. Das Türschloß zerschmolz. Die Tür flog auf. Mink blinzelte in den halbdunklen Raum. Hinter ihr standen große, blaue Schattengestalten. »Kuckuck«, sagte Mink.
Originaltitel: ZERO HOUR
Katherine MacLean BILDER LÜGEN NICHT Der Reporter der News fragte: »Was halten Sie von den Fremdlingen, Mr. Nathen? Sind sie friedlich? Sehen sie menschlich aus?« »Sehr menschlich«, erwiderte der schmächtige junge Mann. Draußen schlug mit stetigem, gedämpftem Trommeln der Regen gegen die großen Scheiben, trübte und verzerrte den Blick auf den Flugplatz, wo sie landen würden. Die Pfützen auf dem betonierten Rollfeld wurden von den Regentropfen wie mit Pokkennarben gezeichnet, und das Gras, das zwischen den Startbahnen des unbenutzten Flughafens wucherte, neigte sich glitzernd unter den Windstößen. In respektvoller Distanz von der Stelle, wo das riesige Raumschiff landen sollte, standen die FernsehÜbertragungswagen, in denen Kameramänner, vor dem Regen Schutz suchend, auf das große Ereignis warteten. Unsichtbar hinter den sandigen Hügeln der wüstenähnlichen Landschaft waren in einem weiten Ring schußfertige Flakgeschütze postiert, und auf Flugfeldern jenseits des Horizonts standen startbereite Bomber, um die Menschheit gegen einen möglichen Verrat des fremden Schiffes zu schützen, das als erstes aus dem Weltraum auf die Erde kam. »Wissen Sie etwas über ihren Heimatplaneten?« fragte der Vertreter des Herald. Der Korrespondent der Times, der mitten unter seinen Kollegen stand, hörte nur mit halbem Ohr zu was
sie sagten, und dachte an die Fragen, die er selbst stellen wollte, wenn es an der Zeit war. Joseph R. Nathen, der schmächtige junge Mann mit dem glatten, schwarzen Haar und dem blassen Gesicht wurde von seinen Interviewern mit auffallender Schonung behandelt. Er stand sichtlich unter einer großen Nervenanspannung, und sie hüteten sich, ihn durch zu viele Fragen auf einmal zu verärgern. Sie legten Wert darauf, sich bei ihm beliebt zu machen. Morgen würde er eine der größten Schlagzeilen-Berühmtheiten sein. »Nein, nichts Direktes.« »Keine Vermutungen oder Rückschlüsse?« bohrte der Mann vom Herald weiter. »Ihre Welt muß ihnen erdenähnlich erscheinen«, antwortete der müde aussehende junge Mann unsicher. »Die Umgebung formt das Lebewesen. Doch nur in relativen Maßstäben gesehen natürlich.« Er wich den fragenden Blicken aus. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen. »Das will aber nichts heißen.« »Erdenähnlich«, murmelte einer der Reporter und schrieb es auf, als sei ihm nichts anderes aufgefallen in der Antwort. Der Mann von der Times warf einen forschenden Blick auf seinen Kollegen vom Herald, um festzustellen, ob ihm nichts aufgefallen war, und begegnete in seinen Augen der gleichen Frage. Der hartnäckige Herald-Reporter wandte sich wieder an Nathen: »Sie halten es also für möglich, daß sie gefährlich sind?« Es war eine jener präsumptiven Fragen, die zum Widerspruch herausforderten und zur Preisgabe von
Fakten verleiteten, vorausgesetzt, daß sie ins Schwarze trafen. Sie wußten alle von den militärischen Vorsichtsmaßnahmen, obwohl diese geheim bleiben sollten. Die Frage hatte nicht die gewünschte Wirkung. Nathen blickte verloren zum Fenster hinaus. »Nein, das möchte ich nicht sagen.« »Sie glauben also, sie sind uns friedlich gesinnt?« fragte der Mann vom Herald, das Ziel von der Kehrseite angehend. Ein flüchtiges Lächeln umspielte die Lippen Nathens. »Die ich kenne, sind es.« Ein weiterer Vorstoß in dieser Richtung war zwecklos, und sie mußten Material für ihre Artikel haben, bevor das Schiff eintraf. Der Vertreter der Times fragte: »Wodurch kamen Sie mit ihnen in Kontakt?« Nach kurzem Zögern antwortete Nathen: »Durch Störungen. Radiostörungen. Die Armee hat Ihnen doch gesagt, welche Funktion ich habe?« Die Armee hatte ihnen nichts gesagt. Der Offizier, der sie zu dem Interview hergeführt hatte und wie ein Wachhund neben Nathen stand, machte ein finsteres Gesicht, als wollte er zu verstehen geben, daß es gegen seine Natur sei, überhaupt irgend jemandem irgend etwas zu sagen. Nathen sah ihn unschlüssig an, fuhr dann aber fort: »Ich bin Dechiffreur in der Fernmeldeabteilung des Militärischen Nachrichtendienstes. Mit Hilfe eines Peilgerätes suche ich alle Wellenbereiche ab, nehme alle chiffrierten Sendungen, die ich höre, auf Tonband auf und baue automatische Dechiffrierapparate für alle gefundenen Codeschlüssel.«
Der Offizier räusperte sich, sagte aber nichts. Die Reporter grinsten verstohlen und machten sich Notizen. Militärische Geheimniskrämerei hatte ihren Sinn verloren, seit die Rüstungskontrolle durch die UN auf internationaler Basis durchgeführt wurde. Da die Verpflichtung zur vollkommenen Offenheit eine Garantie gegen geheime Wiederaufrüstung darstellte, waren Spionage und Verrat zum Dienst an der allgemeinen Sicherheit geworden. Sie hatten ihren anrüchigen Charakter ins Gegenteil verkehrt. Es war ehrenvoll, neugierig zu sein, wo man früher den Kopf riskiert hatte. Noch nicht alle Militärs hatten sich daran gewöhnt. Nathen fuhr fort: »In meiner Freizeit beschäftigte ich mich damit, das Peilgerät auf die Sterne zu richten. Daß Sendegeräusche aus dem Weltraum zu uns kommen, das wissen Sie. Doch es sind nur Töne, die wie ein Rauschen klingen, unterbrochen von gelegentlichem Pfeifen. Man kennt diese Erscheinungen seit langem und hat viel Mühe darauf verwandt, herauszufinden, warum von Sternen ausgestrahlte Radiowellen in diesem verzerrten Rhythmus bei uns ankommen. Doch die kosmischen Botschaften schienen für immer unverständlich zu bleiben.« Er machte eine Pause und lächelte in sich hinein. Seine nächsten Worte würden ihn berühmt machen. Der Gedanke, der ihm gekommen war, während er in den Kosmos lauschte, war so einfach und genial gewesen wie jener, den Newton hatte, als er den Apfel fallen sah. »Ich kam zu der Überzeugung, daß es sich um verschlüsselte Nachrichten handeln mußte, und ver-
suchte, sie zu dechiffrieren.« Die Reporter sahen ihn erstaunt an. Er lächelte wieder und fuhr fort: »Es ist ein alter Trick der Geheimdienste, eine Nachricht auf Band zu sprechen und sie dann so schnell abzuspielen, daß sie wie ein Störgeräusch klingt, etwa wie ein kurzes Schnarren oder Pfeifen, und sie in dieser Form zu senden. Die Untergrundbewegungen haben diese Methode viel benutzt. Daran erinnerte ich mich und zog daraus meine Schlüsse.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie einen Code für ihre Radiosendungen an uns benutzen? Das wäre doch ...« fragte der Mann von den News. »Nein«, beeilte Nathen sich zu erklären, »es ist kein richtiger Code. Um solche Botschaften zu verstehen, braucht man sie nur auf Tonband aufzunehmen und dann langsam abzuspielen. Und außerdem senden sie nicht für uns. Wir können annehmen, daß sie in einem System von bewohnten Planeten leben, die untereinander in Radioverbindung stehen; und zwar benutzen sie für diesen interstellaren Verkehr Richtstrahlen, wahrscheinlich schon allein, um Energie zu sparen. Theoretisch kann ein solcher Richtstrahl seinen Weg ins Unendliche fortsetzen, ohne an Kraft zu verlieren. Doch es dürfte schwierig sein, mit ihm genau zu zielen. Auf solche Entfernungen von Planet zu Planet könnte man, selbst wenn man trifft, angesichts der unvermeidlichen Streuung nicht damit rechnen, daß ein Strahl länger als wenige Sekunden wirklich im Ziel bleibt. Aus diesem Grunde verdichten sie ihre Botschaften in Sendungen von einer oder einer halben Sekunde und schicken sie in einem langen Stoß mehrere hundert Male aus, um sicher zu gehen, daß
sie empfangen werden. Hierzu genügt es, daß der Richtstrahl das Ziel für wenige Sekunden berührt.« Er sprach langsam und sorgfältig, weil er wußte, daß seine Worte durch die gesamte Weltpresse gehen würden. »Wenn ein solcher verirrter Strahl durch unseren Teil des Weltraumes schwingt, dann hören wir ihn als ein kurzes, scharfes Geräusch aus jener Richtung. Diese Strahlen müssen nämlich schwingen, um der Bewegung der Planeten zu folgen, denen sie gelten. Da nun die Entfernung zwischen uns und dem Ausgangspunkt des Strahles ungeheuer groß ist, steigert sich auch die Schwingung des Strahles, der uns berührt, entsprechend, und wir vernehmen ihn nur als ein kurzes Piep.« »Wie erklären Sie sich die große Anzahl der uns erreichenden Ausstrahlungen?« fragte der Vertreter der Times. »Rotiert ihr Planetensystem in der gleichen Ebene wie die Milchstraße?« Es war eine Frage, die Fachkenntnis verriet. Der Radiodechiffreur lächelte, und für einige Sekunden schwand die Müdigkeit aus seinem blassen Gesicht. »Vielleicht fangen wir die Radiotelefongespräche von Hinz und Kunz auf, und die ganze Milchstraße ist bevölkert von Lebewesen, die den Tag damit verbringen, sich gegenseitig anzurufen. Vielleicht geht es im ganzen Weltraum genauso menschlich zu wie auf der Erde.« »Es macht ganz den Eindruck«, stimmte der Vertreter der Times ihm zu. Sie lächelten einander an. Der Mann von den News fragte: »Wie kamen Sie auf den Gedanken, daß es sich um Bildfunk und nicht um Tonfunk handelte?« »Nicht durch Zufall«, erwiderte Nathen. »Ich er-
kannte in den Sendungen die typischen rhythmischen Merkmale von Fernsehwellen und machte es mir zur Aufgabe, die gesendeten Bilder sichtbar zu machen. Bilder sind unabhängig von der Sprache.« In der Nähe der Journalisten ging ein Senator auf und ab und murmelte seine auswendig gelernte Begrüßungsansprache vor sich hin, von Zeit zu Zeit einen nervösen Blick durch die großen Scheiben in den grauen Regen hinauswerfend. Gegenüber den Fenstern des langgestreckten Raumes stand ein kleines Podium. Es war umgeben von Fernsehkameras, Mikrofongalgen und Scheinwerferlampen. Von hier aus würde der Senator seine Begrüßungsansprache an die Fremdlinge richten. Daneben stand auf einem Tisch ein primitiv aussehender Fernsehempfänger und -sender, der ohne Gehäuse auf ein Brett montiert war. Man sah zwei FernsehKathodenröhren hinter dem Bildschirm flimmern und hörte den Lautsprecher summen. Neben dem Apparat ragte eine vertikale Schalttafel mit zahlreichen Knöpfen und Meßskalen heraus, und vor ihm war ein kleines Handmikrofon auf den Tisch montiert. Es war verbunden mit einem geschlossenen Kasten, der die Inschrift »Radio-Labor US.-Eigentum« trug. »Ich nahm eine Reihe solcher verdichteten Sendungen, die aus der Richtung des Sagittarius kamen, auf Tonband auf und begann, sie zu analysieren. Ich brauchte mehrere Monate, um die Synchronisationszeichen zu finden und die Punktzeilen zeitlich so abzustimmen, daß ein konstantes Schema, also ein Bildmuster, herauskam. Als ich ein annähernd befriedigendes Resultat erzielt hatte, zeigte ich es mei-
nen Vorgesetzten, und sie gaben mir freie Hand und einen Assistenten, um die Versuche fortzusetzen. Es dauerte acht Monate, bis wir die Farbimpulse gefunden und sie solchen Farben zugeordnet hatten, die ein halbwegs natürliches Bild ergaben.« Der primitiv aussehende Empfänger war das Originalgerät, das sie während zehn Monaten immer wieder umgebaut hatten, um die flimmernden Streifen unsynchronisierter Farbimpulse auszumerzen und ein ruhiges Bild zu erzielen. »Wir machten Tausende von Versuchen«, sagte Nathen, »doch schließlich hatten wir Glück. Daß es sich um farbige Bilder handelte, hatten wir von Anfang an auf Grund der charakteristischen Wellenbreite der empfangenen Töne angenommen.« Er ging zu dem Gerät hinüber und drehte an einem Knopf. Aus dem Lautsprecher kam ein leises Piepen, und auf dem Schirm begannen farbige Streifen zu flimmern. Der Empfänger war bereit, Sendungen des großen interstellaren Raumschiffes zu empfangen, das sich jetzt der Erdatmosphäre näherte. »Wir wunderten uns über die Häufigkeit der Sendungen, doch als wir unsere Bandaufnahmen langsam abspielten, entdeckten wir, daß wir das Programm einer Station empfingen, die laufend dramatische Literatur, also Fernsehspiele ausstrahlte.« Als Nathens Stimme jetzt schwieg, ertappte sich der Vertreter der Times dabei, daß er nach draußen lauschte, ob nicht schon das Fauchen von Raketendüsen näher käme. Der Reporter der Post fragte: »Wie sind Sie mit dem Raumschiff in Kontakt gekommen?« »Ich nahm den Film Le sacre du printemps, die be-
kannte Gemeinschaftsproduktion von Disney und Strawinsky, mit einer Fernsehkamera auf, übertrug ihn auf ein Fernsehband, verdichtete ihn zu einem kurzen Impuls und sendete diesen in die gleiche Richtung, aus der wir die Fernsehspiele aus dem Weltraum empfangen hatten. Es war lediglich ein Versuch. Ich wußte, daß es Jahre dauern würde bis unser Strahl bei ihnen eintraf, wenn er sein Ziel überhaupt erreichte. Ich dachte mir, es würde ihnen auf alle Fälle Spaß machen, ihr Programm um eine neue Nummer zu bereichern. Doch zwei Wochen später, als wir eine neue Serie von empfangenen Kurzimpulsen langsam abspielten, fanden wir etwas, das offensichtlich eine Antwort auf unsere Sendung sein sollte. Wir sahen ein großes Publikum, das sich unseren Film ansah und nach der Vorführung wartend vor der leeren Leinwand sitzenblieb. Der Empfang war außerordentlich stark und klar. Wir waren mit einem Raumschiff in Verbindung getreten. Sie gaben uns zu verstehen, daß unser Film ihnen gefallen hatte und daß sie weitere Sendungen von uns erwarteten.« Er unterbrach sich, lächelte und fuhr dann fort: »Sie können sie selbst sehen. Drüben am Ende der Halle, wo die Sprachexperten an den automatischen Übersetzungsmaschinen arbeiten.« Der Offizier runzelte die Stirn und räusperte sich. Der schlanke junge Mann wandte sich ihm zu: »Es bestehen doch keine Sicherheitsbedenken, daß die Herren die Sendungen sehen? Vielleicht können Sie sie ihnen zeigen.« Dann sagte er lächelnd zu den Reportern: »Es ist dort hinten am Ende der Halle. Man wird Ihnen Bescheid sagen, sobald das Raumschiff sich nähert.«
Das Interview war zu Ende. Der schwarzhaarige, nervöse junge Mann drehte sich um und ging zu seinem Gerät hinüber, während der Offizier seine Einwände herunterschluckte und die Journalisten mit finsterem Gesicht zu einer Tür am anderen Ende der Halle führte. Er öffnete die Tür, und sie tasteten sich zwischen leeren Klappsesseln hindurch in einen verdunkelten Raum, an dessen Stirnwand ein großer Bildschirm flimmerte. Die Tür schloß sich hinter ihnen, und sie befanden sich in völliger Finsternis. Während die anderen Reporter um ihn herum scharrend und stolpernd Platz nahmen, blieb der Vertreter der Times wie gebannt stehen beim Anblick dessen, was er auf dem Bildschirm sah. Ihm war, als habe er geschlafen und sei in einer anderen Welt wiedererwacht. Die leuchtenden Farben des doppelten Bildes schienen ihm die einzige Wirklichkeit in dem verdunkelten Raum zu sein. Obwohl die Gestalten leicht verzerrt waren, konnte er sofort erkennen, daß ihre Formen und ihre Bewegungen nicht irdisch, nicht menschlich waren. Was er sah, waren die Fremdlinge. Sein erster Eindruck war der von je zwei verkleideten Menschen, die sich auf den beiden Bildhälften im gleichen Rhythmus wie tanzende Krüppel bewegten. Schnell, als fürchtete er, die Bilder könnten verschwinden, griff er in seine Brusttasche, nahm seine Polarisationsbrille heraus, stellte die beiden Linsen in den richtigen Winkel zueinander und setzte sie auf. Sofort schoben sich die Doppelschemen zu einer
einzigen scharf umrissenen Gestalt zusammen, und der Bildschirm wurde zu einem großen Fenster, hinter dem sich ihm ein nahes, täuschend wirklichkeitsähnliches Bild von so natürlicher plastischer Tiefe und Farbe bot, als schaute er durch eine Scheibe in einen Raum hinein. Es war ein Zimmer mit grauen Wänden. Die beiden Gestalten unterhielten sich in verhaltener Erregung. Der größere der beiden Männer, der eine grüne Tunika trug, schloß jetzt kurz seine purpurfarbenen Augen, als der andere etwas zu ihm sagte, lächelte dann grimmig und machte mit den Händen eine Bewegung, als schöbe er etwas weit von sich. Er sah sehr melodramatisch aus. Der zweite, kleinere Mann, der gelbgrüne Augen hatte, trat näher an ihn heran und sprach mit leiser Stimme noch schneller auf ihn ein. Er hörte ihn unbewegt an, ohne ihn zu unterbrechen. Offensichtlich schlug der andere ihm irgendeinen verräterischen Handel vor, und er schien geneigt zu sein, sich überreden zu lassen. Der Vertreter der Times griff hinter sich nach einem Stuhl und setzte sich. Nach dem, was er da sah, schienen Mimik und Gestik im ganzen Weltraum gleich zu sein. Dieses Vorbeugen mußte Spannung und Verlangen ausdrücken, dieses Zurückweichen Ablehnung und Zweifel. Diese beiden Schauspieler hätten auf einer irdischen Bühne auftreten können. Die Szene wechselte mehrere Male hintereinander, zeigte einen langen Flur, der durch das Raumschiff führte, dann einen Leseraum, in dem mehrere Personen um den Mann mit der grünen Tunika herumsaßen und mit ihm diskutierten, und keinen Augenblick war es un-
klar, was geschah und wie sie fühlten. Sie sprachen eine Sprache mit vielen kurzen Vokalen und starken Tonverschiebungen, fast singend. Ihre Gesten waren sichtlich erregt, wenn sie sprachen, doch nicht schnell und heftig, sondern seltsam schleppend, aber sehr eindringlich. Er verstand die Sprache nicht und konzentrierte sich deshalb auf ihre Bewegungen, die ihm immer sonderbarer erschienen, besonders ihre Art zu gehen. Er verzichtete darauf, der Handlung zu folgen, und widmete seine ganze Aufmerksamkeit der physischen Erscheinung der Fremdlinge. Sie hatten alle braunes, kurzgeschnittenes Haar. Die Augenfarbe variierte, war aber sehr deutlich zu erkennen, weil die Iris sehr groß war. Die Augen selbst waren kreisrund und saßen sehr weit auseinander in den länglichen, am Kinn spitz zulaufenden, hellbraunen Gesichtern. Nacken und Schultern waren sehr muskulös und verrieten eine für Menschen sehr ungewöhnliche Kraft, doch die Handgelenke waren schmal und die Finger sehr lang und dünn und sehr zart. Sie schienen mehr als fünf Finger zu haben. Seit er hereingekommen war, summte in seiner Nähe eine Maschine, und von Zeit zu Zeit hörte er eine Stimme murmeln. Er brach seinen Versuch, die Finger zu zählen, ab und sah sich um. Hinter ihm saß ein junger Mann mit einem Kopfhörer über den Ohren und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, den Blick auf das Bild gerichtet. Neben ihm stand ein großer, stromlinienförmiger Kasten. Von dem Schirm kamen Laute der fremden Sprache. Der Mann warf blitzschnell einen Hebel an dem Kasten herum, murmelte ein Wort in ein kleines Handmikrofon und
schaltete den Hebel wieder zurück. Er erinnerte den Vertreter der Times an die Simultan-Dolmetscher in den Sitzungen der Vereinten Nationen. Der Apparat, der in dem Kasten summte, war gewiß die automatische Sprechübersetzungsmaschine, von der Mr. Nathen gesprochen hatte, und der junge Mann mit dem Kopfhörer ein Sprachforscher, der sein Vokabularium ergänzte. In der Nähe des Bildschirmes saßen noch zwei weitere Linguisten, die eifrig Notizen machten. Der Reporter dachte an den Senator, der draußen in der Halle auf und ab ging und seine Begrüßungsrede memorierte. Diese Rede würde nicht nur eine leere, pompöse Geste für die Gäste aus dem Weltraum sein, sondern elektromatisch übersetzt und von ihnen verstanden werden. Auf der Stereo-Bildscheibe unterhielt sich jetzt der große Mann in der grünen Tunika, anscheinend der Held des Dramas, mit einem grau uniformierten Piloten. Sie standen beide im hell erleuchteten, kanariengelben Kontrollraum eines Raumschiffes. Der Times-Vertreter versuchte, den Faden der Handlung wiederaufzunehmen. Er fühlte, daß er an dem Schicksal des Helden Anteil nahm. Dies war zweifellos eine Wirkung großer Darstellungskunst, die ja immer danach strebt, die Sympathie des Publikums zu gewinnen. Dieser Schauspieler war gewiß ein berühmter Star auf seinem Heimatplaneten. Seine beherrschte innere Erregung verriet er durch kleine unwillkürliche Bewegungen der Hände, durch zu schnelles Antworten auf die Fragen seines uniformierten Gesprächspartners, der sich schließlich umdrehte, sich über eine von roten leuchtenden Punkten
übersäte Karte beugte und auf einige Knöpfe drückte. Seine Bewegungen hatten die gleiche fließende, schleppende Langsamkeit wie die der anderen Akteure. Es war, als bewegten sie sich im Wasser oder im Zeitlupentempo. Der Mann in der grünen Tunika hielt jetzt seinen Blick auf einen Schalter gerichtet, der in eine rote Tafel eingelassen war. Er näherte sich diesem Schalter immer mehr, sprach jetzt einige anscheinend beiläufige Worte zu dem Uniformierten, während eine Begleitmusik, offenbar ausgeführt von Saiteninstrumenten, aufklang und zu hellen, spannungsgeladenen Akkorden anschwoll. Jetzt zeigte das Bild eine Großaufnahme von dem Gesicht des Mannes, der auf den Schalter starrte, und der Journalist sah, daß seine Ohren aus glatten, halbkreisförmigen Muscheln bestanden, in denen keine Ohrlöcher sichtbar waren. Die Stimme des Uniformierten, der ihm immer noch den Rücken zukehrte, antwortete kurz und sachlich. Beiläufige Worte sprechend ging der Mann in der grünen Tunika immer näher an den Schalter heran, der immer größer wurde und fast das ganze Bild ausfüllte. Jetzt kam auch seine Hand ins Bild, schoß plötzlich vor und umklammerte den Schalthebel ... Im gleichen Augenblick ertönte ein scharfer Knall, die Hand öffnete sich langsam und löste sich zuckend von dem Schalthebel. Die Kamera fuhr zurück. Man sah den Mann in der grünen Tunika sich umdrehen. Mit seiner Wendung schwenkte auch die Kamera und nahm den Uniformierten mit ins Bild, der, eine Pistole in der Hand, höhnisch lächelnd zusah, wie der andere schwankte und zusammenbrach. Dieses Bild des triumphierend auf sein Opfer hin-
unterschauenden Uniformierten blieb stehen, und die Musik setzte zu einem apotheosenhaften Finale an. Und für einen kurzen Augenblick verwandelten sich sämtliche Farben des Bildes in ihre Konträrfarben. Es war eine jener technischen Pannen, die beim Farbfernsehen nicht selten vorkamen, doch immer wieder eine bestürzende, gespenstische Wirkung auf den Beschauer ausübten. Ein grüner Mann stand jetzt in einem violetten Kontrollraum und sah hinunter auf einen grünen Mann in einer roten Tunika. Es dauerte kaum eine Sekunde, doch der Journalist erschauerte und zitterte noch, als die Farben wieder normal geworden waren. Ein anderer Uniformierter kam in den Raum, nahm dem Mörder die Pistole aus der Hand, und dieser sagte mit gepreßter Stimme einige verächtliche Worte, während die Musik immer lauter wurde und seine Stimme überdeckte. Dann wurde das Bild allmählich blasser, als ob ein grauer Nebel es verhüllte, und gleichzeitig verebbte und verklang die Musik. Im Dunkel klatschte jemand Beifall. Der junge Mann neben dem Vertreter der Times schob seinen Kopfhörer von den Ohren und sagte: »Ich kann nichts mehr herausholen. Wünscht einer von euch eine Wiederholung?« Einer der Linguisten, die in der Nähe des Bildschirms saßen, antwortete: »Ich denke, diesen Streifen haben wir vollkommen ausgewertet. Spielen wir noch einmal das Band, auf dem Nathen und der Raumschiff-Funker versuchen, ihre CQ-Rufe zu identifizieren und ihre Strahlrichtung genauer zu regulieren. Ich habe das Gefühl, der Bursche kann uns noch eine Menge Fachausdrücke liefern.«
Der junge Mann hantierte eine Weile an seinem Kasten, und dann erschien wieder ein Bild auf dem Schirm. Es zeigte ein größeres Publikum, das vor einem Bildschirm saß. Dazu ertönten die Klänge einer Symphonie, die dem Vertreter der Times bekannt vorkamen. »Sie sind ganz verrückt nach Strawinsky und Mozart«, bemerkte der Linguist, der neben ihm saß, während er seinen Kopfhörer wieder über die Ohren schob. »Gershwin können sie anscheinend nicht ausstehen. Begreifen Sie das?« Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu. Der Post-Reporter, der vor dem Times-Vertreter saß, drehte sich um und sagte: »Ulkig, wie ähnlich sie uns sind.« Er machte sich Notizen für seinen Bericht, den er telefonisch an seine Redaktion durchgeben würde. »Was für eine Haarfarbe hatte noch der Bursche mit dem grünen Nachthemd?« »Ich habe nicht darauf geachtet.« Er überlegte, ob er den Reporter nicht daran erinnern sollte, daß Nathen gesagt hatte, er habe die Farben mehr oder weniger willkürlich ausgewählt und nur darauf geachtet, daß sie ein möglichst plausibles Bild ergaben. Wenn die Gäste ankamen, würde es sich vielleicht herausstellen, daß sie von hellgrüner Hautfarbe waren und blaue Haare hatten. Nur die Helligkeitsunterschiede der Farben auf dem Bild waren sicher, nur ihre Ähnlichkeiten und Kontraste. Von dem Bildschirm kamen jetzt wieder die Laute der fremden Sprache. Die Stimmen dieser Rasse klangen im Durchschnitt tiefer als die von Menschen. Er liebte tiefe Stimmen. Konnte er das schreiben?
Nein, auch hiermit stimmte etwas nicht. Wie hatte Nathen die Tonhöhe festgelegt? Hatte er den Ton genommen, wie er ankam, oder hatte er ihn moduliert? Wahrscheinlich das letztere. Es war sicherer, anzunehmen, daß Nathen, wie er selbst, eine Vorliebe für tiefe Stimmen hatte. Während er hier im Dunkeln saß und sich diese Fragen stellte, spürte er, daß er nun das gleiche Unbehagen empfand, das er bei Nathen beobachtet hatte, und erinnerte sich, wie sehr dieses Unbehagen, das nur aus Unsicherheit und Zweifel entsprungen sein konnte, geheimer Furcht geglichen hatte. »Ich verstehe nicht, warum er sich die Umstände gemacht hat, diese ganzen Fernsehspiele aufzunehmen, anstatt einfach in Funkverkehr mit ihnen zu treten«, bemerkte der Kollege von den News. »Die Sachen sind gut, aber was soll das?« »Vielleicht machen sie es nur, um die Sprache zu erlernen«, meinte der Mann vom Herald. Auf dem Schirm war jetzt ein zweifellos ungestelltes, natürliches Bild zu sehen, das einen jungen Fremdling hinter einem Tisch mit vielen Apparaten zeigte. Er wandte sich dem Beschauer zu, winkte wie zum Willkommen und formte den Mund zu einem komischen Rund, das der Times-Vertreter jetzt als ihr Äquivalent für Lächeln zu erkennen glaubte. Dann begann er, an den Apparaten zu manipulieren und dabei mit überdeutlichen, fast linkischen Gesten und sorgfältig gesprochenen Worten Erklärungen zu geben. Der Mann von der Times erhob sich leise, trat aus dem verdunkelten Raum hinaus auf den hellerleuchteten Korridor, klappte nachdenklich seine Stereob-
rille zusammen, steckte sie ein und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Niemand hielt ihn an. Die Sicherheitsvorschriften waren nicht sehr streng. Die Schweigsamkeit der Armee schien mehr eine Sache der Gewohnheit, eine Auswirkung der Tatsache zu sein, daß die Angelegenheit ihren Ursprung beim Geheimdienst gehabt hatte, als eine konsequente Politik die Landung geheimhalten zu wollen. Die Haupthalle war jetzt belebter, als er sie verlassen hatte. Die Bedienungsmannschaften der Fernsehkameras und der Radiomikrofone standen bei ihren Geräten. Der Senator hatte sich in einen Sessel gesetzt und las. In der äußersten Ecke des Raumes saßen acht Männer im Halbkreis auf Stühlen und unterhielten sich mit leidenschaftslosem Ernst. Der Times-Vertreter entdeckte unter ihnen einige, die ihm persönlich bekannt waren, berühmte Wissenschaftler, Spezialisten der Feldtheorie. Ein Satzfetzen erreichte sein Ohr: »... im Verhältnis zu den universalen Konstanten wie zum Beispiel ...« Sie sprachen wahrscheinlich über die Wege zur Übertragung von Formeln aus einer Mathematik in eine andere zum Zwecke eines raschen Austauschs von Informationen. Sie taten gut daran, sich mit diesem Problem zu beschäftigen angesichts der Flut von neuen Einsichten, die ihnen das Weltbild der Fremdlinge, falls sie es begriffen, bringen konnte. Er wäre gern zu ihnen hinübergegangen, um zuzuhören, doch blieb nur noch wenig Zeit bis zur Ankunft des Raumschiffes, und vorher wollte er noch eine Frage stellen. Der zusammengebastelte Empfänger, der auf das Sendeband
des kreisenden Schiffes eingestellt war, summte immer noch, und der junge Mann, der diese ganze Geschichte ins Rollen gebracht hatte, saß auf der Kante des Rednerpodiums, das Kinn in eine Hand gestützt. Er blickte nicht auf, als der Vertreter der Times sich ihm näherte, doch war es nicht Unhöflichkeit, sondern Nachdenklichkeit. Der Journalist setzte sich ebenfalls auf die Kante des Podiums, dicht neben ihn, und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Da fiel ihm ein, daß wegen der bald beginnenden Fernsehaufnahme das Rauchen verboten war, und er steckte die Zigaretten wieder ein, warf einen Blick auf die großen Scheiben, an denen der nachlassende Regen nur noch träge herunterlief, und sagte: »Etwas nicht in Ordnung?« Nathen hob den Kopf und lächelte freundlich. »Wie meinen Sie das?« fragte er. »Ich habe so ein komisches Gefühl«, antwortete der Mann von der Times. »Alles geht mir zu glatt. Wir nehmen zu viele Dinge als selbstverständlich hin.« Nathen zeigte Interesse. »Zum Beispiel?« »Nun ... die Art, wie sie sich bewegen ...« Nathen sah ihn erstaunt an. »Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen.« »Sind Sie sicher, daß Sie die Geschwindigkeit richtig eingestellt haben?« Nathen spreizte die Finger und betrachtete sie nachdenklich. »Ich weiß nicht. Wenn ich das Band schneller laufen lasse, dann rennen sie, und man muß sich fragen, warum ihre Kleider nicht hinter ihnen herflattern, warum die Türen so heftig zuschlagen, ohne daß man sie knallen hört, und warum die Dinge
so schnell fallen. Wenn ich die Geschwindigkeit verringere, dann scheinen sie alle zu schwimmen.« Er sah den Vertreter der Times von der Seite an und sagte: »Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden bei der Vorstellung.« Ein Junge vom Lande, dachte der Journalist. Er streckte die Hand aus und sagte: »Jakob Luke, von der Times.« Nathen nahm überrascht die dargebotene Hand, drückte sie kräftig und sagte: »Oh, Sie sind der Redakteur der Wissenschaftlichen Beilage. Ich lese sie regelmäßig. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« »Ganz meinerseits!« Jakob Luke lächelte und fuhr ernst fort: »Haben Sie dieses Problem einmal wissenschaftlich überprüft, ich meine an Hand der physikalischen Gesetze und mathematischen Formeln?« Er zog einen Bleistift aus der Tasche. »Offensichtlich stimmt irgend etwas nicht in unserer Beurteilung des Verhältnisses zwischen ihrem Gewicht, ihrer Geschwindigkeit und ihrer Bewegung. Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach, wie z.B. eine geringere Schwerkraft an Bord des Raumschiffes, die sie zwingt, magnetische Schuhe zu tragen. Vielleicht schweben sie wirklich.« »Wozu sich darüber den Kopf zerbrechen«, unterbrach ihn Nathen. »Ich sehe keinen Grund, das jetzt herausfinden zu wollen.« Er lachte und strich nervös sein schwarzes Haar glatt. »In zwanzig Minuten werden wir sie sehen.« »Werden wir?« fragte Luke gedehnt. Nathen antwortete nicht sofort. Man hörte das Rascheln von Papier, als der Senator sein Magazin umblätterte, und die Stimmen der Wissenschaftler vom
anderen Ende des Raumes. Wieder strich der junge Mann über seine glatten Haare, als fielen sie ihm in die Augen und behinderten ihn beim Sehen, lachte dann plötzlich und rief aus: »Sicher werden wir sie sehen!« Und hastig sprach er weiter: »Warum nicht? Wo doch die Regierung wartet, um sie willkommen zu heißen, wo die ganze Armee ausgerückt ist und hinter den Bergen lauert und es von Journalisten wimmelt und alles bereit ist, ihre Landung über Fernsehen und Radio in die Welt hinauszufunken. Der Präsident selbst wartet in Washington und wird mir die Hand schütteln ...« Ohne von neuem Luft zu holen, kam er mit der Wahrheit heraus. Er sagte: »Verdammt, nein! Sie werden nicht landen. Irgendwo steckt ein Fehler. Irgend etwas stimmt nicht. Ich hätte es den hohen Tieren gestern sagen müssen, als ich es entdeckte. Ich weiß nicht, warum ich nichts gesagt habe. Wahrscheinlich hatte ich Angst. Und jetzt hab ich erst recht nicht mehr den Mut.« Er packte Luke beim Ärmel. »Sehen Sie, ich weiß nicht, was ...« Ein grünes Licht leuchtete an dem Sende- und Empfangsgerät auf. Nathen sah nicht hin, doch hörte er auf zu reden. Aus dem Lautsprecher ertönten Worte der Sprache, die Luke soeben in dem Vorführraum gehört hatte. Der Senator blickte auf, zupfte nervös an seiner Krawatte. Die Stimme verstummte. Nathen wandte seinen Blick zu dem Lautsprecher. Seine Sorgen schienen mit einem Schlag verflogen. »Was war das?« fragte ihn Luke.
»Er sagt, sie hätten ihre Geschwindigkeit so weit verringert, daß sie in die Erdatmosphäre eindringen könnten. Ich denke, in fünf bis zehn Minuten werden sie hier sein. Das war Bud. Er ist ganz aus dem Häuschen. Er fluchte und meinte, wir lebten auf einem verdammt finsteren Planeten.« Nathen lächelte. »Er macht Witze.« Jakob Luke sah ihn verdutzt an. »Finster? Was kann er damit meinen? Es kann im Augenblick nicht über einem so großen Bereich der Erdoberfläche regnen.« Draußen hatte der Regen fast aufgehört, und ein hellblauer Himmel leuchtete zwischen den aufgerissenen Wolkenbänken. Krampfhaft suchte er nach einer Erklärung. »Vielleicht versuchen sie, auf der Venus zu landen.« Der Gedanke war absurd. Das Raumschiff folgte Nathens Sendestrahl. Es konnte die Erde nicht verfehlen. Dieser »Bud« mußte einen Witz gemacht haben. Das grüne Licht des Empfängers leuchtete wieder auf. Sie schwiegen und warteten, daß die Sendung auf Band aufgenommen und verlangsamt wiedergegeben würde. Plötzlich erschien auf dem Kathodenschirm ein Bild. Er zeigte den jungen Mann im Raumschiff, an seinem Apparatetisch sitzend und dem Beschauer den Rücken zukehrend. Er beobachtete einen Bildschirm, der neben ihm stand und auf dem eine große, dunkle Ebene mit rasender Geschwindigkeit näher kam. Während das Schiff auf diese Ebene zustürzte, verwandelte sich der Eindruck der Festigkeit in einen kochenden Strudel dunkler Wolken, die sich immer mehr verdichteten und schließlich den Bildschirm wie eine schwarze Wand verdunkelten. Der junge Raumschiff-Funker drehte sich um, wandte
sein Gesicht dem Besucher zu, sprach einige Worte, formte mit seinen Lippen das O eines Lächelns, legte einen Hebel um, und der Bildschirm wurde grau. Nathens Stimme war plötzlich tonlos und gezwungen. »Er sagte so etwas wie ... wir sollten die Becher füllen, sie wären gleich hier.« »Die Atmosphäre sah nicht danach aus«, sagte Luke aufs Geratewohl, wissend, daß er etwas sagte, das zu offensichtlich war, um erwähnt zu werden. »Das war keine Erdatmosphäre.« Leute traten heran. »Was haben sie gesagt?« »Sie sind in die Erdatmosphäre eingedrungen. Werden in fünf oder zehn Minuten landen«, erklärte ihnen Nathen. Eine Welle höchster Erregung lief durch die Halle. Die Kameramänner begannen, ihre Apparate nochmals zu überprüfen, und schalteten die Flutlichter ein. Die Wissenschaftler erhoben sich, traten zu dem Fenster, ohne jedoch ihre Unterhaltung zu unterbrechen. Die Reporter strömten aus dem Vorführraum zurück in die Halle, drängten sich ebenfalls an das Fenster, um das große Ereignis verfolgen zu können. Hinter ihnen rollten die drei Linguisten ihre elektromatische Übersetzungsmaschine herein und schlossen sie an das Tonübertragungssystem an. »Landen? Wo denn?« fragte Luke den jungen Mann brutal. »Warum unternehmen Sie nichts?« »Sagen Sie mir was, und ich werde es tun«, antwortete Nathen ruhig. Es war kein Sarkasmus. Jakob Luke warf einen Seitenblick in das bleiche, angespannte Gesicht des jungen Mannes und mäßigte seinen Ton. »Können Sie nicht mit ihnen in Verbindung treten?«
»Nicht, während sie landen.« »Was nun?« fragte Luke, während er sein Zigarettenpäckchen aus der Tasche zog. Sofort erinnerte er sich aber des Rauchverbots und steckte es wieder ein. »Wir können nur warten«, erwiderte Nathen, setzte sich auf den Rand des Podiums, stützte einen Ellbogen auf ein Knie und das Kinn in die Hand. Sie warteten. Und wie sie warteten alle in der Halle Anwesenden. Keiner sprach mehr. Ein Kahlkopf in der Gruppe der Wissenschaftler kaute an seinen Fingernägeln. Ein anderer polierte geistesabwesend seine Brillengläser, hielt sie gegen das Licht, setzte sie auf, um sie im nächsten Moment wieder abzunehmen und von neuem zu polieren. Die Fernseh- und Rundfunktechniker überprüften immer wieder ihre Apparate, die längst eingestellt und überprüft waren. Es näherte sich einer der größten Augenblicke der Menschheitsgeschichte, und sie versuchten alle, diese Tatsache zu vergessen und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, wie es der Job eines guten Spezialisten verlangte. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen war, sah Luke auf seine Uhr. Drei Minuten waren vergangen. Er versuchte, den Atem anzuhalten, lauschte hinaus nach einem fernen Donnern sich nähernder Raketen. Kein Laut war zu hören. Die Sonne trat hinter den Wolken hervor und beleuchtete das Flugfeld wie ein großer Scheinwerfer eine leere Bühne. Plötzlich flammte wieder das grüne Licht des Empfängers auf und zeigte an, daß ein neuer Impuls eingegangen war. Er wurde auf das Tonband aufge-
nommen, langsam abgespielt und auf den Lautsprecher übertragen. Ein Klicken war zu hören, und dann tönte eine laute Stimme in die Spannung des Raumes. Der Bildschirm blieb grau, nur Buds Stimme sagte einige Worte in seiner Sprache. Dann klickte wieder der Lautsprecher, und das grüne Licht ging aus. Als anzunehmen war, daß nichts mehr folgen und auch nichts über das soeben Gesagte bekanntgegeben würde, wandten sich die Menschen in der Halle wieder den Fenstern zu, und ein Murmeln setzte ein. Jemand machte einen Scherz und lachte, als einziger. Einer der Linguisten, die vor dem Lautsprecher standen, warf jetzt einen verwirrten Blick durch das Fenster auf die immer größer werdenden Flecken blauen Himmels. Er hatte verstanden. »Es ist dunkel«, sagte der schmächtige Dechiffreur des Geheimdienstes mit leiser Stimme zu dem wissenschaftlichen Redakteur der Times. »Eure Atmosphäre ist dick. So hat Bud wörtlich gesagt.« Weitere drei Minuten vergingen. Luke erwischte sich, daß er dabei war, sich eine Zigarette anzuzünden, fluchte innerlich, blies das Streichholz aus und schob die Zigarette zurück in das Päckchen. Und wieder lauschte er auf das Geräusch von Raketen. Der Zeitpunkt der Landung war da, doch er hörte nichts. Das grüne Licht leuchtete auf. Eine Botschaft ging ein. Er sprang auf. Und da stand auch schon Nathen neben ihm. Die Stimme Buds sprach nur einige wenige Worte und schwieg. Luke hatte die Worte nicht verstanden, aber er wußte, was sie bedeuteten.
»Wir sind gelandet«, flüsterte Nathen vor sich hin. Der Wind blies über die hellen Betonstreifen und den dampfenden Boden des leeren Flugplatzes, hielt das naßschimmernde Gras in wallender Bewegung. Die Menschen starrten angestrengt hinaus, warteten darauf, das Brausen der Raketen zu hören und den silbernen Rumpf eines Raumschiffes am Himmel auftauchen zu sehen. Nathen setzte sich an den Sender, schaltete ihn ein, um ihn aufzuwärmen, legte Hebel um, drehte an Knöpfen. Jakob Luke trat unauffällig näher und stellte sich hinter ihn, hoffend, ihm behilflich sein zu können. Nathen wandte sich halb um, sah zu ihm mit einem leeren Blick auf, griff dann nach den beiden Kopfhörern, die an der Seitenwand der elektromatischen Übersetzungsmaschine hingen, stöpselte sie beide ein und reichte einen von ihnen über die Schulter dem Redakteur der Times. Jetzt ertönte wieder die Stimme im Lautsprecher. Schnell stülpte Luke den Kopfhörer über die Ohren. Er glaubte zu spüren, daß Buds Stimme zitterte. Für einen Moment sprach nur Bud in seiner Sprache, und dann hörte er in den Muscheln des Hörers, sehr fern aber klar, die Stimme eines der Linguisten ein Wort auf Englisch sagen. Es folgte ein mechanisches Klicken und wieder ein englisches Wort, gesprochen von einem andern der Linguisten, und jetzt kam aus dem Lautsprecher noch eine andere Stimme als die Buds, sprach einzelne, kaum hörbare Worte, die wie ein ins Englische übersetztes Echo dessen klangen, was Bud sagte, unwahrscheinliche, aber unmißverständliche Worte. »Radarschirm zeigt keine Gebäude und keine Spu-
ren von Zivilisation in unserer Nähe. Die Atmosphäre um uns herum ist dick wie Leim. Ungeheurer Gasdruck, geringe Schwerkraft, überhaupt kein Licht. So haben Sie es uns nicht beschrieben. Wo sind Sie, Joe? Dies ist doch keine Falle?« Bud zögerte, wurde aber von einer tiefen Befehlsstimme angespornt und stieß hervor: »Wenn es eine Falle ist, schlagen wir sofort zurück.« Der Linguist erstarrte, wurde blaß, winkte seine Kollegen zu sich und flüsterte ihnen etwas zu. Mit ebenso unverhohlener wie ungerechtfertigter Feindseligkeit blickte Joseph Nathen zu ihnen hinüber, während er nach dem Handmikrofon griff und es an die Übersetzungsmaschine anschloß. »Hier spricht Joe«, sagte er mit ruhiger Stimme in klarem Englisch, den Mund ganz nahe an der Sprechmuschel. »Es ist keine Falle. Wir wissen nicht, wo Sie sind. Ich versuche jetzt, die Richtung festzustellen auf Grund Ihrer Impulsbahn. Beschreiben Sie uns, wenn möglich, Ihre Umgebung.« Unmittelbar neben ihnen überstrahlten die Flutlichter grell und stetig den Raum um das Rednerpodium, von dem aus die Besucher aus dem Weltraum auf der Erde begrüßt werden sollten. Die Fernsehgesellschaften der ganzen Erde waren aufgefordert worden, ihre Programme zu unterbrechen und ihre Kanäle freizumachen für eine epochemachende Sondersendung. In der großen Halle standen die Menschen in stummer Erwartung des Rauschens der Raumschiffraketen. Was nach dem nächsten Aufleuchten des grünen Lichtes aus dem Lautsprecher kam, war kaum hör-
bar. Es war nur ein Kratzen, unterbrochen von einzelnen Worten einer gedämpften Stimme, die bald wieder verstummte. In den Kopfhörern begann die Übersetzung. »Haben versucht ... es scheint ... reparieren.« Und plötzlich war die Stimme laut und klar. »Wir können nicht feststellen, ob der Hilfsempfänger auch gestört ist. Werden es ausprobieren. Vielleicht können wir Sie das nächste Mal klar empfangen. Wo ist der Landeplatz? Ich wiederhole: Wo ist der Landeplatz? Geben Sie es noch einmal genau durch! Wo sind Sie?« Nathen legte das Handmikrofon weg, drehte an einer Scheibe des Tonbandgerätes, legte einen Schalter um und sagte dabei über die Schulter zu Luke: »Ich gebe jetzt vom Band aus durch, was ich das letzte Mal über den Landeplatz gesagt habe.« Dann saß er da in unnatürlicher Starrheit, den Kopf noch halb nach hinten gewandt, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, den er nicht zu Ende zu denken wagte. Wieder leuchtete das grüne Licht auf, das Tonbandgerät schaltete sich mit einem Klicken automatisch aus, und auf dem Schirm erschien im verlangsamten Rückspiel Buds Gesicht, und im Kopfhörer ertönten seine übersetzten Worte. »Wir haben einige wenige Worte gehört, Joe, und dann setzte der Empfänger wieder aus. Wir stellen einen Sehschirm auf lange Wellen um, die die dicke Atmosphäre durchdringen und die wir in sichtbares Licht umwandeln können. Wir werden bald in der Lage sein, nach draußen zu sehen. Der Ingenieur sagt, es sei etwas nicht in Ordnung mit den Heckraketen, und der Kapitän hat mich beauftragt, einen Hilferuf
an unsere nächste Weltraumstation zu schicken.« Er rundete die Lippen zu einem lächelnden O. »Die Botschaft wird sie erst in einigen Jahren erreichen. Ich vertraue auf Sie, Joe, holen Sie uns hier heraus! Sie melden eben, daß der Sehschirm fertig ist. Halten Sie sich bereit!« Der Bildschirm wurde grau, und das grüne Licht erlosch. Jakob Luke dachte an den Weg, den der Hilferuf zurücklegen mußte, an die Schnelligkeit, mit der die soeben eingegangene Meldung aufgenommen und verlangsamt worden sein mußte, an die Zeit, die für die Umstellung eines Bildempfangsgerätes auf lange Wellen erforderlich war. »Sie arbeiten schnell.« Er überlegte kurz und fügte hinzu: »Etwas ist verkehrt mit dem Zeitfaktor. Vollkommen verkehrt. Sie arbeiten zu schnell.« Das grüne Licht kam wieder. Während die eingehende Botschaft aufgenommen und verlangsamt wurde, sagte Nathen, halb umgewandt, zu ihm: »Sie sind so nahe bei uns, daß unsere Sendestärke ihren Empfänger stört.« Wenn sich das Schiff bereits auf der Erde und in der Nähe befand, warum war es von totaler Finsternis umgeben? »Vielleicht sehen sie vermittels ultravioletter Strahlen. In diesem Wellenbereich ist die Atmosphäre undurchsichtig«, sagte der Journalist hastig, als im Lautsprecher wieder die Stimme des jungen außerirdischen Funkers zu reden begann. Und jetzt zitterte diese Stimme wirklich. »Achtung! Achtung für die erbetene Beschreibung unserer Umgebung.« Gespannt beugten sie sich vor. Luke stellte sich im
Geiste die Landkarte des Staates vor. »Ein Halbkreis von Felsenriffen am Horizont. Ein großer verschlammter See, in dem es von schwimmenden Dingen wimmelt. Riesiges, fremdartiges, weißes Blätterwerk rund um das Schiff und unglaublich große, breiige Ungeheuer, die übereinander herfallen und sich auffressen. Wir sind fast im See gelandet, genau auf der weichen Böschung. Der Schlamm kann das Gewicht des Schiffes nicht halten, und wir sinken. Der Ingenieur meint, wir könnten uns vielleicht freiblasen, aber die Strahlrohre sind mit Schlamm verstopft, und der Druck kann nach innen gehen und das Schiff zerreißen. Wann könnt ihr bei uns sein?« Der Times-Redakteur dachte an die Steinkohlenzeit. Nathen hatte offenbar etwas bemerkt, was ihm entgangen war. »Wo sind sie?« fragte er ihn. Nathen deutete auf die Richtungsanzeiger der Antenne. Luke folgte mit den Augen den gedachten zueinanderstrebenden Brennpunkten durch das Fenster hinaus auf das sonnenbeschienene Flugfeld, das leere Flugfeld mit seinen trocknenden Startbahnen und dem grünen, wogenden Gras, wo sich die beiden Linien trafen. Doch wo sich die Linien trafen, war kein Schiff, war überhaupt nichts zu sehen! Die Furcht vor etwas Unbekanntem erfaßte ihn plötzlich. Das Raumschiff funkte wieder. »Wo sind Sie? Antworten Sie, wenn möglich! Wir sinken! Wo sind Sie?« Er sah, daß Nathen die Wahrheit erkannt hatte.
»Was ist es?« fragte er ihn heiser. »Sind sie in einer anderen Dimension oder in der Vergangenheit oder in einer anderen Welt oder wo sonst?« Nathen lächelte bitter, und Jakob Luke dachte daran, daß der junge Mann einen Freund in dem Raumschiff hatte. »Ich vermute, daß sie von einem Planeten mit großer Schwerkraft und dünner Atmosphäre kommen, der in der Nähe eines blau-weißen Sterns rotiert. Dann müssen sie im Bereich der ultravioletten Strahlen sehen. Unsere Sonne ist abnorm klein und matt und gelb. Unsere Atmosphäre ist so dick, daß sie unsere ultravioletten Sehstrahlen absorbiert.« Er lachte grimmig. »Ja, wir leben auf einem heruntergekommenen Stern!« »Wo sind Sie?« rief das fremde Raumschiff. »Schnell! Bitte! Wir sinken!« Der Dechiffreur erschrak über seine heftigen Worte und sah dem Journalisten mit einem entschuldigenden Blick in die Augen. »Wir werden sie retten«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Sie hatten recht mit dem Zeitfaktor und damit, daß sie sich mit einer anderen Geschwindigkeit bewegen. Ich habe mich getäuscht. Die Sache mit den gerafften Impulsen und der Verkürzung der Sendezeit zur Vermeidung von Strahlschwankungen war ein Irrtum.« »Wie meinen Sie das?« »Sie senden ohne Beschleunigung.« »Sie senden ohne ...?« Und plötzlich sah Jakob Luke im Geiste wieder den Fernsehfilm, den man ihnen soeben gezeigt hatte, doch die Darsteller bewegten sich im Tempo eines zeitraffenden Trickfilms, ihr Sprechen klang wie kleine schrille Schreie, ihre Gesichter zuckten irrsinnig in
der raschen Folge ihrer Worte und Gedanken, und die Türen schlugen knallend zu, wenn die Darsteller herein- oder hinaushuschten. Nein ... schneller, schneller ... er konnte es sich nicht so schnell vorstellen, wie es in Wirklichkeit sein mußte ... eine Stunde Gespräch und Handlung verdichtet in einen einzigen kurzen Sendeimpuls, der in einem irdischen Empfänger nur als ein störendes Piep gehört wurde. Nein, noch schneller! Noch schneller? ... Nein, das war nicht möglich. Die Materie konnte eine solche Beanspruchung des durch die abrupte Beschleunigung ins Ungeheure vermehrten Gewichts nicht aushalten. Es war Irrsinn. »Warum?« fragte er. »Wie?« Nathen lachte höhnisch auf und griff nach dem Mikrofon. »Rausholen sollen wir sie? Wo 'raus? Es gibt keinen See oder Fluß im Umkreis von hundert Meilen!« Ein Schauer der Unwirklichkeit überlief den wissenschaftlichen Redakteur der Times. Geistesabwesend griff er in seine Tasche nach den Zigaretten, während er versuchte zu begreifen, was geschehen war. »Wo sind sie denn? Warum können wir ihr Schiff nicht sehen?« Nathen schaltete das Mikrofon mit einer Geste ein, aus der die ganze Bitternis seiner Enttäuschung sprach. »Dazu werden wir ein Vergrößerungsglas brauchen.«
Originaltitel: PICTURES DON'T LIE
Arthur Porges DER RUUM Der Raumkreuzer Ilkor hatte eben das Gravitationsfeld des Pluto verlassen und auf interstellaren Antrieb umgeschaltet, als ein Offizier eilig die Kabine des Kapitäns betrat. »Exzellenz«, meldete er aufgeregt, »ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß infolge der Unachtsamkeit eines Technikers auf Planet III ein Ruum vom Typ H-9 zurückgeblieben ist mit allem, was er inzwischen gesammelt haben mag.« Der Blick des Kapitäns wurde hart, doch seine Stimme klang gleichgültig, als er fragte: »Wie war der Ruum eingestellt?« »Auf einen Aktionsradius von maximal 30 Meilen und eine Gewichtskapazität von 160 Pfund, mit einem Spielraum von 15 plus oder minus.« Der Kapitän überlegte einige Sekunden und sagte dann: »Wir können jetzt nicht umkehren. In wenigen Wochen kommen wir dort wieder vorbei und werden dann den Ruum mitnehmen. Ich habe keine Lust, mein Schiffsbudget mit einem dieser teuren, autoenergetischen Modelle belasten zu lassen. Sorgen Sie dafür«, schloß er kalt, »daß der Verantwortliche streng bestraft wird.« Doch vor dem Ende seiner Reise stieß der Kreuzer in der Nähe von Rigel auf einen der feindlichen, scheibenförmigen Jäger, und als das kurze Feuergefecht zu Ende war, traten beide Schiffe, halb zerschmolzen und radioaktiv verseucht als Särge ihrer
Mannschaften einen milliardenjährigen Rundlauf um den Planeten an. Auf der Erde aber hatte vor einigen Jahrmillionen das Zeitalter der Saurier begonnen. Als die beiden Männer die letzte Proviantkiste ausgeladen hatten, sah Jim Irwin seinem Partner zu, wie er in den Pilotensitz des kleinen Wasserflugzeuges zurückkletterte. Er hob die Hand und winkte Walt zu. »Vergiß nicht, den Brief an meine Frau einzuwerfen«, rief Jim. »Sofort nach der Landung«, brüllte Walt Leonard zurück, während er den Motor auf Touren brachte. »Und du vergiß nicht, ein bißchen Uran zu finden! Wenn's nur ein paar Milliönchen sind! Denk daran, daß ihr bald zu dritt seid, du und Cele!« Grinsend entblößte er seine großen, weißen Zähne. »Und laß die Grislys nicht zu nahe an dich herankommen. Sie sind hier nicht so zahm wie die Bären im Yellowstone-Park. Gleich schießen und nicht erst Hände schütteln!« Jim rieb sich die Nase, als die Maschine davonbrauste, eine schäumende Welle hinter sich zurücklassend. Ein seltsamer Schauer überlief ihn, als der silberne Vogel sich vom Wasser löste. Für drei Wochen würde er jetzt allein sein in diesem entlegenen Tal der Kanadischen Rocky Mountains. Wenn das Flugzeug aus irgendeinem Grunde nicht zurückfinden würde zu dem eisigen, blauen See, so wäre das sein sicherer Tod. Selbst mit genügend Proviant könnte kein Mensch die vereisten Gipfel übersteigen und sich zu Fuß durch die mehr als hundert Meilen
der fast jungfräulichen Wildnis schlagen, die ihn von der Zivilisation trennte. Aber Walt Leonard würde natürlich pünktlich zurückkommen, und an ihm, Jim, lag es nun, ob sie ihren Einsatz verlieren würden oder nicht. Also, an die Arbeit, alter Schatzgräber, und fort mit allen Wenns und Abers! Ohne Hast, mit den sicheren Handgriffen eines erfahrenen Waldläufers, baute er sich, angelehnt an einen Felsüberhang, ein primitives Schutzdach. Eine dauerhaftere Behausung war nicht erforderlich für diese drei Sommerwochen. Schwitzend unter den stechenden Strahlen der Morgensonne, stapelte er seine Vorräte in der offenen Hütte gegen den Fels, bedeckte sie mit einer wasserdichten Zeltplane, die er mit Steinen beschwerte, zum Schutz gegen die Plünderungen größerer Tiere; mit Ausnahme des Dynamits, das er etwa hundert Meter von der Hütte entfernt, ebenfalls wasserdicht verpackt, deponierte. Nur ein Narr schläft neben einer Kiste mit hochexplosivem Inhalt. Die ersten zwei Wochen vergingen nur allzu schnell; sie brachten ihm keine nennenswerten Funde. Es blieb ihm noch eine Möglichkeit und gerade noch genug Zeit, sie zu erkunden. So brach Jim Irwin gegen Ende der dritten Woche am frühen Morgen zu einem Streifzug in den nordöstlichen Teil des Tales auf, einen Bezirk, den er noch nicht betreten hatte. Er hängte sich den Geigerzähler um setzte den Kopfhörer auf, drehte die Hörmuschel nach außen, um von dem stundenlangen, normalen Geknatter nicht wieder einen Brummschädel zu bekommen, griff nach seinem Gewehr und machte sich auf den Weg, im vollen Bewußtsein, daß diese Expedition seine letzte Chance war. Die schwerkalibrige Büchse
war eine starke Behinderung beim Marsch, und ihr Gewicht machte sich in der Hitze unangenehm bemerkbar; doch die riesigen Grislys Kanadas ließen sich in ihrem einsamen Reich nicht ungestraft stören, und es brauchte eine Menge Blei, sie unschädlich zu machen. Zwei von ihnen hatte er schon töten müssen. Er hatte es nicht gern getan; denn er wußte, daß die großen, prächtigen Tiere am Aussterben waren. Und in mehreren brenzlichen Situationen hatte sich das Gewehr, obwohl er am Ende doch nicht zu schießen brauchte, als sehr beruhigend für die Nerven erwiesen. Seine 22er-Pistole hatte er in ihrem Lederhalfter in der Hütte gelassen. Er pfiff sich ein fröhliches Lied, während er kräftig ausschritt; denn die klare, kühle Morgenluft, das gleißende Sonnenlicht auf den blauweißen Gletschern und der berauschende Duft des Sommers ließen sein Herz höher schlagen, trotz seines bisherigen Pechs als Prospektor. Er hatte sich ausgerechnet, daß er eine Tagesreise brauchen würde, um zu dem neuen Bezirk zu gelangen; sechsunddreißig Stunden würden ihm dann verbleiben, um ihn systematisch abzusuchen, und so könnte er am Nachmittag des dritten Tages zurück sein, wenn das Flugzeug landen würde. Außer seiner eisernen Ration hatte er weder Proviant noch Wasser mitgenommen. Es wimmelte von wilden Kaninchen in diesem Tal, und die Bache waren voll von großen, fleischigen Regenbogenforellen, wie man sie in den Staaten nur selten zu sehen bekam. Den ganzen Vormittag wanderte Jim durch die unberührte Wildnis. Mehrere Male wurde das ständige Geräusch seines Geigerzählers lebhafter, und er fühlte eine Hoffnung in sich aufsteigen; doch das Ge-
knatter ebbte jedesmal bald wieder ab. Dieses verwunschene Tal barg nicht den erhofften Urangehalt, nur schwache Spuren von Radioaktivität waren vorhanden, nicht wert, verfolgt zu werden. Offenbar hatten sie mit diesem Claim eine Niete gezogen. Seine Zuversicht schwand dahin. Sie hätten einen Treffer verdammt nötig gehabt, besonders Walt. Und vor allem Cele, seine eigene Frau, die ein Kind erwartete. Doch es bestand immer noch eine Chance. Die letzten sechsunddreißig Stunden – er würde sich die Nacht um die Ohren schlagen – brachten vielleicht den großen Schlag. Mit Bitterkeit dachte er daran, daß es ihm auch schon helfen würde, wenn einer der ProspektorKollegen, die er finanziert hatte, Glück hätte und ihm sein Geld zurückzahlen könnte. Er hatte fast achttausend Dollar ausstehen. Er verzog den Mund zu einem sauren Lächeln und gab die müßigen Spekulationen auf, um an sein Mittagessen zu denken. Sowohl die Sonne als auch sein Magen zeigten an, daß es Zeit dafür war. Er hatte eben beschlossen, seine Angel fertig zu machen, um sie in einem nahen, schäumenden Bach auszuwerfen, und ging um einen grasbewachsenen Hügel herum, als er erstarrt, mit hängendem Unterkiefer stehenblieb bei dem Anblick, der sich ihm bot. Was er sah, glich der Auslage eines MammutSchlächterladens oder der Strecke einer Jagdgesellschaft von Riesen. Es war eine unermeßliche Ansammlung von Tierkadavern, alle peinlich genau ausgerichtet, in drei Reihen, die sich fast so weit erstreckten, wie das Auge reichte. Und was für Tiere! Gewiß, die in seiner nächsten Nähe lagen, waren gewöhnliche Hirsche, Rehe, Bären, Pumas und Bergzie-
gen, doch dann kamen seltsame, ungeschlachte, behaarte Tiere unbekannter Gattung und nach ihnen eine schauerliche Galerie von Reptilien verschiedenster Arten. Eines von ihnen, am äußersten Ende der grotesken Kolonne, erkannte er sofort wieder. Von dieser Spezies stand ein allerdings viel größeres Exemplar, um ein unvollständiges Skelett modelliert, im Museum seiner Heimatstadt. Kein Zweifel, es war ein kleiner Stegosaurier, nicht größer als ein Pony! Fasziniert ging Jim die Reihen entlang, nahm das ungeheuerliche Bild in sich auf. Als er eine schuppige, schmutzig-gelbe Eidechse näher betrachtete, sah er, daß eines ihrer Augenlider zitterte. Und langsam dämmerte ihm eine gräßliche Erkenntnis. Die Tiere waren nicht tot, waren nur gelähmt und auf rätselhafte Weise konserviert. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wie lange war es her, daß Stegosaurier in diesem Tal gehaust hatten? Und plötzlich machte er eine andere erstaunliche Entdeckung: die bewegungslosen Opfer waren alle von fast gleicher Größe. Nirgendwo sah er einen wirklich großen Saurier, keinen Tyrannosaurier und natürlich auch kein Mammut. Jedes der Tiere hatte ungefähr die Größe eines ausgewachsenen Schafes. Während er sich noch über diesen seltsamen Zufall den Kopf zerbrach, hörte er hinter sich im Unterholz ein Geräusch. Jim Irwin hatte früher einmal mit Quecksilber zu tun gehabt, und eine Sekunde lang schien es ihm, als ob ein mit diesem flüssigen Metall halbgefüllter Ledersack auf die Lichtung rollte. Das kugelförmige Ding bewegte sich mit schwabbelig-fließender
Schwerfälligkeit. Doch es war kein Leder, was es umhüllte, und was zuerst wie widerliche Warzen ausgesehen hatte, erwies sich bei schärferem Hinsehen als zugehörig zu einem Organ oder Mechanismus im Inneren des Wesens. Er hatte keine Zeit, zu ergründen, mit was er es da zu tun hatte, denn nachdem das phantastische Gebilde aus den »Warzen« mehrere Metallstäbe hervorgeschnellt und wieder zurückgezogen hatte, die an der Spitze mit runden, linsenförmigen Wölbungen versehen waren, rollte es mit einer Geschwindigkeit von etwa acht Stundenkilometern auf ihn zu. Und die sture Entschlossenheit, mit der es sich ihm näherte, ließ in dem Manne keinen Zweifel übrig, daß es die Absicht hatte, ihn seiner schauerlichen Sammlung lebendig-toter Trophäen einzuverleiben. Zusammenhanglose Worte stammelnd, wich Jim einige Schritte zurück und griff nach seinem Gewehr, das ihm über der Schulter hing. Der nicht abgeholte Ruum, jetzt etwa dreißig Meter von ihm entfernt, folgte ihm mit der mäßigen, aber unveränderlichen Geschwindigkeit, die in ihrer automatischen Stetigkeit furchterregender war als der wütende Ansprung eines wilden Tieres. Jims Hand flog an den Ladehebel, und mit geübter Schnelligkeit warf er ihn herum und stieß eine Patrone in den Lauf. Er preßte den verwitterten Kolben gegen die Backe und nahm den ledernen Balg, der in der grellen Nachmittagssonne ein ideales Ziel bot, durch den Richtdiopter aufs Korn. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Drücker langsam durchzog. Er wußte, welche Wirkung eines dieser über 100 Gramm schweren Stahlmantel-
Geschosse, die mit einer Geschwindigkeit von fast 1000 Metern pro Sekunde das Rohr verließen, haben konnte. Auf diese kurze Entfernung würde es das wabbelige Ding, was es auch immer war, in Fetzen reißen und in Brei verwandeln. Wumm! Er spürte den vertrauten Rückstoß gegen die Schulter, doch im gleichen Augenblick hörte er das pfeifende Ji-ji-ji-ji eines Querschlägers. Er hielt den Atem an. Kein Zweifel, auf kaum zwanzig Meter war eine Kugel aus seiner schweren Büchse von der Oberfläche des Ruums abgeprallt. Wild warf Jim den Ladehebel herum. Er feuerte noch zwei weitere Schüsse ab. Dann erkannte er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens. Als der Ruum auf zwei Meter herangekommen war, sah er aus den warzenartigen Beulen glänzende, fingerähnliche Haken hervortreten, und zwischen ihnen schoß ein Stachel heraus, aus dessen hohler Spitze eine grünliche Flüssigkeit tropfte. Der Mann wandte sich um und ergriff die Flucht. Jim Irwin wog genau 149 Pfund. Es war leicht für ihn, einen Vorsprung zu gewinnen. Der Ruum schien nicht fähig zu sein, seine Geschwindigkeit zu vergrößern. Doch Jim gab sich in diesem Punkt keiner Illusion hin. Kein Lebewesen konnte dieses Tempo, das ungefähr der doppelten normalen Marschgeschwindigkeit eines Mannes entsprach, auf die Dauer durchhalten. Ein gejagtes Tier würde sich bald aus Verzweiflung seinem unerbittlichen Verfolger zum Kampf stellen, oder wenn es sich ihm unterlegen fühlte, in panischer Angst weiterrennen, bis es vor Erschöpfung zusammenbrach. Nur die geflügelte Kreatur war hier sicher, und für jedes Ge-
schöpf, das dem Boden verhaftet war, gab es nur das eine unvermeidliche Ende: es wurde ein neues Stück in der grausigen Schaustellung. Doch für wen war diese Sammlung bestimmt? Was hatte das alles zu bedeuten? Jim wagte nicht, daran zu denken. Er konzentrierte seine Geisteskräfte auf seine Rettung. Während er weiterlief, begann er, alles überflüssige Gewicht abzuwerfen. Er sah, daß die Sonne sich rötete, und überlegte, wie er sich verhalten sollte, wenn die Nacht kam. Er konnte sich nicht entschließen, sich seines Gewehres zu entledigen. Es hatte sich zwar als nutzlos erwiesen gegen das Ruum, doch sein soldatischer Instinkt riet ihm, die Waffe bis zuletzt zu behalten. Gewiß, jedes Pfund verringerte seine Chancen in dem grausamen Wettlauf, den er klar vor sich sah, und sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß militärische Überlegungen in einem Kampf wie diesem sinnlos waren; es würde keine Schande bedeuten, ein wertloses Gewehr wegzuwerfen. Er beschloß, es aber erst zu tun, wenn das Gewicht ihn entscheidend behindern sollte. Er hängte es so bequem wie möglich über die Schulter. Den Geigerzähler legte er auf einen flachen Felsblock, ohne seinen Lauf zu unterbrechen. Eines hatte er sich geschworen. Dies würde keine Hasenhatz werden, keine blinde, panische Flucht, die ihn am Ende doch seinem Verfolger ausgepumpt und wehrlos ausliefern würde. Es sollte ein kämpfender Rückzug werden, und er würde jede List und jeden Trick, den er in seinem abenteuerreichen Leben gelernt hatte, anwenden, um zu überleben. Lang und tief atmend, seine Kräfte sparsam eintei-
lend, ging und lief er abwechselnd, dabei mit wachsamen Augen Ausschau haltend nach etwas, das ihm in diesem unheimlichen Kampf zum Vorteil werden könnte. Gott sei Dank war das Tal nur spärlich mit Bäumen bestanden; in dichtem Wald oder Unterholz hätte er seine Geschwindigkeit nicht durchhalten können. Plötzlich tauchte etwas vor ihm auf, was ihn stutzen ließ. Es war ein großer Felsblock, der weit über dem Hohlweg hing, in dem er sich befand, und in ihm sah er eine Chance. Jim erinnerte sich grinsend an die malaiische Menschenfalle, die ihm einmal das Leben gerettet hatte. Er erkletterte einen kleinen Hügel, von dem aus er einen Überblick über die grasbewachsene Ebene hatte. Die Nachmittagssonne warf schon lange Schatten, doch entdeckte er sofort seinen Verfolger, der, jetzt noch ein Punkt, sich im gleichen, maschinenmäßigen Tempo auf ihn zubewegte. Bangen Herzens kontrollierte er den Weg des rollenden Ungeheuers. Alles hing von dem Ergebnis dieser kurzen Beobachtung ab. Er hatte recht! Ja, obwohl seine eigene Fährte, die an dem niedergetretenen Gras deutlich zu erkennen war, nicht immer der direkte oder beste Weg war, blieb der Ruum beharrlich in den Fußstapfen seiner Beute. Diese Tatsache war von entscheidender Bedeutung für Jims Plan; doch hatte er nicht mehr als zwölf Minuten, ihn auszuführen. Absichtlich die Füße schleifen lassend, trat Irwin eine deutliche Fährte in das Gras, bis unter den Felsblock. Nachdem er etwa noch zehn Meter weitergegangen war, ging er rückwärts in seinen eigenen Fußspuren wieder zu dem Felsen zurück und sprang
dann in einem mächtigen Satz von seiner Fährte hinter den überhängenden Stein. Und sofort zog er sein schweres Jagdmesser aus dem Gürtel und begann, in wilder Hast, doch systematisch vorgehend, die Erde unter dem Felsen zu lockern und zur Seite zu scharren. Von Zeit zu Zeit stemmte er sich, schwitzend vor Spannung und Anstrengung, mit der Schulter gegen den Stein, der schließlich zu schwanken begann. Er hatte kaum sein Messer in die Scheide zurückgestoßen und sich schwer atmend niedergekauert, als der Ruum, genau seiner Fährte folgend, über eine kleine Lichtung in sein Blickfeld rollte. Gespannt starrte er dem großen Kugelwesen entgegen, bemüht, seinen jagenden Atem zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck, zu überlegen, über welche Sinne der Verfolger verfügte. Eines stand fest: vorläufig folgte er nur seinen Fußspuren, obwohl er eine ganze Menge rätselhafter Organe oder Instrumente zur Verfügung zu haben schien. Jim duckte sich so tief wie möglich in sein Versteck. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Er hielt den Atem an. Seine Nerven spannten sich zum Zerreißen. Der Ruum schien in die Falle zu gehen. Er klebte an den Fußspuren seiner Beute. Er rollte auf den Felsen zu, er änderte seine Richtung nicht. Er rollte weiter, verschwand in dem Hohlweg, war jetzt unter dem Felsen. In diesem Augenblick stieß Irwin einen wilden Kampfruf aus, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht und der ganzen Kraft seiner Muskeln gegen den Felsblock, der sofort aus dem Gleichgewicht kippte und genau auf den Ruum fiel. Mehr als fünf Tonnen Felsmasse waren von einer Höhe von vier
Metern herabgestürzt. Jim sprang in den Hohlweg hinunter. Und da stand er, starrte auf den riesigen Felsblock und schüttelte den Kopf, wie aus einer Betäubung erwachend. »Dich hab ich fertiggemacht!« stieß er mit rauher Stimme hervor. Er gab dem Fels einen Fußtritt. »Hah! Für Walt und mich werden bestimmt ein paar Dollars herausspringen, wenn wir deinen Schlachthof plündern. Vielleicht ist diese Expedition doch kein Totalverlust. Und du selbst, du widerliches Biest, fahr zur Hölle, wo du sicher hergekommen bist!« Entsetzt riß er die Augen auf, sprang zurück. Der riesige Felsbrocken bewegte sich! Langsam schoben sich die fünf Tonnen Stein zur Seite, begannen sich zu heben, und unter einer Kante kroch ein graues Etwas hervor. Jim Irwin taumelte zurück, gab einen heiseren Schrei von sich und stürzte in panischer Flucht davon. Er rannte eine volle Meile in wilden Sprüngen den Hang hinunter, ohne zurückzuschauen. Dann blieb er stehen, wandte sich um. Er konnte in der Dämmerung eben noch den dunklen Punkt ausmachen, der sich von dem Felsen wegbewegte, genauso langsam und stetig und unerbittlich wie zuvor, und genau auf ihn zu. Schwer ließ Jim sich fallen und barg sein Gesicht achtlos in seinen blutig zerkratzten und mit Erde verschmierten Händen. Während er wieder zu Atem kam, schwand auch seine verzweifelte Stimmung. Er hatte schließlich wieder einen Vorsprung von 20 Minuten gewonnen. Er setzte sich auf, nahm das flache Päckchen mit der eisernen Ration aus der Rocktasche und aß schnell, doch ohne zu schlingen, etwas von dem Fleischku-
chen, von den Biskuits und von der Schokolade. Nachdem er noch einige Schlucke von dem eiskalten Wasser des Baches getrunken hatte, der sich auf der Sohle des Tales dahinschlängelte, fühlte er sich wieder frisch genug, seinen gespenstischen Wettlauf fortzusetzen. Doch zuvor schluckte er noch eine der drei Benzedrin-Pillen, die er für alle Fälle immer bei sich trug. Als der Ruum noch etwa zehn Minuten entfernt war, brach Jim Irwin, jetzt ein verhaltenes Tempo anschlagend, auf. Er fühlte sich wieder im Vollbesitz seiner drahtigen Kräfte und seines seelischen Gleichgewichts. Nach fünfzehn Minuten stieß er auf einen breiten, steilen Felsen von etwa zehn Meter Flöhe, der mitten in dem jetzt sehr eng gewordenen Tal lag. Zu beiden Seiten war das Gelände fast unbegehbar; es war bedeckt mit scharfkantigem Steingeröll, zwischen dem dichtes, stacheliges Unterholz wucherte. Wenn es ihm gelang, den Felsen zu überklettern, den der Ruum sicher umgehen mußte, konnte er wieder einen beträchtlichen Vorsprung herausholen. Er sah sich nach der Sonne um. Riesig und rot schwebte sie über dem Horizont. Er mußte sich beeilen. Irwin war kein trainierter Bergsteiger, doch kannte er die Grundbegriffe des Kletterns. Jede Spalte, jede rauh, Stelle und den kleinsten Vorsprung ausnutzend, arbeitete er sich an der Steilwand empor. Er hatte eben den Rand der Klippe erreicht, als der Ruum auf den Felsen zurollte. Jim war sich wohl bewußt, daß er jetzt sofort hätte weiterlaufen sollen, um die wenigen noch verbleibenden Minuten des Tageslichtes wahrzunehmen – jede Sekunde, die er gewann, war von größter Be-
deutung. Doch Neugier und Hoffnung ließen ihn verweilen. Er versprach sich, seine Flucht um so schneller fortzusetzen, sobald er beobachtet hätte, daß sein Verfolger sich zu dem Umweg um den Felsen anschickte. Und vielleicht gab das Ding überhaupt auf, und er konnte sich hier auf der Stelle niederlegen zum Schlafen. Schlaf! Mit allen Fibern verlangte ihn danach. Doch der Ruum dachte nicht daran, den Umweg einzuschlagen. Nur wenige Sekunden zögerte er am Fuße des Hindernisses. Dann öffneten sich einige seiner Beulen, und metallene Stäbe glitten heraus, die in augenähnlichen Glaslinsen endeten und sich suchend in der Luft hin- und herbewegten. Jim kroch zu spät zurück. Eines der unheimlichen Sehwerkzeuge hatte ihn erspäht, während er, auf dem Bauch liegend, über den Rand der Klippe hinunterschaute. Er verwünschte seinen Entschluß, abzuwarten. Sofort wurden die Röhren wieder eingezogen, und aus einem anderen Knoten schnellte ein langer, dünner Stab, der, in der untergehenden Sonne blutrot aufglänzend senkrecht nach oben direkt auf ihn zuschoß. Gelähmt vor Entsetzen, starrte er auf das unheimliche neue Instrument seines Verfolgers, das an der Spitze umgebogen war und sich unmittelbar vor seinen Augen an der scharfen Kante des Felsens festhakte. Er sprang auf die Füße. Und schon wurde der Stab kürzer. Der Ruum zog ihn wieder ein und sich selbst damit in die Höhe. Jim sah die Spitze des Hakens sich in den Stein bohren. Fluchend setzte er einen Fuß vor, holte mit dem anderen aus zu einem mächtigen Tritt. Doch er führte ihn nicht aus. Sein Instinkt warnte
ihn. Zu oft hatte er erlebt, daß ein Freistilringkampf durch einen hinterhältigen Angriff auf die Beine verlorenging. Er mußte es überhaupt vermeiden, mit irgendeinem Teil seines Körpers in die Reichweite der teuflischen Waffen seines Gegners zu kommen. Sein Blick fiel auf einen abgebrochenen, armdicken Ast, der neben ihm lag. Er packte ihn an einem Ende, schob das andere unter den Haken und begann, ihn hochzustemmen. Da blitzte es vor seinen Augen zischend auf, und durch das trockene Holz spürte er in seinen Händen den Energieschlag, der das andere Ende des Hebels zersplitterte. Vor Schmerz aufschreiend, ließ er den rauchenden Ast fallen, wich einige Schritte zurück und rieb ohnmächtig fluchend seine gefühllosen Finger gegeneinander. Er hatte sich schon halb umgewandt, um weiterzurennen, als er in plötzlicher Eingebung nach seinem Gewehr griff und es von der Schulter riß. Oh, jetzt wußte er, daß er gut daran getan hatte, das schwere Ding den ganzen Weg mitzuschleppen, obwohl es ihm bei jedem Schritt immer schmerzhafter gegen die Rippen trommelte! Jetzt konnte er es gebrauchen! Er ließ sich auf ein Knie nieder, um in dem dämmerigen Licht sicherer zielen zu können, visierte den Haken an und schoß. Ein dumpfes Klatschen klang vom Fuße des Felsens herauf. Jim stieß einen Triumphschrei aus. Das schwere Projektil hatte nicht nur die metallene Klaue weggerissen, sondern auch ein breites Stück von der Kante des Steins abgeschlagen. Es würde für den Ruum kaum möglich sein, sich an dieser Stelle wieder festzuhaken. Er spähte über den Rand. Unten lag der Ruum, bewegte sich aber noch. Jim Irwin grinste. Sollte das
Biest es ruhig noch einmal versuchen. Selbst wenn es ihm gelang, wieder einen Halt zu finden mit seinem Haken – er würde ihn wieder wegschießen. Er hatte genügend Munition in seinen Taschen, und bis der Mond aufging, der wieder besseres Schußlicht brachte, würde er mit der Gewehrmündung auf wenige Zentimeter an sein Ziel herangehen. Außerdem war das Wesen da unten, was es auch immer sein mochte, offensichtlich zu intelligent, einen so aussichtslosen Kampf fortzusetzen. Früher oder später mußte es sich zu dem Umweg um den Felsen entschließen. Und dann würde die bald hereinbrechende Dunkelheit es ihm vielleicht unmöglich machen, seine Spur auf der anderen Seite des Hindernisses wiederzufinden. Doch dann schluckte er vor Schreck, würgte, und Tränen traten ihm in die Augen bei dem Anblick, der sich ihm jetzt bot. Unten, im Schatten der Wand, schossen aus dem plumpen Ledersack drei der Enterhaken gleichzeitig, sich wie ein Fächer spreizend, in die Höhe. Mit maschinenhafter Gleichmäßigkeit krallten sie sich in Abständen von etwa einem Meter an der Felskante fest. Jim riß das Gewehr an die Backe. Nun, dies sollte ein Schnellfeuer-Scheibenschießen werden, wie er es als Soldat gelernt hatte! Allerdings, damals hatten sie nicht im Dunkeln geschossen. Doch der erste Schuß war ein Volltreffer, der den äußeren, linken Haken von der Kante fegte. Der zweite traf zwar nicht direkt, riß aber ein Stück aus dem Gestein, so daß auch der mittlere Haken abrutschte. Doch bevor er herumwirbelte, um auf Nummer drei zu zielen, sah er, daß es zwecklos war.
Der erste Haken war wieder an seinem Platz. Wie gut und schnell er auch schießen mochte, mindestens eine der Enterstangen würde eingehakt sein und den Ruum weiter nach oben ziehen. Jim hängte das wertlose Gewehr mit der Mündung nach unten an einen Baum und rannte weiter in die sinkende Nacht. Er begann erst wieder zu denken, als er merkte, daß seine Knie anfingen, einzuknicken. Er gönnte sich eine kurze Verschnaufpause. Wie lange konnte er diesen mörderischen Wettlauf noch durchhalten? Wohin? Gab es denn nichts, was dieses verfluchte Ding hinter ihm aufhalten konnte? Das Dynamit fiel ihm ein. Jetzt hatte seine Flucht ein Ziel. Er orientierte sich an den Sternen, die jetzt hell leuchteten, und schlug die Richtung zu seinem Lager am See ein. Er lief und lief, bis er jedes Gefühl für die Zeit verloren hatte und Hunger verspürte. Er mußte gegessen haben, während er durch die Nacht stolperte, denn seine Taschen waren leer. Vielleicht konnte er essen, wenn er zu seiner Hütte kam? Doch nein, dazu würde er keine Zeit haben. Er wollte eine Benzedrinpille nehmen. Sie waren alle. Er wußte nicht, wann er sie geschluckt hatte. Immer wieder mußte er sein Tempo beschleunigen, wenn er seinen Verfolger allzu dicht hinter sich hörte. Oft sah er phosphoreszierende Augen im Unterholz aufglühen, und einmal hörte er einen Grisly, den er im Vorbeilaufen aus dem Schlaf geschreckt hatte, mißvergnügt hinter sich herbrummen. Als der Mond aufging und gespenstische Schatten auf seinen Weg warf, glaubt er Cele, seine Frau, mit
ausgestreckten Armen auf sich zukommen zu sehen. Er rief ihr entgegen: Komme nicht näher! Fliehe! Er kann nicht uns beide gleichzeitig jagen! Du mußt dich retten! Sie aber wartete auf ihn und lief neben ihm her. Als er dann eine kleine Lichtung durchquerte, löste sich ihre Gestalt im Mondlicht auf, und er begriff, daß er das Opfer einer Halluzination gewesen war. Kurz nach Sonnenaufgang erreichte Jim den See. Der Ruum war so nahe hinter ihm, daß er die dumpfen Laute seiner rollenden Vorwärtsbewegung hörte. Mit geschlossenen Augen taumelte er auf seinen Lagerplatz zu. Er schlug sich selbst ins Gesicht, um nicht vor Müdigkeit umzusinken. Dann sah er die Dynamitkiste und war hellwach. Er zwang sich zur Ruhe und überlegte sorgfältig, wie er vorgehen sollte. Zündschnur? Nein. Es war unmöglich, die Länge der Zündschnur so zu berechnen, daß sie das Dynamit im gleichen Augenblick zur Explosion brache, in dem der Ruum, seiner Spur folgend, darüber hinwegrollte. Er mußte eine andere Lösung finden. Schweiß rann an seinem Körper herunter, durchnäßte seine Kleider. Er konnte nicht mehr denken. Er sackte zusammen. Sein Kinn sank auf die keuchende Brust. Er warf den Kopf zurück, raffte sich hoch, und sein Blick fiel auf die 22er Pistole, die er in seiner Hütte zurückgelassen hatte. In seinen tief eingesunkenen Augen blitzte es auf. Mit fiebernder Hast öffnete er die noch halbgefüllte Dynamitkiste und verteilte die verbliebenen Zündkapseln zwischen die losen Stäbe zu einer höllischen Mischung. Dann ging er auf seiner Spur zurück und setzte die Kiste etwa 20 Meter von einem Felsvorsprung vorsichtig nieder. Es war tollkühn, was er da
mit zitternden Gliedern vollführte. Das Teufelszeug konnte jeden Augenblick losgehen. Doch er fragte nicht danach. Lieber in Fetzen zerrissen werden, als paralysiert in der schauerlichen Sammlung seines Gegners enden. Kaum hatte er sich hinter den schmalen Felsvorsprung geschleppt, als sein unerbittlicher Verfolger auf einer kleinen, etwa 500 Meter entfernten Erhebung auftauchte. Jim kroch tiefer in sein Versteck und entdeckte einen schmalen, senkrechten Riß in dem Gestein. Das war es, was er brauchte. Durch den Spalt konnte er auf das Dynamit schießen und war dennoch gegen die Explosion geschützt. Ob der Fels auf diese kurze Entfernung der gewaltigen Druckwelle standhielt? Er mußte es riskieren. Er legte sich auf den Bauch, beobachtete den näherrollenden Ruum. Die Müdigkeit schlug mit Hämmern gegen seine Schläfen. Mein Gott, wann hatte er zum letztenmal geschlafen? Dies war das erstemal seit Stunden, daß er sich niederlegte. Seit Stunden? Waren es nicht Tage? Seine Muskeln krampften sich zusammen zu zuckenden, brennenden Knoten. Dann spürte er die wohltuende Wärme der Morgensonne auf seinem Rücken. Seine Lider wurden schwer wie Blei. Nein! Wenn er sich jetzt gehenließ, wenn er einschlief, dann war sein Schicksal besiegelt. Er preßte seine steifen Finger um den Kolben der Pistole. Er mußte wach bleiben! Wenn er diese letzte Runde verlor, wenn der Ruum die Sprengung überlebte, dann war immer noch Zeit genug, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Er blickte hinunter auf die glänzende Pistole und dann hinaus auf die unschuldig in der Sonne liegende
Todesfalle. Wenn er den richtigen Moment abpaßte, dann mußte er seinen Verfolger dieses Mal endgültig erledigen. Er bemühte sich, seine Muskeln zu entspannen, um sicher zielen zu können. Irgendwo über ihm zwitscherte friedlich ein Vogel, und im See plätscherte ein Fisch. Entsetzt riß er die Augen auf. Ein Bär, ein riesiger Grisly trottete auf die Kiste zu. Verdammt! Ausgerechnet in diesem kritischen Moment! Und warum plünderte der verrückte Bursche nicht seine Hütte, wo er genug zu fressen finden würde? Nein, das zottige Ungeheuer näherte sich dem Dynamit, schnüffelte vorsichtig an der Kiste, ging um sie herum, stieß tiefe, mißvergnügte Grunzlaute aus über die ungewohnte Menschenwitterung. Irwin hielt den Atem an. Die geringste Erschütterung würde eine der Zündkapseln zur Explosion bringen. Und dann ... Der Grisly hob den Kopf von der Kiste, gab ein heiseres Gebrüll von sich. Die Kiste und der fremde Menschengeruch waren vergessen. Der funkelnde Blick seiner kleinen Augen war auf die heranrollende Kugel gerichtet, die jetzt noch etwa 30 Meter von ihm entfernt war. Jim Irwin kicherte. Bevor er dem Ruum begegnet war, hatte es auf der Welt nur ein Wesen gegeben, das er wirklich fürchtete, den Grislybär des nordamerikanischen Kontinents. Und jetzt standen seine beiden gefürchtetsten Gegner einander gegenüber, und er war der lachende Dritte. Doch hatte er wirklich Grund zum Lachen? Er schüttelte den Kopf so heftig, daß ihn die Nackenmuskeln schmerzten. Er mußte bereit sein, wenn dieser Kampf vorüber war. Wer würde übrigbleiben? Wem sollte er den Sieg wünschen? Er hatte als Waffe nur seine Pistole und
das Dynamit. Durfte er hoffen, daß beide einander unschädlich machten? Ungefähr zwei Meter vor dem Bären machte der Ruum halt. Und wieder, wohl zum tausendsten Male, fragte sich Jim Irwin, was dieses unheimliche Etwas sei, ob Lebewesen oder Maschine, ob überhaupt von dieser Welt. Der Grisly richtete sich auf den Hinterbeinen hoch, reckte sich zu seiner vollen Größe, ein Bild drohender Wildheit. Weiß glänzte das fürchterliche Gebiß in dem aufgerissenen roten Rachen. Wie ein seelenloser Automat begann der Ruum rückwärts zu rollen. Der Bär rückte nach, wild aufbrüllend. Dann schlug er zu. Er schlug zu mit seiner mächtigen Pranke, deren Krallen aufblitzten wie krumme Messer aus blauem Stahl. Dieser Schlag hätte ein Rhinozeros aufgeschlitzt. Jim zuckte jäh zusammen, als er sah, daß die Tatze des Bären an der ledernen Hülle des Ruums abprallte, der nur wenige Zentimeter zurückgeschleudert wurde. Auch der Bär schien verblüfft zu sein. Und schon setzte sich der Ruum mit der gleichen, entsetzlichen Gelassenheit wieder in Bewegung, rollte schräg zur Seite, um das Hindernis in einem Bogen zu umgehen. Doch der Herr der Wälder dachte nicht daran, diesen Kampf unentschieden ausgehen zu lassen. Mit der unglaublichen Behendigkeit, die Indianer, Spanier, Franzosen und Anglo-Amerikaner in Schrecken versetzt hatte, als sie diesem Tier zum erstenmal begegneten, wirbelte der Grisly herum, tänzelte elegant wie ein Boxer an den Ruum heran und hob beide Pranken. Irwin richtete sich halb auf. Heiser vor Erregung krächzte er: »Pack ihn!« Die dunklen, haarigen
Vorderarme umschlangen die Kugel, und die geifernden Kiefer schnappten nach der faltigen, grauen Oberfläche. Und aus dem Grau blitzte ein silberner Strahl hervor. Das Gebrüll des Grisly schlug plötzlich in Gurgeln um, und der Schrecken der Rocky Mountains sank mit durchschnittener Kehle in sich zusammen und wand sich röchelnd in Todeszuckungen am Boden. Jim sah noch die blutige Klinge in die graue Masse zurückgleiten, ein leuchtend rotes Rinnsal auf der staubigen Hülle hinterlassend. Und weiter rollte der Ruum, an dem riesigen Leichnam vorbei, unerschüttert und unerbittlich seinen Fußstapfen folgend. Jim unterdrückte den Schrei, der sich ihm in die Kehle drängte, dachte an seine Frau, an seinen ungeborenen Sohn, an seinen Freund Walt und hob die Pistole. Der Ruum war noch einen Meter von der Kiste entfernt. Eiskalt und ruhig zielte Jim auf das Dynamit, zog vorsichtig durch bis zum Druckpunkt und feuerte. Im gleichen Augenblick, da die erste Schallwelle wie eine Faust gegen sein Ohr schlug, fühlte er sich von Riesenhänden emporgehoben und wieder losgelassen. Er schlug hart auf. Er lag mit dem Gesicht in einem Nesselstrauch. Doch er spürte es nicht. Er wunderte sich nur, daß die Vögel schwiegen. Dann hörte er wenige Meter neben sich im Gras ein dumpfes Aufklatschen. Und wieder war alles still. Irwin hob den Kopf. Jeder Mensch tut dies in einer solchen Situation. Sein Körper schmerzte überall. Ächzend stützte er sich auf die Hände, stemmte sich hoch und sah einen riesigen, rauchenden Krater. Und er sah auch, ein Dutzend Schritte entfernt, hellgrau,
fast weiß von dem Staub der Explosion, den Ruum. Er lag unter einer großen Kiefer. Jim starrte hinüber ohne einen Gedanken fassen zu können. Er lauschte nur dem Klingen in seinen Ohren und begann eben sich verwundert zu fragen, ob es wohl jemals wieder aufhören würde, als er sah, daß der Ruum auf ihn zurollte. Wie gelähmt blieb er liegen, tastete nur um sich nach seiner Pistole. Sie war nicht da. Er mußte sie fallen gelassen haben, während er durch die Luft flog. Er versuchte zu beten, fand aber keinen Anfang. Statt dessen verbissen sich seine Gedanken sinnlos in den Kindervers »Meine Schwester Ethel kann nicht Nebukadnezar sagen« und wiederholten ihn in rasender Eile. »Meine Schwester ...« Jetzt war der Ruum über ihm, und er schloß die Augen. Kalte, metallene Finger berührten ihn. Er fühlte sich gepackt und angehoben. Sein widerstandsloser Körper schwebte, seltsam sanft geschaukelt, über dem Erdboden. Erschauernd wartete er auf den Stich der grausigen Hohlnadel mit ihrer grünen Flüssigkeit, sah das gelbe, faltige Gesicht der Eidechse mit dem zuckenden Augenlid vor sich. Dann aber legte ihn der Ruum ebenso leidenschaftslos und sachlich, wie er ihn aufgenommen hatte, wieder auf den Boden zurück. Als Jim wenige Sekunden später die Augen öffnete, sah er das wabbelige Gebilde schlurfend von ihm wegrollen. Während er ihm nachschaute, überwältigte ihn ein trokkenes Schluchzen. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er den Motor des Flugzeuges hörte und kurz darauf Walt Leonard auf sich zukommen sah.
Als sie eine Stunde später in 1000 Meter Höhe über das Tal hinwegflogen, grinste Walt plötzlich, schlug Jim auf die Schulter und rief aus: »Jim, ich besorge uns einen Hubschrauber, einen Viersitzer! Wenn es uns gelingt, auch nur einige von diesen Sauriern und prähistorischen Biestern zu entführen, während der Museumswächter abwesend ist, können wir ein nettes Sümmchen von den Wissenschaftlern kassieren.« In Jims hohlen Augen leuchtete es kurz auf. »So ist es«, erwiderte er und fuhr dann bitter lächelnd fort: »Ich hätte es mir leichter machen können. Offensichtlich wollte das verrückte Ding mich überhaupt nicht. Vielleicht wollte es nur wissen, wieviel ich für meine Hosen bezahlt habe! Es hat mich kaum angerührt und gleich wieder fallen gelassen! Und wie bin ich gerannt!« »Weiß Gott«, sagte Walt, »eine reichlich verrückte Geschichte! Und dann dein Marathonlauf! Alle Achtung vor deiner Ausdauer, mein Junge!« Er warf einen Seitenblick auf Jims abgemagertes Gesicht. »Doch ich fürchte, dieser überflüssige Rekordlauf hat dich einiges an Gewicht gekostet. Ich schätze, du hast über zehn Pfund dabei verloren.«
Originaltitel: THE RUUM