ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 72 von A.E. van Vogt Brian W. Aldiss Jack Vance Robert Bloch David Grinnell Phil...
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 72 von A.E. van Vogt Brian W. Aldiss Jack Vance Robert Bloch David Grinnell Philip E. High
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3487 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobez, Thomas Schlück, Walter Bilitza, Eduard Lukschandl
Umschlagillustration: Signet Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3 548 03487 X
DIE SCHRECKENSWAFFE (Heir Apparent) von A. E. van Vogt DIE GALAKTISCHE PRÜFUNG (Conviction) von Brian W. Aldiss VIERHUNDERT Blackbirds)
AMSELN
(Four
Hundred
von Jack Vance DIE ALTEN MEISTER (The Past Master) von Robert Bloch DER MANN VON ROM (Road to Rome) von David Grinnell DER WÄCHTER (The Guardian) von Philip E. High SCIENCE FICTION AUF KLASSISCHE ART FÜR KENNER
A. E. van Vogt Die Schreckenswaffe
Es war eine unbestimmte, alles durchdringende Empfindung, die Drohung einer kommenden Qual, bereits verbunden mit dem Einsetzen des Schmerzes. Der alte Mann sah, wie Dr. Parker ihn erschreckt anblickte. »Mein Gott, Sire«, sagte der Mediziner. »Man hat Ihnen Erpressungsgift gegeben. Es ist unfaßbar.« Arthur Clagg saß sehr still in seinem Bett, die Augen halb geschlossen, seine Gedanken und Sinne träge auf den Schmerz ausgerichtet. Sein Blick erfaßte den stämmigen, rotgesichtigen Parker, das gewaltige Schlafzimmer, die verhängten Fenster. Schließlich schüttelte er grimmig den zottigen alten Kopf und sagte: »Wann wird die Krise bei meinem Alter einsetzen?« »In etwa vier Tagen. Der Schmerz entwickelt sich nur langsam, in einer Stunde nur um ein winziges… Bei Gott, das ist das verdammteste Verbrechen der Weltgeschichte!« entfuhr es dem Doktor wütend. »Einen vierundneunzigjährigen Mann zu vergiften! Das ist einfach…« Er wurde sich des verächtlichen Blickes seines Gegenübers bewußt und hielt verlegen inne. »Ich bitte um Verzeihung, Sire.« Arthur Clagg sagte kalt: »Doktor, ich habe Sie einmal als einen Menschen bezeichnet, in dem sich ein erwachsener Geist mit den Emotionen eines Kindes verbindet. Diese Diagnose scheint noch immer zu stimmen.«
Nachdenklich saß er in seinem Bett, das Gesicht unbewegt. Schließlich bestimmte er mit deutlicher, voller Stimme: »Sie werden es unterlassen, irgendjemand von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Nicht einmal meine Urenkelin oder deren Mann, niemand darf davon erfahren!« Ein finsteres Lächeln glitt über seine Lippen. »Und regen Sie sich nicht zu sehr über das Verbrechen auf. Ein Mann, der es wagt, die Zügel der Regierung zu führen, muß auch die Risiken dieses Geschäftes auf sich nehmen, ohne Rücksicht auf sein Alter.« Sein Lächeln wurde ironisch, als er fortfuhr: »Es ist bereits ziemlich deutlich geworden, daß der Kampf um die Nachfolge eines alten Diktators nicht gerade sanft werden wird. Noch vor einem Jahr hat mir eine ganze Kompanie von Ärzten, Sie eingeschlossen, bestätigt, daß ich noch mindestens fünfzehn Jahre zu leben hätte. Das war eine sehr willkommene Nachricht, denn ich hatte mich damals wie heute noch nicht entschlossen, wen ich zu meinem Nachfolger machen sollte.« Er lächelte erneut, doch als er fortfuhr, hatte seine Stimme einen scharfen Unterton: »Ich muß nun plötzlich feststellen, daß ich noch vier Tage habe, um diese Entscheidung zu treffen. Zumindest glaube ich noch vier Tage zu haben. Oder gibt es irgendwelche Entwicklungen, die mir diese Zeit sogar noch verkürzen könnten?« Der Arzt antwortete nicht sofort, als müsse er erst seine Gedanken ordnen. »Eure Armeen sind noch immer auf dem Rückzug, Sire. Maschinengewehre und Feuerwaffen aus den Museen sind nahezu nutzlos gegen die verbotenen Atomwaffen des Rebellengenerals Garson. Wenn die Rebellen mit der augenblicklichen Geschwindigkeit weiter vorstoßen, werden
sie in sechs Tagen hier sein. Erobert haben sie in der letzten Nacht…« Arthur Clagg hörte kaum zu. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Worte »sechs Tage«. Das war es, natürlich. Die geheime Machtgruppe innerhalb der Festung wollte ihn noch vor Ankunft der Rebellen aus dem Weg haben. Wieder hörte er die Stimme seines Arztes: »Mr. Medgerow ist der Meinung, daß sie nur wegen ihrer geringen Mannschaftsstärke vor einem Durchbruchsversuch zurückschrecken. Sie…« »Medgerow«, wiederholte Arthur Clagg sinnend. »Wer ist Medgerow? Oh, ich erinnere mich, das ist dieser Erfinder, dessen Abhandlungen Sie mir einmal… Aber Sie wissen ja, daß die Wissenschaft mich nicht mehr interessiert.« Dr. Parker schnalzte entschuldigend mit der Zunge. »Ich bitte um Verzeihung, Sire. Ich habe diesen Namen nur versehentlich gebraucht.« Der alte Mann machte eine vage Bewegung mit der Hand und sagte: »Schicken Sie meinen Diener herein, wenn Sie gehen.« Der Arzt wandte sich unter der Tür noch einmal um, und ein grimmiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Sire«, sagte er, »ich hoffe, Sie werden es nicht als Vermessenheit betrachten, wenn ich zum Ausdruck bringe, daß Eure Freunde sehr darauf warten, daß Sie die Waffen gegen Eure Feinde einsetzen.« Er verließ den Raum. Fünfzig Jahre lang, dachte Arthur Clagg, fünfzig Jahre lang war die Welt gegen den Krieg erzogen worden, gegen die Anwendung von Waffen. Fünfzig Jahre lang hatte er den Reichtum der Erde in produktive Kanäle gelenkt und hatte soziale Sicherheit und einen allgemeinen Wohlstand geschaffen.
Ganze Kontinente hatten ihr Gesicht verändert; jeder Verbesserungsgedanke, der im Bereich des wissenschaftlich Möglichen lag, war unter dem wunderbaren Zusammenspiel von Geld und Arbeit verwirklicht worden. Die Erde hatte ein glückliches, lächelndes Gesicht erhalten, das sich grün und fruchtbar und friedlich der Sonne zuwandte. Es gab keinen ehrlichen Mann auf dieser Welt, der nicht auf das Wunder stolz sein konnte, das sich hier in einem halben Jahrhundert vollzogen hatte. Er, Arthur Clagg, hatte eine Welt übernommen, die von mißbrauchter Atomenergie verwüstet war, und er hatte sie nahezu über Nacht in einen wunderbaren Traum verwandelt. Und jetzt… Plötzlich spürte Arthur Clagg, wie alt er war. Es schien unglaublich, daß bereits die erste Krise in seiner Herrschaftszeit den ältesten Trieb des Menschen wiedererwecken konnte, den Wunsch zu töten. Vernichte alle deine Feinde. Sei unbarmherzig. Hol die unschlagbare Waffe hervor. Die Woge bitterer Gedanken verebbte, als ein diskretes Klopfen ertönte und sein Diener eintrat. Aber das Problem ließ ihn nicht los. Schließlich beruhigten sich seine Gedanken, als er sich, wenn auch nicht zu einem Entschluß, so doch zu einem Vorsatz durchgerungen hatte. Der Tag verging. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in seiner Routine fortzufahren und auf seine Mörder zu warten. Sie wußten, daß sie nur vier Tage Zeit zum Handeln hatten, und sie würden keine Minute verschwenden. Als Kontaktperson würde entweder Nadya oder Merd auftreten. Der Tag war wie tausend andere. Um Clagg herrschte Bewegung, huschten eilige Gestalten, die sein Appartement
betraten oder verließen, Sekretäre, Abteilungsleiter, Polizeiagenten, eine beinahe endlose Reihe von Leuten, die ihn über die Weltereignisse auf dem laufenden hielten. Eine Welt leiser Stimmen, die ihn von den zahlreichen Einzelheiten einer gigantischen Regierung unterrichteten, deren Entscheidungen in seinem Namen gefällt wurden. Er war völlig in Anspruch genommen, als die Nachrichten auf ihn eindrangen. In der chinesischen Mandschurei waren Unruhen ausgebrochen. – Zunehmende Guerilla-Tätigkeiten in dem jungfräulichen Waldland des ehemaligen Europa. Die Städte, die Rebellengeneral Garson erobert hatte, standen nur noch unter gelockerter Aufsicht und stellten keine Gefahr mehr dar. »Sehr gut, wir werden ihnen weiterhin Lebensmittel liefern.« Von allen Regierungswissenschaftlern hatte nur ein Mann namens Medgerow einen größeren Bekanntenkreis unter den wichtigen Persönlichkeiten in der Festung. »Medgerow?« überlegte der alte Mann laut. »Den Namen habe ich heute schon einmal gehört. Was für ein Typ ist er?« »Er ist ein sehr kultivierter Gesprächspartner, jedoch eine ungewöhnliche, wenn auch faszinierende Persönlichkeit. Aber alles, was wir gegen ihn sagen könnten, wäre, daß er von vielen Leuten besucht wird. Darf ich fragen, Sire, warum Sie ein so großes Interesse für diesen Mann haben?« Arthur Clagg antwortete langsam: »Meiner Meinung nach würde sich in der heutigen Zeit keine Gruppe – sei sie innerhalb oder außerhalb der Festung – gegen mich erheben, ohne einen wissenschaftlichen Berater heranzuziehen.« Sachlich fragte der Polizeioffizier: »Soll ich ihn mir schnappen und ihm ein wenig die Daumenschrauben anlegen?«
»Seien Sie nicht kindisch. Wenn er ein guter Wissenschaftler ist, wird er sich von ihrem Herumgespiele mit Hypnose und Lügendetektor nicht beeindrucken lassen und Ihnen keine Handhabe bieten. Aber die Hintermänner wären gewarnt. Sie haben mir die gewünschte Information gegeben; im Moment ist also innerhalb der Festung keine umstürzlerische Tätigkeit festzustellen.« »Das ist richtig, Sire.« Als der Polizeichef gegangen war, saß Arthur Clagg in Gedanken versunken. Es schien keinen Zweifel mehr zu geben, daß seine erste Vermutung richtig gewesen war. Die Giftmörder befanden sich unter seinen eigenen Leuten. Aber das beunruhigte ihn erst in zweiter Linie. Vor allen Dingen machte ihm die allgemeine Schlußfolgerung Sorge, die man aus diesem Tatbestand ziehen mußte. War es denn möglich, daß das bloße Vorhandensein eines Diktators – so redlich er auch regieren mochte – die Übel menschlicher Machtgelüste am Leben hielt und somit ein Blutvergießen unvermeidlich machte? Die auf diese Weise entstehende Spannung barg doch die Gefahr eines viel absoluteren Chaos in sich als das der Demokratie, die er in den letzten zehn Jahren neu aufzubauen wähnte. Aber man konnte doch beim besten Willen nicht in drei Tagen eine vollwertige Demokratie wiedererstehen lassen. Der Tag schleppte sich dahin. Um vier Uhr erschien Nadya, aufgemacht wie ein Filmstar, in schimmernder Seide und auf hohen Hacken, Sie berührte seine Wange mit ihren duftenden Lippen, zündete sich eine Zigarette an und warf sich in den Sessel. Er dachte: Nadya, Giftmörderin. Bisher war ihm der Gedanke an einen Anschlag leicht gefallen. Er war ein Teil des Lebens voller Intrige gewesen, das um ihn pulste.
Aber seine Urenkelin! Das letzte Blutsband, das ihn mit der menschlichen Rasse verband; alle übrigen, die edle Cecily, der stille, geistvolle Peter, die liebliche Cathrin und die anderen, sie alle waren in ihre Gräber verschwunden und hatten ihn allein gelassen mit ihr – mit dieser blutdürstigen Verräterin und Mörderin. Die düstere Stimmung verschwand so schnell, wie sie gekommen war, als Nadya ihn ansprach: »Großvater, du bist unmöglich!« Arthur Clagg betrachtete sie mit plötzlicher, aber objektiver Zuneigung. Nadya war achtundzwanzig und hatte ein hübsches Gesicht. Aber ihre Augen waren leuchtend und hart und hatten einen eher abschätzenden als nachdenklichen Ausdruck. Vor einiger Zeit noch hatte sie einen großen Einfluß auf ihn ausgeübt, der, wie er sich eingestand, von ihrer Jugend ausgegangen war. Die vibrierende, rein tierische Wesensart eines jungen Mädchens hatte seine Augen vor der Tatsache verschlossen, daß auch sie nur zu denen gehörte, die sich – nicht einmal sonderlich geschickt – darum bemühten, aus allem das Beste für sich selbst herauszuschlagen. Aber das war vorbei. Er wartete. Sie fuhr in ernstem Ton fort: »Großvater, was geht in dir vor? Wirst du diesen Rebellen Garson und das aufrührerische Parlament, von dem er gestützt wird, einfach dulden? Hast du die Absicht, dich einfach beiseite schieben zu lassen? Willst du den Schauplatz ohne Kampf verlassen und uns alle der Lächerlichkeit und dem Ruin preisgeben, nur weil du dich weigerst, der Tatsache ins Auge zu schauen, daß der Mensch sich nicht geändert hat?« Arthur Clagg fragte sanft: »Was würdest du an meiner Stelle tun?« Diese Frage war keine Antwort auf ihren Ausbruch; sie war einzig und allein darauf abgezielt, Nadya aus ihrer Reserve zu
locken. Bis vor einem Jahr noch hatte diese Frage sein Nachgeben gegenüber ihren Wünschen eingeleitet. Sie erkannte den Satz wieder, und ein strahlendes Lächeln erhellte ihr geschminktes Gesicht. Ihre Augen weiteten sich erregt. »Großvater, es ist bestimmt keine Übertreibung, zu sagen, daß du wahrscheinlich der größte Mann bist, der jemals gelebt hat. Trotz deines Alters und der Tatsache, daß du so viele deiner Rechte abgegeben hast, ist dein Prestige so groß, daß deine Welt zusammenhält, obwohl die allgemeine Verwirrung wegen des Rebellenmarsches zunimmt. Aber du siehst dich in unmittelbarer Zukunft der wichtigsten Entscheidung deines Lebens gegenüber; du mußt dich dazu entschließen, deine mächtige Waffe einzusetzen. Fünfzig Jahre lang hast du sie versteckt gehalten, aber jetzt mußt du sie hervorholen und einsetzen. Nur mit ihr kannst du die Zukunft für dich entscheiden. Medgerow hat gesagt, daß es in der ganzen Geschichte kein Beispiel für eine ähnlich wichtige Entscheidung gibt, die wegen einer solchen Weigerung…« »Medgerow!« stieß Arthur Clagg erregt hervor, unterbrach sich aber sofort. »Laß dich nicht stören. Fahr fort.« Nadya blickte ihn an. »Er ist ein schrecklicher, kleiner Mann, dessen Persönlichkeit und außerordentliches Selbstvertrauen ihn trotz seines Äußeren interessant machen. Soweit ich weiß, ist er ein Erfinder, der dem wissenschaftlichen Regierungsbüro angehört.« Sie zögerte und schien zu erkennen, daß ihre Argumente durch seine Unterbrechung an Wirkung verloren hatten. Sie setzte erneut an. »Großvater, trotz deiner Einwände mußt du die Tatsache anerkennen, daß bereits viele gute Männer getötet worden sind. Wenn du die Rebellen nicht vernichtest, werden sie deine treue Armee noch mehr bedrängen, sie zerschlagen und eines Tages
die Festung nehmen. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was sie in einem solchen Fall mit uns machen würden. Aber auch das ist ein Punkt, den du in Betracht ziehen solltest. Du kannst nicht alles nur dem Zufall überlassen.« Sie hielt inne und atmete tief ein, dann: »Du hast mich um meine Äußerung gebeten. Ich wollte dir auf möglichst einfache Weise begreiflich machen, daß du meiner Meinung nach die Rebellen überwältigen und die Waffe Merd übergeben solltest. Nur durch ihn und mich kann dein Lebenswerk vor gewaltsamen Veränderungen bewahrt werden. Die politische Erfahrung in dieser Hinsicht hat gezeigt, daß andere Machtgruppen zuerst mindestens einen Teil des Gebäudes niederreißen müßten, das du so mühsam errichtet hast. Die Welt würde vielleicht sogar wieder in einzelne feindliche Staaten zerfallen, und der Tod würde reiche Beute machen.« Sie meinte es so ernst, daß ihre Stimme zitterte. »Du mußt einsehen, daß es in unserem Interesse ist – und nur in unserem Interesse! –, die Dinge so zu belassen, wie sie im Augenblick sind.« Sie beendete ihre Rede mit einem Versuch, gleichgültig zu wirken: »Nun, was sagst du dazu?« Es dauerte einen Augenblick, ehe der alte Mann erkannte, daß sie, zumindest für den Augenblick, fertig war. Gleich darauf überfiel ihn die Erkenntnis, daß ihm ihr Wortgemälde nicht völlig mißfiel. Trotz seiner Kaltblütigkeit zeigte es doch einen angenehmen Weg aus einer tödlichen Situation; denn, wie sie gesagt hatte, es gab keine Wahl mehr zwischen töten und nicht töten. In der Glut atomarer Explosionen waren bereits viele Regierungssoldaten gefallen, und den Berichten zufolge hatte auch sein eigene bewegliche Artillerie schwere Verwüstungen angerichtet. Um den Tod kam er also nicht herum.
Trotzdem würde nur ein Ungeheuer die Welt und ihre hilflosen Bewohner einer Bande von Giftmischern überlassen. Er bemerkte, daß Nadya ihn aufmerksam betrachtete. Arthur Clagg lachte, ein leises, bitteres Lachen. Aber noch ehe er sprechen konnte, sagte die junge Frau: »Großvater, ich weiß, daß du mich gehaßt hast, seitdem ich Merd geheiratet habe. Es kann sein, daß du von dieser Aversion selbst gar nichts gemerkt hast, aber sie existiert, und sie beruht auf einer gefühlsmäßigen Reaktion. Ich habe bisher noch nicht gewagt, davon zu reden, aber wir stehen in einer ernsten Krise. In sechs Tagen wird diese Festung von atomaren Kanonen beschossen werden, und im Angesicht einer solchen Wirklichkeit darf nicht einmal auf die Gefühle eines alten Mannes Rücksicht genommen werden.« »Dich gehaßt«, sagte Arthur Clagg. Es war keine Antwort, sondern ein einfacher Ausruf, ein Gespräch, das keinen gedanklichen Ursprung hatte. Aber in einer Ecke seines Gehirns stellte er fest, daß sie von sechs und nicht von vier Tagen gesprochen hatte. Offensichtlich rechnete sie nicht mit einer Krise, wie sie sich aus seinem Tod ergeben konnte. Die Vermutung, daß sie von dem Gift nichts wußte, war verblüffend. Sie konnte sich natürlich dermaßen in der Gewalt haben, daß sie eine solche scheinbar unbewußte Reaktion absichtlich herbeiführte. Aber er hatte jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Nadya fuhr fort: »Du hast mich gehaßt. Deine Liebe hat sich in Haß gewandelt. Ich war dein alles gewesen, ehe ich heiratete, und du gabst mir alles. Danach standen für mich natürlich Merd und die Kinder an erster Stelle. Großvater, begreifst du denn nicht, das ist der Grund, warum du mich haßt!« Der zunehmende Einfluß des Giftes lähmte Claggs Denken. Gewaltsam befreite sich der alte Mann schließlich aus seiner
geistigen Starre und warf mit einer plötzlichen Anstrengung die Last seiner Krankheit für einen Augenblick von sich. Seine geistige Energie kehrte zurück. Er entspannte sich erstaunt. Du alter Narr, dachte er. Sie hat recht. Das ist der Grund, warum du sie nicht gemocht hast. Eifersucht! Er beobachtete sie unter seinen buschigen Augenbrauen hervor und war sich der Notwendigkeit bewußt, seine Meinung über sie zu ändern. In gewisser Hinsicht war Nadyas Gesicht sogar apart zu nennen; es war nicht ausgesprochen schön, aber doch entschieden aristokratisch. Seltsam, wie sich die Menschen entwickelten. Er selbst hatte immer wie eine Art Professor ausgesehen; und doch wirkte seine Urenkelin wie eine Patrizierin. Sie hatte, wie er jetzt feststellte, entschieden zu viel Make-up aufgelegt und war beinahe wie eine jener leichten Damen aufgemacht, die so zahlreich in der Festung herumflatterten. Man konnte es jedoch einer Frau kaum übelnehmen, wenn sie mit der Mode ging. Der alte Mann fühlte Verwirrung in sich aufsteigen. Was geschah mit seinem Mißtrauen gegen sie? Hier saß sie, eine aristokratische Frau, eifrig darauf bedacht, ihre Stellung zu wahren, und wer würde das in ihrer Lage nicht? Sie war nicht eigentlich intellektuell und vielleicht auch ein wenig gefühllos. Aber wie alle, die Befehle erteilten, mußte sie ihr Herz gegenüber den Leiden des Individuums verschließen. Er hatte in seinem Zeitalter gelebt, in dem ein atomarer Tornado Millionen von Menschenleben vernichtet hatte, und er brauchte als Nachfolger eine Person, die im Notfall nicht zögern würde, einen zweiten derartigen Vernichtungssturm rücksichtslos zu verhindern. Und da nun Zweifel an Nadyas
Mittäterschaft bestanden, kam sie für seine Überlegungen wieder in Betracht. Aber wenn sie und Merd nicht daran beteiligt waren, wer war es dann? Der alte Mann wurde unsicher. Vielleicht würde er es niemals erfahren, obwohl die Notwendigkeit, es herauszufinden, ihn nahezu in Panik versetzte. Aber er konnte niemanden ohne Beweis verurteilen. Er sagte langsam: »Laß mich jetzt bitte allein, Nadya. Du hast dein Anliegen sehr gut vorgetragen, aber ich habe mich noch nicht entschieden. Morgen werde ich – aber laß nur.« Er wartete, bis sie mit einem verwirrten Seitenblick den Raum verlassen hatte. Dann griff er nach seinem Privattelefon. Wenig später war die Verbindung hergestellt. »Nun?« fragte Arthur Clagg. Die Stimme des Polizeichefs sagte: »Die Sache ist arrangiert. Das Treffen wird im Niemandsland stattfinden. Er ist mit drei Leibwächtern einverstanden.« Der Offizier konnte nicht mehr an sich halten: »Sire, es ist ein äußerst gefährliches Unternehmen. Wenn etwas schiefgeht…« Der alte Mann unterbrach ihn kurz: »Haben Sie die Fahrzeuge nach meinen Anweisungen ausgerüstet?« »Jawohl, aber…« Eindringlich: »Sire, ich frage Sie nochmals, warum wollen Sie mit Garson überhaupt sprechen?« Der alte Mann lächelte und hängte auf. Er hatte nicht nur einen, sondern sogar zwei Beweggründe für diese Zusammenkunft. Aber es war kaum ratsam, von seiner Absicht zu erzählen, den Rebellenführer unter anderem auch als möglichen Kandidaten für seine Nachfolgerschaft in Augenschein zu nehmen.
»Denken Sie daran«, sagte Arthur Clagg zu seinem Wachoffizier. »Sie unternehmen nichts, ehe ich nicht an meinem Ohrläppchen gezogen habe.« Der unangenehmste Teil der ganzen Angelegenheit bestand in den fünfzig Metern, die er zwischen seinem Fahrzeug und den auf offener Wiese aufgestellten Stühlen zurückzulegen hatte. Jeder Schritt bedeutete Schmerzen. Keuchend sank er schließlich auf seinen Sitz. Aus dem zweiten Fahrzeug stieg ein schmächtiges Individuum in einer schlechtsitzenden blauen Uniform und schritt durch das Gras auf ihn zu. Seine Bewegungen zeugten von dem Vertrauen eines Mannes, der seiner selbst sehr sicher war, dem es aber an guten Manieren fehlte. Arthur Clagg erkannte den Rebellengeneral sofort. Das hagere, knochige, hohlwangige Gesicht hatte ihm bereits von zahlreichen Fotografien entgegengestarrt. Aber allein die näselnde Stimme, die so oft aus dem Radio tönte, hätte als Erkennungszeichen ausgereicht. Garson sagte: »Ich hoffe nicht, daß Sie irgendeinen faulen Trumpf im Ärmel haben.« Er sprach laut, zu laut, um noch höflich zu wirken. Aber Arthur Clagg war nur kühl und neugierig. Auch dachte er nicht an eine sofortige Antwort. Er war fasziniert von diesem Mann, der es wagte, sich gegen die Schreckenswaffe zu erheben. Garson hatte braune Augen, ungekämmtes, sandfarbenes Haar. Er sank in seinen Stuhl und starrte seinen greisen Gegner humorlos an. Wieder brach er mit scharfer Stimme das Schweigen: »Kommen Sie zur Sache, Mann!« Arthur Clagg hörte es kaum. Die äußere Erscheinung seines Gegenübers interessierte ihn viel mehr. Es war der Mann, der ihn packte, seine Kühnheit, sein Wagemut, in einem derart
riesigen Land eine kleine Armee aufzustellen, seine Todesverachtung für ein Ideal – eine Verachtung, die allein einen Erfolg wert war. Der alte Mann straffte seinen gepeinigten Körper und sagte mit Würde: »General Garson, wie Sie sehen, erkenne ich Ihren militärischen Rang an. Sie sind für mich der Vertreter einer bestimmten Richtung der Volksmeinung. Wenn Sie daher in der Lage sein sollten, mir einige stichhaltige Argumente zu liefern, könnte ich mich dazu entschließen, ein Parlament unter Ihrer Federführung zuzulassen. Ich bin nicht gegen die Demokratie, weil sie, abgesehen von dem Unglück, das sie vor einem halben Jahrhundert heraufbeschwor, ein kräftiger, auf wunderbare Weise wachsender Organismus war. Ich habe keinen Zweifel, daß sich dieser Zustand wiederherstellen ließe. Die Gefahr besteht in der ungehemmten Anwendung der Atomenergie…« »Deswegen machen Sie sich nur keine Sorgen!« Garson schwenkte gleichgültig die Hand. »Mein Kongreß und ich werden allein darüber entscheiden.« »Wie?« Arthur Clagg starrte über den Tisch und traute seinen Ohren nicht. Er hatte das plötzliche Gefühl, daß ihm hier nur bedeutungslose Worte entgegengeschleudert wurden. Noch ehe er sprechen konnte, beugte sich der schmächtige Mann vor und starrte ihn eindringlich an. »Hören Sie, Herr Diktator. Ich weiß einfach nicht, weshalb Sie mich hierherbestellt haben. Ich dachte, daß Sie sich vielleicht ergeben wollen, jetzt, nachdem wir Ihren Bluff entlarvt haben. Hier ist mein Angebot: Ich habe gehört, Sie haben irgendwo im Süden einen Besitz. In Ordnung. Ich werde Sie, Ihre Urenkelin und deren Familie dort unter Bewachung stellen. Aber wenn irgend jemand Zicken macht, ist er natürlich erledigt. Mein Kongreß wird
mich als Präsidenten einsetzen, und ich werde einfach Ihre Stellung einnehmen, so schnell ich kann. In wenigen Monaten wird alles wieder so reibungslos laufen wie bisher. Ist das klar?« Der Schock war groß. Sein Gehirn war im ersten Augenblick keiner Reaktion fähig. Schließlich brachte Arthur Clagg hervor: »Aber… Sie haben doch noch gar keinen Kongreß! Ein Kongreß ist eine regierende Körperschaft, die sich durch geheime Wahl des ganzen Volkes konstituiert. Es können sich doch nicht einfach zweihundert Männer zusammentun und sich Kongreß nennen. Es…« Er brach ab, als ihm die Bedeutung seiner Worte aufging. Es schien unglaublich, aber war dieser Mann mit der allgemeinen Geschichte so wenig vertraut, daß er nicht wußte, was eine repräsentative Regierungsform war? Der alte Mann versuchte sich das vorzustellen, und er fand schließlich eine psychologische Erklärung. Wie so viele Menschen, war sich Garson nur undeutlich bewußt, daß es bereits vor ihm eine Welt gegeben hatte, noch ehe sein eigenes Echo der Kindheit entwachsen war. Für ihn mußte diese vorgarsonische Zeit ein unwichtiges Durcheinander darstellen. Auf irgendeine Weise waren die Worte »Kongreß« und »Präsident« zu ihm gedrungen, und er hatte sich seine eigenen Definitionen geschaffen. Mit großer Anstrengung wandte Arthur Clagg seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann zu. Und er mußte feststellen, daß es der Mut dieses Wesens war, der ihn faszinierte. Ein Mann, der die Kühnheit besaß, die Waffe herauszufordern, mußte der Vernunft und einer teilweisen Umerziehung zugänglich sein! »Mann!« Garsons Stimme schnappte über. »Sie sind schon ‘n Kerl gewesen, Clagg. All die Jahre über zu behaupten, daß Sie
eine Superwaffe haben, und Bücher so schreiben und Filme so drehen, daß die Leute glauben müssen, es ist so passiert, wie Sie gesagt haben. Mich haben Sie aber nie hereingelegt, und jetzt ist Ihr Spiel aus. Ich werde natürlich mit dem Waffenzirkus weitermachen.« Er sprach weiter, aber Clagg hörte nicht mehr zu. Er wartete, bis sein Gegenüber schließlich schwieg und berührte mit einer beiläufigen Geste sein Ohrläppchen. Garsons Körper erstarrte unter den Hypnosewellen. Der alte Mann verschwendete kein Zeit. »Garson«, sagte er eindringlich. »Garson, Sie werden mir jetzt bereitwillig erzählen, wer Ihnen die Pläne für die Atomkanonen gegeben hat. Garson, war es jemand aus der Regierung? Garson, es ist so leicht, mir diese Frage zu beantworten!« »Aber ich weiß es nicht.« Die Stimme des Mannes war irgendwie weit entfernt und klang vage überrascht. »Ich habe sie von einem Mann bekommen, den ich nicht kenne. Er hat gesagt, er sei ein Agent, ein Agent…« »Wessen Agent?« drängte Arthur Clagg. »Ich weiß es nicht.« »Aber haben Sie es nicht wissen wollen? Hat es Sie nicht beunruhigt?« »Nein, im Gegenteil. Wenn ich erst die Kanone habe, dachte ich, sind ja die anderen dran mit dem Angsthaben.« Nach drei Minuten berührte Arthur Clagg erneut sein Ohrläppchen, und Garson kehrte ins normale Leben zurück. Er sah ein wenig erschreckt aus, aber das Mißtrauen eines derart unwissenden Mannes beunruhigte den alten Mann nicht. »Da Sie mein Wort haben, Mister, ziehen Sie sich bitte sofort zurück. Ich würde Ihnen raten, einen möglichst großen Abstand zwischen uns zu bringen, da morgen in Reichweite meiner Waffe kein Rebell mehr am Leben sein wird. Auf jeden
Fall werde ich meinen Schwiegersohn, meinen Erben und Nachfolger, anweisen, Sie gefangenzunehmen und der Gerechtigkeit zu überführen.« Und als er diese letzten Worte sprach, dachte er, daß die Zeit der Entscheidung vorüber war.
Das Haus lag unauffällig in einer Reihe ähnlicher Anwesen in den Grünanlagen der gewaltigen Festung. Die Außentür war offensichtlich elektrisch geöffnet worden, denn als Doktor Parker eingetreten war, fand er sich allein in einem schmalen, metallenen Gang. Eine winzige Birne an der Decke warf ihren weißen Schein auf eine zweite Tür aus Metall. Der Doktor verhielt einen Moment bewegungslos und rief dann mit schriller Stimme: »Medgerow, was soll das alles?« Ein blechernes Kichern ertönte aus einer der Wände. »Regen Sie sich nicht auf, Doktor. Wie Sie wissen, nähert sich unser Projekt dem kritischen Stadium, und ich möchte kein Risiko eingehen.« »Aber – aber ich bin hier schon hundertmal gewesen und habe nie etwas von diesen – diesen Befestigungen gemerkt.« »Gut!« kam Medgerows Stimme erneut durch die Wandlautsprecher. Es klang befriedigt. »Man würde wohl schon die Atomkraft oder…« – Pause. »… Arthur Claggs geheimnisvolle Waffe anwenden müssen, um mich hier herauszuholen. Aber kommen Sie doch herein.« Die zweite Tür öffnete sich auf einen holzgetäfelten Gang und knallte hinter ihm ins Schloß. Ein kleiner Mann erwartete den Besucher und kicherte bei seinem Anblick. Dann sagte er knapp: »Ihr Bericht, Mann! Sie haben das Gift erfolgreich verabreicht?«
Der Doktor antwortete nicht sofort, als er dem anderen in das Wohnzimmer folgte. Bei jeder Zusammenkunft mit Medgerow fühlte er sich in den ersten Minuten ausgesprochen unsicher und gehemmt. Er brauchte eine gewisse Zeit, um sich an die Abnormalität dieses Mannes zu gewöhnen. Parker überlegte zum hundertsten Mal, daß es eigentlich nicht die Häßlichkeit Medgerows war, die ihn dermaßen abstieß. Es war vielmehr die seltsame Aura mißgestalteter Stärke, die er um sich verbreitete. Seine Persönlichkeit war ausgeprägt wie der Buckel eines Krüppels und schien ihm etwas Unmenschliches zu verleihen. Parker hatte herausgefunden, daß er die Gegenwart dieses Mannes ertragen konnte, wenn er ihn nur mit den Augenwinkeln erfaßte. »Ja, ich habe ihm das Gift letzte Nacht eingegeben. Und er hat bereits den ganzen Tag über darauf reagiert.« Die Gestalt in seinen Augenwinkeln rührte sich nicht. »Sie haben ihm gesagt, daß er in vier Tagen sterben muß?« »Etwa um Mitternacht des vierten Tages.« Schweigen. Die Gestalt blieb unbeweglich. Schließlich sagte Medgerow mit zwingender Ruhe: »Ich werde den Fehler nicht wiederholen, den die jungen Eroberer der Geschichte so oft begangen haben. Ich habe nicht den Wunsch, wie Cromwell aus dem Grabe gezerrt und in einem öffentlichen Schauspiel gehängt zu werden. Auch werde ich mit meinen Exekutionen nicht solange warten wie die frühen französischen Revolutionäre. Und was diese gesprächigen Idioten Felix Pyat und Delescluze aus dem Paris des Jahres 1871 angeht, so macht es mich krank, überhaupt an sie zu denken. Mussolini wurde im gleichen Netz gefangen. Er ließ seine Gegner und Verräter am Leben. Hitler hatte natürlich bereits die halbe Arbeit erledigt, als die Alliierten Deutschland vom Hohenzollern-Regime befreiten. Er machte nur einen Fehler: die Vereinigten Staaten.«
Die ruhige Stimme belebte sich abrupt: »Aber genug davon. Ich werde unbarmherzig sein. Der Besitzer der geheimnisvollen Gegenschlagwaffe regiert die Welt, vorausgesetzt, er sorgt dafür, daß kein möglicher Attentäter am Leben bleibt.« »Aber sind Sie sicher?« unterbrach Parker erregt. »Sind Sie absolut sicher, daß Sie die Wirkung der Waffe lange genug neutralisieren können, um sie schließlich zu erobern? Wie können Sie so sicher sein, daß er sie anwenden und sich damit die Blöße geben wird, die Sie auszunützen vermögen?« Medgerow schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Natürlich kann ich das nicht hundertprozentig voraussagen. Meine Planungen beruhen in diesem Punkt auf der Beurteilung des Charakters eines alten Mannes, dessen Handlungen, Reden und Artikel ich seit Jahren studiert habe. Ich wette, daß der alte Mann sich in diesem Moment bereits entschlossen hat, die Waffe auf die eine oder andere Weise einzusetzen. Meiner Meinung nach wird er sie gegen die Rebellen richten und sie dann seinem Schwiegersohn übergeben. Das wäre sehr gut; denn ich möchte, daß er die Rebellen bereits ausgeschaltet hat, wenn ich gegen ihn losschlage. Das alles wird noch etwas dauern. Wenn ich Arthur Clagg richtig einschätze, wird er zuerst ein Zusammentreffen mit dem Rebellengeneral suchen. Er wird in ihm einen Mann finden, in dem sich die schlimmsten Züge eines Demagogen verbinden, eines Demagogen, der es zudem noch gewagt hat, sich der Atomgewalt zu bedienen. Dies alles wird, wie ich bereits sagte, im Gehirn des alten Mannes die Vermutung wecken, daß seine Urenkelin an dem Giftanschlag beteiligt ist. Ich glaube schon, daß er die Waffe benutzen wird.« Das kleine menschliche Ungeheuer kicherte. »Und hier beginnt meine Rolle. Arthur Clagg hat vor fünfzig Jahren nicht erkannt, daß er einen Präzedenzfall schuf und
nicht zum letzten, sondern zum ersten Diktator der Wissenschaft wurde. In der Zwischenzeit haben sich die Menschen eingewöhnt, und die Wissenschaftler machen sich über kurz oder lang an die Arbeit und werden ihr Leben und ihre Arbeit unbewußt verändern in der Hoffnung auf Macht. Das sind die Gesetze des dialektischen Materialismus. Aber jetzt…« Er brach ab. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, Doktor. Wie Sie wissen, mußten wir das Risiko eines Telefongespräches vermeiden, zumal die Geheimpolizei bereits Nachforschungen über mich angestellt hat.« Als sie sich die Hände schüttelten, sagte Medgerow mit leuchtenden Augen: »Sie haben gut gearbeitet, Parker. Es tut mir leid, daß Sie zu weich waren, um das wirkliche Gift zu spritzen, aber das läßt sich ja nachholen, wenn ich erst an der Macht bin. Dennoch werde ich Ihre wertvolle Hilfe angemessen belohnen und Ihnen Arthur Claggs Urenkelin Nadya zur Frau geben, sobald wir den Ehemann losgeworden sind.« »Danke«, sagte Parker ruhig. Der kleine Mann blickte ihm verächtlich nach und dachte: Dummer Kerl! Er erkennt nicht, daß die Situation die Heirat zwischen der einzigen natürlichen Erbin des ehemaligen Diktators und dem neuen Herrscher erfordert! Bauern schlagen keine Königinnen in diesem Spiel!
Für den alten Arthur Clagg war jetzt jede Minute wichtig. Er schickte Einladungen an Merd und Nadya, die ihn kurz nach dem Mittagessen aufsuchten. Entgegen seiner Absicht starrte er immer wieder in das hagere Gesicht seines Schwiegersohnes und suchte nach einer Versicherung, daß das außerordentliche
Vertrauen, das er ihm zu schenken gedachte, nicht mißbraucht würde. Er sah graue Augen, dunkles Haar, ein eher zart gebautes, empfindsames Gesicht mit schmalen Lippen, dieselben physischen Merkmale, gegen die er vom ersten Augenblick eine heftige Abneigung empfunden hatte. Nur der Körper war sichtbar und nicht der Geist. Und das war nicht genug. Dieser Gedanke schmerzte beinahe mehr als die Qualen des Giftes. Äußerlichkeiten zählten nicht. Und doch war die Entscheidung gefallen. Ein Mann, der noch zwei Tage zu leben hatte, konnte nur noch nach der leichten Lösung greifen. Arthur Clagg sagte kurz: »Verschließt die Türen. Wir werden die Waffe hervorholen. Das dauert sehr lange.« Merd platzte heraus. »Du meinst, sie ist hier?« Der alte Mann ignorierte die Frage und fuhr eintönig fort: »Die Waffe befindet sich in einem Flugzeug, das von vier Gasturbinenstrahlern und Strato-Raketen angetrieben wird. Diese Maschine steht im Ostflügel der Festung, der – wie ihr vielleicht wißt – von Arbeitern aus allen Teilen der Welt errichtet wurde. Die Verwendung von Männern, die sich nicht verständigen konnten, ermöglichte die Errichtung eines Verstecks, dessen wahrer Zweck niemand je geahnt hat.« Er brach ab, fuhr mit der Hand in eine Jackentasche und holte einen Schlüssel hervor. »Dieser Schlüssel wird einen Werkzeugschrank in meinem Badezimmer öffnen. Wir brauchen die Werkzeuge, um die mechanischen Schlösser, die in die versteckte Kammer führen, freizulegen und zu aktivieren.« Es dauerte lange. Die beiden jungen Leute mühten sich schweigend ab und bearbeiteten die verschiedenen geheimen Wandmarkierungen im Wohnzimmer mit Motorsägen und Atombohrern. Als die Vorarbeiten beendet waren, wies der alte
Mann die beiden in zwei Sessel in seiner Nähe und begann zu sprechen. »Man hat sich zu allen Zeiten meiner Regierung den Kopf zerbrochen über meine Waffe. Dabei waren die meisten dieser Spekulationen eigentlich überflüssig, denn ich hatte vor vielen Jahren einen Teil der zugrundeliegenden Theorie leichtsinnigerweise im wissenschaftlichen Regierungsmagazin veröffentlicht. Es war eine Dummheit, nicht weil jemand die Waffe kopieren könnte, sondern…« Er brach ab und runzelte die Stirn. »Lassen wir das jetzt. Erklärungen später.« Er fuhr fort: »Die Theorie meiner Superwaffe berührt die geheimsten Probleme des Lebens. Wie ihr wißt, hat man das Leben einmal als geordnete Bewegung definiert. Auch in der anorganischen Materie gibt es Bewegung, jedoch von einer primitiveren Art, die sich aus dem großen Zusammenhang erklärt. Aber was macht Bewegung erst möglich? Warum zerfällt Materie, sei sie organisch oder anorganisch, nicht einfach in ihre Bestandteile und erfüllt auf diese Weise ihre offensichtlich nutzlose Bestimmung? Man könnte die Antwort auf die Elektronen beziehen, die den Naturgesetzen folgend in ihren Kreisbahnen rotieren und Atome bilden, die in ihrer physikalisch logischen Beziehung zur übergeordneten Molekularstruktur einen weiteren Baustein des gewaltigen Ganzen bilden. Aber das wäre ein Ausweichen. In einem Objekt ist Bewegung, weil ganz in seinem Inneren, in seiner kleinsten Wesenseinheit eine Antithese besteht, ein Gegensatz. Nur deshalb bewegt sich ein Ding und sendet Impulse aus und wird aktiv. Diese Überlegung allein schrieb bereits den Weg für meine Nachforschungen vor; zuerst erkundete ich die Gesetze, die diesem inneren Gegensatz in der Materie zugrunde lagen, dann
begann ich mit der Entwicklung einer Kraft, die auf diesen Gegensatz einwirken konnte. Das mechanische Problem, diese Theorie in die Praxis umzusetzen, schloß als leichteste Teilaufgabe die Schaffung einer Kraft ein, die diesen Gegensatz in allen Formen der Materie intensivieren konnte. Das geschah nun nicht in der geordneten Weise der Natur, sondern die Veränderung war gewaltsam und unkontrollierbar. So entstand eine neue Waffe, deren furchtbare Wirkung man sich nicht vorstellen kann, ohne sie erlebt zu haben. Sie hat nichts mit Atomenergie zu tun. In ihrer vernichtenden Wirkung kommt sie jedoch dem flammenden Inneren einer Nova gleich. Zum Glück ist die Hitze nicht nur ein Nebenprodukt, wie bei der Atomenergie oder Elektrizität. Erst nachdem die Waffe bereits Wirklichkeit geworden war, mußte ich feststellen, daß meine Entdeckung auf einem Zufall beruhte, der sich in einer Million Jahren wohl nicht wiederholen wird. Morgen werdet ihr die Wirkung der Waffe erleben.« Er hielt inne und runzelte schmerzvoll und beunruhigt die Stirn. »Die Waffe hat nur einen gefährlichen Nachteil. Sie kann durch eine einfache elektromagnetische Aufladung des Zielobjekts wirkungslos gemacht werden. Und aus diesem Grunde war es leichtsinnig von mir, die Theorie zu veröffentlichen. Eines Tages wird irgendein Wissenschaftler die Lösung finden und dadurch die Waffe für die Weltpolitik wertlos machen. Ich muß gestehen, daß ich mir darüber in so mancher schlaflosen Nacht Sorge gemacht habe. Aber jetzt laßt uns an die Arbeit gehen…« Und er richtete sich langsam auf. Als die Minuten, die Stunden vergingen, wurde seine Entscheidung zur Endgültigkeit.
Ein wolkenloser dritter Tag zog herauf und entfaltete seinen leuchtenden Frühlingsmorgen. Die Welt, die sich unter dem Flugzeug erstreckte, war ein Panorama aus sprießendem Grün. Selbst unter den Schmerzen des Giftes konnte sich Arthur Clagg kaum vorstellen, daß sein Leben in dieser ewig jungen Szenerie ein schnelles Ende finden sollte. Sie erreichten die Linien der Rebellen und begannen zu kreisen. Die Zieloptik zeigte blitzendes Metall zwischen den Bäumen in der Tiefe, und Arthur Clagg studierte die von der Armee gelieferten Karten, während ihm Nadya über die Schulter blickte. »Wir müssen noch höher«, ordnete er schließlich an. »Aber wir sind bereits fünfzigtausend Meter hoch«, wandte Merd ein. »Wir haben schon drei Viertel unseres Raketentreibstoffes verbraucht.« »Höher!« befahl der alte Mann unbeirrbar. »Das wichtigste Problem bei dieser Waffe ist, sich aus der Explosion herauszuhalten. Als ich ihre Wirkung zum erstenmal mathematisch zu errechnen versuchte, wollte ich meinen eigenen Zahlen kaum glauben. Zum Glück gelang es mir, eine Vorrichtung zu schaffen, die die gefährliche Energie nach einer Millionstelsekunde bereits wieder abschaltet. Auf diese Weise kann ich die Wirkung regulieren. Wenn noch für fünf Minuten Treibstoff übrig ist, dann gib mir bitte Bescheid«, schloß er. Aus den Kopfhörern klang Merds Stimme: »Es sind bereits nur noch vier Minuten. Ich werde bald auf Strahlantrieb umschalten müssen.« »Ruhig bleiben«, sagte Arthur Clagg. Er hatte seinen Sitz verlassen und schwang die Kanone herum. Noch einmal blickte er durch die Zieleinrichtungen und betätigte dann den Abzug.
Die Erde unter ihnen wurde blauer als der Himmel. Einen endlosen Augenblick lang sah sie wie ein riesiger Gletschersee aus. Dann war der Eindruck verschwunden. Und wo vor kurzem Bäume und Grün gewesen waren, erstreckte sich jetzt ein grauschwarzes Loch von fünfzig Kilometern Durchmesser. Wüste! »Großvater!« rief Nadya. »Die Kanone schlägt zurück. Sie wird dich treffen!« Der alte Mann bewegte sich nicht. Der Kanonenlauf schwang in einem Bogen von hundertachtzig Grad in seine Ausgangslage zurück und kam dicht neben dem Kopf des alten Mannes zum Stillstand. Er sagte, ohne aufzublicken: »Es ist schon in Ordnung. Ich habe das Ganze so eingerichtet.« Er straffte sich. Erst jetzt schien ihm bewußt zu werden, daß das Flugzeug unter der gewaltigen Geschwindigkeit erzitterte und die Düsen ein schrilles Pfeifen von sich gaben. Er mußte sich setzen. Er lehnte sich erschöpft zurück und fühlte sich seltsam alt. Langsam richtete er seinen Körper wieder auf und kämpfte verzweifelt gegen Schmerz und Müdigkeit an. Merds Stimme ertönte durch die Kopfhörer: »Großvater, hier sind Nachrichten aus der Festung. Irgendein Idiot hat einen Aufstand begonnen. Hör doch mal!« Es ertönte eine fremde Stimme: »… eine Rebellion der Luftwaffe. – Aufstand in der Festungsgarnison. – Kämpfe in den Gartenanlagen. – Ein Mann namens Medgerow hat sich selbst zum neuen Diktator ernannt…« Die Stimme tönte weiter, doch Arthur Clagg hörte nicht mehr zu. Medgerow. Seltsam, daß ihm der Name in den letzten Tagen so oft begegnet war – es war wie vorherbestimmt. Nadya hatte ihn erwähnt, und auch Parker.
Der alte Mann zuckte ein wenig zusammen. Parker – Gift. Einen Augenblick lang schien ihm diese Verbindung unmöglich zu sein. Welches Motiv hätte dieser Mann denn gehabt? Abgesehen von der Neigung, die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren, war Parker ein schüchterner, vorsichtiger Bursche mit annehmbarer Gesinnung. Arthur Clagg seufzte. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Medgerow hatte eine Palastrevolution überstürzt begonnen, noch ehe Garson die Festung erreicht hatte. Sowohl der Rebellengeneral als auch der neue Herrscher kümmerten sich offensichtlich nicht im geringsten um einen alten Mann und seine mythische Waffe. Vielleicht hätte er seine Absicht, sie einzusetzen, vorher verkünden sollen. Aber es hatte keinen Sinn, sich jetzt darüber Sorgen zu machen. Die Würfel waren gefallen, und es gab Arbeit. Er straffte sich. »Nadya.« »Ja, Großvater?« »Spring!« Er hatte beinahe vergessen, daß niemand ihm zu widersprechen wagte, wenn seine Stimme diesen Tonfall annahm. Er hatte ihn so lange Zeit nicht angewendet. Sie blickte ihn kurz an. Dann eilte sie zu Merd und kam mit Tränen in den Augen zurück. »Ich werde zu den Kindern aufs Land gehen und dort auf euch warten.« Er beobachtete, wie sie in den blauen Dunst hineinfiel. Fünf Minuten später meldete sich Merd über die Lautsprecher. »Es folgen uns einige Flugzeuge Großvater. Was…« Dreimal zog Arthur Clagg den Abzug seiner Waffe durch, aber die Flugzeuge näherten sich unbeirrt. Schließlich mußte er seine Niederlage eingestehen.
»Du gehorchst am besten ihren Signalen, Merd. Wir haben keine andere Möglichkeit mehr.« Die Landungsmanöver hatten bereits begonnen, als er feststellte, daß er die Waffe noch immer umklammert hielt. Grimmig starrte er auf den jetzt nutzlosen Doppelkonus und ließ ihn aus den Fingern gleiten. Der Lauf schwang um hundertachtzig Grad in seine Ruhestellung zurück. Dort lag sie in ihren Halterungen, eine noch immer übermächtige Waffe, wenn sie unter den richtigen Bedingungen eingesetzt wurde. Aber das würde erst wieder der Fall sein, wenn Merd und er nicht mehr am Leben und das Gesetz und die Ordnung, die er geschaffen hatte, von der menschlichen Leidenschaft bereits wieder hinweggefegt waren. Und es würde hundert Jahre dauern, um die Bruchstücke wieder zusammenzufügen. Das Teuflische, das Ironische war, daß Medgerow keinen Grund hatte, die Waffe sofort einzusetzen. Er fühlte, wie das Flugzeug tiefer ging und schließlich den Boden berührte. Merd verließ die Kontrollen und kam zu ihm herüber. »Sie geben uns Zeichen. Wir sollen herauskommen«, sagte er ruhig. Arthur Clagg nickte. Schweigend verließen sie das Flugzeug. Sie hatten bereits fünfzig Meter zurückgelegt, als die anderen Maschinen Hunderte von Männern auszuspeien begannen, die mit Raketentreibstoff gefüllte Kanister schleppten. Einer der Männer, ein großer Bursche in einer Luftwaffenuniform, kam zu ihnen herüber. Er sagte respektlos: »Der Medgerow hat Ihre Durchsuchung angeordnet.« Der Medgerow. Merd ergab sich in sein Schicksal, während der alte Mann die Prozedur mit großer Bewunderung für ihre Gründlichkeit verfolgte. Als der Mann fertig war, fragte Arthur Clagg:
»Bitte, stillen Sie meine Neugier. Warum haben Sie rebelliert?« Der Offizier hob die Schultern. »Was Sie geschaffen haben, war nichts für mich. Die Einförmigkeit erstickte meinen Lebenswillen. Der Medgerow wird die Atomenergie wieder einführen, und jetzt werde ich es noch erleben, daß wir zu den Planeten, vielleicht sogar zu den Sternen starten.« Als der Offizier gegangen war, wandte sich Arthur Clagg an Merd: »Mein Wunsch nach Ordnung entsprang dem leichtsinnigen Gebrauch der Atomenergie. Aber ich habe immer gewußt, daß der Mensch der innere Gegensatz zum organischen Universum ist und daß man ihm früher oder später wieder erlauben mußte, mit diesem schlimmsten aller Feuer zu spielen, sei es zum Guten oder Bösen. Offensichtlich ist diese Zeit jetzt gekommen.« Ein kleiner Mann kletterte aus einem der Flugzeuge. Er trug einen Atomstrahler in der Hand und näherte sich ihnen mit schnellem Schritt. Obwohl er Medgerow nie zuvor gesehen hatte, wußte Arthur Clagg, daß er seinen Gegner vor sich hatte. Merds Stimme klang verächtlich: »Ich habe herausgefunden, daß ich seine Gegenwart ertragen kann, wenn ich ihn aus den Augenwinkeln betrachte.« Es war eine seltsame und faszinierende Bemerkung. Die Worte lenkten die Aufmerksamkeit des alten Mannes einen Moment von Medgerow ab. Für kurze Zeit war er gefangengenommen von dem Einblick, den ihm diese Äußerung in Merds Charakter verschaffte. Und seine Sympathie für den Schwiegersohn wuchs. Es war jedoch nicht an der Zeit, über Merd oder seine Worte nachzudenken. Es war eine Anomalität. Das Abstoßende war an sich nicht so sehr seine äußere Häßlichkeit, stellte Arthur Clagg fest.
Vielleicht war es das triumphierende Lächeln, das sich auf seinem Gesicht mit offener und unverschämter Arroganz paarte. Es war schwer zu sagen. Als er seinen Gegner anstarrte, wurde ihm das Ausmaß seines Versagens bewußt. Es schien unglaublich, daß er sich zum Gebrauch seiner Waffe hatte treiben lassen und nicht eine Minute geahnt hatte, daß er damit seinen Feinden in die Hände spielte. Er dachte: Der Medgerow, Erbe der Welt. Allein der Gedanke war erschütternd. Medgerow brach schließlich das Schweigen: »In wenigen Minuten werde ich Ihr Flugzeug betreten und aufsteigen. Sobald ich eine sichere Höhe erreicht habe, werde ich auf dieses Ziel feuern.« Und er zog einen schmalen Metallstreifen aus der Tasche und ließ ihn zu Boden fallen. »Mit Ihrer Waffe. Mir gefällt ein Spaß dieser Art.« Der alte Mann glaubte nicht recht gehört zu haben. Die Absicht, die hier so offen geäußert wurde, war in ihren Folgen dermaßen weittragend und kam so unerwartet, daß ihm schwindelte. Er öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Die Hoffnung ließ seine Glieder erzittern. Kein Erlebnis seiner langen Karriere ließ sich mit diesem Gefühl vergleichen. Schließlich war es Merd, der eine Antwort fand: »Aber ein paar Kilometer von hier ist eine Stadt mit über fünfzigtausend Einwohnern. Sie können die Waffe hier nicht abfeuern.« Arthur Clagg zupfte Merds Arm. Er wollte dem jungen Narren sagen, daß er mit seinen Einwänden aufhören sollte. Merkte er denn nicht, daß ihnen Medgerow genau in die Hände spielte? Merd rief: »Schießen Sie uns doch lieber eine Kugel durch den Kopf, Sie verdammter Mörder! Sie können doch nicht einfach eine ganze Stadt vernichten! Das können Sie nicht!«
Wieder öffnete Arthur Clagg angstvoll die Lippen, um Merd zum Schweigen zu bringen. Doch dann sah er den Ausdruck auf Medgerows Gesicht. Und er schwieg. Denn es waren keine Worte nötig. Der beste Verbündete in diesem schicksalhaften Augenblick war der Medgerow selbst! Der kleine Mann stand vor ihnen, den Kopf stolz zurückgeworfen. Seine Augen leuchteten vor sardonischem Vergnügen. »Macht und Schrecken – das sind die siegreichen Waffen, und da es keine ungeschlagene Armee gibt, die eine Opposition unterstützen könnte, werde ich die Waffe an Ihnen ausprobieren, da ich sie auf jeden Fall testen muß. Ich habe die Absicht, dies hier und jetzt zu tun, da nichts die Welt von meiner Unbeugsamkeit besser überzeugen könnte als die Zerstörung einer Stadt. Und dieser psychologische Moment ist für mich so wichtig, daß ich um keinen Preis auf die Nähe dieser Stadt verzichtet hätte.« Er fuhr zynisch fort: »Wenn ich erst einmal an der Macht bin, wird es nicht schwierig sein, Sie als den Schuldigen an dieser Vernichtung hinzustellen.« Merd sagte angespannt: »Das können Sie nicht tun! Es wäre nicht menschlich!« Diesmal nahm ihn der alte Mann fest am Arm. »Merd«, sagte er eindringlich. »Merkst du nicht, daß es nutzlos ist? Wir haben es mit einem Mann zu tun, der seine festgefaßte Absicht und einen unumstößlichen Plan hat.« Diese Bemerkung schien Medgerow zu gefallen. Er sagte befriedigt: »Das ist richtig. Lange Diskussionen sind vollkommen nutzlos. Ich habe in meiner ganzen Vorausplanung nicht ein einziges Mal versagt. Sie haben genauso reagiert, wie ich es
beabsichtigte. Sie mußten sich zu schnell entscheiden und hatten keine Möglichkeit zum Nachdenken.« »Meine Dummheit«, sagte Clagg ruhig, »bestand bisher in der Annahme, daß ich überhaupt noch eine Entscheidung zu treffen hätte. Ich bin mir gerade darüber klargeworden, daß ich diese Entscheidung bereits vor langer Zeit gefällt hatte. Ich wählte damals nicht das Ego, sondern den Vorteil der ganzen Menschheit, während Sie sich für das Ego entschieden haben.« Medgerow starrte ihn eingehend an, als suche er nach einer versteckten Bedeutung. Dann lachte er und sagte arrogant: »Genug geredet. Sie haben sich vor zwanzig Jahren ruiniert, Arthur Clagg, als Sie die Briefe eines kleinen sorgenvollen Studenten nicht beantworteten. Das war ich. Ich erkenne jetzt, daß Sie sie vielleicht gar nicht erhalten haben. Aber diese Entschuldigung gilt nicht für die späteren Jahre, als meine einflußreichen Freunde Ihre Aufmerksamkeit auf meine Arbeiten zu lenken versuchten und Sie sie nicht einmal anschauen wollten.« Sein Gesicht war plötzlich entstellt vor Wut. Er spuckte aus. »Zwanzig Jahre in Dunkelheit gelebt! In den nächsten zwanzig Minuten sollen Sie darüber nachdenken, was hätte werden können, wenn Sie mich damals angemessen behandelt hätten.« Und er wirbelte davon. Die Flugzeugtür schlug hinter ihm ins Schloß. Die Gasturbinen heulten, die Strahltriebwerke zischten. Leicht und schnell erhob sich das Flugzeug in die Luft und wurde unsichtbar. Nach einigen Minuten waren auch die anderen Flugzeuge gestartet, und die beiden Männer blieben allein zurück. Das Schweigen wurde drückend. Schließlich sagte Merd ruhig: »Diese Kreatur ist nicht in der Lage zu erkennen, daß du niemals ein Diktator von ihrer Art gewesen bist. Die
Geschichte der Demokratie lehrt, daß im Falle eines Notstandes die Völker ihre Freiheiten vorübergehend abgeben. Und es hat nie einen größeren Notstand gegeben als die Gefahr eines atomaren Krieges. Die Zeit der Kontrolle ist lang gewesen, denn die Welt mußte umorganisiert werden, und wie ein frischer Guß brauchte sie Zeit zum Erkalten. Meiner Meinung nach ist das Volk jetzt wieder bereit, seine Rechte zu übernehmen, und niemand, weder Medgerow, noch ich, noch irgendeine andere Gewalt wird es davon abhalten.« Der alte Mann sagte: »Merd, ich habe nie gedacht, daß du solche Gedanken äußern könntest. Um ehrlich zu sein, du hast mich in den letzten Minuten mehrmals angenehm überrascht. Unter dem Druck der Ereignisse hast du eine Reihe sehr guter Eigenschaften bewiesen. Aus diesem Grunde übertrage ich dir hiermit die Aufgabe, die neue Demokratie zu schaffen, sobald wir in die Festung zurückgekehrt sind.« Der junge Mann blickte ihn an. Dann fragte er unsicher: »W-was hast du gesagt? In die Festung zurück?« Arthur Clagg verspürte ein plötzliche Sympathie für seinen Schwiegersohn, ein Verstehen für die schwere seelische Belastung, unter der ein Mann stehen mußte, der sich mit dem Tod abgefunden hatte und nun einer neuen Lebenshoffnung gegenüberstand. Es schien ihm jetzt auf seltsame Weise wichtig zu sein, daß Merd nicht länger als nötig litt, und er sagte hastig: »Ich habe von Anfang an in der Angst gelebt, daß meine Waffe eines Tages zufällig aktiviert werden könnte. Aus diesem Grund habe ich sie so konstruiert, daß ihr Lauf an beiden Enden gleich aussieht. Er schwingt nach jedem Schuß automatisch herum und zeigt gegen den Himmel und gegen jeden Fremden, der die Waffe vielleicht benutzen möchte. Und in dieser Stellung befindet sie sich auch jetzt.« Arthur Clagg beendete seine Rede mit den würdigen Worten:
»Nicht in Medgerows, sondern in deinen Händen, Merd, liegt das Schicksal der Menschheit.« Damals wußte er noch nicht, daß das Gift in seinem Innern nicht tödlich war und daß er der weise alte Mentor einer neuen und blühenden Sternenzivilisation werden würde.
Originaltitel: HEIR UNAPPARENT Copyright © 1945 by Street & Smith Übersetzt von Thomas Schlück
Brian W. Aldiss Die galaktische Prüfung
Die vier Hohen Ultralords standen etwas abseits von der Menge und warteten schweigend. Mordregon, Sohn des Großen Mordregon, Arntibis Isis von Sirius III, SuperiorProtektor des Zehnten Sektors; Deln Phi J. Bunswacki, Herrscher der Randgebiete; und Ped II aus dem Sackdominion warteten genauso aufmerksam wie die unzähligen Mitglieder und Teilnehmer der Konferenz der Ultralords von der HomeGalaxis. Sie alle warteten darauf, daß David Stevens vom Planeten Erde in das Verhandlungszimmer eintrat. Stevens zögerte auf der Türschwelle zur Halle. Dieses Zögern war halb echt, halb vorgetäuscht; er war hergekommen, nachdem er sich seine Rolle gut vorbereitet hatte, und er wußte, daß man ihm eine kurze Schrecksekunde zubilligen würde. Aber er hatte nicht mit dem Ausmaß der wirklichen Furcht gerechnet, die ihn jetzt erfüllte. Er war gekommen, weil er hier unter Anklage stand, für sich selbst und für die Erde; er war vorbereitet gekommen – soweit sich ein Mensch auf das Nichtvorauszusehende vorbereiten konnte. Doch als er in den Saal geführt wurde, machte er die niederschmetternde Entdeckung, daß die Aufgabe schrecklicher war, als er es sich vorgestellt hatte. Die Elite der Galaxis nahm sein Zögern zur Kenntnis. Er ging auf das Podium zu, auf dem Mordregon und seine Kollegen warteten. Die Anstrengung, seine Beine in Bewegung zu versetzen, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.
»Gott, steh mir bei!« flüsterte er. Doch sie hier waren die Götter der Milchstraße. Mit hochgezogenen Schultern schritt Stevens durch die Reihen der Herrscher von der Home-Galaxis hindurch. Obwohl ihm vor seiner Abreise von der Erde ausdrücklich versichert worden war, daß keine Parakräfte wie Telepathie, die er nicht besaß, gegen ihn verwendet werden würden, konnte er das Gewicht seelischer Kräfte um sich herum spüren. Merkwürdige Gesichter beobachteten ihn, einige nur entfernt menschlichen Zügen ähnelnd; sonderbare Kleider raschelten, als er vorbeistrich. Stolz erfaßte ihn plötzlich; Stolz auf die Erde, die mit eigener Kraft ihren Weg in den Weltraum gefunden hatte. Er fand den Mut, in diese zahlreichen Augen zu starren. Man sollte ihnen die Vielfalt der Menschen vor Augen führen. Was auch immer sie mit ihm vorhaben mochten, auch er hatte seine Pläne für sie. Er verneigte sich vor Mordregon und den anderen Hohen Ultralords. »Ich überbringe Grüße von der Erde, dem dritten Planeten Sols«, sagte er mit klangvoller Stimme. »Sie sind willkommen hier, David Stevens von der Erde«, erwiderte Mordregon würdevoll. Ein kleiner Gegenstand von der Größe eines Hühnereis schwebte etwa einen halben Meter vor seinem schnabelförmigen Mund. Alle anderen Teilnehmer, auch Stevens, waren mit einem ähnlichen Gerät, einer automatischen Dolmetschanlage, versehen. Mordregon war von riesiger Gestalt. Unterhalb seines Schnabelkopfes wölbte sich sein Körper wie ein umgestürzter Konzertflügel. Kaskaden weißer und schwarzer Rechtecke umhüllten seinen Leib. Stevens fiel auf, daß jedes dieser Rechtecke ständig um seine Längsachse rotierte, ihm gleich einem Ventilator Frischluft zufächerte, als brenne unaufhörlich
eine unerbittliche Krankheit in ihm (was auch tatsächlich der Fall war). »Ich freue mich, in Frieden zu Ihnen zu kommen«, sagte Stevens. »Ich werde mich noch mehr freuen, wenn ich erfahren darf, aus welchem Grund ich hergebracht wurde. Meine Reise war lang, und ihr Grund wurde mir nur teilweise erklärt.« Bei dem Wort »Frieden« machte Mordregon eine Grimasse, als wolle er lächeln, doch sein Schnabel blieb ernst. »Teilweise vielleicht; aber teilweise ist nicht völlig«, sagte Mordregon. »Vom Roboter-Raumschiff haben Sie erfahren, daß man Sie geholt hat, um Sie im Namen der Erde vor Gericht zu stellen. Für uns scheint das genügend Auskunft als Arbeitsgrundlage zu sein.« Die automatischen Dolmetscher gaben den ironischen Unterton in der Stimme des Ultralords wieder. Stevens errötete ein wenig. Er war verärgert und plötzlich froh, ihnen seinen Ärger zeigen zu können. »Dann scheinen Sie überhaupt nichts über meine Position zu wissen«, sagte er. »Ich hatte einen leitenden Posten in Port Ganymede, aber ich hatte nie etwas mit Politik zu tun. Ich war gerade in der Methan-Reagens-Station, als Ihr Roboterschiff ankam und mich in willkürlicher Weise bestimmte. Man sagte mir ganz schlicht und einfach, daß ich in drei Monaten zum Prozeß geholt werde – wie ein Verbrecher, wie ein Bündel schmutziger Wäsche!« Er sah sie scharf an, wollte ihre erste Reaktion auf seinen Ärger sehen, fragte sich aber zugleich, ob er nicht doch zu weit gegangen war. Normalerweise war Stevens nicht ein Mann, der seine Gefühle derart bekundete. Als er sprach, absorbierte das Hühnerei vor seinem Mund jeden Laut, und die Luft war trocken und still, so daß es ihm unmöglich war, der Übersetzung zu folgen; er hoffte, daß sein Ärger in der
traditionellen Art der Dolmetscher ausgelassen werde. Doch seine Hoffnung wurde sofort zunichte gemacht. »Ihr Ärger zeugt von Unausgeglichenheit«, bemerkte Deln Phi J. Bunswacki. Es war der einzige Satz, den er in diesem Interview sprach. Auf seinen Schultern ruhte ein mächtiges Gehirn, aus dessen durchsichtigem Schädel die Gedanken hervorquollen; er trug einen scheinbar billigen, blau gestreiften Anzug, doch die Streifen waren in Bewegung mit dem ständigen Auf- und Abgleiten symbiontischer Organismen, die alle Mikroben verschlangen, welche die Gesundheit des Deln Phi J. Bunswacki gefährden konnten. Stevens wandte sich wieder an Mordregon. »Sie spielen mit mir«, sagte er ruhig. »Ist es beleidigend für Ihre Gastfreundschaft, wenn ich darum bitte, endlich zur Sache zu kommen?« Das war besser, dachte er. Was mochten sie denken? SEIN AUFTRETEN IST ZU UNSICHER? DER GEDANKE SEINER EIGENEN BEDEUTUNGSLOSIGKEIT PRALLT AN IHM AB! Es würde die Hölle für ihn sein: er mußte erraten, was SIE von ihm dachten. Ihm war klar, daß SIE wußten, daß er es zu erraten versuchte. Aber er wußte NICHT, um wieviel ihr Intelligenz-Quotient über seinem stand. Die Spannung drohte seinen Magen umzudrehen. Seine Hand fuhr zitternd an den winzigen Vorsprung unter seinem rechten Ohr; seine Finger betasteten die Stelle nervös, und es kostete ihn einige Anstrengung, die verräterische Geste abzubrechen. In diesem riesigen Versammlungsraum war er tatsächlich unbedeutend. Doch für die Erde – für die Erde war er die einzige Hoffnung. Ihre EINZIGE HOFFNUNG! Mordregon sprach jetzt wieder. Was hatte er gesagt? »… üblich. In diesen Saal in der Stadt Grapfth des Planeten Xaquibadd an der Peripherie des Sackdominions werden alle neuen Rassen eingeladen, sobald sie entdeckt werden.«
Diese großen Worte ängstigen mich nicht, versuchte Stevens sich einzureden, denn sie beunruhigten ihn in hohem Maße. Plötzlich sah er das Sonnensystem als winzigen Sack vor Augen, und er wäre am liebsten hineingekrochen, um sich zu verstecken. »Dann ist Grapfth also der Mittelpunkt Ihres Weltreiches?« fragte er. »Nein. Wie ich schon sagte, ist dies eine Randzone. Sie werden sicher Verständnis haben für unsere Sicherheitsgründe«, erklärte Mordregon. »Sicherheitsgründe?« fragte Stevens überrascht. »Heißt das, Sie haben Angst vor mir?« Mordregon zog eine Augenbraue hoch und sah zu Ped II vom Sackdominion hinüber. Ped II glich einem lebendigen Kaktus. Seine herrliche Gestalt war umgeben von einer Farbenpracht aus stereoskopischem Nylon. Wie schwerelose Ketten durchzogen in Germanium eingefangene Schmetterlinge die Blütenpracht auf seinem Kopf. Flatternd erhoben sie sich und schaukelten wieder herab, als Ped II kurz nickte und sich an den Erdenmenschen wandte. »Jede Rasse hat eigenartige Fähigkeiten und Talente«, begann er. »Einer der Gründe, aus denen ihr Fremdlinge hierher eingeladen werdet, ist die Erforschung dieser Eigenschaften. Leider stammte Ihr Vorgänger aus einer Rasse sich selbst fortpflanzender Nuklearwaffen und war anscheinend aus einem früheren Krieg übriggeblieben. Er redete ganz vernünftig, bis einer von uns zufällig von ›gutem Willen‹ sprach, worauf er explodierte und diese Halle in Schutt und Asche legte.« Belustigtes Kichern erhob sich unter den Anwesenden. »Und Sie glauben, daß ich Ihnen das abnehme?« fragte Stevens ärgerlich. »Wieso haben Sie das alle überlebt?«
»Oh, wir sind nicht wirklich hier anwesend«, sagte Ped II freundlich. »Sie können doch nicht von uns die lange Reise nach Xaquibadd erwarten, sooft wieder eines dieser winzig kleinen Systeme – das soll natürlich keine Beleidigung sein – entdeckt wird. Sie sprechen mit dreidimensionalen Bildern von uns; sogar der Saal dort – oder HIER, wenn es Ihnen lieber ist (Örtlichkeit ist ein bloßes philosophisches Wortspiel) – besteht nur aus einer Art submolekularer Bauweise.« Bei dem verdutzten Ausdruck im Gesicht des Erdenmenschen konnte Ped II sich eine weitere Bemerkung nicht verkneifen. (Er stammte aus einer kindischen Rasse: Die Theologen unter ihnen waren erst vor etwa viertausend Jahren ausgestorben.) »Wir sprechen nicht einmal auf eine Art mit Ihnen, David Stevens von der Erde, die Sie verstehen würden«, sagte er. »Da wir zur Zeit noch keine Möglichkeit zur Direktübertragung über Lichtjahre hinaus besitzen, erledigt ein Robotergehirn auf Xaquibadd die Unterhaltung für uns. Wir können es später überprüfen; wenn ein Fehler gemacht wurde, können wir uns immer noch mit Ihnen in Verbindung setzen.« Stevens nahm zumindest einen Teil des Gesagten mit größter Aufmerksamkeit auf. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatten sie also keine Möglichkeit zur Direktübertragung! Keine Subradiogeräte, die Lichtjahre ohne den geringsten Zeitverlust überbrücken konnten! Unwillkürlich betastete er wieder den winzigen Vorsprung unter seiner rechten Ohrmuschel, doch dann vergrub er seine Hand in der Hosentasche. Die Erde hatte also eine Chance, mit diesen Kolossen zu verhandeln! Seine Zuversicht erhielt wieder Aufschwung. Mordregon wandte sich an Ped II: »Du darfst unseren Gast nicht erschrecken.« »Das Wort ›Gast‹ habe ich schon einmal von Ihnen gehört«, sagte Stevens. »Mir persönlich erscheint Ihre Einladung mehr wie eine Vorladung. Der Roboter sagte mir ohne weitere
Erklärung, er werde in drei Monaten wiederkommen, bis dahin hätte ich Zeit, mich auf den Prozeß vorzubereiten.« »Das war doch ganz vernünftig«, meinte Mordregon. »Er hätte Sie SOFORT ganz unvorbereitet interviewen können.« »Aber er sagte mir nicht, worauf ich mich vorbereiten sollte«, erwiderte Stevens verärgert in der Erinnerung an die drei Monate. Es waren verrückte Monate gewesen, in denen er sich überstürzt auf diese Verhandlung vorzubereiten versucht hatte; all die klugen und raffinierten Männer des ganzen Systems hatten ihn besucht: Logiker, Schauspieler, Philosophen, Generäle, Mathematiker… und die Chirurgen! Ja, die Chirurgen, die die Errungenschaften der Technologen in seinem Ohr und in seiner Kehle untergebracht hatten. Und ständig hatte er sich gefragt: Warum haben sie MICH ausgewählt? »Angenommen, es wäre nicht ich gewesen?« sagte er laut zu Mordregon. »Angenommen, Sie hätten einen Geistesgestörten oder einen unheilbar an Krebs Erkrankten ausgesucht?« Es war still im Saal. Mordregon sah ihn mit stechenden Augen an, dann antwortete er langsam: »Im Verhältnis dürften wohl die Gesunden überwiegen. Wir finden daher unser unwillkürliches Auswahlprinzip völlig zufriedenstellend. Wer auch immer hierhergebracht wird, ist für seine Welt verantwortlich. Eure Fehler oder Krankheiten sind die Fehler und Krankheiten eurer Welt. Stünde ein Geisteskranker oder ein an Krebs erkrankter Mann an Ihrer Stelle, so würde Ihre Welt zerstört werden. Welten, die bis zur Zeit des eigenen Interplanetarfluges von solchen Wunden nicht befreit worden sind, müssen ausgelöscht werden. Die Galaxie selbst ist zwar unzerstörbar, aber ihre Sicherheit leicht zu gefährden.« Die anfängliche Leichtigkeit war aus dieser Versammlung der Ultralords gewichen. Sogar Ped II aus dem Sackdominion saß jetzt steif auf seinem Sitz und starrte den Erdenmenschen
grimmig an. Auch Stevens schien wie eingefroren, seine Kehle war trocken wie seine Schläfen. Mit jedem Wort, das er sprach, verriet er einen Teil der psychologischen Atmosphäre der Erde. In den drei Monaten der Vorbereitung, auf der einmonatigen Reise in dem vollautomatischen Raumschiff hatte er sich ausschließlich mit dieser Angelegenheit beschäftigt und war schließlich zu dem einen Schluß gekommen: daß durch ihn die gesamte Menschheit einer Art Eignungstest unterworfen werden sollte. Bei dem Gedanken an die Nervenheilanstalten und Irrenhäuser auf der Erde verließ ihn fast die Fassung; doch er ballte die Hände hinter seinem Rücken – was tat es schon, daß die Versammlung dieses Zeichen der Anspannung beobachtete, so lange es den suchenden Augen Mordregons verborgen blieb. Und er bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben, als er sagte: »Jetzt bin ich also zu meinem Prozeß erschienen.« »Nicht nur zu Ihrem, sondern zum Prozeß Ihrer Welt, der Erde – und die Verhandlung hat bereits begonnen!« Diese Stimme gehörte weder Mordregon noch Ped II. Es war die Stimme des Arntibis Isis von Sirius III, des SuperiorProtektors des Zehnten Sektors. Gleich einer Säule stand er vor ihm, dreieinhalb Meter groß, von oben bis unten in ein Silbergewand gehüllt. Eine Kette dunkler Augen starrte auf Stevens herab. Er hatte etwas an sich, was den anderen, was sogar Mordregon fehlte: Majestätische Würde. Verstohlen berührte Stevens seine Kehle. Das dort verborgene Gerät würde er sehr bald einsetzen müssen. Mit seiner Hilfe könnte er vielleicht überleben, denn dieses Weltreich besaß keine Subradiogeräte! Darauf stützte sich seine ganze Hoffnung, die Hoffnung seiner Erde. Doch vor Arntibis Isis’ mächtiger Gestalt schien jede Hoffnung zu versiegen.
»Da ich nun einmal hier bin, muß ich mich wohl oder übel Ihrem Gericht unterwerfen«, sagte Stevens. »Obwohl es in meiner Welt üblich ist, dem Angeklagten zu sagen, was ihm vorgeworfen wird, wie er seinen Freispruch erreichen kann und welche Strafe ihm droht. Außerdem kennt man bei uns die Höflichkeit, den Beginn des Prozesses anzukündigen. Der Häftling wird nicht unversehens damit überrumpelt.« Gemurmel erhob sich im Saal, und er merkte, daß er die erste, wenn auch nicht sehr bedeutende Runde für sich gebucht hatte. Allem Anschein nach suchten die Ultralords eine Kardinaltugend im Menschen, und falls Stevens sie erbringen konnte, wäre die Erde damit gerettet. Aber welche Tugend war seinen Richtern so wichtig? Energisch mußte Stevens seinen Überlegungen ein Ende bereiten, um Arntibis Isis’ Erwiderung auf seinen Vorstoß anzuhören. »Sie sprechen von lokalen Bräuchen aus irgendeinem versteckten Winkel der Galaxis«, klang es hohl. »Doch in Anbetracht Ihrer Intelligenz will ich Ihnen die Gründe nennen. David Stevens von der Erde, mit Ihnen steht Ihre gesamte Welt vor dem Gericht des Hohen Rates der Ultralords aus der Zweiten Galaxis. Wir beabsichtigen nichts Persönliches gegen Sie. In dieser Sache sind Sie tatsächlich nur als Sprecher vor Gericht. Wir sind mehr als unparteiisch; wir sind auf Ihren Erfolg bedacht, obwohl wir nicht allzuviel Hoffnung haben. Wenn Sie uns von Ihrer Unschuld überzeugen können, wird Ihre Rasse, werdet ihr Menschen Vollmitglieder unserer großen Gemeinschaft aller Arten und Rassen. Wenn Sie aber versagen, muß Ihr Planet Erde restlos vernichtet werden.« »Und das nennen Sie Gerechtigkeit!« fuhr Stevens auf. »Wir haben hier jede Woche mit fünfzig Planeten zu tun«, unterbrach ihn Mordregon. »Und das ist das einzig mögliche System – es erspart eine endlose Bürokratie.«
»Richtig. Wir können es uns einfach nicht leisten, unsichere Gesellschaftssysteme auf den Planeten mit anzusehen«, warf einer der Ultralords aus dem Hintergrund ein. »Die Kosten…« »Erinnert ihr euch noch an dieses schreckliche zeitfressende Reptil irgendwo aus den Magellanen?« Ped II kicherte amüsiert. »Er hatte verrückte Pläne für eine tausendjährige Herrschaft über sein Volk.« »Ruhe bitte!« rief Arntibis Isis. Als es still wurde, sagte er zu Stevens: »Und jetzt nenne ich Ihnen die Regeln der Verhandlung. Erstens gibt es keine Berufung gegen unser Urteil. Wenn die Sitzung beendet ist, werden Sie sofort zur Erde zurückgebracht. Sobald Sie dort ankommen, wird Ihnen das Urteil verkündet. Weiterhin will ich Ihnen versichern, daß unsere Entscheidung äußerst fair sein wird, obwohl Sie einsehen müssen, daß der Begriff Fairneß von Sektor zu Sektor verschieden sein kann. Sie werden jetzt vielleicht glauben, daß wir rücksichtslos sind. Aber die Milchstraße ist klein, und wir haben keinen Platz für unnütze Mitglieder in unseren Reihen. Eben dieses Problem haben wir gerade mit der Elften Galaxis. Jedoch… Viele der hier befindlichen Wesen verfügen über Kräfte, die Sie als übernatürlich ansehen würden, wie zum Beispiel Telepathie, Hellseherei und so weiter. Aber diese Kräfte wird man nicht gegen Sie anwenden, so daß Sie – soweit das möglich ist – nach Ihren eigenen Prinzipien und Methoden abgeurteilt werden. Wir versichern Ihnen, daß Ihre Gedanken nicht gelesen werden. Und noch eine Regel: Sie werden jetzt mit der Verhandlung fortfahren und Ihren Prozeß selbst führen.« Sekundenlang starrte Stevens ungläubig auf die hohe Säule des Arntibis Isis. Dann sah er sich hilfesuchend zu Mordregon um, zu den anderen, zu der drohenden Phalanx dieser unheimlichen Gestalten. Aber sie schwiegen. Niemand
bewegte sich. Stevens starrte diese unfaßbaren Figuren um sich herum an, und plötzlich wurde ihm bewußt, wie weit er von seiner Erde entfernt war. »… meinen Prozeß selbst führen?« stammelte er. Keine Antwort. Er hatte ihre Hilfe erfahren, wenn man es Hilfe nennen konnte. Jetzt war er völlig auf sich gestellt. Das Schicksal der Erde lag in der Waagschale. Panik erfaßte ihn, doch er zwang sie nieder. Nur kühle Überlegung konnte ihm helfen. Seine eiskalte Hand berührte den winzigen Klumpen an seiner Kehle. Seine Richter hatten ihm tatsächlich in die Hand gespielt. Er war nicht mehr unvorbereitet. »…meinen Prozeß selbst führen«, wiederholte er noch einmal. Hier ist der klassische Alptraum Wirklichkeit geworden, überlegte er. Träume von Verfolgung, Entwürdigung und Vernichtung können nicht furchtbarer sein als die Wirklichkeit hier, wo er vor ihren wachsamen Augen stehen und versuchen mußte, seine Existenz und sein Leben zu erklären. -Sinnlos, zwecklos, denn wenn es ein Recht gibt, dann nicht in Worten; wenn man seine Seele offenbaren kann, dann nicht vor diesem Auditorium. Ich muß mein ganzes Leben lang von einer Art Komplex der gnadenlosen Aburteilung heimgesucht worden sein, überlegte er weiter; jetzt ist aus mir ein Psychopath geworden – bis zum Ende meiner Tage werde ich vor dieser Augenwand stehen müssen und nach Entschuldigungen für irgendein Verbrechen suchen, von dem ich nicht weiß, daß ich es begangen habe. Er beobachtete die langsamen Umdrehungen von Mordregons Dominokostüm. Nein, das war die Wirklichkeit, nicht das Ergebnis eines Verfolgungswahns. Diese Sache als etwas Unwirkliches abzutun, hieße, vor der Furcht fliehen. Und das war nicht Stevens’ Art: Er hatte zwar Angst, doch er konnte ihr auch entgegentreten.
Er begann zu sprechen. »Aus Ihrem Schweigen darf ich entnehmen«, sagte er, »daß ich Ihrem Wunsch entsprechend Fragen und Antworten formulieren soll, da unsere Intelligenz auf zwei verschiedenen Niveaus liegt und demnach die richtige Frage von größter Wichtigkeit ist, wenn ich die richtige Antwort zu geben versuche. Dieses Aufzwingen von zwei Rollen verdoppelt natürlich die Chance meiner Niederlage, und ich möchte hervorheben, daß dieser Prozeß in meinen Augen nicht Ausdruck der Gerechtigkeit, sondern reiner Hohn ist. Soll ich weiter nichts sagen? Würden Sie mein Schweigen als Beweis ansehen, daß meine Welt Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit zu unterscheiden vermag, was eine der wichtigsten Voraussetzungen der Zivilisation ist?« Er legte eine Pause ein; schwacher Hoffnungsschimmer war in ihm. SO einfach würde es nicht sein. Oder doch? Die Lösung würde für ihn nichts als ein raffinierter Trick sein; doch diese Wesen würden es ganz anders sehen. Seine Gedanken überschlugen sich, als er versuchte, das Problem von ihrem Standpunkt zu betrachten. Es war unmöglich: er konnte nur nach seinen eigenen Maßstäben handeln, und genau das wollten sie auch. Und dennoch blieb er still; dem Schweigen traute er mehr als den Worten. »Wir akzeptieren es«, sagte Ped II brüsk. »Fahren Sie fort.« Er nickte Stevens aufmunternd zu. Es würde also doch nicht so leicht sein. Er zog sein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Verzweifelt suchte er einen Ausweg. Würden sie DAS als Verteidigung gelten lassen. Ich schwitze; so nahe stehe ich schon dem Tier, aber so weit entfernt bin ich auch von ihm, daß ich mich den Tatsachen zu widersetzen vermag? Vielleicht halten sie das Schwitzen für etwas Positives? Können sie
überhaupt schwitzen? Aber wie soll ich überhaupt etwas mit Sicherheit sagen können? Wie alle seine Überlegungen in seiner jetzigen Gemütsverfassung überschlug sich auch der Gedanke und führte schließlich zum Kurzschluß. Er war ein Erdenmensch, einen Meter neunundachtzig groß, gut proportioniert, und er hatte sich in Ganymede durchzusetzen verstanden; er kannte eine reizende Frau namens Edwina. Ob sie zufrieden sein würden, wenn er von ihr erzählte, von ihrer Schönheit, von ihrem Blick, als Stevens die Erde verlassen mußte? Er könnte ihnen von seiner Lebensfreude erzählen, von dem Glück, bloß an Edwina denken zu dürfen und von der brennenden Gewißheit, daß in zehn Jahren die Jugend von ihnen abgleiten würde. Unsinn! sagte er sich. Sie hätten keinen Sinn für Sentimentalität; diese Wesen hier wollten kalte Tatsachen. Er dachte an all die anderen Wesen, die bereits vor ihm an dieser Stelle gestanden und krampfhaft nach den richtigen Worten gesucht hatten. Wie viele hatten sie gefunden? Stevens riß sich zusammen und wandte sich wieder an die Ultralords. »Aus dem, was ich sage, werden Sie entnehmen, ich wollte eine bewundernswerte Tugend, die ich besitze und verstehe, vor Ihnen so demonstrieren, daß Sie gar nicht anders könnten, als mich zu verschonen. Da Bescheidenheit eine meiner Tugenden ist, kann ich die anderen nicht aufzählen: Scharfsinn, Mut, Geduld, Loyalität, Ehrerbietung, zum Beispiel Freundlichkeit – und Humor, den ich nicht vergessen möchte. Doch diese Tugenden sind – oder sollten es zumindest sein – die allgemeinen Güter jeder Kultur; sie tragen erst zur wirklichen kulturellen Zivilisation bei, aber Sie suchen offensichtlich etwas anderes.
Sie scheinen von mir den Beweis für etwas weniger Offenkundiges zu erwarten… etwas, das der Mensch besitzt, aber niemand aus Ihrer Mitte.« Sein Blick schweifte über die riesige Versammlung; und sie war still. Dieses verdammte Schweigen! »Ich bin sicher, daß wir etwas derartiges besitzen. Mir wird es einfallen, wenn Sie mich überlegen lassen. (Pause.) Ich weiß, daß es ein Fehler wäre, mich Ihnen auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Der Mensch kennt Mitleid und Gnade – doch das ist eine Tugend, die niemand anerkennt, der sie nicht aufweist.« Das Schweigen um ihn herum schien sich auszubreiten wie das Eis auf einem See in Sibirien. Waren sie ihm feindlich gesinnt oder nicht? Aus ihrer Haltung konnte er nichts schließen; er konnte nicht objektiv überlegen. Und die Umkehrung: Er dachte subjektiv. Könnte er DAS in eine besondere Tugend verwandeln, die ihnen gefallen könnte? Könnte er einen besonderen Wert im subjektiven Denken hervorheben? Verdammt, diese Methode lag ihm nicht; er war kein Metaphysiker. Es war höchste Zeit, seinen Trumpf auszuspielen. Mit einer fast unmerklichen Bewegung eines Halsmuskels schaltete er die winzige Maschine in seiner Kehle ein. Sofort ertönte ein leises Dröhnen und gab ihm seine Ruhe wieder. »Ich brauche ein wenig Zeit zum Nachdenken«, sagte Stevens zur Versammlung gewandt. Ohne die Lippen zu bewegen, begann er zu flüstern. »Hallo, Erde. Erde bitte kommen. David Stevens spricht über die Lichtjahre. Könnt ihr mich hören?« Sekunden später begann der winzige Klumpen hinter seinem rechten Ohr zu pulsieren, und eine verschwommene Stimme
antwortete: »Hallo, Stevens, hier ist die Zentrale Erde. Wir haben auf Ihren Funkspruch gewartet. Was tut sich bei Ihnen?« »Der Prozeß ist im vollen Gange. Ich glaube, es steht nicht sehr gut für mich.« Seine Lippen bewegten sich jetzt ein wenig; er hob den Arm und verdeckte sie mit der Hand, als überlege er angestrengt. Es sah doch sehr verdächtig aus, glaubte er. »Ich kann nicht viel sprechen«, fuhr er fort. »Ich fürchte, Sie werden die Radiowellen entdecken und unsere Sprechverbindung als Zuwiderhandlung ihrer Gerichtsordnung betrachten.« »Darüber brauchen Sie sich nicht zu sorgen, Stevens. Sie sollten wissen, daß Subradiowellen nicht festzustellen sind. Können wir sie mit dem Elektronengehirn verbinden, wie vereinbart? Geben Sie ihre Daten durch, und es wird die richtige Antwort übermitteln.« »Ich weiß nicht, was ich fragen soll; die hohen Herren haben mir nichts erklärt. Ich habe zur Erde gerufen, um mitzuteilen, daß ich das Spiel aufgeben werde. Sie sind zu mächtig! Ich will gerade das Plädoyer von der Erhaltung der Arten vorbringen: daß jede Rasse einzigartig ist und aus dem Grund verschont werden sollte, wie wir wilde Tiere – auch die gefährlichen – vor dem Aussterben bewahren. Okay?« Die Antwort klang schwach durch den Empfänger: »Sie befinden sich an Ort und Stelle, Stevens; wir vertrauen Ihrer Beurteilung. Viel Glück. Ende.«
Stevens blickte auf die ausdruckslosen Gesichter. Viele der im Saal befindlichen Wesen hatten gigantische Ohren; eines von ihnen hatte vielleicht – sehr wahrscheinlich sogar – den kurzen Wortwechsel mit angehört. Stevens Gesicht blieb beherrscht, als er laut weitersprach.
»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen«, gab er bekannt. »Ich wünsche mir sogar, ich hätte überhaupt nichts gesagt. Dieses Gericht ist ein Theater. Wenn Sie alle, Insekten vor Gericht brächten, würden sie etwas zu ihrer Verteidigung sagen? Nein! Also würden Sie sie töten – und deshalb würden Sie selbst sterben. Insekten sind ein wichtiger Faktor. Und auch der Mensch! Wie können wir unsere eigenen Möglichkeiten erfassen? Wenn Sie ihre Möglichkeiten kennen, so doch nur deshalb, weil sie aufgehört haben, sich weiterzuentwickeln, weil sie bereits dem Aussterben geweiht sind. Ich verlange, daß der Mensch ungehindert seiner eigenen Entwicklung auf seine eigene Weise nachgehen darf. Hohes Gericht, bringen Sie mich zurück zur Erde!« Seine Stimme überschlug sich, und überwältigt von seiner eigenen Entschlossenheit erwartete er tosenden Applaus. Nur ein höfliches Murmeln durchbrach die Stille. Einen Augenblick glaubte er, Mordregon würfe ihm ermutigende Blicke zu, und dann verschleierten sich die Gestalten, verschwammen in ein Nichts; er stand allein in der großen Halle. Ein Roboter kam und führte ihn zurück zum vollautomatischen Raumschiff.
Einen Monat später erreichte Stevens Luna eins, wo er beim Verlassen des Interplanetarschiffes von Lord Sylvester begrüßt wurde. Begeistert schlugen sie einander auf die Schultern. »Es hat geklappt! Ich schwöre dir, es hat geklappt!« sagte Stevens glücklich. »Hast du versucht, sie mit Vernunft zu überzeugen?« »Natürlich. Ich habe mein Bestes getan, aber umsonst. Und dann habe ich aufgegeben. Erinnerst du dich noch an deine Worte? Wenn sie die Gewaltigen der Galaxis sind, müssen sie
auch praktisch denkende Wesen sein. Und wenn wir eine praktische Errungenschaft unserer Technik, die ihnen noch unbekannt ist, vor ihren bunten Nasen baumeln lassen, dann werden sie sich förmlich darum reißen.« »Und sie besitzen keine Direktsender!« platzte Sylvester heraus. »Natürlich nicht. Denn wie unsere Wissenschaftler schon vor langer Zeit bewiesen haben, ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Aber das Lustige ist dies, Syl: Sie haben mir sogar zufällig erzählt, daß sie keine besitzen. Und ich habe nicht einmal darum bitten müssen, keine Gedankenleser gegen mich zu verwenden.« »Also dann hat die kleine Tonaufnahme, die wir hinter deinem häßlichen großen Ohr angebracht hatten, tatsächlich ihren Zweck erfüllt?« »Es klang absolut echt, und ich hätte es beinahe selbst geglaubt«, sagte Stevens begeistert. »Ich bin überzeugt, daß wir mit diesem kleinen Apparat gewonnen haben.« Aber der Triumph, der ihn auf seiner Heimreise begleitet hatte, wich plötzlich von ihm. Den Trick sah er auf einmal nicht mehr so raffiniert. Er spürte eine unsagbare Enttäuschung, die Ultralords so schmählich hereingelegt zu haben. Nachdenklich blickte er auf die bucklige Erde über den Bergen von Luna eins. Wie eine mit Grünspan überzogene Scheibe hing sie am Himmel. Und Sylvester schwatzte begeistert weiter: »Von den zehn Jahren, die ich seit deiner Abreise gealtert bin, nimmst du nun mindestens neun wieder von meinen Schultern. Wann erhalten wir das Urteil, David? – Das mächtige Ja oder Nein?«
»Das kann nicht mehr lange dauern – aber ich bin überzeugt, die Ultralords wissen Bescheid. Einige dieser Mammutohren müssen deine Stimme wahrgenommen haben.« Sylvester begann von neuem, Stevens auf die Schulter zu klopfen. Schließlich beruhigte er sich und meinte: »Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir sie hinhalten können, wenn sie kommen und tragbare Subradiogeräte von uns wollen. Aber das kann noch warten: schließlich haben wir ihnen nicht ausdrücklich gesagt, daß wir sie besitzen! Ich habe inzwischen die Presse abgewimmelt – die Ultralords können sich kaum als schlimmer erweisen als diese Reporter. Dann will der Präsident dich noch empfangen – doch vorher wartet noch ein Drink auf dich, und Edwina sitzt gleich daneben.« »Dann will ich sie nicht warten lassen«, sagte Stevens etwas glücklicher. »Du siehst plötzlich so düster aus«, meinte Sylvester. »Bist wohl ziemlich müde?« »Diese Aufregungen…« Hinter ihnen schlug die Tür seines Gefährts zu, und das Raumschiff erhob sich von der Landebahn; lautlos begann es seine kosmische Reise. Stevens winkte noch einmal, wandte sich dann schnell ab und eilte mit Sylvester auf die Kuppeln von Luna eins zu. Ein Frösteln kroch wieder über seinen Rücken. Unser Rat der Ultralords muß vollkommen sicher sein, das richtige Urteil zu fällen, wenn Fremde wie Stevens vor Gericht stehen; infolgedessen müssen Telepathen bei den Prozessen anwesend sein. Rechtschaffenheit ist es, was verlangt wird – mehr nicht. Die Menschheit auf der Erde foltert sich selbst, indem sie Phantomen und Hirngespinsten nachjagt. Stevens hat diese Rechtschaffenheit, wenn er sie sich auch selbst nicht zugesteht. Aber alle, die der Unehrlichkeit für schuldig
befunden werden, werden vernichtet; wir haben keinen Platz für sie. Das Roboterschiff drehte von Luna ab und raste mit voller Geschwindigkeit der Erde entgegen; die Motoren im voll, zählten die Sekunden bis zur Vernichtung. Und das wäre natürlich das Ende der Geschichte – zumindest für die Erde. Sie würde völlig zerstört werden, wie so viele andere Planeten vor ihr. Doch Mordregon, der an Stevens’ Bluff Gefallen gefunden hatte, entschied, daß der etwas verdrehte Denkapparat der Erdenmenschen ganz nützlich sein könnte, mit dem verdrehten Denkapparat ihrer Feinde, der Elften Galaxis, fertigzuwerden. Er nannte es »einen klugen Schachzug der Kriegsstrategie«. In aller Ruhe lenkte er die auf ihr Ziel zurasende Rakete von ihrem Kurs ab und beorderte die Rückkehr. Diesen Befehl erteilte er natürlich über Subradio; gefährliche Fremdlinge mußten notwendigerweise von Zeit zu Zeit getäuscht werden.
Originaltitel: CONVICTION Copyright © 1956 by Nova Publications, Ltd. Übersetzt von Walter Bilitza
Jack Vance Vierhundert Amseln
Der Wächter erstarrte beim Anblick der schwarzgrünen Uniform und trat dann einen Schritt vor, die Hand an der Waffe. »Schon gut, Leon«, beruhigte ihn Institutsdirektor Edvard Schmid, »öffnen Sie.« Der Wächter zögerte und warf dem kleinen, vierschrötigen Mann in der fremden Uniform einen bösen Blick zu. Dann gehorchte er mit einem Achselzucken und erwiderte den Blick des Mannes in Uniform mit dem Ausdruck unverhohlener Abneigung. Jenseits der Mauer standen der Direktor und sein Gast vor einer Anzahl weißer Gebäude, die unregelmäßig über die ganze eingezäunte Wiese verstreut waren. Direktor Schmid machte eine Geste mit seiner dürren, alten Hand. »Zweifellos die unauffälligste nationale Forschungsanstalt der Welt.« Der Uniformierte warf ihm einen raschen Blick zu, eher mitleidlos als feindselig. »Und vielleicht die fortschrittlichste«, bemerkte er. Während Direktor Schmid etwas Ablehnendes murmelte, fuhr der Besucher mit bedeutungsvollem Lächeln fort: »Ihr Suareden habt den Vorteil einer langjährigen Neutralität. Sie haben Ihre Geisteskräfte nicht an Taktik und militärischen Untertanengeist verschwendet.« Im gleichen Augenblick vertieften sich auf Direktor Schmids blassem Gesicht die Falten. »Das ist wahr«, meinte er bitter, »wir waren glücklich innerhalb unserer eigenen Grenzen; wir
haben nicht den Wunsch, die Erde zu beherrschen. Unsere Lebensweise mag Ihnen eigenartig erscheinen, aber sie paßt zu uns. Und wir zwingen nicht anderen Menschen unseren Marschtritt auf.« Der Mann in Uniform lächelte dünn. »Ein sehr gescheiter Ausspruch, Direktor. Aber Ihre Doktrinen interessieren mich nicht. Ich betrachte sie als ein Überbleibsel der Vergangenheit. Die Welt hat sich geändert – und für die Zukunft gebe ich Ihnen den Rat, Ihre Gefühle genauso zu disziplinieren wie Ihren Verstand.« Direktor Schmid gab darauf keine Antwort. Er ließ seinen Blick über die Institutsgebäude diesseits und jenseits der Mauer bis zu den Hügeln des Mount Hellenbraun schweifen, wo die riesigen, unerschütterlichen, grünen Tannen standen, wo der Schnee golden in der schrägen Nachmittagssonne leuchtete. Hier war der Geist von Suare zu Hause, eine Tradition, die der General und Leute seines Schlages nicht zu verstehen vermochten. »Sie müßten aus Ihrer Forschungsarbeit gelernt haben«, fuhr der General fort, »daß die Wissenschaft sich immer weiter entwickelt und in falschen Händen unermeßlichen Schaden anrichten kann. Wir von Moltroy wenden neuentdeckte Überwachungsmethoden an, nicht nur für unser Volk und unsere Zukunft, sondern letzten Endes für die Zukunft der Welt. Fanatiker, Extremisten, Individualisten«, – er ließ die Worte genußvoll rollen – »das sind heute sozusagen Dinosaurier, Kreaturen, die eine gefühllose, graue Vorzeit zurückgelassen hat.« Der Direktor wandte langsam den Kopf und sah den Soldaten Zoltan Vec müde an. Gleichgültig, ein wenig amüsiert, starrte Zoltan Vec zurück. Er schüttelte den kahlgeschorenen Kopf. »Kommen Sie, ich möchte mir Ihre berühmte Lehranstalt ansehen.«
Direktor Schmid seufzte. Er konnte es Vec nicht abschlagen; er hatte seine Befehle. »Was wollen Sie zuerst inspizieren?« Zoltan Vec zog sein Notizbuch heraus. »Ihre physikalische Abteilung«, erklärte er. Direktor Schmid schüttelte den Kopf. »Wir haben keine.« »Was?« fragte der General erstaunt. »Unmöglich!« fuhr er schneidend fort. »Bei uns ist es nicht üblich, die Wissenschaft in kleine Stückchen aufzuteilen«, erklärte ihm der Direktor, »so ungefähr, wie man eine Wurst in Scheiben schneidet. Wir haben nur wenige Spezialisten unter unseren Leuten.« Zoltan Vec rieb sein massiges Kinn. »Ich begreife Ihre Methoden nicht. Könnten Sie nicht mit einer besseren Organisation eindeutigere Resultate erzielen? Sehen Sie – Sie haben ein Problem: Sie bestimmen die fachliche Zugehörigkeit, dann übergeben Sie es dem Mann zur Bearbeitung, der am besten mit diesem Fach vertraut ist. Ich würde in meiner Armee niemals einem Mann, der mit Flüssigkeitsraketen umzugehen versteht, einen Jugger-Tank zur Führung überlassen. Weshalb sollte also ein Chemiker in der Physik oder Biologie herumpfuschen dürfen?« Direktor Schmid hatte seinen Gleichmut wieder gefunden. »Die verschiedenen Wissenschaftszweige hängen eng zusammen«, erklärte er. »Wir haben seit langem keinen Chemiker mehr.« Zoltan Vec schüttelte den Kopf. »In Moltroy gibt es aber Chemiker. Gestern habe ich noch mit einem gesprochen. Er arbeitet an einem Material, das Schlamm zu einer kompakten Masse werden läßt. Er sagte mir selbst, er sei Chemiker.« Der Direktor lächelte kühl. »Zweifellos haben Sie dann einen Chemiker in Moltroy. Aber hier haben wir keinen.« Zoltan Vec musterte den hageren, alten Mann, als sei plötzlich ein Verdacht in ihm wach geworden. »Sie haben den
ausdrücklichen Auftrag, mich durch das Laboratorium zu führen und mir ohne alle Einschränkungen und Behinderung zur Seite zu stehen.« Direktor Schmid überlegte rasch, daß eine zurückhaltende Zusammenarbeit vielleicht klüger wäre; denn Demütigungen der einen oder anderen Art mochten unvermeidlich sein… Vielleicht gelänge es ihm auf diese Art doch, ein wenig das Gesicht zu wahren. »Ich mache keine Vorbehalte, ich spreche völlig offen mit Ihnen. Die Behinderung – falls es solche überhaupt gibt – besteht nur in Ihrer Verständnislosigkeit für unsere Methoden, und, ich darf hinzufügen, das hängt möglicherweise mit Ihrer Ausbildung, mit Ihrem Standpunkt zusammen.« »Jetzt reicht es aber!« bellte Zoltan Vec mit lauter, böser Stimme. »Ich verlange, sofort in Ihre physikalische Abteilung geführt zu werden! Zuallererst möchte ich den neuesten Stand ihrer nuklearen Technik kennenlernen.« »Hier bitte«, antwortete Direktor Schmid. Zoltan Vec marschierte hinter ihm drein, mit der Miene eines Mannes, der soeben eine gegnerische Streitmacht zerschmettert hat. Schmid klopfte an eine Tür und öffnete sie. »Guten Tag, Louis.« Er deutete auf den Soldaten. »Hier«, fuhr er trockenen Tones fort, »haben wir General Zoltan Vec, Louis Maisan.« Vec nickte und sah sich im Raum um. »Und wo ist Ihr Gerät?« »Gerät?« Louis Maisan schüttelte den Kopf. »Wir haben nur ganz wenige Geräte. Es sollte doch bekannt sein, daß der größte Teil unserer Arbeit rein theoretisch ist.« Zoltan Vec deutete auf einen Stoß Papiere. »Was tun Sie hier?« Maisan schob die Augenbrauen in die Höhe. »Darf ich fragen, wieso Sie das überhaupt interessiert?«
»Wir haben Befehle, Louis.« Direktor Schmid hob warnend die Hand. »Befehle, Befehle«, brummte Maisan. »Schon dieses Wort ist eine Würdelosigkeit…« Er deutete mit dem Ellenbogen auf den Stoß Papier. »Das Papier hier ist Eigentum des Instituts, und deshalb unterliegt es den Befehlen. ›Ich nicht.‹ Filzen Sie das Papierzeug durch, so genau wie Sie wollen, aber belästigen Sie mich bitte nicht mit Ihren Fragen.« Wortlos trat Zoltan Vec einen Schritt näher und nahm einige zusammengeheftete Schriftstücke in die Hand. Er hielt sie auf Armlänge von sich und besah sie prüfend. Einen Augenblick später wandte er sich verwirrt an den Direktor. »Was soll dieses Kauderwelsch bedeuten?« »Louis Maisan kalkuliert die Winkelgeschwindigkeiten der Mesonen in einigen nicht-physikalischen Dimensionen… Man könnte auch sagen, er bestimmt, wie rasch sich die Mesonen von innen nach außen drehen.« Langsam legte Zoltan Vec die Papiere auf den Tisch zurück und schrieb etwas in sein kleines Notizbuch. Während er es wieder in die Tasche zurückschob, warf er einen Blick durch den Raum: Tafeln, Tische, Louis Mainsans gleichgültiges Gesicht, Direktor Schmid ruhig beobachtend. »Wenn Sie wollen, können Sie mich führen«, erklärte schließlich der General. »Ich möchte jeden bei Ihnen beschäftigten Mann sprechen, ihn befragen; hier habe ich eine Liste, nach der ich vorgehen werde.« Sie betraten einen langgestreckten kühlen Raum, der nach Formaldehyd roch. An der einen Wand stand eine lange Bank, über der hinter grünen Glasscheiben Tausende von Glasbehältern mit Wattepfropfen im Hals aufgereiht waren. Drei Männer saßen über Mikroskopen; sie waren in ihre Arbeit vertieft und emsig wie Ameisen in einem Tropfen Honig. Ab und zu bewegte sich einer von ihnen oder flüsterte ein paar
Worte. General Vec und dem Direktor schenkten sie kaum Beachtung. »Und hier?« fragte Zoltan Vec mit unnötig scharfer Stimme. »Wir arbeiten an der Photosynthese, benutzen radioaktive Indikatoren, machen Versuche mit Atomaustausch, probieren neue Techniken aus. Diese Kolben hier«, er deutete auf die Flaschen, »enthalten Lösungen, und wir hoffen, daß wir mit einigen von ihnen eine künstliche Photosynthese erreichen können.« »Das heißt also, daß Sie aus Luft und Wasser Nahrung erzeugen können?« »Letzten Endes vielleicht… Im Augenblick wären wir schon mit Kohlenwasserstoffspuren zufrieden.« Zoltan Vec wandte sich um. »In unserem Betrieb in den Morispillbergen kommen wir auf zweitausend Tonnen Hefe täglich. Denken Sie, Rationen für die ganze Armee! Glauben Sie, daß Sie mit Ihrem Verfahren hier jemals zu den gleichen Ergebnissen kommen?« »Niemals«, erklärte der Direktor. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre«, fuhr Zoltan Vec fort, »würde ich diese Arbeiten aufgeben. Es ist doch klar, daß sie nicht so nützlich sind wie unsere Hefeherstellung.« Sie überquerten den Hof und betraten ein Gelände, das von einem langen, niedrigen U-formigen Gebäude eingerahmt war. »Unser neuester Anbau«, erklärte Schmid. »Es gibt hier noch einige Lücken… Archäologie, zum Beispiel. General, hier ist ein Spezialist, ein Mann nach Ihrem Herzen. Seine Aufgabe wird ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen.« Zoltan Vec warf einen Blick durch die halboffene Tür auf den schlanken, grauen Mann, der sich eben pfeiferauchend in seinem Stuhl zurücklehnte. »Es sieht so aus, als ob das Leben ihm Spaß mache«, bemerkte der General trocken. »Wirklich, mir scheint, daß im ganzen Institut keiner seine Arbeit ernst nimmt. In Moltroy
müssen die Leute für ihr Geld auch wirklich arbeiten.« Er machte eine Kopfbewegung zu dem Mann hin. »Und was hat er zu tun?« »Er rekonstruiert die Sprache des neolithischen Europa«, erklärte Schmid kühl. »Ein in Träume versponnener Müßiggänger«, knurrte Zoltan Vec, »und die Regierung zahlt sein Gehalt. In Moltroy würde man ihn ins Schuhkombinat zur Arbeit schicken.« Direktor Schmid warf einen langen Blick auf die blaugrünweiße Flagge, die im Westwind flatterte. »Hier in Suare, wo wir keine Armee haben, würden Sie, Herr General, sich wahrscheinlich auch bei der Arbeit wiederfinden, die nicht zu Ihnen paßt, die Ihren Fähigkeiten nicht entspricht – vielleicht als Rausschmeißer in einem billigen Tingeltangel, oder als Pferdebursche…« General Zoltan Vec hielt mitten im Schritt inne und musterte das hagere, alte Gesicht des Direktors aus zusammengekniffenen Augen. »Nun, Herr General?« fragte Schmid. »Was ist los?« »Gehen wir weiter«, erwiderte Zoltan Vec. Hinter der nächsten Ecke überquerten sie den eingezäunten Platz vor einem großen, weißen Gebäude. »Das ist unser Bau für die Wissenschaften vom Leben: Biologie, Psychologie und ähnliches.« Sie betraten einen großen, hellen, leeren Raum. »Hier drinnen«, erklärte Schmid, »erforschen Professor Luka und sein Sohn, Dr. John Luka, das Bewußtsein einzelliger Tiere. Die Amöben, so glauben sie, können verschiedene Farben erkennen, hören, riechen, warm und kalt empfinden. Sie haben vor, zu beweisen, daß die Amöben ihre Umwelt bewußt wahrnehmen.« Zoltan Vec warf ihm über den Rand seines Notizbuches einen zweifelnden Blick zu. »Was hoffen diese Männer mit ihren
Studien zu gewinnen? Wir brauchen eine Unzahl von Dingen viel nötiger als solche… solche…« »Narreteien?« schlug Schmid vor. »Haben Sie das gemeint? Vermutlich haben Sie doch schon davon gehört, daß es zum Beispiel Keimen sehr wohl möglich ist, eine bestimmte Auswahl unter den Menschen zu treffen, in denen sie sich einnisten wollen. Nehmen wir einmal an, eine Bakterie sieht sich einem Moltroysoldaten gegenüber, wendet sich von ihm ab und infiziert statt dessen einen Föderierten?« Zoltan Vec zog die Brauen zusammen, und sein harter, dunkler Mund verzerrte sich zu einem zweifelnden Lächeln. »Ist denn so etwas möglich? Und…arbeiten Ihre Laboratorien in Wirklichkeit vielleicht an… der bakteriologischen Kriegsführung?« »Durchaus nicht«, antwortete Schmid. »Sie haben Zweifel am Wert von Lukas Forschungen ausgedrückt. Deshalb wollte ich Ihnen nur einen Fingerzeig geben, wohin diese Studien führen könnten.« Der General wandte sich langsam um und schrieb längere Zeit in sein Notizbuch. »Gibt es bei Ihnen noch andere Forschungsgebiete dieser Art?« fragte er schließlich. »Kriegsführung mit Bakterien? Nein«, antwortete Schmid. »Wir haben hier einige recht interessante psychosomatische Studien laufen, und eine davon möchte ich als einen bemerkenswerten Fortschritt von Lukas Arbeit bezeichnen.« Es gelang ihm, Zoltan Vec für diesen Hinweis zu interessieren. »Und was ist damit?« fragte der General. »Kommen Sie hier herein«, forderte Schmid ihn auf und schob ihn durch eine Edelstahlschwingtür. Zoltan Vec betrat einen Raum aus grauem Metall, der mit großen Arbeitstischen und chirurgischen Instrumenten ausgestattet war. Einige weiße Feldbetten nahmen den Mittelpunkt des Zimmers ein; ein paar junge, sehr ruhige Männer lagen darauf.
Zwischen den Feldbetten stand Abel Ruan, ein magerer, unscheinbarer Mann, der die erste Jugend zwar schon hinter sich haben mochte, aber die mittleren Jahre noch nicht erreicht hatte. Seine ganze Erscheinung war sandfarbig; sein Kopf war lang und kahl, und auf seiner langen, schmalen Nase saß eine randlose Brille. Er warf seinen Besuchern einen raschen Blick zu und beschäftigte sich dann wieder mit den beiden Schläfern. Schmid und der General beobachteten ihn einen Augenblick, bis der General, dem nichts Interessantes auffiel, ungeduldig wurde. Das schien Schmid nicht zu bemerken, er flüsterte ihm aber hinter der vorgehaltenen Hand zu: »Abel Ruan ist ein außerordentlich einfallsreicher Wissenschaftler, sehr wendig, ein brillante Denker. Im Augenblick bemüht er sich, die Gehirne zweier Menschen durch die Nervenstränge des Rückenmarks miteinander in Verbindung zu bringen.« »Und wohin soll das führen?« wollte Zoltan Vec wissen. »Noch eine ›tour de force‹? Oder messen Sie seinen Bemühungen irgendeine Bedeutung bei?« Abel Ruans Gehör funktionierte ausgezeichnet. »Herr General«, stellte er, ohne den Kopf zu drehen, ruhig fest, »ich bin ein vom Glück außerordentlich begünstigter Mensch.« »Inwiefern?« fragte der General und musterte ihn. »Ich bin von Neugier besessen; sie erstreckt sich auf viele Gebiete. Sie würde mich auffressen und mein Leben unerträglich machen, wenn die Regierung von Suarede mich nicht dafür bezahlte, daß ich sie befriedigen kann.« »Und wie soll Sie das alles gescheiter machen?« fragte Zoltan Vec und unterstrich seine Frage mit einer abrupten Handbewegung. »Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ein Mensch die Welt in denselben Formen, denselben Farben sieht wie ein anderer. Könnte nicht die Farbe, die Franz als ›Rot‹ bezeichnet, in Jean eine völlig andere Empfindung auslösen – wenn Jean sich das
geistige Bild von Franz zueigen machen könnte? Wenn das der Fall wäre und ich würde die Augen von Franz mit dem Gehirn von Jean verbinden, dann wird Jean ein ganz wundervolles Erlebnis haben, denn er wird Farben sehen, die er sich nicht vorstellen konnte, er wird Formen erkennen, die früher jenseits seiner Vermutungen lagen. Er wird in einer völlig neuen, fremdartigen Welt leben.« »Hm«, brummte Zoltan Vec. »Sehr interessant. Und wie« – er lachte säuerlich – »soll die Regierung von Suarede von Jeans Staunen profitieren?« Abel Ruan streckte seine dünnen, sommersprossigen Arme aus und schob die herabgerutschte Brille an ihren Platz. »Das werden wir wohl nie erfahren, denn unglücklicherweise kann der Kontakt zwischen den beiden Menschen nie aufrechterhalten werden.« Schmid lachte glucksend. »Kein Ergebnis, Abel?« Abel zuckte die Achseln. »Ein Mikrovolt oder zwei. Gar nicht der Rede wert. Genügt absolut nicht, um Eindrücke hervorzurufen. Und wahrscheinlich würde das Gehirn sofort Ausgleich schaffen, genau wie wir vermutet haben.« Schmid schüttelte den Kopf. »Jammerschade.« »Obwohl«, erklärte Ruan, »sich eine ganze Reihe recht interessanter Ergebnisse verzeichnen läßt.« Schmid warf Zoltan Vec einen ziemlich unbehaglichen Blick zu. Dieser streckte seinen massigen Kopf nach vorn. »Tatsächlich?« fragte er. »Die Schwierigkeit entstand bei der Herstellung der Verbindung«, erklärte Ruan und entblößte in einem breiten Lachen die ganze Reihe seiner großen, weißen Zähne. »Jedes der beiden Gehirne hat das Bestreben, den beherrschenden Zyklus zu bilden. Es gab keine Übereinstimmung. Ich bemühte mich, diese Schwierigkeit zu umgehen und schloß das Gehirn eines Kanarienvogels an Jeans Gehirn an.«
»Und…« Abel Ruan zuckte die mageren Schultern. »Nichts ist passiert – bis, und passen Sie jetzt genau auf, meine Herren –, bis einer der anderen Vögel zufällig durch irgend etwas aufgeregt wurde, worauf bei Jean Zeichen von Ruhelosigkeit festzustellen waren.« Schmids altes Gesicht zeigte plötzlich einen Ausdruck leidenschaftlichen Eifers, und alle Spuren von Müdigkeit waren daraus verschwunden. »Telepathie?« fragte er. Abel Ruan nickte. »Logisch.« Zoltan Vec rieb sich das Kinn. Der Direktor, der sich der Anwesenheit des Generals plötzlich wieder bewußt wurde, fiel in sich zusammen, wurde wieder alt und grau wie vorher, und der eifrige Ausdruck verschwand von seinem Gesicht. »Bezahlt Ihre Regierung Sie auch dafür, daß Sie in Spiritismus herumpfuschen?« fragte der General höhnisch. Schmid zog den Kopf ein, und Abel Ruan breitete die Arme aus und wandte sich ab. »Aus Ihnen spricht Unwissenheit, Herr General«, klagte Schmid. »Hier in unserem Institut sind wir der Überzeugung, daß wir mit allen Mitteln versuchen müssen, Verständnis zwischen den beiden Lagern der Welt zu schaffen. Wenn die Menschen einander in Freiheit verstehen wollten, gäbe es keine Spannungen, keine Feindseligkeiten, keinen Krieg mehr… Telepathie wäre das geradezu ideale Mittel, dieses Ziel zu erreichen.« Abel Ruans Brille glitzerte, als er seinen schmalen Kopf zurückwarf. Er begegnete Zoltan Vecs tierisch ernstem Blick. »Dr. Schmid ist, wie Sie selbst feststellen können, Idealist. Er glaubt felsenfest an die unerläßliche Würde des Menschen.« Zoltan Vec nickte kurz. Er bemerkte einen Stuhl, zog ihn mit dem Fuß heran und setzte sich, einen Fuß vor dem anderen.
»Und wie weit sind Sie mit diesen telepathischen Experimenten gekommen?« Abel Ruan lehnte den Rücken an die Wand und beklopfte mit einem Bleistift seine Zähne. »Wir haben einige auf Erfahrung beruhende Entdeckungen gemacht, einige theoretische Versuche.« »Welche, zum Beispiel?« »Wir haben gefunden, daß Vögel alles in allem viel empfindlicher, leichter zu beeinflussen sind als Menschen. Vielleicht haben Sie schon einmal einen Amselschwarm beobachtet; er fliegt, und plötzlich drehen alle miteinander ab, als ob sie von einem einzigen Gehirn geleitet wären.« Zoltan Vec nickte. »Ich bin auf einer Farm im Kerkhaztal geboren.« »Wir haben uns nun die Idee der Wellenlänge zunutze gemacht – grob ausgedrückt, natürlich –, da wir die Natur und die Grundlage der Telepathie nicht kennen. Man kann sich die Telepathie als Hochfrequenzstrahlung vorstellen, das menschliche Gehirn als Sender und Empfänger von niedriger Frequenz, ein Vogelgehirn aber als Sender und Empfänger mit der genau richtigen Wellenlänge. Koppelt man nun ein Vogelhirn mit dem Gehirn eines Menschen, so wirkt das Vogelgehirn als Verstärker.« Direktor Schmid hüstelte. »Es wird spät, General. Vielleicht möchten Sie noch unser Observatorium besuchen?« Ohne den Kopf zu wenden, machte Zoltan Vec eine scharfe, abwehrende Handbewegung. »Ich nehme an, Sie haben hier zwei Männer, deren Gehirn mit den Gehirnen von Vögeln verbunden wurde?« Abel Ruan lächelte. »Das Experiment haben wir gemacht. Die Resultate ergaben allerdings nur die Empfangsfähigkeiten der Vögel. Hunger, Furcht, Neugier, Farben, Zahlen bis fünf – das alles kann in das Gehirn der Vögel gesandt, übertragen,
empfangen und an ein anderes menschliches Gehirn weitergegeben werden. Anspruchsvollere geistige Vorgänge als diese können auf telepathischem Weg unmöglich übertragen werden.« »Können diese Vogelgehirne in tragbaren Behältern untergebracht werden?« fragte Zoltan Vec. »Und ist es nötig, daß die Versuchspersonen außer Gefecht gesetzt werden?« »Es ist nur eine kleine Nervenverpflanzung notwendig«, erklärte Abel Ruan, »die vom betreffenden Strang zur – sagen wir mal – Steckdose am Nacken führt. Dann können die tragbaren Behälter mit den Vogelgehirnen willkürlich und nach Bedarf angeschlossen und abgeschaltet werden… Allerdings, Herr General«, fügte er hinzu, und seine Augen hinter den Brillengläsern glitzerten spöttisch, »für militärische Mitteilungen wird Ihre Funkausrüstung wesentlich bessere Dienste garantieren, dessen bin ich sicher.« Zoltan Vec stand auf. »Methoden der Kriegführung«, bemerkte er trocken, »ändern sich genauso wie die wissenschaftlichen Fronten. Jeder künftige Sieg wird in der ersten Stunde des Krieges gewonnen werden, und zwar von der Macht, die ein genügend großes Angriffspotential über dem gegnerischen Territorium konzentrieren kann. Wenn einer der Gegner den anderen nach Wunsch und Willen vernichten, gleichzeitig aber auch seine eigenen Grenzen abriegeln kann, so muß sich die andere Kraft wohl oder übel im gleichen Augenblick ergeben.« »Geld oder Leben«, schlug Abel Ruan vor. Zoltan Vec marschierte gedankenverloren einige Schritte hin und her. »All unsere Pläne sind darauf gerichtet, diesen schnellen Krieg zu gewinnen. Dann werden wir die Welt nach dem System von Moltroy neu organisieren, Ordnung, Disziplin und Zweckmäßigkeit einführen, die Ziellosigkeit abschaffen…« – seine groß angelegte Handbewegung schloß
das gesamte Institut mit seiner Umgebung ein – »Dilettantismus, Verantwortungslosigkeit…« Direktor Schmid war in sich zusammengefallen, sein Mund bewegte sich krampfhaft. »Aber Krieg? Wozu brauchen wir einen Krieg? Auf der Grenadenkonferenz sind Moltroy und die Weltföderation übereingekommen…« Seine zitternde Stimme versagte. Zoltan Vec warf ihm einen raschen Blick zu und schaute dann an ihm vorbei. Abel Ruan entblößte seine Zähne zu jenem Lächeln, das eher auf eine Manie als auf einen Ausdruck von innerer Fröhlichkeit deutete und ihn einem Zahnarzt gleichen ließ oder einem Buchhalter, der sich in Eigenlob er ging. Direktor Schmid blickte in ein weit entferntes Nichts. »Selbst wenn das so ist«, murmelte er, »wird Suare selbstverständlich seine traditionelle Neutralität beibehalten.« Dieser Gedanke schien ihn zu beruhigen, und seine Stimme klang wieder sicherer. »Suare hat es nicht nötig, sich hineinziehen zu lassen, ganz gleich, was dabei herauskommt.« Zoltan Vec beendete seine Kritzeleien im Notizbuch. »Fahren Sie mit Ihrer Arbeit fort«, befahl er Abel Ruan. »Sie werden dafür reich belohnt werden.« Er wandte sich an Direktor Schmid. »Machen wir weiter.«
Gesenkten Kopfes schritt Edvard Schmid von seinem kleinen Haus am untersten Hang des Mount Hellenbraun über den Kiesweg zum Tor. Der Wächter grüßte. »Guten Morgen, Leon«, sagte Schmid automatisch. »Guten Morgen, Herr Direktor.« Leon hielt ihm eine Zeitung entgegen. »Haben Sie die Neuigkeiten schon gelesen? Lesmond und Couch sind nach Varly geflohen. Die
Menschenrechtspartei ist an der Macht und hat Renner eingesperrt.« Schmid nickte düster. »Ich habe gerade das Radio ausgemacht… Eine schreckliche Sache, Leon. Ich weiß nicht… ich hoffe, daß es uns hier nicht betrifft.« Leon zeigte auf eine Gruppe von drei Flugzeugen, die in großer Höhe dahinzog. »Sehen Sie, die verlieren keine Zeit, diese unverschämten Schufte! Das sind Blatchats, Kampfmaschinen von Moltroy!« Schmid wandte sich ab. »Vermutlich werden wir davon noch viel mehr zu sehen bekommen. Das ist die neue Art, eine Invasion zu machen, Leon. Es gibt keine Armeen mehr, die über die Grenzen stürmen, nur noch schlaue Gehirne, die sich wie Tumore in den Leib der Regierung fressen.« Das Telefon im Wachhäuschen läutete. »Hallo«, meldete sich Leon. »Es ist für Sie, Herr Direktor«, rief er. »Hallo«, sagte Schmid. »Ja… ach… was? Tatsächlich, sofort sagen Sie?… Ich verstehe…« Er ging hinaus. »Befehle vom neuen Innenminister. Niemand darf das Institut verlassen, bis der neue Direktor kommt. Unter keinen Umständen.« »Neuer Direktor?« schnappte Leon erstaunt. »Aber…?« Schmid breitete seine langen Arme aus. »So geht es eben, und das ist Ihr Befehl: Niemand verläßt das Institut.« Baze Roseau, der neue Direktor, war ein kleiner, dicker Mann mit einer klaren Stimme, kleinen, weit auseinanderstehenden Augen, die ständig nach beiden Seiten zu schauen schienen. Unmittelbar nach seiner Ankunft rief er das Personal des Instituts zusammen und hielt eine unzeremoniöse Ansprache. Er erwies sich als Redner von scharfer, rascher Schlagfertigkeit. »Meine Freunde, wie Sie alle wissen, hat die Fortschrittspartei die Kontrolle über Suare übernommen, und
unsere Nation formt sich zu einer neuen, dynamischen Einheit. Nun müssen wir uns vom Strom der Zeit in die Zukunft tragen lassen, unsere Gesichter dem Licht zuwenden, gegen die Mächte der Unterdrückung und Reaktion zu Felde ziehen. Deshalb hat das Zentralkomitee der Völkerrechtspartei ein neues Programm für das Institut aufgestellt, eines, das die Dinge richtig in Gang bringen wird. Ich bin überzeugt, daß Sie alle mit der früheren ziellosen, laschen Führung unzufrieden waren. Das wird nicht länger der Fall sein. Wir werden vereint sein in unserer Begeisterung und unserer gemeinsamen Hingabe an dieses neue Leben. Ich habe hier eine Liste von Änderungen, die sofort vollzogen werden müssen. Ich werde sie Ihnen vorlesen, frei und offen, so daß alle sie kennen. Das ist die neue Politik des Institutes; es gibt keine Eifersüchteleien mehr zwischen den einzelnen Abteilungen, keine Verleumdungen. Wir werden alle miteinander für unser gemeinsames Ziel arbeiten, und wenn es Drückeberger und Unzufriedene geben sollte, Miesmacher und Stänkerer, so werde ich mich freuen, sie kennenzulernen… Hier ist unser neues Programm.« Raschelnd entfaltete er ein Papier. »Erstens: Edvard Schmid wird stellvertretender Verwaltungsdirektor, während Abel Ruan zum stellvertr. Direktor der Forschungsgruppe ernannt wird. Jeder, der zur Forschungsgruppe gehört, untersteht den Befehlen von Abel Ruan, einschließlich einer Anzahl von Austauschstudenten, die heute noch aus Moltroy hier ankommen werden… Das ist im Augenblick alles. Lassen Sie mich noch sagen, daß es in unserem neuen Leben keinen Platz gibt für Drückeberger und Reaktionäre, daß aber gute Arbeit mit großzügigen Sonderleistungen honoriert werden wird. Wir müssen uns mit Leib und Seele in den Kampf werfen, für den unvermeidlichen Sieg über unsere Feinde kämpfen. Das ist alles für heute. Ich danke Ihnen.«
Als sich die Leute schweigend und verdrossen aus dem Saal entfernten, winkte Baze Roseau Abel Ruan zu sich. Der neue Direktor bedeutete Abel Ruan, sich zu setzen, während er selbst händereibend auf und ab ging. »Ah, Ruan, es erschiene mir nicht fair, Ihnen die Tatsache vorzuenthalten, daß Ihre Arbeit über Telepathie in Regierungskreisen sehr großen Eindruck gemacht hat. Sie sind auf dem besten Weg zu Ehre und Reichtum.« »Wirklich?« Abel Ruan kratzte sich am Hinterkopf. Baze Roseau nickte. »Man hat beschlossen, daß Ihre Arbeit über Telepathie hier im Institut weitergeführt wird, daß Sie sich ausschließlich darauf konzentrieren. Alles andere wird inzwischen aufgeschoben.« »Hm«, murmelte Abel Ruan, nahm die Brille ab und putzte sie langsam. »Ich verstehe… Man hat also erkannt, daß meiner Arbeit hohe militärische Bedeutung zukommt?« Roseau grinste verschlagen. »Unter uns gesagt, das könnte stimmen. Wie ich hörte, war General Zoltan Vec von den Möglichkeiten außerordentlich beeindruckt, und in dieser kriegerischen Zeit muß alles genützt werden, was irgend dazu beitragen kann, den Sieg über die Imperialisten zu erringen.« »Ah!« Abel Ruan nickte heftig. »Und was, genau, wird verlangt?« »Stellen Sie sich folgendes vor«, antwortete Baze Roseau. »In einem möglichen Krieg ist die erste Stunde die entscheidende. Unsere Bomber und Raketenträger, unsere Kampffliegerschwärme steigen auf. Sie werden an einigen Punkten angreifen und auf die Abwehr des Feindes treffen, und dessen Angriffsformationen werden sich in die Luft begeben. Über dem Ozean wird sich eine gigantische Luftschlacht entwickeln, und die Seite, der es gelingt, durchzubrechen, wird den Krieg gewinnen. Nun, der schwächste Punkt unseres Angriffs, eines jeden Angriffs, ist die Abstimmung, denn beide
Seiten werden automatisch die Funkkanäle des Gegners stören. Wenn es uns gelingt, die gesamten Streitkräfte unserer Angriffsformationen völlig unter Kontrolle zu halten, dann würde uns die damit erreichte Organisation die absolute Überlegenheit sichern, und wir hätten den Krieg gewonnen. Telepathie, die perfekt funktioniert, würde alle weiteren Probleme vollständig lösen.« »Völlig richtig, völlig richtig«, bestätigte Abel Ruan. »Aber – wie ich schon General Vec erklärt habe – das Medium, durch das wir handeln müssen, das Gehirn eines Vogels, gestattet keine absolute Genauigkeit bei der Übermittlung von Nachrichten.« »Der Einwand wurde bereits höheren Ortes notiert, und es wurde vorgeschlagen, durch eine intensiv betriebene Zuchtwahl eine Qualitätsverbesserung der entsprechenden Gehirne zu versuchen.« Abel Ruan zog grinsend seinen Mund in die Breite. »So etwas schwebt mir auch vor; allerdings ist es ein Programm auf lange Sicht.« »Wie lange?« fragte Baze Roseau, und seine Augen glitzerten kalt und scharf. »Unmöglich zu sagen. Vielleicht und wenigstens einige Jahre.« Baze Roseau nickte und begann wieder, auf und ab zu laufen. »Das ist natürlich nicht zu vermeiden. Nun, wir werden so schnell wie möglich in dieser Richtung weiterarbeiten. Das ganze Programm wird Ihnen unterstehen. Keine Anstrengung, keine Ausgabe ist zuviel dafür. Selbstverständlich wird Ihr Gehalt beträchtlich erhöht werden. Wenn es Ihnen gelingt, ein System auszuarbeiten, das sich auch anwenden läßt, dann werden Sie eine hohe Pension ausgesetzt bekommen, man wird Ihnen den Auslesestatus und den Butin-Orden zuerkennen.«
»Aber«, wandte Ruan ein, »wenn es sich herausstellt, daß die ganze Idee unvernünftig ist? Wenn ich keinen Erfolg habe?« Baze Roseau schwellte die Brust. »Die Bewegung erkennt solche Einwände nicht an… Von Unerfreulichem reden wir lieber nicht…« »Überzeugende Argumente«, bestätigte Abel Ruan. »Für beide Seiten. Nun ja, wir werden sehen. Wir werden sehen.«
Am Nachmittag desselben Tages klopfte Edvard Schmid an die Tür des Arbeitszimmers von Abel Ruan; der hatte die Füße auf den Tisch gelegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt; er lehnte in seinem Stuhl, der gefährlich auf den Hinterbeinen balancierte. Schmid setzte sich und beugte sich ihm über den Tisch entgegen, setzte sich aber sofort wieder verblüfft zurecht, als Ruan ihm mit einer Handbewegung Schweigen gebot, seinen Plattenspieler packte, zur Wand trug und auf höchste Lautstärke einstellte. Er grinste und zeigte dabei wie üblich sein ganzes Gebiß; dann setzte er sich wieder. »Dort hat Roseau seine Mithörknöpfe. Wenn er nun den Lauscher spielt, dann hört er höchstens con brio die Hymne von Moltroy, und er hört sie so lange, bis Sie gehen.« Schmid schüttelte den Kopf. »Ich wußte nicht…« »Es zahlt sich aus, vorsichtig zu sein«, meinte Ruan, »selbst wenn man sich die Seele aus dem Leib schuftet.« »Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen«, erklärte Schmid und beugte sich zu ihm. »Abel, Sie werden mit diesem Projekt Erfolg haben!« Er sah Ruan vorwurfsvoll an. »Natürlich werde ich Erfolg haben. Meine Aufgabe ist es ja schließlich, Fortschritte zu erzielen. Man bezahlt mich gut. Man ehrt mich…«
»Aber, Menschenskind!« Schmids alte Augen funkelten. »Haben Sie die Absicht, diesen Ungeheuern zu helfen? Verstehen Sie denn nicht, was Sie damit anrichten?« Abel Ruan zuckte die Achseln. »Je früher wir den Krieg haben, desto eher wird er vorüber sein.« »Aber wenn Sie Erfolg haben – ihr Sklavenstaat wird das Modell für die ganze Welt sein!« Abel Ruan zündete sich eine Zigarette an. »Wer weiß? Vielleicht gewinnt Moltroy den Krieg gar nicht. Schließlich arbeiten auch genug Wissenschaftler für die Weltföderation.« »Aber keiner von ihnen ist dabei, an einem Projekt zu arbeiten, das so entscheidend werden wird wie das Ihre… Ich bitte Sie, Abel, haben Sie wirklich die Absicht, es zu Ende zu führen?« Abels Augen glänzten, als er den alten Mann bedachtsam musterte. »Das ist meine Aufgabe.« Schmid zog seine Pistole heraus, legte sie an, drückte ab. Ruan duckte sich, rutschte von seinem Stuhl und zog unter dem Tisch dem alten Mann die Beine weg. Schmid fiel, und die Pistole schlug auf dem Boden auf. Er konnte sie nicht mehr erreichen. Ruan hob sie auf und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Schmid erhob sich steif. »Nun, und weshalb rufen Sie jetzt nicht die Wache?« Ruan schüttelte den Kopf. »Edvard, Sie beurteilen mich falsch. Mein Leitsatz ist zuerst und überhaupt: traue niemand! Jetzt vielleicht mit einer Ausnahme – das sind Sie, denn Sie haben Ihren Gefühlen recht kräftig Ausdruck verliehen. Ich möchte einmal in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß kein Mensch unersetzlich ist. Wenn Sie mich also erschossen hätten, dann hätten vielleicht Tausende bereitgestanden, in meine Fußstapfen zu treten und meine Aufgabe mit dem gleichen Enderfolg zu übernehmen. Das ist der eine Grund, weshalb ich diese Experimente weiter verfolge. Ich
kontrolliere hier die Lage. Ich bin der Mann an der Spitze, ich leite die ganze Geschichte. Wenn ich mich weigern sollte, mit ihnen zusammenzuarbeiten, dann würde einer von den Tausenden kommen und an meine Stelle treten. Und wir wären nicht die Spur besser dran.« Schmid ließ diesen Gedanken in sich einsickern. »Abel, Sie vermeiden es sehr klug, sich genauer auszudrücken. Soll ich Sie so verstehen, daß Sie… einen gewissen Plan verfolgen?« »Einem Mann von Überlegung bieten sich die Gelegenheiten selbst an«, antwortete Ruan. »Aber nicht« – er hielt die Pistole in die Höhe – »auf diese Art.« Schmids Haltung versteifte sich. »Ich habe getan, was mein Gewissen mir zu tun befahl… Ich bin mir nicht sicher, ob es mir leid tut, daß ich Sie nicht getroffen habe, denn Sie versprechen nichts Bestimmtes…« »Das Universum ist unbestimmt und unbestimmbar bis zum nebensächlichsten Elektron, mein lieber Doktor«, war Ruans vergnügte Feststellung. »Eine absolute Entscheidung liegt nicht in meiner Hand. Und vergessen Sie niemals mein Motto: traue niemand.« »Aber inzwischen«, bemerkte Schmid düster, »vervollkommnen Sie die Waffe, mit der sich Moltroy die Welt untertan machen will.«
Zoltan Vec löste den Verschluß an seinem Nacken und nahm den hohen Helm ab. »Und?« fragte Marschall Koltig, Stabschef der Streitmacht von Moltroy. »Vollkommen«, antwortete Zoltan Vec. »Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das gleiche Bild vor mir, das auch der Pilot sieht. Mit offenen Augen kann ich Befehle weiterleiten,
die keiner Bestätigung bedürfen, weil ich ihre Wirkung im Kopf des Piloten verspüre.« »Ausgezeichnet.« Marschall Koltig wandte sich an Abel Ruan, der ruhig im Hintergrund stand. »Wieviel davon haben Sie schon vorbereitet?« »Etwa vierhundertfünfzig, Sir«, antwortete Abel Ruan nach einem kurzen Zögern. Er schien noch dünner als sonst zu sein, sah sehr müde aus, und sein Gesicht war von teigiger Blässe. Marschall Koltig überlegte. »Vierhundertfünfzig… hm. Wir werden zweihundert Fliegerformationen einsetzen. Wir brauchen also vierhundert Helme, je einen für die Flugkapitäne und für die Mittelspersonen hier im Hauptquartier. Es bleiben dann fünfzig als Reserve… Wäre es nicht möglich, weitere fünfzig herzurichten?« Abel Ruan schüttelte den Kopf. »Nicht während der nächsten Monate, Sir. Diese Gehirne sind überaus empfindlich, und für jedes Gehirn, das so groß und kompliziert ist, daß es gute Dienste leisten kann, müssen wir zehntausend unzulängliche aussortieren.« Der Marschall überlegte eine Weile. »Schön, wir werden dafür sorgen, daß es reicht. Sollte es nötig sein, dann können wir ja die ungefährdeten Gebiete zusammenlegen oder Funk benutzen.« Er wandte sich an General Zoltan Vec. »General, Sie werden umfassende Tests anstellen und mir berichten.« Zoltan Vec verbeugte sich. Abel Ruan räusperte sich. »Ich habe eine Idee, wie ich das Modell des Helms verbessern kann. Wenn ich mich sehr beeile, kann ich vielleicht ein paar Stück davon rechtzeitig fertig haben – für einen Notfall wenigstens. Vielleicht so viele, daß sie für die führenden Offiziere ausreichen, oder wenigstens für Sie und General Vec.« Der Marschall nickte ihm herzlich zu. »Unter allen Umständen. Scheuen Sie keine Ausgaben. Sie haben bis jetzt
sehr gut gearbeitet, Abel Ruan, und Sie werden reich dafür belohnt werden.« Der Wissenschaftler verbeugte sich und zog sich zurück.
Es war der Morgen des Tages X. Auf hundert Flugplätzen hockten die Bomber wie riesige Bienen, vollgepfropft aber nicht mit Pollen, sondern mit nuklearen Explosivstoffen, mit Giftschaum und Nebel, giftigen Bakterienkulturen und Propagandamaterial, das von abtrünnigen Föderierten vorbereitet worden war. Düsen- und Raketenflugzeuge reihten sich glitzernd aneinander, sie waren bis zum Bersten mit Treibstoff aufgetankt, gefährlich, sprungbereit. In den Unterkünften saßen die Piloten rauchend, schweigend oder schwatzend beisammen, wie es eben ihren Temperamenten entsprach, während in den Kommandoständen die Flugkapitäne ihre neuen, hohen Helme aufprobierten. Gleichzeitig setzten im Hauptquartier der Streitkräfte, weit hinter den Grenzen von Moltroy, zweihundert Mittelspersonen ähnliche Helme auf, und jeder einzelne enthielt ein Gehirn, das genau auf das Gehirn in einem der Helme der Flugkapitäne abgestimmt war. Die Mittelspersonen nahmen ihre numerierten Sitze ein, die auf einer Estrade um einen großen Bildschirm gruppiert waren. Auf diesem Schirm würde dann ein schematisiertes Bild des Kampfes erscheinen, das in verschiedenen Farben Vormarsch oder Rückzug anzeigte; Gefahrenpunkte sollten durch Lichtsignale gekennzeichnet werden. Das ganze Geschehen auf dieser Karte würde sich zusammensetzen aus den ständig einlaufenden Berichten der zweihundert Flugkapitäne, und der Stab, einschließlich General Vecs und Marschall Koltigs, konnte die Karte überwachen, den Stab dirigieren und die
Strategie des Kampfes bestimmen, ohne dazu Mittelspersonen zu brauchen. Marschall Koltig saß in einem der angrenzenden Räume und trank Kaffee; er war ein großer, dunkler Mann mit Schnurrbart, trug eine wichtigtuerische Energie zur Schau und brütete eben über den Berichten des Nachrichtendienstes. »Sie wissen, daß wir die Mobilmachung ausgerufen haben«, bemerkte er zu General Vec. »Das ist sogar länger geheim geblieben, als ich zu hoffen wagte… Sie rufen jetzt ihre Reserven auf.« Vec schenkte sich Kaffee ein. »Ich bin besonders daran interessiert, die Schlagkraft der Mark-IV-Blatchats gegen ihre neuen Gladius Rams zu beobachten. Ich glaube, wir haben die größere Feuerkraft.« Koltig sah auf. »Das ist richtig. Die Blatchats sind unsere ganz speziellen Prunkstücke… Aber machen Sie lieber den Mittelspersonen noch einmal nachdrücklich klar, daß individuelle Aktionen nicht gestattet sind; keine Nahkämpfe. Wir haben eine riesige, überwältigende Überlegenheit an äußerst genauen Maschinen; das ist sehr wichtig. Keine Heldentaten. Machen Sie Ihnen klar, daß wir durch unsere beispiellose Stärke und unser präzises Zusammenspiel gewinnen werden. Wir können uns nicht erlauben, diesen Vorteil durch persönliche Effekthascherei zu verspielen.« Vec erhob sich. »Das werde ich nachdrücklich erklären.« Er schwieg eine Weile. »Noch etwas: Abel Ruan sollte doch ganz besondere Helme für uns vorbereiten. Ist er schon angekommen?« »Ich glaube, er ist im Bau C. Schicken Sie lieber eine Ordonnanz; sie soll nachsehen. Es wird allmählich Zeit. Noch zweiundzwanzig Minuten.«
Zoltan Vec hielt seine Warnrede vor der seufzenden Gruppe der Mittelspersonen und kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück. Die Ordonnanz, die er nach Abel Ruan ausgesandt hatte, salutierte. »Abel Ruan möchte, daß Sie zum Bau C kommen, um Ihren Helm entgegenzunehmen, Sir.« »Sehr schön«, antwortete Vec. »Sagen Sie den Technikern, sie sollen den Bildschirm noch einmal nachprüfen.« »Jawohl, Sir.« Vec traf Marschall Koltig im Bau C, als er gerade einen hohen Helm aufprobierte, den Abel Ruan mit einer Klammer an den Nervenstrang im Nacken anschloß. »Es wäre besser, den Helm nicht zu benutzen, solange der Kampf nicht in vollem Gang ist«, riet Abel Ruan im Ton eines Arztes, der einen Patienten über die Anwendung einer Salbe unterrichtet. »Das Gehirn ist von ganz besonderer Wirksamkeit, aber es muß auch schwerere Arbeit leisten als alle anderen. Sie sollten es deshalb nur benutzen, wenn es wirklich gebraucht wird.« »Ich verstehe«, antwortete Marschall Koltig. »Ich brauche also nur den Schalter zu betätigen, stimmt das?« »Richtig. Der Schalter regt das Gehirn an und weckt es aus einer Art Schlaf auf. Bei der Wahl der Person, mit der Sie sich gerade in Verbindung setzten wollen, brauchen Sie nur an die dem Namen entsprechende Farbe zu denken.« Er reichte ihm einen gedruckten Bogen. »Hier ist die Liste. General Vec ist, wie Sie sehen, hellblau. Sie, Herr Marschall, sind kastanienbraun. Wenn Sie also mit General Vec Verbindung aufnehmen wollen, dann brauchen Sie sich nur die Farbe vorzustellen. Das Gehirn wird alles übrige tun.« »Großartig, ganz großartig«, rief der Marschall. »Im Namen unseres Führers, des großen Butin, verspreche ich Ihnen reiche Belohnung!«
Abel Ruan schüttelte den langen schmalen Kopf, und die Brille auf seiner Nase glitzerte. »Nein, ich will keine Belohnung haben – mir genügt die Befriedigung, zu einem großen, historischen Ereignis beigetragen zu haben.« »Oh, ihr Wissenschaftler!« spöttelte der Marshall. »Unpraktische Idealisten!« Abel Ruan lachte sein breites, zähnefletschendes Lachen. »Hier, Herr General« – er wandte sich an Zoltan Vec – »ist Ihr Helm. Sie haben meine Instruktion an Marschall Koltig gehört? Daß Sie den Helm nur dann benutzen sollen, wenn es unbedingt nötig ist?« General Vec nickte und setzte schneidig den Helm auf. Er war noch nicht recht an den Gebrauch dieses zusätzlichen Gehirns gewöhnt. Mit grimmiger Entschlossenheit stellte er die Verbindung zum Nervenstrang in seinem Nacken her. »Nun«, sagte Abel Ruan, »sind Sie ausgezeichnet gerüstet.« Marschall Koltig warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen. Vor neun Minuten sind die Bomber aufgestiegen. In einer halben Stunde werden sie über dem Territorium der Föderierten sein.« Eine Ordonnanz trat ein. »Der Kontakt ist hergestellt, Sir. Feindberührung über Blorland durch Kampfgeschwader 819.« »Resultate?« schnarrte Marschall Koltig. »Kein Bericht, Sir.« »819«, murmelte Koltig. »Das ist Flug 14.« Er wählte 14 auf einer Schalttafel und wurde sofort mit der Mittelsperson verbunden, die für das betreffende Geschwader zuständig war. »14.« »Wie läuft die Geschichte?« »F-S 819 ist auf zwölf Gladius Rams in 27000 Meter Höhe getroffen, Sir. Sie versuchen, unsere Formation zu sprengen, aber es ist ihnen bisher nicht gelungen. Wir haben drei – jetzt vier – ohne eigene Verluste heruntergeholt.«
»Gut so«, sagte Koltig. »Weitermachen.« Eine Anzahl weiterer Feindberührungen wurde gemeldet, einzelne Geplänkel, ein paar Erkundungsvorstöße. »Sieht so aus, als hätten sie irgendwo über Ladomir auf uns gewartet«, sagte Koltig und stand auf. »Schön. Vec, ich glaube, wir sollten jetzt besser unsere Plätze einnehmen.« Sie betraten den von allerlei Geräuschen erfüllten Raum und nahmen ihre Plätze auf der Estrade ein. Der Bildschirm über ihnen war nun in Tätigkeit. Er zeigte die Grenzen von Blorland-Ladomir; in einer Ecke erkannte man den Rand des Nordmeeres. Ein flaches, schwarzes Dreieck, das langsam über die Karte kroch, zeigte die Formationen der Bomber von Moltroy, der großen Schiffe in strategischer Position. Hatten erst einmal einige dieser schlagkräftigen Schiffe die feindliche Verteidigungslinie durchbrochen, mußte sich der Gegner ergeben oder zusehen, wie sein Volk in schmelzenden Klumpen und heißen Gasen unterging. Ein schwacher grauer Schatten zeigte die unterstützenden Kampfformationen an, und an den Außenrändern meldeten farbige Punkte Feindberührung mit den zur Verteidigung der Weltföderation aufgestiegenen Flugzeugen. Weit unten schwamm über der Glimmerküste ein blauer Schatten – unbestimmbar, denn seine Bestandteile waren noch nicht zu erkennen –, die Angriffsstreitkräfte der Weltföderation. Und ganz unten am Bildschirm zeichnen sich auf der Karte einige Verluste ab; hier sahen sich neun MoltroyBlatchats fünfzehn Gladius Rams der Föderierten gegenüber. Koltig warf einen Blick auf die zweihundert Mittelspersonen; jeder einzelne der Männer saß blaß, konzentriert, mit halb geschlossenen Augen auf seinem Platz, und die Gedanken der Flugkapitäne schwangen zu den Gehirnen in den Helmen und auf diesem Weg zu den menschlichen Gehirnen.
»Jetzt ist es soweit«, sagte Vec, »jetzt kommt ihre Hauptstreitmacht.« Eine rote Linie zuckte über den Bildschirm – es war die Kampffront. Koltig rannte zu seinem Tisch und machte dem Bildschirmoperateur heftige Zeichen. Die Karte wurde größer, bis das Kampfgebiet den ganzen Bildschirm einnahm und das schwarze Dreieck der Bomber sich in seine einzelnen Elemente auflöste. »Sie brechen bei 98 durch, Sir«, stellte Vec fest. Koltig schrie: »Raketenschwadronen 12, 13 und 14 nach 98!« Seine Stimme dröhnte durch die Halle, die Mittelspersonen hielten die Verbindung mit den in Bewegung geratenen Flugverbänden, denen sie die Befehle übermittelten, die Flugkapitäne schwenkten ab, und eine Minute später war die Einbruchstelle abgeriegelt. Die Verlustliste am Fuß des Bildschirms arbeitete mit Hochdruck, aber viel, viel schneller auf der Seite der Föderierten. »Die Blatchats drängen sie hinaus!« schrie Vec, als das Bomberdreieck, dessen Bewegung sich für einen Augenblick verlangsamt hatte, nach vorn schoß. Aber wenig später beobachteten sie, daß die Spitze des Dreiecks rot aufglühte und dann verschwand. »Bei unserem großen Butin«, rief der Marschall, vor Schreck versteinert, »was ist passiert?« »2 – wiederholen!« schrie Vec den Integratoren zu. »Ein neuer Raketentyp, Sir. Offensichtlich Tauchbombe. Geschätzte Geschwindigkeit siebentausendfünfhundert Kilometer pro Stunde.« »Zusehen, daß ihr die schweren Spürhunde über die Flotte bekommt! Kontakt aufnehmen, sobald sie hereinkommen!« Der Befehl schoß über die riesige Entfernung in einen kleinen Ausschnitt der Windrose und deckte die Bomber mit einem präzisen Rahmen von Abwehrfeuer ein.
»Zweiter Raketenangriff abgeschlagen, Sir.« »Gut, gut!« Koltig klatschte in die Hände. »Vec, soweit ist alles gut! Wir gewinnen!« Plötzlich spürte er das Gewicht auf seinem Kopf, den Helm, den er in der Aufregung des Kampfes völlig vergessen hatte. »Vec, wir haben doch unsere Helme. Wir können doch alles selbst sehen.« »Natürlich«, antwortete Vec. Alle im Saal waren von irrer Angst gepackt. Die Mittelspersonen sprangen von den Sitzen auf, rannten kreischend herum, duckten sich in den Ecken zusammen, verließen fluchtartig den Raum. Koltig und Vec standen dabei und beobachteten hingerissen dieses fast traumhafte Wunder; sie waren nicht einmal mehr fähig, Entsetzen zu verspüren. An der Front schrien die Flugkapitäne, wedelten und flatterten mit den Armen und stoben in alle Richtungen auseinander, wohin ihre Füße sie nur zu tragen vermochten. Im Bruchteil einer Sekunde wurde die ganze Streitmacht von Moltroy zu einem sinnlosen, zügellosen Haufen kostspieliger Maschinen. Edvard Schmid bremste den Wagen und starrte ungläubig auf den Mann im Weingarten, einen mageren, unscheinbaren Mann in einem ausgeblichenen, blauen Overall, einen Mann mit schmalem, kahlem Kopf und dünnlippigem Mund mit starken Zähnen. Schmid sprang aus dem Wagen. »Abel – daß ich Sie ausgerechnet hier finde!« Ruan blickte auf; er schien gar nicht überrascht zu sein. Seine einzige Reaktion bestand darin, daß er die Augen ein wenig zusammenkniff. »Wie geht es Ihnen, Edvard?« fragte er. »Gut, natürlich! Aber Sie… – « Edvard Schmid zeigte auf den Weingarten.
»Das Land hier gehört mir«, antwortete Abel kurz angebunden. »Ich lebe jetzt hier, auf der anderen Seite des Hügels.« »Aber diese Abgeschiedenheit – Sie sind doch noch ein junger Mann!« Ruan seufzte und steckte die Baumschere in die Tasche. »Mein lieber Edvard, Sie lesen anscheinend keine Zeitungen.« »Was soll das alles bedeuten?« fragte Schmid. »Was stört Sie an den Zeitungen?« Ruan biß sich auf die Lippen und knurrte höhnisch. »Mein lieber Freund, heute werden der große Führer Butin ebenso wie Marschall Koltig und Ihr alter Bekannter, der General Vec, gehängt… Und wäre nicht – sagen wir mal – meine Anonymität, dann würde Abel Ruan neben ihnen hängen. Der verrückte Wissenschaftler! Der Oberteufel der Elektronen! Knüpft ihn auf!« Schmid wurde plötzlich sehr ernst. In seiner Überraschung hatte er ganz vergessen, wie allgemein bekannt die Tatsache von Ruans Zusammenarbeit mit den Despoten von Moltroy war. »Nun ja – möglich. Natürlich, Butin und die anderen – schließlich haben sie ja das Ganze ausgeheckt…« Ruan schaute verbittert an dem alten Mann vorbei. »Also hängen? Wenn doch eine ganz einfache Therapie sie völlig umkrempeln würde? Nein, der menschliche Blutdurst verlangt nach Rache. Rache an dem armen Abel Ruan, genauso wie an Butin, dem großen Führer… Rache ist stolz.« »Nun gut, aber was ist mit Ihnen?« fragte Schmid vorsichtig. »Glauben Sie, daß eine Therapie wirklich eine angemessene Sühne wäre für Ihren Anteil an den Verbrechen von Moltroy?« Abel Ruan lachte schallend, und es war nicht zu überhören, daß sein Gelächter deutlich amüsiert klang.
»Edvard, ich glaube, es ist dringend nötig, Ihre Illusionen gründlich zu zerstören. Sie haben keine Ahnung davon, daß es nur ›meiner‹ Arbeit, ›meinem‹ Plan und dem Risiko, das ›ich‹ auf mich nahm, zu verdanken ist, wenn heute Butin gehängt wird an Stelle der Mitglieder des Weltrates!« »Mir scheint«, bemerkte Schmid kühl, »daß Sie sich damals außerordentlich angestrengt haben, Moltroy zu helfen.« »Und wie, glauben Sie, ist der recht bemerkenswerte Sieg der Föderierten zu erklären, wenn doch Moltroy an sämtlichen Punkten im Vormarsch war?« »Nun ja, die Ursache war natürlich der Zusammenbruch Ihres ganzen telepathischen Systems.« »Bah!« Ruan bleckte die Zähne, und die Brille auf seinem Nasenrücken blitzte im Sonnenlicht. »Das telepathische System hat ganz ausgezeichnet funktioniert, vom ersten bis zum letzten Augenblick, und genauso, wie ich es geplant hatte.« »Vielleicht wäre es klüger, Sie würden mir das erklären.« Ruan lächelte. »Weshalb nicht? Vom ersten Augenblick an, als dieser Moltroygeneral das Institut betrat, war es doch offensichtlich, daß die Telepathie für den Nachrichtendienst im Kriegsfall gebraucht wurde, das war einerseits die Idee und andererseits ein Fonds, um diese Idee zu entwickeln. Jeder der tausend Moltroywissenschaftler hätte das genausogut tun können wie ich. Aber ich habe Ihnen ja schon einmal gesagt, daß ich es für nötig hielt, bei diesem Projekt zu bleiben, die Leitung zu übernehmen, es zu kontrollieren. Also arbeitete ich für die Armee von Moltroy – genauso wie Sie auch.« Schmid blinzelte. »Ich… ich habe nichts zu ihren Kriegsvorbereitungen beigetragen.« »Sie haben ihnen sehr wenig Abbruch getan. Na schön, um weiterzufahren: Wie Sie wissen, benutzten wir von Anfang an die Gehirne von Amseln, denn sie schienen ganz besonders
geeignet zu sein für telepathische Kontakte. Selbst wenn diese Gehirne durch Zuchtwahl verfeinert wurden, fast bis zum Leistungsumfang eines menschlichen Gehirns, so hatten sie doch den Instinkt einer Amsel… Ich baute also ganz geheim einige besondere Helme und richtete es so ein, daß sie genau im kritischen Moment benutzt wurden. Die Helme auf den Köpfen von Marschall Koltig und General Vec haben den Krieg für die Weltföderation gewonnen.« »Aber was war denn so bemerkenswert an diesen Helmen?« Abel Ruan lächelte, und seine großen Zähne blitzten. »Sie enthielten das Gehirn eines Sperlingsfalken.« Schmid starrte ihn fassungslos an. »In dem Augenblick, als die Amselgehirne das Gehirn des Sperlingsfalken ausmachten, reagierten sie auf die gleiche Art, wie vierhundert Amseln auf einem Feld reagieren würden, über dem ein Sperlingsfalke erscheint, mit Panik.« »Abel, das ist kaum zu glauben«, gab Schmid erst nach einer Weile zu Antwort. Ruan zuckte die Achseln. »Ich jedenfalls glaube es!« fuhr Edvard Schmid fort. »Entschuldigen Sie, daß ich an Ihnen gezweifelt habe. Ich bestehe darauf, daß Sie mich nach Varly begleiten und die Anerkennung in Empfang nehmen, die Ihnen zukommt.« Ruan schüttelte den Kopf. »In den Sonntagszeitungen würde man mich nur als ›Amselhelden‹ bezeichnen. Außerdem muß ich meinen Weinberg bestellen.« »Abel«, fragte Schmid, »Sie haben einmal zu Zoltan Vec gesagt, daß Sie ein von Neugier besessener Mensch seien. Sind Sie noch immer neugierig?« »Das bin ich wirklich noch immer. Mich interessiert die Natur des Tieres, das große Musikwerke schafft, die Atomkraft und eine vereinigte Welt, und das trotzdem seine alten Feinde hängt.«
»Diese Neugier könnte im neuen Nationalinstitut von Suarede gefördert werden. Ein Lehrstuhl, ein gutes Gehalt und dazu genügend Zeit für den Weinberg.« Abel Ruan breitete seine langen, dünnen Arme aus. »Sie haben recht. Ich werde mittun.« Sie stiegen miteinander in Schmids Wagen und fuhren in Richtung Varly davon.
Originaltitel: FOUR HUNDRED BLACKBIRDS Copyright © 1953 by King-Size Publications, Inc. Übersetzt von Leni Sobez
Robert Bloch Die alten Meister
Bericht der Dorothy Laritzky Wirklich, ich möchte am liebsten sterben. So wie George sich benimmt, könnte man glauben, es sei alles meine Schuld. Man könnte meinen, er habe den Burschen nicht einmal gesehen. Man könnte meinen, ich hätte sein Auto gestohlen. Nicht nur einmal hab’ ich’s ihm erzählt – hundertmal, und der Polizei auch. Aber was gibt es eigentlich zu erzählen? Er war einfach da. Natürlich klingt es unglaublich. Das weiß ich inzwischen auch. Mein Gott, ich wünschte, ich wäre Sonntag zu Hause geblieben. Ich wünschte, ich hätte gesagt, daß ich schon verabredet sei, ich hätte mich zu einer Veranstaltung führen lassen, statt an diesen alten Strand. Er und sein Sportwagen! Außerdem bleibt man an diesen Ledersitzen kleben, wenn es heiß ist. Aber man hätte mich sehen sollen, als er Sonntag vorbeikam, wie ich mich gefühlt habe! Man hätte glauben können, er würde mich nach Florida oder sonst wohin bringen, so wie ich mich benahm. Ich hatte gerade den neuen Badeanzug bei Sterns gekauft. Und ich sprühte schnell noch etwas Blonda Spray auf mein Haar. George, das ist der Bursche, der damit begann, mich »Blondie« zu rufen, und jetzt nennen mich schon alle so im Büro. Er kam also gegen vier bei mir vorbei und holte mich ab. Es war immer noch ziemlich heiß, und er kam im offenen
Sportwagen. Ich glaube, er hatte ihn gerade vorher gewaschen. Er sah einfach toll aus, und George sagte: »Blondie, er paßt genau zu deinem Haar, nicht wahr?« Zuerst fuhren wir am Park entlang und dann über den Zubringer zur Stadt hinaus. Aber der Verkehr, einfach furchtbar! Ein Auto hinter dem anderen. Deshalb schlug George vor, erst nach dem Abendessen an den Strand zu gehen. Mir war es recht, und so fuhren wir zu Luigis – das ist ein Strandrestaurant weiter im Süden am Highway. Es ist ziemlich teuer, und dort gibt es diese großen Menüs mit Schildkröten und Muscheln. Ich aß ein Stück Rindfleisch mit Pommes frites, und George – ich weiß nicht mehr, doch ja –, er aß ein Hühnchen. Vor dem Essen haben wir ein wenig getrunken und danach im Wagen noch ein wenig. Wir fuhren gemütlich am Strand auf und ab und warteten, bis es dunkel wurde, um dann schwimmen zu gehen. Nun, ich war in recht fröhlicher Stimmung. Nicht daß ich nicht wußte, warum George mir soviel zu trinken gab. Er nahm noch eine Pulle mit. Wir fuhren in die herrliche Mondnacht und begannen übermütig zu singen. Ich fühlte mich pudelwohl. Dann schlug er vor, nicht an den öffentlichen Strand zu gehen – er wüßte einen viel besseren Badeplatz. Es war eine kleine Bucht. Man konnte gut neben der Seitenstraße parken und zum Ufersand hinuntergehen. Der Ausblick zum Meer war herrlich. Nur war das nicht der Grund, warum George diese Stelle ausgesucht hatte. Er war nicht daran interessiert, das Meer zu bewundern. Als erstes breitete er seine große Badedecke aus, und als nächstes öffnete er seine Flasche Whisky; dann fing er an, mit mir herumzunecken.
Nichts Ernsthaftes, natürlich, bloß herumnecken. Nun, er sieht gar nicht so schlecht aus, auch mit der eingeschlagenen Nase nicht. Wir widmeten uns dem Whisky, und es war sogar ein wenig romantisch mit dem Mond und so. Erst als George zudringlicher wurde, mußte ich ihn zur Vernunft bringen. Und ich mußte ihm sogar eine ‘runterhauen, damit er endlich merkte, daß ich keinen Spaß verstand. »Hör auf damit«, sagte ich. »Schau, was du gemacht hast! Du hast meinen Badeanzug eingerissen.« »Laß doch, ich kauf dir einen neuen«, sagte er. »Komm her, Baby.« Er packte mich am Arm, und diesmal schlug ich kräftiger zu. Einen Augenblick glaubte ich, jetzt würde er böse werden. Aber sicher hatte er zu viel getrunken, denn er fing nur an zu schwatzen. Wie sehr es ihm leid täte, und er wüßte, daß ich keine von dieser Sorte sei, aber er fände mich einfach toll und sei verrückt auf mich. Ich mußte fast lachen. Es ist so lustig, wenn sie damit anfangen. Doch fand ich es klüger, die Eingeschnappte zu spielen. So gab ich mich gekränkt, als sei ich noch niemals in meinem Leben so beleidigt worden. Dann meinte er, wir sollten noch einen trinken, um das Ganze zu vergessen. Aber die Flasche war leer. Er sagte, er könne zur Straße laufen und noch etwas besorgen. Oder wir könnten auch beide in ein Lokal gehen, wenn ich Lust dazu hätte. »Dazu habe ich keine Lust mehr«, sagte ich. »Wenn du noch was willst, mußt du es holen.« Das wollte er tun. Er sagte, er werde in fünf Minuten zurücksein. Dann fuhr er los. Deshalb war ich auch allein, als es geschah. Ich saß auf der Decke und blickte aufs Meer hinaus, als ich sah, wie sich etwas bewegte. Zuerst sah es wie ein Balken oder
so ähnlich aus. Aber es kam immer näher. Dann konnte ich erkennen, daß jemand ziemlich schnell herangeschwommen kam. Ich schaute also gespannt hinaus und stellte bald fest, daß es ein Mann war, der auf das Ufer zuschwamm. Dann war er so nah, daß ich sehen konnte, wie er sich aufrichtete und herauswatete. Er war groß, sehr groß, wie einer von diesen Basketballspielern, nur nicht etwa dürr oder so. Du meine Güte, er trug keine Badehose oder sonst etwas! Nichts! Tja, was hätte ich da tun sollen? Ich hoffte, er würde mich nicht sehen, denn ich konnte schließlich nicht durch die einsame Gegend laufen und mir den Hals wundschreien. Es hätte mich auch sowieso niemand gehört, denn ich war ganz allein am Strand. Ich blieb also sitzen und wartete, bis er herauskam und den Strand betrat. Aber er ging nicht fort. Er kam sogar direkt auf mich zu. Man stelle sich das vor: Hier saß ich, und dort war er – tropfnaß und ohne Badehose! Aber er begrüßte mich so ungezwungen, als sei alles in bester Ordnung. Er sah verträumt aus und lächelte. »Guten Abend«, sagte er. »Können Sie mir sagen, wo ich mich hier befinde, Miss?« Wie der redet! dachte ich. Ich sagte ihm also, wo wir wären. Er nickte, und dann bemerkte er, wie ich ihn anstarrte. Er fragte: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihre Decke zu leihen?« Was hätte ich tun sollen? Ich stand auf und gab ihm die Decke. Er wickelte sie um die Hüften. Dabei fiel mir zum erstenmal auf, daß er diese Tasche in der Hand hielt. Sie schien aus Plastik zu sein. Man sah nicht, was darin war. »Was ist mit Ihrer Badehose?« fragte ich. »Badehose?«
Man hätte glauben können, er habe das Wort noch nie gehört, so wie er fragte. Dann lächelte er wieder. »Tut mir leid. Ich muß sie wohl verloren haben.« »Woher kommen Sie denn gerade?« fragte ich. »Haben Sie ein Boot draußen?« Er war schön braungebrannt und sah wie einer jener Burschen aus, die ständig am Ankerplatz der Jachten herumlungern. »Ja. Woher wissen Sie das?« fragt er. »Woher sollen Sie denn sonst kommen?« antwortete ich. »Das liegt doch nahe!« »Sie haben recht«, sagte er. Mein Blick fiel auf seine Tasche. »Was haben Sie da drin?« fragte ich. Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber er kam nicht dazu, denn plötzlich tauchte George wieder auf. Ich hatte keine Scheinwerfer bemerkt und auch das Bremsen des Wagens nicht gehört. Er stand plötzlich vor mir und schwang eine Flasche in der Hand. »Was, zum Teufel, ist hier los?« brüllte er. »Nichts«, sagte ich. »Wer, zum Teufel, ist dieser Bursche? Wo ist er hergekommen?« »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle«, sagte der Fremde. »Ich heiße John Smith, und…« »John Smith, John Smith!« schrie George. Er war wütend. »Okay. Dann mal los. Was wird hier gespielt, ihr zwei, he?« »Hier wird nichts gespielt«, sagte ich. »Dieser Mann hat seine Badehose verloren. Deshalb lieh er sich die Decke von mir. Er hat ein Boot draußen und…« »Wo? Wo ist das Boot? Ich sehe kein Boot.« Ja, es stimmte. Auch ich sah nichts von einem Boot. Aber George wartete auf keine Antwort.
»Sie da! Geben Sie sofort die Decke wieder her und verschwinden Sie!« »Er kann nicht«, sagte ich. »Er hat doch keine Badehose an!« George stand mit offenem Mund da. Dann drohte er mit der Flasche. »Also gut, Mann. Sie kommen mit!« Er warf mir einen bedeutsamen Blick zu. »Weiß du, was ich glaube! Dieser Bursche ist ein Ganove. Er könnte sogar einer dieser Spione sein, die der Gegner in Unterseebooten herüberschickt.« Das ist typisch George! Seit die Zeitungen voll sind von diesem Kriegsgeschrei, sieht er überall Spione. »Reden Sie schon«, sagte er. »Was ist in der Tasche?« Der Fremde schaute ihn nur an und lächelte, sagte aber nichts. »Okay, Sie wollen es also auf die rauhe Tour! Mir soll’s recht sein. Gehen sie rüber zum Wagen. Wir machen eine kleine Fahrt zur Polizei. Bißchen dalli, bevor ich ungemütlich werde.« George hob die Flasche. Der andere zuckte die Achseln und schaute George an. »Sie haben ein Auto?« fragte er. »Natürlich, oder sehe ich aus wie Paul Revere oder sonst etwas?« »Paul Revere? Lebt er noch?« Der Bursche machte sich über ihn lustig, aber George bemerkte es nicht. »Halten Sie den Mund und gehen Sie schon«, sagte er. »Der Wagen ist gleich dort drüben.« Der Bursche sah zum Auto hinüber. Dann nickte er vor sich hin und blickte George an. Weiter machte er nichts. Meine Güte. Er blickte ihn nur an. Er machte keine dieser komischen Handbewegungen, und er sagte kein Wort. Er schaute nur und lächelte immer noch. Sein Gesicht änderte sich kein bißchen.
Doch George – Georges Gesicht änderte sich. Es war wie eingefroren. Ich meine damit, seine Hände waren wie gelähmt, und die Flasche fiel herab und zersprang. Ich öffnete den Mund, aber der Bursche sah kurz zu mir herüber, und da sagte ich lieber nichts. Ganz plötzlich wurde mir kalt. Ich wußte nicht, was geschehen würde, wenn er mich noch länger anstarrte. Ich stand also schweigend da, und dieser Bursche trat an George heran und begann, ihn zu entkleiden. Es war kein Entkleiden im üblichen Sinn, denn George stand da wie eine dieser Schaufensterpuppen, die man in den Auslagen der Geschäfte sieht. Dann zog der Fremde sich die Kleider selbst an und wickelte George in die Decke. Ich sah, daß er dabei die Plastiktasche in der einen und Georges Autoschlüssel in der anderen Hand hielt. Ich wollte laut aufschreien, aber der Bursche blickte mich wieder an, und da konnte ich es einfach nicht. Ich war nicht steif wie George oder gelähmt oder so ähnlich. Aber um alles auf der Welt hätte ich nicht schreien können. Und was hätte es auch genützt? Der Fremde schlenderte zu Georges Auto hinüber, stieg ein und fuhr davon. Er sagte kein Wort mehr, blickte sich auch nicht mehr um. Er fuhr einfach fort. Erst dann konnte ich schreien. Und ich schrie so laut ich konnte. Ich schrie immer noch, als George wieder zu sich kam. Ich glaubte, er würde nun einen Schlaganfall oder sonst etwas bekommen. Aber nichts davon. Tja, wir sind dann den ganzen Weg zurückgelaufen. Mehr als drei Meilen waren es bis zur Polizeistation. Dort mußte ich die ganze Geschichte immer wieder erzählen, mindestens ein dutzendmal. Die Cops notierten die Nummer von Georges Wagen, und sie suchen immer noch danach. Und dieser Sergeant glaubt, daß George möglicherweise recht hat mit
seiner Vermutung, der Kerl könne Agent einer fremden Macht gewesen sein. Aber er hat ja nicht gesehen, wie dieser Bursche George anstarrte. Jedesmal, wenn ich daran denken muß, möchte ich am liebsten sterben.
Bericht des Milo Fabian Ich hatte kaum die Vorhänge weggezogen, als er hereinkam. Natürlich dachte ich zuerst, er wolle etwas abliefern. Er trug eine dieser gräßlichen olivgrauen Hosen und eine von der Stange gekaufte Sportjacke. Auf dem Kopf hatte er eine jener Kappen, wie sie auch von Jockeys getragen werden. »Nun, was gibt’s?« fragte ich. Ich fürchte, ich sagte es ein wenig unfreundlich – um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte ziemlich schlechte Laune, seit Jerry mir gesagt hatte, er würde nach Cape Cod fahren, um dort an der Ausstellung teilzunehmen. Man hätte annehmen können, daß Jerry etwas mehr Rücksicht auf meine Gefühle genommen und mich eingeladen hätte, mitzukommen. Aber nein, ich mußte im Geschäft bleiben und die Galerie geöffnet halten. Doch eigentlich hatte ich keinen Grund, diesem Fremden gegenüber unwirsch zu sein. Er sah recht gut aus, als er erst diese idiotische Kappe abgenommen hatte. Er hatte schwarzes welliges Haar, und er war ziemlich groß, fast riesig. Ich fürchtete mich beinahe vor ihm, bis er mich anlächelte. »Mr. Warlock?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Aber dies ist doch die Warlock-Galerie, nicht wahr?« »Ja. Aber Mr. Warlock ist nicht in der Stadt. Ich heiße Fabian. Was wünschen Sie, bitte?« »Es ist eine recht heikle Sache.«
»Falls Sie etwas zu verkaufen haben, ich erledige die Einkäufe für die Galerie.« »Ich will nichts verkaufen. Ich will einige Gemälde kaufen.« »Ja, in diesem Fall kommen Sie doch bitte mit nach hinten, Mister…« »Smith«, sagte er. Wir gingen gemeinsam den Flur entlang. »Könnten Sie mir sagen, woran Sie denken?« sagte ich. »Wie Sie sicherlich wissen werden, haben wir uns auf moderne Künstler spezialisiert. Wir haben einen sehr guten Kandinsky und einen frühen Mondrian…« »Die Gemälde, die ich will, haben Sie nicht«, sagte er. »Dessen bin ich sicher.« Inzwischen waren wir in der Galerie angekommen. Ich blieb stehen. »An welche Maler denken Sie denn?« Er sah mich an und schwenkte seine dicke Plastiktasche. »Sie meinen, was für Gemälde? Nun, ich möchte ein oder zwei gute Rembrandts, einen Vermeer, einen Raffael, etwas von Tizian, einen van Gogh, einen El Greco, einen Breughel, einen Hals, einen Holbein. Dann einen Tintoretto, einen Goya und einen Gauguin.« Der Mann war wohl nicht ganz bei Trost. Ich fürchte, ich war ziemlich pikiert, und ich zeigte es auch. »Bitte!« sagte ich. »Ich habe noch viel zu arbeiten. Ich habe keine Zeit, um mich…« »Sie verstehen mich nicht«, sagte er. »Sie kaufen doch Bilder, oder nicht? Und ich möchte, daß Sie einige für mich besorgen; als mein Agent – so kann ich das doch nennen, nicht wahr?« »So können Sie es nennen«, antwortete ich. »Aber Sie meinen das doch sicher nicht ernst. Sie können sich doch etwa vorstellen, welche Kosten mit dem Kauf solch einer Sammlung verbunden wären? Das wären phantastische Summen!«
»Ich habe Geld«, sagte er. Wir standen in der Nähe der Kasse am Eingang, und er ging hinüber, setzte sich und stellte seine Tasche auf den Tisch. Dann öffnete er sie. Niemals, aber wirklich niemals habe ich solch einen phantastischen Anblick erlebt. Die Tasche war voller Banknoten, ein Bündel über dem anderen, und die Scheine waren entweder 5000- oder 10000-Dollar-Noten. Ich spaße nicht; seine riesige Tasche war mit solchen Banknoten vollgestopft. Ich hatte nicht mal eine einzige dieser Art vorher gesehen. Hätte er Zwanziger oder Hunderter gehabt, so hätte ich an Fälschungen geglaubt, doch niemand würde die Kühnheit besitzen, auch nur davon zu träumen, bei der Fälschung solch hoher Noten nicht innerhalb weniger Tage verhaftet zu werden. Sie sahen alle echt aus, und sie waren es auch. Das weiß ich, denn… Doch davon später. So stand ich da und starrte verwirrt auf diesen unwahrscheinlichen Haufen Geld, der vor mir lag, und dieser Mr. Smith, wie er sich nannte, sagte: »Nun, glauben Sie jetzt, daß ich genug Geld habe?« Ich hätte verrückt werden können! Ein völlig fremder Mann kommt mit zehn Millionen Dollar an, um Gemälde zu kaufen! Und mein Anteil an dem Auftrag betrüge fünf Prozent! »Ich weiß nicht recht«, sagte ich. »Meinen Sie das alles wirklich ernst?« »Hier ist das Geld. Wie schnell können Sie mir die Bilder besorgen?« »Bitte«, sagte ich. »All dies ist so ungewöhnlich, daß ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll. Haben Sie eine Liste der Gemälde, die Sie erstehen wollen?« »Ich kann Ihnen die Namen aufschreiben«, sagte er. »Ich habe fast alle im Kopf.«
Ich muß sagen, er wußte was er wollte. Velasquez, Gorgione, Cezanne, Degas, Utrillo, Monet, Toulouse-Lautrec, Delacroix, Ryder, Pissarro… Dann schrieb er die Namen der Bilder auf. Ich glaube, ich atmete schwer, als ich sie las. »Aber Sie können doch nicht ernstlich erwarten, die Mona Lisa zu bekommen!« »Warum nicht?« Er war völlig ernst. »Sie ist nicht verkäuflich, um keinen Preis!« »Das wußte ich nicht. Wer besitzt sie?« »Der Louvre. In Paris.« »Nein, das wußte ich wirklich nicht!« Er meinte es ernst, das kann ich beschwören. »Und was ist mit den anderen?« »Ich fürchte, viele dieser Gemälde fallen in dieselbe Kategorie. Sie sind unverkäuflich. Die meisten davon befinden sich in öffentlichen Galerien und Museen, hier oder im Ausland. Einige der von Ihnen gewünschten Werke sind im Besitz privater Sammler, die man niemals zum Verkauf bewegen könnte.« Er erhob sich und begann, das Geld wieder in seine Tasche zurückzustecken. Ich ergriff seinen Arm. »Aber wir würden natürlich unser bestes tun«, sagte ich. »Wir haben unsere Quellen, wir haben gute Verbindungen. Ich bin überzeugt, daß wir Ihnen zumindest einige der weniger repräsentativen Werke besorgen können. Das braucht natürlich Zeit.« Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Heute ist Dienstag, nicht wahr? Bis Sonntag abend muß ich alles haben.« Wer hat jemals etwas derart Lächerliches gehört? Der Mann starrte mich an. »Passen Sie auf«, sagte er. »Ich begreife allmählich, wie die Sache liegt. Die Bilder, die ich brauche, sind in der ganzen
Welt verstreut. In öffentlichen Museen und in Privatbesitz, und sie sind nicht verkäuflich. Ich darf wohl annehmen, daß das auch für Manuskripte gilt: die Gutenberg-Bibel oder die Erstausgaben von Shakespeare und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten…« Er starrte mich an. Ich wagte nur schwach zu nicken. »Wie viele der Sachen, die ich suche, sind hier?« fragte er. »Hier in diesem Land?« »Ein beträchtlicher Teil, gut über die Hälfte.« »Also gut. Machen Sie dies: Stellen Sie mir eine Liste auf. Schreiben Sie die Namen und den Standort der Gemälde auf, die ich Ihnen nannte. Ich zahle Ihnen 10000 Dollar für die Liste.« 10000 Dollar für eine Liste, die er in der Bücherei kostenlos bekommen hätte. 10000 Dollar für die Arbeit von weniger als einer Stunde! Ich machte ihm die Liste. Er gab mir sofort das Geld und ging. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Alles war so verrückt. Er kam und er ging, und hier stand ich und wußte nicht einmal seinen wirklichen Namen oder seine Herkunft. Diese exzentrischen Millionäre! Er ging, und ich stand da mit 10000 Dollar in der Hand. Nun, ich bin keiner von den Leuten, die unüberlegt handeln. Er war kaum drei Minuten fort, als ich den Laden abschloß und zur Bank hinüberging. Dann nahm ich den Weg zurück zur Galerie. Plötzlich aber sagte ich mir: Wozu eigentlich? Ich brauchte doch gar nicht mehr zurückzugehen. Dies war mein Geld, nicht Jerrys. Ich ganz allein hatte es verdient. Und was Jerry betraf, er konnte ruhig in Cape Cod bleiben und versauern. Ich brauchte seinen dummen Job nicht mehr. Ich kaufte mir sofort eine Flugkarte nach Paris.
Natürlich wird Jerry vor Wut rasen, wenn er es erfährt. Soll er! Und er soll sich auch einen neuen Laufburschen besorgen!
Bericht des Nick Krauss Ich war todmüde. Seit Dienstag abend war ich an der Arbeit, und heute haben wir Sonnabend. Das geht gehörig an die Nerven! Aber ich wollte nichts riskieren in diesem Geschäft, ich nicht; denn dies war der große Coup. Der gewinnträchtigste Coup, den es je gab. Natürlich habe ich von der Sache mit Brink gehört. Ich kann mir sogar denken, wer dabei die Finger im Spiel hatte. Aber das war ein kleiner Fisch und nahm mehr als ein Jahr in Anspruch. Diese Sache jedoch übertraf alles. Sechs Millionen Dollar in bar. In vier Tagen. Ja, ich sage sechs Millionen Dollar in vier Tagen! So ist es, Freunde! Und wer hat’s gemacht? Ich. Ja, ich. Aber eins muß ich sagen: Ich hab das Zeug verdient. Jeden lausigen Cent davon. Natürlich mußte ich eine Menge an Mittelsmänner abgeben, und die Ausgaben waren ganz schön hoch! Fast eineinhalb Millionen kostete es, um die Sache überhaupt ins Rollen zu bringen. Viereinhalb Millionen blieben also übrig. Viereinhalb Millionen – und ich war auf dem Weg zur Jacht, um sie abzuholen. Ich hatte das ganze verdammte Zeug im Wagen. Hundertundvierzig Stück, einige davon ziemlich schwer. Aber ich duldete niemand beim Entladen. Dies war Dynamit. Nur zwei Meilen vom Lagerhaus, wo ich alles gesammelt hatte, lag die Jacht. Die längsten zwei Meilen, die ich je gefahren bin.
Sicher, ich hatte ein Lagerhaus. Ja, zum Teufel, ich hab’s gekauft. Hab auch die Jacht für ihn gekauft. Bar bezahlt. Wenn man sechs Millionen in bar zur Verfügung hat, geht man kein Risiko ein. Waren sowieso eine Menge Risiken dabei. Bei so schneller Arbeit, mußte ich einiges riskieren. Wie ich durch die Löcher geschlüpft bin? Das Geld hat geholfen. Gib irgendeinem Burschen zwei, drei Dollar, und er läuft für dich. Gib ihm zwanzig oder dreißig, und er ist dir sicher. Es waren Leute dabei, die keiner Gang angehören, Leute, die sonst nicht die kleinste krumme Tour machen. Ich habe Aufseher bestochen und Polizisten. Ich hab sogar einige Museumsdirektoren bestochen. Aber ich weiß immer noch nicht, was dieser Vogel mit all dem Zeug will. Ich vermute, daß er einer dieser indischen Radschas war. Aber er sah nicht aus wie ein Hindu – er war ein kräftiger, großer Bursche. Er sprach auch nicht so. Doch wer sonst würde so viel Geld für einen Haufen alter Bilder und anderer Sachen ausgeben? Jedenfalls tauchte er Dienstag abend mit dieser Tasche auf. Wieso er gerade zu mir kam, wie er unten an Lefty vorbeikam, habe ich nie herausbekommen. Nun, er war da. Er fragte mich, ob es stimme, was er von mir gehört hätte, und er fragte mich, ob ich einen Job wolle. Er sagte, er hieße Smith. Man kennt ja das Gerede, mit dem diese Leute ihre Anonymität bewahren wollen. Doch das war mir egal; denn was der Bursche sagte, ist richtig: Geld hat seine eigene Sprache. Und es sprach allerhand am Dienstagabend. Er öffnete seine Tasche und schüttete zwei Millionen Dollar auf den Tisch. Meine Güte! Zwei Millionen Dollar! Bar! »Dies hier ist für Ausgaben«, sagte er. »Ich zahle weitere vier Millionen, wenn Sie mit mir zusammenarbeiten.«
Ich will es kurz machen. Wir einigten uns, und ich ging an die Arbeit. Am Mittwoch hatte er die Jacht, und dort blieb er die ganze Zeit über. Jeden Abend suchte ich ihn auf und berichtete ihm. Ich flog selbst nach Washington. Ich erledigte auch alles in New York und Philadelphia. Boston am Freitag. Alles weitere erledigte ich größtenteils per Telefon. Ich schickte meine Männer mit Aufträgen und Bargeld nach Detroit, Chicago, St. Louis und an die Westküste. Sie hatten ihre Listen, und sie wußten, wonach sie zu suchen hatten. Jede Gang, mit der ich mich in Verbindung setzte, arbeitete nach ihrem eigenen Plan. Ich bezahlte, was sie verlangten. Auf diese Weise machten sie mir keine unnötigen Schwierigkeiten. Sie hätten mir auch kaum welche machen können – wo hätten sie das Zeug wohl verkaufen sollen. Diese Dinge sind viel zu heiß, da läßt sich kaum auf eigene Rechnung arbeiten. Als der Donnerstag heranrückte, steckte ich bis zum Hals in Zeichnungen, Raumskizzen und Plänen der Fluchtwege. Sechs Leute machten sich an der Alarmanlage zu schaffen. Fünfzig arbeiteten in New York, die eigentlich Unbeteiligten gar nicht gerechnet. Man würde mir nicht glauben, wenn ich die Namen einiger Männer nennen würde, die uns halfen. Bekannte Professoren gaben uns Hinweise, andere zerschnitten Leitungen und ließen Türen unverschlossen. Das alles kann man für Geld haben. Natürlich stieß ich auch auf Schwierigkeiten. Eine ganze Menge sogar. In Los Angeles machten wir keinen Fang. Der Haken war nicht da, wo wir ihn vermuteten. Sie verloren die ganze Ladung beim Versuch, den Flugplatz zu passieren. Die vier Burschen wurden von der Polizei auf der Flucht erschossen, so daß keiner von ihnen mehr plaudern konnte. Insgesamt mußten etwa sieben oder acht Männer gefaßt worden sein; die vier in Los Angeles, zwei in Philadelphia,
einer in Detroit und einer in Chicago. Aber keiner hat gepfiffen. Die anderen, weil sie Angst hatten. Ich hatte überall meine Leute, die gewissermaßen mit der Überwachung beauftragt waren. Jedes einzelne Stück, das wir erbeuteten, wurde im Privatflugzeug eingeflogen. Direkt zum Lagerhaus gebracht. Ich hatte alles auf dem Lastwagen, als ich hinunterfuhr, um die Bezahlung entgegenzunehmen. Es dauerte zwei Stunden, bis ich das Zeug auf die Jacht transportiert hatte. Dieser Bursche, dieser Mr. Smith, befand sich während der ganzen Zeit an Bord und sah mir zu. Als ich fertig war, sagte ich: »Das sind die Werke. Sind Sie jetzt zufrieden, oder wollen Sie noch eine Quittung?« Er lächelte nicht; er schüttelte nur den Kopf. »Sie müssen sie noch öffnen.« »Sie öffnen? Dazu brauche ich mindestens zwei Stunden«, sagte ich. »Wir haben Zeit«, sagte er. »Die Hölle haben wir, Mister! Diese Ware ist heiß, und mir ist noch heißer. Mindestens hunderttausend Leute sind hinter dieser Beute her – haben Sie keine Zeitung gelesen oder Radio gehört? Das ganze Land ist in Aufruhr. Ich will weg von hier. Schleunigst!« Doch er wollte diese Kisten und Schachteln geöffnet haben. Also öffnete ich sie. Verdammt, ja, für vier Millionen Dollar kann man ruhig etwas Schwerarbeit verrichten. Auch wenn man todmüde ist. Es war nicht einfach, denn das Zeug war sehr sorgfältig verpackt. Damit es keine Beschädigung geben konnte. Keines der Bilder war gerahmt. Er breitete all die Leinwandstücke auf dem Boden aus und notierte jedes einzelne in seinem Notizbuch. Als ich das letzte dieser
verdammten Bilder herausgenommen und das ganze Verpackungsmaterial auf einen Haufen geworfen hatte, ging ich zu ihm in die vordere Kabine. »Was haben Sie denn vor?« fragte ich. »Wohin fahren Sie?« »Ich bringe alles auf mein Schiff«, erklärte er. »Sie haben doch nicht wirklich erwartet, daß ich mit diesem Kahn davonsegeln werde, oder doch? Ich werde Ihre Hilfe benötigen, um alles an Bord zu schaffen. Machen Sie sich keine Gedanken, es ist nicht weit von hier.« Er ließ die Motoren anspringen. Ich trat dicht hinter ihn und drückte ihm meine Spezial in die Rippen. »Wo ist das Bündel?« wollte ich wissen. »In der anderen Kabine auf dem Tisch.« Er sah sich nicht einmal um. »Sie haben keine Tricks vor, oder?« »Schauen Sie selbst nach.« Ich ging nachsehen. Es stimmte. Vier Millionen Dollar auf dem Tisch. 5000- und 10000Dollar-Scheine, und keine Blüten dabei. Dürfte nicht allzu leicht sein, sie in Umlauf zu bringen – die Bundespolizei würde von diesen großen Scheinen erfahren. Aber ich mußte das Geld ja nicht hier ausgeben. Es gibt viele Länder, wo sie solch große Scheine gern sehen und keine Fragen stellen. Südamerika und anderswo. Das machte mir keine großen Sorgen, solange ich wußte, daß ich jederzeit hinkommen konnte. Ich ging zur ersten Kabine zurück und hielt ihm wieder meine Spezial unter die Nase. »Fahren Sie weiter«, sagte ich. »Ich werde Ihnen helfen, aber sobald Sie einen faulen Trick versuchen, bekommen Sie eine Kugel.«
Er wußte, wer ich war. Er wußte, daß ich ernst machte mit meiner Drohung. Aber er blickte mich nicht einmal an – er widmete sich ausschließlich der Jacht. Wir hatten etwa vier Meilen zurückgelegt. Es war stockdunkel. Er hatte keine Positionslampen eingeschaltet, aber er wußte, wohin er wollte; denn irgendwann stoppte er auf einmal und sagte: »Hier wären wir.« Ich ging mit ihm aufs Deck, aber ich konnte nichts sehen. Nur die Lichter an der entfernten Küste und das Wasser um uns herum. Beim besten Willen konnte ich kein Boot oder Schiff ausmachen. »Wo ist es?« wollte ich wissen. »Wo ist was?« »Ihr Schiff?« »Da unten!« Er deutete aufs Wasser. »Was, zum Teufel, haben Sie ein Unterseeboot?« »So was Ähnliches, ja.« Er beugte sich über die Reling. Er hielt nichts in den Händen, er beugte sich nur hinüber. So wahr ich hier stehe: Plötzlich tauchte dieses verdammte Ding auf. Eine Art Silberkugel mit einem Deckel oben darauf. Aber diesen Deckel bemerkte ich erst, als er sich öffnete. Und das Ding trieb dicht neben uns, so daß er die Gangway ausfahren und auf dem Deckel befestigen konnte. »Kommen Sie her«, sagte er. »Ich werde Ihnen helfen. Es wird dann schnell gehen.« »Glauben Sie, daß ich die Ware über diese verdammte Planke tragen werde?« fragte ich. »In dieser Dunkelheit?« »Sie brauchen keine Angst zu haben, Sie können nicht hinunterfallen. Sie ist magnetisch verankert.« »Was, zum Teufel, soll das heißen?« »Ich zeige es Ihnen.«
Er marschierte über die Planke und kletterte in dieses Ding hinein, noch bevor ich dazu kam, ihn aufzuhalten. Die Planke bewegte sich keinen Millimeter. Dann kam er wieder hervor. »Na, kommen Sie schon, Sie brauchen keine Angst zu haben.« »Wer hat denn Angst?« In Wahrheit, ich hatte furchtbare Angst; denn jetzt wußte ich, wer er war. Ich hatte viel Zeitung gelesen in diesen Tagen, und ich wußte von diesem Agentengerede. Die Russen mit ihren neuen Waffen – ja, das war einer von ihren Leuten. Kein Wunder, daß er mit den Millionen nur so um sich warf. So nahm ich mir vor, meine patriotische Pflicht zu erfüllen. Sicher, ich würde ihm seine verdammten Bilder an Bord schaffen. Ich wollte einen Blick in das Innere dieses Unterseebootes werden. Aber wenn ich damit fertig war, würde ich seine Abfahrt verhindern. Ich würde ihn vorher unschädlich machen. Ich spielte also mit. Ich half ihm, das ganze Zeug ins Unterseeboot zu verladen. Doch dann kamen mir wieder andere Gedanken. Er war doch keiner von der gegnerischen Seite. Er war etwas, wovon ich noch niemals gehört hatte. Oder war er vielleicht ein Erfinder? Denn das Ding, das er da hatte, war völlig fremdartig. Es war ganz hohl mit einer sehr dünnen Wand außen ‘rum. Es war im Innern nicht genug Platz für einen Motor oder etwas Ähnliches. Gerade so viel, daß man die Waren unterbringen konnte und vielleicht noch für zwei oder drei Männer. Es gab auch kein elektrisches Licht darin, und dennoch war es hell. Taghell! Ich weiß, was ich sage – ich kenne Neon- und Leuchtstofflampen. Doch dies war etwas anderes. Etwas Neues.
Instrumente? Nun, da waren einige kleine Schlitze, aber sie waren unten im Boden. Man hätte sich daneben hinlegen müssen, um zu erkennen, wie sie funktionierten. Er beobachtete mich dauernd. Ich wollte nicht riskieren, daß er mich für neugierig hielt. Ich hatte Angst, weil er keine Angst hatte. Ich hatte Angst, weil ich nicht wußte, wer oder was er war. Ich hatte Angst, weil es keine Kugeln gibt, die auf dem Wasser schwimmen oder aus dem Wasser auftauchen, wenn man sie bloß anschaut. Weil er aus dem Nichts kam mit seinem Geld und in das Nichts gehen würde mit seinen Bildern. Das war alles so widersinnig, so verrückt. Nur eins war klar: Ich wollte weg von ihm. So schnell wie möglich weg. Vielleicht denkt ihr, ich bin verrückt, aber nur weil ihr noch nie in einer glänzenden Kugel wart, die auf dem Wasser schwimmt, ohne sich auch nur ein bißchen zu bewegen, wenn die Wellen dagegen klatschten, und die taghell erleuchtet ist, ohne irgendwelche Lampen zu haben. Ihr habt noch nie diesen Mr. Smith gesehen, der gar nicht Smith hieß und vielleicht nicht einmal ein Mister war. Sonst könntet ihr nämlich verstehen, warum ich so erleichtert war, wieder auf die Jacht zurückzukommen und in die Kabine zu gehen, um das Geld an mich zu nehmen. »Also dann«, sagte ich. »Fahren wir zurück.« »Sie können losfahren, wann Sie wollen«, sagte er. »Ich fahre jetzt auch.« »Sie fahren jetzt auch? Wie, zum Teufel, komme ich dann zurück?« schrie ich. »Nehmen Sie die Jacht«, sagte er. »Sie gehört Ihnen.« Genauso sagte er das. »Aber ich kann keine Jacht steuern, ich habe keine Ahnung.«
»Das ist ganz einfach. Hier ich erklär’s Ihnen. Ich hab’s selbst in weniger als einer Minute begriffen. Kommen Sie in die Kabine.« »Nicht nötig«, sagte ich. Ich hatte die Spezial in der Hand. »Sie bringen mich sofort zum Dock zurück.« »Tut mir leid. Ich habe keine Zeit. Ich muß losfahren, bevor…« »Sie haben mich verstanden«, sagte ich. »Fahren Sie los, mit dieser Jacht, und keine weiteren Ausflüchte – sonst müßte ich abdrücken.« »Bitte, Sie erschweren nur alles. Ich muß jetzt weg. Ich darf keine Zeit mehr verschwenden.« »Zuerst bringen Sie mich zurück. Dann können Sie zum Mars fahren oder wohin Sie wollen.« »Mars? Wer hat davon etwas ge…« Er grinste ein wenig und schüttelte den Kopf. Und dann blickte er mich an. Er blickte mir genau in die Augen. Er schaute in mich hinein. Seine Augen waren wie zwei dieser großen silbernen Kugeln, sie rollten auf mich zu, durch meine Augen und krachten gegen meinen Schädel. Sie kamen ganz langsam und schwer auf mich zu, und ich konnte ihnen nicht ausweichen. Ich fühlte sie kommen. Ich wußte, daß es aus mit mir sein würde, wenn sie mich trafen. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war wie betäubt, meine Glieder steif. Er lächelte nur und starrte mich an. Seine Augen kamen näher und näher… Dann wußte ich nichts mehr. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, daß ich den Drücker durchzog…
Bericht der Dr. med. Elizabeth Rafferty Sonntag früh um 9.30 Uhr läutete es bei mir. Ich erinnere mich an den genauen Zeitpunkt, denn ich hatte gerade gefrühstückt und das Radio eingeschaltet, um die Nachrichten zu hören. Es war wieder ein gegnerisches Schiff gefunden worden bei Charleston Harbor, mit atomarem Gerät an Bord. Die Küstenwache und die Air Force waren in Alarmbereitschaft, und es… Es läutete. Ich öffnete die Tür. Da stand er. Er mußte mindestens 1,90 Meter groß sein, denn ich mußte zu ihm aufblicken, um sein Lächeln zu sehen, doch das war es wert. »Ist der Arzt zu Hause?« fragte er. »Ich bin selbst Dr. Rafferty.« »Gut. Ich habe gehofft, Sie hier anzutreffen. Ich kam gerade die Straße entlang und wollte die Gelegenheit nützen, einen Arzt aufzusuchen. Ich bin nämlich verletzt.« »Das sehe ich.« Ich trat zurück. »Wollen Sie nicht hereinkommen? Ich lasse meine Patienten nicht gern vor der Tür verbluten.« Er warf einen Blick auf seinen rechten Arm. Er blutete wirklich. Das Loch in seinem Mantel und die Pulverspuren sagten mir auch, warum. »Hier hinein«, forderte ich ihn auf. Wir gingen in meine Praxis. »Wenn ich Ihnen beim Ablegen Ihres Mantels und Hemdes behilflich sein dürfte, Mister…« »Smith«, sagte er. »Natürlich. Hier auf den Tisch. Richtig. Vorsicht, lassen Sie mich das machen – so. Aha! Ein hübscher Kratzer, obere Muskeln, ‘rein und wieder ‘raus. Sieht aus, als hätten Sie Glück gehabt, Mr. Smith. Halten Sie jetzt still. Es wird ein wenig schmerzen. Gut! Und jetzt sterilisieren.«
Dabei beobachtete ich ihn gespannt. Er zuckte nicht mit der Wimper. Ich konnte mir kein rechtes Bild von ihm machen. Während der ganzen Behandlung sagte er kein Wort, sein Ausdruck blieb unverändert. Schließlich legte ich ihm einen Verband an. »Ihr Arm wird einige Tage steif bleiben. Ich rate Ihnen, sich nicht viel zu bewegen. Wie ist das passiert?« »Unfall.« »Mr. Smith, bitte…« Ich griff zum Federhalter und suchte ein Formular. »Wir sind doch keine Kinder. Sie wissen ebensogut wie ich, daß Ärzte über Schußwunden Meldung erstatten müssen.« »Das habe ich nicht gewußt.« Er kletterte vom Tisch. »Wer erhält diese Meldung?« »Die Polizei.« »Nein!« »Bitte, Mr. Smith! Das Gesetz zwingt mich…« »Nehmen Sie dies.« Mit seiner rechten Hand fischte er etwas aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Ich starrte es an. Nie zuvor hatte ich einen 5000-Dollar-Schein gesehen. Er war es wert, ihn anzustarren. »Ich gehe jetzt«, sagte er. »Und – ich bin eigentlich nie hier gewesen.« Ich zuckte die Schultern. »Wie Sie wünschen. Nur noch eins.« »Und das wäre?« Ich beugte mich ein wenig hinab und griff in die linke obere Schublade des Schreibtisches und zeigte ihm, was ich da aufbewahrte. »Das ist ein 022, Mr. Smith«, sagte ich. »Es ist eine Damenpistole. Ich habe sie noch nie benutzt, außer auf dem Schießstand. Ich täte es jetzt sehr ungern, aber ich warne Sie:
Wenn ich es tue, werden Sie Schwierigkeiten mit Ihrem rechten Arm bekommen. Als Ärztin verbinden sich meine Kenntnisse in Anatomie sehr gut mit dem Können eines Scharfschützen. Haben Sie mich verstanden?« »Ja, ich schon. Aber Sie nicht. Sie müssen mich gehen lassen. Es ist wichtig. Ich bin kein Verbrecher.« »Das hat niemand behauptet. Aber Sie werden einer sein, wenn Sie sich dem Gesetz widersetzen und sich weigern, meine Fragen für diese Meldung zu beantworten. Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden muß sie in den Händen der Behörden sein.« Er kicherte. »Die Behörden werden niemals ein Formular bekommen.« Ich atmete schwer. »Wir wollen uns doch nicht streiten. Aber greifen Sie nicht in Ihre Tasche.« Er lächelte mich an. »Ich habe keine Waffe. Ich wollte nur gerade Ihre Gebühr erhöhen.« Ein zweiter Schein flatterte auf den Tisch. Zehntausend Dollar. Fünftausend plus zehntausend macht fünfzehn. Ich addierte. »Tut mir leid«, sagte ich. »Das sieht zwar sehr verlockend aus für eine junge Ärztin, aber ich habe zufällig altmodische Vorstellungen von solchen Dingen. Außerdem bezweifle ich, ob mir das überhaupt jemand wechseln könnte, denn diese ganze Erregung und Unruhe in den Zeitungen…« Ich hielt plötzlich inne, als ich mich erinnerte. 5000- und 10000-Dollar-Scheine. Das paßte genau. Ich lächelte ihm zu. »Wo sind die Gemälde, Mr. Smith?« fragte ich. Jetzt atmete er schwer. »Bitte, stellen Sie keine Fragen. Ich will niemand weh tun. Ich will nur gehen, ehe es zu spät ist. Sie waren sehr nett zu mir. Ich danke Ihnen. Aber diese Meldung ist sinnlos, glauben Sie mir.«
»Ihnen glauben. Das ganze Land ist in Aufruhr und sucht nach gestohlenen Kunstwerken und nach geheimnisvollen Fremden! Vielleicht ist es nur weibliche Neugier, aber ich möchte es wissen.« Ich zielte sorgfältig. »Dies ist keine Konversation mehr, Mr. Smith. Entweder Sie sprechen oder ich schieße.« »Also gut. Aber es wird nichts nützen.« Er beugte sich vor. »Sie müssen mir glauben. Es wird nichts nützen. Ich könnte Ihnen die Gemälde zeigen, ja. Ich könnte Sie zu Ihnen bringen, ich könnte sie Ihnen schenken. Es würde kein bißchen helfen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würden sie so wertlos sein wie diese Meldung, die Sie machen wollten.« »Ach ja, die Meldung. Wir können also damit beginnen«, sagte ich. »Trotz Ihrer pessimistischen Ausführungen. So wie Sie sprechen, könnte man meinen, morgen würden hier die Bomben fallen.« »Sie werden«, sagte er. »Hier und überall.« »Sehr interessant.« Ich nahm die Pistole in die linke Hand und griff zum Federhalter. »Doch jetzt zum Geschäft. Ihr Name, bitte, Ihren wirklichen Namen.« »Kim Logan.« »Geburtsdatum?« »25. November 2903.« Ich hob die Pistole. »Ich schieße in den rechten Arm«, sagte ich. »Mittlerer Muskelkopf. Es wird sehr weh tun.« »25. November 2903«, wiederholte er. »Ich kam vorigen Sonntag hierher, gegen 22 Uhr Ihrer Zeit. Zum gleichen Zeitpunkt, etwa gegen 21 Uhr, werde ich heute nacht wieder weggehen. Es ist ein 169-Stunden-Lauf.« »Wovon sprechen Sie?« »Meine Maschine ist draußen in der Bucht. Die Bilder und Manuskripte sind auch dort. Ich hatte eigentlich vor, bis zu
meiner Abfahrt heute nacht untergetaucht zu bleiben, aber ein Mann hat mich angeschossen.« »Haben Sie Fieber?« fragte ich. »Oder Kopfschmerzen?« »Nein. Ich sagte doch, es würde nichts nützen, Ihnen alles zu erklären. Sie werden mir nicht glauben, sowenig Sie das mit den Bomben geglaubt haben.« »Bleiben wir bei den Tatsachen«, schlug ich vor. »Sie geben zu, die Bilder gestohlen zu haben. Warum?« »Wegen der Bomben, natürlich. Der Krieg fängt an, der große Krieg. Noch vor morgen früh werden eure Flugzeuge über die Grenzen des Gegners fliegen, und die gegnerischen Flugzeuge werden zurückschlagen. Das ist aber nur der Anfang. Es wird monatelang jahrelang dauern. Und das Ende Ruinen. Aber die Meisterwerke, die ich mitnehme, werden gerettet sein.« »Wodurch?« »Ich sagte es schon. Heute nacht um 21 Uhr werde ich in meine eigene Welt, in meine eigene Zeit zurückkehren.« Er hob die Hand. »Sagen Sie nicht, das sei unmöglich. Nach euren gegenwärtigen Erkenntnissen in der Physik kann das sein. Selbst in unseren Wissenschaften ist nur die Vorwärtsbewegung ein Begriff, der sich demonstrieren läßt. Als ich dem Institut meinen Vorschlag unterbreitete, war man skeptisch. Trotzdem bauten wir die Maschine nach meinen Angaben. Man gestattete mir, das Geld der Historischen Stiftung in Fort Knox zu benutzen. Ich erhielt bei meiner Abfahrt einen ironischen Segen. Ich kann mir vorstellen, daß mein tatsächliches Verschwinden Erstaunen hervorgerufen hat. Aber das wird gar kein Vergleich sein zu der Reaktion, die meine Rückkehr hervorrufen wird. Meine triumphale Rückkehr mit einer Ladung Kunstwerke, die angeblich vor nahezu tausend Jahren zerstört wurden!«
»Einen Moment, bitte«, sagte ich. »Also Ihrer Geschichte zufolge kamen Sie hierher, weil Sie wußten, daß der Krieg ausbrechen würde? Sie wollten aber einige alte Meister vor der Zerstörung bewahren. Verstehe ich Sie richtig?« »Genau. Es war wie in einem wilden Glücksspiel, aber ich hatte Geld. Ich habe diese Epoche so eingehend studiert, wie es mir nach den vorhandenen Aufzeichnungen möglich war. Ich habe die sprachlichen Eigenheiten Ihrer Zeit gelernt – es fällt Ihnen doch leicht, mich zu verstehen, oder? Ich habe einen Plan ausgearbeitet. Natürlich waren meine Bemühungen nicht völlig erfolgreich, aber ich habe dennoch viel erreicht – in weniger als einer Woche. Vielleicht kann ich noch einmal zurückkommen – früher – vielleicht ein Jahr weiter zurück in der Vergangenheit, um noch mehr zu retten.« Seine Augen leuchteten. »Warum auch nicht? Wir könnten noch mehr Zeitmaschinen bauen und in einer Gruppe kommen. Wir könnten dann alles bekommen, was wir wollten.« Ich schüttelte den Kopf. »Nur um des Arguments willen nehmen wir einmal an, ich glaubte Ihnen, was ich ja nicht tue. Sie haben einige Gemälde gestohlen, wie Sie sagen. Sie nehmen sie heute nacht zurück in Ihr Jahr 29-nochwas. Das haben Sie vor. Stimmt das?« »Das ist die Wahrheit.« »Sehr gut. Sie glauben also, Sie könnten das Experiment in größerem Maßstab wiederholen. Ein Jahr vor dem heutigen Datum zurückkehren und weitere Meisterwerke mitnehmen. Nehmen wir also an, Sie machen das. Was wird mit den Bildern geschehen, die Sie wegbringen?« »Ich kann Ihnen nicht folgen.« »Diese Bilder werden dann in Ihrer Epoche sein, Ihren Ausführungen zufolge. Aber noch vor einem Jahr hingen sie in verschiedenen Galerien. Werden sie auch dort sein, wenn Sie
zurückkommen? Sicher können sie ja nicht zweimal existieren.« Er lächelte. »Ein hübsches Paradoxon. Sie gefallen mir allmählich, Dr. Rafferty.« »Lassen Sie dieses Gefühl nicht aufkommen. Es beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Selbst wenn Sie die Wahrheit sagten, könnte ich Ihr Motiv nicht bewundern.« »Was ist schlecht an meinem Motiv?« Er erhob sich, er ignorierte die Pistole. »Ist es nicht ein lohnendes Ziel, unsterbliche Schätze vor der sinnlosen Zerstörung eines Weltkrieges zu bewahren? Die Welt verdient die Erhaltung ihrer künstlerischen Schätze. Ich habe mein Leben riskiert, um diese Kunstwerke in meine eigene Zeit zu bringen – wo sie hochgeschätzt und bewundert werden von Menschen, deren Seele nicht mehr von der Gier und Grausamkeit erfüllt ist, die ich hier überall finde.« »Große Worte«, sagte ich. »Aber die Tatsache bleibt bestehen. Sie haben diese Bilder gestohlen!« »Gestohlen? Ich habe sie gerettet! Ich sage es Ihnen doch, ehe das Jahr zu Ende geht, würden sie alle vernichtet sein. Eure Galerien, eure Museen, eure Büchereien – alles wird vergehen. Ist es Diebstahl, wertvolle Gegenstände aus einem brennenden Tempel zu tragen?« Er beugte sich über mich. »Ist das ein Verbrechen?« »Warum löschen Sie statt dessen nicht das Feuer?« fragte ich zurück. »Sie wissen – aus Geschichtsaufzeichnungen, vermute ich –, daß heute oder morgen der Krieg ausbricht. Warum nützen Sie nicht den Vorteil Ihrer Zukunftskenntnisse, um das zu verhindern?« »Das kann ich nicht. Die Aufzeichnungen sind unvollständig. Die Ereignisse sind verworren. Es war mir nicht möglich, herauszubekommen, wie der Krieg begann – oder vielmehr,
beginnen wird. Irgendein unbedeutender Vorfall, nicht klar bezeichnet. Was das anbetrifft, so ist alles unklar.« »Aber könnten Sie nicht die Regierung warnen?« »Die Geschichte ändern? Den tatsächlichen Lauf der Ereignisse ändern? Unmöglich!« »Ändern Sie ihn nicht schon, indem Sie die Gemälde mitnehmen?« »Das ist etwas anderes.« »So?« Ich blickte ihm fest in die Augen. »Ich wüßte nicht, warum. Aber dann ist eben das Ganze unmöglich. Ich habe schon zu viel Zeit mit Ihnen verschwendet.« »Zeit!« Er warf einen Blick auf die Wanduhr. »Fast Mittag. Ich habe noch neun Stunden Zeit. Und noch so viel zu tun. Die Maschine muß eingestellt werden.« »Wo ist Ihr so wertvoller Mechanismus eigentlich?« »Draußen in der Bucht. Unter Wasser natürlich. Das hatte ich bei der Konstruktion schon eingeplant. Ich konnte mir die Gefahren vorstellen, die mich auf meiner Reise durch die Zeit und bei der Landung auf festem Untergrund erwarten würden. Die Oberfläche des Landes ändert sich. Doch der Ozean bleibt verhältnismäßig unverändert. Ich wußte, daß ich viele der Gefahren vermeiden konnte, wenn ich mehrere Meilen vor der Küste landen und starten würde. Außerdem bietet der Ozean ein ausgezeichnetes Versteck. Das Prinzip ist ganz einfach. Mit rein mechanischen Mitteln werde ich heute nacht das Instrument über die Stratosphäre aufsteigen lassen. Durch mehrdimensionale Interkalkulation werde ich berechnen, wann ich außerhalb der Erdbahn bin. Die gigantische Reise…« Zweifellos. Ich brauchte nicht länger sein Gerede anzuhören, um zu wissen, daß er wirklich irre war. Eigentlich schade, er war sonst tatsächlich ein netter Mann. »Tut mir leid«, sagte ich. »Die Zeit ist um. Ich mach es ungern, aber ich habe keine andere Wahl. Nein, bleiben Sie
stehen. Ich rufe die Polizei an. Wenn Sie einen Schritt tun, schieße ich.« »Halt! Sie dürfen nicht anrufen! Ich werde alles machen, ich nehme Sie sogar mit. Ja, ich nehme Sie mit! Möchten Sie nicht Ihr Leben retten? Möchten Sie nicht fliehen?« »Nein. Niemand wird fliehen«, sagte ich. »Sie schon gar nicht. Bleiben Sie stehen, keine Tricks! Ich telefoniere jetzt.« Er blieb stehen. Er stand ganz still. Ich hob den Hörer ab. Er blickte mich an. Dann geschah etwas: Es hatte einen großen Disput über die klinischen Aspekte der hypnotischen Therapie gegeben. Ich erinnere mich, daß man in der Schule versucht hatte, mich zu hypnotisieren. Ich war völlig immun gewesen. Ich schloß daraus, daß eine gewisse Zusammenarbeit oder bedingte Beeinflussung des einzelnen nötig sei, um ihn für die Hypnose empfänglich zu machen. Ich hatte mich geirrt. Ich hatte mich geirrt, denn jetzt konnte ich mich nicht bewegen. Keine Lampen, keine Spiegel, keine Stimmen, keine Suggestion. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich saß da und hielt die Pistole. Ich saß da und sah zu, wie er hinausging und die Tür hinter sich schloß. Ich konnte sehen und fühlen. Ich hörte sogar sein »Goodbye«. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ein wenig nur, so wie sich ein Gelähmter rühren kann. Ich konnte zum Beispiel auf die Uhr schauen. Ich beobachtete die Uhr von 12 Uhr mittags bis nahezu 19 Uhr. Mehrere Patienten kamen im Laufe des Nachmittags, fanden die Tür verschlossen und gingen wieder. Ich starrte auf die Uhr, bis ihr Zifferblatt in der Finsternis verschwand. Ich saß da und ertrug diese unbegreifliche Lähmung bis – durch ein glückliche Fügung – das Telefon klingelte.
Das brach den Bann. Aber das brach auch mich. Ich konnte nicht ans Telefon gehen. Ich kippte über den Schreibtisch, meine Muskeln spannten sich vor Schmerzen. Die Pistole fiel aus meinen tauben Fingern, Ich lag lange so da, keuchte und schluchzte. Ich versuchte aufzustehen. Es war furchtbar. Ich versuchte zu gehen. Meine Glieder gehorchten mir nicht. Es dauerte eine Stunde, ehe ich sie wieder in meiner Gewalt hatte. Auch dann war es nur teilweise möglich. Meine Gedanken und meine Muskeln wollten mir nicht gehorchen. Sieben Stunden hatte ich überlegt. Sieben Stunden! Wirklich oder unwirklich? Sieben Stunden des Glaubens und des Unglaubens, des unmöglich Möglichen. Es war schon 20 Uhr vorbei, als ich endlich auf die Füße kam, aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Polizei anrufen? Ja. Aber was sollte ich sagen? Ich mußte erst sicher sein, ich mußte es genau wissen. Und was wußte ich? Er war draußen in der Bucht, er würde um 21 Uhr starten. Er hatte eine Maschine, die sich über die Stratosphäre erheben würde. Ich stieg ins Auto und fuhr los. Das Dock war verlassen. Ich fuhr hinunter zur Spitze der Mole, von wo man einen guten Ausblick hat. Ich hatte ein Fernglas bei mir. Die Sterne leuchteten am Himmel, aber die Nacht war mondlos. Trotzdem konnte ich ziemlich gut sehen. Eine kleine Jacht schaukelte auf dem Wasser, aber es brannten keine Lichter. Konnte das sein Schiff sein? Ich durfte nichts riskieren. Die Nachrichten über die Patrouille der Küstenwache fielen mir ein. Ich fuhr also zurück in die Stadt und telefonierte. Meldete nur die Jacht. Vielleicht würden sie nachforschen, weil sie keine Positionslampen gesetzt hatten. Ja, ich würde hier auf sie warten, wenn sie das wollten.
Aber ich wartete natürlich nicht. Ich fuhr zurück zur Landspitze. Ich fuhr zurück und richtete mein Fernglas auf die Jacht. Es war fast 21 Uhr, als ich den Kutter herankommen sah. Mit rasender Fahrt näherte er sich der Jacht. Es war genau 21 Uhr, als sie die Scheinwerfer aufblitzen ließen und für eine kurze Sekunde die glitzernde Silberkugel sichtbar wurde, die sich aus dem Wasser erhob. Senkrecht schob sie sich in die Höhe, dem Himmel entgegen. Dann die Explosion! Ich sah das Bersten, noch bevor mich die Schallwelle erreichte. Sie hatten eine fahrbare Abwehrrakete oder etwas Ähnliches. Einen Moment lang raste die Kugel in die Höhe. Im nächsten Moment war nichts. Sie hatten sie vernichtet. Und damit hatten sie auch mich zerstört; denn wenn es eine Kugel gab, dann war er vielleicht in ihr. Mit den Meisterwerken auf dem Weg in eine andere Zeit. Die Geschichte hatte also gestimmt, und wenn sie gestimmt hatte, dann… Ich glaube, ich wurde ohnmächtig. Meine Armbanduhr zeigte 22.30, als ich wieder zu mir kam und mich erhob. Es war 23 Uhr, als ich die Station der Küstenwache erreichte, wo ich meine Geschichte erzählte. Natürlich glaubte mir niemand. Selbst Mr. Halvorsen vom Einsatz nicht – er behauptete es zwar, aber er bestand auf der Injektion. Sie brachten mich ins Krankenhaus. Ich denke immer noch über dieses Paradoxon des Zeitflugs nach. Diese Vorstellung, Gegenstände aus der Gegenwart in die Zukunft zu befördern – und diese andere Vorstellung, die Vergangenheit zu ändern. Ich würde mich gern eingehender mit dieser Theorie beschäftigen, aber das ist nicht mehr nötig. Die alten Meister reisen nicht in die Zukunft. Ebensowenig wie Mr. Smith dadurch den Krieg hätte aufhalten können, daß er in unsere Zeit zurückkehrte. Was hatte er gesagt?
»Es war mir nicht möglich, herauszubekommen, wie der Krieg begann – oder vielmehr: beginnen wird. Irgendein unbedeutender Vorfall, nicht klar bezeichnet.« Nun dies war der unbedeutende Vorfall: sein Besuch. Hätte ich nicht telefoniert, wäre der Patrouillenkutter nicht hinausgefahren. Aber es hat keinen Zweck, weiter darüber nachzudenken. Dieses Heulen und Dröhnen draußen, dieses Kreischen der Sirenen! Wenn ich irgendwelche Zweifel an der Wahrheit seiner Behauptung gehabt hatte, so sind sie jetzt verschwunden. Der Krieg ist da. Hätte ich ihm nur geglaubt! Hätten die anderen mir nur geglaubt! Aber dazu ist es nun zu spät…
Originaltitel: THE PAST MASTER Copyright © 1954 by McCall Corp. Übersetzt von Walter Bilitza
David Grinnell Der Mann von Rom
Drei Dinge gibt es, die mich stören. Wenn man so alt wird wie ich und den lieben langen Tag nichts zu tun hat, als auf der Veranda zu sitzen und den Enkelkindern beim Spielen zuzusehen, dann findet sich leicht etwas, das einen stört. Da kann es dann passieren, daß man Dinge zueinander in Beziehung bringt, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben. Niemand, der sich sein Geld verdienen muß, würde sich die Zeit dafür nehmen. Vielleicht sind die drei Dinge aber auch in Wirklichkeit nur ein einziges – aber das zu beurteilen überlasse ich lieber dem Leser. Um ganz vorn anzufangen: Die erste Sache geschah, wenn ich mich recht erinnere, im Jahre 1947, als die AEC mich bat, einige alte Unterlagen der Firma meines Sohnes durchzusehen – sie war früher meine Firma gewesen, bis ich mich 1939 von den Geschäften zurückgezogen hatte. Es handelt sich um die Warendyck Chemicals Corporation. Vielleicht haben Sie den Namen schon einmal gelesen. Sie gehört nicht zu den großen Unternehmen wie DuPont, aber sie war auch nicht gerade klein und hatte ein eigenes Haus. Ich verdiente ganz schön damit, und auch mein Sohn hat ein recht annehmbares Einkommen. Die AEC, so schien es, überprüfte die Unterlagen all jener großen und kleinen Firmen, die jemals mit einem bestimmten Produkt gehandelt hatten. Sie wollte wissen, wer es gekauft hatte, wieviel und wohin das Zeug geliefert worden war. Sie fanden dieses Produkt in unseren Büchern auf dem Konto
eines Kunden, an den wir nur einmal verkauft und den wir dann nie wieder gesehen hatten, und sie wollten noch viel mehr darüber wissen. Mein Sohn konnte ihnen nichts sagen, deshalb kamen sie zu mir heraus – zwei nette, junge Männer in einem schnittigen Wagen, und sie quetschten mich wie eine Zitrone aus. Ich fuhr also mit ihnen zur Fabrik, obwohl ich meiner Arterien wegen sonst nicht mehr auf Reisen gehe, und sah die alten Hauptbücher durch. Dann dachte ich eine Weile darüber nach und brachte die ganze Geschichte wieder zusammen. Viel genützt hat sie ihnen, fürchte ich, nicht; aber hier ist sie: Wir schrieben das Jahr 1932; die Zeiten waren ziemlich schlecht. Wir produzierten noch und quälten uns einigermaßen durch, aber wir hungerten direkt nach neuen Kunden. An jenem Morgen meldete mir meine Sekretärin, daß mich ein Herr besuchen wolle. »Geschäftlich?« fragte ich, und sie nickte. Sie führte ihn herein. Ich stand auf und ging ihm entgegen, um ihm die Hand zu schütteln, aber er ignorierte das. Das übersah nun wieder ich, obwohl ich sonst Wert auf gutes Benehmen lege, denn ich bemerkte, daß er wohl Ausländer war. Wahrscheinlich wußte er es eben nicht besser. »Zie zein die Warendyck?« fragte der Mann, ein ziemlich dunkler, dünner, schlaksiger Bursche, dessen Kleidung hausgewebt und hausgeschneidert aussah. »Ich bin Warendyck«, antwortete ich. »Was kann ich für Sie tun?« Mit einer Handbewegung forderte ich ihn zum Sitzen auf. Er blieb einen Augenblick stehen, schien ein wenig verlegen zu sein, zog schließlich unbeholfen einen Stuhl an meinen Schreibtisch und setzte sich auf die äußerste Stuhlkante. Dann nahm er einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn mir. Ein
einziger Blick genügte mir, um festzustellen, daß nur der Name eines chemischen Produktes darauf stand. »Zie haben daz zu verkaufen?« fragte er. Ich lehnte mich zurück und sah nachdenklich drein. Es ist eine recht nützliche Geschäftsgepflogenheit, niemals irgendwie besorgt zu erscheinen. Es war nun so, daß ich eine Menge von dem Zeug hatte. Ich war mit einer ganzen Ladung hängengeblieben, als zwei meiner besten Kunden, die es regelmäßig kauften, kurz nacheinander und innerhalb von ein paar Wochen bankrott machten. Das lag erst einige Monate zurück. Geschäftlich hatte das Zeug keinen großen Wert. Es war ein chemisches Produkt, das fast ausschließlich von Töpfereien und Herstellern billiger Porzellanwaren zum Färben verwendet wurde. In den vorhergehenden Wochen hatte ich mir den Kopf zerbrochen, wie man es sonst noch verwenden könnte, damit ich es nicht allzu lange auf dem Hals hatte, aber mir war einfach nichts eingefallen. Das schien nun also eine geradezu wunderbare Gelegenheit zu sein, es an einen Ausländer loszukriegen. Von meiner Freude darüber ließ ich mir natürlich nichts anmerken. »Ja«, antwortete ich ihm, »Ich glaube, wir können Ihnen etwas liefern. Wieviel wollen Sie denn haben, und wann brauchen Sie es?« Er beugte sich eifrig über den Schreibtisch und begann, in irgendeiner Fremdsprache sehr rasch etwas herauszusprudeln. Ich verstand kein einziges Wort. Er unterbrach seinen Wortschwall, dachte ein wenig nach und erklärte schließlich langsamer: »Ich wollen allez, kaufen, waz Zie haben, Lieferung zofort, nicht warten.« »Ich verstehe«, erklärte ich, um ein wenig Zeit zu gewinnen; in diesen schlechten Zeiten mußte man versuchen, den besten Preis auszuhandeln, den man überhaupt bekommen konnte. »Und wohin soll geliefert werden?«
Er legte die Stirn in Falten, zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Rom.« »Rom, New York, oder Rom, Italien?« fragte ich. Aber er schüttelte nur den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung. »Rom«, wiederholte er. Ich klingelte meiner Sekretärin. Als sie hereinsah, bat ich sie, Manetti zu rufen; das war einer meiner letzten Chemiker. Ein paar Minuten später kam er und wischte seine Hände am Kittel ab. »Ich glaube, dieser Herr ist Italiener. Können Sie ihn fragen, wen er vertritt und was er mit seinem Einkauf zu tun gedenkt?« fragte ich. Manetti nickte und sprach den Kunden italienisch an. Aber der Fremde sah ihn nur verständnislos an und winkte hilflos ab. Er sagte etwas zu Manetti, und nun war die Reihe an meinem Chemiker, verblüfft dreinzuschauen. »Ich glaube nicht, Sir, daß dieser Herr Italiener ist«, erklärte Manetti. »Wenigstens hat er nicht ein einziges Wort gesagt, das Hand und Fuß hätte.« Ich nickte und schickte ihn weg. Der Fremde wandte sich wieder an mich. »Ich nicht verztehen. Können Zie mir diezez Produkt verkaufen oder nicht?« Ich entschuldigte mich bei ihm wegen des Mißverständnisses und sagte dann: »Ich habe gerade zufällig etwas da, was ich sofort abgeben kann. Wieviel wollen Sie, und wie soll es geliefert werden?« Nun lächelte er zum erstenmal. »Ich nehmen allez, waz Zie haben. Wir werden zelbzt abholen, mit unzeren eigenen Laztwagen.« Jedenfalls setzten wir jetzt den Preis fest, und es war so, daß er den erstbesten Preis akzeptierte, den ich ihm nannte. Er schien es sehr eilig zu haben, und er wollte die Lieferung auch noch am selben Nachmittag übernehmen. Das war völlig
ungewöhnlich, um so mehr, als die Ladung nach Rom gehen sollte, denn wir mußten noch die ganzen Versandpapiere ausfüllen. Aber er wollte das Zeug haben, und außerdem waren, wie gesagt, die Zeiten schlecht. Letzten Endes war ich auch mehr als erleichtert, daß ich endlich meinen Lagerbestand loswurde. Was aus den alten Unterlagen hervorging, die von den Leuten der Atomenergiekommission nach den Hauptbüchern von 1932 ausgegraben wurden, war ganz einfach die Tatsache, daß wir 637 Pfund Uranoxydpulver – als Färbemittel für billiges Porzellan bestimmt – gegen Barzahlung an einen Geschäftspartner, Name nicht vermerkt, zur Lieferung nach Rom, Italien, verkauft hatten. Allerdings hatte der Mann ja niemals behauptet, daß es sich um Rom, Italien, handele, aber ich weiß ganz bestimmt, daß nicht das Städtchen in der Nähe von New York gemeint war. Die zweite Sache las ich eines Tages in der Morgenzeitung. Es war im vergangenen Jahr, und ich saß auf meiner Veranda. Ich sagte schon, daß ich nicht viel zu tun habe, und deshalb lese ich das ganze Blatt von vorn bis hinten durch, einschließlich der Versteigerungsnotizen und der Kaufwünsche. Jedenfalls fiel mir eine kleine, eingerahmte Notiz auf der Titelseite auf Es hieß darin, die Astronomen hätten etwas bemerkt, das wie eine atmosphärische Störung großen Ausmaßes auf dem Planeten Mars ausgesehen habe. Das war gerade am Tag vorher gewesen. Einige Observatorien – eines in Arizona und eines in Japan – stellten zufällig Beobachtungen an, als sich plötzlich eine riesige kilometerhohe Staubwolke erhob. Es sah so aus, behauptete einer der Astronomen, als sei es ein riesiger Tornado oder ein Vulkanausbruch gewesen. Nur meinte der Professor, daß es auf dem Mars gar keine Vulkane gebe; genausogut konnte es auch
eine ungeheure Atomexplosion gewesen sein, ungefähr so, als habe man eine Superatombombe gezündet.
Die dritte Geschichte ließ ich mir von einem lokalen Liebhaberastronomen ausknobeln, der sein eigenes Teleskop hat, an dem er die ganze Nacht hindurch sitzt, statt zu schlafen. Er kann recht gut mit Zahlen umgehen; deshalb fragte ich ihn, rein aus Neugier, ob er nicht ausrechnen könne, welcher astronomische Körper zur Zeit der Eruption dem Mars am nächsten gestanden habe. Er brachte es auch heraus. Es dauerte fast zwei Monate, bis er die Umlaufbahnen der Asteroiden, der Kometen und ähnlicher Dinge bestimmt hatte. Schließlich erklärte er mir, es sei der Asteroid Nummer 472 gewesen, der zur Zeit der Eruption, oder was es eben war, dem Mars am nächsten gestanden habe. Dieser Asteroid war in einer Entfernung von mehr als einer halben Million Kilometer an ihm vorbeigezogen – und ich habe gehört, daß das sehr nahe ist, wenn man von den Raummaßen ausgeht. Es ist nur so, daß der Asteroid 472 nicht nur eine Nummer, sondern auch einen Namen hat. Er heißt »Rom«.
Originaltitel: ROAD TO ROME Copyright © 1954 by Columbia Publications, Inc. Übersetzt von Leni Sobez
Philip E. High Der Wächter
Barton stützte seine kräftigen Ellenbogen auf den Tisch und sagte: »Wir können jede Hilfe brauchen. Auch die von Lessiter.« »Aber er hat weder das Training noch die Voraussetzung für eine solche Arbeit«, wandte Marsh nachdrücklich ein. »Wie können wir wissen, ob er tatsächlich kommt, wenn wir ihn um seine Unterstützung bitten?« »Wenn wir ihn holen lassen«, korrigierte ihn Barton scharf. »Und wir können es uns nicht leisten, ihn nicht einzusetzen, mein Lieber, ob er nun ausgebildet ist oder nicht.« Er wies auf einen Stapel Bücher, der in bedenklicher Nähe der Tischkante aufgetürmt war. »Haben Sie die gelesen?« Marsh gab zu, daß er sie nicht gelesen hatte. »Dann wird es Zeit! Ist Ihnen klar, daß wir unsere Trainingsmethoden auf Grund dieser Erkenntnisse umstellen? Die Anleitung zur Typenidentifikation zum Beispiel – sie sind großartig, hervorragend, glänzend.« Er hielt inne, als fielen ihm momentan keine weiteren Eigenschaftswörter ein und starrte sein Gegenüber nachdenklich an. »Marsh, Sie sollten zur Auffrischung Ihres Wissens an einem Kurs teilnehmen!« »Damit ich hinterher nur weitere Papiere über den Schreibtisch schiebe?« fragte Marsh bitter. Gereizt begann er, auf dem Löschblatt zu kritzeln und wechselte plötzlich das Thema: »Was ist Lessiter eigentlich?« »Ich glaube, er bezeichnet sich selbst als Psychokriminologen, aber welchen exotischen Titel er auch
immer wählen mag – er ist ein immens gescheiter Mensch, und wir können ihn gebrauchen. Sehen Sie zu, daß er in einer Stunde hier ist!« Marsh erhob sich müde. Seit Jahren arbeitete er nun schon mit Barton und versuchte noch immer, ihn zu verstehen. Kein Zweifel, daß Barton genial veranlagt war, aber es handelte sich um eine Genialität, die manchmal ans Exzentrische zu grenzen schien. Da saß er, wußte genau, daß sich irgendwo auf dem Planeten – Gott allein kannte den genauen Ort -Außerirdische unter die Menschen gemischt hatten, und machte sich über einen Experten Gedanken, der ein paar hervorragende Bücher geschrieben hatte. Marsh seufzte innerlich. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Lessiter senil, launisch und pedantisch und würde eher eine Last als eine Hilfe darstellen. Barton jedoch wollte ihn haben, und somit mußte er kommen – sei es selbst auf einer Tragbahre. Marsh grollte. Es gab Zeiten, da konnte er sich über Barton maßlos ärgern. Barton hatte zum Beispiel die unangenehme Gewohnheit, alle im dunkeln tappen zu lassen, während er seine Pläne verfolgte. Wenn ihm einmal mitten in einem Fall etwas zustieße – wie, zum Teufel, könnte sein Nachfolger die Arbeit fortsetzen? Nicht nur, daß er sich nicht in die Karten blicken ließ – Barton hielt die Hälfte davon noch im Ärmel versteckt. Gezielte oder allgemeine Fragen riefen nur einen vernichtenden Sarkasmus hervor, der den Fragesteller buchstäblich niederschmetterte. Trotzdem brachte es Barton fertig, daß ihn die Leute mochten. Ich mag ihn, dachte Marsh bitter. Vielleicht habe ich ihn deswegen noch nicht erwürgt.
Lessiter war ein großer, blasser Mann mit hagerem Gesicht und einem Mund, der sich nie vollständig schloß. Dies verlieh
ihm stets einen Ausdruck überheblicher Geringschätzung, was bei jedem, außer Barton, ein Gefühl der Minderwertigkeit hervorrufen mußte. »Sie haben tatsächlich Beweise dafür, daß dieses – äh – Objekt gelandet ist?« fragte Lessiter höflich. Barton griff in ein Fach seines Tisches. »Wir haben drei Bilder.« Er warf die Fotos auf den Tisch. »Wir verdanken sie einem Zufall. Irgendeine wissenschaftliche Gruppe experimentierte mit einer neuen Sonnenkamera und machte zufälligerweise diese Bilder. Das Objekt befand sich im Bereich von drei Radargeräten, die es jedoch nicht entdeckten. Diese Kamera dürfte uns später noch gute Dienste leisten.« Lessiter betrachtete die Fotos sorgfältig. »Haben Sie die Echtheit der Bilder überprüfen lassen? Das Objekt hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem alten Gasometer.« »Gasometer, ob alt oder neu«, meinte Barton bedeutsam, »sind in einer Höhe von sechzig Kilometern entschieden fehl am Platz. Außerdem landete das Ding; es landete und startete wieder. Man kann einen Gegenstand dieser Größe nicht landen, ohne Spuren zu hinterlassen, und durch einen weiteren Glücksfall fanden wir die Spuren dann auch. Meine Leute haben Fußabdrücke entdeckt, in jeder Hinsicht menschliche. Sie führten weg von den Vertiefungen, die das Fahrzeug verursacht hatte. Experten stellten auf Grund von Fotos fest, daß es sich um elf Wesen gehandelt haben muß.« Er hielt inne. »Irgendwo auf der Erde befinden sich elf Wesen, die keine Menschen sind.« »Sie meinen, daß sie von den Sternen gekommen sind?« Barton hob die Schultern. »Wir haben Mars und Venus erreicht, also wissen wir, daß sie nicht von dort stammen. Was mich betrifft, so bin ich der Ansicht, daß es gleichgültig ist, woher sie stammen. Meine Arbeit besteht darin, sie zu finden, und das wird nicht einfach sein – unter den Milliarden
Bewohnern der Erde elf herauszusuchen, die wie Menschen aussehen, aber keine sind.« »Sicher ein fast hoffnungsloses Vorhaben?« »Nicht ganz hoffnungslos. Einer unserer Agenten hat einen der Fremden in London aufgespürt. Er hatte gerade den Kurs in Typenidentifikation absolviert, und wahrscheinlich fiel ihm eine Geste oder eine Bewegung bei jemand auf, die dessen Typus widersprach. Jedenfalls begann er, mit einer verborgenen Mikro-Fernsehkamera Aufnahmen von dem Verdächtigen zu senden. Leider starb der Agent, bevor man die Empfänger richtig einstellen konnte.« »Starb?« »Starb. Trocknete ein und wurde verweht. Was von ihm übrigblieb, konnte man in einer Hand wegtragen. Zeugen sagten aus, daß er auf einer Parkbank gesessen habe, als sei er müde, und daß er buchstäblich in Stücke zerfallen sei. Staub schwebte von seinen Händen, ein Teil seines Gesichts wurde vom Winde verweht, und dann schien er in sich zusammenzufallen und zu zerbröckeln.« »Sie haben keine Ahnung, wie das bewerkstelligt wurde?« Lessiters Gesicht war bleich. Barton schüttelte den Kopf. »Das scheint niemand beobachtet zu haben; man sah ihn nur sterben.« Mit einem Beben in der Stimme, fragte Lessiter: »Befand sich der unglückliche Agent zu der Zeit überhaupt auf der Suche nach den Außerirdischen?« »Ja. Wir stützen uns bei der Suche auf Ihre Ausführungen zur Typenidentifikation. Deswegen haben wir Sie übrigens auch kommen lassen. Wir brauchen Ihre Erfahrung.« Barton hielt inne. »Wir nehmen an, daß ein Mann oder eine Frau außerhalb Ihrer Klassifikation ungewöhnlich wäre – « »Es wäre mehr als ungewöhnlich, es ist unmöglich!« Lessiter wurde plötzlich lebhaft. »Jemand mit dem Körperbau eines
A3-Typs muß zum Beispiel die charakteristischen Bewegungen und den Gang der Klasse 10 haben. Mit den richtigen Tabellen kann selbst der blutigste Laie mit Grundkenntnissen in der Anatomie die kunstvollsten Verkleidungen durchschauen. Sie haben vollkommen recht mit ihrer Annahme, daß jemand, der außerhalb der Klassifikation steht, kein Mensch ist.« Barton nickte. »Ihr Buch ›Techniken der logischen Elimination‹ ist ebenfalls äußerst wertvoll, Mr. Lessiter.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Natürlich haben wir nicht das Recht, Ihre Mitarbeit zu fordern, aber in einem solchen Notfall…« Den Rest des Satzes und die Folgerungen ließ er in der Luft schweben. »Aber natürlich!« Lessiter wurde wieder lebhaft. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, mit dem größten Vergnügen – « »Gut, gut«, strahlte Barton. »Wir werden Ihnen irgendwo ein Büro einrichten; alle Hilfsmittel unserer Abteilung stehen Ihnen zur Verfügung, und natürlich werden Ihnen alle Daten zugänglich gemacht, sobald wir sie erhalten.« Marsh, der geistesabwesend auf der Schreibunterlage herumgekritzelt hatte, runzelte die Stirn. Barton lachte oft, lächelte häufig, aber selten strahlte sein Gesicht so selbstgefällig. Marsh gefiel das nicht, denn meist bedeutete es, daß Barton etwas im Schilde führte, und das wiederum hieß, daß alle wochenlang im Ungewissen arbeiten mußten und sich fragten, was und warum dies eigentlich geschah. Eindeutige Befehle würden lediglich die Agenten im Außendienst erhalten: die Fremden zu suchen. Lucien war ein schlanker, dunkler Mann mit raschen, nervösen Bewegungen und Vogelaugen. Zur Zeit war er konservativ, aber mit einem Hauch von Extravaganz gekleidet, der seiner Meinung seinem Zweck vortrefflich diente. Lucien spielte Don Juan. In den Bücken, die er den Mädchen zuwarf,
lag gerade soviel Aufforderung, daß seine Absichten – für den zufälligen Beobachter – unmißverständlich waren. Lucien zeigte seine weißen Zähne, sprach mit den Augen in gleicher Weise blonde, brünette oder auch rothaarige Mädchen an, und doch entging seinen Blicken nichts. In diesem Park war ein Agent gestorben, und es schien logisch, daß der Außerirdische zurückkehren würde. Etwas, das sich in einer Menschenmenge nicht von anderen Leuten unterschied, würde sich vermutlich zwischen vielen Passanten am sichersten fühlen. Am anderen Ende des Parks lag im Gras ein unrasierter Mann namens Match, der scheinbar schlief, in Wirklichkeit jedoch die Umgebung durch halbgeschlossene Augen beobachtete. Überall auf der Welt dasselbe Bild: wachsame Agenten an Stellen, wo sich große Menschenmengen aufhielten, die alles unauffällig beobachteten und auf die verräterische Geste oder Bewegung warteten, mit der sich ein Nicht-Mensch verriet. Lucien war an Match bereits zweimal vorübergegangen und würde dies in ungefähr einer Minute wieder tun, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß sie sich kannten; für den Außenstehenden wußte keiner von der Existenz des anderen. Lucien zeigte einer Blondine seine vollkommenen Zähne in einem Lächeln und wurde durch ein Augenzwinkern belohnt, das offensichtlich »komm mit« bedeutete. Doch Lucien hatte keine Zeit, der Einladung Folge zu leisten. In der Ferne hatte sich Match auf den Rücken gerollt und aufgesetzt. Überzeugend schlaftrunken stand er auf, schob sich den schmierigen Hut ins Genick und kratzte sich den Kopf. Durch dieses Bewegung gelangte der winzige Sender auf seinem Handgelenk in Mundnähe. »Lucien, der große – « Das Ende des Satzes ertrank in Stille. Lucien konnte nicht sehen, wie es geschah oder wer es tat es gab keinen Lichtblitz und keine Explosion. In der einen
Sekunde kratzte sich Match am Kopf, und in der nächsten starrte er erstaunt auf die blutigen Überreste seiner Brust. Dann ging er mit fast grotesker Langsamkeit in die Knie und fiel, mit dem Gesicht voran, zu Boden.
Lucien spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, aber seine Schulung hieß ihn ruhig weitergehen, als habe er den Vorfall noch nicht bemerkt. Erst als eine Frau gellend schrie und ein Mann etwas rief, wandte er sich um und rannte an den Ort des Geschehens, wo sich bereits eine Menschenmenge ansammelte. Er hatte natürlich gewußt, daß Match schon tot war, als er zu Boden fiel, aber der Drang, ihm zu Hilfe zu eilen, war fast überwältigend gewesen. Ein großer – was? Bereits im Rennen faßte er jeden einzelnen genauer ins Auge. Wenn der Fremde nicht ein kompletter Narr war, würde auch er sich der Schar der Sensationslüsternen anschließen. Er tat es auch, aber Lucien brauchte fast eine Minute, um ihn zu erkennen. Der Mörder bemühte sich so wie die Umstehenden, über die Köpfe der Vornstehenden hinwegzusehen, aber er machte dabei nicht die richtigen Bewegungen und hatte außerdem vergessen, von Zeit zu Zeit mit den Augen zu blinzeln, wie es jeder Mensch tut. Lucien brachte die Hand in Pistolennähe und wartete, bis sich der Fremde nach einem angemessenen Zeitraum langsam aus der Menge entfernte. Der Agent sah, wie der Mörder auf ihn zukam, anscheinend ohne Verdacht zu schöpfen, denn sonst wäre auch er, Lucien, selbst rasch getötet worden. Besaß der Außerirdische ein Gerät, das die Inbetriebnahme von Mikrosendern und ähnlichen Apparaten feststellen konnte? Es schien so, denn beide Agenten waren gestorben, als sie Verbindung aufzunehmen versuchten. Jedenfalls wollte er kein
Risiko eingehen. Er wartete, bis der Fremde mit ihm auf gleiche Höhe war, dann entsicherte er seine Dienstpistole. Zum Glück war Luden schnell und hielt bereits in der Tasche die Waffe umklammert, denn sonst wäre es zu spät gewesen. Der Fremde fuhr herum, und seine Hand sauste mit erschreckender Schnelligkeit durch die Luft. Aus der schweren Waffe in Luciens Hand fuhr ein kurzes gelbes Flammenbündel. Das schwere Expansionsgeschoß drang dem Mörder in die Brust und warf in halb über eine Parkbank. Der Schuß war tödlich, denn der obere Teil der Brust und seine Schulter waren total zerschmettert, und der Arm hing schlaff und unbrauchbar herab. Aber irgendwie erlangte das Ding wieder das Gleichgewicht, richtete sich auf und versuchte mit dem anderen Arm, etwas aus seiner Tasche zu ziehen. Lucien schaltete auf Dauerfeuer und ließ den Finger nicht vom Abzug. Er sah, wie das Ding taumelte und vom Aufprall der Geschosse umhergerissen wurde, aber trotzdem noch versuchte, sich zu verteidigen. Es blieb auf den Beinen, bis es einer gesichtslosen, zerrissenen Vogelscheuche glich; dann brach es endlich zusammen. Lucien starrte noch immer benommen auf die Lache purpurner Flüssigkeit, die sich langsam ausbreitete, als ihm zwei Polizisten die Arme auf den Rücken drehten und ein Passant ihm die Pistole aus den Fingern wand.
Barton schimpfte zwar nicht, aber man merkte, daß er nicht zufrieden war. »Ich weiß, daß die Situation ziemlich böse war und daß Sie mit Match befreundet waren, aber Sie hätten dem Außerirdischen folgen sollen. Vielleicht hätte er Sie zu den anderen geführt. Jetzt wissen sie, daß wir ihnen auf der Spur sind und daß wir eine Methode haben, sie zu entdecken.«
Lucien rieb sich die Beule, die ihm ein übereifriger Polizist beigebracht hatte, ehe er seine Identitätsscheibe hatte vorweisen können. »Das wußten sie auch zuvor, denn sonst hätten sie nicht die beiden Männer getötet, von denen sie sich bedroht fühlen mußten.« »Ja. Ja, damit haben Sie recht. Aber trotzdem werden sie jetzt mehr denn je auf der Hut sein.« Ein Mann in einem weißen Mantel kam herein und legte einen Bogen Papier auf den Tisch. »Das ist ein vorläufiger Bericht. Der Leichnam weist keinerlei menschliche Merkmale auf, doch wurde der Körper auf äußerst geschickte Weise chirurgisch so verändert, daß er einem Menschen glich. In ein paar Minuten bekommen Sie eine Fotografie. Dann können Sie sehen, daß das Wesen ein Skelett hatte, das wie ein Vogelkäfig aussah. In der Mitte befindet sich ein halbsteifer Knochen, von dem sich drahtähnliche Rippen nach außen erstrecken.« Der Mann seufzte müde. »Soweit wir es bisher beurteilen können, handelt es sich um ein Lebewesen, das auf Siliziumbasis aufgebaut ist, aber trotzdem unsere Luft atmen kann. Das Ding besitzt zwei Herzen und zwei Kreisläufe, die zwei verschiedene Flüssigkeiten in entgegengesetzter Richtung durch den Körper pumpen. Fragen Sie mich nicht, warum das so ist; ich bin schon halb wahnsinnig.« Barton fragte: »Mehr können Sie uns nicht sagen?« »Nach einer Stunde wohl kaum«, erwiderte der andere etwas aufgebracht. »Vielleicht kann ich einen vollständigen Bericht fertigstellen, wenn der ewig Grinsende aufgehört hat, zu fotografieren.« Marshs Lippen zuckten. Es gab keinen Zweifel darüber, wen Mundy mit dem »ewig Grinsenden« meinte. »Was macht Mr. Lessiter?« fragte er sanft.
»Er läuft mit einer Kamera im Kreis herum.« Er wandte sich wütend an Barton. »Warum geben Sie dem Mann keine karierte Mütze? Dann wäre es ein richtiger Sherlock Holmes!« In diesem Augenblick kam Lessiter herein. Sein steter Ausdruck der Unzufriedenheit war von Triumph überstrahlt. »Es ist uns gelungen, das Gesicht wiederherzustellen. Dann haben wir den Bart abrasiert. Kommen Sie, sehen Sie sich das Ergebnis an!« Sie drängten sich in das Labor, und Marsh, der über Bartons Schulter blickte, zog hörbar Luft zwischen den Zähnen ein. »Mein Gott! Senator Cleveland!« Barton drehte sich um. »Darauf sind Sie nicht gekommen, Mundy! Vielleicht ist es nicht schlecht, wenn wir gegebenenfalls Amateure einstellen.«
Barton schlürfte seinen Kaffee und blickte nachdenklich über den Rand der Tasse auf sein Gegenüber. »Marsh, hören Sie auf, mit der Gabel auf dem Tischtuch zu kritzeln! Wenn wir nicht in einem Espresso, sondern in einem vornehmen Restaurant säßen, hätten wir sicher schon den Geschäftsführer auf dem Hals. Was haben Sie auf dem Herzen? Heraus damit!« Marsh seufzte. »Ich glaube, es ist Lessiter.« Dann fuhr er gereizt fort: »Verdammt! Ich weiß, daß er etwas taugt – er weiß es übrigens auch –, aber handeln wir richtig?« Die Spannung, die sich seit Tagen in ihm gestaut hatte, brach sich Bahn: »Ich kann mir nicht helfen, ich halte es für gefährlich. Die Sache ist streng geheim; sie ist nur unserem Stab und einigen höheren Beamten bekannt. Sollte etwas schiefgehen – wie können wir wissen, daß er nicht die Nerven verliert und alles ausplaudert? Es gäbe eine Panik! Außerdem haben Sie ihm freien Zutritt zu allen unseren Einrichtungen gewährt. Das bedeutet, daß er nicht nur unsere Methoden, sondern auch die
geheimsten Geräte kennenlernt. Meinetwegen mag er Wunder vollbringen und ein Nationalheld werden! Aber wenn wir ihn entlassen, könnte sich doch jemand für ihn interessieren. Man könnte ihn bearbeiten und alle gewünschten Informationen aus ihm herausquetschen. Er hat nicht das Training und die Erfahrung, sich in einer solchen Lage zu behaupten oder sich die Kehle durchzuschneiden, wie wir es in einer ähnlichen Situation täten, wenn wir keinen Ausweg mehr sähen.« »Marsh«, Bartons Stimme war leise, aber etwas vorwurfsvoll. »Glauben Sie, ich hätte Lessiter eingeweiht, ohne ihn zuvor auf Herz und Nieren zu prüfen?« »Ach!« entfuhr es Marsh unbehaglich. »Ich dachte – « »Sie dachten, ich hätte impulsiv gehandelt; ich weiß. Aber machen Sie sich keine Sorgen; alles ist unter Kontrolle.« Er hielt inne und schob die leere Tasse beiseite. »Versuchen Sie, ein wenig tolerant zu sein, Marsh, und hören Sie auf, dem Mann zu grollen! Ich kann Ihnen versichern, daß er wirklich einen glänzenden Verstand besitzt. Außerdem hat er uns für heute abend etwas Bedeutendes versprochen.«
Lessiter zündete sich sorgfältig eine lange Zigarre an, blies blauen Rauch von sich und lächelte. »Nun, meine Herren, ich glaube, sagen zu können, daß wir die Hauptschwierigkeiten überwunden haben und uns der Frage der Methode zuwenden können, die wir anzuwenden gedenken.« »Vielleicht«, warf Barton ein, »beginnen Sie von vorn.« »Aber natürlich. Offensichtlich befinden sich die Fremden auf der Erde, um uns zu infiltrieren. Die Ähnlichkeit mit einem bekannten Senator ist nicht zufällig, sondern Absicht. Eines Tages wäre dem Senator etwas zugestoßen, und der Fremde, der ihm bis in alle Einzelheiten glich, wäre an seine Stelle getreten. Auf diese Weise hätten die Feinde unauffällig
Schlüsselpositionen in der Verwaltung des Planeten eingenommen. Zweifellos ähneln die übrigen Fremden großen Politikern und anderen einflußreichen Persönlichkeiten. Sobald sie erst im Amt sitzen, könnten sie das Geschehen nach ihrem Wunsch lenken und auf diese Weise den Weg für eine umfassendere Infiltration ebnen. Die Menschheit wäre unterworfen, obwohl sie sich frei glaubte, bis es für jeden Widerstand zu spät wäre.« Lessiter hielt inne und betrachtete geistesabwesend die Asche an seiner Zigarre. Es muß ihn ungeheuer befriedigen, dachte Marsh verdrossen, zwei hohen Untersuchungsbeamten einen belehrenden Vortrag zu halten. Mundy hatte recht; der Mann hielt sich tatsächlich für einen Sherlock Holmes und die Leute um ihn für dumme und ehrfürchtige Watsons. »Fahren Sie bitte fort«, bat Barton. Lessiter nickte und stieß eine Rauchwolke aus. »Nachdem wir ihre Absichten festgestellt und einen Weg gefunden hatten, sie zu erkennen, bestand der nächste logische Schritt darin, zu entdecken auf welche Weise sie uns erkennen. Es war naheliegend, anzunehmen, daß eine technisch fortgeschrittene Rasse mit überlegenen Geräten ausgerüstet wäre, aber die Idee eines Empfängers, der so vielseitig ist, daß er auf eine MikroFernsehkamera, einen Sender und das Geräusch beim Entsichern einer Pistole anspricht, war etwas zu viel. Die Lösung wurde durch einen Eliminationsprozeß gefunden und durch Versuche bestätigt. Die Antwort ist ziemlich einfach: Das Organ der Außerirdischen, das unserem Ohr entspricht, ist ungewöhnlich empfindlich und dem unseren bei weitem überlegen. Der Fremde tötete unseren ersten Agenten, weil er die Fernsehkamera ›hörte‹; er ›hörte‹ auch den Sender und ›horchte‹ natürlich nach einem verräterischen Geräusch, nachdem er durch Matchs Ruf Verdacht geschöpft hatte. Ihr Agent, entsicherte seine Waffe, und der Mörder ›hörte‹ es.«
Marsh, der wie üblich kritzelte, warf ein: »Entschuldigen Sie bitte, aber ist das nicht ein wenig weit hergeholt?« »Ich denke nicht. Der Verstand braucht nur ein bißchen beweglich zu sein, um sich der Besonderheit der Fremden anzupassen. Wenn ein Wesen zum Überleben hauptsächlich auf den Gesichtssinn angewiesen ist, so wird es darauf trainiert, nach Anzeichen von Gefahren Ausschau zu halten, um sie zu erkennen. Warum kann dann ein Wesen, das von seinem Gehör abhängig ist, nicht lernen, auf gewisse Geräusche zu achten und sie richtig zu interpretieren? Es ist anzunehmen, daß sich bereits vor der Infiltration Spione auf der Erde befunden haben, die den anderen anstelle von ›seht‹ das und jenes, ›hört‹ auf dies und das gesagt haben.« Er wandte sich an Barton. »Ihre Spezialisten im Labor können diese Annahme bestätigen. Untersuchungen haben ergeben, daß der Gesichtssinn des Außerirdischen schwach ausgebildet ist, während sein Gehör unglaublich scharf gewesen sein muß.« Barton nickte rasch. »Das leuchtet mir ein.« Marsh blickte finster und kümmerte sich nicht darum, daß Barton es sah. Lessiter hatte ihn von oben herab behandelt, als sei er ein Schüler der dritten Klasse, der eine besonders dumme Frage gestellt hatte. »Verstehen Sie es nun ungefähr?« fragte Barton noch zu allem Überfluß. »Ja, ja. Ich habe schon verstanden.« Mit gerunzelter Stirn starrte Marsh auf die Schreibunterlage und wünschte, er wäre anderswo. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß etwas nicht stimmte; etwas war nicht in Ordnung – nichts war in Ordnung. Doch irgendwie verspürte er weder eine Angst noch fühlte er eine Gefahr; warum, zum Teufel, eigentlich nicht? »Sehen Sie eine Möglichkeit, die Außerirdischen zu finden, Mr. Lessiter?«
»Ja, Mr. Barton, ich glaube schon. Mit Unterstützung eines Ihrer Techniker habe ich ein Gerät zusammengebastelt, das einen durchdringenden sirenenartigen Pfeifton erzeugt, der die Fremden binnen kürzester Zeit in unsere Hände spielen wird. Sehen Sie, das scharfe Gehör der Feinde hat auch seine Nachteile: Töne von einer bestimmten Frequenz sind ihnen nämlich unerträglich. Und da das Instrument eine fast unbegrenzte Reichweite hat, nehme ich an, daß wir die Fremden, bildlich gesprochen, innerhalb weniger Stunden ausräuchern können.« »Ich verstehe.« Barton öffnete das Zigarrenkistchen auf dem Schreibtisch, warf einen Blick hinein und schloß es geistesabwesend wieder. »Sie haben diese Theorie natürlich mit Hilfe meiner Spezialisten anhand der Untersuchungen des Nervengewebes überprüft?« »Selbstverständlich.« »Und das Geräusch, das dieses Gerät erzeugt, ist für sie hörbar, nicht aber für Menschen, weil die Frequenz nicht in unserem Hörbereich liegt?« »Äh – ja – ja – ganz richtig.« Wieder öffnete Barton die Zigarrenschachtel und entnahm ihr die Zigarre. »Es ist bemerkenswert, Mr. Lessiter, in welch kurzer Zeit Sie all das herausgefunden haben. Besonders, was die Fremden betrifft. Man ist fast versucht, anzunehmen, daß« – er hielt inne und lächelte –, »daß Sie schon früher mit ihnen zu tun gehabt haben.« Er lächelte entwaffnend. »Aber natürlich ist das nicht der Fall, oder?« Sorgfältig entzündete er die Zigarre und blies einen dicken, etwas verwackelten Rauchring in die Luft. »Es ist die Logik, die mich überrascht, aber man kann selbst mit der Logik einen Fehler begehen, wie Sie wohl wissen.« »Ich habe einen Fehler begangen?« Lessiter blickte verwirrt.
Bartons Mund verzog sich zu einem Lächeln um die Zigarre. »Nur einen: Sie waren zu klug.« Er griff in ein Fach und entnahm ihm eine Mappe. »Vor nicht zu langer Zeit verdienten Sie Ihren Lebensunterhalt als Taxichauffeur, denn das eindrucksvolle Schild ›Psychiater‹ an Ihrer Tür brachte noch nicht viel Geld ein.« Er öffnete die Mappe. »Dann wurden Sie über Nacht mit Ihren vier Büchern über Kriminalpsychologie und den drei Werken über Typenerkennung berühmt, die Sie wahrscheinlich in vier Monaten geschrieben haben.« Sorgsam schloß er die Mappe wieder und legte sie zur Seite. »Irgendwie erscheint mir das ein wenig zu genial. Was haben Sie mit dem wirklichen Lessiter getan, ehe Sie seinen Platz einnahmen? Haben Sie ihn getötet?« Lessiter schluckte. »Soll das vielleicht ein schlechter Scherz sein?« Barton lächelte wiederum. Es war nicht besonders freundlich gemeint und glich eher einem Zähnefletschen. »Wissen Sie, die Situation erinnert mich an die zwei Würmer, die beide glaubten, einen besonders saftigen Apfel gefunden zu haben und sich von entgegengesetzten Seiten hineinzufressen begannen. Es muß einen ziemlichen Wirbel gegeben haben, als sie sich in der Mitte begegneten.« »Ich verstehe nicht ganz – «, begann Lessiter. »Doch, Sie verstehen schon!« unterbrach Barton grob. »Dasselbe geschah doch auf Atair II. Eine nette, kleine Zivilisation der Klasse fünf, die reif für die Ernte war. Unglücklicherweise hatte sie euer nächster Rivale zuerst erreicht und eure Eindringlinge wie die Fliegen getötet. Ihr hättet höchstens einen Krieg anfangen können; etwas anderes war nicht dagegen zu machen.« Nachdenklich blickte er sein Gegenüber an. »Zivilisationen der Klasse neun sind Kriegen natürlich bereits entwachsen, nicht aber ihrer Gewinnsucht oder ihren räuberischen Instinkten. Wenn es nach euch ginge,
wäre die Galaxie in ausgedehnte Reiche geteilt, deren versklavte Rassen nicht einmal dem Zwecke lebten, für euch zu arbeiten und euch stärker zu machen.« »Haben Sie dieses Hirngespinst zu Ihrer Unterhaltung erfunden?« Lesssiters Blick war ruhig, aber seine Hände zuckten. Barton seufzte. »Ich sehe, daß ich deutlicher werden muß. Gut, wie Sie wünschen, Mr. Lessiter. Es ist auf Atair II geschehen, aber Ihre Leute wollten nicht, daß so etwas noch einmal vorkommt. Sie wußten, daß sie auf diesem saftigen Apfel hier die ersten waren, nachdem sie sich davon überzeugt hatten. Aber für den Fall, daß vielleicht später ein weiterer Wurm daherkäme« – Barton wies auf Lessiters Bücher –, »haben Sie die Eingeborenen vorsorglich mit einem Identifikationssystem ausgestattet.« Er lachte kurz und humorlos. »Sie konnten also nach den unliebsamen Eindringlingen Ausschau halten, während ihr ungestört eurer eigenen Arbeit nachgingt, die darin bestand, an verschiedenen Stellen des Planeten kleine Hypnosegeräte zu verbergen. Am Tag der Invasion brauchtet ihr nur noch einen Schalter zu betätigen, und jeder würde das tun, was ihr wolltet.« Lessiters Mund zuckte, und plötzlich ließ er die Maske fallen. »Und jetzt wollen Sie uns gegeneinander ausspielen, um selbst die Macht zu ergreifen.« Sein Gesicht war vor Zorn gerötet. »Wir sind schon sehr lange auf diesem Planeten, aber ihr werdet es nie glauben, bis wir euch nicht mit der Nase darauf stoßen. Haben Sie noch nie von den ›Wächtern‹ gehört?« Lessiter sackte im nächsten Sessel zusammen. »Die ›Wächter‹!« Sein Gesicht war bleich. »Hier draußen!« Barton schüttelte müde sein Haupt. »Überall, wo eine Zivilisation der Klasse fünf existiert, befinden sich auch ›Wächter‹. Das sollten Sie wissen. Man hat es euch schon oft genug beizubringen versucht, aber ihr glaubt immer wieder,
eine Zivilisation gefunden zu haben, von deren Existenz wir nichts wissen.« Er hieb plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Eure Zivilisation hat die Klasse neun erreicht, weil die der zwanzigsten Stufe des ›Corps der Wächter‹ gebildet hat, um auf euch zu achten. Wenn Ihr euch in einem eurer verdammten Kriege selbst in die Luft jagt, so ist das eure Sache. Wir sind nicht dazu da, eine Rasse zu unterstützen oder zu leiten, sondern sie in einem kritischen Stadium der Entwicklung vor einer Störung von außen zu bewahren.« Er erhob sich. »Wir haben schon früher mit euch beiden Rassen Ärger gehabt. Diesmal werdet ihr nicht mehr mit einer Warnung davonkommen.« Lessiters Gesicht zuckte, sein Mund öffnete und schloß sich wieder, aber es drang kein Laut daraus hervor. Er zog ein Zigarettenetui hervor und begann mit zitternden Fingern daran zu hantieren. »Das würde ich nicht tun!« Bartons Stimme klang scharf und befehlend, aber es war bereits zu spät. Es krachte, als habe jemand eine kleine hölzerne Schachtel zerdrückt, und Lessiter sank vornüber. »Berühren Sie ihn nicht!« Barton winkte Marsh zur Seite. »Es besteht die Gefahr, daß er in Stücke zerfällt.« Er beugte sich nieder und nahm das Zigarettenetui an sich. »Verdammt unangenehme Waffe. Sie nennen sie Splitterpistole. Es ist ein Frequenzgenerator, der auf die Skelettknochen abgestimmt ist. Wenn man den Auslöser drückt, zerschellen die Knochen im Körper des Getroffenen wie Glas.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Eigentlich habe ich ihn für klüger gehalten. Einen ›Wächter‹ töten zu wollen, ist gleichbedeutend mit Selbstmord. Es gibt keine Waffe, die eine Zivilisation der neuen Klasse herstellen kann, die wir nicht gegen den Angreifer selbst wirken lassen können. Das hätte er wissen sollen, der Dummkopf!«
Marsh steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und vergaß, sie anzuzünden. »Und wie sind Sie hergekommen?« Barton lachte sanft. »Nun, ich brauchte niemand zu töten. Jemand mit einer hieb- und stichfesten künstlichen Vergangenheit auszustatten, ist nicht allzu schwer, schon gar nicht mit Hilfe unserer recht weit fortgeschrittenen Hypnosetechniken. Sie wären überrascht, wie viele Menschen sich an mich als Jungen in meiner Heimatstadt erinnern können.« Er wandte sich um und drückte einen Knopf an seinem Pult. »Mundy, wir haben hier einen Leichnam. Seien Sie so nett und schaffen Sie ihn weg, ja?« Dann wandte er sich wieder an Marsh. »Sie machen sich schon wieder Sorgen«, sagte er freundlich. »Dazu besteht gar kein Grund. Um die anderen Invasoren werden wir uns morgen kümmern.« Er kicherte. »Zwei Fliegen mit einer Klappe – das habe ich gern.« Er ging zur Tür. »Gehen wir einen Kaffee trinken!« Marsh erhob sich unsicher. »Aber – « »Ängstigen Sie sich nicht! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir auf dem Gebiet der Hypnose sehr weit sind. Ihre Erinnerung an den Zwischenfall wird…« Etwa zwanzig Minuten später kehrte Marsh an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich stirnrunzelnd. Er hatte das ärgerliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben und konnte sich nicht daran erinnern. Woran hatte er nur gedacht? Ach ja – wann würde die Sache ein Ende finden? Wann würde »welche« Sache ein Ende finden, um Himmels willen? Er senkte seinen Blick auf die Schreibunterlage, und sein mürrisches Gesicht nahm einen noch finstereren Ausdruck an. Barton hatte ihm immer wieder gesagt, daß Kritzeln ein Zeichen nervöser Störungen sei. Offensichtlich hatte er recht.
Unter den undeutlichen Zeichnungen, den Strichmännchen und Ornamenten fand er in seiner deutlichen Handschrift die Worte: »Fremde Wächter«. Was, zum Teufel, sollte das bedeuten?
Originaltitel: THE GUARDIAN Copyright © 1958 by Nova Publications, Ltd. Übersetzt von Eduard Lukschandl