Avo riß den Reißverschluß seines Schlafsacks auf und bewegte sich schwerelos zum Operationsdeck. Der Robotpilot überwac...
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Avo riß den Reißverschluß seines Schlafsacks auf und bewegte sich schwerelos zum Operationsdeck. Der Robotpilot überwachte ihre Position und die Überlebenssysteme. Alle anderen Funktionen waren erstorben. Sie konnten Mikrowellen senden, aber nicht empfangen. Ihr Notsignal wurde überall im Raum gehört, aber die Rettung würde lange auf sich warten lassen, trotz Tassmors Plänen. ... UND DIE ERDE SO WEIT von H. C. Petley und vier weitere neue Science-Fiction-Stories: – PROLOG ZUM LICHT von Tony Sarowitz – DIE AUGEN DES WOLFES von Pat Murphy – DER FELS UND DER SEE von Stephan Tall – DIE WELT GOTTES von J. T. McIntosh
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31033 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Weinland Umschlagillustration: DELL/Herbert Göllnitz Copyright © 1976 bis 1979 by UPD Publishing Corporation Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M. – Berlin – Wien Printed in Germany 1981 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31033-8 Dezember 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-Fiction-Stories/ hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M.; Berlin; Wien; Ullstein Teilw. ist kein Hrsg. angegeben NE: Spiegl –, Walter [Hrsg. ] 91. Von Tony Sarowitz ... Zsgest. von Michael Nagula. [Aus d. Amerikan. übers. von Manfred Weinland]. – 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31033: Science-fiction) ISBN 3-548-31033-8 NE: Sarowitz. Tony [Mitverf.]; Nagula, Michael [Hrsg.]; GT
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 76–90
Science-FictionStories 91 von Tony Sarowitz Pat Murphy Stephan Tall J. T. McIntosh H. C. Petley Zusammengestellt von Michael Nagula Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Prolog zum Licht Tony Sarowitz ....................................................
6
Die Augen des Wolfes Pat Murphy ........................................................
66
Der Fels und der See Stephan Tall ........................................................
89
Die Welt Gottes J. T. McIntosh ..................................................... 137 ... und die Erde so weit H. C. Petley ......................................................... 169 Nachwort Michael Nagula .................................................. 207
Tony Sarowitz PROLOG ZUM LICHT Rattrack rannte. Seine Schuhe hämmerten auf die stählerne Straße der nächtlichen Stadt. Sein Rücken war gerade. Er sah aus wie jemand, der irgendwohin zu gehen und irgend etwas zu erledigen hatte – etwas sehr Ungewöhnliches zu dieser Stunde. Hell genug war es. Der Schein einiger hoher Apartmentfenster reflektierte auf dem glänzenden Material der Straße. Einige dieser Lichter bewegten sich auf gleiche Weise wie er lief, bewegten sich, wie sich die Apartments und Gebäude selbst wieder aufstellten, ohne den Schlaf der Tagmenschen beim Wechsel zu stören. Die Stadt bereitete sich auf morgen vor, vollzog ihre Veränderung zu einer Zeit, da niemand es sehen konnte. Hinter Rattrack ertönte das Geräusch von Claves Stuhl. Der Stuhl näherte sich, bis er mit ihm auf gleicher Höhe war. Eine Seite des Gefährts hing merklich tiefer als die andere. Seine Scheinwerfer erloschen, die Glühlampe wurde fast unsichtbar rot. Der ganze Stuhl wackelte leicht, als Clave sich vorlehnte, indem er sein Gewicht auf die knotigen Ellenbogen verlagerte. »Vielleicht schafft sie es nicht, Rattrack«, sagte er. »Das Straßennetz wurde letzte Nacht schon wieder geändert. Im Westend ist alles umgekrempelt worden. Vielleicht ist sie dort hängengeblieben.« So etwas kam natürlich vor. Es kam vor, daß Straßen geändert wurden, daß ein Gebäude in die Straße
hineinschlüpfte und damit eine Sackgasse in ein nächtelanges Gefängnis verwandelte. Es kam sogar vor, daß man sich einfach in einem neuerrichteten Straßenlabyrinth verlaufen konnte, das zum Amüsement der Tagmenschen erstellt worden war. Aber so etwas geschah nicht oft. Man konnte jederzeit die Orientierung wiederfinden, wenn die Stahlstraße vor einem lag. Die Stahlstraße änderte sich nie; jedenfalls hatte sie es bisher noch nicht getan. Sie trennte die Stadt von Osten nach Westen wie ein Fluß, der durch ihr Herz floß. Oder wie ein Spiegel, in dem die Stadt ihre Veränderungen sehen konnte. Es war eine Regel des Spiels. »Sie ist hier irgendwo«, sagte Rattrack und lief weiter. »Werd' nicht ganz verrückt, Rattrack«, sagte Clave. »Ihr Essen ist vielleicht spät gekommen. Ihre Maschinerie könnte kaputtgegangen sein. Oder sie hat sich entschlossen, nicht zu kommen.« Das waren auch Möglichkeiten. »Hau ab, Clave«, sagte Rattrack. »Sie hat sich die letzten vierzig Nächte mit mir getroffen und wird auch heute kommen.« »Es tut mir leid, Rattrack. Entschuldige bitte. Verzeih.« Clave wendete seinen Stuhl und verschwand. Das Brummen der Maschine erstarb langsam, bis es nicht mehr als ein Flüstern war, ungefähr hundert Meter weit entfernt. Starker Mann, dachte Rattrack. Was für ein starker Mann bin ich doch, einen Zwerg wie Clave wegzujagen ... Aber es war keine Zeit, sich mit ungeschickten Entschuldigungen aufzuhalten. Am besten vergaß man es. Clave würde verzeihen, das tat er immer.
Rattrack lauschte dem Geräusch des Stuhls, das nun auf ein Murmeln reduziert war. Er mochte diesen Ton. Es erinnerte ihn an seine Nächte als Troller, als dies noch sein Stuhl war, mit dem er tief über den Straßen hinwegschwebte. Sie sollten verdammt dafür sein, daß sie ihm seinen dunklen Stuhl weggenommen hatten, verdammt ... Wer eigentlich? Darauf gab es keine leichte Antwort. Nicht die Troller, nicht die fünf Millionen Tagmenschen, die hinter den schwarzen Mauern der Gebäude schliefen. Es war allein die Stadt, die Stadt und ihre Spiele. Zweimal verdammt sei die Stadt. Ein entfernter Schreckensschrei kam von links, dann Stille. Nur ein Geräusch der Nachtstadt, nichts Außergewöhnliches. Er ging weiter, die Ohren gespitzt, um das Klappern seiner Schuhe zu hören, das Wispern von Claves Stuhl und die Totenstille der Stadt um ihn herum. Direkt über seinem Kopf sah er, wie das Licht aus einem Apartment im obersten Stockwerk auf der Stadtkuppel reflektierte. Es war etwas Schönes, dieses schwache Glimmen in einem Feld aus purem Schwarz. Die zu kleine Tunika schob sich an seinen Unterarmen hoch, und er zuckte vor Unbehagen, ging weiter. Das gedämpfte Geräusch eines Trollers verlor sich irgendwo in der Ferne. Er hörte die Laute, ehe er die Frau sah: ein heftiger Schlag, Quietschen, Scharren, das Stakkato rennender Füße, dann wieder ein Schlag. Hier war nur wenig Helligkeit, und Rattrack lief fast vorbei, bevor er sie, gegen die Mauer gelehnt, sah. Er zögerte, ging dann hinüber. Blut bedeckte ein Auge und rann über ihr Kinn. Die Spitzen ihres Haares waren blond, aber der Rest war schwarz und
matt. Sie reichte ihm ihre Hand, und er half ihr auf. Wieder auf den Füßen, schien sie sich nicht zurechtzufinden. Sie stolperte vor und zurück, fiel dann wieder gegen das Haus, jeder Atemzug wie das Herabschlagen einer Axt. Sie lächelte. Sie stieß sich ab, schwankend wie eine Betrunkene, bis sie in der Mitte der Straße verharrte. Sie richtete sich auf, senkte aber den Kopf und rannte mit voller Wucht gegen die Wand. Es war kein Krachen zu hören, als sie dagegenprallte. Vollkommene Stille. Clave war vor diesem Zwischenfall geflohen, natürlich. Rattrack machte einen Schritt, erschrak über den Klang. Aber das war absurd. Sie war nur eine Tote, und die Nacht wartete, Zylyphony war irgendwo ... Er kniete nieder und berührte ihren Arm. Wahrscheinlich eine Künstlerin. Künstler resignierten oft frühzeitig. Keine Tinte, kein Papier, kein Ton, keine Inspirationen, ausgelöst von Kaugummi. Er hörte das Surren einen Moment bevor der Scheinwerfer des Trollers über die Straße huschte. Das Licht strahlte über die Metallstraße, und Rattrack nahm kurz einen Schatten wahr, jemanden, der auf der anderen Straßenseite stand und beobachtete. Der Troller kam näher und schwebte in seinem Stuhl ein paar Meter entfernt. »Null-eins-sechs. Ich hab's.« Er warf das Ende seines Fängers um die Tote, drückte den Knopf und lehnte sich zurück, den Kaugummi im Mund bearbeitend. Er gähnte und starrte in den schwarzen Himmel. Keine Sekunde blickte er zu Rattrack oder auch nur in seine Richtung. Ein dünnes weißes Band kam aus dem Fänger heraus und wand sich um den Kopf der Frau, fest und
gleichmäßig wickelte es sich zuerst um den blutigen Schädel der Frau, dann die Stirn herunter, über die Augen, drückte die Nase flach und hob den Kopf leicht an, um darunter fortzufahren. Rattrack sagte: »Gut, dich befriedigt deine Arbeit.« Der Troller reagierte nicht, sagte nichts und bewegte sich nicht. Das Band bedeckte nun das Genick der Toten und wanderte weiter zu den Schultern, preßte die Arme dicht an die Rippen. »Eine harte Arbeit«, sagte Rattrack, »eine wirklich wichtige Arbeit und herrlich zu sehen, wie du sie machst.« Der Fänger bandagierte die Hüften und fesselte dann Beine und Füße zusammen. Das Band schlüpfte zurück ins Heck der Maschine, die den langen, weißen Kokon vom Boden abhob, bis er an einem einzigen Faden hing, das Kopfende wenige Zentimeter über der Erde. Das Paket wurde an einem Haken unter dem Sitz befestigt. »Nun ist sie sicher«, sagte Rattrack. »Du bist ein wahrer Held.« Der Troller richtete den Scheinwerfer auf Rattrack. »Bleib draußen, Freundchen«, sagte er kalt. »Noch vier Stunden, bis es Tag wird. Bleib nur eine Minute zu lang draußen vor deinem miesen kleinen Versteck. Ich werde dich finden. Ich vergesse kein Gesicht.« Rattrack lachte. Er zwang sich, direkt in den Scheinwerferkegel zu blicken. Seine Augen brannten wie Feuer. »Du auch, Freundchen«, sagte er. »Warte, bis du einen Fehler machst und draußen im Nachtlicht ohne deinen Stuhl bist. Dann sieh zu, wie du zurecht kommst. Ich vergesse auch kein Gesicht.«
Der Troller spie aus und schwang mit seinem Stuhl dicht an Rattracks Nase vorbei. Er beschleunigte, glitt aber sehr tief, so daß der Kokon über den Boden schleifte. Rattrack lachte wieder. »Ho, Zylyphony«, rief er in die Stille und wartete, bis seine Augen wieder sahen. »Hast du das gesehen? Da fährt noch ein Troller, der Rattrack kennt.« Er ging über die Straße zu den Schatten, wo der Scheinwerfer des Fängers sie kurz enthüllt hatte. Er war sicher, daß sie es war. »Zylyphony? Komm heraus!« Die Schatten waren leer. Er schlenderte die Straße hinunter und ließ seine Hand über die glatten Häuserfassaden streichen. Sie war hier, irgendwo. Dann hörte er das Summen und preßte sich flach gegen eine Wand. Es war ein Wächter. Er kam die Straße herauf, faustgroß, wie ein metallener Käfer, mit einer Geschwindigkeit, die seine Konturen verschwimmen ließ und einem Vibrieren, das von seiner pulsierenden Leuchtkraft ausging. Es war sich bewegende Hitze, sie konnte alles wegbrennen, konnte einen Menschen durchschneiden wie ein Stück Käse und einen gutversorgten Stumpf zurücklassen. Es war perfekt, unberührbar, und Rattrack haßte es. Der Wächter verharrte vor dem Blut auf der Straße bewegte sich dann wie eine Krabbe über die Lache. Er kroch an dem Haus hinauf und wieder herunter und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Das Ganze dauerte nur Sekunden, aber nichts blieb übrig, kein Kratzer, kein Blutfleck, nichts.
Rattrack sprang von der Wand weg. Da war ein Geräusch. Er drehte sich um. Zylyphony stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Sie schaute ... nein, nicht auf ihn. Es schien, als würde sie ihn nie direkt ansehen, sondern immer rechts oder links von ihm oder über ihn hinweg. Ihr Haar war ein Kranz schwarzer Locken. Sie war wie eines jener Lichter aus den Apartmentfenstern, unmöglich zu erreichen, von der Nacht umrahmt. Er lächelte sie an, obgleich er wußte, daß sie dieses Lächeln nicht erwidern würde. »Hast du mich mit dem Troller gesehen?« »Ja«, sagte sie. Und irgendwie schien ihm die Art, wie sie es sagte – die Augen in die Ferne gerichtet, ein einsames Nikken ohne Enthusiasmus oder wenigstens Vertrautheit –, den Sieg zu stehlen. Einen Moment meinte er, nichts mehr ertragen zu können, glaubte er, daß diese kleine Verletzung den Damm brechen lassen würde, der seinen ganzen Ozean voll Schmerz zusammenhielt, daß er schließlich ruiniert und über den Abgrund gestoßen würde. Aber noch nicht. Er schloß die Augen, fühlte, wie die innere Ruhe in ihn zurückkehrte. Es schien, hatte für einen Moment geschienen, daß sein Körper nicht länger ein einfaches Paket aus Blut und organischer Substanz war. Er war der Träger eines starken Schmerzes, seines Hasses auf die Stadt. Einen Lebensstrahl in dieser trübblickenden Frau zu treffen, war nicht länger ein Spiel. Der Spaß war zu weit gegangen, war erst sauer und dann ranzig
geworden. Vierzig Nächte, und nun wußte er, daß – wie alles andere, das in seinem Leben geschehen war – wieder die Stadt es war, die versuchte, ihn klein zu kriegen, ihn zu erniedrigen, indem sie diese Frau zu einem Nichts reduzierte und ihm ins Gesicht warf. Er sprang zu ihr und nahm ihre Hand. »Komm mit mir«, sagte er rauh. Und sie folgte ihm, wie er gewußt hatte, daß sie ihm folgen würde, ohne Willen, ohne Protest. Sie folgte einfach. Zu ihrer Rechten schlüpfte ein Gebäude lautlos in die Straße, einen steten vertikalen Abgrund hinterlassend. Bevor das Dach auf gleicher Höhe mit der Straße war, rückte das Gebäude dahinter nach vorn, das nächste ebenfalls, und so ging es weiter, eines nach dem anderen, bis eine neue Straße ins Dunkel führte. Er würde sie wieder zum Brunnen bringen (wenn dieser noch da war) und wieder ... etwas tun. Sie wandten sich von der Stahlstraße ab in tiefere Schatten hinein. Sie waren noch nicht weit gegangen, als das Geräusch von Claves Stuhl durch die Nacht drang und er wieder seine Position einnahm, hundert Meter hinter ihnen. Als sie in den Hof kamen, sah Rattrack zwei Männer, die sich scheu im Licht bückten. Sie flüsterten seinen Namen und krochen weg, in die Nacht hinein. Der Brunnen war noch immer da, aber er hatte sich verändert. In der ersten Nacht, als sie ihn sahen, vor fast zwei Wochen, war er nur wenig größer als ein flaches Bassin gewesen, mit ein paar Skulpturen und einigen Klettersteinen. Jede Nacht war er gewachsen, und jetzt war er zu einem riesigen Wald aus dünnen, roten Türmen und spiralförmigen Kaskaden gewor-
den, die fast halb so hoch wie die Häuser waren. Er glomm in einem blassen gelben Licht, erzeugte damit die Illusion von Belebung in dem dunklen Rund der Gebäude, die Schulter an Schulter um ihn herumstanden wie schüchterne Betrachter. Es war ein Schauspiel in einem Stilleben und Rattracks bevorzugtes Geheimnis. Warum existierte nur dies in der ganzen Stadt, um die Schwärze der Nacht vergessen zu lassen? Warum änderte dies und nichts sonst am Tag seine Gestalt? Die Türme und Becken waren jetzt trocken, wie immer zur Nacht, aber Rattrack sah Wasser. Er schloß die Augen und rutschte eine Rinne hinunter, die große in der Mitte, ein rotierender, kilometerlanger Wasserstrom, die Stadt drehte sich um ihn ... das Kaugummi in seinem Mund griff in seinen Blutstrom hielt Augen und Hirn zum Narren. Er stellte sich vor, wie die Gerade in einen See mündete und dann vielleicht zu einer Wasserfontäne wurde, die ihn zur Spitze hob, während sie die Untenstehenden mit Wasser besprühte. Auf einem Wasserfall zu reiten. Er hätte schreien mögen. Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Schenkel, fühlte einen befriedigenden Stich. »Komm«, sagte er zu Zylyphony. »Wir wollen erforschen.« Sie fuhr zurück, setzte sich auf die schwarze Straße und sah hinunter. »Also gut«, sagte er. Er würde den Schmerz nicht aufkommen lassen. »Bleib hier.« Er fixierte mit seinen Augen den höchsten Punkt der größten Spirale, kletterte mit Händen und Füßen über die unebenen Blöcke am Fuß des Brunnens und
begann, hinaufzuklettern. Die abgestuften Wände des Spiralenkanals waren ein leichtes Fressen für seine Hände und die leichten Sohlen seiner Schuhe. Zu seiner Linken war nichts als freier Raum. Es wurde eine lange Kletterpartie. Er kam oben an, als er schon anfing zu ermüden. Er hielt an, um die Schuhe auszuziehen und den Schweiß von seinen Handflächen zu wischen. Er sah zum Boden. Zylyphony wurde vom Glimmen des Brunnens schwach beleuchtet, klein wie ein Steinchen. Sie schien wegzuschauen, obwohl er nicht sicher sein konnte. Was mußte er tun, damit sie ihn ansah? Sollte er schreien, mit den Armen winken? Würde sie zuschauen, wenn er sprang? Clave stand etwas von ihr entfernt, auf der anderen Seite des Brunnens, von seinem Schatten durch den Raum unter seinem Stuhl getrennt. Rattracks Blick kehrte zu ihr zurück. Sie schaute nicht. Er ließ seine Schuhe über den Rand fallen und kletterte weiter, nun schneller, versuchte, die Spannung, die nach seinen Muskeln gegriffen hatte und ihn die Zähne zusammenbeißen ließ, damit zu lösen. Dann war er oben, auf einer schmalen Plattform. Zylyphony und Clave waren nur noch als winzige Punkte auszumachen. Der Weg, der hinunterführte, war weit. Ein schnellerer Freitod, dachte er, als sich den Kopf gegen eine Wand zu hauen. Aber nicht für ihn, für ihn nie. Eine Sache, die Rattrack noch nie gefürchtet hatte, war sein eigener Tod. Er glaubte nicht daran. Eine Brise hätte ihn von dem kleinen Plateau fegen
können, aber über der Stadt gab es keine Brise. Er blickte sich um. Und selbst aus dieser Höhe, selbst mit dem Licht des Brunnens, vermochte er die flachen Ränder der Dächer nicht zu erkennen. Er folgte mit seinen Augen der fortlaufenden Reihe schwarzer Fenster, bis sie irgendwo über seinem Kopf mit den schwarzen Wänden der Häuser zu verschmelzen schienen. Er sah noch höher, bis die Gebäude in den schwarzen Himmel und den unsichtbaren Stadtdom übergingen. Er sah hinauf, pfeilgerade, wie er auch dastand, den Mund aufgerissen, und zum ersten und einzigen Mal fühlte er sich klein. Das Gewicht der Unbedeutsamkeit fiel wie ein schwerer Körper auf ihn, und er sank auf die Knie, die zitternden Hände um den Rand seiner kleinen Insel geklammert. Er sah eine tote Frau mit einem blutigen Kopf. Er richtete sich langsam wieder auf, stellte sich auf die Füße, streckte die Knie und reckte sein Kinn wieder in die Höhe. Er griff mit beiden Händen nach dem Kragen seiner Tunika und riß sie bis zum Nabel auf. »Dies ist Rattrack!« schrie er. »Macht euer Licht an oder verkriecht euch im Dunkel. Hier ist Rattrack.« Die Stadt antwortete ihm mit Schweigen. »Genug«, sagte er, die Stimme kalt und nur so laut, daß er selbst es hören konnte. »Ich kenne dich. Ich weiß, was du mit den Menschen zu tun vermagst. Ich kenne das traurige Lächeln deiner Tagmenschen, wenn sie zu vergessen suchen, daß es nichts Neues gibt, wohin sie gehen könnten. Ich kenne ihr verzweifeltes Geschwätz, ihre endlosen Spiele. Ich kenne die
Trivialität deiner Imagination. Ich versuchte, dich zu verlassen und konnte nirgends hin. Dafür hast du mir den Tag gestohlen. Nun sage ich dir, daß ich nicht verschlungen werde. Da unten ist eine Frau, der du eine Seele schuldest. Und es ist Zeit, diese Schuld zu zahlen.« Er kletterte die Rinne hinunter. Die Reibung verbrannte dabei seine Handrücken. Er raste die sich weitenden Windungen der Spirale abwärts, tiefer und tiefer, der Boden der Stadt kam immer näher. Die letzten vier Meter sprang er und ging auf Zylyphony zu. Clave fuhr ihm entgegen, stoppte dann und beobachtete ihn mit Hasenaugen, als Rattrack an ihm vorbeiging. Er packte Zylyphony am groben Ärmel ihrer Tunika und zerrte sie auf die Füße. Sie erhob sich lahm. »Ich frage dich zum letzten Mal«, sagte er, »mußt du es zulassen, daß die Stadt dir das antut? Kannst du ihr das erlauben?« Selbst jetzt blickte sie ihn nicht an. »Du verstehst nicht«, sagte sie. »Wer sind wir, daß wir etwas erlauben oder nicht erlauben könnten? Wenn wir nicht existierten würde die Stadt ebenso weitermachen wie bisher, mit all diesen leeren Gebäuden, den ruhigen Straßen. Es gibt keinen Unterschied. Ich bleibe am Leben, weil das einfacher ist als zu sterben. Ich folge dir, weil ... Wer bin ich, daß ich nein sagen könnte? Aber das ist egal. Die Stadt ist eine Maschine, und ein Mensch zu sein, ist nichts Großartiges.« Clave gesellte sich zu ihnen, hoch auf seinem Stuhl thronend. »Er ist etwas Besonderes. Er ist –« »Halt's Maul, Clave.« Rattrack wandte nicht den
Kopf. »Ich lasse dich nicht von der Stadt nehmen«, sagte er. »Wir machen uns zu etwas Besonderem durch das, was wir tun.« Er lächelte. »Ich habe vor, dich lebendig zu machen, und wenn es dich umbringt!« Er zog sie am Arm und ging mit ihr die Straße hinauf. Clave folgte ihnen. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis sie wieder auf der Stahlstraße standen. Rattrack dirigierte Clave nach vorn und drückte einen Schalter auf dem Stuhl. Clave fuhr die Straße hinauf, Rattrack und Zylyphony rannten hinterher. Er war schneller als sie, und sie verloren ihn aus den Augen. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Sie konnten ihn quietschen und klappern hören, bis er nach einer Weile auch außer Hörweite war. Rattrack verlangsamte seinen Schritt. »Worüber denkst du gerade nach?« fragte er. Dies war die beste Art Licht für sie. Es machte ihr Gesicht weich, ließ sie zart erscheinen. »Ich habe mich gefragt, was es ist.« »Was?« »Ich bin nicht neugierig«, sagte sie. »Nein, ich dachte nur, es könnte einfacher sein, wenn du mir sagen würdest, was du tatsächlich willst. Wenn es Sex ist, kannst du ihn haben. Wenn du reden willst, werden wir reden.« »Was ich will ...« Als ob es klein genug wäre, in Worte gefaßt zu werden. Als ob es einfach gesagt und getan werden konnte. »Nur ein paar kleine Dinge. Ich will beweisen, daß alles, was du sagst, falsch ist. Ich will, daß die Stadt,
die ganze verdammte, räudige Stadt, aufsieht und meinen Namen sagt. Glaubst du, du könntest es jetzt verkraften, oder möchtest du noch eine Weile warten?« Der Stuhl schwebte über einer weiten Kluft in der Mitte der Straße, wo Minuten vorher noch keine Kluft gewesen war. »Was ist das bloß für ein Ding, Rattrack?« fragte Clave. »Der Stuhl hat mich hierher gebracht und ... Alles fühlt sich jetzt anders an. Ich habe Angst.« »Alles in Ordnung«, sagte er. »Der Stuhl ist da drin –« er deutete auf das Loch in der Straße – »da drin zu Hause. Er fährt hinein, wenn du den Schalter schließt. Es ist für die Troller.« Clave rutschte auf dem Sitz herum, schaute in einem Anfall von Zorn die Straße hinunter. Rattrack und Zylyphony gingen zum Rand des Loches. Es war ein zylindrischer Schacht, der geradewegs in den Körper der Stadt führte, sieben Meter durchmaß und schwärzer war als die Nacht. Zylyphony schüttelte sich und sah weg. Und dies, eigenartigerweise, schien ihm gerade richtig. »Solch eine tiefschwarze Stelle, Rattrack«, sagte Clave in einem lächerlichen Versuch, die Selbstkontrolle zurückzugewinnen. »Was ist das? Wohin führt es?« »Ach Clave«, sagte er theatralisch, »es ist der Ort der Toten, das letzte Reiseziel unserer hinweggegangenen Freunde der Nacht. Dies ist der wahre Schrein, wohin die Fänger ihre schrecklich zugerichteten Opfer bringen, um –« Er schnupfte. Das Grinsen mißlang ihm. In der Luft lag etwas Tragisches, eine Abfolge von Ereignissen, und es würde nicht damit getan
sein, nur hinunterzuklettern, sie hinter sich her schleppend wie einen Sack voller Steine. Er stand vor dem Loch, wartete auf inneren Auftrieb. »Kommst du«, sagte er schließlich. Sie schauderte wieder und zuckte mit den Achseln, aber als er seine Beine über den Rand schwang und hinunterstieg, bis nur noch sein Kopf über der Straße zu sehen war, setzte sie sich neben ihm nieder, um ihm zu folgen. Clave rief aus: »Ich würde auch kommen, Rattrack. Ich würde gern kommen, aber ich bezweifle, daß sich mein Körper bewegen wird. Ich glaube nicht, daß ich mich überhaupt rühren kann.« »Bleib, wenn du willst«, sagte Rattrack. »Aber es ist ungefährlich. Der Stuhl war schon unten. Hier habe ich ihn vor den Trollern versteckt.« »Das ist fein«, sagte Clave verzweifelt. »Es ist ungefährlich. Ich werde euch folgen, sobald ich mich wieder bewegen kann.« Ein Sims wand sich uhrenartig die Wand des Schachtes entlang. Obwohl nicht breit genug, um sicher darauf entlanglaufen zu können, konnte er als eine Art Leiter benutzt werden. Rattrack kletterte, mit Zylyphony zu seiner Rechten, hinunter. Sie folgte ihm Schritt für Schritt. Nach etwa hundert Metern Abstieg hörten sie ein Geräusch über sich. Es war Claves Stuhl, der sich langsam dem Loch näherte. Rattrack lächelte und fühlte sich mit dem Geräusch des Stuhles in seiner Nähe entspannter. Als er das letztemal hiergewesen war, hatte Rattrack in dem Stuhl gesessen und die Länge der Reise
kaum bemerkt. Nun schien sie sich endlos auszudehnen. Er kletterte, bis Arme und Beine, schon vom Erklimmen des Brunnens ermüdet, zu zucken und dann zu erlahmen begannen. Er zwang sich, noch etwas weiter zu gehen, jeden Schritt bewußt vollziehend, und den unwirklichen Farben der Finsternis nicht erlaubend, ihn vom Weg abzubringen. Er ging weiter, bis er nicht mehr konnte und bat dann um eine Pause. Sie saßen auf dem Sims, die Sproße über ihnen berührte ihre Köpfe. Rattrack bemühte sich zu schweigen. Er atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen und war nicht mehr fähig zu bestimmen, ob seine Lider offen oder geschlossen waren. Er hörte das Geräusch von Claves Stuhl, hohl und als Echo über ihnen hängend, und ... etwas anderes. Er streckte die Hand aus, um Zylyphony zur Bewegungslosigkeit zu zwingen. »Hörst du etwas?« »Nein –« Er kniff ihr in den Arm. »Schusch ...« Da war es wieder. Ein zischender Laut, wie ein Ball, der mit höchster Geschwindigkeit über eine Rampe rollte. »Ich höre es«, sagte Zylyphony. »Es war sehr schwach, wurde aber lauter, und man hörte eine Modulation des Klanges. Es war laut, dann leise, laut, dann leise, jeder Zyklus etwa eine Sekunde lang, als ob es etwas wäre, das sich sehr schnell bewegte, immer rundherum. Wo hatte er dieses Geräusch schon einmal gehört?« »Es ist ein Wächter«, sagte Zylyphony.
Sie klang ... erschrocken? Nein, aber ihre Stimme war lebendig. »Da ist ein Wächter auf dem Sims.« Einen Moment begriff er nicht. Dann begann er ein Stück hinaufzuklettern. Er konnte die Spitze des Schachtes nicht sehen, und das Ding kam hoch – wie schnell? So wie es sich anhörte, eine Sprosse pro Sekunde, dreißig Meter pro Minute. Er zwang sich selbst, auszurechnen, wie lange sie brauchen würden, um den Schachtausgang zu erreichen. Er rief Clave zu: »Bleib von den Wänden weg!« »Hände, dann Füße«, sagte Zylyphony. »Was?« »Hör zu.« Ihre Stimme war nah an seinem Ohr. »Wir halten uns nur mit unseren Händen, wenn es an unseren Füßen vorbeikommt. Dann balancieren wir auf unseren Füßen und strecken die Hände vom Sims weg, bis es verschwunden ist.« Er wußte nichts, was sie sonst hätten tun können. Sie standen da und lauschten dem anschwellenden Geräusch. Es schien den Schacht auszufüllen, jedes Wwuusch! in das nächste übergehend. Er hörte, wie Zylyphony den Atem ausstieß. Ein Kichern? Warum versuchten sie nicht, sich am Stuhl festzuhalten, während der Wächter vorbeischwirrte? Der Stuhl würde sie sicher alle tragen. Wie wußten sie, wann der Wächter auf der Sproße unter ihnen war? Dann fühlte er die Schwingung, als es unter ihnen war, und beide stießen simultan ein gellendes »Jetzt!« aus. Einen Herzschlag lang schienen seine Arme wie
Gummibänder auseinandergezogen, und dann »Jetzt!« – Er setzte seine Füße auf das untere Sims, riß die Hände weg ... Zu schnell. Er verlor die Balance. Er begann, von der Wand wegzuschwingen, warf seine Hand nach vorn, um die Sprosse zu ergreifen, als sich das Bild eines endlosen Sturzes, seines durch die Dunkelheit wirbelnden Körpers in seinem Gehirn festsetzte. Er hatte die Sprosse. Eine Feder schien seine Finger zu berühren. Der Schmerz kam eine Sekunde später, und er schrie, zuckte unwillkürlich zurück und wäre gefallen, wenn Zylyphony nicht die Hand gegen seinen Rücken gepreßt und ihn auf diese Weise gesichert hätte. Er heulte auf, preßte seine Linke fest an seinen Bauch, während die rechte Hand wieder und wieder über die Sprosse glitt. Clave ließ seinen Stuhl sinken, bis er auf gleicher Höhe mit ihnen war, und stieß sie dabei in seiner Hast fast über den Sims. »Ein Wächter, Rattrack.« Seine Stimme erzitterte und brach ab. »Ein Wächter schwirrte an mir vorbei, nicht weit von meiner Nase. Oh, Rattrack, es ist so scheußlich dunkel. – Du bist verletzt.« Rattrack bewegte seine rechte Hand die Sprosse entlang, vor Schmerz unfähig, sich still zu halten. Das Material war noch warm vom Vorbeikommen des Wächters. Seine Hand berührte etwas Kleines, Weiches. Er fühlte, rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger und erkannte dann, was es war. Er fuhr weiter mit der Hand, ertastete noch zwei. Es waren drei Fingerspitzen, schön aufgereiht auf
der Sprosse, wo der Wächter sie im Vorbeischwirren von der Hand abgetrennt hatte. Er wischte sie weg, ins Dunkel hinein; und verlor dabei um ein Haar wieder sein Gleichgewicht. »Laß uns hinausgehen, Rattrack«, sagte Clave. »Du kannst den Stuhl nehmen. Laß uns verschwinden –« »Verschwinden?« Die Entscheidung war bereits gefallen. »Nachdem es mir das angetan hat?« Sein Körper meldete sich, er spürte Schmerz, doch nichts berührte seine vollkommene, kalte Sicherheit. Die Schale war zersprungen. Dies war nur der Anfang. »Mir angetan!« Er schlug mit seiner gesunden Hand gegen die Wand und stieg weiter hinunter. Ohne ein Wort, so wie es sein sollte, folgten ihm Zylyphony und Clave. Nur fünf Sprossen tiefer, fünf unbeholfene Schritte unter Zuhilfenahme von Händen und Ellenbogen, gelangten sie zu einem blauen Licht in der Wand. Darüber war ein beleuchtetes Schild. »NUR BEFUGTES PERSONAL«. Er berührte den Farbspot, und eine Sektion in der Wand öffnete sich, groß genug, den Stuhl durchzulassen. Sie kamen vom Dunkel ins Licht. Sie sahen einen Fußboden und einen schwachglühenden Weg, einen Meter breit, der sich wie eine kühne Herausforderung in der Ferne verlor. Rattrack war schon einmal hier gewesen. Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den beleuchteten Pfad, ohne seiner Umgebung einen Blick zu schenken, und versuchte, die Schwäche aus seiner linken Hand zu kneten. Er konnte sie nicht zur Faust ballen. Die Finger bogen sich leicht, hielten dann zit-
ternd inne. Sie wollten sich nicht weiter bewegen, egal wie stark er die Muskeln einsetzte. Er blickte auf die Hand, sah wie eigenartig und ekkig sie erschien, als ob sie gar nicht zu ihm gehörte. Der Mittelfinger war zwischen Kuppe und Nagel durchschnitten. Der Zeigefinger und der vierte Finger hatten noch Teile des Nagels. Er benutzte seine rechte Hand, um die Finger zu biegen, und der Schmerz traf ihn wieder. Schlimmer als zuvor. Er fiel vornüber, erbrach sich und schaukelte hin und her, außerstande die Augen zu öffnen. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter. »Geh weg«, sagte er. Das säuerliche Erbrochene in seiner Kehle ließ ihn husten. »Laß mich.« Er brauchte etwas Zeit, das war alles. Etwas Zeit ... Zylyphony machte einen Schritt zurück, schlang die Arme um sich und erschauerte. Die Luft war hier viel kälter als die konstante Temperatur der Stadt. Sie schüttelte den Kopf, ging ein paar Schritte von Rattrack weg. Sie sah sich um. Es gab viel zu viel zum Nachdenken, und sie war noch nicht bereit. Das Licht an diesem Ort konnte man nur als hell im Kontrast zum Dunkel des Schachtes bezeichnen. Sie konnte die Schatten sehen, die Grenzen ihres Blickfelds. Der Raum war riesig. Sie konnte keine Wände sehen, keine Decke. Der Boden erstreckte sich weg von ihr, in jede Richtung. Eine Metallebene, nur unterbrochen von einem großflächigen Säulenlabyrinth, das sich vom Boden bis – wohin? – erstreckte. Schatten in der Ferne, massiv, aber undeutlich, schienen sich wie ölige Wellen zu heben und zu senken. Sie schloß die Augen und stampfte mit dem Fuß
auf, um die Festigkeit des Bodens zu testen. Dann wurde sie von plötzlicher Einsamkeit überwältigt und wirbelte herum, irr, freudig, stoppte genauso jäh wieder ihren Taumel, wirr und kalt, ängstlich. Nur die Kälte, dachte sie. Sie sah zurück und betrachtete den Schacht, den sie heruntergekommen waren, ein glänzender Zylinder, der vom Boden bis ... wie weit reichte? Entfernungen waren an diesem Ort nicht abschätzbar. Die Säule dort drüben, zum Beispiel. Sie vermutete, daß sie höchstens fünfzehn Meter weg stand und ging darauf zu, ihre Schritte zählend. Hundert Schritte weiter war sie nahe daran, aufzugeben. Sie glaubte fest, das Ding würde sich von ihr entfernen. Aber dann erreichte sie es doch noch, in einer plötzlichen und absoluten Verkürzung der Distanz. Die Säule war dünner als ihr kleinster Finger. Man hätte sie wohl nicht sehen können, hätte sie nicht das Licht des Pfades direkt auf den Betrachter reflektiert. Sie drückte ihre Wange gegen die Säule und blickte nach oben. Wie weit? Sie versuchte, es sich vorzustellen, redete sich ein, daß sie durch die Straße der Stadt geradewegs in die sanfte Behaglichkeit eines Apartments hinaufführte, wo jemand schlief und von der Sonne träumte. Sie berührte die Säule mit der Zungenspitze und fühlte das Prickeln des Metalls auf ihrem Rücken. Durch die Säule war ein Geräusch zu hören. Das gedämpfte Summen schwerer Maschinen. Sie stieß sich ab und ging zurück. Clave fuhr auf sie zu. »Wie geht es ihm?« fragte sie. »Er ist ziemlich schwer verletzt. Er fragte nach dir.«
»Ich komme.« Clave wandte sich ab, schwang dann den Stuhl aber noch einmal herum. Seine Finger zitterten an den Kontrollknöpfen, und der Stuhl schaukelte leicht hin und her. Einen Moment war Schweigen, dann sagte er: »Alles geschah nur deinetwegen. Er ist nur deinetwegen hier.« Sie zuckte vor der Intensität seines Schmerzes, seines Zornes und seiner Furcht zurück. »Ich will nichts von dem hier«, sagte sie. »Ich bin nur hier, weil – Nein, warte.« Sie ging auf ihn zu. »Es tut mir leid, Clave, aber ich bin dafür nicht verantwortlich. Ich will nur alleingelassen werden. Ich will nur einen Platz, der ruhig und warm ist. Ich will – nein, das ist alles falsch!« Sie faltete die Arme über ihrem Kopf, empfand, als würde sie dünn wie Papier auf dem endlosen kalten Boden ausgestreckt liegen. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß nichts außer ... Clave?« Er wartete, bewegungslos, eine Sphinx. »Ich will leben. Als dieser Wächter ... Ich will leben! Es ist fast komisch, aber ich wußte das vorher nicht.« Er kratzte sich am Ohr. »Es ist etwas anderes mit dir.« »Ich werde ihn bitten, umzukehren«, sagte sie. »Für dich. Du liebst ihn, nicht wahr?« Der Stuhl vollführte wieder seine eigenartigen Schaukelbewegungen. »Ich weiß es nicht.« Und er beschleunigte, um wie eine besorgte Mutter zu Rattrack zu schweben. Zylyphony sah ihm nach. Er hatte recht, sie hatte
sich verändert. Sie legte die Hand auf ihr Gesicht. Ihr Kinn war immer noch kalt vom Kontakt mit der Metallsäule. Ihre Hand wärmte die Stelle. Wieder zu leben, etwas zu wollen ... Sie hatte sich verändert und war ein wenig ängstlich darüber, daß sie keine Ahnung hatte, zu was sie geworden war. Rattrack kam auf sie zu, als sie dem Pfad nahe kam. Er sah selbst in diesem trüben Licht blaß aus, aber er schien gefaßt. »Wir wollten auf dem beleuchteten Pfad bleiben«, sagte er. »Ringsum bewegen sich Dinge.« »Du brauchst nicht weiterzugehen«, sagte sie. »Nicht, wenn du heruntergekommen bist, um mir etwas zu beweisen. Ich glaube nicht, daß dies noch nötig ist. Du kannst jetzt umkehren.« Rattrack lachte. »Gut, da war diese Sache – natürlich«, sagte er. »Dir etwas beweisen wollen, denke ich. Aber jetzt ... Da wir schon einmal hier sind, können wir uns auch ein wenig umsehen, warum nicht?« »Weil du verletzt bist und schwach. Und weil dieser Ort sehr wohl gefährlich sein könnte. Warte, bis es dir wieder gut geht.« »Was hast du? Mir geht es gut.« »Rattrack«, sagte Clave, »es ist ein verdammt scheußlicher Platz. Er läßt mich am ganzen Körper frösteln. Laß uns gehen.« »Halt' die Klappe, du ...« Er machte einen Schritt auf den Stuhl zu, und Clave jagte verängstigt davon. Rattrack wandte sich wieder ihr zu. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
»Es ist nicht nur deinetwegen«, sagte er. »Was noch?« »Das hier.« Er hob seine verstümmelte Hand und schüttelte sie wie etwas Fremdes. »Diese verdammte, dreckige Stadt hat mir meine Hand genommen. Ich werde ihr dafür auch etwas nehmen, bevor ich gehe. Ich werde ihr Rattrack zeigen. Ich werde ihr Rattrack beweisen. Dann gehe ich zurück. Ist das Antwort genug? Reicht das? Komm, Clave.« Er schlenderte auf den beleuchteten Pfad zu. Sie sah ihm nach, blickte dann zurück zur Metallwand, den Weg, den sie gekommen waren. Sie wußte nicht, was sie von sich zu erwarten hatte. Sie war eine Fremde in der eigenen Haut. Sie hörte den Klang von Claves Stuhl und drehte sich um. Er sah sie an, entschuldigend, vielleicht voller Hoffnung. Sie brachte ein Lächeln zuwege. »Dort hinten ist sowieso nichts«, sagte sie. »So gesehen hat er recht. Warum nicht weitergehen?« Sie setzten den Weg gemeinsam fort und beeilten sich, Rattrack einzuholen. Sie war dankbar für das vertraute Geräusch des Stuhls. Sie sah nichts als die entfernten Bewegungen der Schatten, aber alles wirkte, als befände es sich unter Wasser, so sanft war das Licht und so verschwommen waren die Konturen. Nichts schien ganz wirklich oder stofflich zu sein, außer dem Geräusch des Stuhles und dem geraden Weg. Es war, als gäbe es keinen sonstigen Halt, als könnte sie über den Rand treten und fallen, immer fallen, weiter und weiter. Sie gab den Versuch, diesen Ort zu begreifen, auf und bemerkte nach einiger Zeit, daß sie sich auf die
irreführende aber beruhigende Vorstellung gestützt hatte, daß die Dunkelheit aus Mauern bestände, daß diese vagen, peripheren Bewegungen vom Rascheln dünnen Papiers kämen, nur ein paar Schritte entfernt auf jeder Seite. Sie lächelte. Clave neben ihr wiederholte leise einen Kinderreim, ein Krippenlied, das sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kannte. »Schlaf ein, Kind, schließe deine Lider, morgen früh steigt die Sonne wieder.« Seltsam, daß Erinnern so schmerzlos sein konnte. Der Reim erinnerte sie an einen anderen Vers, an die letzten Zeilen eines Gedichts, daß sie nie gemocht hatte, das ihr aber nun in den Sinn kam. »Fürchte die Schatten nicht. Das Dunkel ist Prolog zum Licht.« Clave sagte: »Als ich in der Wiege lag, sagten sie, ich sei der Schlechteste. Die Habilitatoren sagten das, und die anderen Kinder auch. Sie sagten, du bist der Schlechte. Du bist einer, den die Nacht kriegen wird. Und sie hatten recht. Ich konnte gar nichts dagegen machen. Ich war kein Künstler, kein Krankenpfleger, kein Denker. Ich war zu dumm. Ich mochte die Spiele nicht, und das Schreihaus auch nicht. Oh, ich war sehr schlecht. Alles, was ich konnte, war schauen und hören. Es dauerte fünfundzwanzig Jahre, aber die Nacht hat mich bekommen, es hat ...« Das Kind ist zornig, verzieht den Mund. Zeichen des Ungehorsams. »Ich werde nicht gehen«, sagt es. Sein Rücken lehnt gegen die Wand, und seine dicken kleinen Hände sind zu Fäusten geballt. »Ich will nicht gehen.«
Der Habilitator nickt, sieht Zylyphony und die anderen Umherschlendernden, die innehalten, um zu gaffen, mit einem Achselzucken an. »Himmel, nein«, sagt der Habilitator übertrieben artikuliert. »Wenn du nicht willst, gehen wir natürlich nicht. Das ist eine gute Idee.« Sie lächelte die Menge tolerant an. »Ich möchte zurückgehen«, bekräftigte der Knabe. »Hm, das können wir nun nicht gerade«, antwortete sie. »Natürlich, wenn du nicht zum Schreihaus gehen willst, gehen wir eben nicht, aber es ist eingeplant, daß wir das tun, verstehst du? Wenn wir nicht tun, was eingeplant ist, dann haben wir gar keinen Plan mehr und können überhaupt nichts tun. Ich bin sicher, du verstehst das. Du hast also die Wahl, klar. Wir können zum Schreihaus gehen, oder wir können gar nichts tun.« Die Menge wächst. Jemand schubst Zylyphony, macht eine entschuldigende Geste und geht weiter. Es macht ihr nichts aus. Sie ist ganz gerührt von diesem kleinen Drama; beinahe ernsthaft interessiert. Außerdem scheint die Sonne. Das Essen war gut. All das fühlt sich wie einer der wirklich guten Tage an. Der Habilitator wartet geduldig, während sich der Knabe im Kreis der Gesichter umsieht, bis seine Schultern zusammensinken und er sich von der Wand löst. »Bist du nun bereit zu gehen?« fragte sie. »Möchtest du?« Er nickte mit herabhängendem Kopf. »Das ist schön, wenn du es willst.« Dann, als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnen: »Du solltest etwas vorsichtiger sein, junger Mann. Das Nachtleben
wartet auf dich, wenn du so weitermachst.« Die Menge raunte zustimmend und zerstreute sich, jeder redet mit dem Nachbarn, ernst oder amüsiert über die Episode. Zylyphony scherzt mit einer Frau, die aus Neugierde ganz aufgeregt vom Metaphysischen des Nachtleben-Konzepts ist. »Perfektion, natürlich ...« Und ja, Zylyphony stimmt damit überein, daß die Nachtleben-Fiktion dazu dient, die Perfektion der Stadt zu betonen. Es ist absurd, es anders zu sehen. Es ähnelt dem früheren Höllenmythos, der wieder ausgegraben wurde, von Leuten erdacht, die ihre Erfahrungen als Troller verarbeitet haben und von Leuten, die in der Nacht verschwinden. Wenn bloß (und sie zitterte bei diesem Gedanken ein wenig) wenn bloß alles wahr wäre. Wenn sie nur eine einzige Nacht weg von dieser verdammten Perfektion zubringen könnte. Irgend etwas, um die Zeit verstreichen zu lassen. »Was?« fragte sie. Clave sah sie an. »Ich habe aufgehört, den Kaugummi zu essen«, sagte er. »Ich habe alles über ihn herausgefunden und schlagartig damit aufgehört. Dann kamen eines Tages die Troller, um mich zu holen und auf die Straße zu werfen. Sie sagten mir nicht einmal, wo das Versteck war. Rattrack rettete mich.« Er beugte sich zu ihr herüber. »Du denkst nicht, daß ich ein Schlechter bin, oder?« fragte er schließlich. »Wie könntest du? Du bist hier. Du bist wie ich.« Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte er sich zurück. »Ja, Clave«, sagte sie, ohne wirklich mit ihm zu
sprechen. »Ich bin auch schlecht. Ich habe aufgehört, mit den Leuten zu reden, und das ist schlimm genug in dieser Stadt.« »Oh, ich habe nie mit irgend jemanden geredet«, sagte Clave. »Ich habe viel gesagt, aber nie hat mir jemand geantwortet.« »Was hast du über den Kaugummi herausgefunden?« Seine Stimme sank zu einem verschwörerischen Flüstern. »Es ist nichts zum Essen«, sagte er. »In Wirklichkeit ist es eine kleine Maschine. Sie stiehlt sich in dein Innerstes, verwandelt deinen Magen in eine Maschine und all deine Adern in Drähte. Sie macht dein Gehirn zu einer Maschine.« Er blickte weg von ihr. »Du glaubst mir nicht.« »Ich glaube dir«, sagte sie. »Das ist wahr.« Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, fast über ihrem Kopf. Ein winziges Teilchen fiel von der Decke herunter (nicht die richtige Decke natürlich, aber so hoch man sehen konnte), schwebte frei herab. An jeder Ecke konnte man eine Spur von Silber sehen. Ja, jetzt war es etwas näher und größer. Sie konnte tatsächlich Fäden an jeder Ecke erkennen. Doch es war immer noch so klein, daß sie es mit dem Daumen ihrer ausgestreckten Hand verdecken konnte. Jetzt kam es näher. Es war ein Kubus, und etwas Vertrautes haftete ihm an ... Und dann explodierte ihr sorgfältig zurechtgelegtes kleines perspektivisches Schema, als sie erkannte, wie riesig, wie unmöglich groß es war. Die Silberfäden waren vier Metallsäulen, und der Kubus, der schwarze Kubus –
Sie schloß die Augen und hockte sich auf den Pfad. Der Kubus war ein Gebäude, eine der großen Residenzen der Stadt, alle Fenster undurchsichtig, damit die Tagmenschen nicht bei ihrer Arbeit gestört wurden. Als ob es ihnen etwas ausgemacht hätte. Als ob es jemanden gab, der das hinter den Fenstern Gesehene nicht einen Kaugummi-Traum nennen und zu Bett gehen würde. Sie öffnete die Augen. Das Ding hatte sich auf dem Boden niedergelassen, endlos weit entfernt, ohne einen Laut, das Dach noch unsichtbar in dunkler Höhe. Es begann, sich an einer Ecke von ihr wegzubewegen, bewegte sich mit den vier Metallsäulen, gewann stetig an Geschwindigkeit, bis es verschwunden war. Sie verbarg den Kopf in ihren Armen, hörte Schritte. »Ich muß umkehren«, sagte sie. »Ich muß zurück. Ich muß –« Sie verharrte. »Bist du überrascht?« Rattrack saß an ihrer Seite. »Es hat mich auch einige Zeit gekostet, bis ich mich daran gewöhnte.« Er lächelte. »Es wäre mir recht«, sagte sie. »wenn wir irgendwo hingehen könnten. Es wäre schön, wenn wir einen Ort fänden, wo die Menschen Dinge sagen, die etwas bedeuten, oder wo die Stadt nicht wäre. – Das ist alles zuviel für mich. Dieser Ort wird immer so weitermachen, und er ist zu groß, um wirklich zu sein. Ich möchte zurückgehen und nicht weiter darüber nachdenken.« »Das ist es also, was du tun wirst?« sagte er. »Zurück ins Nachtleben und zu den Nippeln an den Wänden der Verstecke zur Essenszeit? Wenn die Stadt
dich nicht hindern würde, würdest du den ganzen Weg zurückgehen, nicht wahr? Zurück zu den Stunden, die du damit verbracht hast, eine kleine Änderung in etwas Bedeutungslosem zu bewundern. Zurück zu den Spielen, die mit dem Ziel gespielt wurden, ja nicht zu gewinnen, weil ein Sieg das Ende des Spiels bedeutet hätte. Erinnerst du dich? Erinnerst du dich an die Wohnzimmermöbel, die sie Kunst nennen? Erinnerst du dich an die ichbezogenen Absurditäten, die sie Denken nennen?« »Ich erinnere mich, ich erinnere mich, ich erinnere mich. Hörst du auf damit? Bitte, hör auf.« Sie fühlte sich unendlich müde und kalt und dachte, daß sie jetzt warten könnte, bewegungslos, nur warten, bis die Zeit alles wegnehmen würde. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Die Stadt wird mich nicht zurückholen, und das ist nicht schlimmer als das Nachtleben, denke ich. Vielleicht –« »Was?« Etwas, ein Hauch Leben, kroch in sie zurück. Eine gemeine Sache, dieses Wollen. »Vielleicht gibt es etwas hier unten. Leute. Ein neues Leben ... Ich weiß es nicht.« Und es war wieder verschwunden. »Was macht es aus. Wir laufen alle tot herum.« »Oh, ich fühle mich gar nicht so tot«, sagte Rattrack. »Meine Hand schmerzt ein bißchen, aber das ist schon das Schlimmste. Außerdem haben du und ich wenigstens etwas, was wir suchen können. Du dein Paradies und ich – sagen wir, ich habe eine Schuld zu begleichen.« »Deine Hand?« »Nein, es ist eine alte Schuld, oder man könnte es
ein Spiel nennen.« Er hielt die verkrüppelte Hand hoch, die eigenartig verkürzten Finger. »Dies war der letzte Zug, und nun bin ich an der Reihe.« »Deine Spiele lassen den Humor vermissen.« Sie berührte die Hand. »Schmerzt es sehr?« »Gerade genug, mich wachzuhalten. Es erinnert mich daran, daß ich lebe.« Sie sah ihn an, sah ihn das erste Mal richtig an. Da war nichts Neues erkennbar, nur ihre Augen waren anders. »Ist es so wichtig für dich, Leben zu spüren?« fragte sie nachdenklich. »So wichtig daß du den Schmerz willkommen heißt? Damit du ein persönlicher Widersacher der Maschine bist?« »Wenn die Stadt nur eine Maschine ist, was macht sie aus uns?« Er lächelte immer noch. Genau. Aber sie sagte nichts, sah nur weg. Sie fuhr auf, als seine Finger ihre Wange streichelten, aber sie unterdrückte Überraschung und Angst und streckte die Hand aus, um ihn auch zu berühren. Seine Augen blickten für einen Herzschlag in ihre, lange genug für sie, sich zu wünschen, ihn sowohl fester zu halten als auch, ihn von sich zu stoßen, lange genug, um die Stille auszukosten. Dann, als sie sicher war, daß er wußte, daß er sie hatte, wandte er sich zur Seite. Er sah über seine Schulter zu dem Lichtstreifen und sagte: »Wir sollten keine Zeit vergeuden.« Er stand auf, das Gesicht gedreht, damit sie es nicht sehen konnte.
»Ich gehe weiter um die Stadt zu finden – es wird zu einem Zusammentreffen zwischen uns kommen, dessen kannst du sicher sein. Und du kannst mitkommen, um nach deinem Paradies zu suchen.« Paradies. War es fair, der Hoffnung einen Namen zu geben? Aber was sie am stärksten fühlte, ganz oben, war Erleichterung. Er wartete ungeduldig, daß sie aufstand. »Fragst du dich je, wer du bist?« fragte sie. »Nein«, sagte er knapp. Schweigend machten sie sich auf den Weg. Sie ging einen Schritt hinter ihm, damit sich ihre Hände beim Gehen nicht zufällig berührten. Ein paar Minuten später kamen sie zu Clave. Er schwebte bei einer Aufzugsplattform, die auf dem Boden stand. Es handelte sich dabei um das gleiche Fabrikat, wie es auch in den Häusern der Stadt zu finden war, ein schwarzmarkierter Kreis auf dem Boden, halb umrahmt von einer runden, mannshohen Wand. Der beleuchtete Pfad führte um sie herum und verlief dann pfeilgerade weiter. Zylyphony und Rattrack gingen gemeinsam weiter, und an der Wand flackerte ein Symbol auf. Buchstaben glommen trübe. Sie ignorierten es. »Ich werde nicht passen«, sagte Clave. Die Zeichen verschwanden, wurden durch andere ersetzt. Zylyphony hatte kaum Zeit zu lesen. INSTANDHALTUNGS-ATM AUTO-FREQUENZIDENTIFIZIERUNG. Dann verblaßte auch diese Schrift, und an ihrer Stelle erschienen drei Sensorpunkte. »Abwärts«, sagte Rattrack und berührte den zweiten Sensor. Der Boden er-
zitterte. Kabel kreischten, und sie begannen, langsam hinabzusinken, dem Produktionszentrum entgegen. »Folge uns, Clave, so wie du es im Schacht getan hast«, sagte Zylyphony. Dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden, und ganz plötzlich pfiff und erzitterte der Fahrstuhl und kam zum Halten. Sie sah hinaus in einen schmalen Korridor, der in Licht getaucht war, und von dem Dutzende kleiner Gänge abzweigten, bevor er sich durch eine Biegung ihrem Blick entzog. Ihr Blick blieb an der Decke hängen. Wie seltsam, eine solch niedrige Decke zu sehen. Ihre Haarspitzen würden davon berührt werden. Sie hörte Claves Stuhl herabschweben und trat aus dem Aufzug, um Platz zu machen. Ihr war, als würde der Boden unter ihren Füßen um den Bruchteil eines Zentimeters absacken. Sie spannte sich, drehte sich halb um, hob dann die Arme vor die Augen, als das Halbdunkel von Licht, schmerzhaft hellem Licht, durchdrungen wurde. Sie hörte Claves Schrei, begann, sich zurück zum Aufzug zu tasten, wünschte sich fast, eher blind zu sein, als von solcher Helligkeit getroffen zu werden. Ihre Augen brannten wie kleine Flammen in ihrem Kopf. Sie berührte eine Wand und stolperte. Die Wand war kalt unter ihren Handflächen, und sie spürte die Helligkeit, obgleich sie die Augen fest geschlossen hielt. Lange Sekunden verstrichen, bis es nicht mehr schmerzte. Sie löste die Hände etwas, öffnete die Lider einen Spalt und starrte zwischen ihren Fingern hindurch.
Licht überflutete die Wand vom Boden bis zur Decke und dehnte sich zwei Meter weit. Dünne Linien, in einem Regenbogen von Farben flackernd tanzten, waren hier und dort mit elektronischer Geschwindigkeit und Präzision. Sie zwang sich, die Augen ganz zu öffnen (nun war es erträglich) und machte einen Schritt nach vorn, darauf zu. Es gab zuviel, um alles auf einmal zu erfassen, ein Labyrinth springender Linien, der Alptraum eines wahnsinnigen Grafikers. Ganz unten, in der rechten Ecke, stand in Computerbuchstaben: KREUZUNGSBEREICH VON OBERFLÄCHENVERTEILERSYSTEM UND HAUPTZUGANGSSCHACHT (ACHSEN X1-Y1-Z1). Das gab dem ganzen zumindest einen bizarren Sinn. Die Schatten oben sahen wie Gebäude aus, die sich entlang der Stahlstraße reihten. Hier war der Hydrophonics Palace, die berühmte DachspitzenArkade, orange umrissen. Jenes dort mußte das Spielhaus sein – nein, es war das Schreihaus. Das Spielhaus war weiter hinten, das schwarze Pentagon. Rattrack und Clave kamen zu ihr. »Das ist die Stadt«, sagte sie. Sie zeigte auf die Wegweiser. Rattrack nickte, deutete auf etwas. »Das ist der Schacht, den wir heruntergekommen sind.« Er war mit ›Hauptzugangsschacht‹ bezeichnet. »Was glaubst du, was das ist ...?« Mit ihrem Finger fuhr sie zu einer Gruppe grüner Linien, die vom oberen Rand des Bildschirms kurvenreich nach unten verliefen. Er zuckte mit den Schultern. »Transportschächte? Verbindungswege? Versorgungsstraßen?«
Er sprang vor, preßte seine Handfläche gegen den Bildschirm. »Dies hier kann uns Antwort auf alles geben«, sagte er. »Es kann uns verraten, wo die Stadt verwundbar ist, was man manipulieren kann, wie man abhauen kann. Es kann –« Er hielt inne. Ein Summen hing in der Luft. »Wächter«, sagte Zylyphony. Sie warf einen raschen Blick auf die Karte. »Dies ist die Instandhaltungsebene – ihr Heim.« Und sie hörten es alle, nicht das dünne Summen eines einzigen Wächters, sondern das tiefe, anhaltende Murren eines Dutzends, zweier Dutzend oder noch mehr dieser kleinen Maschinen. »Der Aufzug«, sagte Rattrack. Er machte einen Schritt in die Richtung. Ein Wächter schoß hinter der gewundenen Wand des Aufzugs hervor. Er hatte kaum Zeit, zur Seite zu springen. Der Wächter sauste um die Biegung des Korridors und verschwand aus ihrem Blickfeld. Kaum war er verschwunden, kam eine Gruppe von fünf weiteren um die Biegung und hielt genau auf sie zu. »Rattrack!« Zylyphony schrie gellend auf. »Der Stuhl! Spring auf den Stuhl! Mach, daß du die Füße vom Boden wegkriegst!« Sie bewegte sich selbst, noch ehe sie ausgesprochen hatte. Sie faßte die Lehne des Stuhls, zog sich hinauf, wankte einen Augenblick und schlang dann ihre Beine um die Armlehnen. Der Stuhl knarrte. Rattrack wirkte sekundenlang wie festgefroren, kletterte dann aber auf Claves Schoß. In diesem Moment erlosch der Bildschirm, und das Surren der Wächter verschwand im Dunkel unter ihnen.
Zylyphony stützte ihre Faust auf Claves Schulter. »Power, Clave.« Sie sah überhaupt nichts in der plötzlichen Dunkelheit, aber sie spürte die Sensation, als sie dem Boden langsam entgegenschwebten. Der Stuhl knirschte und zitterte, als er versuchte, das Übergewicht zu kompensieren. »Power«, sagte sie. Ein Teil einer bekannten Melodie fuhr ihr plötzlich und unverhofft durch den Sinn, war dann wieder verschwunden. »Power.« Claves Schulter war wie Stein. Er bewegte sich nicht. Sie reichte mit der Hand an die Kontrollknöpfe. Ihre Haltung war alptraumhaft falsch, die Hebel befanden sich einen Fingerbreit außerhalb ihrer Reichweite. Sie begann, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, sah, wie der Stuhl niedersank, sah den WächterSchwarm, der wie ein aufgeschreckter Bienenstock unter ihnen herumsurrte. Dann fluchte Rattrack, drehte sich um, damit seine gesunde Hand an den richtigen Hebel reichte, und zog. Der Stuhl verkündete quietschend seinen Protest, schüttelte sich, als wäre er nahe daran, auseinanderzufallen. Aber er hielt stand, fing an zu steigen und stabilisierte sich, als Rattrack den Hebel etwas zurückdrehte. Er sank nicht tiefer. »Der Aufzug«, sagte Zylyphony. Sie mußte schreien, um im durchdringenden Lärm Gehör zu finden, den Wächter und Stuhl verursachten. »Dirigiere den Stuhl zum Aufzug zurück.« Rattracks Augen waren weit aufgerissen und hatten einen wilden Ausdruck. Sein Gesicht von verzweifelter Unentschlossenheit verzerrt, seine Lippen geöffnet. »Nein! Die Karte! Wir brauchen die Karte!«
Zylyphony zog an der Rückenlehne des Stuhls und fühlte, wie sich ihre Muskeln im Nacken und am Bauch verkrampften. Sie schwang sich vollends auf den Stuhl. Die Lehne in ihrem Rücken schmerzte. Sie sah einen Wächter, der über ihrem Kopf unter der niedrigen Decke entlangschwirrte. Sie tastete nach den Kontrollknöpfen. Rattrack schlug ihre Hand weg. »Hör zu, Rattrack.« Ihre Stimme war völlig ruhig. »Die Karte erscheint, wenn vor ihr jemand auf dem Boden steht. Verstehst du? Der Boden. Schau, wo du stehen mußt.« Jede Sekunde erschienen mehr Wächter im Korridor, bedeckten den Boden fast gänzlich. Ein paar wischten die Wand entlang, ehe sie in der brodelnden Masse aufgingen. Zylyphony nahm die aufsteigende Hitze wahr und sah zu Rattrack, der hinunterblickte. Dann wurden sie erneut geblendet, als der KartenSchirm auflebte. Zylyphony zwang sich, hinzusehen. Diesmal war es weniger schmerzhaft. Rattrack starrte bereits auf die Karte. »Reaktor«, sagte er. »Siehst du, wo die Linien in dem einen Punkt zusammenlaufen?« Sie versuchte, nachzudenken. Das Surren der Wächter drang ihr durch Mark und Bein. Sie schaute auf die Karte. Die Stadt war auf vier verschiedenen Ebenen aufgebaut, von oben nach unten, von der Oberfläche bis zu einer Ebene unter jener, wo sie waren. »Das ist es«, sagte Rattrack. Und ja, sie konnte den Punkt sehen, auf der Ebene unter ihnen, wo alle Linien – grün, rot, gelb, blau –
zusammentrafen. Er hatte die Gestalt eines Domes und befand sich am Fuß des Hauptzugangsschachtes, jenes Schachtes, der sie hierher gebracht hatte. Rote Buchstaben, in den Dom hineingeschrieben, besagten: REAKTORKOMPLEX/ZENTRALE. War das von Bedeutung? Sie zerschmolz in der Hitze. Die Position des Stuhls verschob sich etwas, wurde instabil. »Der Aufzug, Rattrack. Jetzt.« Er nickte, bewegte die Hände. Der Stuhl heulte auf. »Zurück!« schrie sie. »Etwas nach rechts. Mehr. Da.« Die Wächter umringten den Zugang zum Aufzug, betraten ihn jedoch nicht. Signale leuchteten an der gewundenen Wand auf, Sensorpunkte erschienen, und sie griff danach. Es war ihr egal, welchen sie traf. Der Aufzug krachte und quietschte und begann dann zögernd, abwärts zu fahren. Für eine Sekunde waren ihre Augen auf gleicher Höhe mit den glitzernden, buckligen Körpern der Wächter. Dann waren sie vorbei. Der Aufzug rumpelte seinen Weg hinunter, ächzend, als wäre er der Großvater aller Maschinen. Er bewegte sich langsamer, als man es gewöhnlich erwartete, stoppte manchmal gänzlich, startete dann wieder zögernd, nachdem ein anderer Gang eingeworfen war. Claves Stuhl war neu und in schlechtem Zustand, aber dieser Aufzug war alt. Er fühlte sich alt an. Er ließ Zylyphony spüren, daß sie durch die Zeit und nicht durch den Raum fuhren. Sie lauschte seinen Geräuschen, als ob sie die Antwort auf ein Rätsel bein-
halteten. Warum bin ich hier? Klirr, wschh! Ich weiß es nicht. Wohin gehe ich? Ich weiß es nicht. Rattrack setzte den Stuhl auf den Boden und grinste Zylyphony strahlend an. »Welch ein Kampf«, sagte er. »Welch ein Abenteuer. Wir werden die Stadt nehmen und sie an der Nase herumführen.« Der Aufzug schwankte, setzte seinen Weg dann fort. Er lachte und trat gegen die Wand. Der Aufzug schaukelte. »Unser Kampfwagen!« Clave mißlang ein Grinsen. Rattrack lehnte sich hinüber und ergriff seine Tunika als er versuchte, sich abzuwenden. »Du dummer, kleiner Spinner«, sagte er. »Du ängstlicher Idiot. Du hättest uns alle umbringen können, als du so hochgeschossen bist.« Er schlug Clave auf den Mund. Zylyphony zerrte sie auseinander und versetzte Rattrack einen Hieb auf die Nase, als dieser versuchte, Clave noch einmal zu schlagen. »Du bist kein bißchen besser als er«, fuhr sie ihn an. »Geh weg von ihm, da hinüber! Mach. Geh schon.« Er zog sich zurück und kauerte sich gegen die Wand. »Halt ihn mir bloß vom Leib.« Er deutete auf Clave. Sie berührte Claves Schulter mit ihrer Hand und sah die Tränen in seinen Augen. So saßen sie und horchten auf die Geräusche der uralten Maschine, während sie die Ebenen der Stadt und die Minuten ihres Lebens durchfuhren. »Es tut mir leid«, sagte Rattrack. Sie waren beide still.
»Schaut, ich entschuldige mich nicht oft, aber ich habe es getan. Was wollt ihr mehr?« Der Aufzug schüttelte sich, fuhr dann weiter. »Ich kann es mir nicht leisten, rücksichtsvoll und weich zu sein«, sagte er. »Blickt in eure armseligen Seelen, und ihr werdet erkennen, daß ich dies für uns alle tue. Ich mache es für euch.« »Sei verteufelt achtsam, Rattrack«, sagte Clave, die Stimme so weich wie gesponnene Baumwolle. Zylyphony sah ihn völlig überrascht an. »Sei verdammt achtsam, damit du weißt, welche Seele deine Hilfe nötig hat.« Der Aufzug hielt an. Da war eine Tür mit einem Silberknauf auf einer Seite in der Mitte. Rattrack stieß zuerst gegen die Tür, dann zog er. Nichts. Er versuchte, den Knauf nach rechts oder links zu drehen. »Sie ist verschlossen.« Er trat dagegen. Zylyphony kam herüber und preßte ihre Hände gegen die Tür, die Finger gebogen, die Handflächen hochgestellt wie zwei große Spinnen. Die rechte Hand legte sie auf den Knauf. Er war noch warm von Rattracks Berührung. Er schien lose zu sein. Sie umfaßte ihn mit Daumen und Zeigefinger. »Nein.« Es war Clave. Er stand auf dem Sitz seines Stuhles und streckte ihr die knochige Hand entgegen, Innenfläche nach oben. »Tu das nicht ...« »Kann es schlimmer sein, als das Nachtleben?« fragte sie. »Ja.« Sie betrachtete den Knauf. Es schien ihr, als wollte
er sich umdrehen. »Ich muß es sehen, Clave. Wie können wir es wissen? Wie können wir es wissen, ohne nachzusehen? Wie können wir wissen, daß es nicht ...« Das Paradies ist. Aber das sagte sie nicht. Sie drehte den Knauf, und die Tür schwang lautlos und ohne Widerstand auf. Faulige Luft strömte in den Aufzug. Zylyphony trat über die Schwelle, hinein in die Untergangsatmosphäre, in den durchdringenden Geruch von Urin und Fäkalien, in die Stille. Sie stand auf der Straße einer Stadt. Einer früheren Stadt. Die Straße war zerstört. Viele der Mauern, die entlang der zerbrochenen Gehsteige standen, waren eingerissen, in Stücke zerfallen. Eine seltsame Art Licht, wie Feuerschein, flackerte in den Ruinen, tanzte mit den Schatten. Da: ein Dach war fast unbeschädigt auf die Steine gestürzt. Teilchen von Blau und Gold hingen noch am Material. Dort: eine makellose Hausfassade, gerade, als ob sie erst gestern erbaut worden wäre. Aber das flackernde Licht offenbarte, daß keine Seitenwände, keine Rückfront und kein Dach vorhanden war. Einmal mußte dies eine niedrige, aber geräumige Stadt gewesen sein, mit vier bis fünfstöckigen Häusern und großen Höfen. Nun waren die Häuser zerrissen und eingestürzt, die Höfe waren bloß Fragmente aus losem Zement, und die Leute ... Clave stieg aus dem Aufzug. »Es ist so leer«, flüsterte er. Rattrack war an ihrer Seite, offensichtlich ebenso
betroffen wie sie. Er räusperte sich. »Der Reaktorkomplex sollte geradeaus sein, wenn die Karte ...« Zylyphony sah ihn an. »Wir können jetzt nicht stehenbleiben«, sagte er. »Woher wollen wir wissen, daß es überall so aussieht?« Zylyphony sagte nichts. Er ging zwei Schritte weiter, verharrte, blickte zurück. »Wollt ihr nicht mitkommen? Wo wir schon so weit gekommen sind? Ich will mich nur noch ein bißchen weiter umsehen.« »Es ist vorbei«, sagte sie. »Hier ist nichts. Zeit, zurückzugehen.« Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, versuchte, ernster zu klingen, als sie empfand. »Wir können zusammen umkehren.« Sein Lächeln erlosch, er sah an ihr vorbei. »Clave?« Zylyphony sah eine Bewegung bei den Ruinen und, als sie sich umdrehte, gerade noch wegspringende Schatten. Sie betrachtete Clave in seinem Stuhl, dessen Gesicht einmal ausdruckslos war. Er glitt aus seinem Sitz und stellte sich neben sie. »Der Stuhl ist dein, Rattrack«, sagte er. »Vielen Dank dafür, aber ich denke nicht, daß ich ihn weiterhin brauchen werde.« Rattrack benetzte seine Lippen mit der Zungenspitze. »Gut«, sagte er. Er blickte die zerstörte Straße hinauf und dann wieder auf sie. »Gut dann.« Zylyphony bemerkte eine andere Bewegung und war plötzlich hellwach. Die Schatten? Sie sah die Straße hinauf, in die dünn flackernden Lichter. Wo-
her kamen sie? Dann schloß sich Rattracks gesunde Hand zu einer Faust, und er sagte: »Okay dann, ihr Verdammten. Ihr Verdammten.« Er ging die Straße hinauf. Ein glucksendes Lachen brach aus den Schatten hervor. Clave schrie und warf sich auf den Stuhl. Zylyphony fuhr herum. Und sie kamen. Sie konnte ihre Zahl nicht schätzen, es geschah zu schnell. Sie kamen aus den Schatten, alle auf einmal. Einige trugen Fackeln. Andere boten sich als gebückte, nackte Schattengestalten in den Lichtfetzen dar. Clave war verschwunden. Sie sah Rattrack, um den sich der Kreis der Körper geschlossen hatte. Dann waren sie über ihr. Alles war undeutlich. Bewegungen, Fragmente. Grunzen und Kreischen aus allen Richtungen. Eine Hand ergriff ihren Arm, doch sie schüttelte sie ab. Vor ihr tauchte ein Gesicht auf, und sie nahm es wie einen Schnappschuß in sich auf: rotes Haar und Augen wie rubinrote Steine, knochenbleiche Haut, Lippen, in der Mitte von einem furchtbaren Schnitt gespalten. Plötzlich trat sie heftig zu, fast grundlos, aber etwas wurde über den Asphalt geschleudert. Sie schlug eine Hand von ihrer Schulter, die Finger zu einem Klumpen verschmolzen. Sie wurde gestoßen und fiel. Sie sah einen Speer. Einen Beinknochen, vorne zugespitzt. Riesige Hände rissen ihr die Arme an die Seite, hoben sie vom Boden auf. Sie sah Rattrack in dem Tumult der Körper untergehen und schrie: »Rattrack!«
Sie hörte die Stimme ihres Bezwingers, laut und tief. »Rackpleck«, hörte sie. Sein Atem war dick und faulig, es würgte sie. »Rackpleck«, hörte sie, »Rackpleck.« Das verunstaltete Wort ging von Mund zu Mund, grunzend und quietschend. »Rackpleckrackpleckrackpleck«, und sie schleppten sie die Straße hinunter, rannten so schnell, daß die Fackeln fast erloschen, daß ihre feurigen Köpfe vom Wind zurückgeworfen wurden. »Rackpleckrackpleckrackpleck«, bis ihr Gehirn den Ton nicht länger hinnahm, nicht länger das, was sie sah, in Bedeutung umformte. Sie fühlte nichts mehr als die Stöße und Schläge, und selbst diese schienen wo weit weg wie eine vage Erinnerung. Das Licht brachte sie wieder zum Denken, ein stetes, weißes Licht, das langsam strahlender wurde. Die einzigen Laute waren die Schritte ihres Bezwingers und sein pfeifender Atem bei jedem Schritt. Stille – auf besondere Weise. Sie blickte sich um, weil sie wissen wollte, wohin sie gebracht wurde, und er schlug ihr zwischen die Schulterblätter. Das Licht wurde so intensiv, daß ihre Augen zu tränen begannen. Sie wurde hingeworfen und riß ihren Ellenbogen auf dem schroffen Stein des Hofes auf. Sie kroch auf Händen und Knien einige Schritte weg in Richtung des Lichts und hielt dann inne. Wohin ging sie? Ein Hof? Der Platz stank nach Urin und die Steine waren schmierig. Sie setzte sich auf, versuchte die Bilder, die sie sah, in eine Ordnung zu bringen, in irgend eine Ordnung. Ja, es war ein Hof, eine Plaza von großen, gebrochenen Steinen. Das Licht war ein Dom, ein großer,
glühender Bogen, perfekt und unberührt in der Mitte des mit Trümmern übersäten Hofes. Der flimmernde Zylinder des Zugangsschachtes reichte von seiner Basis bis zur Decke. Ein Laut, ein Schritt, und sie wirbelte auf allen vieren herum. Die riesige Kreatur machte noch einen Schritt und ging zurück sich selbst auf den Handrücken nachziehend. Das Monster stoppte. Es war fast zweieinhalb Meter groß, von trübem Aussehen, mit einer gespaltenen Lippe, geblähten, asymetrischen Nüstern und brillantblauen Augen. Sie sah Rattrack kommen, wie er ihm auf die Oberschenkel schlug und in diesem stolzen, zynischen Tonfall sagte: »Unser Kampfwagen.« Sie konnte ein Kichern nicht zurückhalten. Das Monster stürzte zu Boden, lag auf den Steinen, die Beine lang ausgestreckt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Rücken? Die Beulen auf diesem Fleischberg könnten Brüste sein. Plötzlich peitschte er-sie-es die Hände vorwärts, klatschte einmal und zog sie wieder zurück, bevor es die Balance verlieren konnte. Sein Mund verzog sich, lächelte. »Rackpleck«, sagte es. Rackpleck. Reaktorkomplex. Zylyphony fing an zu lachen. Sie hielt ihren Bauch, fiel vornüber vor hysterischem Schluchzen ohne zu wissen, warum, außer der Ähnlichkeit der Worte. Was kein Grund war. Sie hielt inne, fuhr mit den Händen über den rauhen Stein, wartete, bis das Zittern weg war. Der Gigant war aufgestanden und ging, ihr den Rücken zu-
gewandt, auf den Schacht zu. Sie blickte über ihre Schulter zum Dom hin und erkannte eine Inschrift auf der Oberfläche. Dunkle Buchstaben, auf halber Höhe an der Seite angebracht: DIE BÜRGER SIND DAS HERZ DER STADT. An der Basis des Zugangsschachtes stand eine Gruppe von Kindern, zu weit entfernt, um mehr als einen gelegentlichen Fleck weißer Haut von ihnen zu sehen. Andere traten jetzt in den Hof. Ein Zwerg humpelte auf klumpigen, verstümmelten Füßen vorbei; er hielt einen weißen Knochenspeer in einer weißen Hand, und eine Fackel in der anderen. Die flakkernden Flammen tanzten um einen roten Haarkranz herum. Eine Frau ohne sichtbare Deformierung (außer einer gespaltenen Lippe) ging vorüber. Sie sah müde aus und ... jung, auf eine sehr schlimm verlebte Art und Weise. Sie trugen alle dieses Fluidum ruinierter Jugend, alterslos auf den ersten Blick, bis das Auge die zarte Haut und die Kinderaugen vom stolpernden und schlürfenden Gang zu trennen vermochte. Und daneben – außer den allgemeinen Verstümmelungen, dem Albinismus, dem Zwergenwuchs, den gespalteten Lippen, den verwachsenen Extremitäten (Finger und Zehen) – wiesen alle eine merkwürdige Übereinstimmung im Aussehen auf. Es war die ähnliche Gesichtsstruktur, das Profil, das selbst die blauäugigen Giganten mit dem rotäugigen, weißhäutigen Zwerg verband, als ob sie alle auf irgendeine Weise verwandt wären, alle der gleichen Familie entstammten. Viele der Frauen waren schwanger, und einige sammelten Kinder aus der Gruppe beim Zugangsschacht auf.
Zylyphony sah eine Frau, die glucksend ein Bündel gegen die Brust drückte, obwohl es reglos war. Sie hörte einen zornigen Schrei und sah eine Frau zu dem Albinozwerg rennen. Er hielt sie mit der Sperrspitze auf Distanz, vor Angst und Wut zeternd, bis sie zurückwich, aus einem Dutzend kleiner Stichwunden blutend. Einer der älteren Männer mit denselben blauen Augen wie ihr Bezwinger kam zu ihr herüber und beugte neugierig seinen Kopf zu ihr hinunter. Er tastete mit seiner klumpigen Hand über ihr Gesicht, zog sie dann zurück, als Zylyphony zusammenschrak. »Nad valazt«, sagte er und ging davon. Nicht verletzt? Eine Gruppe näherte sich mit einer schweren Last dem Hof. Sie ließ sie auf die Steine fallen, nahe bei Zylyphony und setzte ihren Weg fort. Es war Rattrack. Sie schlug ihm ins Gesicht, und er schlug die Augen auf, sah sie an, sah die durcheinanderlaufende Meute im Hof und beim Zugangsschacht, sah den Dom. »Ich habe es gefunden«, sagte er. Zylyphony vernahm einen gedämpften Schlag. Eine Anzahl von Menschen versammelte sich an der Basis des Zugangsschachtes und zog ein vollständig in dünne, weiße Bandagen gewickeltes Bündel heraus. Der Zwerg schlitzte den Kokon mit seinem Speer auf, grub und hackte und kam endlich mit zwei faustgroßen Klumpen roten Fleisches zum Vorschein. Einen davon reichte er einem der Kinder, das auf dem Boden saß, dann setzte er sich ein paar Schritte
entfernt auf die Erde und machte sich begierig über seine Beute her. Die anderen bahnten sich mit den Ellenbogen eine Gasse durch die Menge, alle rissen sich um ein Stückchen des Körpers. Zylyphony schauderte. Das war es also – ihr Paradies. Sie spürte, wie Rattracks Hand nach ihrem Arm griff und sich daran festhielt, als er sich aufrichtete. »Was sind das für welche?« fragte er. »Was für eine Sorte Kreaturen ...?« Bei dem Körper stand ihr Riese, ihr Bezwinger, den Mund mit getrocknetem Blut verschmiert. Dann, mit einer fahrigen Handbewegung, wischte er die anderen aus dem Weg, nahm das verstümmelte Bündel auf und kam damit auf sie zu. Die gesamte Meute folgte ihm; diejenigen, die noch nichts abbekommen hatten, klammerten sich wild an den schmutzigen Bandagen fest, die anderen verstreuten sich fächerförmig, so daß Rattrack und sie mit den Rücken gegen den Dom getrieben wurden. Rattrack drehte sich um und hämmerte mit den Fäusten gegen die glänzende, gebogene Wand. Die Oberfläche absorbierte den Klang seiner Schläge, als ob er auf festen Stein träfe. Zylyphony war nichts als müde. Es bedeutete höchste Anstrengung für sie, ihren Arm nach seiner Schulter auszustrecken und zu sagen: »Es ist alles in Ordnung.« Er wirbelte herum, starrte die näherkommenden Gestalten an, als wäre sie nicht da. »Neeeiiinn«, heulte er ihnen entgegen. Dann rannte er zu einer Frau in dem Halbkreis, trat ihr die Füße weg, boxte
sie, während sie fiel und stand fordernd da, darauf wartend, den Kampf zu beginnen. Sie blieben alle stehen. Einige von ihnen sahen sich verwirrt um. Die Gruppe, die den Riesen umrang, hatte die Mahlzeit aufgegeben und wartete einfach ab, ohne eine Bewegung. Nicht einer von ihnen blickte direkt auf Rattrack oder tat eine Bewegung in seine Richtung. Die Frau, die er hingeworfen hatte, lag winselnd da und kroch langsam von seinen Füßen weg. Er ließ die Hände an den Seiten herunterbaumeln, kraftlos, und der Ausdruck des Tötenwollens verschwand aus seinem Gesicht. Der Riese machte einen Schritt auf Zylyphony zu. Er lächelte und warf ihr das Bündel vor die Füße. Sie schloß die Augen. Da war nichts mehr in ihr zurückgeblieben, keine Hoffnung, kein Ekel, kein Schmerz, nichts als der schwache und oberflächliche Wunsch, sich hinabzubeugen und ihren Teil dieses Geschenkes entgegenzunehmen. Sie war ausgehöhlt, zwang sich, die Kreatur anzublicken, zu nicken, durch taube Lippen »Danke, aber nein – nah.« zu sagen. Sie schüttelte den Kopf. »Nah?« Er schaute sie verwirrt an und machte dann noch einen Schritt nach vorn. Sie streckte ihre Hand aus, um ... Was? Um ihn zu stoppen? Ein Zeichen zu geben? Um ihn nach etwas zu fragen, was sie nicht haben konnte? Und was machte es aus? Ein Schrei und ein rumpelndes Geräusch durchbrachen die Stille. Aus den Schatten des zerstörten Hauses kam Clave mit seinem Stuhl, brüllend, daß selbst Zylyphony, die ihn kannte, erschrak. Er schwebte über einem der Köpfe vorbei, ein brüllen-
des Fiasko aus menschlichen Lungen und gequältem Metall geboren, drehte dann den Stuhl und kam wieder auf sie zu. Die Versammlung löste sich blitzschnell auf, alle verschwanden. Einige rannten, andere hoppelten und waren in den Ruinen untergetaucht, ehe Clave wieder da war. Ihre Hand war immer noch ausgestreckt, als die Maschine zwischen ihr und Rattrack landete. Clave sprang vom Sitz und stellte sich brüstend vor sie. Rattrack ging zu ihm und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Gute Arbeit«, sagte er. »Gerade noch rechtzeitig.« Clave sah sie an. Sie wandte sich beinahe wieder ab, aber sie sah das erwartungsvolle Leuchten seiner Augen, seine Haltung und sagte: »Ja, danke, Clave. Wirklich rechtzeitig.« Er blickte zu Boden, atmete tief aus. Hatte sie so schlecht geklungen? Rattrack deutete auf den Stuhl. »Jetzt hast du ihn verdient. Er ist dein.« Clave schürzte die Lippen und schüttelte Rattracks Hände. Er schien zutiefst verlegen, stotterte fast, als er sagte: »Nein, Rattrack. Ich will ihn nicht. Er ist nicht mein.« Er setzte sich auf einen Stein, mit dem Rücken zu ihnen. »Nur weil ihr so unbedingt nach etwas sucht, macht euch das noch lange nicht größer als mich«, sagte er. Ohne ein Wort, mit mahlenden Kiefern, ging Rattrack zu den Überresten des Körpers und hob sie fast zärtlich auf. Er trug sie zum Zugangsschacht. Zylyphony folgte ihm. Sie hatte das Verlangen, ihm etwas zu erklären, ihn aufzuhalten, aber Worte waren fehl
am Platz. Schon eine zurückhaltende Hand auf seinem Arm würde zuviel sein. Sie konnte nur mitgehen und ihn beobachten, zusehen, wie er sich in die Schachtöffnung lehnte, die Notbehelfsplattform aus Holz und Metallteilen loslöste und sie zusammen mit dem Leichnam fallen ließ. Sekunden später hörten sie einen leichten, entfernten Aufschlag. Rattrack kehrte zum Dom zurück, sie folgte ihm, nun langsamer, an Clave vorbei, wie in einem Traum. Rattrack suchte nach einem Zugang, als sie ihn erreichte. Er hatte eine kurze Zeile mit Symbolen auf der glänzenden Oberfläche gefunden und berührte sie in verschiedenen Kombinationen, versuchte, sie zu verschieben, berührte sie einschmeichelnd mit seinem Atem. Die Menschen kamen zurück in den Hof, bewegten sich ziellos hin und her, beachteten die Besucher nicht. Einige gingen hinüber zum Zugangsschacht, blickten durch die Öffnung und begannen, miteinander zu sprechen. Andere marschierten herüber, und ihr Murmeln schwoll zu einem zornigen Geschnatter an. Man warf Clave und dem leeren Stuhl Blicke zu. Der Zwerg und einige andere schlugen diese Richtung ein. Die Menge wuchs, während sie näher kam. Zylyphony sprang vom Dom weg. »Clave?« Sie hatte zu leise gerufen, räusperte sich. »Clave!« Zu laut. Er warf seinen Kopf herum. »Komm hierher!« Er stand da und sah die Reihe von Gesichtern, die zögerten und dann ihr vorsichtiges Vordringen wieder aufnahmen. Der Zwerg rannte vorwärts, seinen Speer schwingend, fiel dann aber zurück in die Men-
ge, rannte wieder heraus und kam diesmal ein wenig näher. Clave wich zurück. Die Masse drängte vorwärts. Er wandte sich um und begann zu rennen, stolperte über eine unebene Stelle und stürzte. Plötzlich war ein Geräusch hinter Zylyphony, ein Schwung kühlerer Luft. An einer Seite des Domes hatte sich eine Spalte geöffnet. Sie sah Rattrack an der Öffnung stehen, dahinter erkannte sie schwach eine Art Maschine mit Lichtern, einen elektronischen Bienenstock. Dann war Clave weg, von einem ganzen Schwarm Körpern bedeckt, von tretenden Füßen und schlagenden Fäusten. Der Zwerg tanzte umher, stieß den Speer hinab. Und Zylyphony rannte, schrie, warf sich in den fleischenen Ozean. Sie fiel auf Clave. Er war zusammengerollt wie ein Ball, hatte die Augen geschlossen. Sie wurde weggezogen, und der Kreis schloß sich wieder. Sie sah Rattrack an der Öffnung des Domes, den Fuß angehoben, um hineinzutreten, das Gesicht ihr zugewandt, in zwei Richtungen zugleich drängend wie ein Akrobat, der einen komisch aussehenden Balanceakt ausführen will. Dann rannte er zum Stuhl. Hinter ihm schloß sich der Dom wieder. Er zog sich auf den Sitz, raste auf sie zu, das Donnern des Stuhles wie das Donnern von Armageddon. Diesmal flohen nur wenige. Die meisten kauerten sich nieder, als der Stuhl über ihren Köpfen dahinrauschte, blieben aber, wo sie waren. Der Zwerg hielt den Speer an die Schulter, streckte den Arm. Der Stuhl stieg auf, sank tiefer, drehte zu-
rück. Der Speer flog. Rattrack fegte an Zylyphony vorbei und schnitt durch den Rand der Menge wie eine Sense. Körper fielen wie gemähtes Gras. Der Rest floh nun, einige in Richtung der Schatten, die meisten aber zum Zugangsschacht, wo sie sich sammelten, um zu beobachten und abzuwarten. Der Stuhl wendete zum Dritten Mal, kam, verlangsamte und stoppte vor Zylyphony in der Luft. Rattrack lächelte. Er lehnte sich nach vorn, sah überrascht aus. Seine verletzte Hand glitt zu dem Speer in seiner Seite, der ihn an den Stuhl festnagelte. Seine andere Hand lag auf den Kontrollknöpfen, und als er vornüber fiel, sank der Stuhl zu Boden. Zylyphony zog Clave zum Stuhl, zerrte und rückte, bis sie das tote Gewicht auf Rattracks Schoß manövriert hatte. Sie fühlte ein Brennen in ihren Augen und in der Kehle, aber Tränen waren ebenso unmöglich wie ein Akzeptieren. Sie setzte sich auf die Lehne, ließ die Füße über die Seite hinaushängen und startete nach oben. Die Kontrollknöpfe waren einfach zu handhaben, sie hatte oft genug gesehen, wie man sie bediente. Der Stuhl knurrte, duckte sich, so daß sie Clave festhalten mußte, damit sie nicht beide fielen. Dann stieg der Stuhl zögernd aufwärts, und sie lenkte ihn zum Zugangsschacht. Der Stuhl bewegte sich nur langsam. Der Riese stand an der Spitze der Menge vor dem Schacht. Als sie herankamen, sprang er zur Seite, keinen Ausdruck auf dem mißgestalteten Gesicht, kein Ton aus seinem Mund. Zylyphony starrte geradeaus, kam sich wie ein Ge-
spenst vor, als sie vorbeischwebte. Eine Gasse bildete sich in der Menge, als sie weiterfuhr. Jedes Gesicht schwebte an ihr vorbei, jene zu ihrer Linken vom Dom beleuchtet, die anderen im Schatten verborgen. In dieser Flucht steckte nichts Großartiges, keine tiefere Bedeutung und kein Triumph lag darin. Die Gesichter kamen, eines nach dem anderen, an ihr vorbei, rote Augen, blaue Augen, gespaltete Münder, jedes ruhig und still in der ihm eigenen Art. Dann war der Stuhl im Schacht, protestierend, vibrierend, wie eine Luftblase in Schweröl hochsteigend, bis die Gerüche aus der Luft verschwunden waren und das Licht des Doms weit hinter ihnen lag. Für lange Zeit hörte sie nichts außer Rattracks mühsamem, unregelmäßigem Atem. Einmal berührte sie seine Augenbraue; sie war kalt und feucht. Sie dachte, Clave könnte tot sein, aber ihr fehlten die Kraft und der Mut nachzusehen. Endlich, Stunden schienen vergangen zu sein, es war aber nicht mehr als eine viertel Stunde, reckte er sich, stöhnte, begann sich herumzuwälzen. Sie griff nach seinem Arm. »Was ...?« »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Rattrack ist verletzt. Wir befinden uns in der Luft.« Er war still, für einen Augenblick, setzte sich dann vorsichtig von Rattracks Schoß auf die andere Lehne des Stuhls. Sie hörte ihn vor Schmerz aufschreien, als er sich bewegte. »Bist du schwer verletzt?« Er war still, als ob er nachdenken müßte. »Nein, wenig Schmerzen.« Wieder ein Moment, in dem sie einen Meter höher der Oberfläche entgegenstiegen. Zeit und Entfernung
schienen hier austauschbar. »Wie geht es Rattrack?« »Er stirbt, glaube ich.« Stille. Sie passierten einen glühenden blauen Fleck, den Eingang zur Arbeitsebene. »Ich hätte euch dort nicht zu retten brauchen, oder?« fragte er. »Sie waren nicht schlecht. Sie hätten euch nichts getan.« »Nein.« Rattrack stöhnte dumpf, begann sich unter starken Schmerzen zu krümmen. Sein Atem wurde schwerer. Sie schlug ihm auf die Wange, spürte, wie er erwachte. »Zylyphony?« »Ja.« Er hustete. »Ist Clave ...« »Ich bin hier drüben, Rattrack.« Er entspannte sich. Sein Atem wurde regelmäßiger. Sie dachte, er sei in Schlaf gefallen und legte leicht ihre Hand auf seine Schulter. Es war sehr dunkel. Sie wünschte sich, sehen zu können. Plötzlich fuhr er herum und zerrte an dem monströsen Dorn in seiner Seite. Einige Sekunden verhielt er in dieser Stellung, endlose Sekunden, dann fiel er zurück. »Ich kann nicht ...« Er rang nach Atem. »Verdammte Stadt. Dreckige ...« Clave und sie sagten nichts mehr für den Rest der Fahrt. Über ihnen öffnete sich der Kreis, als sie die Unterseite der Straße erreichten. Sie kamen in der dunklen Stadt heraus. Die Nachtstadt, die Stahlstraße, die schwarzen Häuser, alles so schrecklich unverändert. Sie kletterten beide vom Stuhl. Clave beugte sich
noch einmal darüber, stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Kontrollknöpfe zu bedienen und die Maschine über das Loch zu manövrieren. Er bewegte den Hebel, und der Stuhl begann, mit seiner Last zu fallen, langsam, langsam, bis er verschwunden war. »Vielleicht kriegen sie ihn«, sagte er. »Er fährt so schrecklich langsam.« Die Straße schloß sich ohne ein Geräusch, ohne Spuren. Er saß mit gekreuzten Beinen an der Stelle und schloß die Augen. Sie wollte sich zu ihm setzen. Sie wollte ihn nie wieder sehen. Sie ging weg, ging ein paar Schritte weiter. Da war etwas auf der Frontseite eines Hauses, ein Lichtstrahl, der nicht dort sein sollte. Sie ging, um es sich näher anzusehen. Es war eine offene Tür. Zum erstenmal in dieser Nacht war sie wirklich voller Angst. Es gab keinen Grund für diese Tür, nichts, womit sie sich erklären ließe. Die Stadt machte nie Fehler. Die Stadt verzieh nie. Das waren die Regeln ihres Lebens. Rattrack hatte unrecht gehabt: die Stadt war ein Ding, nur ein Ding. Sie fühlte sich magnetisch angezogen und blickte hinein. Die erwarteten Horrorelemente fehlten, keine schattenhafte Bewegungen, keine plötzlichen Geräusche. Sie sah in den hell erleuchteten Korridor eines Apartmenthauses, der zu der offenen Vorhalle führte. Alles ruhig, niemand zu sehen. Schwache, rhythmische Musik drang aus der Ferne. Es war schrecklich, sie wollte es nicht, doch es lullte sie ein. Sie wurde hineingezogen, trat über die Schwelle und erwartete, während sie den Schritt tat, daß die Tür sie ausschlie-
ßen und die Stadt sich vor Lachen ausschütten würde. Aber dies war Rattracks Spiel. Der Stadt war es egal. Es war unmöglich. Dies war unmöglich: sie war drinnen. Sie hielt inne, stand ein wenig schwankend auf dem teppichbedeckten Boden, berührte eine Wand und fühlte Samt. Das war zuviel. Sie drehte sich um. Die Tür hatte sich geschlossen. Sie warf sich darauf, schlug mit den Fäusten dagegen. Aber sie öffnete sich nicht mehr. Sie hörte leichte Schritte, gedämpft. Sie wirbelte herum und sah eine Frau auf sich zukommen, würdevoll wie eine Königin, mit einem langen, schimmernden blauen Gewand. Sie zwang sich, von der Tür abzulassen, war überrascht, daß ihr Körper nicht zitterte. Die Frau blieb ein paar Schritte vor ihr stehen, streckte die Hand zu einem leichten Willkommensgruß aus, lächelte. »Es ist so spät«, sagte sie. »Ich konnte es kaum glauben, als ich hörte, daß wir einen neuen Mitbewohner haben, aber hier sind sie. Ist das nicht aufregend? Ist es nicht wundervoll? Was für Geschichten werden sie zu erzählen haben. Ich war nicht mehr so aufgeregt, seit ... hm, ich weiß einfach nicht mehr, seit wie lange. Wie gefällt Ihnen Ihr neues Haus? Es ist ein schönes Haus, Sie werden sehen. Alle Gegenstände wurden von Grata geschaffen ...« Und weiter und weiter, das Spielzimmer, Bad und Toilette, taubmachende Leere, monströse Unverbindlichkeiten. Und zu ihrem Entsetzen fand sich Zylyphony lächeln und freundlich antworten. Die Frau in Blau lief umher. »Kommen Sie hier entlang. Ihr Zimmer ist reizend, ganz in Blau. Blau ist
eine so wunderbare Farbe, nicht wahr?« Sie lachte melodiös. »Aber warum weinen Sie, meine Liebe? Nehmen Sie einen Kaugummi. Es wird ein herrlicher Tag werden.« Clave sah Zylyphony hineingehen, sah, wie die Tür ins Schloß fiel. Er blickte auf das Haus, auf die Straße an seiner Seite. Er stand auf. Er konnte nichts tun. Er war zu nichts gut, außer zum Zusehen und Zuhören. Wenn er versuchte, etwas zu tun, endete es immer falsch. Und er hatte es versucht. Er hatte da unten in der alten Stadt versucht – als er sich anders fühlte – sie zu retten, und alles war dann falsch verlaufen. Er war immer noch der Gleiche. Er war ein Schlechter. Zwar fühlte er sich immer noch anders, aber auch das mußte wohl falsch sein. Er zupfte seine Tunika herunter. Der Himmel begann sich von Kohlrabenschwarz in Dunkelgrau zu verändern. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er lief die Straße hinunter zum nordwestlichen Versteck. Es war das nächstgelegenste. Aus einer Seitenstraße blitzte ein Licht auf und er gefror. Der Troller kam um die Ecke, spießte ihn mit dem Scheinwerfer auf und kam heran. »Wen haben wir denn hier? Eine dreckige, kleine Ratte, die nach der Schlafenszeit noch draußen ist. Soll ich dich einwickeln Ratte? Nein, ich glaube, ich folge dir den ganzen Weg zurück zu deinem Loch, und vielleicht lasse ich dich noch einmal davonkommen, vielleicht auch nicht. Mach, kleines Miststück. Es ist ein langer Weg, und ich könnte mich jeden Moment anders entschließen.« Das Licht war nicht so schlimm. Er konnte darüber
hinwegsehen und die Umrisse von Mann und Stuhl erkennen. Und es war etwas sehr Seltsames: Der Stuhl war einfach ein Stuhl, und der Mann war einfach ein Mann. »Genug«, sagte der Troller. Er drehte die Spitze des Fängers. »Geh.« »Ich kenne ein Geheimnis«, sagte Clave. »Ich bin nicht klug, aber ich sehe und höre und weiß zwei Dinge. Möchtest du sie hören?« Die Finger zögerten über dem Abzug. »Es ist schlecht, wenn du nicht weißt, was etwas ist. Es ist schlecht, wenn du denkst, da sei etwas, und es ist doch nicht da. Es klingt komisch, aber hör zu. Ich weiß, was die Menschen sind, und ich weiß, was die Menschen nicht sind. Das sind die zwei Dinge. Oh, es ist so verdammt einfach.« Er berührte seine Brust, sprach ganz langsam und klar. »Ich bin eine Person.« Er zeigte am Licht vorbei. »Du bist eine Person. Alle da«, er schwang seine Hand in großem Bogen, »sind Menschen.« Er war von sich selbst begeistert. Er würde es richtig hinkriegen. »Aber da ist die andere Hälfte des Tricks«, sagte er. Er ging zum Troller und betastete den Stuhl. »Dies hier ist kein Mensch, es ist zu hart.« Er bückte sich, um die glatte Straße zu berühren. »Und dies ist auch kein Mensch, es ist zu gerade.« Er sah hinauf zum Licht, Lächelte. »Versuch es«, sagte er. »Es ist einfach. Es gibt, oh, soviel, was nicht Mensch ist, und es gibt soviel, was Mensch ist.« Der Troller stand reglos da. Schließlich flüsterte er: »Wenn ich dich nicht nehme, nimmt dich ein anderer.« Er festigte seinen Griff
um den Abzug, löste ihn dann wieder und zog die Hand zurück. »Mach, daß du weiterkommst in dein Versteck«, sagte er. »Los jetzt.« Er wendete den Stuhl und raste davon. Clave sah ihm nach, schaute dann zum grauwerdenden Stadtdom hinauf. Die Stadt war immer noch ziemlich dunkel und ruhiger jetzt, als in der Mitte der Nacht. Er fühlte Trauer, Trauer und Freude zugleich. Er konnte es nicht verstehen, aber da war es, und er schlenderte die Straße hinunter, die harten Plastiksohlen seiner Schuhe hämmerten (ein anderer Troller rief etwas aus der Ferne), hämmerten auf die lange Stahlstraße der Stadt im Morgengrauen.
Originaltitel: THE PROLOGUE TO LIGHT Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Oktober 1977
Pat Murphy DIE AUGEN DES WOLFES Diese Geschichte muß in der Mitte beginnen, weil Rachel sich nicht an den Anfang erinnern kann – nicht erinnern will. In der Mitte, die als Beginn dienen wird, war Rachel eine graue Wölfin, die ein Halsband mit einem Radiosender trug. Sie jagte gerade einen Hasen über eine Wiese in der Sierra Nevada. Der Hase war zwei Sprünge vor ihr. Er rannte im Zickzack durch ein Feld von Lupinen. Rachel übersprang das Hindernis und gewann an Boden. Ihr Körper war wie ein grauer Blitz der den Boden entlangflitzte, die Ohren angelegt, den Schwanz hinter sich her ziehend wie ein Banner im Sturm. Der Wind, der in ihr Gesicht blies, roch nach Staub und erschrecktem Hasen. Und da war ein anderer Geruch – Moschusduft, gemischt mit dem süßlichen Geruch alten Blutes. Ein grauer Blitz schoß aus dem Farn heraus. Der Hase rannte. Er sprang, nach Sicherheit suchend, in ein frisch gegrabenes Loch unter herabhängendem Farnkraut. Der graue Blitz war schneller und biß zu. Der Hase schrie einmal auf – ein Schrei aus Schmerz und Verzweiflung. Rachel schwang herum, um zu verhindern, daß sie mit dem grauen Körper zusammenprallte, der ihren Weg blockierte. Fast stürzend, stoppte sie in einer Staubwolke.
Sie schüttelte sich und starrte dann in die glänzenden Augen des Fremden, der ihre sichere Beute gestohlen hatte – die strahlenden Augen von Tod. Tod war eine Wölfin mit grauem Fell und einer Schnauze, die vom Blut des Hasen dunkel gefärbt war. Die Wölfin ließ den Hasen fallen und stand über ihm, starrte auf Rachel. Sie war größer als Rachel – großknochig, breitschultrig. Aber ihr Fell war mit Weiß durchsetzt, und Rachel wußte, daß die Schnauze unter den Blutflecken ebenfalls weiß war. Wind und Wetter hatten diese Wölfin geschliffen, so wie die Granitgipfel, die die Wiese umstanden und deren Oberfläche abgetragen wurde, die darunterliegende Struktur enthüllend. Das Alter hatte die Muskeln der Wölfin zerstört, ihr Fell gelichtet und das Gerippe freigelegt. Ein Ohr war in einem lange zurückliegenden Kampf abgerissen worden ... Das andere war an den Kopf des Tieres angelegt, so daß die strahlenden Augen aus einem ohrlosen Schädel heraus zu glühen schienen. Irgendwo im Wald, der die Wiese umgab, kreischte ein Häher – nur einmal, dann wurde es still, als wäre er von einem älteren und klügeren Häher ermahnt worden, daß diese Szene still sein mußte. Still und vom Geruch des Staubes und des heißen Blutes durchzogen. Rachel warf einen Blick auf den toten Hasen der zu Füßen des alten Wolfes lag. Das hätte ihre Beute sein sollen. Der alte Wolf hatte sie ihr abspenstig gemacht. Der Geruch von frischem Blut brannte in den Nasenlöchern, aber Rachel bewegte sich langsam und vorsichtig im Kreis um den alten Wolf herum.
Als der alte Wolf sich umdrehte, um ihr zu folgen, gab er eine Schwäche zu erkennen. Er schonte eine Vorderpfote. Wie es aussah, war die Pfote erst kürzlich verletzt worden, und die Wunde war bei der Jagd nach dem Hasen neu aufgebrochen. Rachel starrte auf den alten Wolf. Ihr Gegner war verwundet – sie konnte ihre Beute fordern. Der alte Wolf starrte zurück. Rachel spannte sich, zum Sprung bereit. Halt. Eine Erinnerung fuhr ihr in den Sinn. Sie erkannte die Augen des alten Wolfes, kannte sie aus der Welt des Beginns. Sie erinnerte sich. Augen wie Granitsteine in ein menschliches Gesicht gepflanzt. Augen wie die Augen eines Sierra-Gipfels, wenn ein Berggipfel Augen besäße. Hart. Unerbittlich. Unnachgiebig. Augen, die sagten: »Du kannst mich nicht bewegen.« Das Gesicht gehörte einer Frau, aber es hätte besser zu einem Mann gepaßt. Das Alter hatte ihr Haar mit Grau durchwebt, aber es hatte weder die wilden Augenbrauen gezähmt, noch die felsige Klippe einer Nase weicher gemacht oder das schroffe, zerklüftete Kinn. Wenn diese Augen weinen könnten, hätte ein Netz von Falten die Tränen hinabgeleitet, ein großes Flußsystem winziger Furchen und tiefer Schluchten. Aber diese Augen konnten nicht weinen. Man kann keine Flüssigkeit aus einem Stein erpressen. In diesem Berg von einem Gesicht flammten die Augen und sagten: »Ich weiß wer du bist. Ich weiß, was du bist. Du bist ein Narr und ein Feigling. So weit bist du gekommen – nun tu das, weshalb du gekommen bist.«
Ein Winseln drang aus Rachels Kehle. Sie unterdrückte die Panik, die ihre Beine in dem Wunsch zu fliehen zittern ließ. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück, drehte den Kopf weg von den alten Augen, die die Erinnerung ausgelöst hatten. Der alte Wolf knurrte, um seine Vorherrschaft zu bekräftigen, und Rachel duckte sich, als sie sich an die Augen der alten Frau erinnerte. Sie hatte dem Befehl in den Augen der Frau zu gehorchen. Sie mußte tun, weshalb sie gekommen war. Aber weswegen war sie gekommen? Sie sah auf, als sie hörte, wie der alte Wolf den Hasen aufhob und damit fortschlich. Der Wolf lahmte. Jedesmal, wenn die verletzte Pfote den Boden berührte, hinterließ sie eine Blutspur. Das Blut quoll aus einer klaffenden Wunde hervor, die dicht unterhalb der Kniekehle begann und sich das Bein herunterzog, über die Spitze und die Sohle der Pfote. Rachel starrte auf die Wunde, und eine Erinnerung flackerte in ihrem Gehirn auf. Ein Bild: die Stahlklauen einer Vorrichtung, die dazu gedacht war, das Bein eines Tieres zu zermalmen, ohne das Tier einzufangen. Eine Reihe von Bildern folgte diesem ersten. Eine schemenhafte, menschliche Gestalt stellte die Falle auf. Ein grauer Wolf geriet in die Klauen der Falle, hinkte dann davon. Die menschliche Gestalt kehrte mit einer zweiten zurück. Die beiden folgten dem verwundeten Wolf und holten ihn ein. Ein Mensch richtete das Gewehr auf den Wolf, ein Feuerstrahl schoß heraus, und der Wolf war tot. Fließende Erinnerungen an Worte begleiteten diese Bilder, und langsam setzte Rachel sie zu einem Gan-
zen zusammen. Wilderer. Der Mensch war ein Trapper, der Sportsleute aus der Stadt zu sicherer Beute führte. Die Falle machte das Spurenlesen und die Verfolgung einfach. Ein Gefühl der Dringlichkeit nagte an Rachel, und sie winselte voller Verwirrung. Die Luft roch nach Blut, und in ihrem Gehirn wiederholte sich die letzte Szene: ein Feuerstoß und der sterbende Wolf. Zuerst war der sterbende Wolf eine graue Wölfin. Dann wechselte das Bild, und das tote Tier war ein junger grauer Wolf, der ein Halsband mit einem Sendegerät trug. Rachel schüttelte den Kopf, um das Bild zu verscheuchen, und das Band scheuerte an ihren Nackenhaaren. Der alte Wolf hatte sich im Schatten des Farnkrautes niedergelassen und riß an dem Fleisch des Hasen. Bei Rachels Bewegung blickte er knurrend auf und begegnete Rachels Augen. Ein Flackern, ein Lichtwechsel, eine Bewegung in den Impulsen ihres Gehirns, und Rachel starrte in die Augen der alten Frau. Nein, nicht in die Augen; der Widerschein der Augen war in der glänzenden Stahlklaue der Falle zu erkennen. Die Augenbrauen waren buschig, und die Stimme donnerte wie das Poltern eines Felsbrockens zu Beginn eines Steinrutsches. »Sie fragen mich, warum ich dieses Ding hierlasse? Einfach genug: Erkenne deine Feinde.« Die Hand, die nach der Falle griff, fuchtelte damit herum, und der Blick der Augen wechselte wieder. Die alte Frau redete mit einem jungen Mann, rothaarig, und in ihrer Stimme schien eine tiefere Bedeutung mitzuschwingen, die von den Worten »Ich behalte sie hier, damit
sie mich erinnert, wer meine Feinde sind« getragen wurde. Rachel erschauerte, und die Erinnerung schwand. Aber die Worte schienen ein Echo in ihrem Gehirn hervorzurufen: »Erkenne deine Feinde.« Es war ein Befehl der alten Frau, und Rachel mußte ihn befolgen. Sie würde die Spur des alten Wolfes zurückverfolgen, den Feind treffen und dann auf eine weitere Erinnerung warten, die sie führen würde. Der alte Wolf riß Fetzen von Fleisch aus der blutigen Masse heraus, die einst der Körper eines Hasen gewesen war. Rachel beachtete ihn nicht länger. Sie umrundete den Farnflecken, fand die Spur des alten Wolfes und folgte ihr bis zum Pinienwald, der die Wiese umgab. Die Spur war leicht zu verfolgen, sie war durch den Geruch getrockneten Blutes gekennzeichnet. Rachel trottete durch das Gras, den Kopf hoch erhoben, um prüfend den Wind zu schnuppern, und befürchtete auch weiterhin nicht, die Spur zu verlieren. Der Schatten des Waldes trug keine Farben. Die Bäume waren schwarz. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach drangen, berührten den Waldboden mit brillantweißem Licht. Der Eichelhäher, der sie vom Zweig einer Pinie aus verspottete, zeigte sich als weicher grauer Schatten. Sie legte eine Pause ein, umgeben von Düsternis und gestört vom Fehlen jeglicher Farbe. Sie blinzelte zurück zu der von Sonne überstrahlten Wiese. Die gesamte Welt war schwarz und weiß, der Himmel leicht grau, die Berge schienen Schatten eines verwitterten Knochens, das Gras war schwarz. Rachel erkannte, daß nicht die Welt, sondern sie
selbst trist war. Ihre Augen waren nicht in der Lage, Farben wahrzunehmen, aber sie erinnerte sich daran, was Farbe war. Sie wußte, daß das Gras grün sein sollte und der Himmel blau. Sie kannte die Farben, doch ihren Augen waren sie fremd. Sie blinzelte, und die störende Erinnerung an Farben glitt davon. Sie trottete durch eine schwarz-weiße Welt, und das war die einzige Welt, die sie noch kannte. Der Teppich von Piniennadeln fühlte sich weich unter ihren Pfoten an. Der Wind trug verblüffende Gerüche mit sich – das modrige Aroma von Wildkot, die Ausdünstung der Höhle eines Murmeltiers, den säuerlichen Geruch von Lupinenblüten. Sie war froh, daß sie in einer ihr vertrauten Welt herumlief und den Befehlen der alten Frau gehorchte. Sie kam aus dem Wald auf einen trockenen Grat, wo der Wind die trockene Erde freigescheuert hatte. Ein Miniaturwald aus wettergebeugten Eichen und Manzanita klammerte sich an der abschüssigen Seite des Grates fest. Rachel folgte der Spur des alten Wolfes durch die Büsche, entlang einer Fährte, die von Hasen und Wild stammte. Am Fuß des Grates sprudelte ein Bergbach taleinwärts, der während der Sommerzeit fast ausgetrocknet war. Im hohen Gras, das am Ufer des Baches wuchs, fand Rachel einen Flecken, wo ein magerer grauer Körper gelegen hatte, eine Ausbuchtung im Gras, mit Blut befleckt. Auf der anderen Seite der Mulde war die Spur schwächer – der Geruch war durch den Tau von mehr als einem Morgen weggewaschen. Aber der Blutgeruch war stark – der alte Wolf war hier gelaufen, als seine Wunde frisch war.
Der Wind drehte, blies nun aus der Richtung, aus der der alte Wolf gekommen war. Der beißende Geruch von verbranntem Tabak kitzelte in Rachels Nase, und eine böse Erinnerung an die Welt des Anfangs bemächtigte sich ihrer. Ein Labor. Sie lag festgeschnallt auf einem Tisch in einem Labor, das nach Desinfektionsmitteln und Tabakdunst roch. Ein rothaariger Mann – wie war sein Name, sie konnte sich nicht daran erinnern – beugte sich über sie und sah in ihre Augen. Er rauchte Pfeife. Sie wollte sich beschweren, daß der Rauch sie störte, aber sie konnte nicht sprechen. Er bewegte seinen Kopf aus ihrem Blickfeld heraus, und sie spürte die kalte Berührung einer Nadel an ihrem Arm. Es tat nicht weh, als die Nadel unter ihre Haut schlüpfte – nichts konnte ihr wehtun. Sie versuchte, den Rotschopf zu fragen: »Wie lange bin ich schon hier?« Aber sie vermochte ihre Lippen nicht zu bewegen. Sie konnte keinen Laut bilden. Der Wolf, im Käfig neben ihr, winselte. Sie konnte den Kopf nicht drehen, um nachzusehen, doch sie wußte, daß sich ein Käfig neben ihr befand; sie wußte, daß in dem Käfig eine graue Wölfin lag; sie wußte, daß die Wölfin ein Drahtgeflecht trug, das dazu bestimmt war, Tausende von Elektroden gegen den Schädel des Tieres zu pressen, genau wie auch sie ein solches Geflecht trug, das Elektroden gegen ihren Kopf drückte. Und sie wußte, daß der Wolf ein Halsband mit einem Radiosender trug. Rachel merkte, wie der Mann die Nadel aus ihrer Haut herauszog, wie sich seine Fußtritte entfernten. Sie versuchte, ihm nachzurufen: »Warte. Erkläre. Sag
mir warum ich hier bin.« Aber sie konnte nicht sprechen. Der Wolf im Käfig nebenan heulte. Rachel zwinkerte, und die Erinnerungen huschten hinweg wie Elritzen in einem Teich. Aber der Eindruck von Dringlichkeit, den die Erinnerung mit sich gebracht hatte, blieb. Sie war dem Beginn sehr nahe gekommen. Sie wußte, wer sie war – eine Frau im Körper einer Wölfin. Aber sie wußte nicht, warum. Der Rauchgeruch war durch wenigstens einen Tag Wind und Tau geschwächt, aber Rachel folgte vorsichtig der Spur des alten Wolfes. Auf einer Lichtung fand sie die Stelle, wo der männliche Geruch sich mit dem Geruch von Blut vermengte. In der Mitte einer Stelle plattgedrückten Grases war der alte Wolf gefangen worden, hatte sich aber freigekämpft. Rachel schnüffelte im Gras, nieste dann, um die Fäulnis aus ihrer Nase zu vertreiben. Ein Mann hatte hier vor weniger als einem Tag niedergekniet. Er hatte sich ins Gras gesetzt, gegen einen Baum gelehnt und eine Zigarette geraucht. Auf der anderen Seite der Lichtung fand Rachel die schwache Fährte, die der alte Wolf hinterlassen hatte, ehe er gefangen wurde. Sie suchte im Gebüsch am Rande der Lichtung, bis sie die Stelle fand, wo der Mann die Lichtung betreten und wieder verlassen hatte. Der männliche Geruch war streng, überlagerte den Geruch zerbrochener Zweige und zertrampelten Grases. Er war diesen Weg gekommen, um die Falle aufzustellen, war dann zurückgekehrt, um sie zu untersuchen. Er würde wieder zurückkommen, Rachel war sich sicher. Sie stand am Rand der Lichtung, wartete darauf,
von einer Erinnerung gestreift zu werden, die ihr sagte, was als nächstes zu tun war. Aber der Wind trug die Witterung von Wachteln herbei, und ihr Magen führte ihr den Hasen vor Augen, der ihr unter der Nase weggeschnappt worden war. Sie spitzte die Ohren und lauschte dem Wispern im Gebüsch. Da! Das Piepen eines jungen Vogels und der beruhigende Schrei seiner Mutter. Rachel stakte leise in die Richtung der Laute, reckte ihre Nase in den Wind. Sie pausierte bei einem Manzanitabusch und spähte durch seine brüchigen Zweige. Eine Mutterwachtel und ihre Küken scharrten und pickten im trockenen Gras auf einer sonnigen Lichtung. Ein Küken streunte von der Mutter weg, hüpfte zu dem Manzanitabusch. Die Mutter guckte dem Küken zu, folgte ihm dann. Zwei Sätze überwanden die Distanz zur Mutterwachtel, und ein einziger Biß schnappte nach dem Nacken des Vogels. Die Küken flatterten weg wie Blätter, vor einem Sturm hergetrieben. Rachel ließ sie laufen. Der Körper der Wachtel baumelte von ihrem Kiefer, und Rachel schmeckte das Blut durch die Federn. Sie stand auf einer sonnigen Lichtung in den Sierras und erinnerte sich an den Geschmack eines seltenen Steaks. Das Restaurant roch nach Kaffee und Tabakrauch. Der rothaarige Mann auf der anderen Tischseite redete um die Pfeife in seinem Mund herum. Jacob – das war sein Name – sie hätte ihm nie erzählen können, daß sie seinen Namen kurz vergessen hatte, oder er würde sie mit diesem Blick ansehen, der sagte: »Alte Frau, du wirst senil.« »Ich habe mit Jefferson gesprochen, dem Forscher,
der den Versuch mit einem Schimpansen machte«, sagte Jacob. »Er meinte, es war nur von geringem Nutzen.« Sie schwieg. Ruhig schnitt sie sich ein weiteres Stück vom Steak ab und ließ den jungen Mann reden. Sie konnte hören, wie sich in seiner Stimme Spannung aufbaute. Er redete etwas schneller als gewöhnlich. Ein zufälliger Zeuge des Gesprächs hätte die Veränderung nicht bemerkt, aber Rachel hatte eine Studie über diesen jungen Mann im dreiteiligen Anzug angefertigt. Sie machte ihn nervös. Rachel machte viele Leute nervös, aber sie machte Jacob nervöser als die meisten. Er wollte ihren Respekt – aber auch ihr Labor für sich beanspruchen. »Eine komplett neue Anlage auf ein Testtier zu übertragen, braucht viel länger, als eine bereits bestehende auszubauen«, fuhr Jacob fort. »Und du wirst während dieser Zeit nicht arbeiten können.« Immer noch ruhig, sah sie von ihrem Teller auf und begegnete seinem Blick. Ein geringerer Mann wäre errötet, wäre er sich plötzlich bewußt geworden, daß er sie mit Informationen fütterte, die sie ihn gelehrt hatte. Jacob gelang ein belustigtes Lachen über sich selbst. »Ich erzähle dir etwas über die Technik, die du perfektioniert hast.« Sie durchschaute die Schmeichelei. Sie hatte nicht wirklich dazu beigetragen, die Technik zu perfektionieren; das war eine Aufgabe für Neurophysiologen. Aber sie verstand einiges davon und sie war eine der ersten gewesen, die sie anwandte, als sie Wölfe für die Armee trainierte. Es war nicht schwierig zu begreifen, wie es funktionierte. Nervenzellen, ein-
schließlich der Gehirnzellen, übertragen Botschaften mit Hilfe schwacher elektrischer Ströme. Jeder Strom erzeugt ein elektrisches Feld. Ein Feld kann aufgespeichert und vervielfältigt werden. Und eine Kopie des von einem Strom erzeugten Feldes erzeugt eine Kopie des Originalstromes. Durch den Aufbau eines spezifischen Feldes im Gehirn eines Tieres und wiederholtes Stimulieren einer spezifischen neurologischen Bahn hatte sie die Bahn, den Gedanken bestimmt, der vom Testtier empfangen werden sollte. Forscher hatten die gleiche Methode benutzt, um eine Persönlichkeit auf das Gehirn eines Tieres zu übertragen. Die Gedankenzusammensetzung mußte über einen gewissen Zeitraum in einem Tiergehirn aufgebaut werden. Tausende von Bahnen wurden zu diesem Zweck stimuliert. Die Übertragung würde ein langwieriger, ermüdender Prozeß sein. Das bedeutete wenigstens einen Monat Zeitverlust für kostbare Forschungsarbeit; zwei Wochen, um ihre Persönlichkeit auf den Wolf zu übertragen; zwei Wochen, um die Erinnerungen und Impressionen, die die andere Persönlichkeit während ihrer Zeit in der Wildnis aufgenommen hatte, zu übernehmen. Die Technik war mehr oder weniger nutzlos, soweit es den Kenntnisgewinn über das Benehmen von wilden Hundearten für das Armeetrainingsprogramm betraf. Und doch war sie entschlossen, es auf sich zu nehmen. Sie hatte sogar den Wolf ausgewählt, den sie benutzen wollte – dieselbe graue Wölfin, die sie für Manövertests ausgebildet hatte. Jacob redete immer noch über den Forscher, der seine Persönlichkeit auf einen Schimpansen übertragen hatte. »Er sagte, daß er wirklich wichtige Dinge
wieder vergessen, sich dafür aber trivialerer Dinge um so besser erinnerte. Er sagte, ›Sie könnten sich an diese Unterhaltung erinnern, dabei den Grund ihres Hierseins aber vergessen‹.« Jacob hatte recht: eine erfolgreiche Persönlichkeitsübertragung bedeutete nicht notwendigerweise einen erfolgreichen Erinnerungstransfer. Aber das war gleichgültig. Sie wußte, sie würde ihre Beziehungen zur Armee nützen, um die erforderlichen Gelder zu beschaffen. Sie würde ihren Ruf als Wissenschaftlerin aufs Spiel setzen mit diesem Experiment, das zum Scheitern verurteilt war. Und sie würde nicht eingestehen weshalb – nicht einmal sich selbst. Der Tabakgeruch verschwand, und Rachel stand wieder auf einer sonnenüberfluteten Lichtung mit einer Wachtel zwischen den Fängen. Weit weg, im Gebüsch, hörte sie das ängstliche Piepen eines Wachtelkükens, eines Waisen, das zurückgelassen wurde, um ziellos umherzuwandern. Rachel hatte ein Ziel – sie sollte die Wege des Wolfes studieren. Das war der Grund, das Experiment zu starten. Der vorgeschobene Grund, nicht der wirkliche. Doch das war nicht wichtig, das würde nicht an ihr nagen und sie plagen. Das war nicht verbunden mit den alten Augen des Wolfes oder mit der Frau, die die Augen eines Berges besaß. Rachel ließ die Wachtel fallen und senkte den Kopf, um sie zu beschnuppern. Das Band rieb an ihrem Nackenpelz, und sie dachte daran, daß Jacob auf dieses Band und den Radiosender bestanden hatte. Wenn sie nicht zu der Stelle zurückkehrte, an der sie vor drei Tagen freigelassen worden war, würde der
Sender ein kontinuierliches Signal ausstrahlen, und die Labormannschaft würde sie ausfindig machen und wieder einfangen. Daran konnte sie sich erinnern, nicht aber, warum sie gekommen war. Sie hörte auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen und zerriß die Wachtel, verschlang Fleisch und Haut und Federn. Das Geräusch eines knackenden Zweiges unterbrach sie. Sie hob die Nase in den Wind, witterte. Der Mann war mit einem Begleiter und einem Hund zurückgekehrt. Sie ließ die Reste der Wachtel liegen und schlich zu den Männern hinüber. Sie folgte ihnen, nahe genug, ihre Unterhaltung zu verstehen, jedoch weit genug zurück, daß der Hund nicht auf sie aufmerksam wurde. Sie konnte nicht alles verstehen, was die Männer sagten. Aber ihre Worte glitten über die Oberfläche ihres Geistes und lösten Bilder oder Gefühle oder Gedanken aus. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, es seien nur ein paar Meilen«, klagte einer der Männer. »Der Hund sollte hier in der Nähe die Fährte aufnehmen«, antwortete der andere. »Es scheinen wirklich mehr als ein paar Meilen zu sein.« Der Mann zwang sich zu einem Lachen. »Das Buschwerk läßt uns auch nur langsam vorankommen.« »Sicher, Mr. Dryer.« Der Hund fand die Spur und begann ein heiseres, ängstliches Winseln, als er an der Leine zog. »Er hat die Fährte«, bemerkte die Stimme des Trappers zufrieden. »Sehen Sie, da ist ein Abdruck.« »Verdammt, das ist ein großer Brocken.«
»Ich sagte Ihnen, daß er groß ist.« Der Hund winselte, würgte sich selbst mit dem Band, und die Männer hörten zu reden auf. Sie setzten ihren Weg durch die Büsche fort, und Rachel schritt ihnen hinterher, lauschte dem Winseln des Hundes und dem stoßartigen Atem der Männer. Sie kamen nur langsam voran. Es war später Nachmittag, und sie würden die Wiese an diesem Tag nicht mehr erreichen. Rastlosigkeit spornte Rachel an, und sie verfiel in leichten Trab, lief windabwärts an den Männern vorbei. Sie bewegte sich schnell, unermüdlich, benutzte das Rennen als Ersatz für Denken, weil sie nicht wußte, was sie denken sollte. Diese Männer hatten keinerlei Erinnerung in ihr wachgerufen. Sie waren nicht Teil des Grundes, weshalb sie hier war. Sie war verwirrt. So nahe war sie daran gewesen, sich des Anfangs der Geschichte zu erinnern doch dann war ihr wieder alles entglitten. Die Sonne sank bereits, als sie die Wiese erreichte. Der alte Wolf war leicht zu finden. Er lag, wo Rachel ihn verlassen hatte, an derselben Stelle, in fast derselben Haltung. Als Rachel sich näherte, hob der alte Wolf den Kopf, um sie anzustarren. Fast gegen ihren Willen erwiderte Rachel den Blick, sah in die alten Augen, hoffte, damit eine Erinnerung wachzurütteln, die ihr den Beginn der Geschichte zuführen würde. Der alte Wolf heulte, und Rachel ließ den Blick nicht von ihm ab. Was war mit den Augen? Der alte Wolf sprang. Es war ein niedrig gehaltener Sprung, aus der Kraft der Hinterpfoten heraus. Mit der ganzen Wucht des Sprunges krachte er gegen Rachels Schulter und warf
sie um. Bevor Rachel wieder auf die Pfoten kommen konnte, sprang der alte Wolf von ihr weg und war bereit, den Angriff erneut zu wagen. Rachel blieb am Boden. Sie offenbarte den Fängen des alten Wolfes ihren Nacken und legte die Ohren flach in einer Geste der Beschwichtigung. Ihr Körper kannte diese Gesten. Sie hatte sich jedes Mal unwohl gefühlt, wenn sie in die Augen des alten Wolfes starrte, weil ihr Körper sich erinnerte, selbst wenn ihr Geist vergaß, daß ein direkter Blick eine direkte Herausforderung an die Dominanz des alten Wolfes war. Rachel rollte sich auf den Bauch und warf einen vorsichtigen Blick zu dem alten Wolf. Blut benetzte das Fell des verletzten Beines; die Wunden waren aufgebrochen, als der Wolf sie angesprungen hatte. Der Wind hatte mit Einbruch der Dämmerung nachgelassen. Die Luft war drückend heiß, wie die Luft in einem seit Jahren nicht mehr geöffneten Raum. Der Geruch von Blut hing über dem Farnkraut. Rachel konnte das Surren einer Fliege hören, die in faulen Kreisen über dem Kadaver des Hasen schwirrte. Rachel erinnerte sich nicht an die Vergangenheit. Sie wollte sich nicht an die Vergangenheit erinnern. Sie hörte die Fliege Lobpreisungen über tote Hasen und Maden singen und stellte sich Szenen einer möglichen Zukunft vor. Szene 1: Männer standen auf einer Wiese, die Hosen naß bis zu den Knien vom Durchwaten des hohen Grases, das im Morgentau funkelte. Der fette Mann hielt ein Gewehr, der dünne Mann die Leine eines ängstlichen Hundes.
Eine graue Wölfin stand, in die Enge getrieben, im Farn. Der fette Mann hob das Gewehr. Ein Feuerstoß, und ein toter Wolf lag im Gras. Später surrte eine Fliege über dem grauen Kadaver. Szene 2: Ein Gerichtssaal. Die Luft, heiß und ruhig, roch nach Staub. Rachel stand im Zeugenstand und deutete auf zwei schemenhafte Gestalten. Ein fetter Mann mit einem Gewehr. Ein dünner Mann, der eine glänzende Stahlfalle hielt. Rachel kannte sie: Mr. Dryer und der Trapper. Sie würde sie verurteilt und inhaftiert sehen, wegen Mordes eines geschützten Raubtieres. Rachel hörte die Stimme der alten Frau mit dem Granitgesicht durch den Gerichtssaal donnern. Sie sagte etwas über ihre Feinde – erkenne deine Feinde. Rachel würde ihre Feinde erkennen. Sie würde sich ihre Gesichter einprägen, wenn sie den alten Wolf töteten. Von dort, wo sie lag, beobachtete Rachel, wie der alte Wolf zu seinem Ruheplatz zurückhinkte. Er verdiente einen besseren Tod. Er verdiente, überhaupt nicht zu sterben. Aber nur wenige bekamen, was sie verdienten. Rachel sah zu, wie sich der alte Wolf das blutige Bein leckte, die Wunden säuberte, wieder und wieder säuberte. Der letzte Schein des Sonnenuntergangs verlosch, und der Mond kam auf. Ein voller Mond – sein Licht glänzte auf dem feuchten Fell der verletzten Pfote. Es würde nichts helfen, die Wunde zu lek-
ken, aber der alte Wolf leckte sie unaufhörlich. Es gab nichts, was man tun konnte, deshalb tat er das einzige, was er wußte. Rachel spürte die sich in ihr rührende Erinnerung, spürte, wie sie der Oberfläche ihres Geistes entgegenstieg. Sie vermochte eine Erinnerung zu wittern über den Geruch des Hasenblutes hinweg, und sie mochte diese Witterung nicht. Der alte Wolf blickte auf und begegnete Rachels Augen, aber sie sah weg und stapfte aus dem Farnkraut heraus, ließ den Geruch von Blut und Tod hinter sich zurück. Fledermäuse flogen über die Wiese, hinabtauchend und flatternd, auf der Jagd nach Nachtinsekten. So schwer faßbar wie Erinnerungen. Rachel hob den Kopf, beobachtete sie und traf die Augen der pockennarbigen Frau, die im Mond lebte. Bevor sie den Blick abwenden konnte, kam die Erinnerung. Die Augen waren graue Granitsteine in einem granitenen Gesicht. Die Frau mit den Augen eines Berges. Sie starrte intensiv auf Rachel, als wäre sie betroffen über das, was sie sah. Die wilden Augenbrauen formten Fragezeichen. Eine Glasscheibe trennte Rachel von der alten Frau. Ein Fenster, dachte Rachel und lehnte sich hinaus, um an der alten Frau vorbei hinaus zu spähen. Und die alte Frau lehnte sich vor, um die Sicht zu versperren. Kein Fenster, erkannte Rachel. Ein Spiegel. Die granitenen Augen waren ihre eigenen. Der Raum roch nach Arznei- und Desinfektionsmitteln. Rachel saß vor dem Spiegel einer Kommode. Ihre Beine taten weh in einem steten beständigen Schmerz – als ob sie schon immer geschmerzt hätten
und immer schmerzen würden. Ihre Augen fühlten sich sandig und müde, und sie wußte aus Erfahrung, daß Schlaf sie nicht erfrischen konnte. Sie waren müde vom Öffnen jeden Morgen, um die Welt zu sehen, und nur der endgültige Schlaf würde ihre Schmerzen beenden. Ihr Körper war verschlissen, und sie mußte mit dem allmählichen Niedergang leben. Sie wußte, warum sie für die Gewährung der Gelder gekämpft, warum sie darauf bestanden hatte, sich für diese Mensch-Tier-Übertragung zur Verfügung zu stellen. Nur so konnte ein neues Verständnis für das Training von Wölfen in einem sonst unkontrollierbaren Experiment gewonnen werden. Sie hatte wieder rennen wollen, hatte wieder die Welt klar sehen wollen, nicht durch die Schleier des Alters. Die Augen im Spiegel, ihre eigenen grauen Augen, brannten vor Zorn und Verzweiflung. Die pockennarbige Frau, die im Mond lebte, reflektierte auf die junge Wölfin. Die Wölfin legte den Kopf zurück, um die Hexe im Mond heulend zu verhöhnen, und ihr Schrei erhob sich mit Jammern und endete mit Schluchzen, das fast menschlich klang. Einsam, einsam, einsam – das Jammern hallte in den Granitgipfeln wider. Die Echos erstarben, und über die Wiese heulte eine andere Stimme den Mond an. Und irgendwo in den Bergen beantwortete ein dämonischer Chor die Schreie. Die Wölfe, die sich in den verwitterten Granitspitzen verbargen, verfluchten das fahle Gesicht des Mondes. Rachel war jung, doch ihr Körper lag im Sterben. Und sie war dazu bestimmt, einen alternden Bruder von dem Gewehrschuß eines Wilderers sterben zu
sehen. Sie warf den Kopf in den Nacken, und das Mondlicht füllte ihre Kehle, und sie heulte den Mond an und wartete auf das Morgengrauen. Kurz vor Morgenanbruch begann der Himmel zu weinen. Ein stetes Nieseln, das Rachel veranlaßte, Zuflucht im Pinienwald zu suchen. Die Männer kamen lange nach Morgengrauen. Der Hund zog den Führer vorwärts, und der Führer verfluchte den Hund. Der fette Mann kam kaum nach und verfluchte den Führer, weil er zu schnell ging. Der Führer rutschte im Schlamm aus, nahe bei den Lupinen. Der Hund zerrte, und er fiel auf seine Knie. Er stand wieder auf, fluchte auf den Regen und fluchte auf den Hund, fluchte auf den Tag. Rachel folgte ihnen, verbarg sich hinter Büschen von Lupinen und Farn. Der Hund entdeckte den alten Wolf zuerst und begann nun verzweifelt zu jaulen. Der alte Wolf erhob sich nicht, um sie zu begrüßen. Er lag reglos unter einem herabhängenden Farn. Für einen Moment dachte Rachel, er könnte schon tot sein, aber dann hob er den Kopf, um die Männer und ihren kläffenden Köter anzustarren. »Das ist ihr Wolf«, schnarrte der Führer. »Schießen Sie ihn ab und lassen sie uns umkehren.« Der fette Mann sah den Wolf an, dann den Führer. »Aber er liegt nur so da.« Er leckte nervös über seine Lippen. »Ist es eine Heldentat, einen Wolf zu erlegen, der einfach nur so daliegt?« Der Führer lachte. »Ich habe hier Ihren Wolf für Sie – wollen Sie, daß ich ihn für Sie auch noch auf die Beine stelle? Knallen Sie ihn liegend ab, mir ist das egal.« Der Führer wandte sich ab, zog an der Leine
und holte den Hund dichter an sich heran. »Halt' die Klappe, blöder Köter.« Der fette Mann sah auf den Wolf und ging widerwillig einen Schritt näher. Er musterte den Wolf, während er sein Gewehr erhob. Der alte Wolf sprang – bereit, die ihn anvisierenden Augen zu bekämpfen, die seine Vorherrschaft herausforderten. Der fette Mann schoß wie wild, und der Wolf fiel ihn an. Der erste Ansprung warf ihn in den Dreck. Der Wolf schnappte nach seiner Kehle. Der Führer konnte nicht schießen, ohne den Mann zu treffen, er trat nach dem Wolf. Blut sprudelte aus der Kehle des fetten Mannes. Rachel fing den Geruch davon auf. Der Führer brüllte einmal, als Rachel ihn von hinten ansprang. Er rollte herum, und für einen Moment drückten seine Hände ihre Kehle und ergriffen das Band. Er hielt sie von sich, indem er den dünnen Metalldraht festklammerte. Und das Rutschen des Bandes erinnerte sie daran, daß sie Mensch war, kein Wolf. Sie war eine alte Frau, die dazu verdammt war, im Bett zu sterben. Sie weigerte sich zu sterben. Sie kämpfte gegen den Tod, und er schrie, ein heiserer Schrei wie ein Fluch, der nie endete. Sie sprang. Das Sicherheitsschloß des Bandes schnappte. Sie erreichte seine Kehle und beendete den Schrei. Die Wiese lag still. Der fette Mann lag still, und der alte Wolf stand über ihm. Der Hund war in den Pinienwald gelaufen. Rachel beschnupperte den Körper – es war überhaupt nicht der Tod. Nur ein dünner Mann mit einen bitteren Gesicht. Die Regentropfen fielen sanft auf sein Gesicht und rannen die Wangen
hinunter, wuschen das Blut fort. Er hielt noch immer das Metallband umklammert, das in einer kleinen Box den Radiosender enthielt. Das Labor konnte sie nicht mehr aufspüren. Sie konnten diese Wiese finden, aber nicht die graue Wölfin. Sie konnten Rachel nicht in den sterbenden Körper zurückpflanzen, den sie aufgegeben hatte. Die alte Frau könnte nach Rachel suchen, doch sie würde sie nicht aufstöbern. Rachel wußte, wie das Gehirn der alten Frau arbeitete, sie würde wissen, wie sie ihre Fallen zu meiden hatte. In ihrem Geist hallte das Echo des polternden Baßes der Frau: Erkenne deine Feinde. Das Labor würde ruiniert werden, und die alte Frau würde sich zurückziehen. Jacob, der ehrgeizige Rotschopf, würde zurückbleiben, um die traurigen Überreste zu verwalten, Gott eines Nichts. Rachel grinste plötzlich. Konnte es sein, daß die alte Frau Rachels Flucht eingeplant hatte? Hatte sie wirklich beabsichtigt, in diesen alten Körper zurückzukehren? Oder hatte die alte Frau damit gerechnet, daß sie durch ihre Persönlichkeitsübertragung auf einen Wolf ihren Nachfolger ruinieren konnte, während sie ihrer eigenen Persönlichkeit gestattete, auch nach dem Tod fortzubestehen? Es war möglich. Rachel würde sich mit dieser Möglichkeit ausführlicher auseinandersetzen müssen, wenn sie Zeit hatte, die Gedanken der alten Frau von ihren eigenen zu trennen. Rachel drehte sich ab von den Körpern und berührte die Nase des alten Wolfes zum ersten und letzten Mal. Sie warf einen Blick auf seine verletzte Pfote, die jetzt nicht blutete. Als der alte Wolf zu seinem Ruheplatz zurückging, hinkte er, aber die Wun-
de brach nicht wieder auf. Sie würde heilen. Beide würden sie überleben. Rachel trottete über die Wiese auf das Hochland zu. Der Regen würde ihre Fährte wegwaschen, und sie würde sich irgendwo in den verwitterten Granitknochen dieser Welt verlieren. Sie blickte nicht zurück. Und irgendwo in den Sierras jagte eine, von unruhigen Gedanken erfüllte, graue Wölfin Hasen und heulte den Mond an. Manchmal träumt sie vom Beginn und erinnert sich an die granitgesichtige Frau mit den Augen eines Wolfes.
Originaltitel: EYES OF THE WOLF Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Mai 1978
Stephan Tall DER FELS UND DER SEE Das Essen kam vom Felsen. Es kam in Tropfen und schäumenden Blasen, die zerbarsten und langsam zu dünnen, nahrhaften Krusten trockneten. Wenn man sie kaute, wurden sie rasch weich und verwandelten sich im Mund zu einer süßen Flüssigkeit. Ihr Geschmack wurde durch den allgemeinen Hunger noch angenehmer, denn es gab kein anderes Essen. Es hatte nie anderes Essen gegeben. Es standen mehrere Möglichkeiten der Essenszubereitung zur Auswahl. Normalerweise wurde es in Schalen gefüllt und mit klarem Wasser übergossen. Diese Mischung wurde zu einer pinkfarbenen, trüben Flüssigkeit, von der ein aufregender Geruch ausströmte. Der Geschmack war wunderbar. Es war eine Freude, die Essensschalen zu füllen, sie auf kleine Steinhügel zu stellen und in fröhlichem Beisammensein daraus zu essen. Nach dem Essen tat es gut, gemeinsam Wasser zu trinken, eine Schale voll für jeden. Dann waren alle zufrieden, und das Leben konnte weitergehen. Das Wasser kam vom See. Es war ein großer See, und das Wasser darin wurde ständig erneuert. Wie dies geschah, wußte keiner, da keines sichtbar hineinfloß oder vom wolkenlosen Himmel herabfiel. Es gab Legenden, die davon berichteten, daß einst das Wasser tatsächlich herabgefallen war, aber das war Unsinn. Wasser kam nur vom See. Und es gab nur diesen einen See. Von See und Felsen erstreckte sich die Ebene in
endloser Weite nach allen Richtungen. Die Legende besagte, daß es kein Ende gab, daß sie allgegenwärtig war. Wie man das wissen konnte, war keinem klar, da ja niemand in die endlose Weite hinaus konnte. Dort gab es kein Wasser und keine Nahrung. Nur vom See und vom Felsen konnte man leben. Und doch, weit entfernt in der Leere, gab es etwas. Manchmal, am Ende des Tages, wenn das gelbe Licht nicht länger herabbrannte und die Hügel lange Schatten in den warmen Sand warfen, schienen dort, wo Himmel und Erde sich trafen, kaum erkennbar, dunkle Massen zu liegen. Der Große Kleine wußte nichts von solchen Dingen, aber er sollte bald davon erfahren. Von jenem Augenblick an, da er zum erstenmal aus dem schützenden Fels hervorkriechen konnte in dem seine Mutter ihre Höhle hatte, diesen kühlen, dunklen, freundlichen Ort, den sie »Heim« nannte, war er unendlich neugierig. Die Welt erschien ihm schön. Der warme Sand hatte einen sauberen Geruch, sobald das Licht verblaßte. Und nichts war herrlicher, als die Frische der Luft, wenn man sich dem See näherte. Natürlich lernte er schon früh, daß es verboten war, sich dem See zu nähern. Es waren immer Wächter dort. Nur Erwachsenen war es erlaubt, ihn aufzusuchen. Er begriff rasch, daß Wasser kostbar war. Bereits bevor er aufhörte, sich vom Körper seiner Mutter nähren zu lassen, erhielt er eine Schale, und seine Mutter durfte sie einmal zu jeder Essenszeit für ihn füllen, so wie sie ihre größere Schale zweimal für sich selbst füllen durfte. Eine Schale voll goß sie über das vom Felsen gespendete Essen, die andere trank sie aus, wenn die Nachbarn mit ihren Schalen aus den
angrenzenden Höhlen kamen. Dann saßen sie im kühlenden Schatten, schlürften Wasser und erzählten von ihrem angenehmen Dasein. Er hörte mit strahlenden Augen zu und war einer Meinung mit ihnen. Das Leben war gut. Aber er konnte es nie ruhig genießen. Schon bevor er aufrecht gehen konnte, rannte er auf allen vieren herum, von einem Schatten zum nächsten und in andere Höhlen, aus denen er umgehend, aber freundlich von den Eigentümern entfernt wurde. Er lernte, aber er stimmte nicht immer mit dem überein, was man ihm beibrachte. Er verstand nicht, warum es Einschränkungen gab. Er sah keinen vernünftigen Grund, warum man ihm den Zutritt zum Fels oder zum See verwehrte. »Eine Schale Wasser ist gut«, sagte er zu seiner Mutter, »aber warum kann ich nicht zwei haben? Ich könnte immer mehr trinken.« »Niemand trinkt mehr als eine Tasse«, erklärte seine Mutter. »Es war nie anders. Auf diese Weise ist immer ausreichend Wasser vorhanden.« »Es ist ein großer See«, beharrte er. »Er ist nie leer.« »Weil niemand mehr als eine Schale voll trinkt.« Er betrachtete seine Mutter, die mager war, eingetrocknet, lieb, mit düsteren, milden Augen und kleinen schrumpeligen Händen. Und es kam ihm ein neuer Gedanke. »Wenn du mehr als eine Schale getrunken hättest, ginge es dir besser«, sagte er. Das schien sie zu stören. »Ich will nicht, daß es mir besser geht«, sagte sie schließlich. »Meine Nachbarn würden es nicht gern sehen.«
»Wenn sie mehr als eine Schale getrunken hätten, würde es ihnen auch besser gehen.« Ihr knochiges Gesicht zeigte milden Zorn. »Dann wäre der See bald leer. Es gäbe kein Essen mehr. Wir würden alle sterben.« »Es gibt Essen auf dem Felsen, höher als irgend jemand reichen kann. Wenn du größer und gesünder wärst, kämst du höher hinauf.« »Aber –« Er konnte sehen, daß seine Gedanken sie verwirrten und verstörten. Er drehte sein kleines Gesicht, tätschelte sie mit seiner Kinderhand und sagte mit einer Weisheit, die weit über sein kurzes Leben hinausging: »Ich habe unrecht. Du hast recht. Eine Schale Wasser ist genug.« Aber er änderte nicht eine Sekunde seine Meinung. Und er redete mit keinem Erwachsenen mehr darüber. Statt dessen handelte er. Es waren immer Wächter am See, aber sie waren nicht sehr aufmerksam. Es bestand kein Grund, dies zu tun. Niemand dachte daran, mit der Tradition zu brechen. Das Wasser war Leben. Wie seine Mutter sagte, trank niemand mehr als eine Schale. Am Fels waren auch Wächter. Zu jeder Essenszeit durfte jeder Erwachsene eine Schale voll Essen abschlagen. Es gab drei solcher Mahlzeiten während jeder Lichtperiode. Niemand aß oder trank in der dunklen Zeit. Aber sie genossen es, wenn das Licht zu Dunkelheit wurde und die kleinen strahlenden Punkte am Himmel über ihren Köpfen langsam auftauchten. Dann kam die Kühle und manchmal ein leiser Wind. Alle saßen in den Höhleneingängen, saßen still und
redeten im Flüsterton und dachten an die erfrischende Schale Wasser, die sie getrunken hatten. Er saß bei seiner Mutter. Aber er konnte nicht lange still sitzen. Er spielte im abgekühlten Sand, hüpfte hin und her und versuchte, andere Kinder zum Mittoben zu bringen. Aber ein einziges Wort ihrer Eltern, und die anderen Kleinen setzten sich gehorsam hin. Nur er ging weiter und weiter hinaus in die herrlich duftende Finsternis. Es gab einen Grund für seinen Drang in die Ferne. Jeden Tag dachte er an das, was ihn unvermindert beschäftigte. So war es kein Zufall, daß ihn seine Exkursionen immer näher an den See heranführten. Und er lernte, daß ihn, wenn er sich leise verhielt, niemand bemerkte. Das Dunkel war nicht wirklich dunkel. Die vielen strahlenden Punkte am Firmament spendeten einen schwachen Schein, und wenn das große Licht kam, wie so oft, vermochte er weit über die Sandebene zu blicken. Der See glitzerte, und der dunkle Brocken Fels war deutlich auszumachen. »Die kleinen Lichter sind Sterne«, sagte seine Mutter. »Es hat sie immer gegeben, genau wie es den Sand und den Fels und den See gegeben hat.« »Das große Licht ist nicht immer da. Manchmal kommt es, manchmal nicht. Was ist es?« »Ich weiß nur, daß man es Mond nennt.« »Warum nennt man es so? Warum ist es da? Ich möchte mehr über diese Dinge wissen.« »Warum?« Seine Mutter belächelte mild ihren andersartigen Sohn. »Es ist nicht möglich. Es ist besser, zu sitzen und die Kühle zu genießen und an das Wasser zu denken, das man getrunken hat.«
Er fragte nicht weiter. Er beunruhigte seine Mutter. Aber die Dinge, auf die er keine Antwort hatte, gerieten ihm immer öfter in den Sinn, und er sah keinen Grund, warum eine Schale Wasser genug sein sollte. Eines Nachts, als kein Mond schien, kam er zum See. Das Licht war schwach. Seine kleinen Füße verursachten keinerlei Geräusch im feinen Sand. Er konnte einen Wächter dahocken sehen, eine zusammengesunkene Gestalt. Und wenn er angestrengt lauschte, konnte er verhaltenes Schnarchen hören. Das Wasser fühlte sich kühl an, als er seine kleine Hand hineintauchte. Die Luft um den See war wunderbar erfrischend. Er wünschte sich, er hätte seine Schale dabei, um trinken zu können. Als er seine Hand herauszog, troff sie vor Nässe. Tropfen hingen an den Fingern. Plötzlich kam ihm eine Idee, und er leckte sie ab und tauchte sie wieder ins Wasser. Er brauchte keine Schale, um zu trinken. Wieder und wieder leckte er seine Finger. Das Naß schmeckte köstlich. Und bald fand er heraus, daß er seine Finger so biegen, so formen konnte, daß es ihm gelang, Wasser zu schöpfen, als ob seine Hände eine kleine Schale wären. Er trank, bis er gesättigt war. Zum erstenmal in seinem kurzen Leben hatte er wirklich genug. Als er hinter dem dösenden Wächter zurückschlüpfte, wußte er, daß er wiederkommen würde – immer wieder. Er wollte nicht glauben, daß ein kleines Wesen wie er irgend eine Änderung beim See bewirken könnte. Mit dieser zusätzlichen Wasserration schlief er tief. Als er erwachte, schien die Welt strahlender als je zuvor. Er hatte immer etwas zu tun, aber an diesem Tag war er noch geschäftiger als sonst. Seine Mutter be-
obachtete ihn mit sanftem Staunen. Aber sie war stolz auf ihn. Keine Höhle der Welt, in all dem Raum um den Fels und den See, hatte einen solch aktiven, strahlenden Sohn. Die Schale Essen schien sehr wenig. Er trank das Gemisch, das seine Mutter zubereitet hatte, bedächtig schlürfend und jeden Bissen auskostend. Seine kleinen Zähne bearbeiteten den süßen Stoff, den seine Mutter in das Wasser getan hatte. Er machte sich keine Gedanken darüber, daß diese Zähne seit Hunderten von Generationen nicht mehr richtig in Anspruch genommen worden waren. Immer, soweit die Erinnerung zurückreichte, hatte es nur das Essen vom Fels und das Wasser vom See gegeben. »Ich hätte gern mehr zu essen«, sagte er zu seiner Mutter. »Du hast deine Schale gehabt. Das ist die Menge, die alle Jungen deines Alters bekommen. Keiner hatte je mehr.« »Du könntest nochmal zum Fels gehen. Dort ist mehr.« »Es wäre nicht mehr, wenn jeder mehr als eine Schale hätte.« »Aber ich rede nicht von mehr für jeden. Nur für mich.« Seine Mutter sah ihn zutiefst erstaunt an. Ihre dürre Gestalt, immer zerbrechlich und gebückt, straffte sich. Die kleinen Augen glühten. Ihre sanfte Stimme klang fast rauh, als sie sagte: »Was für einen recht ist, ist für alle recht. Das war immer richtig. Vergiß das nie, mein Sohn. Und deshalb hat jeder nur eine Schale.« Er hätte gerne mehr über diese Dinge gesprochen.
Er war der Meinung, daß all das Essen, das der Fels bereithielt, nie gegessen werden konnte. Ein Großteil der Nahrung hing zu hoch, als daß selbst der größte Erwachsene sie erreichen konnte. Manchmal fiel ein großer Brocken von oben herunter, und wenn er mit einem Stein gebrochen wurde, konnte er viele Schalen füllen. Das wußte er, weil seine Mutter es erzählt hatte. Aber selbst, wenn so etwas geschah, bekam niemand mehr als eine Schale. Es gab keine Ausnahmen. Deshalb sagte er: »Ja, Mutter«, und ging hinaus, um in den Schatten zu spielen, die von den verstreuten Hügeln geworfen wurden. Niemand blieb lange in der heißen Sonne. Aber er wußte, was er zu tun hatte. Was beim See möglich war, mußte es auch beim Fels sein. Die Wache würde nicht besser sein. Und als es dunkel wurde, bewies er es sich selbst. Es war leicht, die kleinen Brocken mit seinen schmalen Fingern abzubrechen. Er hatte kein Wasser, deshalb zerbiß er sie mit seinen zurückgebildeten Zähnen, und es schien ihm, als habe er nie zuvor solche Süße gekannt. Er aß langsam und löste nicht alle Brocken an einer Stelle. Er bemerkte, daß der Fels dort, wo er die Nahrung abbrach, rauh und feucht war. Die Feuchtigkeit hatte das süße Aroma des Essens, als er sie von seinen Fingern ableckte. Als er gegessen hatte – mehr als in seinem ganzen Leben –, wurde sein Durst übermächtig. Er schlich um den Fels herum, sich immer im Schatten bewegend, kam zum See und trank. Die ganze Nacht rumorte und schmerzte sein kleiner Magen, und seine Träume ließen ihn schreien. Zu
wenig Essen war nicht gut, zuviel auch nicht. Er lernte viel in dieser Nacht. Zur ersten Essenszeit des Tages, lehnte er seine Schale ab. »Iß du es«, sagte er zu seiner Mutter. »Ich nehme nur das Wasser.« Das war noch nie geschehen. Sie war ängstlich um ihn besorgt, während er auf seinem kleinen Bett, gegen die kühlende Wand gepreßt, liegen blieb. Aber zur zweiten Essenszeit nahm er wieder etwas zu sich und rannte dann hinaus, um in den Schatten zu spielen. Er wuchs, und es schien ihm, als würde seine Mutter immer kleiner. Sein Heim schrumpfte. Das Bett war bald zu winzig, und durch die Höhlenöffnung, die er bisher aufrecht passieren konnte, mußte er nun kriechen. Das war verwirrend, und nachdem er es festgestellt hatte, dachte er darüber nach. Dann hatte er die Lösung: All diese Dinge wurden nicht kleiner – er wurde größer. Viel größer. Er wuchs – ungeheuer schnell. Und als er den Grund dafür suchte, fand er ihn. Jede Nacht neuerdings, jede Dunkelperiode, hielt er sich lange außerhalb der Höhle auf. Seiner Mutter sagte er, er beobachte gerne die Sterne. Dann, sobald alles ruhig war, machte er seinen nächtlichen Besuch beim Fels und beim See. Er hatte gelernt, sparsam zu essen. Er trank nur noch so viel Wasser, daß das Essen sich gut in ihm fühlte. Aber während alle anderen drei sparsam gefüllte Schalen zu den Mahlzeiten und jedesmal eine Schale Wasser dazu hatten, hatte er vier Essenszeiten, und bei der letzten holte er sich alles, was sein wachsender Körper verlangte. Von allen Lebewesen auf
der Welt hatte nur er genügend zu essen. Wenn der Mond schien, war es schwerer. Dann war es sehr hell, und er mußte noch vorsichtiger sein. Es bestand immer die Möglichkeit, daß ein Wächter aufwachte. Aber dazu kam es nie. Seit Generationen waren die Wächter überflüssig. Deshalb schliefen sie tief. Dann kam der Tag, als etwas Merkwürdiges geschah. Selbst der älteste Erwachsene hatte etwas Derartiges noch nie gesehen, obwohl es Geschichten darüber gab, verschwommene alte Erinnerungen an eine Zeit, als solche Dinge oft geschahen. Damals, als die Welt noch anders war und jeder soviel Wasser hatte wie er brauchte oder wollte. Es war ungewöhnlich hell gewesen und sehr heiß. Das Spiel in den Schatten hatte ihn ermüdet. Er lag dösend in der Höhlenöffnung. Noch nicht einmal eine heiße Brise wehte über den schimmernden Sand. Er dachte sehnsüchtig an eine Schale kühlen Wassers. Draußen war der See zu sehen; das Wasser funkelte in der brennenden Sonne. Jeder hatte eine Erfrischung nötig. Aber niemand kam auf den Gedanken, jetzt schon Wasser zu holen. Der Brauch hinderte sie daran. Die nächste Schale Wasser wurde ihnen mit Einbruch der Dämmerung zugeteilt. Ganz plötzlich wurde es finster, aber kein Stern war zu sehen. Der Himmel war mit seltsamen, sich bewegenden, rollenden Massen bedeckt, die immer tiefer zu sinken schienen. Dann kam ein heißer Wind auf, griff nach dem Sand und trieb ihn überall hin, so daß er in Augen und Nasen geriet und brannte. Es war beängstigend. Seine schmächtige Mutter floh in die Tiefe der Höhle und lag zitternd auf ihrem Bett.
Aber ihn erschreckte es auf unerklärliche Weise nicht. Er kroch aus der Höhle und stand da, groß, größer als der größte Erwachsene, obgleich er noch sehr jung war. Er drehte dem vom Wind gepeitschten, stechenden Sand den Rücken zu. Dies war etwas Neues, und es schien ihm, daß alle draußen sein sollten, um zu beobachten. Doch keiner tat es. Nur er bewegte sich gegen den wirbelnden Sand und die dunklen Massen am Himmel. Dann fiel das Wasser. Innerhalb weniger Augenblicke war seine Haut völlig naß. Um ihn herum wurde der Sand dunkel. Der Wind blies nicht mehr. Er stand da jetzt voller Angst, und das Wasser durchnäßte ihn. Es kam so dicht herab, daß man den See nicht mehr erkennen konnte, und der Fels war nur noch ein verschwommenes Etwas in den strömenden Wassermassen. Sogar der Sand konnte nicht so schnell trinken, wie die Tropfen kamen. Das Wasser rann in Strömen überallhin, trug den Sand mit sich und schwemmte sich Pfade. Und jede Vertiefung in jedem Stück Fels und auf jedem Hügel wurde bis oben hin gefüllt. »Vielleicht sterbe ich«, sagte er zu sich, »aber ich werde nicht hineingehen. Dies ist etwas, was niemand zuvor sah. Niemand kann sich zuviel Wasser vorstellen – aber dies ist zuviel!« Nach der Hitze des Nachmittags war die Luft jetzt kühl. Er, dessen Haut nie zuvor naß gewesen war, fror, und seine kleinen Zähne schlugen klappernd aufeinander. Er hielt es wirklich für möglich, daß er sterben mußte, aber er blieb trotzdem draußen und beobachtete. Er kroch hinter einen Hügel in der Nähe des Höhleneingangs, weil es dort weniger wehte. Der
Felsen war naß und kalt. Der vorüberziehende Wüstensturm dauerte nur wenige Minuten. Er konnte nicht wissen wie unvorhersehbar solcherart Stürme auftraten und welch kleinen Raum sie trafen. Er wußte nicht, daß es nur Glück war, daß dieser Ort für viele Leben davon verschont geblieben war. Die düsteren Wolken zogen weiter, der Himmel erhellte sich. Wärme kehrte zurück. Er stellte sich auf die heißeste Stelle, die er finden konnte, und seine Haut trocknete rasch. Überall stiegen flirrende Dämpfe auf. Vorsichtig schauten Nachbarn aus ihren Höhlen. »Kommt heraus«, rief er. »Die Welt ist naß. Es gibt Wasser für jeden, und es zu trinken mindert den See nicht.« Er schlürfte Wasser aus einer Senke im Hügel. Es war kalt und gut. Erst einer nach dem anderen, dann in Gruppen und Familien, traten sie hinaus. Sie gingen vorsichtig, fast tastend, über den nassen, kalten Sand. Sie mißtrauten dem Wasser in den Pfützen. Aber wie er tauchten sie die Finger hinein und kosteten. Kein Brauchtum verbot, dieses Wasser zu trinken. So trank jeder, bis er gesättigt war. Niemals zuvor hatte man soviel Wasser gehabt, wie man sich ersehnte. Aber es war ein vergängliches Geschenk. Viel zu schnell trocknete die heiße Sonne den Sand. Nach und nach verschwanden die Pfützen. Die wassergefüllten Vertiefungen wurden zu feuchten Stellen auf den Felsen und lösten sich bald völlig auf. Aber solange es dauerte, war es wundervoll. Später, in der Dämmerung, würden alle daran denken und von
dem Tag reden, als jeder soviel kühles Wasser hatte wie er wollte. Als die Sonne versank, nahm jeder Erwachsene seine Schale und ging zum Fels, um das Essen zu holen. Obwohl sie Unmengen Wasser getrunken hatten, folgten sie dem Brauch. Die Dämmerung war die letzte Essenszeit eines Tages. Zuerst begriffen sie nicht, was sie fanden. Benommen liefen sie um den naßglänzenden Fels herum, der viel größer war als der höchste Hügel. Zum erstenmal sahen sie ihn richtig, die schroffen, porösen Seiten, die mit winzigen, perlenden Wassertröpfchen benetzt waren. So lange hatten sie die süßen Brocken abgeschlagen, daß es einige auch jetzt versuchten, obwohl ihre Augen ihnen sagten, daß nichts zum Schlagen da war. Und endlich entrang sich einer alten Frau, die mit zwei Schalen gekommen war, ein Seufzer der Erkenntnis: »Da ist kein Essen.« Obwohl größer als der größte Erwachsene, war er noch ein Kind. Er lebte noch nicht lange genug, um seine Schale selbst am Fels füllen zu dürfen. So trug seine kleine Mutter die Schale, wie sie es immer getan hatte. Er stand mit den anderen Kindern weit weg und wartete. Von dort, wo er stand, konnte er sehen, daß der Fels anders war. Die Brocken hingen nicht herab wie immer. Er waren keine da. Doch der Fels glänzte vor Nässe, während alles andere bereits trokken war. Seine Mutter kam langsam mit den leeren Schalen zurück. Sie war erstaunt, stumm, pathetisch. Ihre kleine Welt war zusammengebrochen. Wasser war
vom Himmel gefallen, aber es gab kein Essen mehr vom Fels. »Wir werden sterben«, seufzte sie. »Ich konnte kein Essen für uns bekommen. Es gib keins auf dem Fels. Ich verstehe es nicht, aber wir werden sterben.« »Wir sind nicht tot«, beruhigte er sie, »und wir hatten viel Wasser. Vielleicht reicht das.« »Niemand kann ohne Essen leben«, sage sie. »Niemand hat je ohne Essen gelebt.« »Hol uns Wasser vom See«, schlug er vor. »Wir hatten kein Essen, aber wir können es schlürfen in der Kühle des Abends, wenn die Sterne kommen. Es wird schön sein.« Im Gegensatz zu allen anderen um den See und den Fels, dachte er nach. Er hatte schon so oft mit der Tradition gebrochen, daß es ihm leichter fiel, sich mit der veränderten Situation abzufinden. Er war besser genährt, und seine Gedanken waren kühner. Er erinnerte sich daran, was geschah, wenn Wasser über Essen geschüttet wurde. »Das Essen verschwindet«, sagte er zu sich. »Es wird ein Teil des Wassers, und das Wasser wird so süß wie das Essen.« Er hockte sich nieder und studierte den Fels, der noch in den letzten Sonnenstrahlen schimmerte. »Das Wasser fiel vom Himmel. Viel Wasser. Es floß über den Fels und auf das Essen. Das Essen wurde ein Teil des Wassers, und der Sand trank es, als es hinwegfloß. Deshalb gibt es auf dem Fels kein Essen.« Spät, als es dunkel geworden war und alle hungrigen Mitglieder der Kolonie endlich hungrig eingeschlafen waren, kroch er aus der Höhle und machte sich auf seinen vertrauten Weg zum Fels. Die Sterne
schimmerten sanft. Der Mond war eine dünne Sichel tief am Himmel. Ihn bewegten noch andere Gedanken über den Felsen. Er fragte sich, woher das Essen kam. Wenn man einen Brocken abbrach, kamen immer neue an seiner Stelle. Unter den Brocken war der Fels immer naß. Und die Nässe war süß, wie das Essen süß war. Daran dachte er, als er wieder zum Fels kam. Sein Schädel brummte unter all den Dingen, über die er grübelte, mit der Anstrengung, alles verstehen zu wollen. Er legte einen Finger auf den nassen Fels, führte ihn dann zum Mund. Wie immer schmeckte es süß. Aber seine prüfenden Hände fühlten noch etwas anderes, etwas viel Aufregenderes. Überall auf dem Fels wuchsen wieder kleine Brocken. Sie waren sehr dünn und brachen, wenn man sie berührte. Aber sie waren so wie ihre Vorgänger, schmeckten, wie das Essen immer geschmeckt hatte. Das Essen kam zum Felsen zurück. Niemand würde verhungern müssen. Er aß, indem er die kleinen Brocken behutsam abbrach. Er hätte seiner Mutter gerne etwas mitgenommen, aber er wußte, daß das nicht ging. Es war ihm ja verboten, sich dem Fels zu nähern. Er war zu jung. Und niemand aß während der dunklen Zeit, das tat man nicht. Er trank ein wenig am See und ging dann zu Bett. Seine Mutter weinte leise im Schlaf. Er überlegte intensiver als je zuvor. »Wenn ich Wasser über einen Stein schütte, geht es schnell weg, und der Stein ist wieder trocken. Ist das Essen ein Teil des Wassers auf dem Fels? Und wenn das Wasser verschwindet, bleibt das Essen?« Er dachte nach, bis sein Kopf schmerzte, aber als er
gerade in Schlaf fallen wollte, fuhr ihm eine noch nachdenklicher stimmendere Frage durch den Sinn. »Warum ist der Fels naß? Woher kommt das Wasser?« Er ahnte nicht, daß außer ihm nur ein einziges Wesen der Kolonie je diese Frage gestellt hatte. Das war vor zwei Tagen gewesen. Zweimal hell, und zweimal dunkel. Das Essen war zurückgekommen, die Brocken wuchsen schneller, als die gefüllten Schalen sie wegtragen konnten. Jedes Wesen bekam die ihm zustehende Menge. Er hatte sogar seine Mutter überzeugen können, eine größere Schale für ihn zu nehmen, denn sie konnte nun selbst sehen, daß er es brauchte. Und es war ihm immer noch nicht genug. »Alle sollten mehr essen«, sagte er seiner Mutter. »Es ist mehr auf dem Felsen, aber nie haben wir genug. Es war schön, als wir alle soviel Wasser hatten, wie wir wollten.« Aber seine Mutter schüttelte ihren kleinen Kopf. »Das hat man noch nie getan. Eine Schale genügt. Aus diese Weise haben wir immer ausreichend.« »Es gibt weit oben, wo keiner hinreichen kann, auch Essen. Es könnten noch viel mehr genährt werden. Es muß eine Möglichkeit geben, es zu holen.« »Es gibt keine Möglichkeit. Sobald die Brocken schwerer werden, fallen sie ab und können gegessen werden. So war es immer.« Seine Augen glänzten. »Wenn mir ein Weg einfiele, die Brocken weiter oben abzuschlagen, würden die Nachbarn dann zustimmen? Warum sollte man sie nicht abschlagen?« Wieder schüttelte sie den Kopf. Diesmal schien sie verstört. Sie liebte ihren großen Sohn, aber er war so
eigenartig. Niemand hatte je gedacht wie er. »So ist es nie gemacht worden. Wie wir es tun, ist es am besten, weil wir es immer so taten. Und du bist zu jung, auch nur in die Nähe des Felsens zu gehen. Ich weiß wirklich nicht, warum du so groß bist.« Er hätte weiter auf seiner Meinung beharren können, aber ein anderes, seltsames Ereignis zog seine Aufmerksamkeit auf sich, bald nachdem das Wasser vom Himmel gefallen war. Die meisten Lebewesen betrachteten es in düsterer Verwunderung, er aber war fasziniert. Überall rings um die Höhlen und auf dem heißen weitem Land traten kleine grüne Dinger aus dem Sand. Sie bewegten sich nicht aber genau wie die Brocken auf dem Fels wurden sie größer. »Was ist das?« fragte er seine Mutter. »Das habe ich noch nie gesehen. Was tun sie? Sind sie Essen?« »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte seine Mutter. »Ich sehe es auch zum erstenmal. Aber es ist kein Essen. Essen kommt nur vom Fels. Das wissen alle.« Sie zögerte. Er merkte, daß sie noch etwas sagen wollte. »Weit hinter dem Felsen, auf der anderen Seite der Kolonie, gibt es einen Hügel, der rot in der Sonne leuchtet. Unter einem schützenden Vorsprung befindet sich eine Höhle. Dort im Schatten wird ein sehr Alter sitzen. Sein Haar wird lang und zerzaust und grau wie alles andere um ihn auch sein. Frag ihn. Er lebt schon sehr lange.« Sie verstummte, aber er wußte, daß sie noch nicht fertig war. Und schließlich fügte sie hinzu: »Sag ihm, daß ich dich geschickt habe, und daß du mein Sohn bist. Ich kannte ihn einst sehr gut.«
Sie hatte vergessen oder wußte es vielleicht gar nicht, wie weit er in der Gegend herumstreunte, wenn er in den Schatten spielte. Und sicher wußte sie nichts von seinen ständigen Wanderungen im Sternenschein, wenn alle in ihren Betten sein sollten. Er kannte den roten Hügel gut und hatte den sich langsam bewegenden Alten oft beobachtet, wie er im Schatten kauerte, manchmal dösend, manchmal blicklos vor sich hin starrend. Das hatte ihn neugierig gemacht. In der ganzen Kolonie gab es keinen, der so langsam, so grau und so faltig war. Die grünen Dinger waren Flecke im Sand und ein hübscher Anblick im Morgenlicht. Nach dem ersten Essen und Trinken eilte er rasch von Schatten zu Schatten, verharrte jedesmal einen Moment, wie er es gelernt hatte. Denn nur auf diese Weise konnten sich Lebewesen im heißen Licht bewegen. Er konnte den roten Hügel von weitem sehen. Es war noch früh, aber der Alte saß schon draußen, gegen einen Stein gelehnt, im kühlen Schatten. Seine verwitterten Hände hielten eine alte abgewetzte Wasserschale. Die trüben alten Augen schauten ihn mit unerwarteter Kühnheit an, als er in den Schatten des Alten trat. »Du bist der Große«, sagte der Alte. »Ich habe viel von dir gehört. Und ich habe dich in der Ferne gesehen.« »Ich spiele gern in den Schatten. Meine Mutter sagt, das macht nichts, wenn ich die anderen nicht störe. Störe ich dich?« Die alten Augen musterten ihn ruhig. Die Schale wurde langsam von den runzligen Fingern hin und her bewegt. Sie enthielt noch etwas Wasser. Der Alte
hob sie auf und nahm einen genußvollen Schluck. »Nichts stört mich. Ich kenne alles, habe alles gesehen. Nun ist es gut, nur zu sitzen und die Welt zu beobachten und ein wenig Wasser zu schlürfen. – Und nachzudenken. Es gibt viel, an das ich mich erinnern kann.« »Meine Mutter schickt mich. Sie sagte, du kennst ihren Namen.« Der Alte nickte. »Ich kann mich erinnern. Sie war die letzte. Die letzte von vielen. Sie war gut. Sie befolgte immer die Regeln. Sie fragte nie nach dem Warum.« »Ist es falsch, danach zu fragen?« »Wer hat das Recht zu bestimmen, was falsch ist? Aber zu fragen, warum, heißt nachzudenken. Die meisten wollen nicht denken. Denken ist, sich sorgen. Und sich sorgen, bedeutet, unglücklich zu sein.« Der Junge legte sich in den Sand, in den kühlen Schatten. Selbst wenn er ganz flach lag, konnte er dem Alten fast in die Augen sehen. »Ich frage immer, warum«, sagte er, »es macht mich nicht unglücklich.« »Du mußt gefragt haben, warum du nicht mehr Essen haben konntest. Du hättest nicht so groß werden können mit nur einer Schale voll.« »Meine Mutter gibt mir immer nur eine Schale.« »Ich weiß.« Die alten Augen waren weise und schlau, das faltige Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Du bist der Schatten der im Sternenlicht um den Felsen kriecht, während die Wächter schlafen. Ich schlafe wenig, ich sehe viel.« Er leugnete nicht. Er merkte, daß es dem alten Mann nichts ausmachte. Er vermutete, daß er – wenn
er in seiner Jugend auf den Gedanken gekommen wäre – ebenso gehandelt hätte. »All das Essen wird nie aufgegessen«, sagte er. »Andere könnten auch mehr als eine Schale haben. Wenn ich älter bin und zum Fels gehen darf, kann ich an Essen gelangen, an das die anderen nie reichen werden, das sie nie essen können. Ich kann nicht glauben, daß es falsch sein soll, nicht hungrig zu sein.« »Es gab einen Grund für diesen Brauch«, sagte der Alte. »Vielleicht war es kein guter Grund. Aber es hat die Kolonie am Leben erhalten. Niemand muß verhungern.« »Wenn wir das Essen bis hoch zur Spitze sammeln würden brauchte auch niemand zu hungern, jeder hätte genug. Wenn man etwas wegnimmt, wächst es wieder nach. Wir sollten an alles heranreichen.« »Darüber habe ich auch nachgedacht«, gestand der Alte. »Aber es gibt keinen Weg, es war nie so gedacht.« »Das sagt auch meine Mutter. Ich verstehe nicht, warum. Ich werde über einen Weg nachdenken.« »Das könntest du. Soweit ich weiß, bist du der Erste, der es versucht.« Der Alte lehnte sich nach hinten gegen den Stein. Plötzlich schien er müde. Er schlürfte ein paar Tropfen aus der Schale. »Warum hat dich deine Mutter zu mir geschickt? Sag es mir, ehe ich zu geschwächt bin.« »Die kleinen grünen Dinger. Nichts wie sie ist jemals aufgetaucht. Sie meinte, du wüßtest vielleicht, was es ist.« Der Alte nickte. In seinen alten Augen war mit ei-
nem Mal ein sehnsüchtiger, ferner Blick. »Ich weiß es. Dies ist nicht das erste Mal, daß sie erschienen sind. Ich habe sie zweimal in meinem Leben gesehen. Sie treten nur auf, wenn Wasser vom Himmel gefallen ist. Dann ist der Sand für kurze Zeit genäßt, und sie wachsen aus ihm heraus. Ich glaube, sie leben.« »Sie können sich nicht bewegen. Nur der Wind bewegt sie.« »Und doch, irgendwie, trinken sie Wasser. Sie bekommen es vom Sand, während er noch feucht ist. Dann sprießen sie, ein paar Lichtzeiten nur, und farbige Teile, sehr schön anzusehen, erscheinen an ihren Spitzen. Danach werden sie braun und sterben.« »Aber – von welchem Nutzen sind sie?« Der Alte zuckte mit den Schultern, die dünn und knochig waren. »Von welchem Nutzen sind wir?« Das war eine seltsame Antwort. Er dachte darüber nach, während der Alte sich zurücklehnte und die Augen schloß. »Geh jetzt. Ich muß ein wenig schlafen. Und sage deiner Mutter, ich kann mich erinnern.« In den nächsten Tagen studierte er die grünen Dinger. Wie der Alte gesagt hatte, wuchsen sie sehr schnell. Aber sie blieben dünn und zerbrechlich. Der leiseste Wind beugte sie, und als er versuchte, eines aus dem Sand zu nehmen, zerbrach es zwischen seinen Fingern, und grüner Saft tropfte auf seine Hand. Er versuchte, es zurück in den Sand zu stecken, aber innerhalb kürzester Zeit war es nur noch ein brauner Halm, den der Wind wegblies.
Die farbigen Teile kamen, rot und rosa und gelb. Einige waren sogar weiß. Für kurze Zeit war es die wundervollste Sache der Welt, hinaus in den heißen Sand zu blicken und sich an den vielen farbigen Stellen zu erfreuen, die sanft im Wind schaukelten. Dann verblaßten die Farben, und die grünen Dinger wurden braun und starben. Er war außer sich. »Werden sie je wiederkommen?« fragte er den Alten. Nach jenem ersten Besuch kam er immer wieder zu dem roten Hügel und zu dem grauen Wesen, das im Schatten, den der Hügel warf, hockte. »Das werden sie. Aber vorher muß wieder das Wasser vom Himmel fallen. Und wie du weißt, geschieht das nur ein- oder zweimal im Leben eines Menschen. Lebe lange, vielleicht wirst du sie dann wieder sehen.« »Woher kommen sie? Ich habe im Sand gegraben. Dort sind keine. Und wie können sie trinken? Sie haben keinen Mund.« Die blassen Augen des Alten sahen den Jüngling zustimmend an. »Du willst lernen, willst es wissen. Das ist gut. Die meisten interessiert es nicht. Alles, was sie wollen, ist Essen vom Fels, Wasser vom See und, sobald sie erwachsen sind, ein anderes Wesen das mit ihnen die Höhle teilt. Aber es sollte mehr als das geben.« »Aber wie kann ich lernen, wenn niemand es weiß? Selbst du weißt nicht, woher die grünen Dinger kommen.« »Du kannst es selbst herausfinden, wie du bereits begonnen hast. In meinem Kopf ist etwas, was ich vor langer Zeit einmal wußte. Daß die grünen Dinger aus
winzigen Stückchen wachsen, die kaum zu sehen und mit dem Sand vermischt sind. Ich weiß nicht, woher sie kommen. Vielleicht kannst du es herausfinden. Dann kannst du es mich lehren.« Und weil er dem Rat folgte und im Sand herumgrub, fand er jenes grüne Ding, das gerade am Wachsen war. Es sah nicht wie die anderen aus. Es befand sich im Schatten eines Hügels und wurde deshalb nicht von den wilden Strahlen der Sonne ausgetrocknet. Es erhob sich mit einem starken Stengel und hatte nach allen Seiten flache, grüne Stücke. Kurz erblühte es. Dann begann auch es zu welken. Er wurde böse. »Warum muß es sterben? Es hat keine farbigen Teile. Es sollte länger leben. Es war hübsch, es dort zu sehen, wie es sich aus dem Sand heraus der Sonne entgegenreckte. Warum kann ich ihm nicht helfen?« Er überlegte lange, während er im Schatten des Hügels hockte, wie es auch der Alte zu tun pflegte. Er dachte an den alten Mann, der bedächtig Wasser aus seiner Schale schlürfte, ein paar Tropfen nur, und danach in der heißen Luft erfrischt war. Er rief sich wieder in Erinnerung, für welch kurze Zeitspanne die grünen Dinger erschienen waren, nachdem das Wasser vom Himmel gefallen war, und für wieviel kürzere Zeit sie nur im trockenen Sand gelebt hatten. Nun würde auch dieses grüne Ding, das größer als alle anderen geworden war, sterben. »Wenn es noch Wasser hätte, würde es nicht sterben. Es ist das Wasser, das uns weiterleben läßt.« Und dann wußte er, wie er helfen konnte. Er wußte, was er tun würde. Als das Licht schwand und seine Mutter und er das
kühle Wasser im Schatten des Höhleneingangs genossen hatten, schlich er weg. Das Glühen der Sterne war zu seinem Lieblingslicht geworden. Er verbrachte mehr Zeit draußen unter den Sternen, als je ein Wesen vor ihm. Obwohl die dunkle Zeit kühler war, angenehmer, war sie aus irgendeinem Grund zum Schlafen bestimmt. So war es Brauch. Und außer ihm hatte kaum jemals einer diesen Brauch gebrochen. Die Lebensregeln waren so, wie sie gehandhabt wurden, am besten, weil schon immer so verfahren wurde. Er hatte seine Schale nicht in die Höhle zurückgebracht. Jetzt ging er vorsichtig, aber schnell zum See und füllte sie bis zum Rand. Behutsam trug er sie zu dem welkenden grünen Ding. »Jedes lebende Wesen hat Anspruch auf eine Schale voll Wasser«, sagte er sich. »Dieses Ding lebt. Also ist es nur recht, daß es auch seine Schale bekommt.« Er betrachtete es nochmals im trüben Licht. Er zögerte. Er wußte nicht, wie er ihm Wasser geben sollte. »Es hat keinen Mund. Ich verstehe nicht, wie es trinkt. Aber wenn ich das Wasser von oben herabschütte, wird es sein, wie wenn es vom Himmel fällt. Vielleicht hilft es.« Tropfen für Tropfen, ganz vorsichtig, goß er das Wasser, bis die Schale leer war. Die Flüssigkeit rann die flachen grünen Stücke hinunter, und der Sand färbte sich dunkel vor Nässe. »Es mag den nassen Sand. Nun wird es vielleicht nicht sterben.« Als wieder die helle Zeit kam, konnte er kaum erwarten, bis die frühe Schale Essen gekommen war. Er
aß hastig. Seine kleine Mutter beobachtete ihn mit großer Sorge. »Du bist noch nicht alt genug«, sagte sie, »aber ich glaube, deine Essensschale sollte größer sein. Eine Erwachsenenschale. Kein Wesen hat je zuvor deine Größe erreicht, aber es ist nur recht, daß du gefüttert wirst. Ich werde mit den Nachbarn sprechen, denn so will es der Brauch. Aber du sollst deine Schale haben.« Er erzählte ihr nicht, daß seine Hast nichts mit gestiegenem Hunger zu tun hatte. Sie hätte seine Sorge um das grüne Ding nicht verstanden. Und sicher wäre es nicht klug gewesen, etwas von dem Wasser zu erwähnen. Er aß genug in der dunklen Zeit, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, aber er wäre trotzdem froh über die größere Schale gewesen. Bald, so hoffte er, würde man ihm gestatten, sein Essen selbst vom Fels zu holen. Er beendete sein Essen langsamer, zurückhaltender, und schlürfte dann das Wasser, das ihm seine Mutter gebracht hatte. Es war üblich, daß er still saß, nachdenklich genießend, während seine Mutter ihr Wasser trank. Sie schluckte es, jeden Tropfen auskostend, mit langen Pausen, zum See und zum Fels blickend und über den heißen Sand in weite Ferne. Dies war die Welt. Dies war es, was jeder tat, und seine Mutter konnte sich nichts anderes vorstellen. Endlich hatte sie den letzten Schluck genommen. Er durfte hinaus und im Schatten der Hügel spielen. Das grüne Ding war glücklicher. Die flachen grünen Stücke hingen nicht mehr kraftlos herab. Es reckte seine Spitze höher, und er freute sich, als er sah, daß es während der Sternenzeit gewachsen war.
Dort, wo es aus dem Sand trat, erkannte man noch einen dunklen Fleck, wo er das Wasser hingeschüttet hatte. Der Sand war feucht und kühl zwischen seinen prüfenden Fingern. »Es wird leben. Wenn ich ihm Wasser gebe, wird es wachsen, und das wird sehr schön sein. Ich glaube nicht, daß eine so kleine Menge dem See schaden kann.« Es gab niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Niemand, der etwas Wunderbares an diesem Ding fand, das ohne jeglichen Nutzen war. Niemand – außer dem Alten. Und wenn er mit ihm sprach, würde dieses alte, runzlige Wesen Bescheid darüber wissen, wie er mit dem Wasser verfuhr. Aber das wäre wohl nicht schlimm. Vielleicht würde es den Alten gar nicht interessieren. Vielleicht aber würde er auch denken, daß der Zweck in diesem Falle – auch wenn der Brauch nichts davon sagte – die Mittel heiligte. Der Alte saß im Schatten seines Hügels. Er wirkte älter und eingefallener als je zuvor. Er lag gegen den Felsen, die Augen geschlossen, den trockenen Atem zischend durch die dünnen Lippen ziehend und herauspressend. Seine Wasserschale lag auf seinen Knien. Es war kein Wasser darin. »Es ist ein schöner Tag, Alter.« Die Augenlider flatterten. Seine Stimme war ein dünnes Rasseln. »Nicht für mich. Ich bin zu müde, um ihn zu genießen, Großer.« Der große Junge betrachtete die trockene Schale. »Du hast dein Wasser gehabt. Es ist noch nicht zu heiß. Dies ist der beste Teil des Tages.« Die alten Augen öffneten sich, aber sie schienen
blind, nichtsehend. »Ich hatte kein Wasser. Seit der letzten hellen Zeit konnte ich nicht mehr zum See wandern. Mein Leben geht zu Ende.« Er war zutiefst erschüttert. Nun wußte er, woran ihn der Alte erinnerte: an das grüne Ding – welkend und verdurstend in der trockenen Luft. Bald würde er braun und vom Wind weggeweht werden. »Aber du mußt dein Wasser haben. Eine Schale Essen, eine Schale Trinken. Jeder hat ein Recht darauf.« Der Alte lächelte schwach. »Wer nicht mehr zum Fels und zum See gehen kann, stirbt. Das ist der Brauch. Andere, wie du, werden erwachsen und trinken das Wasser, das unsereins nicht mehr trinken kann.« Der große Junge erhob sich schnell. Niemand in der Kolonie kam ihm an Größe und Stärke nahe. »Gib mir deine Schale. Ich habe den Brauch schon oft gebrochen, ich werde dir Wasser bringen. Es ist nur recht.« »Du bist noch nicht alt genug, um die Schale zu füllen. Die Wächter werden es nicht erlauben.« »Ich werde deine Schale zeigen. Sie werden erkennen, daß es für dich ist.« »Jeder muß seine Schale selbst tauchen, es sei denn, er ist jung. So will es der Brauch. So war es immer. Auf diese Weise enthält der See immer Wasser.« Aber der Junge nahm die Schale aus der faltigen, klauenartigen Hand. Die Hand war trocken wie der Sand. »Bald wirst du Wasser haben«, versprach er und hüpfte auf den nächsten Schatten zu. Am See zeigte er dem Wächter die Schale vor.
»Dies ist die Schale des Alten. Er stirbt, weil er kein Wasser hat. Ich muß es für ihn holen.« »Du bist zu jung. Deine Mutter muß für dich tauchen. Der Alte muß für sich selbst tauchen, das war schon immer so.« »Aber er kann nicht gehen, und ohne Wasser wird er sterben.« »Alles stirbt«, sagte der Wächter. Der große Junge erhob sich zu seiner vollen Größe. Er blickte auf den Kopf des erstaunten Wächters herab. »Während wir reden, stirbt der Alte. Ich werde seine Schale tauchen und ihm Wasser bringen, weil ich größer bin als du. Auf diese Weise verändere ich den alten Brauch.« Er wandte sich entschlossen zum Rand des Sees, tauchte die Schale hinein und füllte sie bis zum Rand. Dann, sehr achtsam, trug er sie von Schatten zu Schatten zurück zu dem roten Hügel, wo der Alte lag. Der Wächter starrte ihm nach, unternahm aber nichts. Diese Situation war nicht mit überlieferten Erfahrungswerten zu erklären. Er konnte sich nicht erinnern, daß je etwas Vergleichbares geschehen war. Der große Junge kroch neben die verschrumpelte Gestalt des Alten und hielt die Schale an seine Lippen. Der alte Mann schluckte entkräftet, bewegte seine trockene Zunge. Dann griff er schnell nach der Schale und trank. Als sie halb leer war, setzte der Alte sie vorsichtig auf seine Knie. Selbst in diesem Zustand höchster Notwendigkeit und Schwäche, verkleckerte er keinen Tropfen. Er lag für einige Minuten still. Sein Atem brach
nicht länger ausgedörrt aus seiner Kehle hervor. Als sich seine Augen öffneten, waren sie nicht länger getrübt. »Du hast nicht im Sinne des Brauches gehandelt«, sagte er. »Andere wachsen nach. Wenn ich über meine Zeit hinaus lebe, trinke ich ihr Wasser. Du hast in gutem Glauben gehandelt, aber nun mußt du mich sterben lassen. Ich glaube nicht, daß ich noch einmal zum See gehen kann.« »Es gibt genug Wasser. Als ich es für dich holte, sah ich den See zum erstenmal bei Tageslicht. Es ist eine einzige tiefe Höhlung in einem großen Stein. Die Ränder sind sanft und ausgefranst, aber es gibt keinen ähnlichen Felsen in der ganzen Kolonie. Er ist tief, und in der Mitte steigen immer Blasen auf.« Der Alte nickte. »Wie das Essen auf dem Felsen, erneuert sich auch der See immer wieder. Auch ich dachte lange Zeit, daß es möglich sein müßte, jedem mehr als eine Schale zu trinken zu geben. Aber der Brauch sprach immer nur von einer Schale. Und alle Wesen denken so. Wir haben immer genug gehabt und sind am Leben geblieben.« Der Große räkelte sich im Schatten neben der dünnen, schwachen Figur und dachte nach. Dann sagte er: »Im Sternenschein hatte ich lange Zeit mehr als eine Schale. Und am Fels aß ich so lange, bis ich satt war. Trotzdem ist dort immer noch eine Menge Essen, an das niemand heranreicht. Es ist immer noch genug Wasser im See, und ich glaube, daß der Brauch falsch ist.« »Du bist nur einer, und darum hat es dich groß gemacht. Wenn aber alle mehr essen und trinken würden, wäre vielleicht nicht mehr genug da.«
»Wir sollten nehmen, was da ist. Es wird mehr kommen, und ich frage mich, warum.« Der Alte lehnte sich zurück. Er schlürfte aus seiner Schale. Er sah sehr müde aus und dennoch zufrieden. »Auf dich habe ich gewartet. Auch ich habe nach dem Warum gefragt, aber ich sah keinen Weg, es herauszufinden. Vielleicht gelingt es dir. Wenn du alt bist, hast du mehr, woran du dich erinnern kannst als ich.« Der Große stand auf. »Gib mir deine Essensschale. Ich werde sie am Felsen füllen. Immer werde ich deine Schale füllen, und du kannst mir all das erzählen, was du getan und gesehen hast und die Gedanken, die du dabei hattest. Wenn ich alt bin, werde ich mein Wissen an andere Jungen weitergeben, die mich fragen. Und ich werde ihnen deinen Namen nennen, damit sie wissen, daß du gelebt hast.« Der Alte seufzte in tiefstem Glücksempfinden. »Das ist ein guter Tausch. Ich werde ihn genießen. Aber die Nachbarn werden es nicht verstehen. Kein Junger hat je die Schale eines Alten gefüllt. Es ist nicht Brauch.« »Als ich dein Wasser schöpfte, schufen wir einen neuen Brauch. Wir können weitere hinzufügen, da ich der Größte in der Kolonie bin. Was wir tun, wird Vorbild für andere sein. Und du kannst dazu beitragen, daß das, was wir tun, weise ist.« Der Alte schluckte und bewegte verwundert den Kopf. »Ich bin froh, daß ich so lange gelebt habe. Ich werde die besten Gedanken denken, die ich besitze. Wenn ich sterbe, werde ich zufrieden sterben.
Jetzt laß mich einen Moment ruhen. Dann kann ich das Essen nehmen.« Während der Zeit der Dämmerung wurde viel von Nachbar zu Nachbar erzählt. Man nahm das letzte Essen des Tages zu sich und redete vom Großen, der für den Alten das Essen holte und es ihm brachte. Plötzlich schien der große Junge nicht mehr jung zu sein. Er war zu einer Macht geworden, bedrohlich und andersartig. Er respektierte die Bräuche nicht. Es war nichts mehr wie zuvor. Seine einfältigen Nachbarn waren verängstigt. »Sprich mit deinem Sohn«, sagten sie zu seiner Mutter. »Ein Sohn hört immer auf seine Mutter. Sage ihm, wir werden alle sterben, wenn er den Brauch nicht befolgt. Das Wasser und das Essen werden aufgebraucht.« »Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist freundlich, aber er hört mir einfach nicht mehr zu. Er sagt, daß er neue Bräuche aufstellt und daß diese besser als die alten sind. Er sagt, ich solle mir zwei Schalen mit Wasser nehmen, wenn mir eine nicht reicht. Er sagt, es sei genug da.« »Der Alte hätte sterben sollen. Für ihn ist es Zeit. Er kann nur noch im Schatten sitzen, und dein Sohn muß ihm Wasser bringen. Wenn er es nicht mehr selbst schöpfen kann, ist es auch nicht mehr sein Wasser. Er trinkt dann das Wasser der Jungen, Aufwachsenden und Neugeborenen.« Die magere, verschrumpelte Mutter schlürfte ihr Wasser. Insgeheim sagte sie sich, daß sie es nie erfrischender empfunden hatte. Dies war ihr Sohn, und die ganze Kolonie sprach
von ihm. Jedes Wesen kannte ihren Sohn. »Er sagt, daß der Alte mehr als alle anderen weiß. Er sagt, er muß sich alles erzählen lassen, damit nichts verloren geht.« »Jedes Wesen kennt den Fels und den See, das Licht und die Hitze und die Schatten, Dunkelheit und Sternenschein. Alle kennen die Köstlichkeit des kühlen Wassers und die Freundschaft in den Höhlen und die Unterhaltung mit den Nachbarn in der Dämmerung. Das ist die Welt. Es gibt nichts außer diesem, was man wissen sollte.« »Er redet von dem Wasser, das vom Himmel gefallen ist, und wo die grünen Dinger herkommen, und warum der See immer Wasser hat. Er sagt, da existiert noch etwas, weit weg über den Sand hinweg, was kein Wesen je erblickt hat. Er sagt, daß der Alte über Dinge nachdenkt, über die kein anderer je nachgedacht hat.« »Das sind Geheimnisse, man kann sie nicht erforschen. Und sie haben nichts mit dem Leben zu tun. Unsere einzige Sorge ist, genügend Essen zu haben, genügend zu trinken und Schutz vor der Sonne und ihrer Hitze. Wenn uns das genommen wird, sterben wir. Nur wenn wir immer dem Brauch folgen, werden wir immer darüber verfügen können.« Die kleine Mutter schlürfte ihr Wasser und zwinkerte mit den Augen. »Ich werde noch einmal mit ihm sprechen, aber ich glaube nicht, daß es etwas ändern wird. Er denkt seine eigenen Gedanken. Und er lauscht dem Alten, der sich an mehr erinnern kann als irgend ein anderes Wesen. Sie tun seltsame Dinge, aber nichts weshalb wir sterben müßten.«
Sie schlürfte weiter und kroch hinüber zu ihrer Höhle. Sie hob ihren kleinen Kopf. Sie war die Mutter des Großen, und sie war stolz. Die Nachbarn wußten nichts mehr zu erwidern. Mit einem Knopfdruck erhellte sich der große Monitor. Farben füllten ihn. Die Landschaft, die darauf erschien, war eine leere Öde, eine gänzlich ohne Leben anmutende Ausdehnung von Sand und Hügeln, auf welche die Sonne erbarmungslos niederbrannte. Die Hitze schien aus dem Bildschirm herauszureichen. Die Professorin schauderte. Es war, als ob sich eine ahnenhafte Erinnerung in ihr gerührt hätte, als ob die Hitze wirklich wäre, die in ihrem Körper brannte und ihn austrocknete und mit jedem Atemzug die Feuchtigkeit aus ihren Lungen stahl. Sie sah einen Moment vom Bildschirm weg. Vor den weiten Laborfenstern spendeten große Bauten wunderbar kühlen Schatten. Dahinter erhoben sich Gipfel, einige mit Neuschnee bedeckt. Die Professorin nahm einen tiefen Atemzug von der würzigen Luft. Vom Schreibtisch her ertönte die Türklingel. Dreimal kurz, Pause, dann noch einmal. Ein Student. Ein graduierter Student, der ein Gespräch wünschte. Obwohl es ein wichtiger Teil ihrer Aufgabe war, mochte die Professorin die Arbeit mit graduierten Studenten nicht sonderlich. Es schien ihr, daß die Qualität mit jeder neuen Bildungsstufe sank. Sie waren alle so ambitiös, so ernst, so ohne Vorstellungskraft – richtig trübselig. Sie zog den sauberen, klarersichtlichen Weg ihrer eigenen Forschung vor, der nicht von nutzlosen Dis-
kussionen und vom Abschweifen in ziellose Seitenwege unterbrochen wurde. Sie genoß das komplikationslose Arbeiten dessen, was zugegebenermaßen das bestfunktionierende Hirn des Planeten war – ihres eigenen. Und doch gab es einen Studenten, der fast ihrer Mühe Wert schien. Er war reif, er dachte gut. Er erkannte die Wichtigkeit eines Hintergrunds oder eines Zusammenhangs. Er entwarf eigene Annäherungen, füllte sie mit Vorstellungskraft aus und analysierte seine Daten mit Verstand. Ja, er bot tatsächlich eine Möglichkeit. Er wollte mehr, als ein Doktorat. Er wollte Wissen. Ihr Blick kehrte zum Monitor zurück. Sie wußte, daß das Bild darauf keinem Zufall zu verdanken war. Sie überwachte ein Dutzend Projekte, aber dieses interessierte sie am meisten. Und nicht nur, wie sie sich ehrlich eingestand, wegen der reinen Forschung. Die Professorin war auf dem Höhepunkt ihres Wissens und ihrer Macht. Geistig und körperlich würde sie nie mehr erreichen. Sie fühlte, daß sie ihrem Volk – und sich selbst – etwas mehr als die klassischen Monografien schuldete, die sie selbst von den Besten ihres Fachs abhob. Sie war nicht sicher, welcher Student draußen wartete, hinter dem Portal, aber das Klingelzeichen war mit entschlossener Präzision gedrückt worden. Sie meinte, diesen Druck zu erkennen. Deshalb wollte sie – obwohl dies der Tag war, den sie sich gewöhnlich für sich selbst reservierte – den Türöffner aktivieren. Dann zögerte sie. Sie ließ einen großen Spiegel vor ihre Couch gleiten und inspizierte kritisch ihr Aussehen.
Die Professorin streckte ihren blauen, vielgerippten Körper. Sie intensivierte das rosige Rot ihrer attraktiv pulsierenden Kehle wischte ein eingebildetes Staubkörnchen von ihrer grünen Brust. Ihre fast lidlosen, goldenen Augen wurden weich. Ihre Erscheinung war zufriedenstellend und kam vielleicht sogar der Attraktivität ihres Gehirns gleich. Sie ließ den Spiegel verschwinden und drückte den Türöffner. Als sich das Portal öffnete, saß sie würdig auf der Couch, ihren Schwanz um den Schreibtisch geschlungen, wie immer, wenn sie arbeitete, und studierte intensiv die rauhe Schönheit der verlassenen Landschaft auf dem Monitor. Sie wandte nicht den Kopf, als er eilig ins Labor trat. Sie konnte ihn fühlen, als er hinter ihr auftauchte und über ihre Schultern auf den Bildschirm starrte. Ihre Nasenflügel flatterten kurz, als sein männlicher Duft in ihre Nase stieg. Aber er sah nur den Bildschirm. »Frau Professor«, sagte er. »Sie lernen! Plötzlich tun sie zahlreiche neue Dinge. Nach den vielen Monaten zeigen sie eine Intelligenz, die ich nie bei ihnen vermutet hätte ...« »Nicht alle, nehme ich an.« »Nein, nein, natürlich nicht. Es ist der Große. Ein Mutant, vermutlich. Er stellt Fragen. Er fordert jedes Tabu, jeden Brauch heraus. Und er kann es wagen, einfach weil er der Größte ist. Er macht, was er will.« Sie sah ihn mit ihren goldenen Augen an. Ihre langen Reihen weißer Zähne glänzten, und ihre Schwanzspitze vibrierte schnell. Dies waren freundliche Gesten der Sympathie, die
einem nachsichtigen Lächeln gleichkamen. »Niemand löst Probleme ohne Enthusiasmus, Vibran, aber ich bin sicher, daß du weißt, daß du Schlußfolgerungen ziehst, ohne dich genau damit beschäftigt zu haben. Es ist sicher nicht ganz so einfach zu deuten. Wann immer sich irgend etwas ändert, ist es leicht zu sagen, es handele sich um eine Mutation. Aber du weißt, daß die Dinge so einfach nicht liegen.« Er senkte seinen großen Kamm und ließ seine Schwanzspitze erzittern. »Natürlich, Frau Professor. Ich stelle zu schnell Hypothesen auf. Aber sie werden zugeben, daß ich sie meist später einsichtig zurückziehe. Für mich sind sie eine Form des Überlegens.« »Was nicht falsch ist. Machen wir einen Test. Warum könnte der Große sonst noch so groß sein?« Sein Schwanz vibrierte noch heftiger als zuvor, und seine weißen Stoßzähne waren herrlich zu erkennen. Er amüsierte sich bei dem Gedanken an den Großen. »Vielleicht, weil er Essen und Trinken praktisch seit der Zeit seines Ausschlüpfens gestohlen hat. Er war hungrig, und das Tabu konnte ihn nicht aufhalten.« »Sie legen keine Eier – bleibe präzise, Vibran.« »Es tut mir leid, Frau Professor. Es war bloß eine Metapher. Jedenfalls aß er nachts und wurde größer. Das bringt mich auf eine Idee: Es könnte sein, daß es sich bei dieser Rasse um eine ursprünglich größere Lebensform handelt, die über viele Generationen hinweg durch die kaum lebenserhaltenden Bedingungen verzwergt wurde.« »Ja, die Geschichte bestätigt das. Du hast die Unterlagen eingesehen und kannst dich sicher erinnern,
warum dieser Rasse besondere Protektion gegeben wurde, warum wir dieser besonders gefährdeten Spezies ein so hohes Maß an Beachtung gewährt haben, während wir zuließen, daß andere aussterben.« Der Student senkte seinen großen Schädel. Das brillante Blau seiner Kehle wurde blaß, seine Schwanzspitze lahm. Sie hatte ihn in Verlegenheit gebracht. »Ich muß mich schon wieder entschuldigen, Frau Professor. Ich war zu sehr von der Dynamik des Problems fasziniert, als ich die Abläufe in dieser Kolonie verfolgte daß ich es versäumte, mir die Historie dieser Spezies einzuverleiben, wie ich es hätte tun müssen. Ich dachte, ich könnte dies später nachholen, wenn ich genügend praktische Informationen über ihre jetzige Lebensweise gesammelt hätte.« »Eine falsche Gedankenabfolge, wie du weißt«, erklärte die Professorin streng. »Sorgfältige Recherchen an einem gesunden Hintergrund, auf einer gesunden Basis, können leicht den gesamten Beobachtungsfortgang verändern. Normalerweise bereitet dir das doch keine Schwierigkeiten. Deshalb habe ich dir diese Kolonie zugewiesen. Es ist eine von insgesamt dreien, die auf diesem Planeten überleben dürfen, und sie sind alle verschieden. Jede hat ihren geschützten Lebensraum, man überläßt ihnen ihren Minimalbedarf an Nahrung und läßt sie ihr Leben leben. Keiner Kolonie kann man sich auf körperlichem Wege nähern. Alle werden über Satelliten studiert. Ich dachte mir, daß unsere Wüstenkolonie – außer daß sie sich gut beobachten läßt – die Lohnenswerteste von allen dreien sein wird. Ich erwarte, daß du alles erkennst, was auch immer sie uns zu lehren vermag.«
»Frau Professor, ich bin beschämt. Ich werde sofort die Unterlagen studieren.« Die Professorin entspannte sich. Insgeheim war sie stolz auf den gutgewachsenen Studenten. Sie wußte, daß er klüger als alle anderen war, und daß seine Studienarbeit wertvoller als alles sein würde, was je von einem Studenten abgeliefert wurde. »Besprechung«, sagte sie abrupt. »Einige Leitthemen.« »Ich höre.« Seine Antwort kam automatisch. Er aktivierte einen kleinen runden Recorder, der an seiner breiten Brust hing. »Wir erhalten die bescheidenen Reste dieser Rasse unter dem Status Bedrohte Spezies, weil wir ihr unsere Existenz verdanken. Vielleicht ist es wirklich zu einem Großteil Dankbarkeit. Aber, mehr pragmatisch gesehen, halten wir uns ihr Schicksal auch als Mahnung vor Augen, die uns die immer gegenwärtige Gefahr, die aus zuvielem Wissen erwächst, in Erinnerung ruft.« »Gefahr, Frau Professor? Ist das nicht paradox? Das Gewinnen von Wissen ist unser aller Lebensinhalt – und meiner besonders. Das verstehe ich nicht.« »Wissen allein ist steril. Damit es einen Wert erhält, muß es genutzt werden. Das kann mit Vernunft geschehen oder aber mit bösartiger Leichtfertigkeit. Deshalb ist Wissen ohne Vernunft so gefährlich.« »Logisch. Natürlich streben wir ebenso nach Vernunft wie wir nach Wissen streben. Aber Vernunft basiert auf Fakten. Ohne Fakten wäre es schwer weise zu sein.« Die weißen Zahnreihen der Professorin blitzten,
und ihre Schwanzspitze erzitterte. »Sicher, beides ist notwendig. Wir erstreben eine Balance. Und genau darin ist die Spezies, die du erforscht, gescheitert.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Ich hätte die Unterlagen einsehen sollen.« »Das wirst du noch tun, im Detail. In der Zwischenzeit höre ich folgendes: Diese kleinen scheuen Kreaturen, die in ihren Höhlen draußen in der Wüstenhitze hausen, die abhängig sind vom Wasser aus dem See, der von einer jahrhundertealten Pipeline gespeist wird, deren einzige Nahrung aus einer sorgfältig entwickelten Diätlösung besteht, die wir kontinuierlich durch den porösen Fels pumpen und die kristallisiert, wenn das Wasser verdampft – diese kleinen Kreaturen dominierten einst auf unserem Planeten!« Die dunkle, drachenartige Kroneidechse vibrierte. Ihre zitternde Schwanzspitze drückte sowohl Interesse als auch Heiterkeit aus. »Eine Hypothese, natürlich. Vielleicht basierend auf paleontologischen Augenscheinlichkeiten.« »Ich habe nicht von einer Hypothese gesprochen. Es ist etwas Sichergestelltes, sorgfältig Studiertes und mit überwältigenden Indizien versehenes. Wie die meisten Studenten zeigst auch du das Handicap, daß du zu sehr spezialisiert bist. Nimm dir vor, eine Reihe von Vorlesungen über Planetengeschichte zu besuchen. Um mit deiner Problemspezies arbeiten zu können, mußt du einen größeren Horizont besitzen.« »Das werde ich tun, Frau Professor. Danke für die hilfreichen Tips. Würden Sie bitte noch einen weiteren Punkt mit mir diskutieren?«
»Welchen?« »Wie können wir unsere Existenz diesen kleinen Wüstenkreaturen verdanken? Ist das nur eine philosophische Annäherung?« »Nein, ganz wörtlich gemeint. Du weißt, daß vor einigen Millionen Jahren – die genaue Zeit ist nicht gesichert – auf unserem Planeten große Gebiete mit großer Radioaktivität entstanden. Es dauerte lange, bis man den Grund dafür entdeckte und verstand.« »Künstlich produzierte Radioaktivität, nicht wahr? Völlig unwissend bin ich nicht, Frau Professor, obwohl es wohl oft danach aussieht.« »Ich habe Hoffnung für dich«, erwiderte die Professorin spröde, aber mit einem Stolz, den ihre Stimme nur schwer verbarg. »Künstlich erzeugt, wie du sagtest. Erzeugt von einer Spezies, die einen technologischen Stand erreicht hatte, den wir noch heute bewundern und zu kopieren versuchen. Große Teile unseres Wissens basieren auf dem Studium ihrer Hinterlassenschaften.« »Gewiß.« Der große Student nickte mit dem Kamm. »Wie dumm, ich hätte die Verbindung selbst erkennen müssen. Aber der Zusammenhang von all dem mit unserer Existenz ist mir immer noch unklar.« »Ganz einfach. Die Radioaktivität entstand in allen Bereichen kontrollierter atomarer Desintegration. Es müssen unglaubliche atomare Explosionen stattgefunden haben, als skrupellose kriegerische Parteien unter den Menschen sich gegenseitig vernichteten und beinahe alles andere Leben auf dem Planeten ebenfalls ausgelöscht hätten. Alle Kreaturen, alle Pflanzen, die übrigblieben trugen die Narben dieses
widernatürlichen Kampfes. Die Wirkung von Radioaktivität auf Samenplasma ist hinreichend bekannt. Stell dir also die ganze Welt vor, strahlend vor Radioaktivität. Stell dir vor, wie sich das Leben im Laufe von Jahrmillionen wandelte.« »Ich habe eine Vermutung. Es ist klar, daß unsere Rasse, wie die meisten stabilen Spezies, als Resultat der Atomkriege entstand. Im allgemeinen sind wir uns des evolutionären Ursprungs bewußt, dem wir folgten. Aber wollen Sie sagen, daß es nun auch spezifisch bekannt ist, was wir vorher waren?« »Es ist endlich bekannt. Vor kurzem wurde eine brillante Zusammenfassung eines Teams von Genetikern, Paleontologen und Erdhistorikern veröffentlicht. Ich werde dir den Inhalt geben. Generell finde ich diese kooperativen Untersuchungen nicht sehr aussagekräftig, aber diese ist einfach überragend.« »Ich werde sie sofort studieren. Würden Sie –« er zögerte, »würden Sie mir ihre Schlußfolgerungen daraus nennen? Plötzlich empfinde ich einen ungeheueren Drang, meine Vorfahren kennenzulernen.« Die rosige Kehle der Professorin färbte sich rot und verlieh damit dem Zittern ihres Schwanzes eine intime Bedeutung. Sie wußte klar und ehrlich, daß ihre gegenwärtige Sorge, die immer stärker wurde, sich mehr und mehr um ihre unmittelbaren Nachkommen drehte. »Es scheint, daß wir von einer kleinen Spezies abstammen, die ihr Heim an den öden Plätzen dieses Planeten hatte, in den Wüsten.« Sie zeigte auf den Monitor. »Dort ist die Urheimat deiner und meiner Ahnen. Wir flitzten über den Sand, ernährten uns von Wü-
steninsekten, tranken den Rauhreif von den Felsen und Wüstenpflanzen und gruben uns Höhlen unter Hügeln, um der unerbittlichen Hitze zu entfliehen. Wir waren einfache, kleine Wüsteneidechsen, und wir dachten überhaupt nicht.« »Und dann, in der glühenden Radiation, mutierten wir, wieder und wieder.« Er nahm den Faden auf. »Hier kann ich Mutation schreien, Frau Professor, denn es ist eine Tatsache. Es muß so sein.« Sie nickte und der Student fuhr schnell fort. »Andauernder genetischer Wechsel von Klein zu Groß. Evolution, jedoch stark beschleunigt. Viele seltsame Arten resultierten, die meisten ohne die Fähigkeit, lange zu überleben. Aber schließlich kam Bewußtsein, gewissenhaftes Denken, Ursache-undWirkung-Lernen. Wir suchten uns die besten Lebensräume aus. Wir entwickelten eine Gesellschaftsform, kooperative Anstrengungen. Wir erforschten natürliche Kräfte. Wir entdeckten die Vergangenheit und lernten aus ihr.« »Und das, zumindest, werden wir auch weiterhin tun«, sagte die Professorin. »Noch haben wir uns nicht die gesamte Technologie der Menschen zu eigen gemacht, aber wir sind zivilisierter, als sie es je wurden, weil wir ihr Mahnmal vor Augen haben und die Gefahren respektieren, die mißbrauchtem Wissen innewohnen.« Er bewegte sich um den Schreibtisch herum und berührte den Schaltknopf des Monitors. »Darf ich, Frau Professor?« »Natürlich.« Das Bild kam näher. Ein winziger glänzender Punkt in der verlassenen Landschaft wurde zum See,
der in der Morgensonne glänzte. Dahinter sah man die düstere Säule des Felsens, der sich wie ein Finger aus dem Sand hob. Überall verstreut waren die Hügel und unter ihnen die Höhleneingänge mit einem Teppich von Sand, sorgfältig vor jede Öffnung gestreut. Die Kolonie war geschäftig. Auf ihre Art. Einige schöpften Wasser aus dem See, gingen dann schnell zu den Schatten, die von den Hügeln geworfen wurden und wo die meisten schon saßen, schlürften bedächtig aus ihren Schalen und sprachen leise mit den Nachbarn. »Und das, Vibran, ist der Mensch. Gott dieses Planeten. Nach den Sternen greifend, konnte er sein eigenes Wissen, seine eigene Macht nicht mehr kontrollieren und wurde davon vernichtet. Nun ist er dankbar für einen schattigen Fleck und eine Schale kühlen Wassers. Er ersetzt Denken durch Brauchtum. Er nimmt das Essen vom Fels, ohne zu verstehen oder zu fragen, wie es dorthin kommt.« Der große Student schüttelte den Kamm. »Frau Professor, Sie sind ein weiser und tiefgründiger Denker, und wir müssen Ihre Gedanken respektieren. Aber auch ich denke, und ich meine, daß Sie diesmal Ihre Schlußfolgerungen zu übereilt treffen.« »Sag.« »Ich habe diese Wesen beobachtet, seit der Große zum erstenmal aus seiner Höhle kam und begann herumzustreifen. Er ist neugierig. Er entwickelt Initiative. Und wenn er diese Voraussetzungen aufweist, bedeutet das, daß im Samenplasma dieser Rasse noch immer Aggressivität und die Fähigkeit zu denken vorhanden ist. Von seinem Benehmen her
glaube ich, daß er Fragen stellt. Und alles, was er tut, irritiert die nichtdenkende Selbstzufriedenheit der anderen. Wenn sie auf ihn reagieren, was sie bereits tun, werden sie auch beginnen zu denken.« »Es ist ein geringfügiges Überbleibsel, Vibran. Das genetische Gedächtnis ist zu schwach.« »Das stimmt. Aber sie sagten, es würden noch zwei weitere Kolonien am Leben erhalten.« »Weit weg. Sie werden bestimmt nie zusammentreffen. Eine besiedelt einen Felsabschnitt hoch in den Bergen. Die andere einen kleinen Dschungelabschnitt.« »Es war auch unwahrscheinlich, daß kleine Wüsteneidechsen die andere Seite dieses Planeten kennenlernen würden oder das Universum, wie es ist. Aber wir haben es getan.« Die Professorin erhob sich mit sanfter, schlangenhafter Grazie von der Couch. Neun Fuß war sie hoch, die grünen Körperschuppen, die rosige Kehle und der blaue Kamm trugen alle dazu bei, sie zu einer spektakulären Gestalt zu machen. Sie richtete ihre goldenen Augen auf ihn, ihren Lieblingsstudenten, der noch größer war. »Du besitzt Vorstellungsvermögen, Vibran. Natürlich ist es möglich, daß der Mensch irgendwann einmal wieder für sein eigenes Schicksal verantwortlich sein wird. Das ist weit entfernt aber es könnte sein. Doch dann, wie wahrscheinlich ist es, daß wir mit unserer klaren Sicht, unserem größeren Wissen und unserer überlegten Fortpflanzung, daß wir also weiterhin dominieren werden als führende Rasse auf diesem Planeten? Der Mensch hat seine Chance gehabt. Wir machen es besser.«
»Das wird weitergehen, solange jeder Einzelne seiner Verantwortung genüge tut. Selbstverständlich akzeptiere ich das. Frau Professor, Sie haben das leistungsfähigste Gehirn von uns allen. Haben Sie dafür gesorgt, daß Ihr Wissen erhalten bleibt?« »Wie du gut wissen wirst, habe ich keine Eier gelegt. Bisher war niemand prädestiniert, sie zu befruchten.« Die dunklen Augen des Studenten glitzerten. »Es gab sicher viele Bewerber.« »Es gab sie. Aber keiner schien mir der Richtige. Für mich muß mehr als eine wertvolle Genkurve da sein.« Das tiefe Blau des pulsierenden männlichen Kehlkopfs war nie strahlender gewesen. Seine Schwanzspitze vibrierte plötzlich im Taumel intensiver Gefühle. »Frau Professor, meine Genkurve ist gut, und ich kann denken. Aber, was bedeutsamer ist, Ihre Gesellschaft bereitet mir das größte Vergnügen. Darf ich – Ihre Eier befruchten?« Die goldenen Augen sahen ihn ruhig an. Sie griff hinüber und berührte ihn sanft mit der Hand, wobei sie nicht verhindern konnte, daß ihre eigene Schwanzspitze aufgeregt zitterte. »Ich habe daran gedacht, Vibran. Aber dazu müßte mehr sein. Ich würde mir eine dauerhafte Partnerschaft wünschen, keine begrenzte Freundschaft. Beinhaltet dein Denken eine solche Verantwortung?« »Ich wünsche mir nichts sehnlicher«, sagte er prompt. »Der ganze Planet wird mich beneiden.« Sie sah keinen Grund mehr, ihre Bewunderung zu verbergen. Ihre schönen Augen glitten über seinen
flammenden Kamm zur bebenden Schwanzspitze. »Wenn dich die Welt sieht, wie ich dich jetzt sehe, wird man auch mich beneiden.« Er wand sich schnell zu ihr hinüber. Mit plötzlicher Scheu drehte sie sich dem Monitor zu. »Dein Großer tut etwas Zielstrebiges im Schatten des Felsens. Was?« »Jeden Tag tut er das. Er schleppt Steine, so hoch er sie heben kann, und häuft sie an den Felsen. Wenn er sich auf die Steine stellt, kann er an Essen heranreichen, das sonst keiner bekommen kann. Dies ist ein weiteres Beispiel seines Denkens. Ich bin sicher, er hört nie auf damit.« »Du ziehst schon wieder Schlußfolgerungen aus zu wenig Informationen, Vibran. Gib mir einen weiteren Beweis.« Er drehte wieder am Knopf. »Sehen Sie die grüne Pflanze, die über den Hügel hinauswächst? Es ist eine Dattelpalme, und er ist für sie verantwortlich. Wie bekannt ist, gibt es in diesem Wüstengebiet fast nie Regen. Selbst die genügsamsten Kakteen wollen dort nicht wachsen. Aber es gibt schnellwachsende Wüsten-Einjährige, winzigkleine Pflanzen, die keimen, wachsen, blühen, Samen verstreuen. Alles in nur wenigen Tagen. Sie können im Sand viele Jahre überleben. Ein kurzer Schauer gibt genügend Feuchtigkeit, um ihren Lebenszyklus anzukurbeln. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber vor fünfzig Tagen ging dort ein Regenschauer nieder. Die ganze Region war farbenfroh, als die kleinen Pflanzen blühten. Und irgendwo – irgendwo gab es eine ruhende Dattelsaat, die keimte.
Sie hätte sterben müssen. Aber ich fand heraus, daß er ihr Wasser gab. Jede Nacht eine Schale voll. Nun ist sie so groß, daß sie vier Schalen bekommt. Und er stiehlt das Wasser nicht länger nachts vom See. Er nimmt es in aller Öffentlichkeit, am kühlen Morgen, und keiner wagt es, sich ihm entgegenzustellen. Er hat gelernt, daß der See voll bleiben wird, egal wieviel Wasser verbraucht wird.« Sie nickte zustimmend. »Ist da noch etwas?« »Etwas anderes. Das vielleicht Wichtigste. Dort, im Schatten des roten Hügels, lebt ein sehr alter Mann. Jeden Tag bringt ihm der Große Essen und Wasser vom See. Früher, wenn sie sich ihre Nahrung nicht mehr selbst holen konnten, mußten sie sterben.« »Verantwortlichkeit«, sagte die Professorin langsam. »Verantwortlichkeit für seinen Mitmenschen. Ja, das könnte tatsächlich sehr wichtig sein.« Der Alte lag bequem im Schatten des Hügels. Er hatte gegessen. Auf seinen uralten Knien stand eine Schale kühlen Wassers, und von Zeit zu Zeit nahm er einen belebenden Schluck daraus. Seine blassen Augen, die jeden Tag mehr erloschen, beobachteten wie der Große an der massiven Pyramide neben dem Fels schuftete. Von Tag zu Tag wurde sie höher. Jeden Tag hatte er Essensbrocken von einer neuen Stelle des Felsens gebrochen. Immer, wenn der Große auf die Spitze des Haufens kletterte, verharrte er einen Moment und spähte über den Sand. Der Alte wußte, daß die jungen Augen zu jenen dunklen Massen blickten, die sich fern erhoben, wo
der Sand endete und eine andere Welt begann. Der Alte träumte. Er hatte oft von dieser anderen Welt geträumt, in der es vielleicht kühl war und es jede Menge Wasser und viele grüne Dinger gab. Und er wußte, daß der Große von seiner luftigen Position aus klarer sehen konnte, als er je vermocht hatte. »Er hat eine weitere Sicht, als ich sie je besaß. Er blickt weiter. Er wird sich eine bessere Welt schaffen.« Der Alte sprach leise zu sich selbst. Auf seinem grauen, verwitterten Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln. Die runzligen alten Finger lösten ihren Griff um die Wasserschale. Die trüben Augen schlossen sich. Und friedlich starb der Alte.
Originaltitel: THE ROCK AND THE POOL Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Dezember 1976
J. T. McIntosh DIE WELT GOTTES Die sanft gebogenen Mauern des Tempels ragten zum Himmel. Kein Lebender hatte je erblickt, wie sie in den Höhen des unermeßlichen Bauwerks zusammentrafen. Über einer Höhe von fünfzig Fuß gab es keine Fenster mehr. Die Mauern über den Fenstern erhoben sich in die Leere – erst weiß, dann grau, dann tiefschwarz werdend. Priester Peter sagte: »Und ich sage Euch, mit Gottes Worten, in diesem zu Gottes Ehren erbauten Tempel, in Gottes Welt, nichts Herrlicheres gibt es, als die Sonne. Die Sonne Gottes spendet uns das Leben. Preist die Sonne Gottes ...« Fredi hörte nicht zu, und das an sich, war schon eine Sünde. Gottes Wort nicht zu beachten – entgegen den Tausenden anderen in dem gewaltigen Tempel, die so intensiv zuhörten, daß ihnen keine noch so geringe Nuance in Peters Stimme entging – war sündhaft. Aber das beunruhigte Fredi, der in seinem Herzen ein noch viel größeres Vergehen mit sich trug, nicht sehr. Er liebte eine Priesterin – und ausgerechnet die Hohepriesterin. Genaugesagt, er begehrte die Hohepriesterin, und deshalb, als ein intelligenter Bursche, konnte er sich nicht vorstellen, daß etwas Derartiges noch nie geschehen war, wenngleich es auch ihm das erste Mal passierte und niemand je solche Gefühle erlaubt hatte. Prediger Peter sagte: »Gepriesen sei die Sonne, von
der alles Glück kommt. Die Sonne Gottes wurde uns gegeben zum Schutze vor der unendlichen Finsternis ...« Fredi, im Bewußtsein seiner Sünde, war sich nicht sicher, wie schuldig er sich eigentlich fühlte. Bis vor kurzem war er noch ein eifriger Kirchgänger gewesen – er hatte sogar ins Auge gefaßt, sich um die Priesteranwartschaft zu bemühen. Aber seit immer weniger in diesen Kreis berufen wurden, hatte er sich für den Beruf des Schauspielers entschieden. Und irgendwie waren nun alle Überlegungen, die sich mit dem Priesterwerden beschäftigten, gegenstandslos geworden. Einer wie er, der auf solche Weise – wenn auch nur in Gedanken – gesündigt hatte, war es nicht wert, das Amt eines Priesters zu bekleiden. Seiner eigenen Aufrichtigkeit mangelte es an Größe, um sich öffentlich zu seiner Sünde zu bekennen. Es war auch schon Strafe genug, daß er sich nicht mehr selbst als einen der Zwölf Apostel vorstellen konnte. Prediger Peter sagte: »Gepriesen sei die Heilige Dreieinigkeit, das Wort Gottes, die Sonne Gottes und die Welt Gottes ...« Gleich würde es vorbei sein, dachte Fredi, der kurz zuhörte, um zu erfahren, wie weit die Predigt bereits vorangeschritten war. Vage erinnerte er sich, einmal die Phrase »Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist« gehört zu haben, aber das stammte höchstwahrscheinlich aus einer früheren Form der Verehrung, vielleicht sogar aus einer Art Teufelshuldigung – schließlich war es durchtriebener Aberglaube, einen Geist mit einzubeziehen, Gott als Vater zu bezeichnen und die Sonne als seinen Sohn. Während Fredis Gedanken abgewandert waren,
hatte der Priester den Sermon beendet, und nun sangen alle leise, Fredi eingeschlossen: »Unser Gott im Himmel, geheiligt sein Name, sein Reich komme, wie im Himmel, so auf Erden ...« Und dann erschienen die zwölf Priesterinnen zwischen den Säulen, die das Gewölbe abstützten, angeführt von der Hohepriesterin Mary, der Jungfräulichen Mutter der Sonne. Fredi sah nicht mehr die anderen elf Priesterinnen; es war, als seien sie gar nicht vorhanden. Er sah nur Mary. Blond, schlank bloße Schultern, bloße Arme, barfuß, ein langes, weites, weißes Gewand am Körper. Sie war wunderschön. Sie war blaß. Sie war rein. Der unsichtbare Orgelspieler gab einen Ton an, und sie sang: »O Gott, unsere Hilfe in vergangenen Jahren.« Jeder stimmte ein, aber aus rituellen Gründen sang sie den letzten Vers allein. Ihre silberhelle Stimme schwang sich in die dunkle Leere über ihr. Wenn jemals ich den Weg vergeß' Zu leben das Heilige Leben Hoffe und bete ich, an diesem Tag Den Heiligen Dolch zu fühlen. Es war an diesem Tag, daß Fredi, die Hohepriesterin anstarrend und anhörend, ihre rituellen Verse irgendwie falsch fand. Der Rest der Hymne war gewiß nicht dazu angetan, Shakespeare zugeschrieben zu werden, und da war etwas Sonderbares, etwas Verkehrtes, im zweiten Vers: Unter der Decke seines Himmels Sein Volk sorglos schlief
Genügend gerade, daß Er nahe weilt Und unsern Schutz sichert. Aber der zweitletzte Vers, der nur eine Wiederholung des ersten darstellte, war eindeutig der letzte Vers des Originals. Der Solovers der Hohepriesterin mußte später hinzugefügt worden sein. Doch das war gleichgültig. Mary hätte das Alphabet singen können, und er hätte es als reine Poesie empfunden. Mary ... Sechs Monate vorher hatte sie noch Lori Jones geheißen. Als Fredi sie kennenlernte, war vieles bereits geschehen. Zu dieser Zeit stand sie schon unter dem Schutz des Tempels, eine mögliche Priesterin, eine mögliche Hohepriesterin, wie die Ereignisse bestätigt hatten. Manchmal übersprangen Tempelmädchen die Mauern, nahmen sich Liebhaber, bekamen Kinder ... Dafür war es jetzt zu spät; Fredis Liebe war hoffnungslos. Und er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß sie als Lori Jones wahrscheinlich nie mehr als eine Jan Wilson für ihn bedeutet hätte. Als Hohepriesterin hatte sie Zauber – keine Frau besaß mehr. Dadurch, daß sie im Grunde genommen aufhörte, Frau zu sein wurde die Hohepriesterin zur Inkarnation einer Frau, unerreichbar und deshalb unendlich begehrenswert. Und, paradoxerweise, hatte seine eigene religiöse Neigung eine Rolle bei seinem Sündenfall gespielt. Nun war der Moment da. Priester Peter bekreuzigte sich. Dann trat er vor und bekreuzigte die Hohepriesterin ebenfalls – und als er dies tat, streifte er geschickt die beiden Bänder von ihren Schultern. Das weiße Gewand glitt sanft zu Boden.
Ein schwaches Seufzen erhob sich von den Anwesenden. Mary war rein. Nie sah die Sonne ihren Körper. Dort, im Tempel Gottes, sahen tausend Leute ihren Körper – nicht braun, nicht einmal rosig, sondern cremig, elfenbeinfarben. Es war himmlisch, nicht weltlich, ganz sicher nicht erdverhaftet. Er hatte die Perfektion einer Statue, die klaren Linien einer Statue und die Sanftheit einer Statue. Die blassen Brustwarzen waren klein und nur schwach rosig. Sie ging um das Gewand herum und stellte sich vor den Priester. Das Ritual begann. Fredi wunderte sich über den Widerspruch, daß die Jungfräuliche Mutter der Sonne die Sonne nie sehen durfte; daß, während alle übrigen (außer Priester Peter und die anderen Priesterinnen) bald hinaus in die Sonne treten würden, sie nie mehr die Sonnenwärme auf ihrem Körper spüren würde. Aber natürlich war Religion voller Widersprüche. Vielleicht lag die Logik darin, daß die Mutter der Sonne, wenn sie sich der Sonne hingeben würde, eine Art Inzest beginge. »Ja, ich bin rein.« »Ja, du bist rein. Der Heilige Dolch wird allen beweisen, daß du rein bist, daß der Tempel rein ist, daß die Welt rein ist, daß die Welt immer noch die Welt Gottes ist.« Priester Peter mußte ein guter Taschenspieler sein, dachte Fredi berufsmäßig. Man sah nie, woher der Heilige Dolch kam. Einige der frommen Anbeter schworen, daß er durch ein Wunder in seine Hand gelangte, aber darüber wurde nichts im Wort Gottes erwähnt. Peter hielt den Dolch fest in beiden Händen, mit
der Spitze nach unten, über Marys linke Brust. Plötzlich war ein Klicken und das schwache Summen einer Maschine zu hören. Die kreisrunde Platte, auf der sie stand, wurde zu einem aufsteigenden Sokkel. Als es sich dem Messer entgegenbewegte, sank sie auf die Knie, dann setzte sie sich auf die Fersen. Obwohl sich der Dolch nicht rührte, schob sie der hochstrebende Sockel beständig dem Dolch entgegen. Und während der Sockel emporglitt, drehte er sich gleichzeitig. Mary hatte das Ritual mit dem Rücken zur Gemeinde begonnen. Nun wurde ihr Körper langsam im Profil erkennbar. Das Messer – sie nie berührend – war nun nur noch knappe zwei Zoll von ihr entfernt. Sie hockte auf den Fersen und mußte sich zurück beugen, um ihm zu entgehen, die Arme über dem Kopf, während der Sockel sich höher und höher erhob und drehte. Ihre Hände und das lange Haar berührten den Boden des Podestes. Ihre Brüste zeigten gerade nach oben, nur noch ein Zoll von dem Dolch entfernt. Unter den Rippen spannte sich ihr Bauch. Und immer noch schwebte der Heilige Dolch über ihr, und immer noch stieg der Sockel. Sechs Monate vorher war eine Hohepriesterin bei diesem Akt still gestorben. Und innerhalb einer Stunde war der Priester durch den Dolch umgekommen. Ebenso die elf anderen Priesterinnen. Und später starben hundert Kriminelle durch den Dolch – bis Gott befriedigt war und der Dolch keine weiteren Opfer verlangte. Und die Welt war wieder die Welt Gottes gewesen ...
Heute jedoch stoppte der Sockel. Marys Kopf lag auf dem Marmor, ihr Körper war gespannt wie eine Violinenseite. Sie konnte sich nicht tiefer beugen. Dann verschwand das Messer, und sie richtete sich in eine kniende Stellung auf, die Arme erhoben, während sich das Podest wieder abwärts bewegte. Schließlich stand sie auf und stieg in ihr Gewand. Eine Priesterin trat vor und legte es über ihre Schultern. Kein Wort wurde gesprochen. Die Zeremonie war beendet, und die Welt war in Ordnung. Die Menschen verließen den Tempel – doch sie gingen nicht nach Hause. Es war Mittag, und die heiße Sonne stand genau im Zenit. Das Volk verstreute sich über den gewaltigen Vorhof des Tempels. Keine Gottesdienstordnung steckte dahinter, keine besondere Organisation, jeder fand einfach ungefähr sechs Quadratmeter Raum für sich. Dann entledigten sie sich all ihrer Kleidung. Sie standen, saßen, kauerten oder lagen – es war egal. Sie waren eins mit der Sonne. Nach fünf Minuten – fünf absolut stillen Minuten – standen einige auf, kleideten sich wieder an und gingen heim. Einige blieben, beanspruchten mehr Raum, sobald ihre Nachbarn den Platz räumten. Andere suchten Freunde und Verwandte auf. Jan Wilson näherte sich Fredi von hinten. Er war damit beschäftigt, in seine Kleidung zu schlüpfen, als sie sagte: »Laß das. Komm mit mir.« Und nackt liefen sie gemeinsam in die Wälder. Zuerst sahen sie viele Pärchen, die sich in der Umgebung zusammengefunden hatten, die Ungeduldigen, Faulen. Dann, je weiter sie liefen, wurden es immer
weniger. Schließlich waren sie allein. Unter den Bäumen war es etwas kühl. Sie mußten einen Sonnenstrahl finden. Es war Sonntag, der Tag der Sonne, und sie hatten keine Entschuldigung, daß der Himmel bedeckt wäre. Die Sonne war da, und es war Sünde, sich vor ihr zu verbergen. Jan entdeckte eine Grasfläche neben einem Teich und streckte sich darauf aus, direkt in der Sonne. Erwartungsvoll schaute sie Fredi an – aber er lehnte sich auf. »Nein!« sagte er heftig. »Rituelle Liebe ist keine Liebe. Nur ordinärer, völlig uninteressanter Sex.« »Auch wenn die Sonne es verlangt?« »Die Sonne verlangt nichts, das weißt du.« »Solches aus deinem Mund, Fredi? Von dir, dem kleinen Priester?« »Die Sonne verlangt es nicht«, beharrte er. »Vielleicht habe ich unrecht ... Ich dachte nur, es sei Sonntag.« »Und wie du weißt, bedeutet Sonntag, daß ein Mann, der eine Frau begehrt, die Gelegenheit dazu bekommt. Sie denkt, sie sollte nicht nein sagen. Sie denkt, wenn sie nein sagt, begeht sie eine Sünde. Du weißt, daß –« »Ich weiß, daß du hinter der Hohenpriesterin her bist.« Plötzlich war es sehr still. Fredi erkannte – in dem Moment, in dem es bereits zu spät war – daß er ungläubig hätte auflachen müssen. Der Tempel war Gesetz. Der Tempel richtete. Noch war er in keiner akuten Gefahr, den Heiligen Dolch zu fühlen, aber vielleicht stand er eines Tages auf der Liste. Dann, wenn sich die Hohepriesterin als un-
würdig erweisen, Gott richten und die elf anderen Priesterinnen sterben würden und alle Schwerverbrecher dazu, und wenn Gott danach noch immer nicht besänftigt war, dann konnte es sein, daß der Dolch ihn finden würde. Jan war zierlicher als die Hohepriesterin, aber das war nicht der hauptsächliche Unterschied. Sie war gebräunt, überall, und alles andere als der Moral zugetan. Nackt war sie irden. Sehr anziehend, aber eben erdhaft. Im Moment war sie es sogar buchstäblich, nachdem sie sich auf der Erde gewälzt hatte und dabei – um so mehr, da sie schwitzte – staubig und schmutzig geworden war. Obwohl dadurch nicht weniger begehrenswert, entfernte es sie noch stärker von Marys Bild. »So?« sagte er. »Nun, da du sie nicht haben kannst, könntest du ebensogut ...« »Das wolltest du aber nicht sagen.« »Nein. Und ich werde es dir jetzt auch nicht sagen. In der Zwischenzeit, bevor die Sonne sich von diesem weichen, mit Gras bedeckten Plätzchen zurückzieht, sollten wir zu der Stelle dort drüben gehen, was meinst du?« Er mußte sich nicht wirklich zwingen; manchmal dachte er, daß er Jan Wilson beinahe liebte. Das größte Hindernis war, daß sie so wenig gemeinsam hatten. Wann immer er in besonders zärtlicher Stimmung war, reagierte sie abweisend. Außerdem schien sie überhaupt kein Gespür für Kunst zu haben. Danach sagte sie: »Laß uns baden. Ich weiß, du denkst, ich sei ein Bauer und du ein großer Künstler, aber du irrst in vielen Dingen, Fredi. Ich bin zu intel-
ligent, um ein Bauer zu sein. Du wirst nie ein großer Schauspieler sein, und ich wußte schon immer eine ganze Menge mehr, als du mir zugetraut hast.« Es war nicht ihre Ruchlosigkeit, die ihn schockierte, es war die Bedeutung ihrer Worte. Und ohne ihm Zeit zu lassen, sich davon zu erholen, fuhr sie überlegt fort: »Zum Beispiel weißt du nicht, daß du trotz deiner religiösen Bestrebungen im Grunde ein Realist bist.« Diese Beschuldigung war so schwerwiegend, daß er diesmal nicht umhin konnte, darauf zu reagieren. Außerdem war es gänzlich aus der Luft gegriffen. »Du bist verrückt. Noch nie in meinem ganzen Leben bin ich irgendwo zu nahe an –« »Ich weiß. Du kamst nie irgendwo zu nahe – in den ganzen zwölf Jahren deines Lebens. Oh, ja, ich weiß, du bist vierundzwanzig, Fredi, aber da es dir gelingt, nur halb so schnell wie die meisten Leute zu leben, bist du eigentlich erst zwölf. Während ich, offiziell neunzehn, mindestens vierzig sein müßte. Aber vergiß es. Laß uns baden.« Sie sprangen in den Teich, schwammen eine Weile, stiegen dann wieder heraus und legten sich ans Ufer, ließen die Sonne ihre Körper trocknen. Und nun war Jan hübsch – sauber und braun und zart am ganzen Körper. Fredi spielte mit dem nicht sehr originellen Gedanken, daß ein Mädchen, das klein war, nicht weniger attraktiv sein mußte, als eines, das groß war; daß braune Haut, wie Jan sie besaß, nicht weniger anziehend als cremigelfenbeinfarbene war; und daß die nackte Jan nicht weniger heiratsfähig als die nackte Mary war. Er wollte sie wieder lieben, und seine Hand glitt unter
sie, legte sich um ihre schmale Hüfte, um sie zu sich zu ziehen. »Wie ich bereits sagte, bist du ein Realist«, bemerkte sie kühl. Er zog seine Hand zurück. Kaltes Wasser hatte seine Glut nicht erlöschen können. Kalte Worte schafften es. »Was uns verbindet«, fügte sie hinzu. »Mehr als du ahnst Fredi? Hör zu, und ich werde dir über die Realisten erzählen. Über sie, über mich, über dich, über uns.« »Ich bin kein Realist«, sagte er fest. »Du mußt wahnsinnig sein.« »Ich bin nicht wahnsinnig, und, gut, du bist kein Realist – aber nur in dem Sinn, daß du es noch nicht weißt. Du mußt begreifen, daß – was auch immer sonst du denkst und tust – allein dein Wunsch, die Hohepriesterin zu besitzen, dich bereits zu einem Realisten macht.« Er schwieg, fragte sich, warum sie nie zuvor auf diese Weise mit ihm gesprochen hatte. Ohne daß er die Frage an sie richtete, antwortete sie ihm. »Bis heute hatte ich nie gedacht, daß du je von irgendwelchem Nutzen für uns sein würdest. Aber nun sehe ich, daß du es sein könntest. Zuerst jedoch laß mich von den Realisten erzählen. Wir sind nicht gegen Religion, nicht gegen den Tempel. Wir sind nur gegen die Art, wie die Religion alles übernimmt. Das ist korrupt. Du hast die Redensart bestimmt schon mal gehört: ›Macht macht korrupt, und absolute Macht macht absolut korrupt.‹ Nun, der Tempel ist auf dem besten Weg, sich die absolute Macht anzueignen. Das weißt du.«
Er entspannte sich ein wenig. »Theorien«, sagte er. »Wenn du über Theorien reden willst, ist mir das recht.« »Ich spreche nicht nur vom Theoretischen. Ich spreche von Tatsachen. Vor hundert Jahren lag die Bibel offen für uns alle da. Nun bekommt niemand mehr die Bibel zu sehen, und der Priester liest nur noch ausgesuchte Passagen daraus vor. Wie können wir noch unterscheiden, ob er sich nicht nur etwas aus den Fingern saugt? Und in letzter Zeit wurde nicht nur die Bibel, sondern eine ganze Menge anderer Bücher zurückgezogen. Es schreitet fort.« Fredi war wieder ruhig. Einen Augenblick hatte er geglaubt, sie bedrohe ihn, versuche, ihn dazu zu erpressen, sie zu heiraten oder zu etwas anderem, was er nicht unbedingt tun wollte. Aber da saß sie, redete ruhig und vernünftig, versuchte ihn ruhig und vernünftig in etwas einzubeziehen, das ihm – vielleicht – ein Rendezvous mit dem Heiligen Dolch einbrachte. »Laß uns zurückgehen«, sagte er abrupt. »Wir können dich gebrauchen, sagte ich. Wir werden dir helfen, und du wirst uns helfen. Wir werden dir helfen, an die Hohepriesterin heranzukommen.« Er war verrückt, und er wußte es, als er plötzlich merkte, daß er ihr sehr genau zuhörte. Bisher hatte er die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe als gegeben hingenommen. Wenn es eine Möglichkeit gab – wenn er, irgendwie, die Hohepriesterin eines Tages besitzen könnte – dann erschien die Bedrohung des Heiligen Dolches fast belanglos. Jan fuhr fort, jetzt schnell und eifrig: »Kannst du nicht sehen, Fredi, was es beweisen würde, wenn du
der Liebhaber der Hohenpriesterin würdest und nichts Gräßliches eintreten würde? Jeder außer den Realisten glaubt an diesen Unsinn, den Priester Peter hersagt. Der Tempel hat die Macht an sich gerissen, und er wird sich weiterhin Macht aneignen, bis die Realisten irgend etwas Großes in die Hand bekommen und in die Öffentlichkeit treten können, um zu sagen: ›Siehe da, der Tempel ist ja bloß ein von Menschen erbautes Gebäude. Die Priester sind bloß Männer, und die Priesterinnen sind bloß Frauen. Die Jungfräuliche Mutter der Sonne ist nur Lori, und sie ist keine Jungfrau, und der Heilige Dolch weiß überhaupt nichts davon ...‹« »Ich sollte mir das nicht anhören.« »Aber du hörst zu, nicht wahr? Fredi, wir müssen etwas in dieser Art unternehmen. Alle Bücher berichten ein wenig von der Wahrheit. Nun wird die Wahrheit systematisch zerstört. Selbst vor nur ein paar Jahren gab es noch Bücher, die sagten, daß wir auf diese Weise von einer anderen Welt kamen, einer Welt, genannt Erde ... Aber das steht nicht mit der Linie des Tempels in Einklang, die besagt, daß wir die Auserwählten sind, die einzigen Menschen, die in der einzigen Welt leben. Die Bibel wurde uns weggenommen, weil sie über einen Planeten handelte, der nicht dieser Planet war, und wenn es den Leuten erlaubt wäre, darin zu lesen, wären sie vielleicht in der Lage, sich zu überlegen ...« Aber Fredi hörte nicht länger zu. Der Gedanke, Liebhaber der Hohenpriesterin zu werden, hatte ihn entflammt. Der Tod bedeutete nichts, wenn er dieses Eine erreichte. Was machte es aus, wenn die Priester die Geschichte nochmals neu schrieben und sagten,
diese Welt sei die einzige, und die Bücher vernichteten? Er war ein Schauspieler, kein Gelehrter ... Plötzlich, mitten im Gedankenfluß, hörte Jan auf und seufzte: »Du hast deine eigene Art Abwehr, Fredi, nicht wahr? Eine Sache, die ich sagte, interessiert dich, nur eine. Der Rest ...« »Ja, der Rest. Sag mir etwas, das zeigt, daß du recht hast und der Tempel unrecht. Irgend etwas, das beweist, daß wir wirklich von anderswo herkommen.« »Sicher.« Sie stand auf und zeigte auf etwas. »Schau dort drüben. Und dort. Die Ruinen.« »Die Ruinen? Was ist mit ihnen?« Sie sah ihn bedauernd an. »Das sind keine Ruinen, Fredi. Jeder kann das sehen. Selbst du kannst es, wenn du schaust. Die Realisten haben es gesehen, und das hat sie zu Realisten gemacht.« »Wenn es keine Ruinen sind, was dann?« »Nun, in gewissem Sinn sind es Ruinen, aber –« »Über was redest du eigentlich?« »Ruinen von Schiffen. Riesigen Schiffen. So riesig, daß der Tempel sie nicht loswerden kann. Alles, was der Tempel tun kann ist, zu sagen, daß es Ruinen sind – unsere Ruinen. Ruinen einer vorausgegangenen Kultur auf dieser Welt. Aber geh und schau, Fredi. Schau die Rohrleitungen an und die verrosteten Zeichen und Motoren und Luftpumpen. Sie können schwerlich die Überbleibsel von Häusern sein oder von irgendeinem feststehenden Gebäude. Sie beweisen, daß wir von irgendwo anders kamen, und daß diese Welt nicht die Welt ist.« Er wußte nicht, was er sagen sollte. Ihre Worte schienen wahr ... aber machte das wirklich etwas aus? Sie seufzte wieder. »Gut. Ich werde bei dem einen
Thema bleiben, das dich berührt – wie du der Liebhaber der Hohenpriesterin werden kannst.« »Wie?« »Nun, das kommt ganz auf dich an, Fredi. Vergewaltigung hat keinen Zweck. Das beweist nichts. Sie muß willig sein. Nun, ich kannte Lori Jones ein wenig. Blöde, arrogante Hexe. Eitel, oberflächlich, immer überzeugt, irgendwie besser als andere Leute zu sein, aber ohne etwas, das diese Einbildung untermauern könnte, außer daß sie unter der Schirmherrschaft des Tempels stand. Ja, du könntest sie gewinnen. Du bist sehr ansehnlich. Schmeichle ihr, flüstere liebende Worte. Du könntest das im Schlaf meistern. Deshalb ist alles, was du brauchst, eine Gelegenheit. Und die werden wir dir verschaffen.« Der nächste Tag, Montag, war ein ganz anderer Tag. Es gab keine Messe zu Ehren der Sonne, die noch genauso strahlte. Von Leuten, die montags sonnenbadeten – gesetzt den Fall, sie waren in der glücklichen Lage, Zeit dafür zu haben – erwartete man, daß sie gewisse Kleidungsstücke anbehielten. Nur sonntags war es erlaubt, sich völlig zu entblößen. Nur Sonntag war der Tag der Sonne. Fredi, der bei der Probe für Macbeth war, worin er den Macduff spielte, wurde zur Bibliothek geschickt, um ein technisches Problem zu lösen. Er war kein Star. Sein gutes Aussehen und die wohlklingende Stimme waren seine Haupttalente. In der Bibliothek legte er eine Pause ein, nachdem er seine Pflicht erfüllt hatte. Eine Frage beschäftigte ihn: Manipulierte jemand auch an den alten Schauspielen herum? Das würde
ihn nun wieder betreffen. Schauspiel war sein Beruf, und die neueren Stücke waren ohne innere Werte. Bei Shakespeare oder Shaw gab es noch etwas, woran man sich festbeißen konnte. Dunkel erinnerte er sich an ein Stück von Shakespeare über einen König, Richard II. oder Richard III., einen König in einem Land, genannt Angland oder England. Es gab da eine leidenschaftliche Rede über »diese königliche Insel, halbparadiesisch, dieses andere Eden«. Offensichtlich handelte es sich dabei um einen besonderen Ort. Und doch gab es kein Angland oder England in der Welt. Er ging die Liste durch. Richard III. war da, aber ein rascher Blick zeigte ihm, daß dies das falsche Stück war. Es mußte Richard II. sein. Aber es gab keinen Richard II. Langsam geriet er ins Wanken. Konnte eines von Shakespeares Stücken geraubt worden sein, weggenommen, weil es einen Abschnitt darin gab, der dem Tempel nicht ins Konzept paßte? Unmöglich! Und doch nicht unmöglich. Die Bibliothek stand unter direkter Kontrolle des Tempels. Priester sah man nie in der Bücherei, aber trotzdem, wenn sie für jedermann geschlossen war, stand sie ihnen offen. Als er die Mikrofilmspulen durchsah, bemerkte er zum ersten Mal, wie einfach es war, aus allem, was auf Mikrofilm gespeichert war, Passagen herauszuschneiden. Bei gebundenen Büchern hätte man solche Kürzungen bemerkt, aber die meisten Bücher waren verschwunden. Mikrofilm war besser, billiger, haltbarer. Und unter diesem Aspekt besah er sich die kürzli-
chen Veränderungen i n der Bibliothek näher und entdeckte, daß es gegenüber früher mehr Platz gab, weil weniger Material im Raum lagerte. Bücher waren gedruckt worden und wurden immer noch gedruckt. Ein Buch konnte man mit nach Hause nehmen, aber nicht jeder verfügte über ein Mikrofilmlesegerät. Nun, da er sich unter diesem neuen Blickwinkel in der Bibliothek umsah, fand er, daß fast alle Bücher neu waren. Die alten waren alle auf Mikrofilm übertragen worden. Und Mikrofilm konnte in ein paar Minuten zensiert werden – ließ nichts zurück, was eine Manipulation erkennen ließ. Hinter ihm sagte eine Stimme: »Kann ich Ihnen helfen? Sie scheinen etwas zu suchen.« Es war eine der Angestellten. Sie war ungefähr im gleichen Alter wie Mary und Jan, aber darin erschöpfte sich ihre Ähnlichkeit auch schon. Sie waren schöne Mädchen, jede auf ihre Art; diese hier war einfach nur ein Mädchen. Er begann: »Ich bin vom Theater –« »Ich weiß«, sagte sie eifrig. »Sie waren toll in der Aufführung letzte Woche. Wie schade, daß Sie im 1. Akt ermordet wurden.« »Nächste Woche bringen wir Macbeth«, sagte er kühn. »Einige der Texte, die uns zur Verfügung stehen, variieren etwas. Könnte ich den ältesten authentischen Text sehen, den Sie haben?« Sie blickte ihn seltsam an, und ihm wurde bewußt, daß, wenn in der Bibliothek etwas nicht mit rechten Dingen zuging, sie sehr taub und blind sein müßte, um nichts davon zu wissen, gleichgültig, ob sie direkt darin verwickelt war oder nicht. Aber alles, was sie
sagte, war: »Ja, natürlich.« Im Lesegerät studierte Fredi – der Macbeth auswendig kannte – das Stück unter neuen Gesichtspunkten. Seltsam war, daß in Szene II der Text die Tatsache wiedergab, daß Duncan zwar König war, nicht aber, von was er König war. Und dann in Szene II sagte die erste Hexe: »Heil, Macbeth! Heil Euch, Lehnsmann von Peusa!« Die zweite Hexe sagte: »Heil, Macbeth! Heil Euch, Lehnsmann von Morden!« Das war merkwürdig, weil in der für nächste Woche geplanten Aufführung die Hexen die gleichen Worte ausrufen sollten, nur daß die benannten Orte Glamis und Cawdor hießen. Niemand wußte genau, was ein Lehnsmann war, aber das machte nichts. Es war offensichtlich eine Art niedriger Adelstitel. Niemand wußte, was oder wo Glamis und Cawdor waren, aber jeder kannte Peusa und Morden. Das waren Gegenden, nicht weiter als fünf Meilen vom Tempel entfernt. Der Text war also geändert worden, um die Schauplätze lokal anzusiedeln. Im Grunde war es nichts ... außer daß dies der früheste, authentische Text sein sollte, und er es ganz klar nicht war. Das Rätsel lautete: Wieso hatte das Theater einen früheren Text, und warum durften sie ihn benutzen? Aber das war nicht wirklich rätselhaft. Der Tempel, das war bekannt, verfolgte seine Ziele Schritt für Schritt. Nächste Woche würden zwei alte Worte gesprochen werden, Glamis und Cawdor (Orte der Erde?), aber zur nächsten Aufführung von Macbeth würde sich der authentischere Text durchsetzen. Glamis und Cawdor würden von Peusa und Morden
ersetzt werden. Wenn jemand protestieren würde, würde man ihn damit beschwichtigen, daß neuere Forschungen eindeutig gezeigt hätten, daß Peusa und Morden entweder das waren, was Shakespeare ursprünglich geschrieben hatte oder aber hatte schreiben wollen. Es amüsierte ihn, daß Macbeth in Szene 3, Akt II, sagte: »Schlaft nicht mehr! Glamis hat den Schlaf getötet, und deshalb wird Cawdor nie mehr ruhen; Macbeth wird nie mehr ruhen« – die Worte im Text blieben Glamis und Cawdor, wo sie Peusa und Morden hätten sein sollen. Die Priester des Tempels hatten es übersehen. Sie waren nicht unfehlbar. Die Realisten hingegen waren es, wie es schien. Zwei Nächte später brachten sie ihn zu einem mit einer Mauer umzäunten Garten und ließen ihn Wissen, daß Mary da sein würde, allein. Da sie nie die Sonne sehen und von ihr gesehen werden konnte, ging sie nachts in den Garten, um frische Luft zu atmen. Sie war unbeaufsichtigt, da man nicht damit rechnete, daß jemand von ihrer Anwesenheit wußte. Außerdem hielt man die Mauer für unüberwindlich. Aber die Realisten wußten, daß sie dort sein würde, und ihre ausfahrbare Aluminiumleiter sowie das Seil für den Abstieg auf der anderen Seite, machten die Mauer nur noch zu einer Angelegenheit weniger Sekunden. Im entscheidenden Moment bekam Fredi Angst, und ihm fehlte plötzlich jegliches Selbstvertrauen. »Und das dir, dem großen Liebhaber?« fragte Jan sarkastisch. Die zwei Männer hatten nicht gespro-
chen, überließen das Reden ihr. »Sicher wird es mehr als ausreichen, mit dem Finger zu schnippen.« »Meinst du, sie schreit?« »Sie wird nicht schreien.« »Woher weißt du das?« »Ich wollte dir nicht alles erzählen, aber da du kalte Füße gekriegt hast, Fredi, kann ich es auch tun – es ist alles verabredet. Geh hinein und zieh deine Show ab. Es wird gelingen. Du hast eine sichere Sache vor dir.« »Weißt du etwas, was ich nicht weiß?« »Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich weiß verteufelt viel mehr als du. Insbesondere – ich denke, das muß ich dir auch sagen – gelang es uns, eine Prophezeiung in Loris Ohr flüstern zu lassen. Sie wird einen stattlichen Fremden unter romantischen Umständen treffen. Sie wird auf dich warten, wird nicht wirklich erwarten, daß du dich zeigst, aber ihr kleines Herz wird zittern, falls du doch kommen könntest ... Ich sagte dir, daß sie eine dumme Hexe ist.« Unsinn, dachte Fredi. Mary war schön, und man konnte sehen, daß ihre Schönheit nur die schöne Oberfläche von immenser Tiefe und Reinheit darstellte. »Einen Rat noch«, sagte Jan, »obwohl du – der Himmel weiß es – ihn nicht brauchen solltest. Geh nicht aufs Ganze beim ersten Treffen. Sei romantisch. Berühre sie – zur Hölle, ja – aber sei zärtlich. Bring sie dazu, dich zu wollen, nicht umgekehrt.« »Oh, ich kenne mich damit aus.« »Ja, wirklich, tust du das? Vielleicht das einzige, was du weißt.« Er war jung und beweglich. Die Wand erklettern
und sich auf der anderen Seite wieder hinunterlassen, war ein Leichtes für ihn. Er trug silberfarbene Hosen und einen langen, schwarzen Umhang. Jan hatte ihm die Kleidung ausgewählt, ziemlich zynisch. »Du wirst einen schwarzen Mantel brauchen, weil wir nicht wollen, daß du dich wie ein leuchtendes Fanal zeigst. Aber du mußt auch der Ritter in glänzender Rüstung sein. Und dies ist die Szene, in der du halb nackt sein mußt und deine Liebste völlig angezogen – du mußt sexy sein. Sie muß dich begehren; nicht andersherum ...« Nirgends hätte er sich leichter verbergen können. Der Garten war voller Bäume, Büsche, Sträucher, riesigen tropischen Pflanzen. Es gab auch ein Weglabyrinth. Und, natürlich, einen Teich. »Bring sie weg vom Teich«, hatte Jan gesagt. »Lokke sie in den Schatten. Wenn du kein Fenster sehen kannst, kann dich auch niemand hinter einem Fenster sehen.« Und tatsächlich, da saß Mary neben dem Teich, ihr übliches weißes Gewand tragend. Sechs Fuß von ihr entfernt, hinter den Büschen versteckt, sagte er sanft: »Nun, das war es wert.« Sie drehte sich verblüfft um. »Bitte tu das nicht«, sagte er schnell. »Jemand könnte dich beobachten. Warum stehst du nicht einfach auf und gehst zu den Büschen hinüber und machst einen Spaziergang?« »Warum sollte ich?« Diese wundervolle Stimme. »Nun, ich kann dich sehen. Wenn du mich nicht sehen willst, bist du keine richtige Frau.« »Du könntest ... mir etwas antun.«
»Dann kannst du schreien, und Leute werden herbeirennen. Aber warum schreien, bevor du weißt, ob du es willst oder nicht?« Sie stand auf, sah sich im Garten um und kam langsam auf ihn zu. Als er sie berührte, geschah es von hinten und sanft ... aber er hielt sie fest, als sie versuchte, sich umzudrehen. »Ich könnte häßlich sein«, sagte er leise. »Ich könnte alt und fett sein.« »Du bist nicht häßlich. Und du hast eine schöne Stimme.« »Nein, ich bin nicht häßlich. Aber verglichen mit dir –« »Du meinst, ich bin hübsch?« Die Frage war so scheu, banal, so schalkhaft, daß Fredi zusammenzuckte. Trotzdem war es eine Einladung, und darauf hatte er gewartet. »Nein, du bist überhaupt nicht hübsch. Du bist so unglaublich schön, daß ich mit dir sprechen mußte, egal welche Konsequenzen es hat!« Seine Worte waren auch nicht sonderlich poetisch, aber er meinte sie, und seine klingende Ernsthaftigkeit verfehlte nicht ihre Wirkung. Er ließ sie los, und sie standen sich in der leuchtenden Nacht gegenüber ... Zehn Minuten später, nicht länger, kletterte er die Mauer hinauf und auf der anderen Seite herunter. Die zwei Männer rannten mit ihm weg. Jan zog ihn mindestens zweihundert Yards von den Mauern des Tempelgartens weg, bevor sie fragte: »Und?« »Ja.« »Was meinst du mit ›ja‹?« »Es ist alles in Ordnung. Was für ein wunderbares
Mädchen sie ist –« »Ja nun, was dachte sie über dich?« »Es ist alles gut gegangen.« »Du bist schnell zurückgekommen.« »Ich mußte. Ich hatte mein Ziel erreicht, glaube ich, den größtmöglichen Effekt. Wenn ich länger geblieben wäre ... aber du verstehst diese Dinge nicht.« »Ich verstehe zu gut, meinst du. Hast du dich wieder verabredet?« »Nein, aber sie erwartet mich.« »Sehr gut. Bist du jetzt in deinen Erwartungen genug enttäuscht, um deine Qualitäten mir zur Verfügung zu stellen?« »Nein«, sagte Fredi ernsthaft. »Ich liebe Lori; das habe ich dir gesagt. Ich kann keine andere lieben.« »So, jetzt ist sie also Lori. Wie ist es dazu gekommen?« »Es war eigentlich ihre Idee, ich war einverstanden. Meine Theorie ist, daß sie als Mary nicht mit mir hätte reden können und sich sicher nicht hätte küssen lassen, aber als Lori ...« »Ich verstehe. Gut, du scheinst die Sache in der Hand zu haben ... Hast du sie übrigens geküßt?« »Bei unserem ersten Treffen?« rief er betroffen aus. »Sie die Hohepriesterin?« Für ein paar Sekunden war Jan schweigsam. Dann sagte sie: »Manchmal Fredi, habe ich das komische Gefühl, daß du doch kein solcher Narr bist, wie es den Anschein hat.« »Wer ist das schon?« Es verwirrte Fredi, daß die Treffen so einfach arrangiert werden konnten. Jede Nacht verbrachte er eine
Stunde mit der Hohenpriesterin im Tempelgarten. Es war so leicht, und nie kam jemand in ihre Nähe. Jan meinte kühl, als er ihr gegenüber diese Sache erwähnte: »Nun, warum auch nicht? Die Hohepriesterin ist etwas Besonderes an Sonntagen, aber den Rest der Woche ist sie einfach nur ein dummes Mädchen, immer noch Lori Jones, aus der sich niemand viel macht. Wem macht es etwas aus, ob sie im Garten sitzt oder ein Bad nimmt oder ihre eigenen Brüste oder ihren Bauch bewundert oder versucht, ein Buch zu lesen?« Und Samstagnacht fühlte Fredi, daß es an der Zeit war. Er hatte Lori geschmeichelt – wie Jan und sein eigener Instinkt ihm geraten hatten – und sie war aufgetaut und ihm wenigstens auf halbem Weg entgegengekommen, wollte ihm Glauben schenken, hielt ihn für eine romantische Figur, sehnte sich danach, ihn zu lieben und geliebt zu werden. Die ganze Zeit jedoch hatte er nur daran gedacht, daß sie die Hohepriesterin war. Als Fredis Fingerspitzen sie berührten, wie Priester Peter sie berührte, als seine Hände kühl und zärtlich waren, führte sie ihn willig, aber ohne sexuelle Erwiderung. In der Bibel stand etwas über das »Auflegen der Hände«. Es war richtig, es war völlig unschuldig, daß er ihr Gesicht, ihre Arme, ihre Schultern, selbst ihre Brüste, ihre Hüfte, ihre Taille berührte, solange seine Berührung zärtlich und anbetend war. Und Fredi, der sie richtig einschätzte, berührte sie, wie sie berührt sein wollte. Eines Nachts, als es so dunkel war, daß sie unmöglich aus einem der Fenster gesehen werden konnten, schwammen sie sogar im Teich, und bei dieser Gele-
genheit berührte Fredi ihre bloße Haut. Wohlüberlegt beließ er es aber bei derselben kühlen, unschuldigen Berührung, mit der Absicht, sie daran zu gewöhnen, nackt mit ihm zusammen zu sein und trotzdem noch rein, so rein, wie wenn ihr Gewand im Tempel zu ihren Füßen fiel und Tausende von Menschen sie sahen und kein Schatten auf ihre Reinheit geworfen wurde. Deshalb bedeutete es am Samstag nichts Ungewöhnliches, als sie auf einer der geschützten Lichtungen zusammenstanden, die sie so gut kannten. Die Kleider hatten sie zurückgelassen. Aber diesmal waren Fredis Fragen persönlicher, seine Berührungen waren zwingender, forschender – zum erstenmal wie die eines kräftigen Mannes, der eine junge, nackte, heiratsfähige Frau berührte. »Es muß sein«, flüsterte er. »Nein«, sagte sie, nicht auf seine Berührung eingehend. »Die ganze Zeit hast du es gewußt. Ich habe gewartet, und nun weißt du, daß alles, was ich je zu dir sagte, wahr ist. Ich habe es durch mein Warten meine Geduld bewiesen.« »Nichts, was wir je gesagt oder getan haben, war falsch. Aber nun ...« »Jetzt, wenn wir jetzt nicht unsere Liebe bestätigen, war alles eine Lüge.« Seine Berührung, immer noch zärtlich, war nicht länger kühl. Sie forderte, und Lori kämpfte mit sich, nicht ja zu sagen, überhaupt nicht zu antworten – und sie verlor. Sie hob die Brüste, um seine zu berühren; ihre Arme versuchten, ihn von sich abzuhalten; zogen ihn zu sich heran; und ihr geschmeidiger Bauch, von ihm wegstrebend wie beim Höhepunkt
der sonntäglichen Zeremonie, hörte plötzlich auf, der harte, feste Bauch der Hohenpriesterin zu sein, oder der einer Marmorstatue, und wurde zu dem warmen Bauch einer Frau. »Nein«, flüsterte sie. Und im selben Atemzug – halb atmend, halb nach Luft suchend: »Ja, ja.« Fredi wollte nicht zum Tempel gehen. Weder Jan noch einer der Realisten hatten irgend etwas zu ihm gesagt, außer kurzen Bemerkungen, die Zufriedenheit ausdruckten, daß – wie sie bemerkten – er die Glocke geläutet habe. Er hatte keine Ahnung, was sie im Tempel tun wollten, aber er erinnerte sich daran, daß Jan gesagt hatte: »Siehe da, der Tempel ist nur ein von Menschen gemachtes Gebäude, die Priester sind nur Männer, und die Priesterinnen sind nur Frauen. Die Jungfräuliche Mutter der Sonne ist nur Lori Jones, und sie ist keine Jungfrau, und der Heilige Dolch weiß überhaupt nichts darüber.« Der letzte Satz bedeutete, daß die Realisten Aufsehen erregen würden, bevor der letzte Akt der Zeremonie vorüber war; es hieß auch vor allem, daß sie dann etwas tun würden, und Fredi fühlte sich bei dem Gedanken unwohl. Es war sehr gut zu sagen, daß, wenn er die Hohepriesterin gewonnen hatte, alles andere nicht mehr wichtig war. Heute war die Situation anders. Vielleicht letzte Nacht, auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft, hätte er wohl sein Einverständnis hinausgeschrien, seinen Willen, eher zu sterben, als einen Rückzieher zu machen ... aber heute lebte er, und er wollte am Leben bleiben. Wie gewöhnlich hielt er sich im vorderen Teil des
Tempels auf, wo Mary (heute war sie Mary) sein würde. Er wußte nicht, wo Jan war. Er ging nie mit Jan zum Tempel, obwohl sie ihn hinterher immer suchte. Würde sie das auch heute tun? Würde sie erwarten, daß er sie heute liebte? Er scheute vor dem Gedanken zurück und konzentrierte sich auf die Messe. Heute war Priester Paul im Dienst. Es war ein kleiner Mann, dem die Würde von Priester Peter fehlte; die großen, rollenden Worte aus einem Mund klangen bei weitem nicht so beeindruckend. »Und ich sage Euch, im Wort Gottes, in diesem Tempel Gottes, in der Welt Gottes, die Sonne ist höchst wundersam, die Sonne Gottes gibt uns Leben, preist die Sonne Gottes ...« Angenommen, dachte Fredi in plötzlicher Hoffnung, Mary würde heute wie Priester Peter nicht erscheinen. Zwar spielte die Hohepriesterin ihren Teil nur selten nicht in der Zeremonie. Es gab zwölf Priester, aber nur eine Hohepriesterin. Auf der anderen Seite gab es noch elf andere Priesterinnen, und ab und zu sprang eine für die Hohepriesterin ein. Wenn dies heute passieren sollte, würde sich Fredi ungutes Gefühl zerstreuen, und er konnte weiterleben, von Tag zu Tag, mit wenigen oder keinen Gedanken über die Zukunft. Solange Mary nicht erschien, war es so gut wie sicher, daß die Zeremonie ereignislos verlaufen würde. Plötzlich traten die Priesterinnen durch den mit Säulen geschmückten Bogen – und Mary führte sie an. Bei ihrem Anblick konnte sich Fredi kaum zurückhalten, etwas über Priester Pauls farblose Stimme hinwegzuschreien, obwohl er nicht gewußt hätte, was
er rufen sollte. Gleichzeitig entspannte sich Fredi ein wenig, da Mary so gelassen wie immer war; er mußte sich selbst daran erinnern, indem er sich fest auf realistische Details konzentrierte, daß die Ereignisse der letzten Woche wirklich passiert waren, daß heute nicht die vergangene Woche war. Selbst danach warf er noch einen Blick auf Priester Paul – nicht Priester Peter – um sich zu vergewissern, daß dies tatsächlich ein anderer Sonntag war. Mary führte den Gesang von »O Gott, unsere Hilfe in vergangenen Jahren« an, und dann sang sie wie gewöhnlich den letzten Vers allein. Wenn jemals ich den Weg vergeß' Zu leben das Heilige Leben Hoffe und bete ich, an diesem Tag Den Heiligen Dolch zu fühlen. Fredis Gefühle waren in Aufruhr. Er wußte nicht, ob er sie liebte. Er wußte überhaupt nichts sicher. Sicherlich war Mary nicht aufgeregt. Vielleicht, als eine liebende Frau, fühlte sie sich vollkommen sicher, fühlte sie sich ihm sicher und sicher, daß ihre Liebe keine tödliche Sünde war. Aber ... es war eine tödliche Sünde? Konnte es richtig für ihn sein, den Tempel zu verlassen und an heidnischen, erotischen Sonnenriten mit Jan teilzunehmen, und falsch, die Hohepriesterin sechs Tage später zu lieben? War sie froh, weil sie mit ruhiger Sicherheit entschieden hatte, Mary, Hohepriesterin und Jungfräuliche Mutter der Sonne und zur gleichen Zeit Lori Jones, leidenschaftliche Geliebte von Schauspieler
Fredi zu sein? Sie trat vor, und Paul bekreuzigte sich. Dann bekreuzigte er Mary. Nicht so gewandt wie Priester Peter fummelte er an den weißen Bändern über ihren Schultern herum und mußte neu ansetzen. Als Loris schlanker, elfenbeinfarbener Körper aus dem herabfallenden Gewand stieg, spürte Fredi Eifersucht in sich aufsteigen, daß Tausende von anderen diesen schönen Körper sehen konnten, der einzig und allein ihm gehörte. Dieses Gefühl war jedoch sofort verschwunden, als er sich daran erinnerte, daß dies Mary und nicht Lori war. Mary gehörte allen und niemanden, aber Lori gehörte ihm. Und später, nicht Sonntag, sondern morgen, in den folgenden Wochen, würde sie wieder Lori sein. Der Heilige Dolch tauchte auf, aber nicht mit der Erhabenheit von Priester Peter. Mary stand auf der Sockelplatte. Diese bewegte sich wie immer, und wie immer fiel sie langsam auf die Knie und begann dann, sich langsam zurückzubeugen, während der Sockel sich drehte und der Dolch genau über ihrer linken Brust verharrte. Immer weiter ging sie zurück, die Höhlung unter ihren Rippen wurde länger und tiefer; und doch, als sie den Bauch dehnte, schienen ihre Brüste zu wachsen, schienen zu dem Heiligen Dolch zu streben. In einem einzigen Augenblick war alles vorbei. Niemand vermochte hinterher zu sagen, ob Paul stolperte oder ob Mary sich krampfartig erhoben hatte, um ins Messer zu rennen. Und doch geschah es, und der Dolch war in ihrem Herzen, und dann, rot und tropfend, blieb es in Pauls zitternder Hand, als sie zurückglitt, ruhig, und ihre Augen wurden starr.
Priester Peter hätte seine Würde zurückgewonnen. Priester Paul ließ Schock, Angst, Terror, Schrecken sichtbar werden. Er wußte jedoch, was er zu tun hatte und tat es. Bevor Mary tot war, starb er selbst, das Messer drang in seine Brust und blieb dort stecken. Er stürzte und wäre über den Körper der Hohenpriesterin gefallen, wenn der Sockel nicht noch immer erhoben gewesen und er nicht so groß gewesen wäre. Er glitt die Seite hinunter und Priester und Priesterin gaben ein schreckliches und doch schönes Bild ab, die schöne Frau sterbend auf dem sich drehenden Sockel, einen Arm herabhängend, der Mann im Priesterkleid zu ihren Füßen ... Solche Momente sollten vollkommene Stille gebieten ... aber natürlich sollten solche Augenblicke überhaupt nicht vorkommen. Der Tempel erzitterte, als die Hohepriesterin Begehren bewies; die ganze Welt Gottes erzitterte. Es war ein dunkler Tag und das einzige, was man hoffen konnte, war, daß doch noch irgend etwas Gutes daraus hervorging. Nun war völlige Stille. Die elf Priesterinnen wußten, daß sie sterben mußten. Die Gemeinde wußte, daß sie so gut wie tot waren, daß ihre aufgeschobenen Strafen nun als aktive Schuldsprüche in Kraft treten würden, und daß es kein Entkommen gab. Das Chaos war da. Wieviel Zeit vergangen war, wußte Fredi nicht. Die Priesterin und der Priester waren jetzt tot. Die Säulenplatte war zu ihrem ursprünglichen Platz zurückgekehrt und rührte sich nicht mehr. Viele waren gegangen; tatsächlich, die meisten waren fort. Aber der Tempel war auf keine Weise leer.
Während die Reaktion der Mehrzahl die schnellstmögliche Flucht vor dieser Szene des Horrors gewesen war, äußerte sich die Reaktion vieler anderer, nahezu einem Hundert, indem sie wie angewurzelt auf der Stelle verharrten, starrend und betend. Da war eine Berührung von hinten auf Fredis Schulter. Jan, natürlich. Und dann eine Stimme, die nicht Jan gehörte. »Ich kann sehen, wie tief dich dies getroffen hat. Aber das Leben muß weitergehen. Das Wort muß weiterexistieren. Schauspieler Fredi, deine Frömmigkeit blieb nicht unbemerkt. Es wird einen neuen Priester Paul geben müssen. Komm mit mir, Priester Paul.« Fredi drehte sich betroffen um. Es war Priester Peter. Fredi konnte keinen klaren Gedanken fassen, und deshalb sprach er klugerweise kein Wort. Er wußte, daß, während die Priesterinnen unter der Schirmherrschaft des Tempels erzogen wurden (Jan, zum Beispiel, hätte nie Priesterin werden können), die Priester alle Männer des Weltlichen gewesen waren, die in Krisenzeiten gewählt wurden. Er war berufen. Die Ironie wurde ihm nicht bewußt. Aufzuhören, Schauspieler Fredi zu sein und statt dessen Priester Paul zu werden, schien plötzlich nur vernünftig. Er verstand nicht, daß er nicht damit gerechnet hatte. Er würde das Wort im Tempel Gottes in Gottes Welt verkünden. Er würde ein guter Priester sein. Möglicherweise wäre er ein schlechter Schauspieler geworden. Er war darauf vorbereitet. Jan und die Realisten waren besiegt. Einige von ih-
nen würden sterben müssen. Aber er würde nicht sterben, nicht jetzt. Er würde Gott dienen. Und wenn in Zukunft, eines Sonntags, da er den Heiligen Dolch hielt, eine Hohepriesterin starb, wie Mary gestorben war, würde auch er sterben, und vielleicht würde das die letzte Gerechtigkeit sein. In der Zwischenzeit jedoch würde er Gott dienen.
Originaltitel: THE WORLD OF GOD Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION März/April 1979
H. C. Petley ... UND DIE ERDE SO WEIT Der Tank drehte sich langsam, weit weg im kalten Raum des inneren Bereichs der Asteroidenminen. Klirrender Frost haftete an ihm, Wasser, das auf der Aluminiumhaut kondensiert und gefroren war. Wasser, kondensiert und gefroren nach der Explosion und Zerstörung der Minenplattform. Alles war eine Anhäufung von Tanks, diese Schiffe, große Tanks und Massen von Rohren, alle ineinander verbogen, verflochten, und Meilen von Drähten, alles angetrieben vom Superdampf des Uranfeuers. Die Dampfmaschine ... eine bemerkenswerte Erfindung. Wer hätte gedacht, daß das gleiche Prinzip, das Watt und Fulton inspirierte, dreihundert Jahre später eine Minenplattform von einer halben Meile Länge, draußen im Raum erstellt, um Asteroiden einzufangen, antreiben würde? Die alten Fiction-Schreiber mochten die Einzigen gewesen sein, die solche Prognosen wagten. Kein klardenkender Wissenschaftler hatte je an derartiges gedacht. Aber jene wußten etwas, diese alten Träumer. Die Männer lagen schlafend in einer simulierten Nacht. Elf Formen, zu Kokons zusammengebunden, sorgsam an der Decke aufgehängt, alle in der vorgeschriebenen Reihe. Eine Schlafstelle war leer. Avo betrachtete sie: ein eingetrockneter, gewichtsloser Kokon. Er lauschte in das gedämpfte Licht hinein – ein Schein, der fast dunkel war. Er konnte die Männer in ihren Träumen atmen hören. Planetenträume. Wil-
de Flüsse der Erde und Kumuluswolken über grünen Inseln dahinziehend, Inseln, umgeben von silberblauem Meer ... Verbrannte, staubige Ebenen, ausgestreckt vor lunaren Kratern, die Ränder der Krater gegen die schwarze Raumnacht abgesetzt ... Rötliche Träume vom Mars, wenn die Flechten auf den Feldern blühten und Kinder in ihren Luftanzügen über die tektischen Erhebungen streiften, nach Rubinen suchend ... Mars, Mond, Erde. Sie schliefen, diese Planetenmänner, in einem frostigen Tank im Raum. Avo sah nochmals auf die leere Schlafstelle. »Dummer Erdenmensch«, flüsterte er. »Es tut mir leid, daß du tot bist.« Seine Stimme erstaunte ihn. Sie war wie der schnarchende Atem der Schlafenden. Tassmor, dachte er. Du wußtest alles! Captain, Manager, Navigator. Du warst immer noch ein Erdenmensch. Avo dachte nach in dieser Nacht. Er wußte, daß er keinen Schlaf finden konnte. Er sah auf seinen Chronometer; drei Stunden und zwölf Minuten bis zum Wecken bevor sich der Tag auf Tag umstellte. Tassmor würde nie mehr erwachen. Sechzehn Tage waren sie schon so dahingeschwebt seit der Explosion und dem Bruch der Plattform. Sie hatten alle genügend Zeit, zurück zum Haus oder zum Kommandantenmodul im Ingenieurlingo zu kommen. Der Bruch dauerte fünf Tage. Unwiderrufliche Zerstörung. Ein Maschinengewirr im Wert von Billionen in Stücke gerissen, eine Million Tonnen Wasser, eine Million Tonnen ausgesuchter Metalle, meist Chrom, weiß Gott wieviel Wert. Es war das totale Desaster. Glück nur, daß niemand direkt getötet wurde.
Tassmor war am vierten Tag gestorben, draußen im Raum in seinem Raumanzug. Er überwachte gerade Avo und Hennings, als sie eine riesige Sektion von Aufbauten abtrennten, die drohte, sie durch einen unkontrollierten Abweichkurs weiterdrehen zu lassen. Tassmor hätte nicht draußen sein sollen. Es war die Aktion eines Erdenmenschen, eine Zurschaustellung des dynamischen Menschen in völliger Beherrschung des Unglücks. Tassmor hatte es nach dem Abenteuer im Raum gedürstet. Er hätte im Haus bleiben sollen oder aber, in seiner Eigenschaft als Ingenieur, in seinem Kommandomodul. Für jeden Raumfahrer war es das Haus. Tassmor war herausgekommen, um Avos Abenteuer mitzuerleben. Erster Schiffsoffizier und einziger marsianischer Navigator; Avo, mit dreiundzwanzig Jahren bereits im Raum, zehn Jahre auf den Eisschiffen zum Saturn, Avo und Hennings, ein Nachwuchsmann vom Mond, mußten das herabhängende Stück der Überbauten mit Laserstrahlen abschneiden. Es war ein ungeheueres Ereignis für Tassmor. Was für eine Geschichte, die man den Erdenmenschen nach der Rettung erzählen konnte, nachdem er sich auf die rollenden Hügel von Virginia zurückgezogen hatte. Tassmor hatte die Rettung schon ausgeklügelt als die g-Kraft des Gierens einen unvorhersehbaren zum Fragment der klug angelegten Maschine bekam, die daraufhin barst und ihm über dem Rücken zerbrach, ihn in seinem Raumanzug totdrückte gegen den Rumpf des Haustanks. Der Anzug platzte wie ein kleiner Ballon. Avo hatte Tassmor geraten, nicht herauszukommen. Er war ein Mann zuviel für diese Arbeit. Aber Tassmor war so-
wohl Captain wie auch Manager. Das war ein Teil der Erdmenschen-Mystik, die die Eigner der Vereinigten Minenplattform schufen. Ein Captain war immer ein Erdenmensch. Keinem Marsianer war je das Kommando über einen Minenkomplex übertragen worden, und so würde es auch in Zukunft sein, wenn man den gegenwärtigen Stand der Politik betrachtete. Mars hatte jetzt zwei abtrünnige Kolonien. Zwei unabhängige Städte, die außerhalb der Autorität der konstitutionellen Regierung errichtet wurden. Die drei anerkannten MarsStadtstaaten, Marsport, Crater, Vostokgrad, wollten ihren autonomen Status nicht aufgeben. Sie waren tatsächlich nicht in der Lage zu erkennen, daß die Rebellenkolonien nukleare Raketenkapazität besaßen sowie eigene Stützpunkte und weitreichende Unterstützung von anderen Raumern nah und fern. Die erste unabhängige Kolonie, genannt Vandis und Nova-Mars-Gemeinde, hatte sich eines Winters erhoben, und zwar ganz überraschend für die Erde. Der historische Vorgänger war jedoch klar und bekannt, und die Überraschung diente nur dazu, zu beweisen, wie weit die Erde von der Mars-Realität entfernt war und von den potentiellen Reichtümern, die in den vergangenen fünfzig Jahren von den Asteroiden-Minen gekommen waren. In diesem Jahr hatte die erste neue Kolonie einen eigenen Brüterreaktor gebaut, eine eigene Glasfabrik, eine eigene Agrarkultur. Sie machten gute Verträge mit unreellen Minern und arrangierten, daß ihr eigener nuklearer Abfall zu einer Planetenbahn draußen in den Felsen des Asteroidenraumes gebracht wurde. Die Embargos, Boykotte und Beschränkungen der
Erde verweigerten ihnen das Recht, nukleare Abfallprodukte zu den Mondindustrien zu schaffen. Der Mond tat, was die Erde entschied. Aber Mars war eine andere Geschichte. Die zweite Rebellenkolonie hatte sich im folgenden Frühling erhoben, in der südlichen Hemisphäre, und das wurde noch nicht einmal zur Erde gemeldet. Es hatte keinen Namen. Es existierte jedoch eine richtige Rebellenstadt, gegründet von abtrünnigen Russen und Piraten eines Kaperschiffes aus Amerika. Die beiden waren natürliche, historische Verbündete; die Russen waren kalkulierende Wissenschaftler, langsam aber sicher in ihren Methoden und Plänen auf lange Sicht; die amerikanischen Piraten unberechenbar, wagemutig und reich an aus dem Raum erbeuteten Schätzen. Beide schwelgten in Intrigen und der Zurschaustellung von Waffen nach außen hin. Die südliche Marshemisphäre war im Grunde genommen unbewohnt. Nur ein paar isolierte Wetterstationen oder wissenschaftliche Teams von der Erde existierten hier. Die Piratenstadt verfügte über ein solch furchterregendes Machtpotential, daß viele Gerüchte über einen bewaffneten Erd-Expeditionsverband kursierten. Aber das waren Gerüchte. Die Erde war weit und die abtrünnigen Kolonien noch relativ klein. Avo riß den Reißverschluß seines Schlafsacks auf und bewegte sich schwerelos zum Operationsdeck. Der Robotpilot überwachte ihre Position und die Überlebenssysteme. Alle anderen Funktionen waren erstorben. Sie konnten Mikrowellen senden, aber nicht empfangen. Ihr Notsignal wurde überall im Raum
gehört, aber die Rettung würde lange auf sich warten lassen, trotz Tassmors Plänen. Diese Pläne hatten bereits die übriggebliebenen Menschenleben an Bord aufs Spiel gesetzt. Das sich drehende Wrackteil, das Tassmor getötet hatte, hatte auch die Hochleistungsantenne weggerissen. Avo und Hennings hatten am siebten Tag ein Sendesystem montiert. Aber bis jetzt hatten sie noch keinen Empfang. Und das bei dieser in allen Raumtechniken so fortschrittlichen Mannschaft. Sechs waren Minenarbeiter aus der NATO-Gruppe, alle Erdenmenschen mit Fotos von Frauen und Kindern und Großeltern, in Plastikrahmen gepreßt. Gute Arbeiter, ehrenwerte Männer, die große Geldsummen zur Erde schickten. Zwei waren Amerikaner, jung, gesund, unermüdlich und dazu bestimmt, Marsianer zu werden, sobald ihre Visa geklärt waren. Die beiden anderen waren Mondmenschen, die es nicht ausstehen konnten, Moonies oder Lunies oder, am schlimmsten, Mooner genannt zu werden. Das lief darauf hinaus, daß man sie entweder Mondmensch nannte oder mit ihnen kämpfte, mit diesen Gecken. Fantastische Felsminer waren sie, ausgezeichnet im Umgang mit Sprengstoffen, natürliche Raumfahrer, die ruhig waren, kreditwürdig, und nicht sehr interessiert an Mars oder Erde. Und da war Avo ... Erster Offizier und Navigator, der eine und einzige Marsianer, der sehr bald zu einem Deserteur werden sollte. Es gab keinen anderen Weg. Tassmor hatte sie in ein Rettungsschema gepreßt, das angefüllt war mit irdischer Logik. Und dies war äußerster Raum, die äußerste Ecke des Asteroidengürtels. Mars stand genau gegenüber auf der entfernten Seite seiner Um-
laufbahn, relativ zu jener Position gesehen, die der Haustank innehatte. Es gab sechzehn andere Minenplattformen im All, alle, bis auf eine, nach Kobald und Uran schürfend, in den dichten Felsenfeldern von Sektor 440. Der andere Miner wäre eine geringe Chance gewesen, wenn der Schaden an ihrem eigenen Komplex bescheiden gewesen wäre, aber es war ein sehr großes Unglück gewesen. Die Maschine hatte Totalschaden, und es war Glück, nur Glück, daß sie ohne weitere Tote davongekommen waren. Sie konnten den nächsten Miner ohne Antriebskraft und Radarempfang nie erreichen. Von Avos durch das All geprägtem Blickpunkt gab es nur einen Ausweg. Er würde desertieren müssen, und er würde es jetzt tun müssen. Wenn er es nicht tat, würde er ein toter Mann in einem hohlen, frostbedeckten Tank werden, der mit zehn anderen toten Männern durch die Felsen trieb, alle sorgsam in ihre Schlafsäcke eingehüllt. Avo warf einen langen letzten Blick auf den letzten Anleitungsbogen und markierte sich im Gehirn wie in einem Logbuch die Positionskoordinaten des AllSystems. Zur Zeit schliefen die anderen. Er schwebte zum Ausrüstungsdeck und zog seinen Skaphander an, öffnete dann die innere Luke, stieg hinein, schloß sie wieder und drückte die Vakuumpumpe. Das äußere Schott sprang auf, und er zog sich selbst in den weiten Raum hinaus. Ein dreißig Fuß großer, für alle Zwecke gedachter Minischlepper war am Rumpf des frostigen Haustanks befestigt. Er löste das Band und stieß sich ab, kletterte hinauf auf die Blase des Springsitzes und öffnete sie. Als er vor dem Cockpit saß, zog er die Blase herunter und aktivierte die Luft-
pumpe. Als der Druck sich ausglich, nahm er seinen Raumhelm ab und begann sein langsames, ruhiges Treiben, weg vom Tank, in Richtung des Lebens und der Freiheit. Wenn dieser erste Schachzug erfolgreich verlief, würde er das Desaster überleben und vielleicht, Guter Raum, vielleicht das Leben der Männer retten, die er zurückließ. Der Minischlepper wurde von Wasserstoff angetrieben, der unter großem Druck in CryogenicBehältern aufbewahrt wurde. Eine kleine Turbine, die von dem gleichen ausdehnbaren Gassystem gespeist wurde, gab die nötige Energie, um die Generatoren anzutreiben, die die Elektrizität spendeten, die notwendig war, das Raumschiff zu steuern und ihm Leben zu geben. Es war kein Fahrzeug für größere Entfernungen. Seine Luft- und Antriebssysteme waren begrenzt, geplant für Arbeiten in der Nähe der Minenplattform. Sie dienten auch als gelegentliche Rettungsboote, aber nur für einen Mann. Es gab zwölf davon auf der Plattform, gemäß den Vorschriften, obwohl es selten geschah, daß mehr als zwei oder drei gleichzeitig benutzt wurden; Plattform-Katastrophen waren nicht vorgesehen. Avo trudelte mit dem silbrigen Raumfahrzeug herum und glitt achtern des glitzernden Haustanks davon. Drei Tagesreisen zurück im Raum existierte eine Astrogationsboje. Wenn er sie erreichte, würde sein Schachzug gelingen. Jede Raumboje besaß AllSystem-Verbindungen an Bord, ebenso wie Notluftversorgung, Essen und Wasser. Das war eine Vorschrift, eine Voraussicht, wie sie selten in Systemen anzutreffen war, die von Planetgebundenen für Män-
ner geplant wurden, die im All lebten und starben. Wieder schaute er auf seinen Chronometer. In zweieinhalb Stunden würden die Taglichter aufflammen, und die schlafenden Männer würden aus ihren Nachtkokons heraussteigen und seine Abwesenheit entdecken. Sie würden ihn – einige von ihnen – wegen der Desertation verfluchen. Vielleicht würde Hennings, der moonie Felsenjäger, es besser kapieren, was geschehen war. Vielleicht Pardee, der raumerfahrene Mechaniker aus Oklahoma, vielleicht würde er es verstehen. Die anderen würden sich auf die Rettung von einem der Planeten verlassen, obwohl Erde und Mars zu weit entfernt waren. Sie würden es einen Monat oder so glauben, bis einer nach dem anderen sein Leben aushauchte, aus Verzweiflung, durch eine Tablette oder durch qualvollen Erstickungstod. Selbst ein dreihundert Fuß großer, glitzernder weißer Tank konnte zwischen den Felsen verschwinden. Als er dahingetrieben und weit genug weg war, zündete Avo die Hydrogendüsen, und der klobige Zylinder mit der Blase am oberen Ende raste hinein in den dunklen Raum. Drei Tage würden zeigen ob er ein Deserteur oder ein Ordenträger war. Wenn er überlebte und sie starben, würde er nie wieder einen Posten auf einem Miner der Föderation bekommen, nie wieder willkommen sein auf irgendeinem NATORaumschiff. In Augenblicken extremer lebensbedrohender Situationen erwartete man von einem Raumfahrer, daß er sein Leben vorrangig rettete. Das war Gesetz und Ethik. Er würde nicht kritisiert werden, wenn er die Explosion und die Zerstörung überlebte, während die
anderen untergingen; ein Mann, ein Rettungsboot. Man würde ihn jedoch auch nicht gerade ehren für seine Handlungsweise, und er würde nie mehr auf einem Regierungsschiff ins All zurückkehren. Wenn die anderen mich und nicht die Mannschaft einsammeln, dachte er, werde ich zu den Rebellen überlaufen müssen, falls ich nicht auf Mars bleibe. Eigentlich habe ich dort nicht viel zu tun. Eine Untauglichkeitsforderung stellen oder so. Sein Gehirn schätzte relative Werte ab. Ich müßte Rebell werden, gesetzt den Fall, sie akzeptieren mich. Die abtrünnigen Ruskies würden mich sicher einstellen – das ist klar. Ein Navigator mit meiner Raumerfahrung, meinem Fahrtenrekord würde Topkredite erhalten. Er mochte Ruskies im All. Gute Schachfiguren, keine, die sich beklagten. Und doch war Avo im Netz seiner eigenen Geschichte verstrickt. Er war ein mondgeborenes Kind von fünf Jahren, als seine Eltern Moonport Tycho auf einem der ersten Kolonistenschiffen zum Mars verließen. Sein Urgroßvater war Mondgeologe gewesen, sein Großvater Astrophysiker in der ersten Mondkolonie, seine Großmutter Botanikerin. Das Gewebe der Vergangenheit band ihn im gewissen Sinn an die unendlichen Regionen dunklen Raumes und die Planetenexpansion. Erste Mondkolonie, mondgeboren, Marskolonie-Kind, Raumnavigator vom frühesten Erwachsensein; mit Zweiundzwanzig Handlanger im Raum auf der ersten Eisexpedition zu den Ringen des Saturn, als raumfahrende Marsianer bewiesen hatten, daß Eis von der Masse eines Ozeans transportierbar, nutzbar zu machen war. Dieses Vorkommnis hatte
die Nabelschnur zur Erde endgültig zerschnitten. Wenn sein Unternehmen fehlschlug, die MinerMannschaft heim zum Mars zu bringen, würde er sein Leben planetengebunden oder als Navigator für Freibeuter beschließen. Avo justierte den Monitor zurück auf den Haustank und beobachtete, wie er sich immer weiter entfernte. »Kein Weg«, sagte er. »Unmöglich, diesen Tank vor vielleicht nächstem Jahr wiederzufinden.« Die Nachricht von der Explosion hatte zweifellos große Aufregung in den föderierten Hauptquartieren auf Marsport und persönliche Betroffenheit, Schmerz und Kummer in Crater hervorgerufen. Er wußte, daß die NATO-Rettungseinheiten die Asteroiden mittels Radar abtasteten, aber aus sehr großer Entfernung. Der Ausfall einer Billion Dollar wertvollen Raumanlage würde die Abendnachrichten für ein paar Tage auf Mond und Erde füttern. Konsulate würden Informationen austauschen sowie Mannschaftslisten und Lastenpotential. Der tonnenweise Chrom-Verlust in unbekannter Höhe würde die Mägen der Direktoren der Föderation umdrehen. Nachforschungen waren wohl bereits bis hin zu vorbereiteten Statements gediehen. Theorien über die Natur der Katastrophe würden per Mikrowellen zwischen Mars, Mond und Erde hin und her laufen. Aber bis zum jetzigen Zeitpunkt war wahrscheinlich noch sehr wenig zu ihrer Rettung unternommen worden. Noch nicht. Sie waren alle so weit weg. Aber die Astrogationsboje lag genau geradeaus, irgendwo in den Felsen. Er fragte die Koordinaten aus dem Astro-Computer ab und öffnete das AllSystemführer-Kommunikatorband für einen kurzen
Impuls. »Das Pech mit Minischleppern ist, daß sie nur für Arbeiten nahe der Plattform bestimmt sind. Die Mikrowelleneinheiten haben nur begrenzte Reichweite. Die Empfänger sind zu klein und reagieren nur auf Richtimpulse.« Avo machte sich eine Notiz, um alles den Untersuchungskommissionen melden zu können. Falls er je mit ihnen sprechen würde. Die Minischlepper konnten einen Mann fünf Tage lang am Leben erhalten. Die Raumboje verlängerte die Frist um eine weitere Woche, vielleicht sogar um zwei. Es hing von den unabhängigen Raumfahrern ab, ob er am Leben blieb oder nicht. Von den abtrünnigen Russen und ihren freibeuterischen amerikanischen Finanziers. Dieser Asteroidenbereich war sehr mit Chrom gesegnet. Sicherlich streifte irgendwo ein Pirat umher; sicher arbeitete irgendwo in den Felsgebirgen eine ihrer wilden Minen. Sie waren alle auf die Wellenlänge der Bojen eingepegelt, die von der Regierung ausgesetzt und unterhalten wurden. Jedermann hatte das Recht, ein Raumschiff zu steuern – astrogieren nannten sie das jetzt. Jedermann hatte das Recht, im Raum zu überleben. Er würde alle Rettungsmannschaften heranrufen, die er benötigte. Wenn er sie nur aufspüren konnte und sie ihn erreichen würden. Avo stellte die Impulsgeneratorsequenz auf den Antriebsrobot ein, fuhr den Antennenmast aus und gab seine Steuerkoordinaten in den Piloten ein. Er wußte, daß er die Boje finden würde, übermorgen. Er kletterte aus dem von der Blase überspannten runden Cockpit und begab sich nach unten in den Haustank des winzigen Schleppers. Er berührte das Beleuchtungspaneel; weiches, dunstiges Licht
flammte auf, und Avo breitete den Schlafsack aus. Er würde in seinem Skaphander schlafen, behielt den Helm in Reichweite; zu viele Minischlepper erlitten plötzliche Lecks und Druckminderungen für den Luxus nackten Schlafes. Er schlüpfte in den Schlafsack und lehnte sich schwebend zurück, entspannte sich mittels Raumfahrermethodik, atmete langsam ein und aus und trieb dabei die Spannungen aus seinem Körper, entspannte zuerst die Füße, arbeitete sich dann hoch, übermittelte dabei seinen Muskeln den Rat, damit aufzuhören, das zu tun, was Spannungen verursachte; Knie, Genitalien, Unterleib, Brustkorb, Nacken und Rükken. Er fiel bald in Halbschlaf. Sein Körper wurde ihm die Ruhe danken. Sein Geist jedoch befand sich noch in Aufruhr infolge seiner Entscheidung, die anderen zurückzulassen. Er war die ganze Angelegenheit mit seiner einzigartigen marsianischen Logik angegangen. Er war der Einzige, der die Fähigkeiten in sich vereinte, einen schwerfälligen Minischlepper über Tage hinweg im Raum zu steuern und eine Astrogationsboje aufzuspüren, die sich, nur fünfzig Fuß groß, inmitten einer Masse von Asteroidengestein verbarg. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war er ranghöchster Offizier und stellvertretender Captain gewesen. Der Entschluß war korrekt. Er hatte nicht jene Art von Gruppenzustimmung benötigt, die bei den Erdenmenschen so gebräuchlich war. Er stellte sich den beschädigten Haustank vor und wußte, daß die Männer nun erwacht waren, ihn zweifellos verfluchen und die Furcht in ihrem Inneren niederkämpften. Die vielleicht verstanden, was er
getan hatte. Der Halbschlaf ließ ihn ruhig werden. Er sah den positiven Pol seines Plans und hob ihn in den Vordergrund, ließ die Zweifel hinter sich. Er würde seine Mannschaft retten. Er würde sich vom All erholen danach, und sich für eine Weile auf den Mars zurückziehen. Vielleicht würde er auch zur Erde gehen und für ein paar Jahre Geschichte studieren. Geschichte war seine Leidenschaft. Die langen Jahre im All hatten ihm reichlich Zeit gelassen, die MikrofilmBänder von A bis Z durchzulesen. Aber Bücher! Richtige Bücher in einer Universitätsbibliothek oder einer Vereinigung oder sogar einer Stadt. Das war sein Traum, seit jenen Zeiten, als er noch mit Eisfrachten zwischen den Saturnringen pendelte. Nach der Rettung und den Untersuchungen auf Mars würde er sich für einige Zeit ein Visa zur Erde besorgen. An Krediten war er reich genug. Von der Erde kursierten in Raumfahrerkreisen befremdliche Gerüchte. Man sagte, sie sei ein dreckiger Ort, und man könnte sich unaussprechliche Krankheiten dort einhandeln; manche davon ließen die Lungen schwarz, die Haut faulig und das Haar spröde werden, bis es ausfiel. Avo war nie auf der Erde gewesen. Er hatte den Mond mit fünf Jahren verlassen und konnte sich kaum noch an die blau-weiße Murmel im Himmel erinnern. Er hatte gehört, daß die Luft auf der Erde so dick sein sollte, daß man in ihr ertrinken konnte, so dick, daß man nicht durch sie hindurchzublicken vermochte, und daß Wasser vom Himmel herabfiel, manchmal ganze Tage lang, ohne Ende. Letzteres
konnte er nicht wirklich glauben. Aber er hatte in seinem Leben auch noch nie einen Ozean, einen Dschungel oder einen Fluß gesehen. Im Verbund gab es mehr als nur das All. Nach der Rettung würde er zur Erde gehen. Er würde Pardee in Oklahoma besuchen und auf Pferden reiten. Er würde in Geschichtsbüchern lesen, bis ihm die Augen herausfielen. Er wußte, daß Marsianer auf der Erde selten waren. Sechs Billionen Erdenmenschen und nur 152.000 Marsianer insgesamt, und weniger als tausend unten auf der Erde. Pardee hatte ihm erzählt, daß die Gewöhnung an Erdschwerkraft nur eine Frage des an sich Arbeitens sei ... Er würde Calcium einnehmen müssen, um die Knochenstruktur zu stärken, und jeden Tag laufen. »Nur hundert Yards in der ersten Woche«, hatte Pardee ihm gesagt, »zweihundert in der zweiten Woche, dann vierhundert und immer mehr. Am Ende der sechsten Woche wirst du eine Meile am Tag laufen. Höllengürtel! Die meisten Erdmenschen tun das nicht! Dann trainierst du mit Gewichten für die folgenden sechs Monate, besonders an den Beinen. Du wirst es schaffen. Du kommst zu uns nach Oklahoma, und Pa und ich werden dich die Seele aus dem Leib schuften lassen auf unserer Ranch. Wir haben eine Viehherde und Pferde und Heu zu wenden und Gerste zu schneiden. Scheißdreck. Du kommst einfach zur Erde herunter und zu mir. Bei uns kannst du dir ein Heim schaffen!« Nun war Pardee in einem frostigen, stählernen Haustank gefangen, mit sechs NATOs und zwei Moonies und einem anderen Ami; die sich wiegenden Heufelder waren so weit weg. Vielleicht, sobald er unten auf der Erde war,
träumte Avo, würde er ein paar Erdenmädchen finden, die er mit zum Mars nehmen konnte. Es gab sie in allen Größen, Arten und Farben da unten. Er wußte von einem Krater, hundert Meilen von Vandis entfernt, der Nova-Mars-Kolonie, genau südlich der äußersten Ausläufer des Nordpolarkaps, wo ein großes Eisfeld von den Schatten geschützt wurde. Der Krater war vielleicht sechs Meilen im Durchmesser, eine Wand zerfallen und im Mittelpunkt ein flaches Bassin, angefüllt mit gutem Glassand. Im Sommer, wenn der Pol zur Sonne zeigte, zerschmolz genügend Eis, um eine Flechtenblüte zu nähren, die das Becken mit einem sechs bis zehn Zentimeter tiefen, roten und purpurnen Teppich überzog. Er konnte unabhängig werden, sich weder den Rebellen zuwenden, noch zur Regierung gehen, ein paar Kuppeln mit seinen Erdfrauen erstellen und von seiner Pension leben und Geschichte studieren. Seine Frauen konnten eine Glasfabrik aufbauen, und sie würden ihre eigenen Treibhäuser errichten und ihre eigenen Tassen und Teller herstellen. Das Eisfeld würde ihnen Wasser spenden, sie würden Energie durch Reduktion zu Wasserstoff gewinnen, und mit dem freiwerdenden Sauerstoff würden sie ihre eigene Atemluft produzieren. Das war marsianische Denkweise, der Traum eines jeden traditionellen Raumfahrers vom Mars. Sein Gehirn war der Schlafgrenze nahe. Er verfiel in Planetenträume, sah plumpe, lächelnde, langhaarige Mädchen von der Erde. Avo schlief den ganzen zweiten Tag durch. Es gab keinen Grund für ihn, wach zu sein. Der Robotpilot hielt das Fahrzeug auf Kurs und Geschwindigkeit.
Der Schlaf heilte Avo und erholte sein Gehirn. Am dritten Tag wachte er auf und streckte sich aus dem Schlafsack. Er schwebte hoch ins Cockpit und überprüfte die Datenmonitore. Ein breites Lächeln huschte über sein Gesicht. Da war das Bojensignal, stark und unfehlbar! Er errechnete zwölf Stunden Fahrzeit, bis er das Kopplungsmanöver einleiten und andocken mußte. Die Anpassung an die Eigengeschwindigkeit der Boje würde knifflig werden; dreiundzwanzig Jahre, die er auf Raumschiffen zugebracht hatte, und jetzt würde er seine Karriere vielleicht mit einem Minischlepper und einer Raumboje beschließen. Hätten die Schlepper bessere Kommunikationskanäle besessen, wäre es ihm in der Zwischenzeit vielleicht schon gelungen, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Zweimal in der Vergangenheit hatte er bei Rettungsmanövern mitgewirkt: einmal bei einem Piraten mit Kraftstoffproblemen, und einmal bei einem Ruskiepiraten, der einem Meteorbeschuß ausgesetzt gewesen war. Beide Male hatte es nicht gestört, daß sie nicht der Föderation angehörten. In der siebten Stunde begann Avo zu bremsen, in der zehnten hatte er Sichtkontakt mit dem rotblinkenden Strobuslicht, in der zwölften begann er, seine Geschwindigkeit der Boje anzugleichen und traf auf. Als er auf gleicher Höhe mit der Boje war, schloß er seinen Helm und die Luke des Haustanks und setzte sich ins Vakuum draußen ab. Er ließ die Blasenkuppel hinter sich und trieb in den Raum hinaus. Er war etwa hundert Yards unter der Boje. Er hatte den Schlepper dort plaziert, um die Langstrecken-
Mikrowellenstrahlen nicht zu unterbrechen. Er stieß sich ab und schwebte zur Boje, hielt sich an einem Ring. Er hatte es halb geschafft. Nun konnte er die Daten über die Katastrophe aussenden, die Koordinaten des Haustanks, die Namen der Überlebenden. Es schmerzte ihn, daß er Tassmor nicht in die Liste einbeziehen konnte. Er fand die Service-Luke und öffnete sie. Das Innere war mit Lichtern und elektrischem Summen belebt. Die Rettungsbemühungen nahmen drei Wochen in Anspruch. Avo wartete acht Tage lang auf der Boje, ehe ein Schürfer kam und ihn aufnahm. Das SchürfSchiff war nicht groß genug um die anderen Mannschaftsmitglieder unterzubringen und sowieso auf Marskurs gerichtet. Avo bedauerte es, daß er nicht zum Haustank zurückkehren konnte, um seine Kameraden aufzunehmen. Eine umherstreifende Minenplattform einer Rebellenkolonie legte viereinhalb Millionen Meilen zurück, um die Männer an Bord zu nehmen. Und es dauerte vier Monate, bis sie auf ein NATO-Patrouillenschiff umsteigen konnten und zum Mars hinuntergebracht wurden. Avo wartete auf sie, sobald sie Boden unter die Füße bekamen. Schon lange vorher hatte er seinen Report abgeliefert und bei den Voruntersuchungen ausgesagt. Nun, da die anderen unten waren, würde er es noch einmal tun müssen. Die dünnen klaren Marswinde trieben rote Staubwolken über das Landefeld. Das Schiff senkte sich anmutig herab, die großen, beweglichen Flügel weit ausgestreckt. Die Landung war perfekt.
Avo wartete, bis das Schiff in den Hangar einfuhr, ging dann über das Rollfeld und schob seine, aus einer Titanlegierung bestehende Kreditmarke durch das Robotsicherheitstor. Er fand einen guten Beobachtungsplatz hinter den Video-Leuten. Die oberen Luken wurden geöffnet, und die Männer kamen die Rampe herunter. Die Video-Reporter stürzten sich augenblicklich auf die überraschende Nachricht ... nur acht von zehn waren zurückgekehrt! Die zwei Moonies hatten ihre Verträge sausenlassen und auf der Rebellenplattform angeheuert, deren Mannschaft sie gerettet hatte! Der Kommandant des NATO-Patrouillenschiffes hatte diesen Vorfall in verschlüsselten Botschaften zur Erde durchgegeben, hatte jedoch nicht den Statuswechsel über die normalen Kommunikatoren gesendet. Hennings und Dasco hatten ihre MondStaatsangehörigkeit verwirkt, ebenso ihre Bankkredite und waren Rebellen geworden! Avo fühlte die Aufregung wie eine heiße Welle. Die neue Kolonie suchte dringend nach fertig ausgebildeten Raumfahrern für ihr Minenraumschiff. Die Moonies waren hervorragend für diesen Job geeignet; junge Männer, ohne Frauen und Kinder und mit zu wenig Geld auf der Bank, um vom Absprung abgehalten zu werden. Die Anstrengungen der Rebellenminer hatten von der Katastrophe enorm profitiert. Eine reiche ChromQuelle war nun lokalisiert; ihre eigene Plattform beutete nun diesen Sektor aus, und dazu hatten sie noch zwei Abbruch-Experten mit Erfahrung und Ingenieurgraden für sich gewonnen. Avo war mehr als nur interessiert an der neuen Kolonie, er war über-
wältigt von ihren Reichtümern und ihrem Geist. Er würde die ganze Geschichte von den beiden Amis, Pardee und Rander, erfahren. Er sah Pardees strahlend blaue Augen und sein glückliches Gesicht. Die Video-Mannschaften machten aus der Landung eine Riesensensation. Die Neuigkeiten würden sich ohne Verzögerung zur Erde und zum Mond verbreiten. Das Zusammentreffen der Überlebenden der Raumkatastrophe mit dem Marsianer, der einen Minischlepper drei Tage im Raum manövriert, genau ihre Position angegeben und dadurch ihre Rettung bewirkt hatte! Das war zuviel für die Vorstellungskraft derer, die auf festem Boden lebten – selbst für jene vom Mars! Die Story würde über zwei Billionen Videoschirme flimmern und die Seiten der Zeitungen füllen. Sie würde auch in Mikrofilmbändern gespeichert werden, das Geschwätz in Konferenzzimmern und Planungslabors der Staatsbehörde schüren, Konsulate und Gouverneure beschäftigen. Die Rettung war von Rebellen bewerkstelligt worden. Zwei ansonsten verläßliche, auf ihrem Gebiet hervorragende Raumarbeiter hatten ihre Verträge gekündigt. Die daraus resultierenden Verwicklungen waren zu kompliziert für eine sofortige Analyse. Avo, Rander und Pardee reisten in einem komfortablen Touringfahrzeug der Staatsbehörde zurück nach Marsport. Das weitreichende Feld von Ferroglaskuppeln tanzte im pinkfarbenen Dunst über dem Kraterboden. Die Korporation setzte sie im Dunes Hotel ab, und Anwälte und Rechtsschlichter wollten unermüdlich weitere Details über das Unglück aus ihnen herauspressen. Avo spulte seine Version wieder
und wieder ab, aber von seiner Natur her war er ein Marsianer, der wenig redete und noch weniger spekulierte. Die Untersuchungskommission würde sich an die geschwätzigen Amis halten müssen. Die Mannschaftsmitglieder der NATO wurden zum NATO-Dorf gebracht, wie es jeder vermutet hatte, da die NATOs eine straffe Sicherheitsgruppe waren, straffer als selbst die Russen unten in Vostokgrad. Die Video-Crew liebte die sechs lächelnden NATOs mit ihren markanten Gesichtern und den symmetrischen, muskulösen Körpern, und besonders mochten sie die Fotos, die die NATOs von Kindern und Großeltern, Frauen und Neffen unten auf der Erde in Plastikrahmen herumreichten. Es gab wenig alleinstehende Marsmädchen in dieser Geschäfts- und Bürokratiestadt, aber die meisten von ihnen zog es an diesem Wochenende zum NATO-Dorf hinaus. Über ein Hundert Hände kamen für eine Woche an Bord eines Patrouillenschiffes zum Boden herunter. Die kühle, schwache Sonne versank rötlich im lachsfarbenen Abendhimmel. »Schade«, sage Pardee. »Rander und ich wären auch abgehauen, nur hatten wir schon die Marsvisa bekommen. Ich hätte es nicht mit ansehen können, wie die Gelder auf meinem Konto für alle Zeit verloren gegangen wären, aber laß dir sagen, ich werde lange, lange darüber nachgrübeln.« Die drei Männer saßen in der Gartenbar auf der vierten Terrasse des Hotels. Es war eines der höchsten Gebäude unter der Kuppel und sie hatten von den Fenstern eine gute Aussicht auf die Gartenregion der Staatsbehörde. Sie brauchten nicht lange, sich einen anzutrinken. Pardee und Rander hatten schon
seit gut einem Jahr nichts mehr getrunken. Avo rauchte schwarze Flechte und trank teuren Tequila, der aus Mexiko importiert wurde. »Weißt du, wir haben darüber nachgedacht«, fügte Rander hinzu. »Wir müssen es aber für uns behalten, klar. Wir wissen nicht, was bei der Untersuchung herauskommt. Die Korporation ist durch die Explosion angeschmiert worden.« »Ja, dieser Punkt ist eine Variable«, sagte Pardee. »Die Staatsbehörde hat keine Ahnung, was da in der Schwebe ist, verstehst du? Die NATOs sind strengstens abgesondert worden. Mit uns konnten sie das nicht machen, weil wir Amis sind, aber wir waren für vier Monate an Bord der Rebellenplattform, bevor uns die Patrouille auflas. Du kannst es glauben, diese Rebellen haben sich da was aufgebaut! Was Bergbau im All betrifft! Die Arbeiter erhalten einen Anteil von der Tonnage, die eingesammelt wird, und einen Anteil am eingeschmolzenen Erz. Außerdem, Avo, mein Freund, haben wir gesehen, wie sie einen Asteroiden gesprengt haben, einen Asteroiden, sage ich dir, zweimal so groß, wie wir ihn angerührt hätten, und dann haben sie jeden Krümel abgebaut.« »Wir wollten in unsere eigene Tasche arbeiten, während wir auf der Plattform waren«, sagte Rander, »aber sie erläuterten uns ihre politische Situation freundlich und einprägsam. Wir hatten eine VideoUnterredung mit einem ihrer Anwälte, der uns alles genau auseinandergesetzt hat. Er riet uns, nicht zu arbeiten, und der Captain dort oben meinte, wir sollten uns nichts daraus machen. Sie haben noch nicht mal einen unserer verdammten Kredite annehmen wollen! Aber den NATOs trauten sie überhaupt nicht,
wollten sie bei keiner ihrer Operationen zusehen lassen.« Der Rauch des schweren Flechtentabaks und die zwei Glas Tequila machten Avo wirr im Kopf. Er spürte ein Gefühl in sich, eine Euphorie, wie er sie nicht mehr seit seinem ersten phantastischen Expeditionsflug zu den Ringen erlebt hatte. Damals hatte es eine Revolution in der Raumfahrt bedeutet. Die erdverbundene wissenschaftliche Kontrolle des Mars war aufgelöst worden. Und so etwas passierte jetzt wieder. Subtiler vielleicht, aber eine neue Kraft brach sich Bahn. Sie kam von Vandis, der sich lossagenden Kolonie. Der folgende Morgen. Avo träumte. Er trieb durch den frostigen Tank, meilenweit durchdrungen von blauem Licht. Tassmors totes Gesicht geisterte durch die Eiswände. Er konnte Blut, das aus den zerplatzten Lungen des Erdenmenschen hochstieg, in den lächelnden Mundwinkeln gefrieren sehen. Er wachte auf und sah das zum Fenster hereinströmende Morgenlicht, fühlte das Bett unter sich, blickte auf die Pflanzen, die neben den Fenstern herabhingen. Plötzlich überkam ihn das Gefühl sehr hohen Alters, und er meinte, ein Knirschen in seinen Gelenken zu spüren, und er sah sich als etwas völlig anderes denn eine All-Berühmtheit und des Hauptthemas der Nachrichtensendungen und Zieles eifriger Glückwünschenden. Die Hotelbar war voll von händeschüttelnden Geschäftsleuten und Bürokraten. Ein Dutzend Mal ließen er und Pardee ihre Instamatic Fotoapparate klikken. Am Anfang hatte er die angebotenen Getränke
und die Pfeifen mit schwarzer Flechte genossen. Noch nie in seinem Leben hatte man ihm so große Aufmerksamkeit gezollt, aber er war zu sehr an den Raum gewöhnt, um das Ganze wirklich zu genießen; immer im All, nur mit einem kleinen Kuppelappartment in Sandyville nahe Crater, das sein planetares Heim verkörperte. Pardee sog das Spotlight in sich auf und nahm Avo etwas von der Unruhe, indem er ein halbes Dutzend seltener Erzählungen aus seiner Zeit auf der Rebellenplattform zum besten gab, von seiner Ranch in Oklahoma redete und von einer Delikatesse, die als Bergaustern bekannt war. Rander fing den Blick einer nicht übel aussehenden jungen Dame auf, die Urlaub von der äquatorialen Wetterstation machte. Sie brachen um Mitternacht auf. Avo und Pardee waren zu betrunken, um etwas mit einer Frau anfangen zu können, obwohl sich mehrere exotische Schönheiten an der Bar aufhielten. Avo dachte nun immer öfter, mehr und mehr, an Frauen. Morgenlicht drang in das Zimmer. Noch nie hatte er eine Nacht in solchem Luxus verbracht. Das Bett war breit und tief, mit weichen Laken und großen Kopfkissen. Ein riesiger Raum mit riesigen Fenstern und einem Balkon. »Das Leben der Oberen ist unvergleichlich süß«, murmelte er. »Kein Wunder, daß sie alle so geschniegelt aussehen, auf Hochglanz poliert. Jahrhunderte, zwischen weichen Laken verbracht, sind der Grund.« Er streckte sich. Die Marsschwerkraft zerrte an ihm und drückte ihn nach unten. Er mußte sich wieder an zum Boden strebende Dinge gewöhnen. Er stellte noch immer Dinge ganz einfach in die Luft, ein Glas
Wasser oder einen Füller, und war erstaunt, wenn sie zu Boden fielen. Selbst nach sechs Monaten auf dem Planeten, war er eigentlich immer noch im gewichtslosen Raum. Sechs Monate waren das Längste, was er in zwölf Jahren unten verbracht hatte. Sein Kopf brummte vom Tequila. Es war Zeit, neue Pläne zu entwerfen, irgend etwas, aber er konnte nicht denken, konnte sich für nichts entscheiden. Avo griff nach einer Ginseng-Vitamintablette, um sich von den Kopfschmerzen zu kurieren und fiel wieder bis Mittag in Schlaf. Das Videotelefon läutete. Avo wachte auf und aktivierte den Monitor. Es war Pardee. »Schwing' deine müden Glieder aus dem Bett, Spacer, und komm runter in die Sauna. Ich habe Neuigkeiten für dich.« »Was für Neuigkeiten?« murmelte Avo. »Ich stehe nicht auf.« »Kann ich dir am Telefon nicht erklären. Komm in die Sauna. Und komm gleich, es ist wichtig.« Avo hatte sein Zimmer eigentlich nicht verlassen wollen, doch der Hunger zwang ihn dazu. Auch die Sauna-Einladung klang verheißungsvoll, dazu die Wahrscheinlichkeit einer Erdmenschenintrige – beides barg genügend Motivation, um seinen Widerstand zu brechen. Er stand auf, fand einen sauberen Overall, stieg in seine Stiefel und ging hinaus zum Aufzug. Sauna und Trainingsbad waren im Erdgeschoß, auf der anderen Seite des Swimming Pools im Eukalyptusgarten untergebracht. Es gab nur drei Schwimmbäder in ganz Marsport, und an den Wochenenden waren sie ein beliebter Treffpunkt. Avo hatte dort am Sonntag herumlungern wollen, um ein paar junge
und alleinstehende Damen zu unterhalten. Er durchquerte das Foyer und trat hinaus in den duftenden Garten. Eukalyptus gedieh prächtig auf Mars. Pardee erwartete ihn bereits in einer Privatkabine. Avo duschte zuerst und stellte sich dann, in ein dikkes Velourshandtuch gehüllt, der 180-Grad-Hitze. Pardee hockte nackt am Strand und hielt sich den Kopf. »Die verdammte Flechte, die ich geraucht habe, hat meinen Kopf von hier bis Enceladus abgetötet. Setz dich, Bruder. Bist du bereit, einige Geschichten aufzunehmen?« Eigentlich war Avo nicht dazu bereit. Politik und Ränkespiele, die zwischen den drei bewohnten Welten betrieben wurden, hatten ihn nie wirklich interessiert. Pardee atmete tief. »Ich mußte dich hier sehen, weil ich dem hotelinternen Telefonsystem nicht über den Weg traue. Rander hat sich heute morgen mit jenem Meteorologen entzweit! Gestern nachmittag, sobald wir hier ankamen, rannte er sofort zur Bank und veranlaßte, daß alle seine Gelder hierher zum Mars transferiert wurden. Wie ich dir sagte, hatten wir beide bereits unsere Marsvisa in der Tasche. Heute morgen kommt also der Transfer, und Rander hebt alles ab, und er und das Mädchen machen 'ne Fliege ... Nach Vandis!« Avos Verstand kombinierte schnell. Der einzige, von hier erreichbare Ort war die neue Kolonie. »Er ist nach Vandis gegangen? Und was ist mit der Untersuchung?« Er merkte, daß die Frage dumm war. Rander hatte bestimmt andere Dinge im Sinn. »Es wird keine Untersuchung geben. Wenigstens nicht hier. Heute morgen hatte ich ein CBI-Team von der Erde auf meinem Zimmer; sie versuchten 'rauszu-
finden, ob ich auch daran dachte, abzuhauen. Ich mußte sie in ihre Schranken verweisen und auf meine Rechte beharren, um sie wieder loszuwerden. Die Korporation wird auf Sabotage klagen.« »Gegen wen?« fragte Avo sofort. »Das ist noch nicht 'raus. Die NATOs haben ihre Crew zum Mond zurückbeordert. Sie weigern sich, Interviews zu geben. Es könnte zu einem Spektakel zwischen Korporation und NATO kommen.« »Die hängen immer zusammen, irgendwie«, kalkulierte Avo. »Sie werden versuchen, der NMC in Vandis eins auszuwischen und sie für alles verantwortlich machen. Dann wird man die Embargos verstärken.« »Könnte gut sein, aber ich weiß es nicht, da ich mich normalerweise nicht für Politik interessiere. Aber es ist etwas am Laufen, und ich wollte dir sagen, was ich weiß.« »Der CBI kann nicht ohne Ziviljustizvollmacht verhören, und die werden sie nicht bekommen. Die Rechte von Mars-Raumfahrern sind schwer zu verletzen. Aber ich sollte doch noch einen Anwalt ausfindig machen, falls doch irgendwelche Belastungen auf mich zukommen – Pflichtversäumnis oder so. Die Wahrheit ist, daß ich nicht weiß, wodurch die erste Explosion ausgelöst wurde. Alles, was ich ihnen sagen konnte, bezog sich auf die Etappen der Zerstörung hinterher. Und auf Tassmors Tod.« »Hennings fertigte darüber einen Bericht für den NMC Manager. Da bist du also gut aus dem Schneider. Wenn du es verlangst wird er den Report verfügbar machen.« »Da ich einige Wochen hier unten war, wird wahr-
scheinlich keine Sorge bestehen, daß ich überlaufe. Ich bin sowieso in der Ersten Kolonie. Meine Marsbürgerschaft würde es dem CBI unmöglich machen, mich wegen etwas auszuliefern. Das einzig Dumme ist, daß ich ernsthaft einen Trip zur Erde ins Auge gefaßt hatte.« »Tatsächlich?« Pardee strahlte. »Hör zu, du mußt kommen und mich und meine Leute und alle besuchen.« »Ich hatte es vor. Ich wollte sehen, wie die Erde für mich ist. Verdammt wenige Marsianer sind je da unten gewesen. Ich dachte, ich könnte mich dort für ein paar Jahre niederlassen. Geschichte studieren, ein oder zwei Frauen finden.« »Frauen finden?« Pardee lachte. »Mann, du hast keine Ahnung, wieviel tausend Erdmädchen dich vorn Fleck weg heiraten würden, nur um später zum Mars zu kommen.« »Tausende?« Das verstand Avo nicht. »Tausende!« wiederholte Pardee. »Es ist unsere Mystik. Raumfahrer ähneln seltenen Vögeln. Ich kann dir nicht erklären, worauf die Faszination der meisten Erdmenschen bei Raumfahrern beruht. Selbst ein Plattformmechaniker wie ich übt sie aus.« »Ich wollte im All sein, seit ich sechs Jahre alt war. Ich hatte vor, die letzten Jahre hierher nach Mars zu kommen, mit Frau und Kindern. Hey, die besten Astrogations- und Pilotenschulen befinden sich heutzutage auf dem Mars. Mars ist die zukünftige Welt, so weit das All reicht. Du kommst mit mir nach Sandyville«, sagte Avo. »Wenn keine Verhöre stattfinden, brauchen wir hier auch nicht herumzuhängen. Dort unten kann ich dir
etwas vom wirklichen Mars zeigen. Ich habe dort eine Wohnung, und wir können in die Wüste hinausfahren. Laß uns heute noch die Gastfreundschaft der Korporation genießen. Ich möchte heute nachmittag ins Schwimmbad gehen. Morgen früh nehmen wir die Fähre nach Crater.« Sandyville war eine Raumfahrerenklave, in einer niedrigen Böschung versteckt, genau westlich von Crater. Avo und Pardee bestiegen die erste Morgenfähre und flogen die vierhundert Kilometer zur zweiten Marsstadt in einer halben Stunde. Crater war bevölkerungsreicher als Marsport, weil es ein Zentrum von Raumfahreraktivitäten und unabhängigen Minenorganisationen darstellte. Der Krater, in dem sich die Stadt befand, maß fünfzig Kilometer im Durchmesser, die mit pinkfarbenen und roten Streifen versehenen Seitenwände liefen in einer gezackten Klamm darum herum, die zwischen zweiund neuntausend Metern variierte. Alle Arten von Handelsgütern wurden in Crater getauscht: Luftpakete, Kuppelbausätze, ausgesuchte Fahrzeuge, Minenausrüstungen, Ersatzteile für Tausendundeine Maschine, Gemüse aus entlegenen Glasfarmen, Düngemittel, Saatgut, Farmwerkzeuge, Glaswaren, Kleidung, Sandstiefel, Importe von Mond und Erde, verzierte Steine (hauptsächlich Rubine), Metalle vom Mars, schwarze Flechte, Schmuggelware aller Art; Familien, Kinder, schöne schlanke Mädchen, Mythen, Kolonisten-Legenden, gutgeführte Saloons und wilde, wilde Geschichten vom All, den Asteroiden und den Dünen des Mars. »Die Geschichte des Mannes Vandis«, sagte Avo zu
Pardee, als sie Schulter an Schulter in den schmalen Fährsitzen hockten, »ist auch die Geschichte der ursprünglichen unabhängigen Erforschung des Planeten. Vandis sagte sich fast ein Jahrhundert vor der Ring-Expedition von den Wissenschaftlern los. Zehn Jahre lang hielt man ihn für tot, nachdem er aus der ›Ersten geologischen Landvermessungsanstalt‹ verschwunden war. Marsport war damals die einzige Basis. Vollkommen militant-wissenschaftlich kontrolliert. Vandis glaubte, daß Mars eine Kolonie unterstützen würde und prophezeite, daß menschliche Wesen hier leben, gedeihen und sich von der erdwissenschaftlichen Vorherrschaft lossagen würden. Er erforschte den gesamten Umkreis des Nordpolarkaps und konstruierte seine eigenen Wasser- und Lufterzeuger.« »Darum also nennt man NMC Kolonie Vandis«, sagte Pardee. »Genau«, fuhr Avo fort. »Vandis wurde Experte in Ökologie. Die meisten der geheimnisumwitterten Überlieferungen aus dieser Zeit kamen von ihm oder seinen ersten Nachfolgern.« »Wie die Verlorenen Marsianer, die Tote Stadt am Äquator, die Dünenwesen, und all das?« Pardees Augen wurden groß und strahlend wie die eines sechsjährigen Raumkindes. »Richtig. Vandis kehrte zehn Jahre nachdem er für tot erklärt worden war, nach Marsport zurück. Die Militärs versuchten, ihn aus dem Weg zu räumen, er erschreckte sie zu Tode! Eines Morgens kam er nach Marsport, am Schwanzende eines Sandsturms. Jeder hielt ihn für ein wahrhaftiges Marswesen. Und in gewissem Sinn war er das auch: der erste Erdmensch,
der auf Mars lebte. Nur auf dem Mars. Ohne erdversorgte Existenz. Er praktizierte, was als unmöglich galt.« Statt den Mann als Genie und Helden willkommen zu heißen, sperrten sie ihn ein. Er war eine schreckliche Bedrohung für die sichere kleine wissenschaftliche Basis. Sie wollten nicht, daß irgend jemand, außer ihren eigenen Leuten – und auch die nur unter strengster Überwachung – nach Mars kam. Zwei der jüngeren Mitglieder der Enklave, ein Captain und eine junge Geologin, befreiten Vandis aus dem Gefängnis, das der Basiskommandant speziell für ihn hatte bauen lassen. Sie verschwanden in der Wüste. Der Kommandant ließ sie verfolgen, fand aber nie eine Spur. Dann, zum zweiten Mal, diesmal fünfundzwanzig Jahre lang wurde Vandis für tot erklärt. Die drei Forscher wußten, daß sie früher oder später entdeckt würden, wenn sie in der Nähe des Polarkaps blieben. So wandten sie sich nach Süden und erstellten mehrere Basen. Nach einem Jahr verschwanden weitere Leute aus der Basis, zusammen mit den verschiedensten Ausrüstungsteilen. ›Zu Vandis gegangen‹ war der Ausdruck, der aufkam, um das Ganze zu erklären. Und danach desertierten jedes Jahr mehrere Top-Flieger. Bald konnte man nicht mehr verleugnen, daß Vandis und seine Jünger irgendwo auf Mars lebten. Pardee betrachtete die zerklüfteten Dünen und die rotwandigen Krater, die unter ihnen vorbeiflogen, wenn er aus dem runden Fenster neben seinem Ellbogen sah. Die Vandis-Legende war ein Mythos aus seiner Kindheit, und nun flog er über eben jenes Gebiet, das der erste marsianische Geologe erschlossen hatte.
»Die größte Vandis-Geschichte für mich ist jedenfalls die von den Rubinhöhlen«, fügte Avo hinzu. »Irgendwo unten im Äquatorgürtel befindet sich ein System bisher unentdeckter Höhlen. Die Ur-Marsianer benützen diese Höhlen als Aufbewahrungsorte ihrer Kultur-Reliquien. Die Legende sagt, daß Vandis immer noch lebt und dort unten mit ihnen zusammen ist. Es wäre möglich, verstehst du, der Äquator wurde zwar kartographisch bis ins kleinste Detail aufgezeichnet und photographiert, aber nur sehr wenig davon wurde wirklich erforscht. Die Sandstürme dort sind unglaublich, der Wasserfaktor gleich null. Aber zweifellos gibt es dort ebenso viele Rubine wie sonstwo. Ganze Gebirgszüge aus Rubin.« Rubine waren die erste große Entdeckung auf Mars, für viele Dekaden aus Angst vor wirtschaftlichen Auswirkungen auf der Erde geheimgehalten. Hundertfünfzig Jahre lang konnten die marskontrollierenden Wissenschaftler ein reiches Monopol im Rubinhandel halten. Marsrubin war in höchstem Maß für industrielle Verwertung anwendbar, für alle Arten haltbarer Apparaturen. Er war so stark auf Mars vertreten, daß ganze Klippen und Meilen von überkrusteten Rändern aus dem harten roten Karborundum bestanden. Seit den Tagen der ersten Kolonie hatte es einen lebhaften legalen Handel mit geschliffenen Rubinen als Schmuckstücke gegeben. Marsianische Kunsthandwerker schufen Teller, Tassen, Kelche, Pokale, Briefbeschwerer, Halsketten, Skulpturen, alle Arten von Kunsterzeugnissen zum Verkauf zu den drei Welten. Die Geldmanager der Erde setzten strikte Tarife auf alle marsianische Güter. Besonders auf geschliffenen Rubin. Aber die Erdmenschen wa-
ren inzwischen so reich, daß jeder Haushalt praktisch irgendein Rubinprodukt besaß, genau wie marsianische Glaswaren. Die Sandwüsten von Mars waren zur Herstellung von Glas geradezu prädestiniert. Avos Apartment war wenig benutzt und eher spärlich möbliert, kaum anders als Dutzende anderer Raumfahrerappartments, die sich in der SandyvilleEnklave befanden. Eine gerade dreißig Fuß durchmessende Hauskuppel innerhalb einer Neunzig-FußGlasluftkuppel. Aber sie gehörte ihm. Avo hatte vor, sich noch Frauen zu nehmen, was für Raumfahrerveteranen nicht ungewöhnlich war, die normalerweise mit Fünfundvierzig oder Fünfzig auf einem Planeten seßhaft wurden. Avo hatte ein schönes Marsmädchen gekannt und geliebt, schon zu der Zeit, als er auf der Expedition zu den Ringen war. Aber sie war während eines Sandsturms in einer entlegenen Wetterstation ums Leben gekommen, schon vor vielen Jahren. Pardee war ein unmittelbarer Erfolg für das soziale Leben der Enklave. Richtige Erdmenschen waren außerhalb von Marsport selten. Seine Erzählungen von Heufeldern und Pferden erstaunten Veteranen und Kinder gleichermaßen. Sein schwerer Körper mit den zahlreichen Tätowierungen faszinierte die Marsfrauen. Es war klar, daß es ihm leichtfallen würde, soviele zu seiner Familie hinzuzuaddieren, wie es seine Erdfrau akzeptieren würde. Nach fünf Tagen Dünentrecking erklärte er: »Ich gehe noch ein letztes Mal heim, Avo. Hole meine Familie und komme her. Ich wußte, ich würde es eines Tages tun. Seit ich in der Astro-Ingenieurschule war.
Meine Frau weiß es auch. Wir können es hier schaffen.« Avo nickte. »Du kannst dich hier selbständig machen. Ich kenne einen Krater im Norden, der zur Hälfte mit Eis gefüllt ist. Ich kann dort ein Haus bauen und einen Lufterzeuger und Pflanzungen. Ich kann – wir können – einen unabhängigen Minenvertrag machen, eine Plattform finanzieren ... du kannst dir hier dein Planetenheim aufbauen.« »Das werden wir alles sehen«, sagte Pardee. »Es könnte sich wirklich so realisieren lassen. Wir können unten in Oklahoma und Texas in einem heißen Moment Geld machen und auf diese Weise eine ErdMond-Handelslinie gründen. Solange wir nicht völlig bankrott gehen, wird es unsere Sache sein, alles zu managen.« »Kein Korporationschef kann uns vorschreiben, was oder wo wir abbauen sollen«, antwortete Avo. »Nur ein Zehntel des Asteroiden-Gürtels ist bereits ausgebeutet. Wir können Handel treiben, wo wir wollen. Vandis oder Crater oder Mond. Vielleicht nur ein Jahr draußen, vielleicht zwei, und wir könnten jeden, der sein Geld in uns gesteckt hat, gut auszahlen.« »Gemacht!« Pardee sprang auf und sah hinaus über die sich bewegenden Meilen niedriger Dünen. »Ich werde uns soviele Kapitalgeber beschaffen, daß du denkst, du seist übergeschnappt.« Avo kehrte mit Pardee auf der Wochenendfähre nach Marsport zurück. Pardee machte seinen Einfluß geltend, um einen Platz auf dem nächsten Erzfrachter zum Mond zu bekommen. Vom Mond gab es jeden
Tag eine Verbindung zur Erde. »Laß deinen Arsch hier oben nicht wegrosten.« Pardee deutete mit dem Finger auf Avo. »Du kommst zur Erde, sobald du einen Transit kriegst. Wir werden irgendein Geschäft aufbauen, Partner.« »Ich bin in vielleicht vier bis fünf Monaten unten. Was ich hier oben tun kann, ist, eine Plattform für uns zu finden. Eine Menge der wilden Spekulanten sind inzwischen alt, und ihre Plattformen benötigen eine erstklassige Überholung. Ich kann eine von Crater übernehmen, kein Problem. Dann werden wir einen Transporter mieten müssen ...« Pläne und Ideen schwirrten in seinem Kopf herum. Die Aussicht eines Neubeginns erfüllte ihn mit der gleichen Aufregung, die er vor so langer Zeit gespürt hatte, als er auf einem fünf Meilen großen Eisbrocken stand, der durch die Ringe schwebte, hoch über der monströsen Planetenkugel des Saturn. Die schwarze Fähre kreischte über die Rollbahn, trug Avos neuen Partner hinaus ins All zu seinem Rendezvous mit dem Erzfrachter, der ihn heimbringen würde. »Zuhause ist ein Ort, wo sie dich aufnehmen müssen, wenn du dorthin mußt«, sagte Avo, sich die Zeilen eines alten Erdendichters in Erinnerung rufend. ›Wenn ich zur Erde gehe‹, dachte er, ›habe ich jetzt einen Platz: Oklahoma – wo auch immer das ist.‹ Er machte sich eine Notiz, um sich einen Erdatlas näher anzusehen, von denen es welche in der Korporationsbibliothek in Marsport gab. Diesmal verlief seine Rückkehr zur Hauptstadt weniger auffällig. Er nahm einen öffentlichen Wagen und fuhr ruhig in Richtung des schimmernden Kup-
pelfeldes. An diesem Nachmittag hatte er eine Unterredung mit dem Chef der Abbau-Unternehmen, während der er sich entschieden hatte, seinen Abschied zu nehmen. Der Komplex, indem die Verwaltung der MinenKorporation untergebracht war, war ein Juwel der Architektur, mit einer eigenen Sicherheitskuppel unter der massiven Stadtkuppel. Ein kleiner Wald war in eine Landschaft mit marsianischen Hügeln und massiven Rubinanhäufungen eingebettet. Die Gebäude bestanden aus glatten pinkfarbenen Steinen und rostfreiem Stahl mit blauen marsianischen Marmorfluren. Wasser – der höchste Luxus auf diesem trockenen, staubigen Planeten – sprudelte aus einem Dutzend Quellen. Er ging über den inneren Hof, der von kühlem grünem Gras bedeckt war, und nahm den Aufzug in die CMO-Suite. Sein Willkommensgruß schien distanziert und irgendwie zu korrekt. Der Chef war ein Erd-Ingenieur. Einer mit beschränkter Raumerfahrung aber ein geschickter Verwalter und Organisator. Avo bekam keine Gelegenheit zu kündigen. »Unten auf der Erde, Avo, hat man entschieden, dein Pensionsdatum vorzuverlegen und dir die Ruhe zu geben, die du so sehr brauchst. Ich möchte, daß du weißt, daß es nicht meine Entscheidung war. Du weißt, auf der Erde ist man überaus besorgt über Dinge wie die Unruhen mit Vandis und diesen abtrünnigen Russen im Süden. Man ist besorgt über die Sicherheit auf Plattformen. Es geht nicht um deine persönliche Loyalität, nur um einen Mangel an Verständnis. Was die Erde nicht will, ist daß eine ganze
Plattform zu Vandis überläuft und die Rechtsprechung der Erde verläßt. Übrigens bin ich befugt, dir dieses verdienstliche Kreditzertifikat für deinen Anteil an der Rettung zu überreichen, die ganz und gar dir zu verdanken war, meiner Ansicht nach. Und schließlich«, der Chef stand hinter seinem Schreibtisch auf und reichte Avo eine kleine schwarze Schachtel. »Mach schon!« Der Chef strahlte. »Öffne sie.« Avo ließ sie aufschnappen und starrte auf eine goldene Digitalarmbanduhr. »Die hält ein Leben lang«, behauptete der Chef. »Ich habe auch so eine. Es ist nur ein Andenken, Avo. Nur ein Andenken. Sie zeigt Erd-, Mond- und Marszeit an! Wenn es noch etwas gibt, was ich persönlich für dich tun kann, um deine Übergangszeit zu erleichtern ... Referenzen oder so, zögere nicht, es mir zu sagen.« Avo stand ruhig auf. »Nun, ich hoffte, ich könnte vielleicht die hiesige Bibliothek benutzen, wenn ich unter der Kuppel bin. Wenigstens für eine Weile.« »Sicher«, sagte der Chef. »Ich werde dir vom Sicherheitsdienst einen Paß ausstellen lassen. Wir haben die beste Mikrofilmbibliothek auf Mars, weißt du.« Avo schüttelte die Hand des Chefs. Sie lächelten beide, und keiner sagte ein Wort. Einen Monat später sah er die Sterne, klar und frostig, über dem Rand seines Kraters aufgehen. Das große Schnee- und Eisfeld das die hohe Nordwestwand zum Teil bedeckte, glitzerte im Schatten. Er dachte an das Eis, das nach der Explosion auf dem treibenden Haustank kondensiert war, vor nun fast einem Jahr.
Er öffnete die Gesichtsmaske seines Luftanzugs und nahm einen Zug aus der Pfeife, die mit schwarzer Flechte gestopft war, legte sich dann zurück in den roten Sand. Erde und Venus setzten sich hell gegen den blauschwarzen Himmel ab. Venus war um vieles heller, so strahlend weiß und brillant, daß sie viel näher als die Erde schien, die blau und grün glänzte. Er stellte sich in eine Bibliothek versetzt vor, irgendwo da unten in einer Stadt nahe dem Meer. Er dachte an plumpe, langhaarige Erdmädchen, wie sie nackt auf den Wellen schwammen. Er blies den Flechtenrauch aus und schob die Gesichtsmaske wieder zurück. Die Erde schimmerte im Abendhimmel. Er fragte sich, ob er gerade auf Oklahoma blickte.
Originaltitel: ... AND EARTH SO FAR AWAY Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION August 1977
Michael Nagula NACHWORT »Der Vatikan ist dreitausend Lichtjahre entfernt. Früher dachte ich, der Weltraum könne über den Glauben keine Gewalt haben, ebenso wie ich davon überzeugt war, daß die Himmel Gottes Werk rühmten. Jetzt habe ich dieses Werk gesehen, und mein Glaube beginnt zu wanken. Ich starre das Kreuz an der Kabinenwand über dem Rechengehirn Modell VI an und frage mich zum erstenmal in meinem Leben, ob es nicht nur ein leeres Symbol ist.« So beginnt Arthur C. Clarkes berühmte Erzählung Der Stern, in der die Hauptperson ein Jesuit ist, der als Astrophysiker an einer Expedition teilnimmt. Nach kurzer Reise entdecken die Forscher einen kleinen Planeten, der den einzigen Überrest eines vor Jahrtausenden durch eine Supernovaexplosion vernichteten Sonnensystems darstellt. Er bewahrt als kosmischer Friedhof und kosmisches Museum in einem das Vermächtnis einer hochentwickelten Zivilisation, die es einst auf ihm gab. Nun lebt dort nichts mehr, und zweifelnd fragt sich der Priester: Welches ist der Sinn dieser Tragödie? Wo ist hierin noch die Gnade des Herrn zu erkennen? Es kommt noch schlimmer, als er den Zeitpunkt des Novaausbruchs berechnet. Denn er ist verantwortlich dafür, daß über Bethlehem das leuchtende Symbol einer neuen Ära stand. So wird die Unbegreiflichkeit der Gnade oder Strafe Gottes bei Arthur C. Clarke zum eigentlichen
Thema der Geschichte, die befragte Gottheit im gleichen Atemzug selbst in Frage gestellt. Und auf einmal erscheinen Überlegungen zum Sinn des Daseins, zum Ende unserer Menschheit und der Welt, zur Existenz und Rechtfertigung eines Allmächtigen in ganz anderem Licht. Man kann nun der Ansicht sein, daß es vermessen ist, sie in ein auf den ersten Blick dermaßen unzureichendes Gewand wie das der Science Fiction zu kleiden, doch gerade solche Grenzüberschreitungen in weltanschauliche und religiöse Bereiche führen zu einer immer stärker werdenden Entmythologisierung des Genre. Das ist eine Tatsache, an der auch die vorliegende Sammlung in Form ihres Beitrages von J. T. McIntosh nicht vorübergehen konnte. Doch was sucht der Gläubige unter Wissenschaftlern und Raumfahrern? Allgemeiner gefragt: Was hat die Theologie mit Science Fiction zu tun? Wenigstens hinsichtlich ihrer Wortbestandteile scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Scheint. Denn dieser Begriff bezeichnet ja nicht nur die exakten Naturwissenschaften, sondern auch die Humanwissenschaften wie Psychologie, Soziologie und vieles mehr. Und wirklich nehmen in der Science Fiction die Romane und Erzählungen, die sich mit fiktiven technischen Erfindungen, naturwissenschaftlichen Entdeckungen und astronautischen Großtaten beschäftigen, einen immer geringer werdenden Raum ein. Leider ist aber in den meisten Definitionen bisher noch kaum von sozialutopischen Vorstellungen die Rede, was sicher auch dem überwiegenden Teil der derzeit im deutschsprachigen Raum auffindbaren Science Fiction entspricht. Selbst im dritten und zehnten Jahr-
tausend unterscheiden sich die menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen nicht sehr von denen unserer unmittelbaren Gegenwart: Der Mensch bleibt dem Menschen ein Wolf. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn Fortschritt trotz allen in erster Linie noch technologisch verstanden wird, wenn eine Weiterentwicklung des Menschen nicht bewußtseinsmäßig erfolgt, also den Innenraum auszudehnen versucht. Wenn auch neue Computer, neue Antriebsaggregate und Vernichtungswaffen meist nicht mehr im Mittelpunkt stehen, sind doch kosmische Abgründe und astronomische Tiefen nach wie vor gern gesehene Strukturmerkmale bei Autoren und Lesern. In den weitaus meisten Texten der Science Fiction führt das zu einem totalen Auseinanderklaffen technologischer und gesellschaftlicher Fragestellungen. Wir finden auch im galaktischen Zeitalter noch Kaiser, Könige und Höflinge und eine auf der anderen Seite törichte und als leicht zu lenken hingestellte Masse, wir begegnen immer noch dem Gegensatz von arm und reich. Es wird kaum nachgedacht über grundlegende Bildungsreformen der Zukunft, wie sie heute schon als unabdingbar betrachtet werden, oder über Hintergründe des Interesses am Fortbestehen etwa dieses Gegensatzes. Wo nämlich ein umfassendes Wissen über die konkreten historischen Ausbildungen einer Gesellschaft fehlt, werden derlei Aspekte zu beliebig austauschbaren Versatzstücken. Das läßt verstehen, warum so wenige Autoren in ihren Texten über die Geschichtlichkeit religiöser Kulte und Vorstellungen reflektieren. Trotzdem treten hier und dort immer wieder einmal Geistliche als handelnde Personen auf oder vollziehen sich auf ei-
nem fernen Planeten heidnische Rituale. Meist wird dabei eine Weltanschauung bloßgelegt, die ein falsches oder doch wenigstens unausgeprägtes Bewußtsein widerspiegelt. Kritische Distanz ist selten gegeben. Das bleibt in der Regel wohl selbst dem Autor unbemerkt, obwohl sich das etwa mit den Mitteln der Satire schon auf einfachste Weise ändern ließe. Aber stets werden bierernst dieselben Motive herangezogen, treten als solche gekennzeichnete Priester, Propheten und andere Geistliche auf, schildert man religiöse Praktiken und spielt man auf biblische Geschehnisse an, die man phantastisch uminterpretiert, wie dies etwas in der eingangs erwähnten Erzählung der Fall ist. Immerhin machen sich oft indirekte Einflüsse geltend, die sich nur in Andeutungen erklären. So bei auftretenden Gottesvorstellungen und Gottessymbolen, bei vermittelnden Gestalten zwischen einer schicksalsgeworfenen Menschheit und einer beliebigen kosmischen Überinstanz, bei unwissenschaftlichen und metaphysischen Weltbildern. All diese Merkmale und Hinweise können an und für sich leicht in ein und demselben Werk auftreten, was auf die vertrackte Situation hindeutet, in der sich viele Autoren befinden: hin und her gerissen zwischen vordergründiger Unterhaltunsfunktion und literarischem Anspruch. Geistliche treten in der Science Fiction eigentlich recht selten auf, doch wo dies der Fall ist, kann man ein häufig wiederkehrendes Motiv beobachten. Sie wirken in einer Zeit des historischen Niederganges einer Zivilisation als Hüter der Wissenschaften. Etwa in Brian W. Aldiss' Roman Fahrt ohne Ende, in dem ein riesiges Raumschiff jahrhundertelang durch den
Weltraum irrt. Die an Bord mitgeführten Pflanzen haben sich zu einem undurchdringlichen Dschungel entwickelt, worin die Nachkommen der Besatzung zu einer der Urhorde ähnlichen Form des Zusammenlebens zurückfanden. Das Wissen um das einstige Niveau der Technologie bewahrt ein Stand von Priestern auf, der sich darüber zwar in Schweigen hüllt, aber dafür das Raumschiff langsam zurückerobert und alsdann die Insassen in die Kenntnis über ihre wirkliche Lage versetzt. Anders in dem ersten Teil von Isaac Asimovs Galaktischer Trilogie mit dem Titel Der Tausendjahresplan. Hier bedient sich eine Gruppe von Forschern ihrer überragenden wissenschaftlichen Kenntnisse als Herrschaftsinstrument. Sie stiftet eine neue Religion mit einem imaginären Galaktischen Geist als Gottvater, den sie in Gestalt der Hauptperson auf einen Planeten schicken, um dort hinter Tempelmauern versteckt einer breiten Masse die Technik als etwas Metaphysisches vorzugaukeln damit sie nicht auf umstürzlerische Gedanken kommt. Im Gegensatz zu Aldiss läßt Asimov jedoch keinen Zweifel daran, daß die Religion in diesem Fall reines Herrschaftsinstrument ist und unter entwickelteren Bedingungen schnell wieder in der Mottenkiste verschwindet. In Walter M. Millers brillanten Roman Lobgesang auf Leibowitz hat nun eine atomare Katastrophe unsere eigene Menschheit ins Mittelalter zurückgeworfen und in viele kleine Reiche zertrümmert. Die Mönche des Albertinischen Ordens vom Seligen Leibowitz ahnen lange Zeit nicht, daß die von ihnen so verehrten Reliquien in Wahrheit mathematische Aufzeichnung des Ordenspatrons sind, eines einstmals bedeutenden Wissenschaftlers.
Als sie es herausfinden, ist damit der Grundstein für eine neue Zivilisation auf Erden gelegt, die jedoch in ihrer erneuten atomaren Auslöschung ein – vielleicht auch diesmal wieder nur vorläufiges – Ende findet. Hochachtung zollen muß man der außerordentlichen Sachkenntnis des Autors, die von der Probevigilie des Novizen Francis bis zur Heiligsprechung des Seligen Isaac Edward Leibowitz alle klerikal strukturellen Einzelheiten aufnimmt. Zweifellos kann man also in diesem Fall von echter religiöser Science Fiction sprechen. Ob allerdings die Zukunft der Menschheit durch das Guckloch der Klostermauer einigermaßen relevant beschrieben werden kann, dürfte ebenso fraglich sein wie die Überzeugung des Autors, daß ausgerechnet der Katholizismus dazu ausersehen ist, zwei atomare Vernichtungsschläge unbeschadet zu überstehen. Eine ungleich bedenklichere religiöse Position zeigt jedoch die Erzählung Indes die Sonne vorüberzog von George Collyn. Ein Weltraumkrieg mit echsenähnlichen, menschenfressenden Wesen hat die Erde verwüstet und zwingt die letzten Bewohner zur Auswanderung aus ihren Kuppelstädten, in denen sie unter der Regentschaft von Königen und Magnaten zusammengepfercht hausen. Ihre Welt ist nahezu unbewohnbar geworden, und so würde die Vernunft es fordern die Ursachen für solche Auseinandersetzungen herauszufinden und auszumerzen, um dann auf einem anderen Planeten noch einmal neu anzufangen. Dennoch beten sie die Erde weiterhin als ihre Urmutter an, und eine mystische Verheißung treibt sie schließlich auch wieder zu ihr zurück. Statt nach dem Warum der Kriege und einer konkreten Friedensanalyse zu fragen, mobilisiert der Autor atavisti-
sche Instinkte und einen halb religiösen, halb heidnischen Fanatismus gegen Einsicht und Vernunft. Eine davon verschiedene Funktion hat die Priesterfigur in James Blishs Der Gewissensfall. Thema dieses Romans ist die Begegnung mit einer außerirdischen Zivilisation, die in geradezu paradiesischen Zuständen ohne Klassenunterschiede, Kriege, Mißgunst und Besitzstreben lebt. Mit erstaunlichem Geschick versteht es der Autor nun, seinem heldischen Jesuitenpater jenes Problem vorzusetzen, das auf einen Zwiespalt zwischen Einsicht und Sympathie einerseits und Glaube und theoretischem Dogma andererseits beruht. Denn wie sonst ließen sich elysische Zustände erklären denn als Blendwerk des Teufels? Was bleibt übrig außer der Teufelsaustreibung? Daß das Erlebte nachhaltig gesellschaftliche Veränderungen auf der Erde notwendig erscheinen läßt, ist eine für die Science Fiction seltene radikaldemokrastische Intention dieses Buches. Überhaupt werden Krisen fast aller Art in der Science Fiction oft mit dem Aufkommen neuer Glaubensbewegungen verbunden handelt es sich nun um den Niedergang einer Zivilisation oder das gern variierte Modell des immer wiederkehrenden Aufstiegs und Abstiegs der Menschheit. Aber nur selten basieren solche Motive auf dem Christentum, denn dessen Geschichtsdenken läßt eine historische Kreisbewegung nicht zu. Und doch haben alle diese Werke eines gemeinsam: Gottvater, wie er sich uns im Alten Testament darstellt, feiert in der Science Fiction fröhliche Urstände. Er ist weder ein traditioneller Gott der Liebe und Gnade noch das Symbol für Mitmenschlichkeit, zu der ihn die moderne Theologie umge-
deutet hat. Er ist ein unbegreiflich allmächtiger Herrscher, manchmal sogar der apokalyptisch drohende Knüppel, der die Menschen letzten Endes daran hindert, zu sich selbst und ihrer eigenen Befreiung zu kommen. Betrachten wir nur Michael Moorcocks Roman Der schwarze Korridor, in dem die unhaltbaren Zustände auf der Erde zur Flucht einer kleinen Gruppe mit Hilfe eines Raumschiffes führt, um den kultischen Prozessionen, Geißelungen und öffentlichen Schuldbekenntnissen zu entgehen. Der eingangs zitierte Arthur C. Clarke läßt in seiner Erzählung Die neun Milliarden Namen Gottes den modernsten Computer, über den ein tibetanisches Kloster verfügt, sämtliche Namen des Herrn errechnen und nach Bewältigung der Aufgabe die Welt untergehen. In Brian W. Aldiss' faszinierendem Roman Tod im Staub gehören – ebenso wie in Gore Vidals schillernder Chronik vom Messias, in der von skrupellosen Werbeleuten eine neue Religion erarbeitet wird – Tempel und Sekten zum Alltagsbild: und selbst Fred Hoyle und John Elliot berichten in ihrem Roman A wie Andromeda von Eingebungen ähnlich den Erleuchtungen der Heiligen und Propheten, obwohl es sich bei ihnen nur um das Programm eines außerirdischen Computers handelt, der die gesamte Galaxis mit seinem Seelenheil beglücken will. Den meisten dieser Autoren fehlt die Einsicht, daß religiöse Kulte historisch bedingte Erscheinungsformen der jeweiligen Entwicklungstufen einer Gesellschaft sind, die man nicht wahllos in alle möglichen Epochen verpflanzen kann. Denn wie erwähnt: Indem Religiosität und damit die Bindung an nicht mehr hinterfragbare Autoritäten als Naturkonstante dargestellt sind, verschwindet die Per-
spektive des Fortschritts. Das Werk wird seiner Aufgabe, die es sich schon allein dadurch stellt, daß es im Gewand der Science Fiction auftritt, nicht gerecht. Sicher ist das ein schwer zu erreichendes Ziel, aber die Tatsache, daß es bisher nur wenige schafften, sollte kein Hemmnis für den Einzelnen sein.