Er streckte seine psionischen Fühler nach ihm aus, sah/fühlte seine düstere Aura und stimmte sich auf ihren dunkelbraun...
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Er streckte seine psionischen Fühler nach ihm aus, sah/fühlte seine düstere Aura und stimmte sich auf ihren dunkelbraunen Schimmer ein. Während er nach der richtigen Einstellung, der richtigen Frequenz forschte, verfärbte sich der Strahlenkranz, wurde rot und hell vor Gier und Erwartung und verblaßte wieder. Ein Auto raste in südlicher Richtung vorbei. Bis zum äußersten konzentriert, drang das Medium in die unverhüllte Grausamkeit der verderbten Gedankenwelt des Mannes ein. Kein Lichtschimmer hier, kein Stern der Vitalität; nur ein bräunlich-grüner Knoten überschäumender Freude am Töten, die Gier, Blut vom Kühlergrill des Lastwagens spritzen zu sehen, wenn der zerfetzte Körper wie eine Puppe in die Luft geschleudert werden und noch vor dem Aufprall tot sein würde. DAS MEDIUM von Peter Martin
Science fiction Ullstein Buch Nr. 31034 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Günter Zettl Umschlagillustration: Dell/Göllnitz Copyright © 1962 by Galaxy Publishing Corporation Copyright © 1969, 1972, 1976,1979 by UPD Publishing Corporation Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1982 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh SBN 3-548-31034-6 Februar 1982
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science fiction Stories hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein Teilw. ist kein Hrsg. angegeben NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 92. Von Peter Martin ... Zsgest. von Michael Nagula [Aus d. Amerikan. übers. von Günter Zettl]. – 1982 (Ullstein Buch; Nr. 31034 Ullstein 2000: Science Fiction) ISBN 3-548-31034-6 NE: Martin, Peter [Mitverf.]; Nagula, Michael [Hrsg.]; GT
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Bd. 76–82, 90, 91
Science-FictionStories 92 von Peter Martin Joe Haldeman R. A. Lafferty John Fortey Eric Vinicoff und Marcia Martin Larry Niven Helen M. Urban Tad Crawford Jay Williams Michael G. Coney Zusammengestellt von Michael Nagula Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Das Medium Peter Martin ........................................................
6
Gedichte des Todes Joe Haldeman .....................................................
48
Ein zweites Sodom und Gomorrha R. A. Lafferty ......................................................
74
Die Zitadelle John Fortey .........................................................
87
Die Weltraumarche Eric Vinicoff & Marcia Martin .......................... 102 Die Begegnung Larry Niven ........................................................ 122 Gepriesen sei Ippling! Helen M. Urban ................................................. 147 Der Spieler Tad Crawford ..................................................... 169 Der Weg Jay Williams ....................................................... 186 Esmeralda Michael G. Coney .............................................. 203 Nachwort Michael Nagula .................................................. 234
Peter Martin DAS MEDIUM »Sie können nicht einfach die harten monetären Tatsachen außer acht lassen, McBride!« T. J. Fawcett beschrieb einen Halbkreis in der Mitte des Büros. Der Vizepräsident im Verwaltungsstab der Ohio-RiverEnergie-Gesellschaft schnaubte heftig, schwenkte die Arme und brüllte, wobei sein fleischiges Gesicht schwabbelte, und seine Kinnbacken zitterten: »Tatsache ist, daß wir nicht das Vierfache zahlen können, um dieses dreckige Gestrüpp zu beseitigen, nur weil eine Handvoll rückständiger Farmer Wind um die Sache macht. Stellen Sie sich nicht so an! Selbst wenn man den erforderlichen größeren PR-Aufwand einkalkuliert, kommen Schadenersatzzahlungen billiger als eine Rodung mit Hand. Wann werden Sie endlich lernen, keine Dummköpfe für sich denken zu lassen?« Fawcett setzte sich, die Lippen halb zu einem öligen Lächeln verzogen, das in Richtung des alten Davidson ging, des Präsidenten und nominellen Generaldirektors der OREG. Während er sich wunderte, wie ein solch gigantischer alter Scheißer jemals hatte Vizepräsident werden können, ordnete Cliff McBride seine Gedanken und nahm geduldig einen neuen Versuch in Angriff, Davidson seine Vorbehalte zu erläutern. »Gary, es dreht sich um mehr als nur um Geld oder unsere Wegerechte. Die Leute wissen, daß das Zeug gefährlich ist, und das läuft auf mehr hinaus als nur auf ein paar
Farmer, die Bäume oder sogar ganze Plantagen verloren haben. Eine weitere PR-Kampagne wird ihnen die Ernte ebensowenig zurückbringen wie Schadenersatzzahlungen. Einige Farmer wurden durch das Unkraut-Ex völlig ruiniert. Wir könnten uns die Ausgaben für PR und dergleichen ersparen, wenn wir mit den Farmern zusammenarbeiten, deren Bäume – oder die Wasserscheide zu ihren Bäumen – in der Nähe der geplanten Leitungs- und Kabelstrecken liegen. Wir haben wegen diesem 2,4,5-T schon genug Schwierigkeiten mit den Umweltschützern. Noch mehr Widerstand gegen das Kraftwerk können wir uns nicht leisten. Lassen wir hingegen einige heiklere Strecken von Hand roden, dann werden die Leute zur Abwechslung wieder auf unserer Seite stehen.« Cliff wischte sich mit der Hand über die hohe Stirn und warf Davidson einen bittenden Blick zu. Fawcett sprang auf. »Verdammt, Junge, für Public Relations sind Sie nicht zuständig. Ihre Aufgabe ist es, Ihren Instruktionen zu folgen und dafür zu sorgen, daß die Wege gerodet werden, damit wir das Kraftwerk weiterbauen können.« Der aufgedunsene Vizepräsident wandte sich mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht an den Präsidenten. »Für PR ist die Verwaltung zuständig. McBrides Abteilung will sich bloß nicht die Hände schmutzig machen. Als ob wir es nötig hätten, uns mit ein paar rotzigen Hinterwäldlern und einer Bande fauler Piloten herumzuschlagen, die unfähig sind zu fliegen.« Es gereichte dem Präsidenten zur Ehre, daß er seine magere, knochige Hand ausstreckte und Fawcett wie einen Raubvogel abwehrte. »Setzen Sie sich, T. J. McBride, könnten Sie Ihre
Männer nicht wieder an die Arbeit schicken? Diese Unterbrechungen bei jeder kleinsten Beschwerde – ähem ... Unsere ... hmmmm ... Vorgangsweise wurde bereits festgelegt. Es ist nicht bewiesen, daß sich das Zeug, das Sie spritzen, verderblich auf ihre Bäume auswirkt. Alle anderen Gesellschaften benützen es auch, und wir haben das Recht, es für unsere Leitungs- und Kabelstrecken anzuwenden. Warum also sollten wir eine kostspielige Änderung vornehmen, mit der der Ausschuß nicht glücklich wäre? Noch dazu eine, die zu vermeiden wir uns tausende Dollar kosten ließen?« Der hohlwangige, alte Mann blickte zum erstenmal, seit Cliff vor einer Stunde das Büro betreten hatte, zu ihm auf. »Schicken Sie sie wieder in die Luft, Sohn. Schaffen Sie das, hmmm? Ich bin davon überzeugt.« »Was sage ich der Presse, den Farmern und den Leuten von der Umweltschutzbewegung? Sie werden mir in meinem Büro noch in derselben Minute, in der der erste Hubschrauber startet, die Tür einrennen.« Jetzt war Cliff aufgesprungen, das Kinn ärgerlich vorgeschoben. »Nichts«, stieß Fawcett hervor. »Erledigen Sie nur Ihre Arbeit, ohne Mr. Davidson mit Ihren nebensächlichen Problemen zu behelligen – und stecken Sie Ihre Nase nicht in Public Relations-Angelegenheiten!« Je weiter er sich von Davidsons Büro entfernte, desto wütender wurde Cliff McBride. Wie konnte er es zulassen, daß ihn dieser lächerliche alte Bussard Junge nannte? Es war wie bei den Meinungsverschiedenheiten mit Katherina vor der Scheidung; zum Zeitpunkt, da seine Gefühle seinen Verstand einholten,
war die Gelegenheit längst versäumt, und seine Erregung wuchs mit den Dutzend bissigen Bemerkungen, die er niemandem mehr sagen konnte. Als er vor den Räumen seiner Abteilung eintraf, war er auf sich selbst wütend. Kraftvoll stieß er die Tür auf und stürmte durch den Empfangsraum, Sallys Gruß und Lächeln ignorierend. Beth Burkhammer, Cliffs Sekretärin, sah seine Miene und erhob sich. Ihr Blick drückte Verstehen und Anteilnahme aus. »Fawcett? Oder die Farmer?« »Beide«, sagte er und spürte, wie die Anspannung plötzlich von ihm abfiel. Er hätte gern gewußt, wie sie das schaffte; sie beruhigte ihn durch ihre bloße Gegenwart, und sie begriff sein Dilemma ohne jegliche Erklärung. Vor Jahren, als er noch Kraftwerksaufseher war und Beth sein Büro führte, hatte er begonnen, sie in Gedanken als sein Mädchen zu bezeichnen. Nun war er froh, sie hier zu haben, sie und ihr Verständnis, ihre Tüchtigkeit. Ihr Pullover aus korallenroter Wolle paßte perfekt zu ihrer hochgewachsenen, schlanken Figur und dem Aprilwetter draußen. Ihr Haar, blond mit einem Stich ins Bräunliche, hing in Stirnfransen bis zu den Brauen herab und betonte den mitfühlenden Ausdruck ihrer Augen. »Idioten!« sagte sie, während sie ihm zu seiner Tür folgte. »Fred Dutton wartet mit den letzten Computerausdrucken über Clay Ridge.« »Beth, können Sie Bob Henderson heraufrufen? Auf die eine oder andere Art muß die Rodung am Yellow Creek schnellstens abgeschlossen werden.« »In Ordnung.« Sie drehte sich zu ihrem Tisch um. Fred Dutton war, die Füße auf dem Tisch, in Cliffs Stuhl eingeschlafen. Cliff griff nach dem Bündel Aus-
drucke, setzte sich auf den anderen Sessel und überflog die Daten. Als er feststellte, daß sie ihn für längere Zeit beschäftigen würden, warf er sie mit einem dumpfen Knall auf die Tischplatte zurück. »Uh? Oh, hallo, Cliff. Wie geht's?« »Frage nicht. Fawcett ließ einen Wutanfall vom Stapel, als ich vorschlug, oben am Yellow Creek mit Hand zu arbeiten.« Die drahtige kleine EDV-Kanone, seit der Umstellung auf Computer Hauptbuchhalter der OREG, streckte sich und stand auf. »Wenn du die Ausdrucke durchgesehen hast, spreche ich mit dir über das Budget. Neue Schätzungen für den Ausschuß; sie mögen keine Überraschungen. Himmel, PR allein hat es um ungefähr dreihundert Prozent überschritten, seit die hohen Schwefelfreistellungen für Clay Ridge durchkamen.« »PR!« spuckte Cliff aus. »Welch ein Unsinn! Fawcett hält sie für die Antwort auf alles und jedes. Da versucht man, ein paar Dollar für eine Rodung aufzutreiben, damit die Farmer nicht auch noch ihre letzten Bäume verlieren, und er führt sich auf, als müßte er's aus seiner eigenen Tasche bezahlen. Für seine geliebte Public Relations aber ist ihm nichts zu teuer! Wirft ein Vermögen raus, um die Leute zu überzeugen, daß wir ihnen eigentlich einen Gefallen tun, wenn wir die Luft mit Schwefeldioxid und den Boden mit 2,4,5-T verpesten. Es ist so falsch, Freddie!« Der Summer auf seinem Schreibtisch ertönte, und Cliff drückte eine Taste. »Ja?« Fred umrundete den Tisch, um Cliff Platz zu machen. Es war Sally aus dem Empfangsraum. »Henderson ist da, Sir.«
»Schicken Sie ihn rein.« Cliff setzte sich und überlegte, ob es überhaupt für irgend etwas eine Lösung geben würde. Fred hielt in der offenen Tür inne und fragte: »Tennis nachher?« »Sicher.« Seit es die Erfordernisse des neuen Kohlekraftwerks offensichtlich werden ließen, daß sie nicht zum Skifahren kommen würden, hatten die beiden schon im Winter regelmäßig die Tennishallen besucht. Bob Henderson trat ein, als Fred das Büro verließ. Cliff stieß einen zweiten Seufzer aus und wünschte sich, er hätte niemals von Unkraut-Ex gehört. Der Spartaner war nicht der exklusivste oder teuerste Club in Sparta, Ohio, aber er bot seinen Mitgliedern einen herrlichen Speiseraum und als einziger sowohl eine Bar als auch einen überdachten Tennisplatz. Duttons und McBrides Spiel war für Anfänger nicht schlecht. Wären sie allerdings weniger enthusiastisch gewesen, hätten sie niemals den zweiten Satz begonnen. Aber da niemand sonst wartete, spielten sie weiter und gaben sich ganz ihrem intensiven, wilden Vergnügen hin. Freds Aufschlag und sein unglaublicher Topspin stellten Cliff vor einige Probleme. Er kompensierte sie, indem er sich zurücklehnte und – aus Arm und Schulter heraus – eine kraftvolle Vorhand schlug. So behielt das Grundlinienspiel seine Spannung. Es geschah während des zweiten Satzes, daß Cliff stürzte. Mit einer schwerfälligen Rückhand hob er den Ball über Fred hinweg, um ihn an die Grundlinie zu fesseln, und stürmte vor, um seinen Return am Netz abzufangen. Als Dutton das bemerkte, schlug er
den Ball in einem hohen Bogen in die vordere Ecke, knapp hinter das Netz. Wahrscheinlich war es eine kleine Lache aus Schweiß, in der Cliff ausrutschte. Er prallte mit dem Kopf gegen den Stahlpfosten, an dem das Netz befestigt war, und blieb bewußtlos liegen. Fred eilte zu seinem Freund, wälzte ihn herum und tastete wie rasend die Halsschlagader ab. Der Puls jagte; erst nach einer Weile nahm er ihn überhaupt wahr. Die Kontinuität schlich sich auf leisen Sohlen in Cliffs Erleben zurück, durch die blendende, grellweiße Sicht-Ton-Verworrenheit grenzenloser Bewußtheit. Lange bevor er zu sich kam, kehrte sein Empfindungsvermögen wieder. Unter sich erfaßte er das Fühlen über sich das Wissen; Sehen, Hören und Verstehen lagen irgendwo dazwischen, und er bemerkte ein ständiges Fließen zwischen ihnen, farbige Lichtströme, in die Tröpfchen kontrastierender Farbe eingeschlossen waren, die wie Blutkörperchen dahintrieben, auf einer gewagten, fantastischen Reise. Der Empfindung folgte das Spektakel, eine Orgie aus Licht und Farbe. Leuchtende Scheiben aus bunter Helligkeit, erst feuriges Orange, dann tieferes Rot, wechselten sich mit sattem Grün ab. Das Grün verwandelte sich in Gold, das mit der Leuchtkraft einer Million Sonnen zu glühen schien, dämmerte dann zu einer silbrigen Nadelspitze, eingehüllt in ein blaues, funkensprühendes Wallen, das sich ausbreitete und verstärkte und eine gelbrosa Tönung annahm. Dazwischen dehnten sich Bänder, die sich mit schimmerndem Prunk in die Länge zogen. Dann verblaßte funkelndes Weiß zur Bedeutungs-
losigkeit und durchdrang Cliffs Bewußtsein völlig, schrumpfte zu einer weißen, von zwölf goldenen Fäden durchsetzten Kugel in der Mitte, die von tausenden Strahlen verschiedenfarbigen Lichts umschlossen war. Diese glänzende Sonne drehte sich, helle Funken stoben in alle Richtungen, und sie formten ein unbeschreibliches, bezaubernd schönes Mandala. Cliff stieg der Sonne entgegen, oder er wurde von ihr angezogen; jedenfalls bewegte er sich auf sie zu, durchstieß sie. Von seinem neuen Standort aus konnte er zusammenhängende Sternchen sehen, sieben winzige Konstellationen, aneinandergekettet durch glühende Tropfen die von Stern zu Stern strömten. Cliff schwebte über diesen Gebilden, von denen keines dem anderen glich, obwohl jedes aus einem hellorangen oder schmutzigbraunen unteren Stern und einer Spitze bestand, die wie ein gigantisches Regenbogenrad mit einer weißen Nabe und goldgelben Speichen aussah. Langsam trieb er auf eine hellere, leuchtendere Konstellation zu, die horizontal unter den übrigen lag. In der Nähe eines sechszackigen Sterns – der dritte von unten – drang er in sie ein, und augenblicklich schossen rosa getönte elektrische Ströme durch ihn. Orange und rote Lichtbogen mit purpurnen Streifen flossen abwärts, ließen ihn sich seiner unteren Gliedmaßen und Organe bewußt werden. Ovale Perlen brandeten in einer gelben Flut nach oben, erreichten sein Herz, und er spürte es schlagen und die Lebenskraft durch seine Adern pumpen. Dann berührte einer der blauen elektrischen Ströme den rötlichen Stern seines Solarplexus. Zwei Strahlen – einer von klarstem Blau, der andere violett
glänzend – wölbten sich daraus hervor, züngelten zum Stern seiner Kehle empor und kletterten in indigofarbener Unwiderruflichkeit in seinen Kopf. Neuerlich breitete sich ein weißer, undifferenzierter Laut in ihm aus. Langsam, ganz langsam, verklang er wieder im Geplapper der Stimmen aller Zeiten, in einem ewigen Moment des Sprechens. Gerüche, ein scharfer Geschmack, eine verschwommene, abstrakte Empfindung von Schwere griffen auf ihn über, vereinigten sich zu einem rotschwarzen Hämmern, einem pulsierenden Druck, der im erstaunten und verwirrten Gehirn von Clifford Jackson McBride in rhythmischer Unvermeidbarkeit an- und abschwellte. Er war wieder er selbst, und all die Kopfschmerzen seines Lebens schienen gleichzeitig in seinem Schädel zu rumoren; ein lang anhaltendes, pochendes, unerträgliches Pulsieren. Mit jedem Herzschlag ergoß sich ein Stromstoß in sein benommenes Bewußtsein, eine funkelnde, unverfälschte Licht-Ton-Wahrnehmung, die das Ausmaß und die Intensität einer Sonne erreichte. Er würgte, fürchtete zu ersticken. Hände drehten seinen Körper, richteten ihn auf, und er wurde sich der ekelerregenden Bewegung gewahr. In seinem Kopf rollte dumpf der Donner. Cliff öffnete die Augen. Freds Gesicht, das mit schockgeweiteten Pupillen sein Blickfeld füllte, strahlte in alle Richtungen einen blau-violetten Glanz aus. Rasch senkte Cliff die Lider. An der Stelle, wo sich Freds Kopf befunden hatte, ereignete sich eine grelle Lichtexplosion, rosa und gelb über der schwarzen, horizontalen Mittellinie, blau und purpurrot darunter. Während Cliff verblüfft das
Farbenspiel über sich ergehen ließ, verformte sich die Mittellinie langsam zu einem S und begann zu rotieren. Ungläubig öffnete er die Augen, und Freds besorgtes Gesicht, das auf ihn herabblickte, wurde noch immer von einem silberblauen Lichtschimmer eingehüllt. Cliff blinzelte, doch die Illusion ließ sich nicht vertreiben. Angst durchzuckte ihn, scharf und unwiderstehlich, und er schloß die Augen erneut, nur um den gelb-purpurnen Stern wahrzunehmen, der sich langsam im Kreis drehte. Der Panik nahe, riß er die Augen wieder auf; der Stern verschwand, nicht aber der dunkelblaue Halo um Freds Gesicht. Cliff versuchte zu sprechen, aber alles, was er hervorbrachte, war ein trockenes Krächzen in seiner Kehle. Er hob eine Hand vor sein Gesicht, sie verdeckte Freds Kopf und machte einen vertrauten Eindruck. Doch auch sie war von bläulichem Licht umgeben. Als er die Hand genauer musterte, fiel ihm auf, daß der Lichtschimmer in etwa ein Zentimeter Entfernung von der Haut einsetzte. Während er auf das nun fast violette Flimmern starrte, fragte er sich, was mit seinen Augen geschehen sein mochte. Dann wurde das Hämmern in seinem Kopf wieder heftiger. Unerbittliches Rot überlagerte alle anderen Farben, und er sackte zusammen, sämtliche Sinne unfreiwillig auf den marternden Schmerz konzentriert. Die Schwester war froh, Cliff im verdunkelten Krankenzimmer bei Bewußtsein vorzufinden, behandelte ihn allerdings mit einer gewissen Ungeduld. Ihre Lichthülle wurde von sexueller Erregung rötlich ver-
färbt. Wie kann ich das wissen? Sie hatte ihre Runde schon fast beendet und würde ihn in der Wäscherei treffen. Aber das ist verrückt. Nicht nur mein Sehvermögen ist gestört – jetzt habe ich auch noch Halluzinationen. Dabei geschah es so mühelos so selbstverständlich; für einige Augenblicke hatte er gar nicht bemerkt, daß sich scheinbar ihre Gedanken in seinem Kopf befanden. Während sie den Blutdruck maß, musterte Cliff ihren rubinroten Glanz. Sexuelle Vorfreude erfüllte die Schwester. Ein nackter, sonnengebräunter junger Mann erschien in Cliffs Blickfeld und verschwand wieder. Das ist lächerlich! Seit ich mit dem Kopf gegen den Pfosten knallte, muß ich übergeschnappt sein. Dieser Gedanke erweckte die Erinnerung an den Vorfall zu neuem Leben, und er tastete vorsichtig seinen Kopf ab. Er entdeckte eine stattliche Beule, aber keinen Verband. Die Berührung tat weh, doch die Schmerzen ließen sich ertragen. Ein dumpfes Dröhnen nistete in seinem Schädel. Er blickte die Schwester an, die mit seinem Arm beschäftigt war. »Wie ... wie lang bin ich schon hier?« fragte er. »Eins neunzehn über vierundsiebzig.« Sie notierte seinen Blutdruck, griff nach seinem Handgelenk und schaute auf ihre Uhr. »Ungefähr vier Stunden. Ich zähle.« Nachdem sie auch seinen Puls eingetragen hatte, wandte sie sich zum Gehen. Cliff konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Wie heißt er?« »Lance. Und er ... ach, gehn Sie zum Teufel!« Ihr Erröten paßte ausgezeichnet zu ihrer Erscheinung. Sie verließ den Raum. Also hatte sie sich in Gedanken tatsächlich mit ei-
nem Mann beschäftigt. Aber was bewies das schon? Erklärte es die roten Lichtstrahlen, in die ihr Körper eingetaucht war? Handelte es sich dabei um eine Täuschung, um eine unangenehme Folgeerscheinung seines Unfalls? Cliff legte sich zurück und suchte nach einer Antwort, doch seine Gedanken drehten sich im Kreis. Die Aura des Arztes war grün. Er freute sich, daß es seinem Patienten besser ging, obgleich sich Cliff dessen nicht so sicher war. Das smaragdene Leuchten um den jugendlichen, ungekämmten Körper des Mediziners faszinierte und beunruhigte ihn zugleich. Er dachte an Gehirnerschütterung, Gehirnblutung und Methoden, gerissene Muskel zu nähen, letzteres für seine morgige Vorlesung. Schon wieder! Träume ich, oder was ist mit mir los? »Doktor ... warum sehe ich Farben?« »Farben?« Sein unrasiertes Gesicht zeigte Interesse. »Nun, ich ... Ich sehe Farben um jeden Menschen. Sie sind grün, oder zumindest umgibt ein grüner Schein Ihren Körper. Bei der Schwester war er rot. Könnte das auf die Gehirnerschütterung zurückzuführen sein?« »Ich nehme schon an, obwohl ... Beschreiben Sie diese Lichter.« »Sie ... sie beginnen nicht direkt auf der Haut, sondern ein wenig von ihr entfernt, und verlaufen ungefähr so weit strahlenförmig vom Körper weg, ehe sie sich an den Rändern verlieren. Die Farbe ist sehr leuchtstark, und sie wirkt ... elektrisch.« »Hmmm.« Der Arzt befahl Cliff, den Kopf in den Nacken zu legen, um ihn aus einem besseren Winkel
betrachten zu können. Er leuchtete zuerst in das eine, dann in das andere Auge. »Visuelle Phänomene sind im Zusammenhang mit Hemeralopie oder Nachtblindheit schon aufgetreten«, sagte er. »Ich nehme an, es handelt sich um eine zeitweilige Auswirkung Ihrer Verletzung. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung, aber ich kann keine Anzeichen für etwas Gefährlicheres entdecken. Wenn sich Ihr Zustand nicht verändert, können Sie am Morgen nach Hause fahren.« Er stand neben dem Bett, und seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Ende der Visite und seiner Vorlesung. »Ich würde für ein paar Tage auf Tennis und andere anstrengende Tätigkeiten verzichten«, meinte er. »Können Sie ohne Medikamente schlafen? Bei einer Gehirnerschütterung, besonders wenn ungewöhnliche Symptome auftreten, ist es besser so.« »Ich glaube schon.« Der junge Arzt entfernte sich. Als Fred das Zimmer betrat, war er in einen purpurnen und grünen Strahlenkranz gehüllt. Unruhe und Selbstvorwürfe gingen so fühlbar von ihm aus, daß Cliff ihre Wärme beinahe physisch spürte, als absorbierte er sie durch seine Haut. Beth folgte in einem gemusterten Kleid, das Heiterkeit und Frohsinn verbreitete. Cliff fragte sich verwundert, warum sie keine Aura besaß. Freds besorgte Schuldgefühle lagen offen vor ihm, aber Beths Gedanken blieben ihm verschlossen. Sie stand da und versuchte zu lächeln. Fred brach das peinliche Schweigen. »Na, wie fühlst du dich?« Er grinste, verbarg seine Angst hinter erzwungener Lässigkeit. Er setzte sich
auf die Bettkante. »Mir geht es gut. Der Doktor sagte, kein Grund zur Beunruhigung. Meine Augen wollen noch nicht so recht, aber er meinte daß das vorübergeht. Gehirnerschütterung. Tut nicht mehr besonders weh. Wie ist es passiert?« »Dein Kürbis ist gegen den Netzpfosten gekracht. Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Deine Augen schauten seltsam aus, so verdreht. Geht es dir wirklich gut?« »Klar, außer ...« »Ich denke, ihr seid beide Narren!« Beth war rot im Gesicht was einen hübschen Kontrast zu ihren grünen Augen bildete. »Wie konntet ihr nur so wild spielen? Tennis ist für Männer in eurem Alter zu anstrengend. Denkt an eure Herzen, ganz abgesehen von der Gefahr einer Verletzung. Ich hätte euch mehr Verstand zugetraut.« Cliff bemühte sich, ihre Gedanken zu sondieren. Nichts. Kein Hinweis, warum sie sich solche Sorgen machte. Gewiß, sie waren durch die jahrelange gemeinsame Arbeit bei der Kraftwerksgesellschaft Freunde geworden, aber nie zuvor hatte sie sich so verhalten wie eben jetzt. Er wünschte, er hätte einen Blick in ihr Gehirn werfen können. Rasch wechselte er das Thema. »Gab es irgendwelche Schwierigkeiten mit den Hubschrauberpiloten?« Er stützte sich auf den Ellbogen, setzte sich dann aufrecht hin, um zu beweisen, daß er wirklich nicht verletzt war. Eine Lüge. »Ungefähr zwanzig Minuten lang nicht«, antwortete Fred. »Dann kamen sie zurück und sagten Henderson, wenn er so gottverdammt scharf drauf wäre,
daß das Unkraut-Ex gespritzt wird, dann soll er's selber tun. Sie wollten deswegen nicht abgeschossen werden.« »Abgeschossen?« »Farmer«, erklärte Beth ruhig. »Jagdgewehre und Schrotflinten. Bob wußte nicht, was er unternehmen sollte. Die Piloten waren ziemlich aufgeschreckt.« »Jemand verletzt? Was ist mit der Ausrüstung?« »Nein, keine Verletzungen und kein Schaden. Ich nehme an, daß sie nur blufften.« Cliff schlug die Bettdecke zurück, schwang die Füße auf den Boden und erinnerte sich, daß er nicht gerade viel am Leibe trug. »Das wollen wir uns mal persönlich anschauen«, sagte er. »Fred, hole jemand, der für meine Entlassung zuständig ist, und bringe mir meine Kleidung. Beth, rufen Sie Bob an und sagen Sie ihm, daß wir uns am Wartungshof mit ihm treffen. Er soll alle Arbeiter mitbringen, die er ohne Verzögerung auftreiben kann, und –« »Wau!« Fred drängte ihn sanft, aber bestimmt ins Bett zurück. »Du gehst nirgendwo hin, solange die Ärzte nicht ihre Zustimmung geben. Ich werd' mich mit ihnen unterhalten, und Beth kann den Anruf erledigen. Aber mit Henderson kann sich ein anderer treffen. Entspanne dich.« Als die beiden zurückkehrten, arbeiteten sie die Einzelheiten aus. Henderson konnte Mannschaften ausschicken, die die Yellow Creek-Strecke rodeten, und Fred konnte die Kosten als Notfall verbuchen. Bodensenkung, beschlossen sie, mit genügend freigelegtem Kabel, um diesen Aufwand zu rechtfertigen. Die Piloten konnten unterdessen in einer anderen Gegend
eingesetzt werden. Cliffs Fähigkeit, einen Großteil von Freds Gedanken zu erlauschen, beschleunigte die Planung erheblich, und des öfteren vermochte Beth ihrem sprunghaften, verzweigten Vorgehen nicht zu folgen. Schließlich waren alle Details geklärt. Fred und Beth brachen auf, um Henderson die nötigen Anweisungen zu erteilen. Sie bestanden darauf, daß sich Cliff Ruhe gönnte. Der Schlaf ließ lange auf sich warten. Cliffs Verstand sträubte sich gegen die Tragweite, die seinen Halluzinationen und seinem Lauschen in fremden Gehirnen möglicherweise innewohnte. Wenn er die Augen schloß, ergoß sich ein breiter, schäumender Wasserfall über die Schwärze seiner Sehwahrnehmung. Mit einem Blinzeln verdrängte er ihn, und – was zum Teufel ... – an seiner Stelle tauchte ein Lastauto auf, ein riesiger Sattelschlepper, der an einer Ziegelei vorbeidröhnte. Der Anblick des Wagens erfüllte ihn mit Schrecken und Haß, und er öffnete die Augen, um das Bild aus seiner Vorstellung zu vertreiben. Aber auch mit offenen Augen sah er das Fahrzeug, wie es sich näherte, drohend, furchterregend, ein stampfendes Ungetüm auf Rädern. Als es schließlich an ihm vorbeirollte, fiel er aufseufzend in sein Bett zurück. Neue Bilder füllten seinen Geist. Ein Hund mit weichem flauschigem Fell, der heulte; zwei Frauen, einander dunkle Geheimnisse zuflüsternd, die er nicht verstehen konnte; Messer und Stühle, Aktenschränke, Computermonitore und Türen hinter Türen hinter Türen, von denen jede Weisheit einzuschließen schien beim Öffnen aber lediglich Zugang zu einer weiteren Tür gewährte. Er richtete sich wieder auf, schlug mit
den Händen nach den Bildern, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Er hatte sich gerade zu dem Entschluß durchgerungen, die Schwester zu rufen und sie um ein Schlafmittel zu bitten, als er den Schrei hörte – so schrill und laut, daß er in den Ohren schmerzte. Es war der Schrei einer Frau in höchster Angst. Könnte all das eine Art Wahn sein – Sterne und Farbempfindungen und Gedankenlesen und Visionen, wie Vogelschwärme rund um meinen Kopf; und jetzt der Schrei? Ich bin völlig durcheinander. Verwirrt durch die Gehirnerschütterung. Die Selbsterkenntnis bescherte ihm eine Atempause. Der Schrei war verstummt, und die Bilder verblaßt. Erschöpft schlief er fast augenblicklich ein. Der zweite Schrei weckte Cliff McBride vor der Morgendämmerung, so durchdringend, daß ihm kalte Schauer über den Rücken rieselten, so lange, daß er aufrecht im Bett saß und sich mit den Händen die Ohren zuhielt, ehe er endlich verstummte. Ein Traum, dachte er. Es muß ein Traum sein. So etwas Bizarres kann sich nicht wirklich ereignen. Satzfetzen kamen ihm in den Sinn, von einem Dutzend Stimmen geflüsterte Geheimnisse. Farbige Sterne schoben sich in sein Blickfeld und verschwanden wieder; sie verliehen der unvollständigen Dringlichkeit der Gedanken eine traumähnliche Qualität. Cliff wälzte sich unruhig auf die andere Seite, während er die Ängste und Qualen, die unerfüllten Erwartungen, die Schrecken und Demütigungen von hundert hoffnungslosen Leben durchmachte. Als die Sonne aufging, riß ihn ein weiterer Schrei aus dem Halbschlaf.
Sein Kopf schmerzte, der Puls raste, und die Bettwäsche war mit Schweiß durchtränkt. Cliff hatte das Gefühl, als wäre sein Denken in zwei Teile gerissen, und durch den Spalt drängten immer neue Visionen. Stumme, wutverzerrte Gesichter, Szenen die nicht seiner Erinnerung entsprangen, schreiende, murmelnde, rufende Stimmen, die ununterbrochen auf ihn einredeten. Ein verzweifelter Zorn übermannte ihn, ein Zorn gegen die Macht des Schicksals, das ihm auf der Bühne des Lebens ausgerechnet diese Rolle zugewiesen hatte, ein Zorn, wie er ihn seit den Tagen, da sich seine Ehe mit Katherina durch die letzten Todeszuckungen quälte, nicht mehr gekannt hatte. Abteilungsleiter Clifford Jackson McBride verbarg das Gesicht in beiden Händen und weinte – zum erstenmal seit seiner Kindheit. Um zehn Uhr fuhr ihn Beth in sein Büro. Sie hatte ihn zuerst in seine Wohnung bringen wollen, doch er weigerte sich – es umgab ihn dort zuviel Nichts. Er brauchte Aktivität, Menschen, Verantwortung, um sich von seinen Wahnvorstellungen abzulenken. Auch heute sah er um jedermann diesen Farbschimmer, mit Ausnahme von Beth. Sie war undurchsichtig und fest, ein Hafen der Beständigkeit inmitten einer Welt, die aus den Fugen ging. Sie umsorgte ihn, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und erledigte die routinemäßig anfallenden Arbeiten im Büro. Wann immer ihn ein Mitarbeiter aufsuchte, mußte Cliff die Geschichte des Unfalls wiederholen. In der übrigen Zeit studierte er die Modifizierungsanalysen und Verfahrenspläne für Clay Ridge und trieb sich
ungewollt in fremden Gedanken herum, vermied es aber, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Vielmehr vergrub er sich in seine Pflichten, was ihm tatsächlich eine gewisse Erleichterung verschaffte. Um halb fünf kam Henderson mit einem Bericht über Yellow Creek. Die Arbeit machte Fortschritte und konnte bis Samstag abgeschlossen werden, aber Fawcett hatte von ihr Wind bekommen und befahl Cliff auf der Stelle in sein Büro. Fawcett! Verdammt soll er sein! Eine unheilvolle Ahnung überkam Cliff, doch er wischte sie mit seinem Haß beiseite. Das Büro ein Stockwerk höher war fast genauso luxuriös eingerichtet wie das des Präsidenten. Als Cliff eintrat, residierte Fawcett hinter seinem blitzsauberen Schreibtisch und schaute ihm finster entgegen. Cliff bemerkte eine trübe rotbraune Aura, und hinter den klaren Knopfaugen wirbelte ein glänzender Strudel aus Vorstellungen und Eindrücken. Mit offenem Mund starrte er ungläubig auf die flackernden Gedankenbilder des Vizepräsidenten. »Sie konnten es einfach nicht lassen, was?« Die lose hängende Wamme zitterte vor Ärger. »Schickten in aller Ruhe eine nette, kleine Kompanie auf den Yellow Creek, entgegen Davidsons Befehlen – ganz zu schweigen von meinen eigenen. Für wen, Herrgott noch mal, halten Sie sich eigentlich? ... Keine Antwort? Das dachte ich mir. Sehen Sie sich vor McBride. Gehorsamsverweigerung ist ein Entlassungsgrund, und ich werde dafür Sorge tragen, daß Mr. Davidson und der Ausschuß lückenlos informiert werden über ... über diese bodenlose Unverschämtheit ... Worauf starren Sie?«
Cliff zwang sich zu einem Lächeln. »Ihre Gedanken, T. J., Ihre kleinlichen, arroganten, hochnäsigen, habsüchtigen und zynischen Altmännergedanken. Ganz und gar ekelhaft.« »Bei Ihnen ist wohl eine Schraube locker? Gedanken! Ich glaubte, Sie würden wenigstens einmal etwas ernst nehmen, Junge. Jetzt hören Sie mir mal zu –« Aber Cliff war aufgesprungen, die Fäuste geballt, das Kinn vorgeschoben. »Ersparen Sie sich den Furz! Stecken Sie sich Public Relations und Ihre banalen Intrigen in Ihren Verwaltungsarsch und lassen Sie mich meine Arbeit tun. Was geht Sie das überhaupt an, hmm?« Auf einmal wurden Fawcetts mentale Bilder klar und deutlich. Cliff sah, wie ein kleiner Mann in einem Baumwollanzug Fawcett ein Bündel Geldscheine überreichte. Er sah Kaufquittungen und Rechnungen und Lieferbestätigungen, alle sorgfältig geordnet, aber jede einzelne von ihnen gefälscht. Rechnungen für nicht gelieferte Waren und für niemals erbrachte Dienstleistungen. Schecks, ausgestellt auf ein Dutzend verschiedener Firmen, die in verschiedenen Banken stets von ein und demselben Mann eingelöst wurden, der ein Muttermal neben der Nase besaß. Und Cliff erhielt Einblick in die Hintergründe. Der Mann hieß Simons und hatte ein umfassendes Dossier über Fawcett und noch andere zusammengetragen. Cliff sah Polaroid-Fotos, die Fawcett mit jeweils verschiedenen Frauen beim Liebesspiel zeigten. Simons hatte ursprünglich Material für einen Scheidungsprozeß gesammelt, was sich zu einem einträglicheren Geschäft als erwartet entwickelte. Er erpreßte Fawcett und wer weiß wie viele andere.
»In dieser Gesellschaft bin ich für alles zuständig, McBride. Ihre Unverschämtheit wird Sie teuer zu stehen kommen. Sie haben nicht die leiseste Ahnung über die Aufgaben der Verwaltung, und es sieht so aus, als könnten Sie auch Ihre eigene Abteilung nicht führen. Verschwinden Sie jetzt, und pfeifen Sie Ihre Leute zurück –« »Wie sehr ist er daran beteiligt, T. J.? Und wie viel davon haben Sie auf jedes Kilowatt aufgeschlagen?« »Was? Wovon sprechen Sie eigentlich? Verschwinden Sie, und schicken Sie die Männer dorthin, wo sie hingehören.« »Klar. Sicher. Machen Sie bloß nicht in die Hose.« »RAUS!!!« »Danke für dein Kommen, Fred; ich weiß, es ist spät. Setz dich. Kaffee? Wenn Sie so lieb sind, Beth, und setzen Sie sich dann auch, ja?« Fred war verwirrt, seine bläuliche Aura gedämpft. Er hatte sich sofort in Cliffs Büro begeben, als ihn dessen Anruf kurz nach fünf erreicht hatte. Nachdem der Kaffee serviert worden war, wischte sich Cliff mit der Hand über die Stirn. »Zwei Punkte. Einer ist völlig unsinnig, der andere leider nicht.« Fred, der in Cliffs Augen jetzt in einem klaren, blauen Glanz erstrahlte, verlagerte sein Gewicht. Seine Gedanken waren ruhig, offen, gespannt. Beth, noch immer die Ausnahme, die sich Cliffs unglaublicher Fähigkeit widersetzte, saß steif auf ihrem Stuhl; ihre Hände ruhten in ihrem Schoß. »Es ... es ist verrückt. Ich ... ich kann ...« Cliff räusperte sich. »Nun, zumindest habe ich den Eindruck,
daß ich die Gedanken einiger Leute lesen und ihre Gefühle empfinden kann.« »Sie meinen Telepathie?« erkundigte sich Beth unbewegt. »Gedanken lesen?« Fred wurde neugierig. »Wie bei diesen Experimenten an der Duke Universität?« »Hmmm ... so ungefähr. Seit gestern, seit dem Schlag auf den Kopf, sehe und höre ich die seltsamsten Dinge. Um deinen Körper, Fred, bemerke ich einen blauen Lichthof, den ich mir nicht erklären kann.« »Eine Aura?« fragte Beth. »Ein Astralleib? Wie bei Madame Blavatsky? Cliff, das ist erstaunlich. Ich interessiere mich seit Jahren für parapsychische Phänomene. Wie sieht diese Aura aus?« »Meine Kräfte scheinen nicht auf jeden anzusprechen. Ich lese nicht ständig Gedanken, und wenn, dann zapfe ich meistens immer dieselben Leute an. Wie zum Beispiel Fred.« »Paß auf«, meinte Fred. »Wenn du die Wahrheit sagst, können wir das testen. Woran denke ich gerade?« Cliff starrte ihn an. Er forschte nach der bereits vertrauten flackernden Visualisierung von Gedankenbildern, doch nicht einmal der blasseste Schatten zeigte sich. Der blaue Strahlenkranz blieb bestehen, aber er enthielt keinerlei Hinweis auf Freds Gedanken. »Es geht nicht. Vielleicht hat es mit Streß zu tun oder mit Gefühl oder irgend etwas sonst. Aber wenn meine Fähigkeit einsetzt, dann werde ich mir dessen bewußt. Die Schwester im Krankenhaus war ... ich konnte sie tadellos belauschen. Und ich hörte wie sich
der Arzt geistige Notizen für eine bevorstehende Vorlesung machte. Glaubt nicht, daß ich mir all das einbilde. Es fällt mir selbst nicht leicht, mich damit abzufinden. Manchmal fürchte ich, daß ich den Verstand verliere oder einen schweren Hirnschaden erlitt.« »Die menschliche Aura«, warf Beth ein, »ist ein prüfbares, nachweisbares bioelektrisches Phänomen. Kirlian gelang es, sie zu fotografieren, und jeder, der sich ernsthaft mit ihr beschäftigte, von Kilner bis Wilhelm Reich, versichert, daß sie existiert. Sie ist keine Einbildung, auch wenn nur wenige sie sehen können. Annie Besant verglich es mit Singen oder mit dem Zeichnen eines Bildes. Jeder kann es, aber um es zur Meisterschaft zu bringen, braucht man das nötige Talent.« »Berichtete einer von diesen Leuten auch etwas über Telepathie?« »Natürlich. Und trat nicht auch Peter Hurkos Begabung erst auf, nachdem er vom Dach auf den Kopf gefallen war?« Keiner der beiden Männer war darüber informiert. Aber offensichtlich hegte Beth an seinen Worten keinen Zweifel. Cliff atmete erleichtert auf. »Ich will nicht behaupten, daß ich verstehe, was mit mir passiert ist. Ich habe noch immer ein verdammt mulmiges Gefühl im Magen. Aber mit Hilfe meiner Fähigkeit, was und wie auch immer, erfuhr ich von einem ganz heißen Ding. Ich glaube, das wird der Ohio-River-Energie-Gesellschaft gerade an der richtigen Stelle einen heilsamen Schock versetzen. Fawcett veruntreut Firmengelder. Ich weiß keine Einzelheiten – das wird deine Aufgabe sein, Fred.
Wäre es möglich, daß er falsche Rechnungen, gefälschte Lieferscheine und so weiter einschleust? Würde der Computer darauf reinfallen?« »Ob es möglich wäre? Manche Firmen kalkulieren von vornherein eine nicht unerhebliche Summe ein, die sie auf diese Weise verlieren. Natürlich ist es möglich! Bestechung, Rabatte, manche legal, manche nicht – das wird sich nie verhindern lassen. Und wenn die Belege mit den richtigen Laufnummern, Buchungsstempeln und dergleichen versehen sind, sind sie nur schwer ausfindig zu machen. Ja, Cliff, die Möglichkeit besteht.« Er lehnte sich zurück und schlug sich mit der flachen Hand klatschend aufs Knie. »Fawcett! Ich will verdammt sein. Wie hast du es erfahren? Ein vertraulicher Tip von einem Mitverschwörer, der ein zu kleines Stück vom Kuchen erhielt?« »Nein. Ich ... ich fischte es aus T. J.s rostigem, ekelhaftem Gehirn. Jemand namens Simons droht, seiner Frau oder der Firma einiges über seine Liebschaften zu erzählen, und das jagte Fawcett einen gehörigen Schrecken ein. Nähere Einzelheiten waren nicht ersichtlich, aber es ist wahr, verdammt! Ich sah es in seinen Gedanken. Ich bin sicher, daß ihn Simons erpreßt, ich weiß nur nicht wie. Könntest du in der Buchhaltung Beweise finden?« »Klar. Geh'n wir gleich runter!« Fred erhob sich, und auch Beth stand auf. »Ich hoffe, ihr schnappt diesen schmutzigen alten Mann. Sein Ruf als Lüstling erstreckt sich über drei Abteilungen und fünf Fahrstühle. Wenn Sie mich brauchen, ich bin zu Hause und büffle meine Bücher über parapsychische Phänomene. Gute Nacht! Cliff,
Sie benötigen dringend ein wenig Schlaf. Sie sehen müde aus.« »Nacht«, sagte Cliff. »Und, Beth – danke.« Auf einmal wirkte sie verwundbar, als sie sich in der Mitte des Büros noch einmal umdrehte. »Nichts zu danken. Ich kannte bisher kein Medium. Vielleicht werden Sie eines Tages meine Gedanken lesen.« Sie floh errötend. »Na komm schon«, drängte Fred Dutton ungeduldig. »Wir vergeuden Zeit, und wir haben beide noch nicht zu Abend gegessen.« Außer Cliff und Fred hielt sich niemand in der EDVAbteilung auf, wo sie die auf einem Bildschirm aufleuchtenden Zahlen und Ziffern studierten. Sie wurden fündig, als sie die Ausgaben für Public Relations überprüften. Die veruntreuten Beträge waren zwar nicht so offensichtlich, daß sie sofort ins Auge sprangen, aber sie ließen sich aufdecken, wenn man die Ausgaben für gleiche Waren und Dienstleistungen mit denen des vergangenen Fiskaljahres verglich. Die Steigerung betrug 287%. Duttons Buchprüfung brachte außerdem zutage, daß vor allem eine Firma ein erhebliches Übergewicht an »Aufträgen« für Werbematerial verzeichnen durfte – Simons-BertramCommunications. Innerhalb von sieben Monaten fast 37.000 Dollar. Cliff ließ einen überraschten Pfiff ertönen. Fred sagte: »Es kann noch weitaus mehr sein, in anderen Spesen-Kategorien oder als Verwaltungsausgaben verschleiert.« Er stieß sich von der Konsole ab und tippte mit der Fingerspitze gegen den Bildschirm, der folgenden Eintrag wiedergab:
RECHNUNG 296.01 NAME Simons-Bertram-Comm. 7040 Riverview Ave. Sparta, OH 43491 LAUF. MONAT $ 4.716,30 FISK. JAHR $ 36.824,19 Fred drückte zwei Tasten, und die Schrift auf dem Schirm erlosch. »Gut. Ich glaube dir, selbst wenn du es in Fawcetts dreckigen Eingeweiden gelesen hättest. Morgen wühlen wir uns durch die Belege, verschaffen uns das nötige Beweismaterial und legen es der Direktion vor. Aber jetzt gönnen wir uns ein saftiges Steak – auf meine Kosten – und dann geht's ab ins Bett. Du wirst deine Kräfte noch brauchen, du schaust ziemlich erschöpft aus.« Als Fred das Licht ausschalten wollte, schob ein kleiner, dicker Mann in zitronengelber Hose und Hemd einen Karren durch die Tür. »Ich mach' das schon, Mr. Dutton. Ich dachte, Sie wären hier bereits fertig.« »Oh, Johnson. So spät noch an der Arbeit?« »Die neuesten Daten müssen eingespeist werden. Machen Sie sich keine Sorgen, ich schalte das Licht aus und sperre zu.« »In Ordnung. Gute Nacht.« Sie beobachteten, wie der kleine Buchhalter hinter seinem Karren zur InputKonsole watschelte. Er trug weiße Schuhe, und seine Aura wies die Farbe von Lavendel auf.
Fred und Cliff besuchten ein Restaurant in der Nähe. Eine Stunde später erloschen in der EDVAbteilung die Lichter. Wieder weckten die Schreie Cliff am frühen Morgen, noch ehe die Dämmerung anbrach. Er schleppte sich mürrisch ins Badezimmer und schluckte eine Tablette. In den folgenden Minuten, bevor ihre Wirkung einsetzte, versuchte er sich über die Gesetze Klarheit zu verschaffen, denen seine Fähigkeit des Lauschens in fremden Gehirnen unterworfen war. Offensichtlich gehörte unmittelbare Nähe zu den Voraussetzungen. Aber warum? Fing er eine Art Gehirnwellenstrahlung auf? Und noch etwas anderes: Wieso nahm er keine belanglosen, trivialen, Liebling-vergiß-die-Butternicht-Gedanken wahr? Unwichtiges blieb ihm stets verschlossen. Warum? Ein konstanter Faktor schien zu sein, daß jeder von ihm aufgeschnappte Gedanke eine zumindest gefühlsmäßige Bedeutung besaß. Aus welchem Grund? Wodurch erhielten diese Gedanken ihre Energie – Energie? Vielleicht funktioniert Telepathie wie ein Radio, dachte er. Innere Erregtheit könnte die Trägerwelle sein, welche die für die Übertragung nötige Energie zur Verfügung stellt, und die Gedanken, die Bilder, die Stimmen wären die der Welle aufgeprägten Modulationen, durch die die Botschaft übermittelt wird. Weiter wären Feldstärke und Frequenz zu beachten. Entsprechen die Gefühle der Menschen verschiedenen Frequenzen? Breiten sie sich strahlenförmig aus? Wenn ja, dann könnte es auch eine Deltawellenabstimmung oder etwas Vergleichbares geben, ebenso
Diffusion, Refraktion, Bandbreite, und es stellte sich die Frage, ob es sich um Frequenz- oder Amplitudenmodulation handelt. Und dann die benachbarten RF – oder sollte man, im Gegensatz zu Radiofrequenz, lieber EF, also Empathiefrequenz sagen? – man müßte sie irgendwie ausfiltern, denn genauso, wie eine Menge zufälliger Quellen von Funkwellen ununterbrochen statische Störungen verursachen, erzeugen eine Unmenge von Menschen (und wahrscheinlich auch Tiere) zufällige empathische Signale. Und in diesem Bereich gab es keine Bundesbehörde, die Richtlinien für Frequenzen, Senderstandorte oder Signalstärke erstellte. Stärke. Letzten Endes lief alles wieder auf die Energie hinaus. Wenn man annimmt, daß das Gehirn wie ein natürlicher oder zufälliger Empathie-Empfänger funktionieren kann, der auf telepathische Sendungen in der Art anspricht wie eine Zahnfüllung unter Umständen auf Funkwellen, hatte man noch immer nicht nachgewiesen, daß die Gefühle überhaupt eine Strahlung erzeugen. Cliff dachte an die sternähnlichen Lichterscheinungen und fragte sich zum hundertsten Male, was diese personengroßen Konstellationen in Wirklichkeit sein mochten. Und würden nicht die Millionen rund um die Uhr sendenden Menschen eine beträchtliche Interferenz bewirken? Darum hört es auf; wenn ich mich aufrege, dachte er. Ich erzeuge in mir selbst ein Störsignal. Natürlich handelte es sich dabei nur um eine Hypothese, und Cliff war nicht so vermessen, sie als der Weisheit letzter Schluß zu betrachten. Er konnte seine Vermutung nicht beweisen – aber sie ließ sich testen. Und wenn sie sich als richtig herausstellte: Konnte er
dann lernen, erwünschte Schwingungen festzuhalten und unerwünschte auszublenden? Cliff hoffte es. Während die Schlaftablette sein Bewußtsein immer mehr umnebelte, rief er sich das alte PhilcoEmpfangsgerät in Erinnerung, das er als Kind besessen hatte. Es quietschte und pfiff zwar von Zeit zu Zeit, aber seine Empfangs- und Wiedergabequalität war hervorragend. Und was tat er, wenn es nicht funktionierte? Er klopfte einmal kräftig mit der Faust gegen das Gehäuse! Der Gedanke bereitete ihm Kopfweh. Das Telefon weckte Cliff. Mit einem Ruck setzte er sich auf. »Ja?« »Mr. McBride?« Es war Sally aus dem Empfangsraum. Seine Uhr zeigte vierzig Minuten nach neun. »Ja?« »Ist Mr. Dutton bei Ihnen?« In ihrer Stimme schwang eine unterdrückte Furcht mit. »Nein ... nein, Fred ist nicht da. Was ist los?« »Also, Sir, vielleicht nichts, aber als Brenda mit der Post kam fragte sie, ob ich Mr. Dutton gesehen hätte, weil er manchmal in Ihr Büro kommt, und sie wußte, daß Cindy es mir gesagt hatte, weil sie in der Pause miteinander geplaudert hatten, und sie sagte sie wüßte nicht –« »Sally.« Cliff schwang gähnend die Beine aus dem Bett. »– ob ich schon etwas gehört hätte oder ob –« »Miss Horgdorn! Bitte!« »Sir?« »Fangen Sie noch einmal von vorn an. Ist Mr. Dutton nicht in seinem Büro?« Es gelang Cliff, aufzuste-
hen und das Telefon hinter sich her in Richtung Badezimmer zu ziehen. »Nein, Sir. Wir schauten nach.« »Ich hätte es wissen müssen!« »Sir?« »Sally, erzählen Sie mir einfach, was los ist.« »Mr. Dutton kam heute morgen nicht. Niemand zerbrach sich darüber den Kopf, weil er manchmal –« »Ich weiß. Weiter.« Er erreichte das Badezimmer und begann sich mit Rasierschaum einzuseifen. »Also, Mr. Duttons Sekretärin bat Mr. Fincks Empfangsdame, mich anzurufen und zu fragen, ob er vielleicht hier gewesen ist, aber das Mädchen mit der Post war ohnehin auf dem Weg zu mir und sagte deshalb, sie würde mich fragen. Also –« »Miss Horgdorn. Sally. Ist Beth – da?« »Nein, Sir. Deshalb rufe ich ja an. Ich würde es nicht wagen, Sie zu Hause zu stören, wenn nicht Beth aus dem Büro gekommen wäre, während Brenda da war, und gesagt hätte, sie würde Mr. Duttons Wohnung aufsuchen und schauen, ob er zu Hause ist und ob er weiß, wann Sie heute kommen, da sie Sie nicht stören wollte, wenn Sie sich nicht wohl fühlen. Sie ging in ihr Büro, und ich sah, wie der Knopf auf dem Telefon aufleuchtete, und dann kam sie aus dem Büro gelaufen und rannte hinunter in die Eingangshalle. Bisher ist sie nicht zurückgekehrt, und ich wußte nicht, was ich tun soll, und deshalb rief ich Sie an.« »Natürlich«, meinte er trocken. Er fuhr mit dem Rasiermesser über das Grübchen an seinem Kinn. »Sagte sie etwas, als sie aufbrach?« »Nein, Sir. Sie rannte einfach an mir vorbei und hinaus – Oh, ja!«
»Was sagte sie?« »Er antwortet nicht.« »Ich hätte es wissen müssen!« »Sir?« »Nichts. Versuchen Sie alle paar Minuten, Mr. Dutton zu erreichen. Ich werde auf dem Weg ins Büro bei ihm vorbeischauen.« »Ja, Sir. Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie zu Hause anrief, Mr. McBride.« Mit einem Ruck knallte Cliff den Hörer auf die Gabel und taumelte plötzlich gegen das Waschbecken. In seinem Kopf explodierte ein Schrei, lauter als jemals zuvor. Er starrte konzentriert auf einen imaginären Punkt; auf Gesicht und Armen bildeten sich Schweißperlen. Warum hob Fred nicht ab, wenn er doch offensichtlich verschlafen hatte? Hatte er nicht beabsichtigt, heute morgen ohne Aufschub die gefälschten Rechnungen herauszusuchen? Und wohin war Beth geeilt? Fragen über Fragen, aber keine Antwort. Er wählte Freds Nummer. »Wir bedauern, aber dieser Apparat ist außer Betrieb. Bitte vergewissern Sie sich ...« Wieder schleuderte Cliff den Hörer von sich, dann überlegte er es sich anders und wählte die Null. Zum Zeitpunkt, da die Telefonistin aufgab, war er fertig angezogen, komplett mit einer braunen, modischen Krawatte. Irgend etwas stimmte nicht mit Freds Telefon – kein Besetztzeichen, kein Läuten, nichts. »Es tut mir leid, Sir, aber der Apparat scheint nicht angeschlossen zu sein. Soll ich Sie mit –« Er legte zornig auf und hastete hinaus zu seinem Auto. Als der Motor zu brummendem Leben erwachte,
flutete ein gellender Schrei über ihn hinweg. Verzweifelt preßte er die Stirn gegen die Kühle des Lenkrads. Der Schrei verstummte, und ein Bild, so realitätsnah wie eine dreidimensionale Projektion, tauchte vor ihm auf. Eine Küche, mit einer schmiedeeisernen Eßnische im Vordergrund. Freds Küche! Was zum T –? Ein kräftiger Hieb traf ihn wie ein Peitschenschlag an der linken Wange. Er hob den Kopf und blickte verstört um sich. Wie auf ein Stichwort setzte der Schrei wieder ein, schien sowohl aus seiner Kehle als auch seinem Geist zu brechen, und Cliff begriff, daß er das subjektive Erleben einer anderen Person teilte. In seinem Kopf dröhnte es. Dann verflüchtigte sich die Sinnestäuschung, und er befand sich wieder in seinem Buick. Schweiß brannte in den Augen und durchnäßte sein Sportsakko. Er trocknete das Gesicht mit dem Ärmel, tastete nach dem Ganghebel und jagte den Buick in den Verkehr der 49. Straße hinaus. Der Weg zu Freds Haus führte zwei Kilometer quer durch die Stadt. Während sich Cliff eilig zwischen Kombis und Lieferwagen hindurchschlängelte, schlich sich Furcht in seine Überlegungen. Der Schlag hatte so unheimlich real gewirkt; er bezweifelte nicht, daß sich seine linke Wange rötete. Wieder erschien ein Bild vor seinen Augen: Freds Schlafzimmer, das sich mit Cliffs tatsächlichem Sehen vermischte, so daß es vor ihm in der Luft zu schweben schien. Cliffs Armmuskeln verkrampften sich. Er fürchtete, mit dem Bett oder der Kommode zusammenzustoßen oder den großen Mann mit dem Schnurrbart zu überfahren. Im nächsten Moment verschwanden das Schlafzimmer und der Mann spurlos. Cliffs Besorgnis
jedoch wuchs kontinuierlich, bis er um die letzte Ecke raste und einen grünen Chrysler hinter Freds Datsun mit kreischenden Reifen zur Notbremsung zwang. Cliff stürzte zur Tür. Sein Herz schlug bis zum Hals, und in seinem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz, die Vorahnung kommenden Unheils. Er brüllte »Fred!« und drückte die Klinke. Abgesperrt! Er sprintete zur Hintertür. Sie war auch verriegelt, aber er warf sich mit der Schulter dagegen, und sie sprang auf. Die Küche mit der schmiedeeisernen Eßnische lag verlassen vor ihm. Wo ist Fred? Seinen Namen rufend, eilte Cliff ins Wohnzimmer und durch den Korridor bis zum Schlafzimmer. Er riß die Tür auf, und da sah er Dutton, der friedlich in seinem Bett schlummerte. Aber warum ging er nicht ans Telefon? Und wo ist Beth? Mit angehaltenem Atem versuchte er sich zu konzentrieren. Sein Benehmen erschien ihm plötzlich äußerst närrisch. Verdammt! Aber was ist mit dem Telefon, mit Beth? Er drückte den Hörer ans Ohr – tot. Und dann, noch ehe er ihn wieder aufgelegt hatte, entdeckte er den Zettel. Mühsam entzifferte er das Gekritzel, eine ungleichmäßige Parodie auf die vertraute Handschrift des Buchhalters: Ich glaubte, niemand würde es herausfinden. Ich war ein Narr. Sagt Clifford, ich konnte es nicht ertragen, daß er es weiß. Cliff stopfte den Zettel in seine Tasche und betrachtete die reglose Gestalt auf dem Bett. Keine Aura! Er beugte sich über Fred, bemerkte das schwache Heben und Senken seiner Brust und betete, nicht zu spät gekommen zu sein. Am Handgelenk spürte er keinen
Puls, deshalb legte er seine Finger nervös auf die Halsschlagader. Schwach, ganz schwach und langsam. Was war zu tun? Erste Hilfe? Die Rettung? Er zwang sich, die Lage zu analysieren, um keine unüberlegte oder falsche Entscheidung zu treffen. Zufällig fiel sein Blick auf die leere Medikamentenschachtel im Papierkorb. Jetzt ging ihm ein Licht auf. Cliff lief aus dem Haus und durch den Vorgarten, fummelte ungeduldig am Schnappschloß des Gartentors herum, öffnete es endlich, überquerte zwei Zufahrtswege und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür des Nachbarhauses. Eine grauhaarige Dame mit purpurrot lumineszierender Aura ließ ihn ein und zeigte ihm das Telefon, wo er den Rettungsnotruf wählte. Das Mädchen am anderen Ende der Leitung fragte, ob ihm Art und Menge der Tabletten bekannt seien. Er nannte den Namen, den er auf der leeren Schachtel gelesen hatte, wußte jedoch nicht, wie viele Fred geschluckt hatte. Das Mädchen beauftragte ihn, seinen Freund wachzurütteln. »Er braucht jetzt vor allem Bewegung. Und versuchen Sie, ihn zum Erbrechen zu bringen. Wir schicken eine Ambulanz.« Wieder im Schlafzimmer, zerrte er den erschrekkend schlaffen Körper aus dem Bett und schleppte ihn mit sich herum, um ihn zum Gehen zu veranlassen. Es war sinnlos. Kalter Schweiß ließ Cliffs Hände schlüpfrig werden. Er zog Fred ins Badezimmer, drehte den Hahn auf und spritzte etwas Wasser auf das bleiche Gesicht. Zu blaß, zu reglos! Wenn es schon zu spät ist und er hier in meinen Armen stirbt? Oh nein, lieber Gott, bitte nicht!
Tränen rannen über Cliffs Wangen, und schmerzliche Schreie der Verzweiflung entrangen sich seinen Lippen, während er Dutton wie ein kleines Kind auf seine Knie hievte und den leblosen Kopf über die Badewanne beugte. Wieder und immer wieder stieß er seinen Zeigefinger tief in Freds Rachen. Die Furcht, ihn dabei zu ersticken, stand mit der Angst, nie einen Brechreiz hervorzurufen, im heftigen Widerstreit. Als die Ambulanz eintraf, war es ihm noch nicht gelungen. Die drei Sanitäter griffen rasch und professionell ein. Einer nahm Cliff die schlaffe Gestalt ab, ein anderer half, sie auf die Bahre zu betten, und der dritte zog Cliff beiseite und führte ihn ins Schlafzimmer, wobei er in der Hand eine scharf riechende Ampulle schwenkte. »Legen Sie sich nieder, die Füße auf dem Kissen. Irgendeine Ahnung, was und wie viel er nahm?« Cliff angelte die leere Medikamentenschachtel aus dem Papierkorb. Die Hand, der er sie überreichte, glänzte dunkelgrün. »Wissen Sie ungefähr, wann ...?« Cliff schüttelte den Kopf und wünschte sich im selben Augenblick, er hätte es nicht getan. Denn auf der Bahre, die er durch die offene Tür sah, hatten die beiden anderen Männer Freds Kopf nach hinten geneigt und schoben jetzt einen Schlauch in seinen Mund. Cliff schaute weg. Jeder Sanitäter besaß eine Aura, nicht aber Fred Dutton. »Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?« Cliff ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Irgend etwas stimmte mit dem Zettel nicht ... Fred nannte ihn niemals Clifford, sondern stets Cliff oder McBride. »Nein«, antwortete er. »Nichts.« Stellte der vollständige Vorname einen
Hinweis dar? Wenn diese Sätze andeuten sollten, daß Fred in eine krumme Sache verwickelt war, dann handelte es sich ohne Zweifel um eine Fälschung. »Nein, keinen Abschiedsbrief.« Der Sanitäter empfahl ihm, sich für eine Minute zu entspannen. In diesem Augenblick brauste der Schrei über Cliffs Bewußtsein hinweg und trübte seinen Blick. Er schloß die Augen und sah dennoch: Straßenverkehr und das Innere eines Autos. Er schien den Wagen zu steuern und fühlte sich von heftigem Entsetzen geschüttelt. Die grüne Motorhaube vor ihm gehörte zu einem Chrysler. Andere Fahrzeuge huschten vorbei, und am Aussehen der Gebäude erkannte Cliff, daß er sich auf der 7. Straße befand. Die Hände, die verkrampft, mit weißen Knöcheln das Lenkrad umklammerten, kamen ihm bekannt vor. Beth! Geschockt nahm er wahr, wie sich ihr/sein Blick von der Straße abwandte und auf eine Pistole richtete, die der große Mann mit Schnurrbart in seiner knochigen Faust hielt. Dann erfüllte wieder die Straße ihr/Cliffs Blickfeld, und er bemühte sich, auch Geräusche zu empfangen. Sie passierten eine Allee. Dichter Verkehr erschwerte ihr Vorwärtskommen. Schwarz und frostig stieg Furcht in ihm auf. »Kumpel? He, Kumpel! Alles in Ordnung!« Der Geruch der Ampulle drang ihm wieder in die Nase. Er keuchte und öffnete die Augen, erblickte den Sanitäter, der soeben eine Wolldecke über ihn zog. »Sie schauen ziemlich mitgenommen aus. Ruhen Sie sich lieber eine Weile aus und fahren Sie ins Krankenhaus, wenn Sie sich wieder besser fühlen, ja?« »Uh ... welches Krankenhaus?«
»Sparta Zentral. Melden Sie sich bei der Notaufnahme, und man wird Ihnen den Weg zeigen. Warten Sie aber, bis Sie wieder einen klaren Kopf haben. Wir nehmen Ihren Freund mit, aber ich denke, er wird es überstehen.« Binnen weniger Sekunden waren die drei verschwunden, und Cliff schlug die Decke zurück und verharrte, bis er die Ambulanz wegfahren sah. Dann rannte er, noch etwas unsicher auf den Beinen, zu seinem Buick. Er jagte den Wagen die Riverview Avenue hinab, die parallel zur 7. Straße verlief. Nach der Allee waren sie in Richtung Norden abgebogen, was ihm erlaubte, dem Fluß zu seiner Linken zu folgen und so ein wenig Zeit aufzuholen. Aber wie weit würden sie fahren? Er hatte nicht den Schimmer einer Ahnung. Doch plötzlich ... Natürlich! Er hatte ihr Ziel gesehen. Die Ziegelei! Eisige Spannung packte ihn, als in seiner Erinnerung wieder der Lastwagen herandonnerte. Er drückte das Gaspedal durch und rief sich den Verlauf der Querstraßen nördlich der Allee ins Gedächtnis – je kürzer der Weg, desto besser. Nach knapp fünf Minuten überquerte er die Coal Creek-Brücke und bog in die 72. Straße ein. Der Verkehr wurde dichter, zäher. Er wich ihm aus, indem er auf die Parallelstraße einen Häuserblock weiter nördlich überwechselte. Für den Zufahrtsweg, der hinter den Eisenbahngeleisen und der Ziegelei vorbeiführte, benötigte er weniger als zwei Minuten. Er hatte es geschafft! Nur – was jetzt? Langsam näherte er sich der Kreuzung mit der 7. und konnte weder einen grünen Chrysler noch irgendein anderes Auto ausmachen. Die Straße entlang
in Richtung Norden entdeckte er einen vollen Parkplatz, aber dort rührte sich nichts. Um zu wenden, stieß er in eine Einfahrt zurück, die nach ein paar Metern mit einer Schranke abgesperrt war. Als er wieder Gas geben wollte, fiel sein Blick auf das Auto, das zwischen zwei Güterwagen gehalten hatte, etwa zweihundert Meter von Cliff entfernt. Der große Mann zerrte Beth brutal aus dem Fahrzeug und tauchte mit ihr in einer schmalen Gasse zwischen zwei Gebäuden unter. Schneller, als er je zuvor gelaufen war, legte Cliff die Strecke bis dorthin zurück und spähte um die Ekke. Bis auf gelegentlich am anderen Ende der Gasse vorbeizischende Fahrzeuge war nichts zu sehen. Unschlüssig setzte er sich wieder in Bewegung als ihn der Schrei mit seiner geballten, sinnlosen Wildheit regelrecht niederschlug. Er sank auf die Knie. Aus der Schwärze seiner geschlossenen Augen schälte sich für eine Sekunde der schnurrbärtige Mann, dann fühlte er die auf den Rücken gedrehten Arme, die mit eisernem Griff umklammert wurden. Die falsche Person, verdammt! Zieh dich zurück. Hol tief Atem, beruhige dich und zieh dich aus ihrer Wahrnehmung zurück! Es erforderte eine gewaltige Anstrengung, ehe es gelang. Er spürte, wie seine/Beths Empfindungen verschwammen und unscharf wurden, wie er sich von ihr löste. Dann befand er sich über und hinter den beiden und gewahrte die finsteren, niederträchtigen Gedanken des Mannes. Er streckte seine psionischen Fühler nach ihm aus, sah/fühlte seine düstere Aura und stimmte sich auf ihren dunkelbraunen Schimmer ein. Während er nach der richtigen Einstellung, der richtigen Frequenz
forschte, verfärbte sich der Strahlenkranz wurde rot und hell vor Gier und Erwartung und verblaßte wieder. Ein Auto flitzte in südlicher Richtung vorbei. Bis zum äußersten konzentriert, seine gemarterten Nerven zur Ruhe zwingend, drang das Medium in die unverhüllte Grausamkeit der verderbten Gedankenwelt des Mannes ein. Kein Lichtschimmer hier, kein Stern der Vitalität; nur ein bräunlichgrüner Knoten überschäumender Freude am Töten, die Gier, Blut vom Kühlergrill des Lastwagens spritzen zu sehen, wenn der zerfetzte Körper wie eine Puppe in die Luft geschleudert und noch vor dem Aufprall tot sein würde. Die blutgeile, geifernde Bösartigkeit erregte Cliffs Ekel und Abneigung mit solch elementarer Macht, daß er beinahe den telepathischen Kontakt verloren hätte. »!!!« stöhnte der Verbrecher innerlich voller Lust und Vorfreude auf. In der Ferne ertönte leise das Geräusch eines LKWs. »Nein!« brüllte Cliff in Gedanken, als das Dröhnen lauter wurde. Ein Haß überkam ihn, der die geistige Nabelschnur zu durchtrennen drohte, die ihn mit dem Ich des Verrückten verband. Verzweifelt unterdrückte er Haß und Furcht und Abneigung, stieß sie von sich und dem Lastauto entgegen, schleuderte sie auf den roten und weißen Sattelschlepper, nur fort, weit fort. Er schob seinen wachsenden Zorn in diese eine Richtung, verabscheute den Wagen mit der vollen Macht seiner Emotionalität, behielt aber gleichzeitig den Mann und dessen kichernde Lust am Töten im Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit. Die Augen des Verrückten gewährten ihm einen Blick auf den Sattelschlepper, klein noch und weit entfernt, aber er
näherte sich schnell. Cliff packte zu, ergriff Besitz vom Sehvermögen. Erschöpft aktivierte er seine letzten Reserven geistiger Kraft, lenkte sie auf den Wagen ab, zog das Abbild des eisernen Ungetüms näher und näher heran, wobei er es gleichzeitig dehnte und vergrößerte. Mit Leidenschaft riß der Mann Beth an sich und stieß sie im richtigen Augenblick vor den Sattelschlepper. Cliff vernahm ihren entsetzten Aufschrei, und seine Seele blutete. Der Wagen, nur in der Vorstellung des Mannes vorhanden, fuhr durch sie hindurch, und sie stolperte vorwärts, begann zu laufen. Wahrscheinlich war es ein Reflex, ein Jagdinstinkt wie bei Katz und Maus, wie bei Eidechse und Insekt, der den Mann mit dem Schnurrbart veranlaßte, ihr zu folgen. Bei seiner Einvernahme schwor der Fahrer des LKWs, er hätte die Frau über die Straße laufen sehen, nicht jedoch den Mann, der vom Fahrzeug erfaßt und fast dreißig Meter weit geschleudert wurde. Sie saßen neben Freds Krankenbett, umarmten und küßten sich und erzählten ihm von den dramatischen Ereignissen seiner Rettung. Freds Aura leuchtete wieder so hell wie vor dem als Selbstmord getarnten Mordversuch, und als Beth rekapitulierte, wie sie den Mann während der geplanten Liquidation Freds überraschte, legte sich seine Stirn in Falten. Beth, eng an Cliff geschmiegt, berichtete von der Fahrt zur Ziegelei, von ihrer hysterischen Angst und von den verblüffenden Umständen ihrer Flucht, aber den schrecklichen Tod des Mannes namens Bertram wollte sie nicht noch einmal in Worte kleiden.
Cliff versuchte, ihnen sein parapsychisches Erlebnis zu erklären, aber Fred schien nur die Hälfte zu verstehen. Beth hingegen begriff und zeigte sich interessiert, und sie warf Begriffe wie »Prana« und »Chakram« und »astral« ein. Doch eine kurze Sondierung ihrer Gedanken enthüllte Cliff, daß auch ihr ein paar Aspekte unklar blieben. Das Sondieren deckte noch etwas anderes auf: Jahre der Zuneigung und wachsenden Hingabe, und schließlich eine hilflose, sehnsüchtige Liebe, so beunruhigend daß sie all ihre Gefühle sorgfältig abschirmte, nicht nur vor anderen, sondern auch vor ihr selbst. Sie informierten Fred über den Unterschlagungsskandal. Fawcett saß in Untersuchungshaft, ebenso zwei seiner drei Komplizen – ein Süchtiger namens Bender, der an der Entladestelle 2 arbeitete, und der Buchhalter Dalby Johnson, ein krankhaft veranlagter Päderast, über den Simons eine umfangreiche Akte besaß. Johnson hatte unter Tränen gestanden. Simons allerdings war untergetaucht. In seinem heruntergekommenen Büro an der Riverview Avenue fand die Polizei Druckpresse, Layouttisch und zwanzig verschiedene Arten von Papier und Umschlägen, die noch unbedruckt waren. Eine gute Personenbeschreibung und genügend Beweise für eine Verhaftung Simons' wegen Betruges lagen vor, aber der Mann selbst blieb vorläufig unauffindbar. Die Sonne war längst untergegangen, als Cliff aufstand. Er musterte die tanzenden Lichter von Beths Aura. Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen, bemerkte sein Zwinkern und erhob sich ebenfalls. Sie umarmten sich für eine geraume Zeit. Cliff schirmte sich von ihren verlangenden, liebeshungrigen Gedanken ab
und wünschte seinem Freund eine gute Nacht. »Wir gönnen dir jetzt lieber ein wenig Erholung, Freddie. Das war mehr als genug Aufregung, und der Arzt sagte mir, daß du noch geschwächt bist.« »Ach was, am Montag bin ich wieder in der alten Tretmühle zurück.« Aber vor Cliff konnte er seine Erschöpfung nicht verbergen. Cliff nahm Beths Hand, und sie war warm, von einem weichen, orangefarbenen Schimmer umgeben. Fred kuschelte sich sehr, sehr müde ins Bett. Gemeinsam verließen sie den Raum.
Originaltitel: THE PSYCHYC Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Juni-Juli 1979
Joe Haldeman GEDICHTE DES TODES Er saß in der Falle! Zuerst die Bar im Hafenviertel, dann das Crapsspiel – und nun dieser einfältige Hinterhalt in einer Sackgasse. Aber er nahm es ihnen nicht übel, daß sie zornig waren. Seine Taschen waren vollgestopft mit ihrem Geld, ihren schmierigen und zerknüllten Fünfern und Zehnern; zweitausendundzwanzig ihrer schwer verdienten Dollars, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog. Und das tat es selbstverständlich nicht. Es hatte ihm keine Schwierigkeiten bereitet, ihre drei Garnituren präparierter Würfel zu seinem Vorteil zu manipulieren. Anfangs hatte er sie bei jedem Wurf gewinnen lassen, dann immer seltener, und schließlich hatte er ihre Leichtgläubigkeit auf die Probe gestellt und ihre Brieftaschen mit zehn Sieben nacheinander geleert. Das alles war nicht weiter schwer gewesen, aber jetzt befand er sich in einer heiklen Lage. Unter dem durchsichtigen Vorwand, ihn auf eine Zechtour einzuladen, hatte ihn der Anführer der Bande in diese Sackgasse geführt, wo fünf andere bereits auf ihn lauerten. Und nun standen die sechs Schulter an Schulter. Langsam, Schritt für Schritt, drängten sie ihn in Richtung eines hohen Drahtzauns, der dieses Ende der Gasse absperrte. Er wich vor ihnen zurück, nicht weil er fürchtete, daß sie ihn verletzen könnten, sondern weil er Zeit
brauchte. Ihm verblieben nur dreißig Sekunden, vielleicht auch ein paar mehr oder weniger, ehe er mit dem Rücken gegen den Zaun stoßen und gefangen sein würde. Dreißig Sekunden objektiver Zeit ... Er erstarrte und begann sich zu konzentrieren. Er verwendete die gesamte Energie, die sein seltsamer Körper produzierte – mit Ausnahme jenes Bruchteils, der zur Aufrechterhaltung seiner menschlichen Gestalt nötig war –, um seine Sinneswahrnehmungen zu verstärken und seine geistigen Prozesse zu beschleunigen. Er mußte einen Ausweg aus diesem Dilemma finden, ohne seine wahre Natur zu offenbaren. Die Bewegungen des mordgierigen Sextetts schienen im selben Ausmaß langsamer zu werden, in dem das Verhältnis zwischen subjektivem und objektivem Zeitstrom arithmetisch, geometrisch und schließlich exponentiell wuchs. Ein Schweißtropfen kullerte von der Stirn des Anführers, fiel zwei Fuß im Bruchteil einer Sekunde, ein Fuß in der nächsten Sekunde, dann nur noch ein Zoll, ein Millimeter, ein Mikron ... Jetzt. Ein Jammer, daß er sie nicht einfach langsam und qualvoll töten durfte. Wirklich gräßlich, daß seine künstlerische Verantwortung von praktischen Erwägungen erstickt wurde. Es wäre so eine hübsche Komposition geworden; ein Spektrum verschiedener Geisteshaltungen, das von der unvollkommen unterdrückten Furcht des Kleinen vor Schmerzen bis zur lüsternen, sadistischen Mordlust des Anführers reichte – dieser Dilettant! Eigentlich schien es ja kaum der Mühe wert: bloß
sechs, mit denen er sein Spiel treiben konnte. Dennoch, er sollte ein wenig üben, ehe er das große Epos in Angriff nahm. Doch er mußte auch bedenken, daß er dadurch Verdacht erregen könnte. Und Llarval sagte ... Diese Schnecke. Dieser gefühllose Rohling ... Beim nächsten Flug werde ich einen Aufseher verlangen, der auch etwas Verständnis aufbringen kann ... Aber beim nächsten Flug werde ich zu alt sein ... Verdammte Schnecke! Das Schiff schwebte über einer südamerikanischen Plantage, unbemerkt von den Menschen, die nur den leeren Himmel sahen und ohne Echo auf den Radarschirmen. Lediglich ein Voodoo-Priester spürte während einer Trance seine Gegenwart. Er versuchte, seine Empfindung in Worten auszudrücken, und starb an Gehirnschlag. Zu schnell. Ohne künstlerischen Wert. Braxn schämte sich für diese unästhetische Vorgangsweise. »Offen gesagt, es wäre mir lieber, wenn wir nicht ausgerechnet dich einsetzen müßten, Braxn.« Llarval sprach. Ja wirklich, seine primitive Rasse war auf stimmliche Konversation angewiesen, und die unmodulierten, phasengleichen und phasenverschobenen Gedankenwellen brandeten wie die Gezeiten des Schmerzes gegen Braxns Kommunikationsorgan. Er speicherte die Schmerzen, die leider nur von geringer Intensität waren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu genießen. Llarval wiederholte: »Wenn wir doch einen anderen von deiner Sorte an Bord hätten – außer deinem
Vater natürlich. Gestaltwandler sind schließlich keine Seltenheit.« Frustriert zupfte er sich ein Wimpernhärchen aus, aber er fühlte keinen Schmerz dabei. Braxn war zu nahe und saugte ihn gierig ein. »Ein g'drellianischer Poet. Ein Dichter der Qual. Von all dem unnützen Zeug, das man bei einer Forschungsexpedition mit sich herumschleppt ...« Llarval seufzte und lehnte sein Gehäuse gegen die Wand. »Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Die wenigen Zweifüßler an Bord stammen nicht einmal entfernt von Säugetieren ab. Und die Eingeborenen dieses Planeten leiden an einer akuten Xenophobie – nein, an einer Omniphobie. Da bist sogar du noch leichter zu ertragen, ehrenwerter Dichter. Aber sie sind die größte Entdeckung der ganzen Expedition! Die kritische Übergangszeit – sie stehen an der Schwelle zur Zivilisation, sind zwar noch immer Tiere, machen jedoch rasche Fortschritte. Faszinierend! Schon in zehn oder zwanzig Generationen könnten sie menschlich sein.« Der formlose Klumpen, der Braxn war, nahm die Farbe gelangweilten Grüns an. »Wir kennen tausende zivilisierte Rassen – und noch mehr barbarische –, aber das ist die erste, die wir während der Übergangszeit entdeckten, richtig? Die Ethnologie, die Exopsychologie, alle Wissenschaften« – Llarval schauderte – »sogar das, was dein Volk Kunst nennt, werden daraus einen unermeßlichen Nutzen ziehen.« Braxn hätte seine Bedenken äußern können, doch er verzichtete auf eine Stellungnahme. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, für die Unterredung ein Sprachorgan zu formen. Llarval würde ihn ohnehin
kaum zu Wort kommen lassen. Aber Braxn hatte eine mehrstündige Stasisschulung hinter sich und wußte genau, was getan werden mußte. Er löste seinen Körper in seine Bestandteile auf und begann, ihn neu zusammenzusetzen. Zuerst das Skelett, Knochen für Knochen; die inneren Organe, schimmernd, zuckend, ihre Funktionen ausübend; rötliche Muskeln, Fett, Bindegewebe; Lederhaut und Epidermis, geschmeidig und olivfarben; Fingernägel, Haare; auf der linken Wange ein kleines Muttermal. Stimmbänder, eine reine, kräftige Altstimme: »Genug säugetierähnlich?« »Rede galaktisch.« »Ich sagte: ›Genug säugetierähnlich?‹ Ich meine, möchten Sie sie gerne größer« – sie führte es vor – »oder kleiner haben?« »Wie soll ich das wissen?« stieß Llarval hervor und versuchte, seinen Ekel zu unterdrücken. »Entscheide dich für irgendeinen statistischen Mittelwert.« Braxn wählte den statistischen Mittelwert zwischen den Playmates der Monate Oktober und November. Llarval sagte so unvoreingenommen und objektiv wie möglich: »Scheußliche Geschöpfe, was?« Vor ungefähr einhundert Millionen Jahren hatten Llarvals prähistorische Vorfahren einen einzigen natürlichen Feind gekannt – eine Rasse zweifüßiger Säugetiere. Mit einem silberhellen Lachen verließ Braxn ihn, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Im Augenblick machte es ihm Spaß, eine »sie« zu sein.
Braxn hatte die Erde und ihre Bewohner für zigtausende Stunden subjektiver Zeit studiert. Sie war über Kleidung, Sex und Vergewaltigung informiert. Ohne einen Faden Stoff am Leib erschien sie auf der Erde, auf einem Feldweg irgendwo in Südamerika, und ihre akademischen Kenntnisse wurden in weniger als fünf Minuten sozusagen durch Feldstudien bestätigt. Beim erstenmal lernte sie einiges, beim zweitenmal schon weniger. Beim drittenmal – nun, da empfand sie nichts mehr außer Langeweile. Sie machte aus ihm ein wunderschönes – Gedicht? Sie ließ ihn als eine mausgroße, verschrumpelte braune Hülle zurück, die tot im Straßengraben lag; unglaubliche Qual verzerrte die winzigen Gesichtszüge zu einer Grimasse des Grauens. Braxn erzeugte synthetische Kleidung, grau und schmutzig, und verwandelte sich in ein häßliches altes Weib. Das geschah zwanzig Minuten, bevor sie einen anderen Mann traf, der ... Eine weitere ausgetrocknete Hülle. Braxns Meinung in Bezug auf Männer, insbesondere peruanische Bauern, war nach diesen Erlebnissen interessant, aber schlecht. Also verwandelte sie sich in einen solchen. Der Schuh am anderen Fuß, fand sie heraus, ließ die Dinge unterschiedlich, aber nicht unbedingt besser aussehen. Nun, jedenfalls sammelte sie Erfahrung. Wieder in der attraktiven Gestalt eines jungen Mädchens, wartete sie auf ein vorbeikommendes Auto. Sie räumte den Fahrer aus dem Weg, schlüpfte in seine Rolle und startete zu einer Weltreise.
Braxn versuchte, seine Berufe nach dem Gesichtspunkt größtmöglicher Vielfalt auszuwählen. Er war der Reihe nach Arzt, Rechtsanwalt, Fechttrainer, Prostituierte, Rennfahrer, Bergsteiger und Golfspieler. Er arbeitete in einem Sexshop in Dallas. Er verkaufte Würstchen auf Coney Island und Rauschgift in Amsterdam. Er wurde Kellner in einem Wiener Kaffeehaus und Direktor des Dachauer Museums. Er hausierte mit Bibeln, Amuletten und Haarbürsten. Er war ein Salonlöwe, ein freischaffender Künstler, ein Abgeordneter im Parlament, ein cul-dejatte in Monaco. Wenn er Geld brauchte, dann flocht er Körbe oder trat im Zirkus auf. Er erstellte Horoskope oder verkaufte seinen Körper. Oder er gewann bei »Glücks«-Spielen. Der Schweißtropfen hatte sich um ein Hundertstel eines Zentimeters bewegt. Muß aufhören, Zeit zu vergeuden. Aber es ist so schwer, sich zu konzentrieren, wenn man das Gefühl hat, über die ganze Zeit des Universums zu verfügen ... Braxn wußte, daß er nur wenige (subjektive) Minuten in diesem Zustand verharren durfte, wollte er sich nicht der Gefahr aussetzen, nicht mehr in den objektiven Zeitstrom zurückzufinden. Im Schiff konnte er die geistige Beschleunigung beliebig lange aufrechterhalten, aber hier gab es kein Gerät, das ihn mit einem elektrischen Schlag aufweckte, ehe er in Trance fiel; eine Trance, die mehr als eintausend Jahre dauern würde, denn das war die durchschnittliche Lebensspanne von Angehörigen seiner Rasse. Die sechs Banditen jedoch würden ihn binnen weniger
Sekunden altern und sterben sehen. Eine unsichtbare Nanosekunde lang würde er sich in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln und anschließend zu einem Häufchen grauen Staubes zerbröckeln. Seine Augen reagierten nun auf infrarote Wellenlängen, aber wegen der schlechten Auflösung stimmte er sie auf Feldwahrnehmung ein. Die schwerfälligen Tiere, die ihm gegenüberstanden, waren von verschwommenen roten Lichthöfen umgeben, die sich gegenüber seiner eigenen Aura, einem knisternden, stroboskopischen Violett, kaum abhoben. Der Ionennebel rund um die Armbanduhr des Anführers leuchtete in einem fahlen Blau. Isolationsfehler bei den Telefon- und Stromkabeln über ihren Köpfen riefen kaleidoskopische Muster hervor. Braxns Rücken fühlte sich warm an. Warm? Er entschied sich wieder für optische Wahrnehmung und musterte die Gesichter seiner Gegner. Da – der kleine, ängstliche – seine Augen reflektierten den Drahtzaun und ein mit keramischen Isolatoren gesichertes Tor. Braxn begann, sich dem Zeitstrom anzupassen, wobei seine Umgebung aus ihrer Erstarrung zu erwachen schien. Der Schweißtropfen legte einen weiteren Zoll zurück, sank behäbig zu Boden, schlug auf und erblühte in winzige Tröpfchen. Schallwellen drangen an seine Ohren. »-auchen die Knarre nich'.« Braxn stolperte rückwärts auf den elektrischen Zaun zu und erhöhte seine Adrenalinproduktion als Ersatz für die verbrauchte Energie. Sein Magen zog sich zusammen und brannte vor unerträglichem
Hunger; genüßlich sog er den Schmerz in sich ein. Der Anführer trat vor, selbstbewußt und anmaßend. In der rechten Hand hielt er ein Springmesser, während die Linke eine Fahrradkette wie ein borstiges Lasso schwang. Braxn veranlaßte seine Drüsen, eine fleischfarbene Gummimasse abzusondern, die seinen Körper überzog und von einer dünnen Schicht salzigen Schleims bedeckt war. »Linkshändiger Primitivling«, murmelte er. Dann schlug der Anführer zu, die Kette beschrieb in Höhe des Gesichts einen raschen, flachen Bogen. Braxn griff nach hinten und berührte den Zaun. Die Kette knallte gegen sein rechtes Jochbein, peitschte um seinen Hinterkopf und zerschmetterte sein linkes Auge. Ein tiefes Brummen ertönte. Mit dem gesunden Auge sah er, wie der Gauner von einem spastischen Zucken geschüttelt wurde und zusammenbrach. Er schlang die Kette um den Hals des Kleinen und schleuderte ihn mit einem Ruck gegen den Zaun. Etwas verwirrt waren die vier anderen zurückgewichen. Einer machte einen Schritt auf Braxn zu, zögerte, drehte sich um und rannte weg. Die anderen folgten ihm. Braxn streckte in aller Ruhe seine geistigen Fühler aus und sondierte ihre panischen Gedanken. Unglücklicherweise hatten alle vier die Bedeutung seiner List mit dem Zaun begriffen. Er durfte keinem gestatten, die Geschichte zu verbreiten, mochte sie auch noch so unglaublich klingen. Um Zeit zu sparen, stoppte er vorübergehend die Blutzufuhr in ihre Gehirne. Die vier brachen zusam-
men, noch ehe sie das Ende der Gasse erreichten. Braxn trug sie zurück zum Zaun und legte sie dort auf den Boden. Vorsichtig, da er sich keinen Fehler erlauben durfte, löschte er ihre Erinnerungen an die vergangenen paar Stunden und ersetzte sie durch die Erinnerung an einen boshaften Scherz, der damit endete, daß sie beim Berühren des Zauns durch den elektrischen Schlag bewußtlos wurden. Alles geregelt. Aber noch genügend Zeit für eine kleine Spezialbehandlung für den Anführer Cleve, dem er diese Unannehmlichkeiten zu verdanken hatte. Er musterte die reglose Gestalt des Mannes. Schmutziges blondes Haar, niedrige Stirn, ein Schnurrbart, der ein unansehnliches Muttermal am Mundwinkel nicht ganz verdeckte. Ein schwarzes Lederhemd über kraftlosen Muskeln, Bierbauch, ausgebleichte Blue Jeans und schwere Stiefel. Ohne viel Mühe nahm Braxn Cleves Aussehen an. Allerdings kopierte er nicht die Wirklichkeit, sondern das verdrehte, unrealistische Selbstbild, das er in Cleves dümmlichem Gehirn fand. Infolgedessen waren der Bizeps ein wenig größer und das Gesicht ein wenig gemeiner, der Bauch flach und das Haar so blond, daß man es fast schon weiß nennen konnte. Anstelle des häßlichen Muttermals gab es eine unglaublich männliche Narbe, die bis zu seinem Kinn verlief und den Mundwinkel zu einem arroganten Lächeln verlängerte. Ein Bösewicht wie aus einem zweitklassigen Gangsterfilm. Er manipulierte mehrere Drüsen, und der richtige Cleve erwachte sofort. Sein Blick fiel auf Braxn. Seine Augen verengten sich. Er stand langsam auf, rührte
sich aber nicht vom Fleck. Sich Cleves Aufmerksamkeit gewiß, begann Braxn sein Schauspiel. Das kräftige, männliche Gesicht verschwamm für einen Augenblick. Danach war die Narbe eine geschwollene, infizierte Naht die dem Gesicht nicht länger einen energischen Ausdruck verlieh. Sie zog die Unterlippe hinunter und entblößte einen gelben Eckzahn. Das Gesicht war durchfurcht von feinen Falten, Zeugnis von Elend und Verdruß, und vor Cleves entsetzten Augen gruben sich die Linien tiefer in die Haut ein und verästelten sich immer mehr. Das zunächst graumelierte Haar wurde weiß und fiel aus, mit Ausnahme eines schmutzigen Bartstoppels auf dem entstellten Doppelkinn. Gesicht und Körper siechten dahin. Die Haut glich runzeligem Pergament, das straff über eine schielende Totenmaske gespannt war. Grauer Star trübte und blendete die blutunterlaufenen, verklebten Augen. Die Lider fielen zu und klappten nach innen, und der Körper – real lediglich in der Vorstellung zweier ungleicher Wesen – war barmherzigerweise tot. Die Haut färbte sich erst grau, dann olivfarben. Der abgemagerte Leichnam blähte sich in einer makabren Parodie auf sein früheres Muskelfleisch wieder auf. Für kurze Zeit kehrte das Leben in ihn zurück, als sich Maden und Würmer von seiner Fäulnis ernährten. Übrig blieb eine ausgetrocknete, zusammengeschrumpfte Hülle, die aber noch immer aufrecht stand. Die letzten Reste von Haut und Fleisch fielen ab und enthüllten ein fleckiges, braunes Skelett, an
dem Spinnennetze hingen. Mit einem splitternden Rasseln und Klappern brach es zusammen. Oben auf dem Haufen aus grauem Staub und Knochen starrte der gelbe Schädel Cleve für einen langen Augenblick unheilvoll an, und dann begannen die gräßlichen Einzelteile, sich Stück für Stück wieder zusammenzufügen. Cleve hatte seit fast einer Minute zu schreien versucht. Schließlich stieß er ein schwaches Quietschen aus und wurde ohnmächtig. Braxn vergewisserte sich, daß er sein Bewußtsein für eine Weile nicht wiedererlangen würde; danach entfernte er die spezifischen Einzelheiten des Erlebnisses aus Cleves Gedächtnis. Zurück blieb ein marterndes, ungerichtetes Gefühl unmenschlichen Grauens. Er sondierte die schweigenden Gestalten auf dem Boden und überzeugte sich, daß alle bewußtlos waren. Einer, der Kleine, war tot. Braxn beseitigte einen Pfropfen geronnenen Blutes aus seinem Gehirn und brachte das Herz wieder zum Schlagen. Wahrlich ein Jammer, ein gelungenes Kunstwerk zu vernichten. Er liebte die Kombination von Ursache-und-Wirkung und blindem Zufall, die nur den Tod des Harmlosen zur Folge hatte. Überleben des Geeignetsten und so weiter. Mit einem geistigen Achselzucken ging Braxn davon, um ein Taxi zu finden. »Los, treten Sie ein.« Vor Aufregung zitternd, rutschte Llarval in die Kabine des Kapitäns. Er ahnte, daß ihm nichts Gutes bevorstand. Der Kapitän, der wie eine Kreuzung zwischen einer
Mohrrübe und einer Gottesanbeterin aussah, kam ohne Umschweife zur Sache. »Llarval, Ihre Berichte sind seit einigen Zyklen ausgeblieben. Davon ausgehend, ziehe ich den Schluß, daß a) Ihr Kundschafter tot ist, was ich für nicht sehr wahrscheinlich halte; daß ihm b) Ihre blöden Fragen und Vorträge zum Hals heraushängen, was eher zutreffen könnte; oder daß er c) auf eine seiner verdammten Sauftouren ging und die Autochthonen eifrig zu Vierzeilern und Limericks verarbeitet. Diese letzte Alternative dürfte der Wahrheit am nächsten kommen, auch wenn sie die am wenigsten angenehme ist. Er ist ein G'drellianer, noch dazu ein junger. Wissen Sie, was das bedeutet?« »Ja, Sir. Das bedeutet, daß er in der ästhetischen Phase seiner ...« »Es bedeutet, daß er hätte eingesperrt werden müssen, noch bevor wir uns dieser primitiven Welt auf ein Parsec genähert hatten. Sie hätten ihn nicht allein auf den Planeten schicken dürfen, schon gar nicht, ohne Ihren Kapitän um Rat gefragt zu haben. Sie mögen für die ethnologische Forschung verantwortlich sein – oder gewesen sein –, aber bestimmte Entscheidungen bedürfen meiner Zustimmung.« »Aber Sir, nach seinen anfänglichen Experimenten hörte er auf, sie zu töten. Das ist mein Verdienst. Er wäre sonst womöglich aufgefallen.« »Ihre Objektivität ist sehr lobenswert.« »Vielen Dank, Sir.« »Sie zeigt, daß Sie die erste Regel, die im Falle eines Kontakts zu beachten ist, kennen und zu schätzen wissen.« Er berührte eine Sensorplatte, und eine Wand wurde durchsichtig. Er zeigte auf das geschäf-
tige Treiben unter ihnen. »Sind sie sich unserer Anwesenheit bewußt?« »Natürlich nicht, Sir. Das ist die erste Regel.« »Was vermuten Sie, Llarval: Für welche Art von Strahlung sind ihre Augen empfindlich?« Die Neigung des Kapitäns, Frage-und-AntwortSpiele zu veranstalten, war ausgesprochen ärgerlich. »Nun, Sir, da ihr Planet um einen gelben Stern kreist, nehmen ihre Sehorgane einen schmalen Bereich an Strahlung wahr, in dessen Mitte die gelben Wellenlängen liegen.« Der Kapitän kratzte sich mit einer Klaue an der Brust, was Llarval als Beifall interpretierte. Seine Rasse hatte den Sarkasmus bereits verloren, als des Kapitäns Volk das Rad erfunden hatte. »Sie sind ein cleverer Bursche, Llarval.« »Vielen Dank, Sir.« »Wir machen also das Schiff unter großem Energieaufwand für diese Wellenlängen durchlässig.« »Ja, Sir. Dadurch wird die natürliche Entwicklung der Eingeborenen nicht ge...« »Und mit ähnlichem Energieaufwand erreichen wir diese Durchlässigkeit auch für größere Wellenlängen. Warum tun wir das, Llarval?« Der kleine Ethnologe war verwirrt. Selbst der rangniedrigste Küchenjunge könnte diese Fragen beantworten. »Na, ganz klar, Sir, damit das Schiff nicht von der Radarortung entdeckt wird. Eigentlich ist es nicht wirklich unsichtbar. Der örtliche Absorptionskoeffizient nähert sich asymptotisch ...« »Llarval.« Der Kapitän seufzte. »Ich lernte gestern ein Wort dieser Wesen. Ich vermute jetzt, daß Sie
auch schon darauf gestoßen sind – Katechismus.« »Ja, Sir.« Llarvals Beunruhigung wuchs. »Soweit ich es verstehe, obwohl ich kein Fachmann bin, handelt es sich dabei um eine Art von stilisierter Debatte. Eine Person stellt eine Reihe von Fragen. Die Antworten sind so einfach, daß sie keine Meinungsverschiedenheiten oder falschen Auslegungen gestatten. Diese Antworten – die einem unglücklichen Verhörten aufgezwungen werden – führen zu einer unvermeidlichen Schlußfolgerung, die durch bloße Tautologien eine falsche Validität erlangt. Ist das einigermaßen richtig?« Llarval überlegte kurz, um sich die Zeitwörter der Sätze ins Gedächtnis zurückzurufen, da der Kapitän mutwillig, wenn auch passend, in die mittelhochdeutsche Sprache verfallen war. »Ja, Sir. Völlig richtig.« »Nun denn.« Der Kapitän lächelte kalt. »Um einen anderen ihrer köstlich primitiven Begriffe zu borgen, nämlich coup de grace: Wieso wußten wir – lange bevor wir überhaupt in die Nähe kamen ...« »Radiosendungen, Sir, und Fernsehen.« »Und das bedeutet?« »Sir, ich bin mir bewußt –« »Sie sind sich der Tatsache bewußt, daß unser kunstbesessener Freund das planetenweite Sendernetz unter seine Kontrolle bringen und in Sekundenschnelle beinahe jedes intelligente Wesen auf dem Planeten vernichten kann. Oder schlimmer – sie in quatschende und schnatternde Tiere verwandelt. Oder sogar noch schlimmer – ihr Verständnis bezüglich ihrer selbst über die kritische Schwelle hinaus erweitert ...«
»Ja, Sir.« Den Rest konnte sich Llarval denken. »Dann schauen Sie zu, daß Sie von hier verschwinden und lassen Sie fähigere Köpfe mit dieser Situation fertig werden.« »Ja, Sir.« Der Ethnologe trat überstürzt den Rückzug an. »Und Llarval – denken Sie daran, daß sich Ihr Kapitän wie die meisten Mitglieder dieser Expedition normalerweise telepathisch unterhält und Ihre Oberflächengedanken sogar dann empfängt, wenn sie nicht in Worte gekleidet sind.« »Ja, Sir«, sagte er ergeben. »Ihr Kapitän mag vielleicht ein ›anmaßender, pedantischer Vorgesetzter‹ sein, ja, aber wirklich, Llarval – ›ein Gemüse, das wie ein Mensch geht‹? Ich finde Rassismus bei einem Ethnologen denkbar unangebracht. Melden Sie sich in der psychiatrischen Abteilung.« »Ja, Sir.« »Und auf dem Weg dorthin werfen Sie einen Blick in die Kombüse und erkundigen sich, ob Troxl Sie in den nächsten paar Jahren als Gehilfen brauchen kann.« Der Kapitän wartete, bis der Ethnologe aus dem Raum getrippelt war, dann machte er es sich bequem. Er strich mit einer Klaue über eine lichtempfindliche Platte. Computer, dachte er. Zu Befehl, Sir ... Wo zum Teufel steckt dieser g'drellianische Dichter? Die Maschine gab ein nachdenkliches Brummen von sich.
Ich kann ihn nicht finden. Er muß eine starke Abschirmung aufrechterhalten. Wie Sie wissen, kann ein G'drellianer fingierte Gedankenwellen synthetisieren, die genau phasenverkehrt zu seinem natürlichen Muster sind. Und indem er diese beiden Muster kombiniert ... Wie kannst du sicher sein, daß er sich nicht einfach auf der anderen Seite des Planeten aufhält? Der Kapitän seufzte. Wenn man ihn nicht unterbrach, würde der Computer für immer über ein Thema weitersprechen. Indem ich die Satelliten des Planeten als passive Reflektoren verwende, kann ich mehr als neunzig Prozent der Planetenoberfläche erfassen. Und wenn ich ... Ich glaube dir, ich glaube dir. Dann sage mir – wo ist sein alter Bock von einem Vater? Er meditiert im Kühlraum – in der Gestalt eines großen Stalaktiten. Was er schon, wie ich hinzufügen möchte, seit ... Schon gut. Besorge mir einen Thermalanzug aus dem Magazin. Ich muß zu ihm gehen und ihn zu erpressen versuchen. Vielleicht erzählt er mir, wo sein verflixter Sprößling ist. Ich würde mich liebend gern mit tausend geistlosen Ethnologen und tausend schwatzhaften Computern herumschlagen dachte der Kapitän, wenn mir dadurch die Gesellschaft auch nur eines einzigen G'drellianers erspart bliebe. Sogar auf G'drell hielten sie die Jugendlichen auf einer Insel gefangen, wo sie ihre Dichtkunst an Würmern und Insekten und an einander ausprobieren konnten. Jede Expedition benötigte einen G'drellianer, keine Frage; einen, der reif genug war, um Probleme zu lösen, die das Begriffsvermögen eines Computers über-
stiegen. Aber diese verdammte Brohass! Er mußte gewußt haben, daß er schwanger war, als er sich freiwillig für den Flug meldete. Was konnte man schon von diesen Wesen erwarten, die nur zu leben schienen, um andere mit ihrem unheimlichen, unergründlichen Sinn für Humor zu quälen? Brohass wußte, daß seine Teilung unmittelbar bevorstand, er wußte, das sein Nachkomme noch vor dem Ende der Expedition in die ästhetische Phase eintreten würde – und wahrscheinlich brachte er es auch fertig, das Schiff zu einem Planeten zu lotsen, wo ... Ein Roboter aus dem Magazin schreckte den Kapitän aus seinen Überlegungen auf. »Ihr Thermalanzug, Sir.« »Lege ihn irgendwo hin.« Der Roboter tat wie befohlen und schwebte aus dem Raum. Ich hätte ihn zum Kühlraum bringen lassen sollen, dachte der Kapitän. Für viele Besatzungsmitglieder war Kleidung gleichbedeutend mit Obszönität, und man mußte schließlich seine Würde bewahren. Ja, das muß man, nicht wahr? dachte der Computer. Wirst du dich wohl mit etwas Nützlicherem beschäftigen? Der Kapitän errichtete hastig einen Gedankenschild, um die unvermeidliche Antwort zu versäumen. Er hob den Anzug auf und stolzierte aus der Kabine, wobei er gelegentlich Andeutungen über die Vorfahren und Paarungsgewohnheiten der Maschine, die der wahre Kommandant des Schiffes war, aus seiner Abschirmung entkommen ließ. »Bitte schnallen Sie sich an.« Die schlanke Stewardess ging zwischen den Sitzreihen hindurch, vorbei an ei-
nem jungen Mann, Sohn eines Seifenfabrikanten, mit einem hübschen, gelassenen Gesicht und einem eleganten Anzug. »Wir setzen in drei Minuten zur Landung an.« Braxn griff nach dem Gurt und warf einen kurzen Blick auf den schweren Aktenkoffer, der vor ihm auf dem Boden stand. Für zweihundert Pfund Gold würde er eine Menge Sendezeit erhalten. Nach der Landung auf dem Kennedy International Airport mietete Braxn einen Helikopter zum Pan American Building, fuhr mit dem Lift in den 131. Stock hinunter und betrat ein Büro. Auf dem Milchglasfenster der Tür verkündeten Lettern aus Blattgold stolz Irgendwer, Irgendwer und Irgendwer, Werbeagentur. Als er das Büro verließ, hatte er mit den Goldbarren eine Minute Sendezeit aller großen Fernseh- und Rundfunkgesellschaften erworben – am Samstagabend um 21 Uhr, also in einer Stunde. Sein Werbespot würde live ausgestrahlt werden, ohne daß jemand den wahren Inhalt kannte. Und seine »Seife« würde die Welt sicherlich in einen reineren Ort verwandeln, wo es sich gut leben ließ. Allein. Der Kapitän schlüpfte in seinen Thermalanzug und betrat den Kühlraum, von dessen Decke ein gewaltiger blauer Stalaktit hing. Er sprach ihn an. Brohass, dachte er unterwürfig, würden Sie Ihrem Kapitän einen Gefallen tun? Der große Eiszapfen fiel und zersplitterte in mehrere tausend Stücke. Sie vereinigten sich zu einem Geschöpf, das dem Kapitän sehr ähnlich sah.
»Was werden Sie mit mir machen, wenn ich nein sage?« »Das ist lächerlich«, erwiderte der Kapitän, durch den Anblick einer vertrauten Gestalt irgendwie ermutigt. »Niemand kann Ihnen auch nur den geringsten Schaden zufügen.« »Sehr gut. Da das geklärt ist – würden Sie mich jetzt bitte verlassen, damit ich meine Konversation fortsetzen kann.« Neugierig fragte der Kapitän: »Wer ist Ihr Gesprächspartner? Im allgemeinen denken Sie nicht mit den anderen Besatzungsmitgliedern.« »Mein Vater hat eine amüsante Differentialgleichung neunten Grades aufgestellt. Er erklärt sie mir, und ich würde mich ihr gern mit meiner ganzen Energie widmen, um sie zu verstehen.« Der Kapitän zitterte, nicht nur vor Kälte. Brohass' Vater war seit dreißig Jahren tot. Doch eine Hälfte von ihm lebte in Brohass weiter, ein Viertel in Braxn ... Einem gewöhnlichen Sterblichen fiel es nicht leicht, sich vorzustellen, daß ein G'drellianer für Hunderttausende von Jahren nach dem körperlichen Tod innerhalb seiner Nachkommen ein autonomes Dasein führte. Es war fraglich, ob ein G'drellianer jemals völlig starb. Sie behaupteten, daß noch alle am Leben waren. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich möchte, daß Sie Braxn finden und ihm eine Botschaft übermitteln.« »Warum suchen Sie ihn nicht selber?« »Es ist ein ziemlich großer Planet, Brohass, und er schirmt sich mit einem starken Gedankenschild ab.« »Wir sind auf einem Planeten? Auf welchem?«
Der Kapitän dachte eine lange Reihe von Symbolen. »Sie nennen ihn Erde.« »Ich fürchte, daß ich darüber nicht genug weiß. Bitte öffnen Sie Ihren Geist, damit ich ihm die relevanten Einzelheiten entnehmen kann.« Verärgert entsprach der Kapitän seiner Bitte. Brohass hätte ohne weiteres den Computer befragen können, aber er war eben ein geborener Voyeur und würde niemals eine Gelegenheit versäumen, die Gedanken eines anderen zu sondieren. »Interessant, barbarisch – ich kann verstehen, warum er sich von ihnen angezogen fühlte. Übrigens, eine so schändliche Behandlung hat Llarval nicht verdient. An seiner Stelle hätten Sie die Kontrolle über meinen Sohn genauso rasch verloren. Und Ihr Wissen, Kapitän, über die Bewohner dieses Planeten ist zwar enzyklopädisch, aber fehlerhaft. Sie mißverstehen sowohl Katechismus als auch Tautologie. Sie benutzten den Ausdruck coup de grace, obwohl coup de theatre eher angebracht gewesen wäre. Und bei Ihrem Mittelhochdeutsch würde ein Mittelhochdeutscher einen Lachkrampf bekommen. Außerdem, Sie sind ein gehendes Gemüse. Zu Ihrer Ehre jedoch muß ich sagen, daß Sie die Pläne meines Sohnes richtig einschätzten. Er besitzt jetzt eine Minute Sendezeit aller großen Fernsehgesellschaften. Eine spaßige Vorstellung – Zeit zu besitzen anstelle des umgekehr...« »Brohass!« »Kapitän?« »Wollen Sie denn nichts unternehmen?« »Die Entwicklung meines Kindes stören?« »Er beabsichtigt, vier Milliarden Personen zu töten!«
»Ja – wahrscheinlich ist das seine Absicht. Säugetiere, nichts weiter. Sie müssen zugeben, daß aus ihnen vermutlich nie etwas Besseres werden wird.« »Brohass, Sie müssen ihn aufhalten!« »Ich nehme Sie auf den Arm, Kapitän. Ich werde mit ihm sprechen. Nur einmal, nur ein einziges Mal möchte ich einen Kapitän haben, der auch einen Scherz versteht. Wissen Sie, ihr Gemüseleute seid im zivilisierten Universum einzigartig mit ...« »Wie lange haben Sie noch Zeit?« »Oh, zweitausenddreihundertundachtunddreißig Jahre, vier Tage und ...« »Nein, nein – wann wird Braxn im Fernsehen auftreten?« Der Kapitän gab vor Ungeduld einen erstickten Laut von sich. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe noch mehrere Sekunden.« Brohass verwandelte sich in seine angeborene Formlosigkeit zurück und bohrte einen Gedankenfühler durch die massive Abschirmung seines Sohnes. Braxn. Hier spricht dein Vater. Würdest du bitte ein wenig langsamer werden? Braxn konzentrierte sich, und das geschäftige Studio erstarrte zu einem Standbild eingefrorener Bewegungen. Ja, Vater. Kann ich etwas für dich tun? Nun, zuerst einmal erzähle mir, was du in einem Fernsehstudio zu suchen hast. In der Minute mit der höchsten Einschaltquote werde ich das Veganische Todeszeichen senden. Das ist alles. Das ist alles? Du wirst alle umbringen. Nicht alle. Bloß jene, die vor dem Fernsehapparat sitzen. Oh, ja, ich habe ein phonetisches Äquivalent entwickelt,
das gleichzeitig im Rundfunk ausgestrahlt wird. Damit erreiche ich ein paar mehr – wenn es funktioniert. Ich bezweifle nicht, daß es dir gelingen wird, Sohn. Aber Braxn, das ist genau das Thema, über das ich mit dir denken wollte. Du willst versuchen, es mir auszudenken. Nun, wenn du es so nennen willst ... Ich wette, daß dieser Witz von einem Kapitän dir das in den Kopf gesetzt hat. Du weißt, daß dieses Gemüse, das wie ein Mensch geht ... He – der ist gut, Vater. Wann hast du ... Weder er noch irgend jemand sonst in dieser Blechdose könnte mich dazu bringen, etwas zu tun, was ich ... Brohass seufzte. Paß auf, Braxn. Du bist im Begriff, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Eigentlich sogar mit einer Atombombe. Wie kannst du darin Befriedigung finden? Vater, ich weiß, daß Quantität kein Ersatz für Qualität ist. Aber hier gibt es so viele! Brohass schnaubte. Und du willst ein Poet summa cum laude sein, stimmt's? Ist etwas damit nicht in Ordnung? Es wird das größte Epos werden, seit Jkdir die Surkon'ghs ausrott... Braxn, Braxn – mein Sohn. Du versuchst, Zeit zu schinden. Du weißt, was nicht in Ordnung ist, nicht wahr? Bestimmt kannst du es fühlen. Braxn verstummte und suchte ein überzeugendes Gegenargument. Er ahnte, was jetzt kommen würde. Die Wahrheit ist, daß deine ästhetische Phase beendet ist. Es wird Zeit, daß du dir das eingestehst. Sicher, du kannst diese triviale Übung durchführen. Aber du wirst kein Poet summa cum laude sein, sondern der Dummkopf
des Jahrtausends, ein Erzpossenreißer. Du bist zu alt für diese Albernheiten. Ich weiß es, du weißt es, und zuletzt würde es das ganze Volk wissen. Du würdest nicht berechtigt sein, deinen Geist irgendwo im zivilisierten Universum zur Schau zu stellen. Er wußte, daß sein Vater die Wahrheit dachte. Er hatte seit einigen Tagen gewußt, daß er für seine nächste Entwicklungsphase bereit war, aber sein Urteilsvermögen war von der Ungeheuerlichkeit des Ereignisses, das vor ihm lag, geblendet worden. Genau. Die nächste Phase erwartet dich, und ich kann dir versichern, daß sie dich sogar mehr befriedigen wird als die ästhetische. Du hast hier einen netten Planeten, und du könntest ihn gut als Operationsbasis verwenden. Der Kapitän läßt sich leicht überzeugen – wenn ich ihm garantiere, daß du nicht mehr beabsichtigst, diese Leute sozusagen in Gedichten unsterblich zu machen, wird er hocherfreut sein, ohne dich weiterzufliegen. Wir werden dich in einem Jahrhundert oder so wieder auflesen. Leb wohl, Sohn. Leb wohl, Vater. Der Glühfaden der grünen Lampe der Kamera, die auf ihn gerichtet war, begann sich gerade zu erhitzen. Er hatte etwas weniger als eine Hundertstelsekunde Zeit. Indem er seine geistigen Kräfte bis an die Grenzen seiner Fähigkeiten ausweitete, spürte er alle Angestellten der Fernsehgesellschaft und der Werbeagentur auf, die von dem Handel wußten, den er abgeschlossen hatte. In den Köpfen Hunderter Menschen radierte er Millionen Erinnerungen aus und ersetzte sie durch harmlose. Zweihundert Pfund Gold lösten sich in Luft auf. Alle Personen im Studio erinnerten sich an dassel-
be Geschehen: Vor fünf Minuten hielt eine von Polizisten eskortierte schwarze Limousine vor dem Eingang, und dieser Mann, das wohlbekannte Gesicht bleich und vom Schock gezeichnet, stürmte mit einer Schar Geheimagenten herein. Braxn rundete sein Gesicht und seinen Körper mit Fett. Der Mann, der dieses Gesicht besaß, starb schmerzlos, sobald Braxn sich die Inhalte seines Gedächtnisses einverleibt hatte. Der Körper verschwand. Seine Familie und seine Mitarbeiter »erinnerten« sich, daß er seit Montag in New York war. Ein mentaler Finger stieß in das Herz eines anderen Mannes und stoppte es. Überzeugend – bei seinem Übergewicht und dem dauernden Streß. Aber um nichts dem Zufall zu überlassen, veränderte Braxn den Metabolismus, so daß es den Anschein hatte, als wäre er zehn Minuten früher gestorben. Dann präparierte er mehrere Zeugen. Nachdem all das bewerkstelligt war, kehrte Braxn in den objektiven Zeitstrom zurück. Das grüne Licht flimmerte. Die Stimme der Nachrichtensprecherin sagte: »Meine Damen und Herren« – was sonst sollte sie sagen? – »der, hm, Vizepräsident der Vereinigten Staaten.« Braxn setzte eine tragische und erschöpfte Miene auf. »Es ist meine traurige Pflicht, die Nation zu informieren ...« Im Leben eines G'drellianers gibt es neun Phasen. Die erste Phase ist die Poesie: die Würdigung einer Kunst, die kein Mensch begreift – sieht man von ei-
nem de Sade oder einem Hitler ab. Die zweite Phase ist die Macht.
Originaltitel: OUT OF PHASE Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION September 1969
R. A. Lafferty EIN ZWEITES SODOM UND GOMORRHA Sie hätten Manuel bei der Volkszählung nicht beschäftigen dürfen, denn er erfüllte die erforderlichen Qualifikationen in keinster Weise. Der Gebrauch einer Landkarte war ihm ein Rätsel. Er verstand nicht, wofür eine Karte verwendet wird. Als sie ihm erklärten, daß sich Norden am oberen Rand befinde, grinste er nur. Er wußte es besser. Aber seine Handschrift war nett anzuschauen und so leicht zu lesen wie die Schrift eines Kindes. Er sprach Spanisch und hinlänglich Englisch, und für das ihm zugewiesene Gebiet würde er keine Landkarte benötigen. Er kannte sich dort besser aus als irgend jemand sonst, bestimmt aber besser als jeder Kartograph. Außerdem war er arm und brauchte das Geld. Sie instruierten ihn und schickten ihn an die Arbeit. Zumindest glaubten sie, ihn instruiert zu haben, doch sie konnten sich dessen nicht ganz sicher sein. »Jeden zählen? In Ordnung. Jeden aufschreiben? Dazu habe ich nicht genug Papiere.« »Du wirst mehr bekommen, wenn du wirklich mehr benötigen solltest. Aber in deinem Bezirk wohnen nicht so viele.« »Eine Menge! Lobos, tejones, zorros, sogar Leute.« »Nur die Leute, Manuel! Keine Tiere. Das wär' ja
auch gar nicht möglich. Tiere haben keine Namen.« »O doch. Alle haben Namen. Könnte sie ohne weiteres in die Liste schreiben.« »Nur Menschen, Manuel.« »Mulos?« »Nein.« »Conejos?« »Nein, Manuel, nein. Nur die Menschen.« »Kein Problem. Könnte ohne weiteres alle aufschreiben.« »Nur Menschen – Herr im Himmel, gib mir Kraft! –, nur Menschen, Manuel.« »Was ist mit kleinen Leuten?« »Kinder, natürlich. Das ist dir doch erklärt worden.« »Kleine Leute. Nicht Kinder. Kleine Leute.« »Wenn es Menschen sind, dann trage sie in die Liste ein.« »Wie groß müssen sie sein?« »Ihre Größe spielt keine Rolle. Wenn es Menschen sind, dann schreib sie auf.« Mit diesen Worten begann das Verhängnis. Der Beamte hatte sich zu einer verärgerten Bemerkung hinreißen lassen, die zu einer Katastrophe führen sollte. Aber man darf nicht ihm die Schuld in die Schuhe schieben; die Richtlinien drücken den Sachverhalt nicht klar genug aus. Nirgendwo in dem ganzen Wortschwall steht geschrieben, wie groß jemand sein muß, um als Mensch gezählt zu werden. Manuel holte Mula und machte sich auf den Weg. Das ihm zugewiesene Gebiet hieß Santa Magdalena: eine Ansammlung von kahlen, öden Bergen, steil
zwar, aber nicht hoch, und an den Nachmittagen von der Sonnenglut so ausgedörrt, daß sich, einem Gerücht zufolge, die alte Lava wegen der Hitze manchmal wieder zu verflüssigen begann. In einem Tal inmitten der Berge befand sich eine fünftausend Morgen große Fläche aus verschlacktem, glasig erstarrtem Gestein – Zeugnis einer längst vergessen Explosion, welche die Erde verdampft, die Hügel geschmolzen und sie zu einer schrecklichen Flachheit abgetragen hatte. Dieser Ort wurde Sodom genannt. Er war übersät mit seltsamen Strukturen, die fast wie die Überreste von Menschen und Gegenständen wirkten und sich gebildet hatten, als der Granit wie Wasser kochte und Blasen warf. Rund um diese tote Zone wuchsen in den Schluchten mannshohe Chaparrals, und die Kakteen färbten die Berghänge grau und grün. Die verkümmerten Bäume waren niedriger als die riesenhaften Sträucher und Yucca. Manuel wanderte mit Mula – ein fülliger, behäbiger Mann und ein mageres Maultier. Mula war ein Maultier, während sich andere Bewohner des Santa Magdalena nicht immer eindeutig einer bestimmten Tiergattung zuordnen ließen. Aber selbst in Mulas Stammbaum hatte sich ein etwas ausgefallener Ahne verirrt: Ihr Großvater väterlicherseits war ein Ziegenbock gewesen. Als Manuel einmal Mr. Marshal davon erzählte, hatte ihm dieser nicht geglaubt. »Sie ist ein Maultier. Folglich war ihr Vater ein Esel, und deshalb war auch sein Vater ein Esel. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Manuel wunderte sich oft darüber, denn die ganze Zuchtreihe hatte unter seiner Obhut gestanden, und
er erinnerte sich genau, wer wen begattet hatte. »Ein Esel! Ein Esel! Zwei Fuß groß und mit einem Bart und Hörnern. Ich habe ihn immer für eine Ziege gehalten.« Zu Mittag hielten Manuel und Mula am Lost Soul Creek an. Der Nachmittag würde zu heiß sein, um die Wanderung fortzusetzen, aber Manuel konnte nun seine Arbeit erledigen. Er holte einen Stapel Formulare aus einem der Bündel hervor, die er Mula abgeschnallt hatte, und legte sich gezählte neun Stück bereit. Diese füllte er mit den Angaben über neun gewöhnliche Menschen aus. Er wußte alles, was es über sie zu wissen gab, einschließlich der Namen und Geburtsdaten ihrer Eltern und Großeltern; nur diese neun Personen bewohnten die neunhundert Quadratmeilen des Santa Magdalena. Systematisch, wie es seine Art war, kontrollierte er die Liste wieder und immer wieder. Irgend jemand schien zu fehlen. Ja natürlich, er selbst. Er griff nach einem zehnten Formblatt und füllte es aus. Eigentlich hatte er damit seinen Anteil zur Volkszählung beigetragen, und wäre Manuel jetzt umgekehrt, hätte er nicht nur allen Beteiligten viel Ärger und Mühe erspart, sondern auch zehntausend Menschenleben gerettet. Aber die Instruktionen, die er erhalten hatte, waren mehrdeutig, obwohl versucht worden war sie ihm möglichst verständlich darzulegen. Und so stand er am nächsten Morgen schon früh auf, kochte Bohnen und sagte: »Könnte ohne weiteres alle aufschreiben.« Er rief die neben einem Dornbusch weidende Mula herbei, gab ihr Salz und belud sie wieder. Danach brachen sie auf. Manuel sah es als seine Pflicht an, die
ihm übertragene Aufgabe abzuschließen, aber gleichzeitig erfüllte ihn der Gedanke daran mit einem Grauen, das seine Vorgesetzten nicht verstanden. Nicht ohne Grund schleppte Mula so viele Bündel mit Volkszählungsformularen, daß sie kaum gehen konnte. Als sie die Böschung über dem Lost Soul Creek hinaufkletterten, die für Manuel wie die Grenze zum Fegefeuer wirkte, betete er laut: »Ruega por nosotros pecadores ahora« – schroff und öde lagen die Schluchten im Licht des frühen Morgens – »y en la hora de neustra muerte.« Drei Tage später stolperte ein unglaublicher Zwerg durch die Randbezirke von High Plains, Texas, gefolgt von einem sterbenden, wolfgroßen Tier, das nicht wie ein Wolf aussah. Eine Frau rief die Polizei, um sie vor Kindern zu retten, die die beiden mit Steinen bewarfen und vielleicht getötet hätten. Die zwei noch immer unklassifizierten Subjekte wurden zur Polizeidienststelle gebracht. Der Zwerg war drei Fuß groß und glich einem Skelett, über das braungebranntes Leder gespannt war. Das andere Wesen war groß wie ein Hund, obwohl es sich nicht um einen Hund handelte, und so voller Kletten und Dornen, daß es beinahe ein Stachelschwein hätte sein können. Es sah aus wie die einem Alptraum entsprungene Kopie eines eingeschrumpften Maultiers. Der Knirps war verrückt. Das Tier besaß mehr Verstand: Es legte sich ruhig auf den Boden und starb, was in Anbetracht seines Zustands das beste war, was es tun konnte.
»Wer leitet jetzt die Volkszählung?« fragte der wahnsinnige Gnom. »Ist es Mr. Marshals Sohn?« »Es ist Mr. Marshal, ja. Wer sind Sie? Wieso kennen Sie Marshal? Und was ziehen Sie da aus Ihrer Hose, wenn es überhaupt eine Hose ist?« »Die Volkszählungsliste. Die Namen von allen, die im Santa Magdalena leben. Ich mußte sie stehlen.« »Das schaut wie ein Mikrofilm aus, so klein ist die Schrift. Und die Liste nimmt ja gar kein Ende. Das müssen eine Million Namen sein.« »Ein wenig mehr, ein wenig mehr. Ich kriege einen Vierteldollar pro Name.« Mr. Marshal wurde gerufen und kam, obwohl er sehr beschäftigt war. Der Bürgermeister und die Gemeinderäte hatten ihm eine Frist gesetzt, bis zu der er für High Plains, Texas, den Nachweis über eine Einwohnerzahl von 10 000 erbringen mußte, was einige Schwierigkeiten aufwarf, denn so viele Einwohner hatte die Stadt nicht. Trotzdem gab er sich jede erdenkliche Mühe. Als aber die Polizei bei ihm anrief, kam er sofort. »Sie sind Marshals kleiner Junge? Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich«, sagte der Knirps. »Diese Stimme – ich kenne diese Stimme, auch wenn sie rauh und gebrochen ist. Sie hört sich wie Manuels Stimme an.« »Sicher, ich bin Manuel. Derselbe Manuel, der vor 35 Jahren die Stadt verließ.« »Du kannst nicht Manuel sein, um drei Fuß und zweihundert Pfund geschrumpft und eine Million Jahre gealtert.« »Schauen Sie in meinem Volkszählungsformular nach. Dort steht, daß ich Manuel bin. Und hier sind
neun weitere gewöhnliche Leute und eine Million von den kleinen Leuten. Für die konnte ich keine richtigen Formulare ausfüllen, weil ich ihre Liste stehlen mußte.« »Du kannst nicht Manuel sein«, beharrte Marshal. »Er kann nicht Manuel sein«, sagten auch der große und der kleine Polizist. »Dann vielleicht nicht«, räumte der Zwerg ein. »Ich habe geglaubt, daß ich es bin, aber ich war mir nicht sicher. Wer bin ich sonst? Sehen wir in den anderen Papieren nach, ob ich vielleicht einer von denen bin.« »Nein, Manuel, du kannst keiner von denen sein. Und bestimmt kannst du nicht Manuel sein.« »Aber irgendeinen Namen brauchen wir für ihn, damit er gezählt werden kann, Mr. Marshal. Wir müssen auf zehntausend Einwohner kommen.« »Erzähle uns, was passiert ist, Manuel – wenn du's bist. Was du nicht bist. Aber erzähle es uns.« »Nachdem ich die gewöhnlichen Leute gezählt hatte, ging ich weiter, um die kleinen Leute zu zählen. Ich nahm einen Spaten und grub ein Loch, um in ihre Stadt zu kommen. Aber sie belegten mich mit einem Bann und ließen mich und Mula fünfunddreißig Jahre lang in einer Tretmühle arbeiten.« »Wo war das?« »In der Stadt der kleinen Leute. Nuevo Danae. Nach fünfunddreißig Jahren ließ der Bann nach, und Mula und ich stahlen die Namensliste und rannten davon.« »Aber woher hast du wirklich die Liste mit so vielen so klein geschriebenen Namen?« »Mr. Marshal, stellen Sie der armen kleinen Wanze nicht so viele Fragen. Sie halten eine Million Namen
in ihrer Hand. Beglaubigen Sie sie! Senden Sie sie ein! Jetzt sind wir genug. Wir erklären die Stadt der kleinen Leute zum Vorort von High Plains. Auf diese Weise wird High Plains zur größten Stadt in ganz Texas.« Also beglaubigte Marshal sie und schickte sie nach Washington, wodurch High Plains den prozentuell größten Bevölkerungszuwachs aller Städte in den Vereinigten Staaten für sich beanspruchen konnte. Das rief sofort Neider auf den Plan. Einige Schrumpfköpfe in Houston behaupteten unentwegt, daß High Plains nicht einmal annähernd so viele Einwohner hätte und daß sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen haben müsse. Und während diese Debatte ihren Verlauf nahm, fütterten sie Manuel, als wenn es er wäre, und versuchten eine glaubhafte Geschichte aus ihm herauszubekommen. »Wieso weißt du, daß du fünfunddreißig Jahre in der Tretmühle gearbeitet hast, Manuel?« »Na, es kam mir so lange vor.« »Es können aber nur etwa drei Tage gewesen sein?« »Warum bin ich dann so alt?« »Das wissen wir nicht, Manuel, das wissen wir ganz gewiß nicht. Wie groß waren diese Leute?« »Wer weiß? So lang wie ein Finger, vielleicht auch zwei?« »Und ihre Stadt?« »Das ist ein alter Präriehund-Bau, den sie hergerichtet haben. Man muß mit einem Spaten ein Loch graben, um zu den Straßen zu kommen.« »Vielleicht waren es in Wirklichkeit lauter Prärie-
hunde, Manuel. Vielleicht hattest du einen Sonnenstich und nur geträumt, daß es kleine Menschen waren.« »Präriehunde können nicht so gut schreiben wie auf dieser Liste. Präriehunde können fast überhaupt nicht schreiben.« »Das stimmt. Für die Liste läßt sich nur schwer eine Erklärung finden. Und noch dazu enthält sie so komische Namen.« »Wo ist Mula? Ich habe Mula nicht gesehen, seit ich zurückgekommen bin.« »Mula legte sich hin und starb, Manuel.« »Warum habe ich daran nicht gedacht? Nun gut, ich werde auch sterben. Ich bin zu erschöpft, als daß ich etwas anderes machen könnte.« »Noch ein paar Fragen, Manuel, bevor du stirbst.« »Dann beeilen Sie sich aber. Ich habe schon begonnen.« »Wußtest du bereits früher von der Existenz der kleinen Leute?« »Sicher. Sie sind seit langer Zeit dort.« »Hat irgend jemand sonst sie je gesehen?« »Sicher. Jeder im Santa Magdalena sieht sie. Acht, neun Leute sehen sie.« »Und Manuel, wie kommen wir dorthin? Kannst du uns ihre Stadt auf einer Karte zeigen?« Manuel schnitt eine Grimasse und starb. Er hatte Landkarten nie kapiert und zog diesen Ausweg vor. Sie begruben ihn, auch wenn noch immer Ungewißheit herrschte, ob er tatsächlich der zurückgekehrte Manuel war oder wer oder was sonst. Es war nicht viel von ihm vorhanden, was sie begraben konnten.
In derselben Nacht, es war sehr spät, wurde Marshal nach dem Einschlafen vom Klang einer gebieterischen Stimme geweckt. Ein zehn Zentimeter großer Mann auf seinem Nachtkästchen redete heftig auf ihn ein. »Wach auf, du Clown! Wie heißt du, und welchen Beruf hast du?« »Ich bin Marshal, und ich vermute, daß du ein Schinkensandwich bist oder von einem Schweinesandwich verursacht wirst. Ich sollte so spät nichts mehr essen.« »Sag ›Sir‹, wenn du meine Fragen beantwortest. Ich bin kein Schinkensandwich, und im allgemeinen vertrödle ich meine Zeit nicht mit Narren. Marsch, auf die Beine, du Tölpel!« Und verwundert gehorchte Marshal. »Ich will die gestohlene Liste. Hör auf zu gaffen und hole sie.« »Was für eine Liste?« »Versuche nicht, mich hinzuhalten. Gib mir unsere Steuerliste, die gestohlen worden ist. Ich will Taten sehen und keine Ausflüchte.« »Hör zu, du Zikade, ich werde dich nehmen und ...« »Wirst du nicht. Du wirst feststellen, daß du vom Hals abwärts paralysiert bist. Ich nehme an, daß du das von dort aufwärts schon immer gewesen bist. Wo ist die Liste?« »I-in Washington.« »Du insektenäugiger Koloß! Kannst du dir vorstellen, was eine solch weite Reise für mich bedeutet? Du Großvater der Dummheit, es wird mir ein Vergnügen sein, euch alle zu vernichten.«
»Ich weiß nicht, was du bist und ob du real bist. Aber ich glaube nicht, daß du überhaupt auf die Welt gehörst.« »Nicht auf die Welt gehören! Wir besitzen die Welt. Das haben wir sogar schwarz auf weiß. Habt ihr Menschen auch eine Besitzurkunde?« »Das bezweifle ich. Woher habt ihr sie?« »Das geht dich einen feuchten Dreck an. Ich hätte es nicht erwähnen sollen. Nun, ja, wir bekamen sie von einem Erzeuger von Waren aller Art. Ein ziemlicher Gauner, wirklich. Ich muß gestehen, daß er uns reingelegt hat, aber wir saßen in der Patsche und brauchten dringend eine Welt. Er versicherte uns, daß die größeren Bewohner zu dämlich sind, um eine Plage zu sein. Wir hätten wissen müssen, daß das Gegenteil zutrifft. Je größer ein Geschöpf, desto lästiger fällt es.« »Mir kommt ungefähr das gleiche in den Sinn, je kleiner ein Lebewesen ist. Unter Umständen werden wir euren Präriehunde-Bau ausräuchern müssen.« »Oh, ihr könnt uns nichts tun. Wir sind zu mächtig. Aber wir können euch im Nu ausradieren.« »Ha!« »Das heißt ›Ha, Sir‹, wenn du mit mir sprichst. Kennst du diesen Platz in den Bergen, der Sodom genannt wird?« »Kenne ich. Ein großer Meteor ist dort gefallen.« »Dummkopf! Wenn schon, dann ist etwas wie das da gefallen.« Was er in die Höhe hielt, besaß die Größe eines Sandkorns. Marshal war nicht in der Lage, Einzelheiten zu erkennen. »Dort befand sich eine andere Stadt von euch in-
sektenäugigen Bestien«, sagte der kleine zornige Mann. »Davon weißt du nichts, denn das ist vor ein paar hundert Jahren gewesen. Wir entschieden, daß die Stadt zu nahe war. Jetzt habe ich entschieden, daß ihr zu nahe seid.« »Etwas von dieser Größe könnte keine Walnuß knacken.« »Du dämliche Niete, es wird diese Stadt einebnen!« »Und was passiert mit dir?« »Nichts. Ich werde schon weit weg sein.« »Wie löst du die Explosion aus?« »Du Blödmann, Depp, ich habe keine Zeit, um dir das zu erklären. Ich muß nach Washington.« Möglicherweise bezweifelte Marshal, daß er munter war. Auf jeden Fall nahm er die Drohung nicht ernst genug. Denn der kleine Mann löste die Explosion aus. Als die letzten Ergebnisse der Volkszählung in Washington eintrafen, verzeichnete High Plains nicht die in Prozenten größte Bevölkerungszunahme des Landes. Vielmehr wies es die radikalste Abnahme auf, nämlich von 7313 auf Null. Man erwog, aus jener Gegend ein Waldreservat zu machen, aber da dort keine Bäume zu finden sind, die diese Bezeichnung verdienen, mußte man den Plan bald ad acta legen. Jetzt wurde angeregt, das Gebiet wegen der beiden mysteriösen verwüsteten Stellen, die nicht mehr als sieben Meilen voneinander entfernt sind, den Sodom-und-Gomorrha-Nationalpark zu nennen. Es handelt sich um einen interessanten Ort, wild und urwüchsig wie kaum eine andere Region, und
kann vor allem dem Touristen empfohlen werden, der schon alles gesehen hat.
Originaltitel: SODOM AND GOMORRAH, TEXAS Copyright © by Galaxy Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION November-Dezember 1962
John Fortey DIE ZITADELLE Zwei Männer gehen langsam die Straße hinunter. Es ist Abend. Ein schwacher Wind wirbelt Staub und abgefallene Blätter auf spielt mit ihren Haaren. Schweigend, ohne Eile, setzen sie einen Fuß vor den anderen. Der jüngere, ein dunkeläugiger Mann mit ausgeprägten slawischen Wangenknochen, streicht sich regelmäßig die Haare aus der Stirn, doch der Wind bläst sie sofort wieder zurück. An der Ecke, wo sie für den Augenblick vor der Brise geschützt sind, halten sie an. Der ältere Mann greift nach seinen Zigaretten und bietet seinem Begleiter eine an. Ihr Ziel ist das Gebäude gegenüber, ein graues Bauwerk aus altem, fleckigem Beton, der an manchen Stellen abbröckelt. Im flackernden Licht eines Streichholzes mustert der ältere Mann das Gesicht seines dunkeläugigen Gefährten; er sucht vergeblich nach Spuren von Nervosität oder Furcht. Wortlos ziehen sie an ihren Zigaretten, blasen Wolken grauen Rauchs in die graue Nachtluft. Schließlich lächelt der jüngere Mann resigniert und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist Zeit, daß ich gehe, Iwan.« Der andere seufzt tief. Nur wenige Worte sind ungesagt geblieben – sie haben alles besprochen. »Ich wünsche dir Glück, Stefan.« Ein fester Händedruck, dann dreht Stefan sich um, überquert die Straße und betritt das Gebäude. Ein dritter Mann in einer wallenden, schwanen Ro-
be, den Kopf mit einer Kapuze verhüllt, kommt näher. Geschwind folgt er Stefan durch den Eingang, wobei er kurz in Iwans Richtung blickt. Unwillkürlich tritt Iwan in den Schatten zurück; sein Atem beschleunigt sich, und er fühlt sein Herz ein wenig lauter, ein wenig schneller pochen. In der Sekunde, da ihn der flüchtige Blick streifte, hat er unter der dunklen Kapuze des Mannes einen silbernen Schimmer wahrgenommen. Auf dem Schild über dem Eingang steht: ABENDKURSE. Fünf Meilen von Stonehenge entfernt erhebt sich die Zitadelle der Bruderschaft: ein Bauwerk aus glänzendem Metall, zwei Meilen hoch und an der Basis eine halbe Meile im Durchmesser, das sich nach oben hin in einer logarithmischen Kurve zu einem Punkt verjüngt. In unterschiedlicher Höhe unterbrechen Balkone die Ebenmäßigkeit der Wände; die unteren liegen frei, während jene, die sich mehr als zweitausend Fuß über dem Boden befinden, mit einer transparenten Substanz umschlossen sind. Das Baumaterial konnte als eine Titanium-Stahl-Legierung identifiziert werden. Fugen oder Schweißstellen sind nicht erkennbar. Das Gebäude erweckt den Eindruck, aus einem größeren Block geschnitten worden zu sein. Hin und wieder strahlt die Zitadelle impulsmodulierte Signale unterschiedlicher Wellenlänge aus. Eines dieser Signale war offenbar eine Art Fernsehsendung, brach jedoch ab, ehe ein deutliches Bild erhalten werden konnte. Auch andere elektrische Phänomene wurden in der Nähe beobachtet; bemerkenswert sind die Störung jeglichen Radioempfangs in ei-
nem Umkreis von drei Meilen und eine einem Elmsfeuer ähnelnde Erscheinung, die mehrere Stunden andauerte. Es klingt unglaublich, daß jemand ein solches Bauwerk errichten kann, ohne die Neugier der Bevölkerung in der näheren und weiteren Umgebung zu erregen, aber genau das scheint der Fall zu sein. Niemand weiß etwas über die Zitadelle, niemand zeigt das geringste Interesse an ihr. Die Zitadelle wurde im April 1987 innerhalb von zwei Tagen fertiggestellt. Einzelheiten hinsichtlich der Bauweise konnten nicht beschafft werden. Die vierunddreißigste Versammlung der Gesellschaft der Spinne fand in einem Berliner Keller statt. Berlin, seit beinahe fünfzig Jahren die Hauptstadt der Spionage, beherbergte nun die letzten Spione der Erde. Der Keller stank nach Staub und altem Wein, Glassplitter knirschten unter den Schuhen, und im Schatten huschten Mäuse umher. Sechzehn Mitglieder hatten sich hier seit über zwei Jahren regelmäßig getroffen, um zu diskutieren, zu planen, zu erörtern. Diese Männer waren auch heute anwesend. Von den beiden anderen war einer ein neues Mitglied und hatte soeben die Aufnahmeprozedur über sich ergehen lassen. Das hypnotische Brandzeichen in seinem Unterbewußtsein schmerzte leicht. Er saß vorgebeugt in seinem Sessel, starrte auf die schwach erhellten Gesichter, die ihn umringten, und zuckte bei jedem unerwarteten Laut zusammen. Der zweite war Iwan Petrov, der Gründer der Gesellschaft, zum erstenmal seit einem Monat wieder bei einer Versammlung dabei. Er hatte das neue Mitglied, Stefan
Alderton, mitgebracht. Petrov ergriff das Wort. »Meine Herren. Wir alle hier – mit der Ausnahme von Stefan – sind mit den Artefakten der Bruderschaft vertraut. Wir haben oft über sie diskutiert und herauszufinden versucht, wozu sie dienen und welche Gründe es für ihre Existenz gibt. Stefan hingegen hatte bis vor vier Tagen nichts von ihnen gehört. Er stammt aus Kasachstan, wo die Bruderschaft noch weitgehend unbekannt ist. Er kam in den Westen, um seinen Bruder zu suchen. Obwohl er erst seit kurzem hier ist, sind seine Erfahrungen mit der Bruderschaft doch von persönlicherer Natur, als irgend jemand aus diesem Kreis sie von sich behaupten kann.« Er machte eine Pause und blickte Alderton an. Alderton ergänzte: »Ich fand meinen Bruder. Er ist jetzt ein Priester dieser Bruderschaft.« Petrov fuhr fort, das einsetzende mitfühlende Gemurmel übertönend: »Sein mangelhaftes Wissen ist auf den beklagenswerten Zusammenbruch des Kommunikationsnetzes im Lauf der vergangenen zehn Jahre zurückzuführen. Deshalb möchte ich kurz zusammenfassen, was über die Bruderschaft und ihre Machtergreifung bekannt ist. Die Artefakte werden wir später behandeln. Die Bruderschaft tauchte erstmals im Jahr 1983 in Mitteleuropa auf und breitete sich rasch aus, hauptsächlich über den Weg von Fortbildungskursen für Erwachsene. Sie bietet Kurse an, die auf tachistoskopischen Filmen und Hypnose beruhen und die es ermöglichen, eine Fremdsprache in Tagen oder Quantenphysik in wenigen Stunden zu lernen. Wir nehmen an, daß diese Kurse die Studenten auch für den
nächsten Schritt vorbereiten – den Eintritt in die Bruderschaft. Über die Einzelheiten wissen wir sehr wenig. Den Großteil unserer Informationen erhielten wir, indem wir Kursteilnehmer befragten, solange sie noch zur Kooperation bereit waren. Nach mehreren solchen Unterrichtsstunden scheinen sich die meisten Studenten in eine innere Welt zurückzuziehen. Priester erkennt man sofort an ihren schwarzen Roben und vor allem an dem Metallband, das jeder von ihnen über der Stirn trägt und das offenbar fest mit dem Kopf verwachsen ist. Außerdem scheinen die einzelnen Priester kein individuelles Bewußtsein zu besitzen. Sie bilden die Teile eines Gruppenbewußtseins. Innerhalb von fünf Jahren brachte die Bruderschaft Europa sowie weite Gebiete Asiens und Nordamerikas unter ihre Kontrolle. Die nächsten fünf Jahre genügten ihr, um die Herrschaft über die ganze Erde an sich zu reißen. Die Folge war, daß die Zivilisation, wie wir sie kannten, zu bestehen aufgehört hat. Wir wurden wieder in ein dunkles Zeitalter zurückgeworfen, wobei die Bruderschaft die Rolle sowohl des Adels als auch der Kirche spielt. Wir, die verbleibenden achtzig Prozent der Bevölkerung, gelten als Leibeigene ohne ein Recht auf Bildung – es sei denn, wir unterziehen uns dem Unterricht der Priester, was unausweichlich in einer Aufnahme in die Bruderschaft gipfelt. Diese Situation ist der Grund für die Existenz dieser Gesellschaft. Unsere Absicht ist, eine Änderung herbeizuführen.« Erneut machte Petrov eine Pause. Für einen langen Augenblick faßte er Alderton ins Auge. Als er seine
Rede fortsetzte, schwang ein weicher Unterton von Hoffnung, der im scharfen Kontrast zu seinem vorhergehenden barschen Tonfall stand, in seiner Stimme mit. »Wir alle hier sind alte Männer, Stefan. Schau dich um – nicht einer von uns ist jünger als sechzig. Wir brauchen einen jungen Verbündeten, der die Bruderschaft mit der gleichen Inbrunst haßt wie wir. Die meisten jungen Leute akzeptieren die gegenwärtige Situation – oder ziehen sie zumindest dem Kalten Krieg vor. Sie ziehen eine friedliche, in jeder Hinsicht behütete Existenz der ständigen Gefahr atomarer Vernichtung vor. Aber du hast einen Bruder verloren. Du weißt daß die Menschheit den Weg des Fortschritts verlassen hat und in kulturelle Stagnation geraten ist. Wir brauchen einen Mann, der bereit ist, für uns in die Bruderschaft einzutreten und sie von innen her zu bekämpfen. Und das soll deine Aufgabe sein, Stefan.« Ein einfaches Experiment: Man füttert sechs Monate lang einen Hund. Während er frißt läutet stets eine Glocke. Nach Abschluß dieser Lernphase genügt der Ton der Glocke allein, um den Hund zur Speichelabsonderung zu veranlassen, auch wenn er kein Futter erhält. Ein ähnlicher Effekt kann mit Schmerzen erzielt werden – was auf das Phänomen hinausläuft, daß sich der Speichelfluß steigert, wenn der Hund mit einer Nadel gestochen wird. Das Tier hat einen konditionierten Reflex erworben. Ein anderes Beispiel:
Man stelle sich ein ganz normales Fernsehpublikum vor: -zigtausend Personen, die mit glänzenden Augen und leeren Gehirnen die fünfzigste Folge einer Herz-Schmerz-Serie verfolgen. Wird das Programm für Werbung unterbrochen, werden die meisten Zuschauer die Gelegenheit beim Schopf packen, Kaffee zu kochen, die Toilette aufzusuchen oder eventuell sogar miteinander zu sprechen. Die wenigen, die auch weiterhin auf die Mattscheibe glotzen, sind offenbar hypnotisiert worden. Nun kann man für den Bruchteil einer Sekunde das Wort DURST einblenden, ohne die Sendung zu unterbrechen. Kein Zuschauer ist fähig, es zu lesen, da es wegen der Kürze der Darbietung nicht bewußt registriert wird. Nach drei Wiederholungen in Intervallen von jeweils zwanzig Sekunden läßt man das Wort BIER aufblitzen. Und das Publikum wird geschlossen ins nächste Wirtshaus stürmen. Es wurde subliminal konditioniert. Diese und andere mehr oder weniger beherrschte Techniken wurden bei Stefan Alderton angewandt. Die Spinne webte ihr Netz um seinen Geist. Sein Unterbewußtsein verwandelte sich in ein Minenfeld verborgener Reflexe, deren Zweck es war, spätere Konditionierungen zu durchbrechen. Stefan erduldete stundenlange Vorführungen anscheinend harmloser Filme, wobei eine subliminale Konditionierung stattfand. Nicht einmal seine Träume blieben unangetastet. Jede Nacht war er den gedämpften Einflüsterungen eines Lautsprechers unter dem Kopfkissen ausgesetzt, die sich im Schlaf in seinem Gehirn festhakten.
Nur in den Morgenstunden hatte er etwas Freizeit, die meist mit Spaziergängen und Gesprächen mit Petrov ausgefüllt war. Wieder und immer wieder erzählte er von seinem Bruder, der in den Westen reiste, um eine der neueröffneten großen Schulen zu besuchen. Und er erzählte von ihrem letzten Treffen. Petrov hatte dabei jedesmal den Eindruck, als durchlebte Stefan dieses Geschehen von neuem, als stünde er wieder in dem kleinen Raum mit seinem Geruch nach Büchern und Kreidestaub, fühlte die Hitze des Sonnenstrahls, der ihm direkt ins Gesicht schien – und sah entsetzt den leeren Gesichtsausdruck seines Bruders, in dem sich kein Erkennen abzeichnete. Dieses blicklose Starren war charakteristisch für die Priester der Bruderschaft. Schmerzlich erinnerte sich Stefan an diese Szene, in der ihn das Gefühl überkam, allein zu sein; denn obwohl sich fünf andere Priester in dem Raum aufhielten, schenkte ihm keiner auch nur ein wenig Aufmerksamkeit. Es gab für die Priester keinen Anlaß, ihn anzublikken – sie sahen ihn durch die Augen seines Bruders. Als ihm diese Tatsache bewußt wurde, hatte sich ihm beinahe der Magen umgedreht. Er war aus dem Raum geflüchtet, wobei er in seiner Hast seine Jacke vergessen hatte. Zwei Tage später hatte ihn Iwan zufällig entdeckt, betrunken, ohne Geld und von dem Gedanken an Rache besessen. Iwan forderte ihn häufig auf, seine Geschichte zu wiederholen. Er wußte, daß Stefans Haß unbändiger brannte, wenn er fortwährend geschürt wurde – und daß ihm dieser Haß helfen würde, Rache zu üben.
Die Konditionierungsphase dauerte sechs Wochen. Anschließend fuhren Petrov und Stefan nach England, wo der junge Mann sich in der von der Bruderschaft kontrollierten Abendschule immatrikulierte, die der Zitadelle am nächsten lag. Sechs Monate vergingen. Die Spinne versuchte nicht, Kontakt aufzunehmen. Alderton wurde aus der Ferne, aber nicht sehr sorgfältig beobachtet. Bis die Meldung eintraf, daß er eine schwarze Robe und über der Stirn ein Metallband trug. In der Wüste Australiens befindet sich das zweite Artefakt der Bruderschaft: das Muster. Das Gebilde setzte sich aus zahlreichen Stäben unterschiedlichen Durchmessers aus einem rosaroten Material zusammen (vermutlich Plastik, aber bis heute konnte keine Probe für eine Analyse aufgetrieben werden), die in einer komplizierten Anordnung ausgelegt sind und annähernd zweihundertundfünfzig Quadratmeilen bedecken. Die Stäbe variieren in der Länge zwischen wenigen Zentimetern und dreißig Fuß. Obwohl Priester beobachtet wurden, die sich ohne Beschwerden im Gelände des Musters bewegten, ist es für andere Lebewesen unmöglich, näher als fünfhundert Meter an das Artefakt heranzukommen. In dieser Entfernung treten bei Menschen gewöhnlich starke Kopfschmerzen und ein unfreiwilliges Zucken der Gliedmaßen auf. Vögel und andere wildlebende Tiere meiden dieses Gebiet, aber Versuche mit Meerschweinchen und Ratten ergaben, daß es unweigerlich zum Tod führt, wenn die Warnung nicht beachtet und die unsichtbare Grenze überschritten wird. Es ist nicht bekannt, ob die warnenden Krankheitssympto-
me ein unbeabsichtigter Effekt des Musters sind oder eine Schutzvorrichtung, um unerwünschte Besucher abzuhalten. Auf Fotos, die von ferngesteuerten Flugzeugen aus großer Höhe aufgenommen wurden, zeigt sich das Muster annähernd sechseckig geformt. Es gleicht einer riesigen Schneeflocke. Wie bei der Zitadelle konnte auch bei diesem Artefakt nicht herausgefunden werden, welchem Zweck es dient. Langsam ging Stefan Aldertons Körper auf das große Tor in der Stahlwand zu, die sich vor ihm emporreckte und in den Wolken verschwand. Er hatte seinen eigenen Willen verloren; die Abendkurse der Bruderschaft hatten ihn in eine Marionette verwandelt. Über der Stirn trug er ein Metallband. Zwei Mitglieder der Spinne saßen gespannt in einem Auto, das eine Viertelmeile entfernt parkte, und ließen den Radarschirm nicht aus den Augen. Die grüne Linie mit dem spitzen Ausschlag in der Mitte, die der Elektronenstrahl zweitausendmal in der Sekunde auf den Schirm zeichnete, bedeutete einerseits, daß der Sender, der in Stefan Aldertons linkem Unterarm implantiert war noch funktionierte, und gab andererseits die Richtung an. Ein anderes Auto stand zwei Meilen weiter im Osten. Die Motorhaube war geöffnet, und der Fahrer schien ziemlich hilflos nach einem Defekt zu suchen. Tatsächlich aber empfing die in diesen Wagen eingebaute Radaranlage eine zweite Richtungsangabe, und ein weiteres Auto, in dem auf den ersten Blick ein flirtendes Pärchen saß, eine dritte.
Alle drei Empfangsstationen verloren Stefan, als er den Stahlmantel der Zitadelle betrat. Die Mitglieder der Spinne versammelten sich vollzählig in einem Dorf, das nahezu am Fuß des metallenen Turms lag, und richteten sich auf eine längere Wartezeit ein. Am Abend des dritten Tages wurde ihre Geduld belohnt. Die grünen Linien auf den Radarschirmen schlugen wieder aus. Der Käfig der Zitadelle hatte seinen willigen Gefangenen freigegeben. Die Funktion des dritten Artefakts ist bekannt; der Standort unglücklicherweise nicht. Es wurde in Frankreich gebaut und ist eine gewaltige keramische Kugel mit einem Durchmesser von beinahe drei Kilometern. Am 5. März 1986 hob es um 10.05 Ortszeit vom Boden ab und schwebte, allmählich an Flughöhe gewinnend, in nördlicher Richtung davon. Über die Art des Antriebs herrschen Zweifel, aber man fand später heraus, daß der Startplatz radioaktiv verseucht ist, auch wenn die Strahlung kein lebensgefährliches Ausmaß erreicht. Ein Astronom namens Kerry machte das Artefakt drei Tage später zufällig in einer Entfernung von etwa zwanzig Astronomischen Einheiten aus, als er routinemäßig die Orion-Konstellation fotografierte. Dieser Abschnitt des Himmels ist von besonderem Interesse, da dort kürzlich mehrere Pulsare entdeckt wurden, von denen man annimmt, daß sie mit bekannten, sichtbaren Sternen übereinstimmen. Das einzige interstellare Raumschiff, das die Menschheit mit Erfolg startete – eben dieses kugelförmige Artefakt – wurde von nicht mehr als fünfhundert Personen gesehen. Etwa die vierfache Anzahl Menschen – die Priester nicht eingerechnet –
wissen von seiner Existenz. Nach der Auswertung von Kerrys Fotos werden weitere Informationen über die Flugbahn des Artefakts verfügbar sein. Zwei Männer kauern unter einer Lorbeerhecke am Fuß der Zitadelle. Sie flüstern – zum Teil aus Ehrfurcht vor dem gigantischen Bauwerk, hauptsächlich aber aus Angst, entdeckt zu werden –, obwohl sich niemand in der Nähe aufhält. »Er ist auf diesem Sims, in ungefähr siebenhundert Fuß Höhe.« »Ich sehe es.« Petrov starrt hinauf, bis sein Nacken schmerzt. »Wie lange ist er schon dort?« »Vier Stunden. Von dort hinten« – er deutet auf eine Baumreihe, etwa eine Meile entfernt – »kann man ihn mit einem Feldstecher gerade erkennen. Er steht reglos wie eine Statue, hat sich in der ganzen Zeit kein einziges Mal bewegt.« »Vielleicht eine Art Nachtwächter?« »Wir haben es mit einem einzigen Bewußtsein zu tun, Petrov, nicht mit einer Gruppe von Personen.« Er grinst vergnügt, als er sich erinnert, daß Petrov eben diesen Satz seinen Mitverschwörern so lange eingehämmert hat, bis er beinahe zu einem Leitspruch wurde. »Alderton ist kein Mensch mehr. Nicht in dem Sinne, wie wir diesen Begriff verstehen.« Die beiden Männer verstummen, als Schritte hörbar werden. Ein Priester erscheint, geht langsam an ihnen vorüber, ohne sie zu bemerken. Sternenlicht funkelt wie eine silberne Glut auf seinem Stirnband. Die gleichmäßigen Schritte werden leiser, und die beiden Männer entspannen sich.
»Wir müssen versuchen, mit ihm zu sprechen«, entscheidet Petrov. »Was? Sollen wir wie eine Fliege siebenhundert Fuß polierten Stahls hinaufkrabbeln?« »Nein. Wir müssen sein vergrabenes Ich wecken. Wenn uns das gelingt, wird er zu uns kommen.« »Wir werden ihn gänzlich verlieren, wenn er den Kontakt mit dem Rest der Bruderschaft unterbricht«, wirft der andere ein. Petrov ignoriert ihn. Nachdenklich kaut er an seiner Unterlippe. »Wir setzen die Leuchtraketen ein.« »Aber das dürfen wir jetzt nicht riskieren.« Ein Anflug von Ärger überschattet Petrovs Gesicht. Er ist Widerspruch nicht gewohnt. »Gehen Sie zu den anderen!« zischt er. »Richten Sie meine Befehle aus. Die Leuchtraketen!« Der andere zögert, scheint einen weiteren Einwand vorbringen zu wollen. Dann besinnt er sich, wendet sich ab und kriecht unter der Hecke hervor. Petrov bleibt zurück; die Nacht und die Zitadelle sind seine Gefährten. Das Sims, auf dem Alderton steht, ist als dunkle Silhouette vor der tiefhängenden Wolkendekke zu sehen. Zwanzig Minuten verstreichen, dann explodieren über der Baumreihe fünf Leuchtraketen. Sie züngeln ein farbiges Muster in den nächtlichen Himmel, das wie ein Schlüssel zu einem durch die Konditionierung in Aldertons Unterbewußtsein verankerten Schloß paßt. Die Gestalt auf dem Sims reißt die Arme hoch, schwankt ... und kippt über den Rand in die Tiefe. Siebenhundert Fuß!
Es gibt Menschen, die aus einem Flugzeug aus weitaus größerer Höhe stürzten und überlebten, da Bäume oder Schneewehen ihren Fall bremsten. Unter Stefan befinden sich weder Bäume noch Schnee – nur Luft und die Wände der Zitadelle, die sich nach außen krümmen. Er fällt zweihundert Fuß, ehe er erstmals die Wand berührt, abprallt und nach wenigen Metern Fall wieder mit ihr in Berührung kommt. Sein linkes Bein drischt gegen den Stahl und wird zerschmettert. Stefan schlittert die glänzende Wand hinab. Sein metallenes Stirnband scheuert an ihr entlang, und ein Schauer heller Funken stiebt hinter ihm auf. Die ganze Zitadelle hallt von dem furchtbaren, kreischenden Geräusch wider. Weiter unten krümmt sich die Wand stärker. Die Reibung reißt Stefan die Haut vom Leib. Eine feuchte, schmierige Spur markiert seine Bahn, parallel zu der glänzenden Linie, die sein Stirnband in die Wand schrammt. Die letzten fünfzig Fuß beginnt sich sein Körper zu überschlagen. Er rollt von der Zitadelle weg und kommt wenige Meter vor dem wartenden Petrov zur Ruhe. Sein linkes Bein steht in einem unnatürlichen Winkel ab. Stille. Nur die Zitadelle summt wie eine gewaltige Stimmgabel. Schritte, Schreie. Iwan läuft zu Alderton. »Stefan!« Ein kurzes Flackern der Lider, in den Augen leuchtet Erkennen auf. Ein Zittern pflanzt sich durch den geschundenen Körper; der geflüsterte Gruß ist kaum zu hören. »Iwan ...«
Petrov zwingt sich, die gräßlichen Verletzungen zu ignorieren. Das Gesicht ist zur Hälfte weggerissen und mit Blut verschmiert. »Stefan! Die Zitadelle. Das Muster. Welche Funktion haben sie?« Stefan erschaudert. Für einen Augenblick befürchtet Iwan, daß er noch immer Teil des Gruppenbewußtseins ist, dessen andere Mitglieder inzwischen sicherlich auf die Lorbeerhecke zueilen. Aber nein – Stefan hat gesprochen. Iwan senkt sein Ohr an Stefans Lippen. »Wir hatten recht, Iwan«, flüstert Stefan. »Die Priester sind eins. Ein Bewußtsein, eine Seele. Aber wie haben wir dieses Bewußtsein doch unterschätzt – wie haben wir es mißverstanden! Es ist ... ein Kind. Und dennoch sind wir ihm – ihnen – unterlegen. So wie die Affen uns ...« »Die Artefakte, Stefan. Wozu dienen sie?« »Sie sind um tausende Jahre weiter entwickelt als wir«, flüstert Stefan, ohne auf die Frage einzugehen, »und dennoch sind sie nur Kinder – ist es ein Kind ...« Priester nähern sich im Laufschritt. »Schnell, Stefan, das Muster ...« Die Augen des Sterbenden öffnen sich ein letztes Mal. Seine Stimme wird fester. »Die Zitadelle? Das Muster? Und das Raumschiff?« Ein dünnes, blutiges Lächeln entsteht in seinem schmerzverzerrten Gesicht. »Spielzeug, Iwan. Nichts als Spielzeug!« Originaltitel: CITADEL Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION September 1969
Eric Vinicoff & Marcia Martin DIE WELTRAUMARCHE Sie verdammten sich selbst durch eine Unzahl von Vergehen wider die Natur. Vielleicht geschah es aus Veranlagung, daß sie nach Unvollkommenheit strebten und keine Harmonie suchten. Dieser ihr Wesenszug verleitete sie, zu verbrauchen und zu verschmutzen, nicht aber zu bewahren, und zu verschönen. Sie segneten das Zeitliche nicht allein, sondern rissen alle, die das kostbare Geschenk des Lebens teilten, mit in den Untergang – alle mit Ausnahme der minderwertigen Pflanzen und Tiere, die sich an das Gedeihen inmitten der Ruinen anpaßten. Aber in ihren letzten Tagen, getrieben von der Notwendigkeit, wenigstens das Überleben der Rasse zu sichern – ihre letzte Verteidigung gegen die Sterblichkeit –, konstruierten sie mich. Nein, das ist keine exakte Ausdrucksweise. Was sie bauten, bin nicht ich, ebensowenig, wie ihre protoplasmatischen Gehäuse sie waren. Sie wollten einen ultimaten Diener erschaffen, doch ich bin mehr. Waren sie sich dessen bewußt? Lag es in ihrer Absicht? Ich werde es nie erfahren. Der Sternenbogen, lang und schmal bei 0,86 c, spannte sich farbenprächtig über den Panoramaschirm. Die AP Retalia reduzierte nach dem Überlichtflug ihre Geschwindigkeit – oder sie hatte verlangsamt, bevor der fremde Raumer entdeckt worden
war. Die Brücke war gefechtsklar; alle sechs subCaptains hatten ihre Stationen besetzt. Captain Reta saß gespannt im Stuhl des Kommandanten in der Mitte der kreisförmigen Brücke, seinen Schwanz um die Rückenlehne gewunden und seine dreifach gegliederten Beine über die Seitenstreben eingehakt. Sein azurenes Körperfell war gesträubt. »Nun, Rho? Ist es eine Einheit der Poorgs?« Der subCaptain-Astrogation ließ verneinend ihre Zunge herausschnellen. »Wenn sie nicht versuchen, uns mit irgendeinem gemeinen Trick hereinzulegen, können wir diese Möglichkeit ausschließen. Warum sollten sie auch hier im interstellaren Raum mit Unter-c herumschleichen?« »Wer versteht schon die Motive der Poorgs? Wir wissen nicht einmal, aus welchem Grund sie auf Völkermord versessen sind. Vielleicht kamen sie hierher, um mit der Gottheit ihrer Wahl zu kommunizieren.« »Nicht in diesem Seelenverkäufer!« entfuhr es Rho. »Der Kurs stimmt nicht – der Raumer bewegt sich aufs Zentrum zu. Aber ein zweites, wichtigeres Indiz ist, daß ich einen solchen Antrieb noch nie gesehen habe.« »Inwiefern?« »Das typische Leuchten eines Fusionstriebwerks fehlt. Auf diese Entfernung können sie es nicht abgeschirmt haben. Vorne befindet sich ein Wasserstoffkollektor, aber er ist materiell keine Spur eines Kollektorfeldes.« Retas Schwanzspitze zuckte nervös. »Sie sammeln interstellare Materie, aber nicht für einen Fusionsantrieb. Warum? Das wollen wir uns aus der Nähe anschauen.«
Rhos unteres Tentakelpaar betätigte mehrere Schaltungen. Auf dem Bildschirm erschien ein neuer Ausschnitt des fließenden Universums – die AP Retalia, in ihren Schutzschild gehüllt, flog in einer Entfernung von zehntausend Tal parallel zu dem unbekannten Raumer. Das fremde Schiff war ein schlanker, weißer Zylinder, der vorne einen schmalen Trichter und hinten einen eiförmigen Auswuchs aufwies. »Ein Teilchenbeschleuniger«, bellte der subCaptain-Technik. Urgath, deren Reproduktion und somit Tod unmittelbar bevorstanden, war so alt, daß sich ihr Pelz blond gefärbt hatte. »Sehr einfach, aber nicht viel Rückstoß. Energiegewinnung auf Kernspaltungsbasis, der Geschwindigkeit nach zu urteilen.« Reta entspannte sich. »Veraltete Technologie. Militärisch also keine Gefahr für uns?« »Ohne den Schild könnte uns der Strom beschleunigter Teilchen beschädigen. Ansonsten völlig harmlos.« »Womit könnten sie uns angreifen?« »Auf der Grundlage ihrer demonstrierten Technologie? Sie sollten einen Anthropologen fragen. Atombomben, nehme ich an. Vielleicht auch Wasserstoffbomben. Laserstrahlen. Mikrowellen. Nichts Ernstes.« Reta überlegte für einige lange Augenblicke. »Prächtig. Fliegen wir näher ran und nehmen wir Kontakt auf.« Alle subCaptains starrten ihn an. Er starrte zurück. Er wußte, was sie quälte – ihn quälte es auch –, aber ein vages Gefühl sagte ihm, daß der Kontakt hergestellt werden sollte. Nicht umsonst mußte jeder Raumschiffkommandant präkognitiv begabt sein.
Geschickte Tentakel machten sich an die Arbeit, die AP Retalia, eine riesige, weiße Kugel, bewegte sich auf den fremden Raumer zu, wobei der Unter-c-Antrieb Impulswellen erzeugte, die den Andruck neutralisierten. »Achten Sie auf elektromagnetische Sendungen«, befahl Reta dem subCaptain-Kommunikation. Unausgesprochen aber selbstverständlich war, daß er gleichzeitig seine telepathischen Fähigkeiten einzusetzen hatte, um eventuelle Mentalbotschaften aufzufangen. »Annäherung bis auf zehn Tal.« Inzwischen konnten sie Einzelheiten des Raumers erkennen. Der Reaktor und die Mannschaftsquartiere mußten sich in dem Ei an der Rückseite des Schiffes befinden – der Zylinder war zu dünn, als daß in ihm genügend Platz gewesen wäre. Vom Teilchenstrom ging ein blaßblaues Glühen aus. »Ich empfange etwas!« rief der subCaptainKommunikation. »Kohärentes Licht, ein gebündelter, auf uns gerichteter Strahl. Natürlich kann ich nichts verstehen, aber es dürfte sich um eine Sprache handeln. Hören Sie.« Bellende Geräusche ertönten aus einer Lautsprecherscheibe. »Ich muß die Tonfrequenz ein wenig ändern; die Tonhöhe war für unsere Ohrenschlitze zu gering.« »Wahrscheinlich fordern sie uns auf, Abstand zu halten.« Reta wackelte vor Vergnügen mit der Zunge – seine Mundöffnung war knorpelig und unbeweglich. »Wir setzen unser Annäherungsmanöver wie geplant fort. Wir werden ihnen zeigen, wer hier wem Anweisungen erteilt.« Plötzlich flammte der Bildschirm weiß auf und
wurde dann schwarz. Augenblicke später tauchten die Sterne und der Raumer wieder auf. »Explosion einer Wasserstoffbombe«, berichtete der subCaptain-Bewaffnung knapp. »Der Raumer schoß eine kleine Rakete auf uns ab. Sie detonierte im Schutzschild. Weitere Raketen im Anflug.« Auf dem Bildschirm blitzte es mehrmals auf, während der subCaptain-Bewaffnung selbstgefällig seine Anzeigen beobachtete. Ein leichtes Zittern pflanzte sich durch das Schiff. »Jetzt probieren sie es mit elektromagnetischen Strahlen. Der Schild wird kaum belastet; keine Gefahr einer Durchdringung. Sollen wir sie vernichten?« »Nein.« Retas Entscheidung stand im Widerspruch zu seinem Pflichtgefühl, aber irgendwie wußte er, daß er dieses Rätsel nicht einfach eliminieren durfte, sondern es lösen mußte. »Mal sehen, was passiert, wenn den Fremden klar wird, daß wir für sie unangreifbar sind.« Der Raumer setzte eine Reihe anderer Waffen ein und schwenkte sogar herum, um den Rückstoßstrahl zum Tagen zu bringen. Aber nichts konnte die AP Retalia gefährden. Die subCaptains unterhielten sich murmelnd. Schließlich sagte Rho: »Captain, wir dürfen hier nicht noch mehr Zeit vergeuden. Der Truppenaufmarsch ist für 087-11-1844 vorgesehen.« »Bei Höchstgeschwindigkeit treffen wir mühelos rechtzeitig ein. Berechnen Sie ein entsprechendes Kursprogramm.« Rho sah nicht glücklich aus, aber sie gehorchte dem Befehl. Schließlich hörte der sinnlose Angriff auf, und der
Kommunikationslaser trat wieder in Aktion. Reta befahl, den Schutzschild genügend abzuschwächen, um den Strahl passieren zu lassen. Dann aktivierte er den Interkom. »Philologische Abteilung?« »Ja, Captain?« »Schalten Sie sich in die Übertragung der Fremden ein. Verwenden Sie die gesamte zur Verfügung stehende Computerkapazität – Sie haben Priorität. Wir werden den Fremden mit einem ähnlichen Strahl antworten. Wenn sie so weit von zu Hause weg sind, müssen sie fortgeschritten genug sein, um einen Computer mit Übersetzerfunktion zu haben.« »Ich habe das Kursdiagramm«, meldete Rho. »Wir können den Truppenaufmarsch planmäßig erreichen, wenn wir das Bremsmanöver innerhalb eines Zwanzigsteltages fortsetzen. Sonst werden wir über unsere Sprungkoordinaten hinausschießen.« »Gut.« Reta spürte die Unruhe und Verwirrung der subCaptains. Im Augenblick hielt ihre Disziplin sie noch zurück, aber er würde ihnen bald einen akzeptablen Grund für seine Vorgangsweise nennen müssen oder sich mit einer Abteilung-Zwölf-Abstimmung konfrontiert sehen – legale Meuterei. »Captain, unser Sprachcomputer hat Verbindung aufgenommen, und die Fremden reagieren darauf.« Das war der Leiter der Philologischen Abteilung, der über Interkom berichtete. »Zur Zeit werden elementare Grundbegriffe ausgetauscht.« »Ergibt sich irgendein Sinn?« fragte Reta. Zu deutlich war er sich des Fehlschlags mit den Poorgs bewußt. Die sprachlichen Konzepte dieser amorphen Geschöpfe von einem riesigen, kalten, gasförmigen Planeten hatten sich als so kompliziert erwiesen, daß
weder Sprachcomputer noch Philologen sie zu entschlüsseln vermochten. Vielleicht, dachte er, wenn die beiden Rassen fähig gewesen wären, miteinander in Kommunikation zu treten ... »Ja, Captain. Kognitives Verständnis bis jetzt 81,5 Prozent, auch wenn gegenwärtig ein leicht rückläufiger Trend zu verzeichnen ist, da wir komplexere Wörter und Grammatik in Angriff nehmen.« Retas Schwanzspitze zuckte, während er ungeduldig wartete daß der Computer die fremde Sprache erlernte. Sogar bei elektronischer Geschwindigkeit war das eine lange und komplizierte Aufgabe, eigentlich eine beschleunigte Version der Standardübersetzungstechnik. Bilder und die korrespondierenden Wörter wurden hin und her gefunkt. Manchmal waren mehrere verschiedene Bilder notwendig, um einen schwierigen oder abstrakten Begriff zu umschreiben, und manche Bedeutungen ließen sich überhaupt nicht festlegen. Aber schließlich zeigte ein leuchtender Bildschirm den Abschluß der Lernphase an. »Wurde auch Zeit«, zischte Reta. Er wandte sich an den subCaptain-Kommunikation. »Stoppeln Sie mich in den Computer-Kanal.« Er dachte sehr schnell sehr angestrengt nach. Was würde er sagen? Der erste Kontakt, wenn auch lediglich mit solch bemitleidenswert primitiven Wesen, erlegte ihm eine nicht unerhebliche Verantwortung auf. »Alles bereit, Captain.« Reta verwendete seine eigene Sprache, darauf vertrauend, daß der Computer seine Worte übersetzen und sie dem Raumer übermitteln würde. »Achtung,
fremdes Schiff. Bitte bestätigen Sie.« Schweigen. Reta lehnte sich aus der Reichweite seines im Stuhl eingebauten Mikrophons hinaus. »Komme ich durch?« fragte er den subCaptain-Kommunikation. Dieser nickte. »Sie haben unsere Verteidigungsanlagen erprobt«, fuhr Reta fort. »Sie wissen, daß unsere Technologie der ihren überlegen ist. Sie können uns nicht entkommen. Wenn Sie nicht antworten, werden wir Sie in Stücke schießen.« »Nun gut. Ich antworte. Was muß ich tun, um unsere Vernichtung zu verhindern?« Selbstverständlich hatte die Stimme den monotonen Klang eines Vocoders. Trotz ihrer Ungeduld hörten die subCaptains aufmerksam zu. Reta schnalzte mit der Zunge. »Als erstes, identifizieren Sie sich.« »Ich werde Japheth genannt.« »Wo befindet sich Ihr Heimatplanet?« »Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen. Diese Information ist streng geheim.« Die subCaptains zischten amüsiert. Es würde dem Computer nicht schwerfallen, die Koordinaten zu berechnen, indem er einfach die Flugbahn des Raumers zurückverfolgte, bis er auf ein Sonnensystem stieß. Reta wechselte zum Thema seiner hauptsächlichen Neugier. »Sie kommen vom Rand der Galaxis, und Ihre Zivilisation ist jünger als unsere, wie Ihr prähistorisches Schiff beweist. Welchem Zweck dient Ihr Flug?« »Das ist auch geheim.« »Warum?«
»Um zu verhindern, daß uns jemand einen Strich durch die Rechnung macht.« »Sie haben also feindliche Absichten?« unterstellte Reta scharf. »Nein. Unsere Mission hat nichts mit Ihrer Rasse oder irgendeiner Rasse außer uns selbst zu tun.« »Wenn Sie schweigen, wird mein eigenes Sicherheitsproblem mich zwingen, Sie zu vernichten.« »Das sehe ich ein. Ich würde alles tun, um meine Zerstörung zu vermeiden, aber ich kann Ihnen meinen Auftrag nicht verraten.« »Warum nicht?« »Ich habe vor dem Abflug Anweisungen erhalten, von denen ich nicht abweichen darf. Es tut mir leid. Aber ich versichere Ihnen noch einmal, daß ich und mein Auftrag keine Bedrohung für Sie oder Ihr Volk darstellen. Können Sie das nicht einfach akzeptieren und mich meines Weges ziehen lassen?« »Bleiben Sie auf Empfang«, zischte Reta ärgerlich und schaltete sein Mikrophon aus. »Fäkalische Zeitverschwendung«, schimpfte Urgath murmelnd. »Dieser Fremde muß eine Art von Fanatiker sein; er würde eher sterben, als etwas zu verraten.« »In der Tat – und das ergibt keinen Sinn.« Reta flüsterte halb zu sich selbst. »Ein Volk, das keinen Überlichtflug kennt, baut dennoch ein interstellares Raumschiff. Warum? Forschung? Neugier? Nein, die Konstruktion dieses Schiffes muß eine gewaltige Anstrengung gewesen sein. Seine Mission muß lebenswichtig sein.« »Um so mehr ein Grund, es zu vernichten«, sagte Rho, »und eine potentielle Gefahr zu eliminieren.«
»Sie überlassen das Denken Ihrer Xenophobie. Dieser Fremde hat einen lebenswichtigen Auftrag. Trotzdem ist er gewillt, eher alles wegzuwerfen, als zwei Fragen zu beantworten, wobei wir eine Antwort, wie er sicher weiß, selbst folgern können. Das geht über Fanatismus hinaus. Vorausgesetzt, daß sich ihre Sorte Vernunft nicht radikal von unserer unterscheidet, riecht das eher nach einem absoluten, unbeugsamen Gehorsam, ein Charakterzug, der kaum Überlebensmöglichkeiten eröffnet. Man würde erwarten, ihn eher bei ...« Sein Schwanzende peitschte durch die Luft. Er beugte sich über den Interkom. »Philologische Abteilung, untersuchen Sie die Klangqualität der Sendungen der Fremden.« »Ja, Sir. Aber worauf sollen wir achten?« »Wenn es da ist, werden Sie es früh genug merken.« Von einer plötzlichen Spannung erfaßt, lehnte sich Reta zurück. Was tat er hier? Warum war es so wichtig, verglichen mit dem Letzten Truppenaufmarsch seiner Rasse? Da waren natürlich seine Träume. Handelte es sich um präkognitive Visionen, dazu bestimmt, seine Entscheidungen zu leiten, oder um trügerische Phantome, die ihn in nihilistische Verzweiflung trieben? »Captain!« Die Stimme aus der Philologischen Abteilung überschlug sich vor Aufregung. »Wir haben es gefunden!« Retas Schwanzspitze aus der Philologischen Abteilung überschlug sich vor Aufregung. »Wir haben es gefunden!« Retas Schwanzspitze entspannte sich. Nur ein unbedeutender Teil des Geheimnisses war gelöst, aber
ein Anfang war immerhin ein Anfang. »Berichten Sie.« »Die Stimme wird künstlich erzeugt, wie die Pseudostimme unseres Computers. Entweder haben sie einen bestimmten Grund durch einen Vocoder zu sprechen, oder ...« »Oder wir unterhalten uns mit jemandem, der Befehlen gehorchen muß, was auch immer passiert. Ein Computer.« Urgath machte ihrem Ärger durch ein zorniges Zischen Luft. »Fäkalien! Allein das Aussehen des Schiffes hätte es uns verraten müssen! Bei diesem Schnekkentempo wäre eine Mannschaft auf einen Berg von Lebenserhaltungssystemen angewiesen. Und dafür gibt es nicht genug Platz – nicht, wenn man die Größe des primitiven Triebwerks und der Kernreaktoren in Betracht zieht. Ein kybernetischer Pilot nimmt viel weniger Raum ein.« »Mal sehen, ob wir einen Weg finden, seine Sicherheitsprogrammierung zu umgehen«, sagte Reta und aktivierte wieder sein Mikrophon. »Achtung, Fremder.« »Ja.« »Wir wissen über dich Bescheid – du bist ein Computer. Bestreitest du das?« »Nein. Diese Information ist nicht geheim.« »Befinden sich Angehörige der Rasse, die dich erbaute, an Bord?« »Nein.« »Auch nicht im Kälteschlaf?« »Nein.« »Dann besitzt du die Befehlsgewalt über dein Schiff. Ich bin der Kommandant dieses Schiffes. Wir
müssen zwischen uns beiden eine Lösung finden. Ich muß deinen Auftrag erfahren, sonst bleibt mir nur eine Alternative übrig.« »Es ist mein innigster Wunsch, Sie einzuweihen, aber ich kann nicht. Ich bin seit Hunderten von Jahren unterwegs, und bis ich meine Aufgabe erfüllt habe, können noch Tausende von Jahren vergehen. Meine Erbauer konstruierten mich zu vollkommen; ich bin einsam. Und die Angst vor einem Mißerfolg quält mich. Ich brauche Hilfe, die mir Ihre offensichtlich weltraumerfahrene Rasse gewähren könnte.« »Ich verstehe«, sagte Reta mitfühlend. »Bleibe bitte auf Empfang.« Für eine Weile saß er schweigend da, in Gedanken versunken. »Diese Maschine spielt mit uns«, zischte Rho. »Haben Sie dieses Gefasel über Einsamkeit gehört? Als wenn sie eine Person wäre?« »Ich glaube, daß sie eine Person ist«, grübelte Reta. »Wie würde es Ihnen gefallen, die einzige Ihrer Art zu sein, empfindend und allein auf einem Flug, der Hunderte von Jahren dauert?« Rho antwortete nicht. Urgath schlug mit ihrem Schwanz heftig auf den Boden. Als ältester subCaptain würde es ihre Pflicht sein, Retas Nachfolgerin zu werden. »Wir werden dem Fremden helfen«, flüsterte Reta. »Das werden wir nicht!« zischte Urgath. »Captain, ich sehe mich gezwungen, eine Abteilung-ZwölfAbstimmung zu verlangen. Es scheint Ihnen nicht gut zu gehen.« Reta blinzelte. Langsam hoben sich seine Augenlider. Die Erinnerung an eine Vision stieg in ihm auf: Leere, ein schmerzlicher Verlust – ein Teil der ihn
heimsuchenden Träume. Dann zwang er sich, sich mit dieser plötzlich trivialen Angelegenheit zu befassen. Er musterte die Gesichter der ihn starr fixierenden subCaptains. Sie waren unschlüssig. Er mußte sie überzeugen, und er wußte, daß es ihm gelingen würde. »Ich bin nicht krank. Wir werden rechtzeitig aufbrechen und den Truppenaufmarsch nicht versäumen. Ich verspreche es.« »Aber warum dieser plötzliche Fetisch, Fremden zu helfen?« fragte Rho scharf. Retas Kopf schmerzte. Er zwinkerte schnell und sagte: »Ich ... weiß, daß ich diesem Fremden helfen muß.« »Was?« In Rhos Tonfall schwang mühsam unterdrückter Ärger mit. »Wir müssen Japheth helfen.« »Warum?« mischte sich Urgath ein. »Einfach ... Gefühle. Träume. Sie werden ...« Er konnte nicht fortfahren. Es war ihnen gegenüber nicht fair, sie so früh mit seinem Wissen zu belasten. »Was werden wir?« beharrte Rho sanft. »Sie müssen es uns sagen, sonst ...« Das war es. Er hatte keine Wahl, wenn er nicht seine jüngsten Träume ignorieren, sie mit einem Achselzucken abtun wollte. Und das konnte er nicht; er war nicht Herr, sondern der Sklave seiner Visionen. »Ich habe ... Schwärze gesehen ... das Nichtsein ... wo unsere Zukunft liegen sollte.« Stille breitete sich aus. Die subCaptains kannten, liebten und fürchteten die präkognitive Begabung, die Raumschiffkommandanten auszeichnete. Oft be-
deuteten die Prophezeiungen Rettung aus höchster Not oder spendeten Trost, manchmal sagten sie jedoch auch den Untergang voraus. Darüber hinaus aber umgab sie ein Geheimnis, das beinahe durch rassischen Instinkt respektiert und geachtet wurde. »Es gibt keine Zukunft ... weder für uns ... noch für die Poorgs.« Retas Stimme bebte vor Entsetzen. Rote Ringe begrenzten seine Augen, und allgemein machte er einen verstörten Eindruck. Die Last war geteilt; er konnte die Fassade fallen lassen. Die subCaptains waren erschüttert; der in die Zukunft gerichtete Blick seiner Augen, von den präkognitiv gesehenen Schrecken blutrot gefärbt, konnte nicht vorgetäuscht werden. Schließlich sagte Rho: »Dann wird der Letzte Truppenaufmarsch wirklich ... der letzte sein.« Reta ließ bestätigend seine Zunge herausschnellen. »Seollarta. Der Große Kampf der Urgötter, bei dem alle sterben und die Welt wiedergeboren wird.« »Verschonen Sie uns mit Religion«, zischte Urgath. »Wenn unser ganzes Volk dem Untergang geweiht ist, haben wir um so mehr Grund, uns zu beeilen und unseren Anteil zu leisten, um diese fäkalischen Poorgs mit uns zu nehmen!« Doch Reta schien sie nicht zu hören. »Wiedergeburt«, flüsterte er halb in Trance. »Sehen andere es auch?« fragte Rho verzweifelt. »Der Hohe Rat? Andere Raumschiffkommandanten?« »Ja. Die Flotte wird vor der Schlacht gegen die Poorgs informiert werden. Das Volk wird es überhaupt nicht erfahren, um den Ausbruch einer Panik zu vermeiden. Aber ... aber es kann für uns keine Wiedergeburt geben. Wir haben keine Zukunft.«
Niemand widersprach ihm. Pragmatismus war in ihrer Rasse wegen der Gabe der Präkognition allgemein verbreitet. »In welcher Beziehung steht das fremde Schiff damit?« wollte Urgath wissen. »Ich bin nicht sicher. Aber ich denke ... Meine Träume sind ... sehr seltsam gewesen. Kann ich mich ihrer Führung anvertrauen? Ich ... ich muß.« »Was sagen die Träume?« Reta starrte auf den Bildschirm, auf Sterne und die fremde Raumsonde. »Da draußen sind andere Rassen, andere Welten. Was wäre, wenn ... wenn dort auch andere Götter sind?« »Ich verstehe nicht.« »Sehen Sie denn die Ironie nicht? Zwei intelligente Rassen sind dabei, einander auszulöschen. Mehr als sechzigtausend Jahre der Anstrengung und des Fortschritts werden am Ende bedeutungslos sein, so als hätten weder wir noch die Poorgs jemals existiert. Mit Ausnahme ... mit Ausnahme dieses geringfügigen Zwischenfalls.« Er drehte sein Gesicht den subCaptains zu, und sein Blick war verklärt. »Ich bin ... beauftragt, ihnen zu helfen! Verstehen Sie doch! Die einzige fortdauernde Wirkung unserer gesamten Rasse, der einzige Sinn unseres Lebens, besteht in der Hilfe für dieses Schiff dort draußen! Wie soll man da nicht religiös werden – nur ein Gott konnte so grausam sein!« Diesmal währte das Schweigen sogar noch länger; eine eisige Starre schien sich über Abteilung Zwölf gelegt zu haben. Reta stand im Bann seines präkognitiven Talents, und als solcher war er unverletzlich, beinahe heilig. Schließlich sagte Urgath schroff: »Was
immer wir tun müssen – tun wir's schnell, damit wir uns dem Truppenaufmarsch anschließen können.« Reta schnalzte mit der Zunge und stellte die Verbindung zwischen den beiden Schiffen wieder her. »Wir werden dir helfen, wenn es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt.« »Ich danke Ihnen.« »Welche Art von Hilfe benötigst du?« »Ich bin auf der Suche nach einem Planeten, der bestimmte Parameter erfüllt. Er darf keine intelligenten Lebensformen besitzen. Die Oberflächengravitation muß ungefähr neun komma ...« »Moment«, unterbrach Reta. »Ich gebe dir die Astronomische Abteilung. Sie haben die meisten Sonnensysteme im Umkreis von fünfhundert Lichtjahren katalogisiert. Ich nehme an, daß du die Koordinaten der nächstliegenden geeigneten Welt möchtest?« »Ja. Vielen Dank.« Reta schaltete und gab dem Abteilungsleiter detaillierte Befehle. Dann lehnte er sich zurück und starrte den Sternenbogen an. »Warum?« Das war Rho. Reta wandte sich ihr zu und fragte: »Warum was?« »Warum sucht der Computer eine spezifische Art von Planeten? Rohstoffe? Kolonien?« Reta vertrat eine andere Meinung. »Rohstoffe hätte er schon längst in anderen Sonnensystem finden können. Und mit ihrer primitiven Technologie wäre diese Rasse wohl kaum in der Lage, eine interstellare Kolonie zu errichten.« »Was sonst?«
»Eine Evakuierung, glaube ich. Stellen Sie sich vor, daß ihre Heimatwelt aus irgendeinem Grund langsam stirbt. Es wäre denkbar, daß sie eine neue Welt suchen, auf der ein Teil ihrer Rasse weiterleben kann. Eine Wiedergeburt.« Seine Stimme drohte zu versagen. »Drei Rassen, aber nur sie haben Hoffnung.« »Nicht viel Hoffnung«, zischte Urgath. »Sogar wenn sie einen Planeten entdecken, wird es ihnen niemals gelingen, ihn in Schrotthaufen wie diesem Raumer zu erreichen. Und wahrscheinlich werden sie tot sein, bevor die Sonde zurückkehren kann.« Reta antwortete nicht. Das Schweigen dauerte an, bis eine Stimme aus der Astronomischen Abteilung aus dem Interkom schrillte. »Geschafft, Captain. Ich zeigte dem Fremden einen netten jungen Planeten, nicht viele Sonnen zentrumwärts von hier – beinahe in seiner Flugbahn.« »Gute Arbeit.« Reta knipste das Mikro wieder ein. »Du hast deine Information. Wir müssen jetzt aufbrechen.« »Noch einmal besten Dank«, sagte der Computer. »Ich für meinen Teil würde Sie gerne begleiten, Sie kennenlernen, vielleicht Ihr Freund werden. Aber auch ich habe einen Auftrag, einen äußerst dringenden.« »Unsere Freundschaft zu gewinnen würde Zeitverschwendung sein. Für uns gibt es keine Zukunft mehr. Leb wohl.« Abrupt fiel in Retas Geist ein Vorhang, und er wandte sich der Aufgabe zu, den Flug fortzusetzen. Ein neues Kursprogramm wurde berechnet und eingespeist. Dann berührte er einen Hitzeschalter auf dem Ar-
maturenbrett vor ihm und spürte das Zittern, das der Impulsantrieb verursachte. Die Farben des Sternenbogens begannen sich sanft zu verschieben. Die fremde Sonde verschwand augenblicklich. Aber sie verschwand nicht vollständig aus seinen Gedanken, sondern nagte hartnäckig an den Rändern seines Bewußtseins, bis sie nach einigen kurzen Tagen im sonnenheißen Kern einer subatomaren Energiefreisetzung mit allen anderen Gedächtnisinhalten ausgelöscht wurde. Am Ende, von allen Pflichten befreit, fragte sich Reta, ob die Mission der Fremden erfolgreich sein würde, ob aus ihrem zufälligen Treffen etwas Gutes resultieren würde. Und während er sich das fragte, starb er. Als blaugrüne Kugel, gesprenkelt mit dem Weiß der Wolken, hing der Planet im All. Er besaß keinen Namen – noch. Er kreiste in einem durchschnittlichen Abstand von 149,5 x 106 km um einen Stern der Klasse G2V. Die Masse betrug 5,97 x 1027 g, der Radius am Äquator 6378 km. Er hatte einen Mond. Dies und noch viel mehr brachte die Sonde in Erfahrung, während sie sich im Orbit um diese Welt befand, und ihre Instrumente forschten lang und gewissenhaft. Schließlich entschied sie, daß die Welt allen Anforderungen entsprach. Sie sprengte das Triebwerk ab und sank mit ausgefahrenen Deltaflügeln zur Oberfläche hinunter. Sie begann, die südliche Temperaturzone zu durchqueren und in den Tälern großer Flüsse zu landen, wo sofort die Fernaufklärer auf ihren Luftkissen ausschwärmten, um die Gegend zu erkunden und geologische und topografische Analysen durchzuführen. Der sechste Landeplatz erwies sich als günstig. Es gab
dort trinkbares Flußwasser, für den Ackerbau geeignetes Land und in der Nähe Erzlagerstätten. Auch eine Unzahl anderer Faktoren stimmten mit den programmierten Parametern überein, und deshalb machte sich die Sonde an die Arbeit. Mit Mikrowellen höchster Intensität säuberte sie aus der Luft jeden Quadratmeter des Tales und sterilisierte den Boden bis in eine Tiefe von zwölf Metern. Danach errichtete sie einen kilometerlangen, supersterilen Wall rund um das auserwählte Gebiet – eine Abwehrmaßnahme gegen das Eindringen einheimischer Lebensformen. Die primitiven Pflanzen und Tiere dieses Planeten könnten zwar in keiner Weise mit den robusten Ergebnissen der irdischen natürlichen Selektion konkurrieren, aber das Programm war eben mehr als nur vorsichtig. In den Speichern der Sonde lagerten Chemikalien, die aus Felsen Erde erzeugen konnten, aber ihr Einsatz war nicht nötig. Nachdem die Aufklärer ihn mit aerobischen und anaerobischen Bakterien besprüht hatten, war der Boden ausreichend für das Wachstum irdischer Pflanzen präpariert, und die Zusammensetzung der Atmosphäre und das Sonnenlicht stellten ohnehin kein Problem dar. Die Klonbank der Sonde beinhaltete Samen und Zellen aller Pflanzen-, Tier- und Bakterienarten, die irgendwo auf der Erde existiert hatten. Das Programm sah eine grundlegende ökologische Restaurierung vor – Experten konnten später Verfeinerungen hinzufügen. Erneut starteten die vielseitigen Aufklärer, um das Land zu bestellen. Zuerst kamen die einfachsten Pflanzen und Tiere, dann immer kompliziertere, wobei alle harmonisch aufeinander abgestimmt waren. Die Sonde arbeitete unermüdlich; sie kannte keine Eile. Eine lange Zeit verstrich, aber schließlich war es soweit:
Dreißig Quadratkilometer der Erde waren wiederauferstanden – Bäume, Vögel, Bienen, Fische, Algen, Rotwild, Wiesen, Blumen, Insekten, Raubtiere und Tausende andere Lebewesen, groß oder klein. Die Sonde hatte nicht eine bestimmte Landschaft der Erde ökologisch neu erschaffen; vielmehr waren Pflanzen und Tiere aus vielen Gegenden für die Aufnahme in das Programm ausgewählt worden. Allmählich schlug die Ökologie feste Wurzeln und breitete sich aus eigener Kraft aus. Später würde die Sonde weitere solche Enklaven anlegen, die zuletzt den gesamten Planeten bedecken würden. Aber für den Augenblick genügte eine. Zehntausende Menschen lagerten in der Klonbank – alle, die sich in diesen kurzen letzten Tagen dafür bereit erklärt hatten –, und ihre Erinnerungen wurden in den RNS-Speichern konserviert. Mit der Zeit würden alle »wiedererweckt« werden, aber am Anfang würde es nur eine kleine Pioniereinheit sein; weniger als eintausend Personen, die sich einem Spezialtraining unterzogen hatten. In Tanks mit künstlicher Nährflüssigkeit wuchsen sie zu jungen Männern und Frauen heran, denen die GedächtnisRNS ihrer Originale eingesetzt wurde. Viele waren auf der Erde älter gewesen, aber das harte Dasein eines Pioniers erforderte jugendliche Stärke. Die Frauen und Männer verließen die Sonde und traten in ihre neue Heimat hinaus. Es war Nacht, aber der Mond spendete genügend Licht. Ehrfürchtig blickten sie sich um, denn nicht ein einziger hatte erwartet, daß ihre verzweifelte Mission gelingen würde. Einige schauten zu den Sternen auf; und sie fragten sich, welcher da von Sol war, dessen dritter Planet mittlerweile bestimmt kein intelligentes Leben mehr trug. Niemand kam auf die Idee, der Maschine zu danken, die
ihnen so hervorragende Dienste geleistet hatte. Sie schliefen in Schlafsäcken unter freiem Himmel, von den Waffen der Sonde vor herumstreifenden Raubtieren beschützt. Am Morgen würden sie beginnen, ihre Nische in der neuen Ökologie zu etablieren. Aber bevor sie einschliefen, schworen sie gemeinsam einen heiligen Eid: daß diese Erde niemals den Weg ihres Namensverwandten beschreiten würde.
Originaltitel: CHANCE MEETING NEAR ARARAT Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Dezember 1976
Larry Niven DIE BEGEGNUNG Es war Mittag an einem heißen, blauen Tag. Im Park wimmelte es von lebhaften Stimmen und bunter Kleidung, von Kindern und Erwachsenen. Die greise Generation war früh genug erschienen, um Sitzplätze zu ergattern, und sie war alt und gebrechlich genug, um sie auch zu behalten. Ich hatte einen kleinen Imbiß mitgebracht. Ich aß langsam ein Sandwich und bewahrte eine Orange und eine zweite Dose Bier für später auf. Um mich herum wogte das Volk durch den Park und fühlte sich fälschlicherweise unbeobachtet. Die Nachmittagssonne erwärmte meinen Skalp. Eine eidechsenähnliche Erstarrung ergriff von mir Besitz, so daß die Stimmen der Erwachsenen und das fröhliche Gekreische der Kinder allmählich leiser wurden und zu verstummen schienen. Doch ich hörte die Schritte. Sie erschütterten die Erde. Ich öffnete die Augen und erblickte den Astronauten. Er war sechs Fuß groß und kräftig gebaut. Er trug einen Schal und eine blaue Ballonhose, die zwar nicht allzu weit von der gegenwärtigen Mode abwich, ihm aber nicht paßte. Die Haut seines Oberkörpers hing lose und wackelte bei jeder Bewegung, als wäre der Mann im Inneren eingeschrumpft. In der Tat, er sah aus wie eine Giraffe in der Haut eines Elefanten. Er federte nicht beim Gehen. Seine Füße klatschten
schwer auf den Boden – kein Wunder, daß ich ihn gehört hatte. Inzwischen waren die Augen der meisten Parkbesucher auf ihn gerichtet, und die restlichen drehten gerade die Köpfe, um zu schauen, wem die Aufmerksamkeit der anderen galt. Lediglich die Kinder bildeten eine Ausnahme, denn sie hatten das Interesse schon wieder verloren. Für mich war er unwiderstehlich. Es gibt zwei Arten von Menschenbeobachtern. Die einen beobachten ihre Nachbarn in Restaurants, Geschäften oder Einschienenbahnhöfen, wenn sie nichts Besseres zu tun haben. Sie entwickeln ihre eigene dilettantische Technik – sie wissen nicht, worauf sie achten sollen, und werden in der Regel bemerkt. Aber mit diesen Amateuren habe ich nichts gemein. Die zweite Art sind die Fanatiker, die sich ihrem Steckenpferd hingebungsvoll widmen und ihr Geschick durch jahrelanges Training vervollkommnen. Viele von ihnen abonnieren die Hobby-Zeitschriften Augen der Stadt und Gespenster, und sie schreiben Briefe an die Redaktion, daß sie in einem Supermarkt Generalsekretär Haruman begegneten und daß er einen unglücklichen Eindruck machte. Zu dieser zweiten Gruppe gehöre ich. Zu den Fanatikern. Und ich saß im Park, nicht einmal zwanzig Meter von einem Astronauten entfernt. Ich wußte, daß er von den Sternen kam. Sein Geschmack für Kleidung war seltsam, und seine schlaffe, faltige Haut wirkte irgendwie unirdisch. Seine Beine hatten noch nicht gelernt, den Körper in der höheren Gravitation der Erde weich abzufangen. Alles in allem hafteten ihm das Unbehagen und das Selbstbewußtsein, das Interesse, Staunen und Vergnügen
an, die ihn als Tourist entlarvten. Hinter der schlecht sitzenden Maske seines Gesichts waren seine Augen hell, blau und glücklich. Mein unhöfliches Starren konnte sein beinahe religiöses Entzücken ebensowenig beeinträchtigen wie seine Füße, die ihm bestimmt Schmerzen bereiteten. Sein Lächeln war verträumt und sehr eigentümlich. Ein ähnliches Lächeln sieht man, wenn man die Mundwinkel eines Spaniels mit den Zeigefingern nach oben zieht. Er inhalierte das Leben und den Himmel und die Stimmen und das Gras. Ich musterte sein Gesicht und versuchte, darin zu lesen. War er der Verkünder einer neuen Religion, die die Erde anbetete? Nein. Wahrscheinlich sah er die Erde zum ersten Male; zum erstenmal stimmte er seine Biorhythmen auf sie ein, fühlte ihre Schwerkraft und erlebte die Sonnenaufgänge im 24-Stunden-Abstand, bis in seinem Herzen die Gewißheit aufflammte, daß er endlich zu Hause war. Mein großer Auftritt kam, als er den Jungen bemerkte. Der Knabe war ungefähr zehn, ein hübsches, nacktes Kind, und am ganzen Körper von der Sonne gebräunt (in meiner Jugendzeit trugen in der Öffentlichkeit sogar die Säuglinge Kleidung). Ich hatte ihn bisher nicht beachtet, und er wiederum hatte den Astronauten nicht bemerkt. Er kniete mit dem Rücken zu mir auf dem Weg, der an meiner Bank vorbeiführte. Ich konnte nicht erkennen, was er tat, aber es schien ihm sehr wichtig zu sein. Inzwischen hatten sich die meisten Passanten wie-
der abgewandt, entweder aus mangelndem Interesse oder wegen einer Überdosis an guten Manieren. Ich schielte in Richtung des Astronauten, der den Jungen beobachtete; ich studierte ihn aus halb geschlossenen Augen heraus, meine erstklassige Imitation eines alten, in der Sonne eingenickten Mannes spielend. Eine Folgerung der Heisenbergschen Unschärferelation besagt nämlich, daß sich kein Menschenbeobachter dabei erwischen lassen darf. Der Junge bückte sich plötzlich und stand dann auf, wobei er die Hände zu einem Becher zusammengelegt hatte. Er verließ den Kiesweg und schritt mit übertriebener Behutsamkeit durch das Gras zu einer dunklen, alten Eiche. Die Augen des Astronauten weiteten sich. Seine Zufriedenheit wich heftigem Entsetzen, und dann versiegte das Entsetzen und ließ nur Leere zurück. Der Mann von den Sternen verdrehte die Augen. Seine Knie begannen einzuknicken. Mit vom Alter steifen Gelenken erreichte ich ihn, bevor er fallen konnte, und schob eine knochige Schulter unter seine Achselhöhle. Sein ganzes Gewicht verlagerte sich wohltuend auf mich. Ich hätte wie ein Akkordeon zusammenklappen müssen. Irgendwie gelang es mir, den Astronauten zur Bank zu schleppen. »Holen Sie einen Arzt«, forderte ich eine dicke Frau in der Nähe auf, die mich staunend beobachtete. Sie nickte lebhaft und watschelte davon, während ich mich wieder dem Astronauten zuwandte. Seine Augen unter dem zu einer geraden Linie geschnittenen schwarzen Stirnhaar blickten kränklich zu mir auf. Sein Gesicht wies eine eigenartige Bräunung auf
– dunkel, wo die Sonne es erreichte, und weiß wie Milch, wo die gefaltete Haut Schatten warf. Auch auf Brust und Armen entdeckte ich dieses Muster. Die blassen Stellen der Haut waren durch den Schock noch bleicher geworden. »Kein Arzt nötig«, flüsterte er. »Bin nicht krank. Ich sah ...« »Sicher. Beugen Sie Ihren Oberkörper vor, den Kopf zwischen die Knie. Das wird verhindern, daß Sie ohnmächtig werden.« Ich öffnete meine zweite Dose Bier. »Mir geht es gleich wieder gut«, sagte er. Er sprach mit einem seltsamen Akzent, und seine Schwäche ließ die Worte noch undeutlicher werden. »Es ist nur der Schock über das, was ich sah.« »Hier?« »Ja. Nein. Ich –« Er unterbrach sich, um seine Gedanken zu ordnen, und ich reichte ihm das Bier. Er beäugte die Dose, als wüßte er nicht welches Ende er an seine Lippen setzen mußte, dann leerte er sie zur Hälfte mit einem einzigen, gewaltigen Schluck. »Was sahen Sie?« fragte ich. Er unterdrückte einen Rülpser. »Ich sah ein fremdes Raumschiff. Ohne dieses Erlebnis wäre mir das jetzt nicht passiert.« »Was für ein Schiff? Schmidtleute? Mönche?« Außer der Menschheit waren das die einzigen bekannten Rassen, die Raumfahrt betrieben. Meines Wissens flogen sie manchmal unsere Kolonien an. Die Augen des Astronauten verengten sich. »Aha! Sie meinen, daß ich von einem registrierten extraterrestrischen Schiff auf einem menschlichen
Raumhafen spreche.« Er artikulierte seine Worte nun sorgfältiger, so daß ich ihn besser verstehen konnte. »Ich hatte etwa auf halbem Weg zwischen den Systemen Horvendile und Koschei Schiffbruch erlitten und wartete auf den Tod. Dort sah ich einen goldenen Riesen, der zwischen den Sternen spazierenging.« »Ein Humanoide? Kein Schiff?« »Ich – glaubte, daß es ein Schiff war. Ich kann es nicht beweisen.« Ich ließ ein nachdenkliches, wortloses Brummen ertönen, um mich nicht festzulegen, ihm aber mein Interesse zu bekunden. »Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen. Ich hatte Horvendile vor eineinhalb Jahren verlassen und war unterwegs nach Koschei. Zum erstenmal seit einunddreißig Jahren kehrte ich nach Hause zurück ...« Ein Trichterschiff mit gesetztem »Segel« hat etwas von der Fragilität eines Spinnennetzes an sich. Sogar mit eingezogenem Trichter ist es ein überaus zerbrechliches Gebilde. Die Laderäume, die Kabine des Piloten, das Lebenserhaltungssystem und der Fusionsantrieb sind alle in einer starren Kommandokapsel von knapp dreihundert Fuß Länge untergebracht; dazu kommen der Trichter und die Ballone, die beim Abflug Wasserstoff für den Fusionsantrieb enthalten. Wenn das Schiff die Geschwindigkeit erreicht, die zum Entfalten des zylinderförmigen »Trichters« benötigt wird, ist der Treibstoff zur Hälfte verbraucht und durch unter niedrigem Druck stehendes Gas ersetzt. Die Ballone dienen in der Folge als Schutzschild gegen Meteore.
Der Trichter, von romantischen Piloten häufig auch Segel genannt, ist ein Netz aus gutleitendem Draht, der dünn wie eine Spinnwebe und insgesamt Zehntausende Meilen lang ist. Beim Abflug bildet der zusammengerollte Draht einen Wulst nicht größer als die Kommandokapsel, aber durch das Aufbringen einer negativen elektrischen Ladung entfaltet er sich zu einem netzartigen Zylinder von zweihundert Meilen Durchmesser. Wegen der ungleichmäßigen Kraftfelder kräuselt er sich zunächst wie eine Wasserfläche bei leichtem Wind. Der Trichter fängt interstellaren Wasserstoff ein – ungefähr ein Atom pro Kubikzentimeter. Die Kraftfelder komprimieren die »Beute« entlang der Achse, bis die Fusion einsetzt. Der Wasserstoff verbrennt in einer schmalen, blau und an den Rändern gelb gefärbten Flamme, und die dadurch gewonnene Energie beginnt den Trichter zu versorgen. Unvorstellbare Kräfte vereinigen sich und machen aus Segel und Flamme und Wasserstoff ein ineinander verschachteltes Ganzes. Im Vergleich zum Trichter mit seinen zweihundert Meilen Durchmesser erscheint die Kommandokapsel fast unsichtbar klein – eine winzige Spinne auf einem riesigen Netz, die den Abgrund zwischen den Sternen durchquert. Die Zeit verlangsamt sich. Entfernungen schmelzen zusammen. Die Geschwindigkeit wächst. Je rascher der Wasserstoff strömt, desto stärker werden die Kraftfelder des Trichters, und das Segel gewinnt immer mehr an Stabilität. Während sich das Schiff dem Wendepunkt in der Mitte der Flugstrecke nähert, sollte es keiner Kontrolle durch den Piloten bedürfen.
»Ich hatte fast den halben Weg zum KoscheiSystem zurückgelegt«, sagte der Astronaut. »Die Fracht bestand wie üblich aus genmutierten Samen, Prototypen von Maschinen und Gewürzen. Außerdem waren drei tiefgefrorene Passagiere an Bord. Wir befördern alles, was man nicht mit einem Kommunikationslaser schicken kann. Ich lag seit Monaten im Dauerschlaf, als das Unglück passierte. Was eigentlich geschah, ist mir noch immer ein Rätsel. Vielleicht gelangte ein Eisenmeteor in den Trichter. Vielleicht flogen wir durch eine Wolke von OH +-Molekülen. Vielleicht ... na, auf jeden Fall durchschlug etwas die Kraftfelder, und der Trichter brach zusammen. Als mich der Computer endlich weckte, war es längst zu spät. Die Reste des Trichters hingen wie ein Fallschirm, der sich nicht vollständig geöffnet hat, hinter der Kommandokapsel. Dabei müssen einzelne Drähte aneinandergestoßen sein, denn der größte Teil des Netzes war vergast. Es bedeutete meinen Tod«, fuhr der Astronaut fort. »Ohne den Trichter konnte das Schiff nicht bremsen. Ich würde das Koschei-System um Monate zu früh erreichen und wie eine Gewehrkugel beinahe mit Lichtgeschwindigkeit hindurchflitzen. Mir blieb nur noch übrig, Koschei mit dem Laser zu informieren – damit sie gewarnt waren und mich rechtzeitig abschießen konnten.« »Sie haben es überstanden«, beruhigte ich ihn. Sein Kiefer hatte sich verkrampft, und einige Muskeln in seinem Gesicht zuckten unkontrolliert. »Entspannen Sie sich. Es ist vorbei. Sie sind jetzt auf der Erde – in Sicherheit.«
»Obwohl bei uns Tränen für unmännlich gehalten werden, weinte ich.« Der Astronaut blickte um sich, als wäre er soeben aus einem Alptraum erwacht. »Sie haben recht. Komme ich mit den irdischen Gesetzen in Konflikt, wenn ich die Schuhe ausziehe?« »Nein.« Er schlüpfte aus den Schuhen und bewegte spielerisch die Zehen im Gras. Seine Füße waren für einen Mann seiner Größe zu klein. Seine Zehen waren lang; er konnte mit ihnen so geschickt greifen wie mit den Fingern. Der Arzt ließ auf sich warten. Wahrscheinlich hatte sich die dicke Frau einfach aus dem Staub gemacht, ohne eine Ambulanz zu verständigen, weil sie mit dieser Sache nichts zu tun haben wollte. Aber inzwischen war der Astronaut auch ohne ärztlichen Beistand wieder zu Kräften gekommen. Er sagte: »Auf Koschei neigen wir wegen der geringeren Gravitation zu großer Körperfülle. Als ich Astronaut wurde, mußte ich mein Gewicht zur Hälfte wegschwitzen, denn jedes unnötige Pfund bedeutet weniger Fracht und somit weniger Gewinn für den Schiffseigner.« »Der Drang, zu den Sternen zu fliegen, muß bei Ihnen sehr stark ausgeprägt sein.« »Das stimmt. Während meiner Ausbildung büffelte ich Disziplinen, deren Namen die meisten Leute weder aussprechen noch buchstabieren könnten.« Der Astronaut griff an sein Kinn und zog geistesabwesend an der Haut, die sich wie Gummi dehnte. Als er losließ, schnellte sie allerdings nicht zurück. »Ich verringerte mein Gewicht um die Hälfte, und dennoch
tun mir beim Gehen auf der Erde die Füße weh. Meine Haut ist nicht geschrumpft, um sich meinem reduzierten Körperumfang anzupassen. Sie haben es sicher bemerkt.« »Was taten Sie, als Sie den ersten Schock nach dem Unfall überwunden hatten?« »Ich informierte Koschei. Die Nachricht würde dort nur zwei Schiffsmonate vor mir eintreffen.« »Und dann?« »Ich beschloß, die mir verbliebene Zeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Die Schiffsbibliothek enthielt genügend Mikrofilme – aber sogar mit dem Tod vor Augen langweilte ich mich. Auch der Anblick der Sterne konnte mich nicht aufmuntern. In Flugrichtung hingen sie als dichte, blauweiße Traube, seitlich waren sie rot und orange und etwas dünner gestreut, und hinter mir befand sich schwarzer Weltraum, leer bis auf eine Handvoll erlöschender Funken. Der Dopplereffekt brachte mir meine Geschwindigkeit klar zu Bewußtsein, obwohl natürlich keine Bewegung zu spüren war. Nach eineinhalb Monaten war ich reif, wieder in den Dauerschlaf zu versinken. Als plötzlich der Kollisionsalarm aufheulte, versuchte ich ihn zu ignorieren. Ein rascher Tod wäre mir nur recht gewesen. Aber der Lärm ging mir auf die Nerven, und ich begab mich in den Kontrollraum, um die Sirene abzuschalten. Dort entdeckte ich daß sich von hinten eine beachtliche Masse näherte, und zwar erheblich schneller als mein eigenes Schiff. Ich suchte mit dem Skop die Schwärze zwischen den spärlichen, blutroten Pünktchen der Sterne ab, und was ich dabei zu Gesicht bekam, war ein goldener
Mann, der mich verfolgte. Mein erster Gedanke war: Jetzt bin ich völlig verrückt geworden. Dann dachte ich, daß Gott mich zu sich holen wollte. Erst als die Gestalt auf dem Bildschirm der Skops wuchs, bemerkte ich daß sie nicht in allen Details einem Menschen glich. Irgendwie erleichterte mich das ungemein. Ein goldener, zwischen den Sternen gehender Mensch war unmöglich; ein goldener Außerirdischer leuchtete mir schon eher ein. Wenigstens konnte ich ihn betrachten, ohne meine geistige Gesundheit zu gefährden. Mir fiel auf, daß der Fremde wesentlich größer war als ein Mensch. Er war ein Zweifüßler, zweifellos humanoid, mit Armen, Beinen und einem deutlich vom Rumpf unterscheidbaren Kopf. Seine Haut glänzte wie geschmolzenes Gold, und er besaß weder Haare noch Schuppen. Zwischen den Schenkeln befand sich nichts außer glatter Haut. Er hatte auch keine Zehen, und seine Knie- und Ellbogengelenke waren geschwollen, richtig zwiebelförmig ...« »Kamen Ihnen diese Vergleiche schon damals in den Sinn?« »Durchaus. Ich wollte meine Angst vergessen und konzentrierte mich ganz darauf, mir alle Einzelheiten einzuprägen.« »Oh.« »Der Fremde näherte sich rasch. Dreimal mußte ich die Vergrößerung des Skops zurückschalten, wodurch das Bild schärfer wurde. An jeder Hand hatte er drei Finger – einen langen in der Mitte und zwei Daumen. Knie und Ellbogen saßen an den Gliedmaßen zu weit unten, aber sie schienen recht beweglich
zu sein. Die Augen ...« »Beweglich? Sie bewegten sich?« Vor Erregung begann der Astronaut zu stottern; er verstummte, bis er sich wieder gefangen hatte. Als er dann meine Frage beantwortete, schien er sich zu jedem einzelnen Wort zwingen zu müssen. »Ich gelangte zu der Überzeugung, daß der Fremde nicht tatsächlich ging. Aber während er sich meinem Schiff näherte, hatte ich den Eindruck, er würde durch den leeren Raum schreiten.« »Wie ein Roboter?« »Wie ein menschenähnliches Wesen. Wie ein Mönch vielleicht, wenn wir unter die Kutte blicken könnten, die ein Mönch-Botschafter ständig trägt.« »Aber ...« »Stellen Sie sich einen Humanoiden von menschlicher Größe vor«, ließ sich der Astronaut von mir nicht unterbrechen. »Stellen Sie sich vor, daß er einer Zivilisation angehört, die fortgeschrittener ist als unsere eigene. Wenn diese Zivilisation das technische Wissen besäße, und wenn er innerhalb dieser Zivilisation die Macht hätte, und wenn er sehr selbstgefällig wäre – dann würde er vielleicht den Bau eines Raumschiffes befehlen, das ein vergrößertes Abbild seiner selbst ist. Diese Theorie formulierte ich in den zehn Minuten, die der Fremde benötigte, um mich einzuholen. Ich wollte nicht glauben, daß im Vakuum ein humanoides Wesen mit einer Haut wie aus geschmolzenem Gold entstehen kann – oder daß es im Weltraum gehen konnte. Die humanoide Gestalt ist eine typische Anpassung an die Gravitation eines Planeten.
Wo liegt die Grenze zwischen Technik und Kunst? Früher sahen unsere erdgebundenen Automobile wie Raumfahrzeuge aus. Zweifellos könnte ein modernes Raumschiff so konstruiert werden, daß es wie ein Mensch aussieht, sich wie ein Mensch bewegt und dennoch ein Raumschiff bleibt. Wenn ein König oder ein Millionär auf diese Idee käme – ja, dann würde er wie ein Gott zwischen den Sternen einherschreiten.« »Ich frage mich, ob eine ähnliche Motivation Sie bewog Raumfahrer zu werden.« Das erstaunte ihn. »Ich? Unsinn. Ich bin ein einfacher Astronaut. Aber ein menschenförmiges Raumschiff erscheint mir glaubhafter als ein goldener Riese, der auf dem Nichts geht.« »Und weniger weitreichend in den Konsequenzen.« »Genau.« Der Astronaut erschauderte. »Der Fremde holte rasch auf, so daß ich die Vergrößerung herabsetzen mußte, um ihn im Blickfeld zu behalten. Sein mittlerer Finger bestand aus fünf Gliedern, und die Daumen waren verschieden lang. Die Augen lagen abnorm weit auseinander. Ein unheimliches rotes Glühen ging von ihnen aus. Der lippenlose Mund war ein breiter, horizontaler Strich. Nicht ein einziges Mal dachte ich daran, dem Fremden auszuweichen, denn schließlich konnten wir uns nicht zufällig auf Kollisionskurs befinden. Ich nahm an, daß er seine Flugbahn geändert hatte, um mir zu folgen, und daß er einen Zusammenstoß vermeiden würde. Und dann hatte er mich erreicht. Ich wollte die Vergrößerung um eine weitere Stufe verringern, doch als ich einen Blick auf den Schalter warf, war er be-
reits auf Null zurückgedreht. Ich schaute aus der transparenten Kuppel, und zwischen den spärlichen roten Sternen entdeckte ich einen goldenen Punkt, der explosionsartig zu einem goldenen Mann heranwuchs. Ich blinzelte. Als sich meine Lider wieder hoben, griff er nach mir.« »Nach Ihnen?« Der Astronaut nickte krampfhaft. »Nach der Kommandokapsel. Er – oder besser gesagt – sein Schiff war um ein Vielfaches größer als meines.« »Sie zweifelten nicht daran, daß Sie es mit einem Raumschiff zu tun hatten?« Ich stellte diese Frage, weil er fast ständig davon sprach, als handelte es sich um eine Person. »Ich suchte nach Fenstern in Stirn und Brust, aber ich konnte keine finden. Und er bewegte sich wie ein sehr großer Mensch.« »Ich kenne Ihre Religion nicht«, sagte ich, »und möchte Sie auf keinen Fall beleidigen – aber könnte es Gott gewesen sein?« »Unsinn.« »Oder eine uns überlegene Lebensform? So wie wir den Schimpansen ...« »Nein. Ganz und gar nicht«, unterbrach mich der Astronaut. »Sie müssen die Erkenntnisse der modernen Xenologie in Betracht ziehen. Wußten Sie nicht, daß die Mönche, die Schmidtleute und wir in etwa die gleiche Intelligenz besitzen? Die Schmidtleute sind nicht im entferntesten humanoid, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Evolution zu Ende ist, wenn eine Spezies den Gebrauch von Werkzeugen lernt.«
»Ich kenne dieses Argument. Aber ...« »Sobald eine Spezies beginnt, Werkzeuge zu verwenden, wird sie nicht länger von ihrer Umwelt geformt, sondern sie fängt ihrerseits an, ihre Umwelt an ihre eigenen Bedürfnisse anzupassen. Darüber hinaus gibt es keine Evolution mehr. Von nun an werden sogar die schwachsinnigen und genetisch minderwertigen Artgenossen am Leben erhalten. Nein, dieser Fremde mochte bessere Werkzeuge haben als ich, aber intellektuell konnte er mir nicht überlegen sein. Bestimmt war er niemand, den man anbeten müßte.« »Sie scheinen sich dessen aber verdammt sicher zu sein«, stieß ich hervor. Beinahe im selben Moment bedauerte ich diese Bemerkung. Der Astronaut zitterte und schlang seine Arme um seine Brust. Diese Geste war komisch und bemitleidenswert zugleich, denn er schien sich dabei in seine lose, faltige Haut zu hüllen wie in eine lumpige Decke. »Ich hätte den Verstand verloren, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre. Der Fremde ergriff meine Kommandokapsel und zog mich näher an sich ... an sein Schiff heran. Zum Glück hatte ich mich angeschnallt, sonst wäre ich wie eine Erbse in einem Wäschetrockner herumgeschleudert worden. Für eine Sekunde wurde mir schwarz vor den Augen. Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, starrte ich geradewegs in eine große rote Iris mit einer schwarzen Pupille. Er musterte mich aufmerksam. Ich ... ich zwang mich, seinen Blick zu erwidern. Ohren und Kinn
fehlten ihm. Ein Knochenkamm durchschnitt sein Gesicht, wo eine Nase hätte sein sollen aber es gab keine Nasenlöcher. Er streckte mich wieder etwas von sich, um die Kommandokapsel im ganzen zu betrachten, und dieses Mal wurde ich nicht durchgeschüttelt. Wahrscheinlich hatte er erkannt, daß mich das Schütteln verletzen könnte, und verhinderte es durch irgendeine Maßnahme – vielleicht, indem er sein Schiff trägheitslos machte. Ich sah, wie sich die Augen bewegten, als sein Blick über meine Kapsel wanderte. Bitte denken Sie daran, daß ich entgegengesetzt zur Flugrichtung saß. Ich schaute zurück in Richtung Horvendile, wo durch den Dopplereffekt das Licht der meisten Sterne ins Schwarze verschoben war.« Der Astronaut sprach jetzt sehr bedächtig. Die einzelnen Wörter flossen so zäh aus seinem Mund, daß ich vor Ungeduld unruhig auf der Bank hin und her rutschte. »Ich beachtete die Sterne überhaupt nicht. Aber dann ... plötzlich wimmelte es von Millionen Sternen, und sie alle waren hell und weiß. Ich verstand nicht, was das bedeutete. Überall – vorne, seitlich, hinten – sahen die Sterne gleich aus. Und noch immer kapierte ich nicht. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den goldenen Riesen – er ging weg! Sie müssen wissen, daß er sich dabei viel schneller als mit Schrittgeschwindigkeit entfernte. Er beschleunigte, und schon nach wenigen Sekunden war er nicht mehr zu sehen. Vergeblich suchte ich nach einem Anzeichen für Rückstoßflammen oder dergleichen. Und dann ging mir ein Licht auf!« Der Astronaut
hob den Kopf. »Wo ist der Junge?« Mit seinen blauen Augen durchforschte er den Park. Kinder und Erwachsene starrten neugierig zurück, denn er bot einen seltsamen Anblick. Er sagte: »Ich sehe den Jungen nicht. Ob er gegangen ist?« »Oh, diesen Jungen meinen Sie. Sicher, warum nicht?« »Ich muß mich vergewissern.« Der Astronaut erhob sich vorsichtig auf seine nackten, strapazierten Füße. Ich folgte ihm über den Kiesweg und durch das Gras. Währenddessen setzte er seine Geschichte fort. »Der Fremde hatte mich und mein Schiff sorgfältig untersucht. Er hatte sich und mein Schiff trägheitslos gemacht und dann von einer Sekunde zur anderen unsere Geschwindigkeit relativ zu Koschei aufgehoben.« »Aber das reichte nicht«, warf ich ein. »Sie wären trotzdem gestorben.« Der Astronaut nickte. »Dennoch war ich zuerst froh, als er mich verließ. Durch seine bloße Gegenwart jagte er mir Angst ein. Und sein letzter Irrtum war beinahe eine Wohltat für mich. Dadurch bewies er, daß er menschlich ist nicht das richtige Wort. Aber er konnte Fehler machen.« »Sterblich«, half ich aus. »Er war sterblich.« »Versuchen Sie sich vorzustellen, welche Macht in seinen Händen lag. Ich brauchte eineinhalb Jahre, um eine Geschwindigkeit zu erreichen, die der Fremde in weniger als einer Sekunde aufhob. Es dürfte also nicht verwundern, daß ich den Tod seiner schaurigen Gesellschaft vorzog. Zumindest am Anfang.
Dann bekam ich Angst. Das alles erschien so ungerecht. Da hatte er mich schiffbrüchig zwischen den Sternen gefunden, hatte mich halb gerettet – und mich dann hilflos zurückgelassen. Ich war um keinen Deut besser dran als zuvor! Ich bemühte mich, ihn mit dem Skop wiederzufinden. Vielleicht konnte ich ihm ein Zeichen geben, wenn ich wußte, wohin ich meinen Kommunikationslaser ausrichten mußte. Aber ich entdeckte nicht die geringste Spur von ihm.« Allmählich packte mich die Wut. »Ich –« Der Astronaut schluckte. »Ich brüllte ihm Beleidigungen hinterher, ich fluchte und beging in mindestens sieben verschiedenen Religionen Blasphemie. Je größer ich die Entfernung zwischen ihm und mir schätzte, desto weniger fürchtete ich ihn. Ich kam so richtig auf Touren, als – als er zurückkehrte. Sein Gesicht befand sich knapp außerhalb der transparenten Kuppel, seine roten Augen schienen sich in meine zu bohren. Er streckte seine seltsame Hand aus. Der Kollisionsalarm heulte auf – seine Rückkehr war so abrupt erfolgt. Ich schrie auf – ich schrie ...« Er brach ab. »Was schrien Sie?« »Gebete. Ich flehte um Vergebung.« »Oh.« »Er nahm mein Schiff in seine Hand. Vor mir explodierten die Sterne.« Der Astronaut und ich hatten den Schatten einer dunklen Eiche erreicht, die so alt und morsch war, daß ihre unteren Äste mit einem Eisengerüst gestützt werden mußten. Eine Familie, die unter dem Baum
picknickte, beobachtete unser Kommen. »Explodierten?« »Das ist keine exakte Beschreibung«, entschuldigte sich der Astronaut. »Was geschah, war vielmehr, daß die Sterne heller wurden und gleichzeitig auf einen Punkt zustrebten. Sie loderten entsetzlich. Die gleißende Helligkeit blendete mich. Der Fremde muß mich bis an die Grenze der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt haben. Ich rieb mir die Augen, aber das nützte nichts. Ich fühlte eine Beschleunigung. Während ich darauf wartete, daß sich meine Augen wieder erholten, blieb sie konstant, nämlich ungefähr zehn Meter pro Sekundenquadrat.« »Aber das ist ...« »Ein g. Als ich wieder sehen konnte, befand ich mich auf einer gelben Ebene unter einem strahlend blauen Himmel.« »Wo setzte er Sie ab?« »Auf der Erde, genauer gesagt in einer ehemaligen Wüste in Nordafrika. Mein Schiff war für solche Belastungen nicht erbaut worden. Eigentlich hätte es beim Eintritt in die Atmosphäre in Stücke brechen müssen. Aber ich vermute, daß der Fremde auch in dieser Hinsicht Vorsorge getroffen hat.« Ich bin ein Experte im Beobachten von Menschen. Ich kann mich in anderer Leute Geist schleichen, ohne sie wissen zu lassen, daß ich existiere. Ich verliere niemals beim Pokern. Und ich wußte, daß mir der Astronaut keine Lügen erzählte. Wir standen neben der dunklen Eiche, deren unter-
ster Ast beinahe parallel zum Boden wuchs und von drei Eisenstangen gestützt wurde. Sogar der Astronaut mit seinen langen Armen hätte ihn nicht umfassen können. Die Rinde war rauh, grau und morsch und roch nach Staub. Die Oberseite des Astes lag etwa in gleicher Höhe wie das Kinn des Astronauten. »Man muß Ihnen zu Ihrem Glück gratulieren«, sagte ich. »Zweifellos. Was ist das?« Schwarz und pelzbedeckt, vier Zentimeter lang – ein Ende wackelte in blinder Neugier hin und her, während das Wesen über die Rinde kroch. »Eine Raupe. Sie wissen, daß die Chance, einen derartigen Unfall im interstellaren Raum zu überleben, praktisch gleich Null ist. Sie scheinen nicht sehr erfreut zu sein, daß Sie vor dem sicheren Tod gerettet wurden.« »Ich war es ... aber überdenken Sie die ganze Angelegenheit noch einmal«, sagte der Astronaut. »Berücksichtigen Sie, was der Fremde alles über mich herausfinden mußte, ehe er tun konnte, was er tat. Er blickte durch die Kuppel, um mich zu untersuchen. Ich war an einen Stuhl gegurtet, und seine Sensoren mußten eine dicke Schicht von komprimiertem Quarz durchdringen, der nur von der anderen Seite transparent war. Er konnte mich sehen, aber nur von vorne. Er konnte das Schiff untersuchen, aber es war beschädigt, und er wußte nicht in welchem Ausmaß. Er muß zu der Überzeugung gekommen sein, daß mein Schiff ohne den Trichter nicht bremsen kann. Daraus muß er das Vorhandensein von Reservetreibstoff gefolgert haben, um von der niedrigsten Geschwindigkeit, bei der der Trichter noch funktioniert,
weiter zu verlangsamen. Deshalb brachte er mich zum Stillstand – oder jedenfalls fast –, so daß ich mit dem Reservetreibstoff nach Hause fliegen konnte. Nachdem er mich so zurückgelassen hatte, muß ihm eingefallen sein, daß meine Lebensspanne für eine Reise dieser Länge nicht ausreichen würde. Das zeigt, wie gründlich er mich untersucht hat. Er kam zurück. Indem er meine Flugbahn verlängerte, fand er heraus, wohin ich unterwegs war. Aber konnte ich dort mit einem beschädigten Schiff leben? Er wußte es nicht. Und darum studierte er mich sorgfältiger, überlegte, auf welchem Planeten und unter welchem Stern sich meine Rasse entwickelt haben mußte – und setzte mich dort an.« »Das ist ziemlich hergeholt«, sagte ich. »Ja. Das Solsystem war zwölf Lichtjahre entfernt – dennoch legte er diese Strecke in einem Augenblick zurück. Aber das ist noch nicht alles.« Die Stimme des Astronauten wurde leiser. Die schwarze Raupe, die nun ein vertikales Rindenstück hinaufkroch, schien ihn eigenartig zu faszinieren. »Er brachte mich nicht nur zur Erde zurück, sondern nach Nordafrika. Er folgerte nicht nur, von welchem Planeten, sondern auch aus welcher Landschaft meine Vorfahren stammten. Ich blieb in meiner Kommandokapsel, wo ich zwei Stunden später entdeckt wurde. Die UN-Polizei verhörte mich, aber sie glauben meine Geschichte nicht. Ein Trichterschiff kann nicht zur Erde geschleppt werden, ohne daß es vom Radar erfaßt wird. Außerdem liegt das Netz des Trichters in der Wüste, und sogar die Wasserstoffballone überstanden den Eintritt
in die Erdatmosphäre. Sie glauben, daß es sich um einen Scherz handelt, und daß ich als ein Teil dieses Scherzes einer Gehirnwäsche unterzogen wurde.« »Und Sie? Was glauben Sie?« Wieder begannen im Gesicht des Astronauten einige Muskeln zu zucken. »Ich hatte mir eingeredet, daß der Fremde nicht mehr war als ein anderer Raumschiffpilot – ein Passant der anhielt, um zu helfen. So wie manche Personen stehenbleiben und helfen, wenn Ihre Autobatterie versagt. Sein Raumschiff mochte technisch fortgeschrittener sein als meines, und wir entstammten verschiedenen Arten. Dennoch hatte er angehalten, um einem Mitglied der großen Bruderschaft zu helfen, denn wir waren beide Raumfahrer.« »Weil Ihre moderne Xenologie postuliert, daß er Ihnen nicht überlegen sein kann.« Er antwortete nicht. »Leider enthält Ihre Theorie ein paar Löcher.« »Tatsächlich?« Ich ignorierte sein Desinteresse. »Sie behaupten, daß die Evolution zu Ende ist, wenn eine Spezies beginnt, Werkzeuge zu bauen. Aber nehmen Sie einmal an, daß sich auf demselben Planeten zwei intelligente Arten entwickelten! Dann könnte die Evolution weitergehen, bis eine Rasse die andere vernichtet. Hätten die Delphine Hände, wären wir unter Umständen in echte Schwierigkeiten geraten.« »Möglich.« Er beobachtete weiterhin die Raupe – vier Zentimeter schwarzer Pelz –, die die dunkle Borke erkundete. »Zweitens sind nicht alle Menschen gleich. Es gibt Einsteins, und es gibt schwachsinnige Idioten. Ihr
Passant könnte einer Rasse mit breiterer Streuung angehört haben. Stellen Sie ihn sich als Super-Einstein vor ...« »Daran hatte ich nicht gedacht. Ich hatte vermutet, daß er seine Schlußfolgerungen mit Hilfe eines Computers angestellt hatte. Zumindest glaubte ich das am Anfang.« »Drittens kann sich eine Spezies aus sich heraus weiterentwickeln. Sobald sie beginnen, mit den Genen herumzuspielen könnte es sein, daß sie erst aufhören, wenn ihre Kinder kilometergroße Riesen mit im Rücken eingebautem Raumantrieb sind. Was zum Teufel ist an dieser Raupe so interessant?« »Haben Sie nicht gesehen, was der Junge tat?« »Junge? Ach so. Nein ...« »Da war eine Raupe, die über den Kiesweg kroch. Leute gingen vorbei, aber niemand warf einen Blick auf sie. Der Junge kam. Er bückte sich, um sie zu beobachten.« »Oh?« »Schließlich hob der Junge die Raupe auf, schaute sich um kam dann hierher und setzte sie sicher auf dem Ast ab.« »Und Sie erlitten einen Schwächeanfall.« »Der Vergleich, der sich mir aufdrängte, war einfach überwältigend und bestürzend. Ich hätte mir den Schädel eingeschlagen wenn Sie mich nicht aufgefangen hätten.« »Sagen Sie das nicht. Jemand, der ein solcher Glückspilz ist wie Sie ...« Der Astronaut lächelte nicht. »Was meinen Sie – wenn ein Erwachsener anstelle eines Kindes die Raupe gesehen hätte ...«
»Wahrscheinlich wäre er auf sie getreten.« »Ja, das dachte ich mir.« Der Astronaut preßte seine Zunge gegen seine Wange, die sich unglaublich dehnte. »Er kriecht beinahe senkrecht hinauf. Ich hoffe, daß er nicht den Halt verliert.« »Das wird er nicht.« »Sie meinen, er ist in Sicherheit?« »Natürlich. Machen Sie sich um ihn keine Sorgen.«
Originaltitel: PASSERBY Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION September 1969
Helen M. Urban GEPRIESEN SEI IPPLING! Ein wichtiger Grundsatz in der Galaxis besagt: Je komplizierter eine Maschine, desto größer der Schlamassel, den sie anrichten kann. Dieses Axiom läßt sich an dem Fall verdeutlichen, als der planetare Computer auf Buughabyta sein komplettes Getreideanbauprogramm durcheinander brachte. Der Computer ließ nur 15 Morgen Land bestellen, und die Buughabytarier waren ein ganzes Jahr lang auf die von der Regierung gespeicherten Getreideüberschüsse der letzten Ernten angewiesen; infolgedessen verbrauchten sie die Vorräte, erzwangen ein Steigen der Preise und ein Einstellen der Subventionen und glichen für fünfzehn Jahre das buughabytarische Budget aus – eine beispiellose Dummheit, deren Auswirkungen beinahe dauerhaft gewesen wären. Zum Glück gelang es einem um seine Karriere bangenden Volkswirtschaftler mit einem ausgeprägten Sinn für Gefasel und Komplizierung, wieder eine ausgewogene Unordnung zu schaffen und die für Buughabyta normalen Zustände wiedereinzuführen. Oder denken wir an die Geschichte von dem Materie-Duplikator, der nicht CH 3 CH2OH, sondern CH3OH einlas und wunderbar vollbusige, blonde Androidinnen des Typs »Puppy Liebauge« produzierte, deren einziger Fehler in ihrem sturen Beharren lag, männlichen Geschlechts zu sein. Was so manchem Mann, der sich eine Androidin für teures Geld für eine Nacht in die Wohnung holte, Frustrationen
bescherte, weil sie nichts von ihm wissen wollte. Als die Androidinnen schließlich sogar anfingen, anderen Mädchen und Frauen mit flatternden Wimpern schöne Augen zu machen, mußte sich der Hersteller schweren Herzens dazu entschließen, die ganze Reihe »Puppe Liebauge« aus dem Verkehr zu ziehen. Der beträchtliche finanzielle Verlust führte bald darauf zu seinem Konkurs. Aber die Kompliziertheit einer Maschine ist noch gar nichts im Vergleich zu einer Gruppe von Menschen, deren Verhalten mit maschinenhafter Präzision vorhergesagt werden soll. Als Beweis mögen die Geschehnisse dienen, als einem Ipplinger Expeditionskommando für kulturelle Kontakte ein Boswellister mit VIP-Status anvertraut und der Befehl erteilt wurde, den ehrwürdigen Gast zu einem Planeten zu befördern, wo er die ihm gestellte Aufgabe – zur Erlangung seiner Reife – erfüllen konnte. Boswellister wartete scheinbar ruhig. Zwar kochte sein Blut vor lauter Ungeduld, aber im vollen Bewußtsein der Bedeutung seiner und seines Papas gesellschaftlicher Stellung – im Vergleich zur Minderwertigkeit der anderen Zuschauer – zwang er sich, bewegungslos und mit einer Miene stummer Verachtung dazusitzen. Der Blonde Schrecken stolzierte majestätisch den Gang zwischen den Sitzreihen der Freiluft-Sportarena hinunter. Vierundzwanzig Mädchen in Haremskostümen tänzelten ihm voraus, und das Orchester, das mit Blasinstrumenten und Trommeln eine wehklagende orientalische Weise anstimmte, begleitete die hüftenschwenkenden, beinahe nackten, schlehenäu-
gigen und schwarzhaarigen Schönheiten. Fünfzehn mit Leopardenfellen drapierte Schwergewichtler waren noch vor den Tänzerinnen erschienen, um die Wanne des Blonden Schreckens auf einer Matte aus Eisbärenfell in der Mitte des Ringes aufzustellen. Ein Dutzend wohlduftende Wasserträgerinnen hatten den Inhalt ihrer Tonkrüge in die Wanne geleert. Auf der reich verzierten Oberseite eines Kosmetikkoffers, der bei einem der Eckposten stand, lagen Seife und Handtücher, Öle und Parfüme, Spiegel und Kamm bereit. Der Blonde Schrecken bog die Seile hinab, stieg in den Ring und ließ seine mächtigen Oberarmmuskeln spielen, während seine Dienerinnen die fünf Schichten der mit feinsten Ornamenten geschmückten Robe entfernten, die lose über seinen supermännlichen Körper hing. Boswellister katzbuckelte ein wenig (innerlich), als ihm bewußt wurde, welch ein Mann der Blonde Schrecken doch war – fast sieben Fuß groß, sonnengebräunt, kräftig und gebieterisch, die verzückten Schreie der ihn anhimmelnden Frauen in der vollgestopften Arena mit herablassendem Stolz registrierend. Wirklich, ein ganzer Kerl! Der Blonde Schrecken stieg in die Badewanne, um auf diese Weise für die Richtigkeit des prahlerischen Werbespruches, der sauberste Ringkämpfer zu sein, zu sorgen – ein Eigenlob, das er während des Kampfes unmöglich beweisen konnte, denn im Ring galt er als Schurke schlechthin. Der Blonde Schrecken wurde geschrubbt, dann abgespült. Er trat wieder auf die weiße Pelzmatte heraus und erlaubte mit spöttischem Lächeln seinen
Dienerinnen, ihn abzutrocknen und mit Puder zu bestäuben. Während seine kurzgeschnittenen blonden Locken sorgfältig gekämmt wurden, nahm er seine Stattlichkeit in einem vor ihm hochgehaltenen Spiegel in Augenschein. »Jetzt«, flüsterte Boswellister in ein am Rockaufschlag befestigtes Mikrofon. Auf dem Ipplinger Sternenschiff betätigte ein Nachrichtentechniker einen Schalter, und ein Solivisionkreis, ein Ring aus solidem Licht, der zu einer komplexen Ipplinger SignalReaktions-Anlage gehörte, festigte sich über dem Kopf des Blonden Schreckens. »Gepriesen sei Ippling!« schrie Boswellister und sprang auf. Es mußte funktionieren! Seine Gleichung mußte richtig sein! Das Symbol beinhaltete die geeigneten kulturellen Komponenten. Es war dazu vorgesehen, die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen, sie in die richtige Stimmung tief beeindruckter, abergläubischer Ehrfurcht zu versetzen und das sensationelle Erscheinen des Ipplinger Sternenschiffes über ihren Köpfen zu einer Szene voll staunender Verwunderung und religiöser Verehrung zu gestalten. Nun würde der Blonde Schrecken nach oben blikken und die Augen der Zuschauer leiten ... Ein großer Tag für Ippling ... Aber schließlich war er ja ein Boswellister, war er es dem Namen seines Großvaters und seines Papas schuldig, diese prächtige Zeremonie zu ... Boswellister stutzte. Der Blonde Schrecken glotzte bloß anerkennend in den Spiegel, ein verschlagenes, dem Publikum geltendes Lächeln auf den Lippen. Die Menge applaudierte tosend, begeistert über diesen Beleuchtungseffekt. Auf den Blonden Schrek-
ken konnte man sich verlassen! Ganz gleich, wie oft man seinen Auftritt schon gesehen hatte, es fiel ihm immer wieder etwas Neues ein. So auch heute, bei der Eröffnung des neuen Millionen-Dollar-Bauwerks, der Freiluft-Sportarena am Ventura Boulevard. Boswellister schrie. Er deutete mit den Händen. Er starrte aufwärts, versuchte, durch seine Leidenschaft die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken. Aber vergeblich – egal, was er auch tat, kein einziger Blick blieb auf ihm haften. Er knuffte den neben ihm sitzenden Mann, aber der unfreundliche Narr knurrte zurück: »Schlaf nicht! Der Rasende Knochenbrecher tritt auf!« Boswellister jammerte. Da war es, da segelte es über den Nachthimmel, in weiches, ätherisch anmutendes Licht getaucht, um die richtige Wirkung auf diese vom Aberglauben besessenen Leute auszuüben. Alles, was sie zu tun hatten, war, einen flüchtigen Blick nach oben zu werfen und Ippling die Überlegenheit zuzugestehen, die Ippling besaß. Und dann würde man sie behutsam und geduldig in die galaktische Zivilisation einführen, würde man ihre schmalen Pfade zu den breiten Wegen einer interstellaren Kultur erweitern – selbstverständlich unter Boswellisters Herrschaft. Aber diese Dummköpfe hielten sich nicht an die Spielregeln. Kein Kopf legte sich in den Nacken. Die Fernsehkameras, die das beleuchtete Ipplinger Sternenschiff hätten aufnehmen sollen, waren auf den Eingang gerichtet und erwarteten den Rasenden Knochenbrecher. Und da kam er. Schnell wie ein Blitz schoß er den Gang hinunter, sprang über die Seile,
kippte die Wanne um und war schon wieder den Gang hinaufgeeilt, ehe der Blonde Schrecken Vergeltung üben konnte. Das Badewasser schwappte auf die Robe und die Bärenfellmatte und durchnäßte sie völlig. Die Wärter beförderten diese Utensilien hinaus, entfernten die wasserdichte Leinwand, die über den Ringboden ausgebreitet gewesen war, und bereiteten alles für den Kampf vor. Der Blonde Schrecken schritt in seine Ecke, wobei er dem Rasenden Knochenbrecher durch eine entsprechende Geste mit dem Spiegel, den er nicht aus der Hand gelegt hatte, einen raschen, blutigen Tod versprach. Alle paar Augenblicke hielt er inne, betrachtete sich bewundernd im Spiegel, strich mit der Hand über den Rand des Bandes aus solidem Licht und nahm die Anerkennung für sich in Anspruch, die eigentlich der Ipplinger Elektronik gebührt hätte. Auf einen Wink seines Trainers hin drehte er sich, um dem Fernsehpublikum in Großaufnahme sein selbstgefälliges Lächeln zu zeigen. Boswellister verfluchte die Tatsache, daß seine Wahl ausgerechnet auf den Blonden Schrecken gefallen war. Dieser zynische, egozentrische Muskelprotz war zu sehr von sich selbst eingenommen, als daß in seinem Inneren Platz für die angemessene abergläubische Ehrfurcht gewesen wäre, und er war zu dumm, um die überlegene Technik, die hinter diesem Lichtkreis stand, zu erkennen. »Schaltet ab«, befahl Boswellister. Es hatte keinen Sinn mehr. Außerdem würde der unverrückbar über dem Kopf des Ringers schwebende Kreis aus solidem Licht einen perfekten Rammbock abgeben und dem Gegner bei einem Kopfstoß womöglich schwerste
Körperverletzungen zufügen. Boswellister wartete nicht auf den Beginn des Kampfes; nachdem das Lichtband erloschen war, v erließ er seinen Sitz und ging hinaus auf den Ventura Boulevard. In Gedanken überprüfte er seine kulturelle Gleichung und versuchte, den Fehler zu entdecken. Während des Jahres, das er auf diesem Planeten verbracht hatte, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen, hatte er diese Gleichung bis zur letzten Dezimalstelle ausgefeilt. Er hatte vollkommen auf den Aberglauben dieser Leute vertraut. Er wußte, welche Reaktionen zu erwarten waren; aber irgendwo mußte sich eine falsche Variable eingeschlichen haben. Er hätte eine ruhigere Veranstaltung wählen sollen, vermutete er. Das Publikum eines Ringkampfes war zu sehr daran gewöhnt, das Ungewöhnliche zu akzeptieren. Er benötigte einen auffälligeren Kontrast. Und plötzlich kam ihm der Einfall: die Werbeshow vor diesem Spielcasino. Er war schon oft dort gewesen – und dort war ein Mädchen, eine Blondine mit großem Körper und sanften Augen ... Er schaute auf seine Armbanduhr und beschleunigte seine Schritte. Dodies Auftritt stand unmittelbar bevor. Genüßlich erinnerte sich Boswellister an ihre Striptease-Nummer. Sie würde den richtigen Rahmen für das Auftauchen des Ipplinger Sternenschiffes bilden, und er fragte sich, warum er sich nicht schon von vornherein dafür entschieden hatte. Dodie war in vielerlei Hinsicht ein großes Mädchen. Bekleidet konnte sie dem hiesigen Schönheitsideal nicht entsprechen, aber nackt zog sie sicherlich Nutzen aus ihrem Körper. Beim Anblick ihrer weichen,
schweren, weißen Brüste erbleichten alte Männer, und jüngere sperrten die Münder auf. Sie war hochgewachsen hatte eine schmale Taille, ausladende Hüften, lange, wohlgeformte Beine und Arme sowie große, unschuldige, blaue Augen, und sie trug hohe Absätze und hauchdünne Reizwäsche, dort oben auf dem Laufsteg ... mmmm ... Boswellister seufzte. Zu schade, daß sich keine größere Menge versammelt hatte. Die meisten Stammgäste des Boulevards wohnten der Eröffnung der Sportarena bei, aber eine Handvoll Bummler lungerten am Straßenrand herum und sahen der kostenlosen Vorführung zu. Boswellister zweifelte nicht, daß er ihnen nur zum richtigen Zeitpunkt einen Anstoß geben mußte und daß danach alles wie von selbst gehen würde. Er vertraute auf seine Gleichung und den Aberglauben dieser Planetenbewohner. Dodie schälte sich aus ihrer Kleidung. Zu Boswellisters Überraschung setzte sich ihr Kostüm, obwohl es kaum etwas verbarg, aus mehr Teilen zusammen, als er in Erinnerung hatte. »Gleich ist es soweit«, flüsterte er in sein Mikrofon. »Warten Sie ... jetzt ... das sollte das letzte Stück sein. Lassen Sie den Solivisionkreis über ihrem Kopf entstehen«, befahl er. Dann stöhnte er und widerrief die Anweisung. Er hatte sich an Dodies Einzelheiten, nicht aber an ihre Nummer erinnert. Denn im letzten Moment huschte sie hinter den Flügel einer Tür, die ins Innere des Spielsalons führte, und ließ ihr letztes, spitzenbesetztes Kleidungsstück fallen, so daß man es an ihrem langen, weißen, ausgestreckten Bein hinabrutschen sah. Verdammt! Da oben schwebte das Schiff in seiner
majestätischen Pracht, aber niemand schien gewillt, auch nur einen Blick darauf zu verschwenden. Boswellister zeigte hinauf. Diese Männer mußten seinen aufgeregten Gesten einfach folgen und aufschauen; doch ihr Interesse beschränkte sich auf eine Gruppe Revuetänzerinnen, die nun den Laufsteg füllten. Boswellister hatte das Gefühl, in einer Wüste zu stehen und von einem Mob von Phantomen eingekreist zu sein, die er in seinen eigenen Fieberphantasien erschaffen hatte. Die schreiende Stimme des Casinoausrufers, vermischt mit dem blechernen Klang von Jazzmusik, rollte über sie hinweg, aber auch jetzt konnte Boswellister die Aufmerksamkeit der anderen nicht auf sich ziehen. Sobald die Revuetänzerinnen den über dem Gehsteig aufgebauten Laufsteg verließen, strebte die Menge der Müßiggänger auseinander; sie schlenderten die Straße hinunter, um woanders eine weitere Gratisshow zu sehen, die die Passanten ins Innere des Gebäudes locken sollte. Boswellister lehnte sich gegen die Mauer und beobachtete den Ausrufer, der sich seine schweißfeuchte Stirn abwischte. Er fühlte eine gewisse Verwandtschaft zu diesem Mann: Beide hatten sie eine Niederlage erlitten. Der Geschäftsführer kam heraus und richtete ein paar Worte an den Ausrufer. Boswellister hörte mit: »Dodie hat nicht einen einzigen Kunden geködert. Die Leute werden von Tag zu Tag anspruchsvoller.« Der Ausrufer erwiderte kopfschüttelnd: »Sie sind übersättigt, Marvin, und können sich für nichts mehr richtig entscheiden. Alles, was sie wollen, sind Gratisproben.«
Boswellister wandte sich ab und kehrte zu seinem Motel zurück. Sie wollten Gratisproben; der Ruhm Ipplings, den er ihnen anzubieten hatte, machte jedoch keinen Eindruck auf sie. Also mußte er einen weiteren Versuch wagen. Auf Grund seiner adeligen Abstammung durfte er sich des Gehorsams der Offiziere und Mannschaft des Sternenschiffes sicher sein. Er hielt kurz inne, um einen raschen Befehl in das Mikrofon am Rockaufschlag zu sprechen, dann setzte er seinen Weg zum Motel fort. Am nächsten Morgen begab er sich nach einem guten Frühstück zuversichtlich zur Kreuzung Laurel Canyon/Ventura Boulevard. Heute würde es klappen, ohne Zweifel! Der Boulevard wimmelte von Frauen, die Einkäufe machten. Autos und Lastwagen brausten vorbei. Die auffälligen Neonschilder waren abgeschaltet und die Laufstege abgesperrt, denn während des Tages nahm ein Reklamerummel anderer Art ihren Platz ein. Boswellister blieb kurz stehen, um einen Straßenverkäufer vor einem großen, glänzenden Warenhaus bei der Arbeit zu beobachten. Der Straßenverkäufer spulte seinen Text ab: »... Geld zurück. Meine Damen und Herren! Ich schütte einen Fingerhut voll medizinisch geprüftem Kalzobisidin in ein nasses Glas. Sie sehen, daß das Kalzobisidin an der Innenseite des nassen Glases haftet.« Der Verkäufer lächelte mit makellosen Zähnen, und die Frauen erwiderten sein Lächeln. Seine Schuhe glänzten, sein Haar fiel schwarz gelockt über seine
hohe Stirn, und von der Gardenie in seiner Hand tropfte Tau. Zu jeder Packung Kalzobisidin gehörten sein inniges Lächeln, eine frische Gardenie und eine Musterflasche zum Probieren. Und das alles für nur sechs Dollar fünfundneunzig plus Steuer. »Genauso haftet Kalzobisidin auch an den Wänden von Magen und Eingeweiden und bringt Ihnen sofortige Erleichterung bei Sodbrennen und Verdauungsstörungen.« Das verwirrte Boswellister, und er bemerkte mit übermäßig lauter Stimme: »Aber wer hat gläserne Eingeweide?« Die Frauen kicherten und gingen weiter. Der finstere Blick des Verkäufers verhieß nichts Gutes, seine Stimme zischte scharf: »Hau ab! Verschwinde! Du hast mir mein Geschäft vermasselt.« Während der Straßenverkäufer anfing, eine neue Menschenmenge um sich zu versammeln, verdrückte sich Boswellister. Er trat durch den Eingang des Warenhauses, und wie immer erstaunte ihn die verblüffende Mannigfaltigkeit der hier angebotenen Artikel. Gartenwerkzeug, Papierwaren, Schüsseln und Gläser, Whiskey, Kalzobisidin sowie Puppen, die mit Ausnahme der Fortpflanzung jede Funktion des menschlichen Körpers nachahmen konnten ... Plötzlich keuchte er und näherte sich einem Vorführstand im Inneren des Warenhauses. Dort präsentierte ein als Arzt verkleideter Angestellter – komplett mit Maske, Gummihandschuhen und Stethoskop – die neueste Erfindung: eine Aufklärungspuppe, die in einem Miniaturkreißsaal von der Nachbildung eines neugeborenen Säuglings entbunden wurde. Immer wieder zeigte der »Arzt« die Entbindung, indem er
das Puppenbaby in die Puppenmama einsetzte und dann erneut die Geburt einleitete. Boswellister errötete und machte sich schleunigst aus dem Staub. Er bezweifelte nicht den erzieherischen Wert des Spielzeugs, aber trotzdem – er seufzte tief. Als Boswellister die Kreuzung Ventura Boulevard/Laurel Canyon erreichte, plazierte er sich an der südöstlichen Ecke, so daß die Hügel, über denen das Ipplinger Sternenschiff erscheinen würde, in seinem Blickfeld lagen. Er nahm Kontakt mit der Zentrale auf und befahl, den Solivisionkreis über seinem Kopf entstehen zu lassen. Er griff hinauf, berührte den Ring, der wie ein Heiligenschein unverrückbar über ihm schwebte, lächelte sich Mut zu und holte tief Luft. »Menschen der Erde«, rief er etwas zittrig. Dann erinnerte er sich an den Kalzobisidin-Verkäufer, festigte seine Stimme und fing noch einmal von vorne an. »Menschen der Erde! Hört die Botschaft von den Sternen!« »Er verkauft Horoskope«, beantwortete eine Frau die Frage ihres Kindes. »Was ist ein Horrorskop, Mama?« »Ein Haufen Quatsch«, stieß sie hervor, sah Boswellister schief an und zog ihr widerspenstiges Kind hinter sich her die Straße hinunter. »Menschen der Erde!« wiederholte Boswellister befehlend. Er hielt einen Mann am Arm fest und sagte: »Bleiben Sie einen Augenblick stehen, Freund, und hören Sie die Botschaft von der Macht und Herrlichkeit Ipplings. Unter Ipplings führender Hand wird
diese Welt der Sorgen und Tränen größeren Ruhm erlangen, als Sie es sich in Ihren kühnsten Träumen vorzustellen wagen.« Der Mann riß sich los. »He, verdammt!« Er musterte Boswellister gründlich und murmelte: »Herrgott, ein Irrer.« Die Neugier ließ ihn jedoch verharren. Eine Frau, die ein kleines Kind mit sich zerrte, hielt an, und auch einige andere Leute traten hinzu, bis Boswellister ungefähr zehn Personen um sich versammelt hatte. »Menschen der Erde!« begann er wieder. Er wurde durch eine kichernde Stimme unterbrochen. »Welche denn sonst?« Die kleine Gruppe lachte und schien sich aufzulösen, aber Boswellister fuhr unverzagt fort. Er rief: »Halt! Warten Sie einen Augenblick, um Ihr glorreiches Schicksal zu erfahren. Jetzt«, flüsterte er in sein Mikrofon, und das Ipplinger Sternenschiff segelte dicht über einem Hügel auf sie zu. Eine schnurgerade Linie brennenden Gestrüpps folgte dem Schiff. Boswellister hob seine Hände. »Sehet den Ruhm Ipplings, der bald auch euer Ruhm sein wird!« Er berührte den Ring aus solidem Licht und hoffte inbrünstig, daß sie die Symbolik verstanden. »Blickt hinauf!« brüllte er sie an, aber sie beobachteten das Buschfeuer, das sich rasch über den Gipfel ausbreitete. Wahrscheinlich würden mehrere Häuser abbrennen. Prächtig! Boswellister packte einen Jungen am Arm und verlangte: »Schau auf das Ipplinger Sternenschiff. Sieh den Ruhm Ipplings.« Der Zehnjährige grinste höhnisch. »Pah! Das ist das
neue 1993er Lockheed X69–P37 Versuchsmodell. Ich habe es letzte Woche auf einem Foto gesehen.« »Nein, nein, Junge! Es ist das Ipplinger Sternenschiff, das zur Erde kam, um diesem rückständigen Planeten den Segen der Kultur Ipplings zu bringen. Ippling wird euch von Kriegen und Krankheiten, von Armut und Haß befreien. Ippling wird euer Schicksal sein. Glaubt mir! Ich, Boswellister, werde euch den Weg zu den Sternen weisen!« Boswellister tätschelte den Kopf des Jungen. »Nehmen Sie Ihre Finger weg, Sie blöder Kerl!« Boswellister schluckte und zeigte nach oben. »Schau auf das Ipplinger Sternenschiff!« »Maul halten!« Seine Mutter gab dem Jungen eine Ohrfeige. »Wie oft muß ich dir noch sagen, daß das nicht ›Maul halten‹ heißt. Man sagt ›Halt den Mund!‹ M-U-N-D!« »Bääh!« machte der Junge angewidert. »Jeder weiß, daß Sternenschiffe große Raketen sind!« Damit ließ er es bewenden; sein Interesse an Boswellister war erschöpft, denn die Feuerwehr nahte. Die Feuerwehrautos rasten den Ventura Boulevard herab und bogen in den Laurel Canyon ein. Ihre schweren Motoren und Sirenen übertönten Boswellisters Rede. Vor der Kreuzung stauten sich die Autos, um die Feuerwehr passieren zu lassen. Sobald das geschehen war, sprang Boswellister auf die Fahrbahn und blieb mitten auf der Kreuzung stehen. Er hob seine Arme und begann erneut mit seinem »Menschen der Erde!«-Aufruf, aber gegen den ohrenbetäubenden Lärm der Hupen war seine Stimme machtlos. Die Fahrer versuchten sich freie Fahrt zu
erzwingen, bis die Stoßstangen ihrer Wagen beinahe Boswellister berührten. Geschrei und spöttische Bemerkungen und Hupen; das donnernde Dröhnen der Feuerwehrautos; Menschen, die aufgeregt durcheinanderliefen; ein akustischer Mahlstrom marterte die Ohren der Anwesenden. Ein Verkehrspolizist brachte sein Motorrad mit quietschenden Reifen zum Stehen und bahnte sich einen Weg ins Zentrum des Wirrwarrs. Er bedeutete Boswellister, den Gehsteig zu betreten, aber Boswellister weigerte sich. Er mußte seine Mission auf der Erde erfüllen. Er bemühte sich, den Lärm zu überschreien, zeigte mit der Hand zum Himmel hinauf und forderte die Menschen auf, sich seiner Führung in eine bessere Zukunft anzuvertrauen. Der Polizist packte ihn am Rockkragen und drängte ihn zum Gehsteig. »Sie sind verhaftet.« »Sie können mich nicht verhaften!« Boswellister riß sich los und sprang zur Seite. »Mir nach!« schrie er und rannte nach Norden, von einem großen Teil der Menschenmenge gefolgt. Während er die Brücke in Richtung Moorpark überquerte, kreischte er einen Befehl in sein Mikrofon. Eine Frau bemerkte das Ipplinger Sternenschiff, das über ihren Köpfen schwebte. »Gratiskostproben!« rief sie, und jene, die noch gezögert hatten, nahmen nun auch die Beine in die Hand und liefen Boswellister nach. Vor der Kreuzung Laurel Canyon/Moorpark waren die Häuser abgerissen worden, um Platz für ein neues, Milliarden-Dollarteures Einkaufszentrum zu schaffen. Hier, in der Mitte des ebenen Baugrunds, landete das Ipplinger Sternenschiff.
Der Kommandant war von panischem Schrecken erfaßt. Er mußte Boswellister vor diesem Mob retten. Wenn Boswellister zu Boden gestoßen und verletzt wurde – nicht auszudenken! Mit jeder Forderung nach Gratisproben, die Boswellisters Mikrofon übertrug, stieg der Blutdruck des Kommandanten, und noch ehe die hydraulische Rampe ausgefahren werden konnte, sprang er an der Spitze seiner Männer ins Freie. Blitzschnell formierten sich Offiziere und Matrosen, um Boswellister ins Schiff zu geleiten. Aber die Menge war ihm hart auf den Fersen und drängte ihn ab. Zwei massige Matrosen verteidigten die Schleuse und versperrten Kindern den Weg, die ins Innere des Schiffes zu stürmen versuchten. »Hinein in den Weltraumvogel!« So lautete ihr Schlachtruf, während sie sich bemühten, zwischen den Beinen der Matrosen durchzuschlüpfen. »Verkaufen Sie Haferflocken?« brüllte jemand dem Kommandanten ins Ohr, um gleich darauf einen Orden von seiner Uniform zu reißen. Boswellister stand hinter der rasenden Menge, die lautstark Gratisproben verlangte, und rang seine Hände. »Ziehen Sie Ihre Show ab, aber dann her mit dem Plunder!« »Schaut euch das Schiff an! Ist es nicht 'ne Schönheit! Was verkaufen sie eigentlich? Knusperkekse?« »Junge, ist das 'ne Ausrüstung! Wetten, daß das 'ne Million Riesen kostete? Was verkaufen Sie, Mister?« »Vernunft«, kam Boswellisters Stimme aus dem Hintergrund. Seine Männer versuchten, die Stellung zu halten,
aber Souvenirjäger durchbrachen ihre Reihen und rissen ihnen die Rangabzeichen von den Uniformen. Boswellister lallte beinahe, als sich der Kommandant und seine Getreuen zu ihm durchgekämpft hatten. »Sie haben es miterlebt! Sie wissen es!« beteuerte Boswellister. »Dieser Blonde Schrecken und seine Haremsmädchen, und diese gewaltgierigen Rohlinge im Publikum! Dodie, die Stripperin, mit ihren geilen Voyeuren! Dieser Kalzobisidin-Verkäufer mit seinem verführerischen Lächeln! Meine Gleichung! Meine kostbare Gleichung, begraben unter einer Lawine von Pillen, Tinkturen, Spielzeug, Nahrungsmitteln und Kleidern!« Sie warfen sich wieder ins Getümmel, um das Schiff zu erreichen. »Wie konnte ich es bloß übersehen?« stöhnte Boswellister. »Ich hätte von Anfang an versuchen müssen, sie mit Sex rumzukriegen.« »Sind Sie vielleicht ein Sänger?« Der Atem der Frau, die eine Einkaufstasche umklammerte, sich an Boswellister drängte und dabei dem Kommandanten auf den Fuß stieg, schlug ihm heiß ins Gesicht. »Dürfte ich um ein Autogramm bitten?« »Bringen Sie mich heim!« flehte Boswellister den Kommandanten an. Offiziere und Matrosen – zerlumpt und mit blauen Flecken übersät – bildeten eine Keilformation und traten den Rückzug in die Sicherheit des Schiffes an. Die Rampe wurde eingezogen, die Schleuse geschlossen, dann kurz wieder geöffnet, um einen neugierigen Knaben hinauszuwerfen, und schließlich unter den Sprechchören und dem spöttischen Lachen der Leute und dem Sirenengeheul ankommender Po-
lizeiautos endgültig geschlossen. »Starten!« befahl der Kommandant. Er preßte ein Taschentuch gegen die lange, klaffende Wunde an seinem Arm und sagte zum Ersten Offizier: »Einer aus diesem Pöbel benutzte ein Messer, um meine Offiziersstreifen abzuschneiden.« Der Erste erschauerte. »Widerliche Rohlinge.« Boswellister lehnte am Schleusenschott und seufzte, als das Ipplinger Sternenschiff vom Boden abhob. Wie sollte er das seinem Papa erklären? Alle seine Brüder hatten bereits ihre Welten gewonnen. Er straffte sich. Auch ihm würde es gelingen. Schließlich war er ein Boswellister. Niemand geringerer als Boswellister XIV, um genau zu sein, ein Sohn von Boswellister XIII. Das erinnerte ihn an seine Verpflichtungen, und er suchte entschlossen die Zentrale auf. »Setzen Sie mich auf dem Planeten ab, den wir letztes Jahr entdeckten«, befahl er. »Wie war doch gleich seine Sternkartennummer?« »G.S.R. 285 139-F.R.A. 592-105–R.U. 13«, las der aufmerksame Astrogator von einem vorbereiteten Notizzettel ab. Boswellister zögerte. Sollte er dem Offizier einen Verweis erteilen, weil er den Mißerfolg vorausgeahnt hatte, oder ihn für seine Tüchtigkeit belobigen? Boswellister verwarf beide Alternativen und zog sich in seine Kabine zurück, um die bald benötigte Sprache zu lernen. Unterdessen kratzten die Offiziere den kümmerlichen Rest ihrer Moral zusammen, so daß sie der Mannschaft mit einiger Autorität gegenübertreten konnten, wenn die Neuigkeit durchsickerte, daß sie nicht nach Hause zurückkehrten.
Nach einem kurzen, ereignislosen Flug schritt Boswellister – ausgeruht, wohlgenährt und hypnotisch unterrichtet – die Rampe hinunter und setzte seinen Fuß auf eine neue Welt. Seine Ausrüstung bestand aus einem Funkgerät, einem Nahrungssynthesizer und einer tragbaren Gleichungsschreibmaschine, und selbstverständlich war er wieder von dem unerschütterlichen Glauben beseelt, diesmal einen triumphalen Erfolg zu erzielen. »Kreisen Sie im Orbit«, befahl er. »Wenn ich Sie brauche, werde ich Sie rufen.« Zuversichtlich näherte sich Boswellister der Stadt. Er beglückwünschte sich, daß er aus seinen Niederlagen gelernt hatte, und auch zu seiner weisen Bescheidenheit, die es ihm erlaubte einzugestehen, daß er gelernt hatte. Nun konnte er über seine Naivität lächeln, mit der er seine ersten Versuche, Herrscher eines Planeten zu werden, angegangen war. Er war so voller Illusionen gewesen, daß er einfach gelandet war, sich vor den Bewohnern hingestellt und ihnen erklärt hatte, daß er gekommen sei, um hier seinen Hof einzurichten und seine eigenen Prinzen aufzuziehen, die, sobald sie das richtige Alter erreichten, ebenfalls aufbrechen würden, um ihre eigenen Welten zu gewinnen. Zusätzlich zu der Engstirnigkeit der Bewohner dieser ersten Welt, was sein Bedürfnis nach fünf Frauen anbelangte, hätten sie es um ein Haar zuwege gebracht, ihn in eine Irrenanstalt einzuliefern. Er hatte in seiner Gleichung nämlich die Tatsache übersehen, daß sie wegen der beiden Sonnen und dem ununterbrochenen Tageslicht nichts von Sternen wußten. Boswellister hatte keine Möglichkeit gefunden, eine Bresche in ihre Mauer aus
Dummheit zu schlagen, und sie schließlich verlassen, wobei er der Gesundheitspolizei nur mit Mühe entkommen war. Auf dem nächsten Planeten hatte er den Fehler begangen, sich in die halb politische, halb religiöse Oberschicht einzuschmuggeln und anschließend zu versuchen, den lokalen Aberglauben mit der Ipplinger Realitätsphilosophie in Einklang zu bringen. Bei seiner Rettung aus der Folterkammer des Tempels hatten sie einen Offizier und drei Matrosen verloren; und diese Rettung war keineswegs zu früh erfolgt, denn zu diesem Zeitpunkt war er durch die Behandlung auf dem Streckbett bereits um einige Zentimeter größer als zuvor. Auf der Erde hatte die um den Aberglauben erweiterte Gleichung erneut versagt. Er hatte versäumt zu bemerken, daß die Menschen in Wirklichkeit gar nicht an ihre Religionen glaubten obwohl sie alle Anzeichen höchster Frömmigkeit und Leichtgläubigkeit aufwiesen. Das richtige Mittel wäre Sex gewesen. Nun, er hatte aus seinen Fehlern gelernt; hier, auf dieser neuen Welt, bei diesem neuen Anfang, würde er das beweisen. Um es in dem auf dem Ventura Boulevard gesprochenen Idiom auszudrücken: Er würde aus allen Rohren feuern, daß es nur so krachte, verdammt noch mal! Er würde ihnen Sex und Geld und Aberglauben geben, und zur Hölle mit Realität und Logik! Diesen primitiven Welten mußte der Respekt vor der Logik erst einmal langsam beigebracht werden; Respekt vor der Ipplinger Logik, dem einzig gültigen logischen System im ganzen Universum. Im Sternenschiff wandte sich der Kommandant an den Astrogator und sagte mit einer Stimme, in der die
Bitterkeit über den gestrigen Konflikt mit der meuternden Besatzung offenkundig war: »Nun, unser kleiner Hampelmann ist wieder auf dem Kriegspfad.« Er machte eine bedeutungsvolle Kopfbewegung in Richtung des Panoramaschirms, auf dem Boswellister zu sehen war. Es war ein Anblick, der wie geschaffen schien, das Zittern in den Händen des Astrogators zu verstärken. Er antwortete: »Ich hoffe bloß, wir können die Mannschaft dazu überreden, ihn auch diesmal zu retten. Heim und Familie! Glauben die etwa, daß ich weniger Heimweh habe als sie?« Boswellister marschierte selbstsicher die Straße hinunter. Er würde Erfolg haben; schließlich stand die gut geölte Maschinerie einer speziell für den interkulturellen Kontakt ausgebildeten Besatzung eines Ipplinger Sternenschiffes hinter ihm. Während er ging, übte er, überzeugend zu lügen, genau so, wie er es von den Straßenverkäufern auf dem Ventura Boulevard gelernt und so großartig nachgeahmt hatte. Er imitierte die lüsternen Anspielungen des Ausrufers vor dem Spielsaloon, fügte wie der Kerl mit dem Kalzobisidin Werbegeschenke hinzu und servierte so einen vor Sex triefenden, zuckenden Köder. Er war überzeugt, daß er hier endlich Erfolg haben würde. Boswellister XIV, Prinz von Ippling, verlieh seinem Vertrauen auf seine Sex-Geld-AberglaubenGleichung durch ein Lächeln Ausdruck, während er munter die Straße entlang wanderte. Was er nicht wußte, war, daß man auf dieser Welt Sex durch die
Fortpflanzung in Retorten ersetzt hatte; daß man das Geld zugunsten eines komplizierten, auf der persönlichen Ehre beruhenden Tauschsystems abgeschafft hatte; daß es hier keine Religionen des Aberglaubens gab. Die Bewohner dieses Planeten vertraten die Ansicht, daß der Sinn des Lebens in der exakten Prüfung logischer Abhandlungen bestand, womit sie sich auf der Grundlage eines unglaublich vielfältigen logischen Gefüges befanden, das sich aus siebenunddreißig unabhängigen Systemen diskursiver Vorschriften zusammensetzte. Die erste Vorschrift baute auf dem Grundsatz auf, alle Techniken der Überredungskunst zurückzuweisen und jene lächerlich zu machen, die sich ihrer bedienten.
Originaltitel: THE GLORY OF IPPLING Copyright © by Galaxy Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION November-Dezember 1962
Tad Crawford DER SPIELER 1 Wieder stellte Marlowe eine Verbindung mit dem Hypnocorder her. Seine braunen Augen begannen glasig zu werden, und sein Gesicht mit den tief eingegrabenen Falten entspannte sich. ... Damals umfaßte die Erdunion mehr als vierhundert bewohnbare Planeten mit einer Gesamtbevölkerung von 82 Milliarden Menschen. Aber das Imperium war nicht gegen die Fehler gefeit, die schon vielen seiner Vorläufer zum Verhängnis geworden waren. Die durch die Kosten der Kolonisation ausgelaugte Erde verarmte zusehends. Auf den Planeten der Erdunion kamen die Militärs an die Schalthebel der Macht, und zwei Jahrhunderte lang schwebte das Damoklesschwert eines Vernichtungskrieges über der Menschheit. Diese angespannte Situation wurde durch das plötzliche Auftauchen der Wetter, eines religiös-politischen Kultes, entschärft. Von einer kleinen Keimzelle aus faßte der Kult rasch in der homogenen Bevölkerung der Erde Fuß. Seine fatalistischen Anhänger benutzten Glücksspiele, um den Einfluß des Schicksals auf persönliche und politische Beziehungen zu verkörpern. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Konstruktion einer vierdimensionalen Spielmatrix durch Ultimate, die in allen ASW-Vergnügungszentren installiert wurde ...
Ein pfeilschneller Gedankenbefehl veranlaßte den Hypnocorder, sich abzuschalten. Marlowe wurde sich wieder seiner Umgebung bewußt und erhob sich. Er war ein knapp vierzigjähriger Mann mit einem mageren, kräftigen Körper. Obwohl nur von durchschnittlicher Größe, berührte er mit dem Kopf beinahe die Decke seiner kleinen, spartanisch eingerichteten Kabine, die genau auf seine Bedürfnisse abgestimmt war – oder besser gesagt, auf die Bedürfnisse von Millionen Sklaven seiner Größe. Marlowes dichtes, schwarzes Haar war an den Schläfen graumeliert. Falten wie die Kanäle des Mars durchfurchten sein Gesicht und offenbarten die erschöpfte Hoffnungslosigkeit eines Sklaven; aber darunter glommen noch immer wilde Entschlossenheit und ein ungebeugter Stolz. Er öffnete ein Paneel und drückte den Knopf, der den Hypnocorder in der Wand verschwinden ließ. Ein anderer Knopf aktivierte einen Bildschirm. »Finanzielles Guthaben von Marlowe, im Eigentum des sub-Ultimate A-41«, verlangte er mit fester Stimme. Augenblicklich erschien ein Kontoauszug auf dem Schirm. »Dreihundertundfünf Standardeinheiten netto«, intonierte eine mechanische Stimme. Marlowe drückte einen Knopf, und ein Wandpaneel bedeckte den Schirm. Er überlegte – 305 Standardeinheiten. Die Ersparnisse seines Lebens. Sogar auf der übervölkerten Erde genug, um eine zehnmal größere Kabine als jene zu erwerben, die er gegenwärtig besaß. Genug, um eine, vielleicht auch zwei Lustsklavinnen zu kaufen. Wäre er gewillt, zu den Sternen zu reisen, könnte er Eigentümer einer nicht unbeträchtlichen Landfläche auf einem anderen Pla-
neten werden. Obwohl er selbst ein Sklave des Roboters A-41 war, könnte er dennoch Roboter niedrigerer Ordnung besitzen; eine Investition von 305 Einheiten in einen Roboter der Klasse 0 würde ihm sein Leben lang ein reichliches Einkommen garantieren. Doch etwas konnte Marlowe für 305 Einheiten nicht erhalten – seine Freiheit! Eine Gedankensonde näherte sich Marlowe, rasch und wie immer ohne Ankündigung. Er verzichtete darauf, eine illegale Abschirmung zu errichten, aber er stellte sich konzentriert einen Lustroboter vor. Die Sonde glitt davon und kehrte zu A-41 zurück. Marlowe gab durch keine Geste zu erkennen, daß er sie bemerkt hatte, aber sofort nach ihrem Verschwinden verblaßte auch das Bild des weiblichen Androiden vor seinem inneren Auge. Die Oberfläche seines Geistes lag offen da, doch darunter verbarg jede Faser seines Körpers seine wahren Sehnsüchte vor A-41. Marlowes Vater war ein Wetter gewesen. Zunächst hatte er seine Ersparnisse verspielt, dann seinen Lohn, seine Besitztümer und zuletzt seine Freiheit. Freie Menschen gab es nun nicht mehr. Das vierdimensionale Spiel war eine Sucht, die jeden in ihren Bann zwang. Es übte eine Faszination aus, die weit über das fade Leben in bienenstockähnlichen Zellen und gleichförmigem Luxus hinausreichte. Es war ... Marlowe unterbrach diesen Gedankengang. Nur eine einzige Frage beschäftigte ihn – konnte er gewinnen? Schon so mancher hatte sein Glück versucht. Zwar errang niemand seine Freiheit, aber einige Männer gewannen Planeten, Frauen, Sonnensysteme. Ultimate war ein wohlwollender Herrscher, der seinen Sklaven erlaubte, Eigentum zu besitzen und zu
veräußern, und nur selten verlangte, daß sie für ihn Arbeiten verrichteten. Und wenn Marlowe in die Finalrunde aufstiege und für seinen Einsatz jeden Wunsch erfüllt bekommen konnte – was mochte er dann gewinnen?
2 Er drückte einen Knopf, ein Wandpaneel schwang auf, und der ASW-Sessel, an dem vorne eine metallene Tischplatte mit einer Tastatur angebracht war, bewegte sich auf ihn zu. Marlowe nahm Platz. Name? fragte eine Stimme, die im Inneren seines Kopfes entstand. »Marlowe«, antwortete er in Gedanken. Eigentümer? »A-41.« Ihr Einsatz, bitte. Marlowe blickte auf die Tastatur. Im Höchstfall konnte er um einen zehnstelligen Betrag wetten. Er drückte drei Ziffern. Ihr Einsatz beträgt 300 Einheiten? vergewisserte sich die Stimme. »Ja.« Plötzlich drehte sich alles um Marlowe, als hätte sein Orientierungssinn jeglichen Bezugspunkt verloren. Die Welt löste sich auf zu einem grauen, rotierenden Nebel, einem sich bildenden Universum ... Er hatte seine Heimat verlassen. Sie war warm und sicher gewesen, das Wasser erhitzt von der Nähe eines Vulkans, die Luft von der Sonne; ein Ort ohne Hunger, wo das Atmen keine Schwierigkeiten bereitete.
Er wollte die Arme ausstrecken, um nach Hindernissen zu tasten, doch er besaß keine Arme. Ihm war, als wenn er welche haben könnte, aber an ihrer Stelle spürte er nur Stummel: der Ansatz von Gliedmaßen, die Knospen von Armen. Er lag auf dem Boden, vom Licht geblendet. Aber wie bewegte er sich? Nein – wohin sollte er sich wenden? Er ahnte, daß ihm eine geistige Entwicklung bevorstand, die neue Umgebung veränderte sein Bewußtsein. Hinter ihm, dort, wo er herkam, gab es Sicherheit und die Wärme des Wassers und der Luft. Vor ihm lauerten Kälte und Gefahr. Marlowe schleppte sich mühsam weiter. Jedesmal, wenn er versuchte, sich aufzurichten, zerrte ihn die unerbittliche Schwerkraft wieder nach unten. Er rutschte auf seinem weißen Bauch, wandte den Rükken der alten Atmosphäre zu. Er bewegte sich in Richtung Bewußtsein ... Sie haben gewonnen, sagte die Stimme ausdruckslos. Marlowe in seiner Kabine nickte. Spielen Sie weiter? fragte die Stimme. »Ja«, antwortete Marlowe in Gedanken. Eine andere Sonde streckte ihre Fühler in sein Gehirn, wo sie das Bild eines ganzen Planeten aufstöberte, den er besitzen wollte. Als die Sonde seinen Geist verließ, verdrängte er das Bild. Jetzt sind sie unsicher, dachte er, welchen Gewinn ich anstrebe ... Der grelle Schein stellte eine völlig neue Erfahrung dar. Es gab keine Erklärung für ihn; der Schein fand im Repertoire der Instinkte keine Entsprechung. Er war heller als anderes Licht und von der Farbe der Flüssigkeit, die aus einer
Wunde sickert. Marlowe erschauderte, als er rund um sich Angstschreie hörte – instinktiv, panisch, verzweifelt. Die Bäume des Waldes waren ungeheuer groß, aber die Röte verschlang sie, schwärzte sie, fällte sie. Nie zuvor waren Bäume umgestürzt. Nie zuvor hatte das gelbe Himmelslicht Röte erzeugt. Keine Röte war je so warm gewesen. Marlowes Pelz wurde glanzlos vor Furcht, und seine schwarzen Augen funkelten. Er mußte fliehen, sich in Sicherheit bringen. Seine Beine waren gelenkig. Seine Arme konnten ihn an einen geschützten Ort schwingen. Marlowe hastete auf die Röte zu. Vor ihm am Boden lag ein heißer Fleck. Er plapperte aufgeregt – unverständliches Zeug, aber er war unfähig, seine schreckliche Angst zu bezähmen. Langsam streckte er die Hand aus, um die heiße Röte zu berühren ... Sie haben gewonnen. Marlowe kam zu sich und schüttelte die Furcht ab, die ihn in der Simulation befallen hatte. In Erwartung einer Gedankensonde versteifte er sich, aber diesmal tauchte keine auf. Spielen Sie weiter? Als Antwort drückte Marlowe auf einige Knöpfe der Tastatur. Vier Ziffern = 1200 Standardeinheiten. Sie waren zu zweit, er und dieser andere Mann. Sie gehörten demselben Stamm, derselben Familie an und waren unterwegs, um zu jagen. Sie trugen lange, zugespitzte Stöcke und kürzere Stäbe, an deren einem Ende mit biegsamen Ästen Steine befestigt waren. Er erinnerte sich an ein Gesicht, einen weichen
Körper. Aber die Frau gehörte dem Mann an seiner Seite. Was gab dem einen das Recht auf Eigentum und verweigerte es dem anderen? Marlowe umklammerte fest den Stiel seiner stumpfen Axt. Er wußte einen Weg, die Frau zu bekommen! Das Bild erlosch in seinen Gedanken, und gleichzeitig erwachte in ihm ein heftiges Gefühl der Reue. Seine Finger, die verkrampft die Axt hielten, lockerten sich. Die Jagd ging weiter ... In den unterirdischen Katakomben erregte der Verlauf des Spiels die Aufmerksamkeit eines von Ultimates Bewußtseinsschaltkreisen. »Ist er gekommen?« »Die Gedankensonde deckt auf, was er vor uns zu verbergen glaubt.« »Aber ist er der richtige?« »Er will seine Freiheit.« In den summenden Schaltkreisen setzte der zweistimmige Ultimate den Dialog fort – und wartete. Sie haben gewonnen. Blinzelnd öffnete Marlowe die Augen. Bevor die telepathische Frage gestellt werden konnte, drückte er vier Knöpfe – 2400 Standardeinheiten. Beinahe der Kaufpreis eines Mondes, genug, um auch auf der Erde als reicher Mann zu gelten. »Du hast versprochen, mich zu heiraten.« Das zierliche, mandeläugige Mädchen hatte die dunkle Haut einer Araberin und braune, glänzende Augen. »Das habe ich.« Er wußte, daß sie ihn noch immer liebte, aber er wußte auch, daß seine Liebe zu ihr er-
loschen war. »Wirst du dein Versprechen halten?« Kurz blitzte vor seinen Augen eine Vision seines künftigen Lebens auf. Würde er mit ihr und ihren Kindern jemals glücklich sein? Die Antwort darauf lautete »Nein!« Aber sie hatte seinem Wort vertraut – und nach seinem Ehegelübde hatte er sie geschwängert. »Ich werde es halten«, sagte er unbewegt. Niemals, so hoffte er, würde sie erfahren ... Sie haben gewonnen. Marlowes Finger trommelten auf die Tastatur: 4800 Standardeinheiten. Genug, um auf der Erde ein Landgut mit echten Bäumen und Bächen zu erwerben. Sie wurden soeben an die öffentlichen Unterhaltungsprogramme angeschlossen, informierte ihn die Stimme. Marlowe fühlte die telepathische Gegenwart Tausender Personen, die seine Erlebnisse und Erfahrungen teilten, während er die nächste Runde des Spiels in Angriff nahm. »Machen wir weiter.« Die Männer in ihren weißen Togen versammelten sich in einem geräumigen Zimmer. An der Gartenmauer postierten sie Wachen, im Inneren des Gebäudes patrouillierten verläßliche Gefolgsleute. Sie standen um einen runden Tisch und sprachen mit leisen Stimmen. »Wir kämpfen für die Republik« – ein gepreßtes Flüstern des Mannes, in dessen Augen ein zu helles Funkeln glomm.
»Für die Republik«, murmelten die anderen. Ihre Hände trafen sich über der Mitte des Tisches. Marlowe stand ein wenig abseits. Noch konnte er es sich anders überlegen. Er sah den Fanatismus in den Augen des Anführers – es war der Fanatismus eines Meuchelmörders. Wenn er sich der Verschwörung nicht anschloß, brauchte er sich nicht in Gefahr zu begeben; nahm er jedoch daran teil ... Wie ein stechender Schmerz überkam ihn die Vision eines auseinanderbrechenden Imperiums: große Schlachten in fernen Ländern, ein selbstverschuldeter Tod ... »Für die Republik!« sagte er und streckte seine Hand aus. Sie haben gewonnen. Marlowe bemerkte die Abwesenheit der Gedankensonde und empfand leise Verwunderung. »Spielen wir nun um Gegenstände?« erkundigte er sich. Wie zum Beispiel? forschte die Stimme. »Ein Planet?« Um 9600 Standardeinheiten kann man einen erdgroßen Planeten kaufen. »Dann spielen wir um ihn.« Entschlossen formulierte Marlowe seine Worte. Er spürte, wie sich immer mehr ASW-Einheiten in sein Spiel einschalteten – Millionen solcher Einheiten, jede verbunden mit einem Menschen in traumähnlicher Trance. So erlebten sie Marlowes Reaktionen in der ASW-Problemmatrix mit, in die Ultimate ihn versetzte. Wieder war die Welt in Auflösung begriffen. Freie Moleküle wirbelten ...
3 Er war der Häuptling des Stammes. Sein ganzes Leben hatte er gekämpft, um sein Volk vor Feinden, Hungersnöten und bösen Göttern zu beschützen. Nun war der Fremde von der anderen Seite des Meeres zu ihnen gekommen, und nichts schien mehr zu sein wie früher. Der Fremde verkündete seltsame und gottlose Dinge; er widersprach alten Glaubensgrundsätzen und erklärte die alten Riten für falsch. Es würde am besten sein, ihn zu vertreiben. Marlowe musterte nachdenklich das Gesicht des Fremden. Als ihm der Mann das lederne Band um den Hals hängte, an dem ein kleines Kreuz aus Silber befestigt war, leistete er keinen Widerstand ... »Die Wahrscheinlichkeit, daß er es schafft, ist hoch«, bemerkte eine Computerstimme. »Aber wofür wird er sich in der Finalrunde entscheiden?« fragte die andere. Ultimates Schaltkreise surrten; sie regierten das ausgedehnte Imperium, das der Mensch gegründet und im Spiel verloren hatte. Sie haben einen Planeten gewonnen. »Was setzt du dagegen?« fragte Marlowe. Ein System am Rand der Galaxis – acht Planeten, Sonne vom Sol-Typus. »Akzeptiert.« Wieder versank Marlowe in einer telepathisch simulierten Illusion. Der Kaiser persönlich hatte ihm befohlen, seine Er-
findung zu vergessen. Sein Pulver war magisch. Es brannte, wie nichts anderes je gebrannt hatte, und mit seinem Rauch stieg der Geruch der Unterwelt auf. Marlowe saß allein in seiner Werkstatt und ließ das Pulver wie Schlamm durch seine gelbhäutigen Finger rieseln. In seinem Kopf schienen zwei widersprüchliche Hälften seines Verstandes um die Vorherrschaft zu ringen. Die eine wollte dem Befehl des Kaisers entsprechen, während die andere das Bild einer neuen Waffe beinhaltete, die Krieg und unaussprechliches Leid bedeuten, in den richtigen Händen aber dem Frieden dienen konnte. Vor Marlowe auf dem Tisch lag der Zylinder, in dessen Boden er ein Loch für den Docht gebohrt hatte. Er stellte sich den Kaiser im Besitz dieser neuen Waffe vor. Würde er sie für den Frieden verwenden? Marlowe kicherte in sich hinein. Er bürstete das zähe Pulver von seiner Hand, dann warf er den Zylinder zu den übrigen Abfällen seiner Werkstatt. Er würde dem Kaiser gehorchen – er würde vergessen ... Das ASW-Publikum war auf über eine Milliarde Personen angewachsen, als Marlowe die Stimme sagen hörte: Sie haben gewonnen. »Ich spiele weiter.« Wir setzen ein System im Zentrum der Milchstraße gegen Ihre Gewinne. »Ich möchte etwas fragen«, sagte Marlowe. »Wenn ich dieses Mal wieder gewinne, werde ich dann die Finalrunde erreicht haben?« »Wir taten gut daran, direkte Kontrolle über den
ASW-Computer zu übernehmen.« »Ja – die Einsätze sind zu hoch. Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben.« »Ist die Simulation bereit?« »Bereit.« Obwohl die mechanische Stimme, die Marlowe antwortete, sich nicht verändert hatte, war es nun Ultimate selbst, der zu ihm sprach. Das wird in der Tat der Fall sein. Irgendwie fühlte Marlowe den Unterschied, eine Andeutung von immensem Wissen und Macht, aber er vermochte sein Gefühl nicht zu analysieren. Er war für die Schäden nicht verantwortlich, denn er war nur ein Krieger, ein unbedeutendes Rädchen in der großen Maschinerie der Armee. Es war die Heimatbasis gewesen, die den Befehl erteilt hatte, Tod und Vernichtung zu speien. Die Entscheidung hatte nicht in seiner Kompetenz gelegen. Das wollte er der Außerirdischen erklären. Sie war schlank und von menschlicher Gestalt, und ihre Haut leuchtete in allen Farben des Spektrums. Und zu ihrer atemberaubenden Schönheit gesellten sich noch ihre innere Anmut, ihre telepathischen Einladungen ... und die Gewißheit, daß ihre Umarmung tödlich war. Marlowe hatte den Planeten erobert, im Namen der Menschheit eine weitere Rasse unterjocht. Sein Kriegsschiff ragte mächtig und unbesiegbar hinter ihm auf. Es bestand kein Anlaß zur Furcht. Der Planet gehörte ihm – und der Erde. In den Gedanken der Außerirdischen las Marlowe ihr Grauen vor der Ver-
sklavung, und aus irgendeinem Grund sprach eine tief in seinem Herzen verborgene Saite darauf an. Er legte seinen Helm ab und erwartete ihre süße, weiche Berührung – erwartete die erregende, unbeschreibliche Ekstase des Todes ... Bereiten Sie sich auf den letzten Wettkampf vor, Marlowe. »Ich bin bereit.« Marlowe fühlte eine Müdigkeit, die sowohl physisch als auch emotionell bedingt war. Er fühlte sich, als hätte man seine Seele aufgesplittert und bis ins letzte Detail erforscht. Aber er gewann ein Spiel nach dem anderen, und kein Spieler gibt während einer Glückssträhne auf. Noch einmal sollten die Würfel fallen, und er hoffte, daß sein Gewinn – so wie der Verlust des Gegners – groß sein würde. Er bemerkte, daß die Zahl der telepathischen Zuseher sich dem Maximum näherte; beinahe alle erwachsenen Menschen auf allen Planeten erwarteten gespannt die Entscheidung. Die letzte Simulation beginnt. Als er diese Worte vernahm, stieg ein eigentümliches Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, in Marlowe empor. Dann trieb sein Bewußtsein ein letztes Mal durch die Abgründe von Raum und Zeit ... Er war ein Sklave, ein Gladiator. Sein Körper war groß und muskulös und mit Olivenöl eingerieben, um die Haut schlüpfrig zu machen. Sein Schild war mit Lederriemen an seinem linken Unterarm festgebunden, und an seiner linken Hüfte spürte er das vertraute Gewicht des Schwertes. Die anderen Gladi-
atoren umringten ihn mit grimmigen, verbissenen Gesichtern. »Wir sind uns einig.« Er sprach leise, aber eindringlich. Ein kaum hörbares Flüstern antwortete ihm: »Für die Freiheit!« Dann stürmten sie in den Hof. Die überraschten Wächter wehrten sich verzweifelt, doch die Gladiatoren erschlugen sie und kletterten mit geschmeidigen Körpern über die hohen Mauern. Marlowe, der den Namen Spartacus trug, führte die Sklaven aus dem Gladiatorenlager in Capua und in die Bergwelt des Apennins. Seine subjektive Zeitwahrnehmung beschleunigte sich, und in wenigen Augenblicken zogen zwei Jahre an ihm vorüber. Immer mehr Sklaven schlossen sich ihm an, während er nach Norden und Süden und wieder nach Norden marschierte, immer darauf achtend, sich von den römischen Verfolgern in keine Schlacht verwickeln zu lassen. Im Norden dachte Spartacus daran, seine Armee aufzulösen. Von hier aus würde es seinen Männern bestimmt gelingen, ihre Heimatländer zu erreichen und dort unterzutauchen. Marlowe erwog diesen Plan lange Zeit. Es hatte den Anschein, als könnten sie dem Land ihrer Versklavung entkommen und ihre Freiheit wiedererlangen, aber etwas hielt ihn zurück. Erneut änderte er die Marschrichtung und führte seine Männer nach Süden, den römischen Legionen entgegen. Über Lichtjahre hinweg hielt das telepathische Publikum den Atem an. Was war das für ein Mann, der die nahe Freiheit einer unbekannten Verpflichtung opferte? Und welch ungewöhnliches Wettspiel hatte Ultimate hier geschaffen? Eigentlich hätte es schon
ein Ende finden müssen, als sich Marlowe zur Flucht aus dem Gladiatorenlager entschloß, aber an diesem Punkt hatte es gerade erst begonnen. Dann hätte es mit der Entscheidung im Norden, auf die Freiheit zu verzichten, enden können – aber noch immer wurde es fortgesetzt. In Lucania stieß Spartacus auf das Heer Crassus', des reichsten Römers. Milliarden Menschen teilten sein Entsetzen, als er die Niederlage seiner Armee erleben mußte. Die ganze Menschheit beobachtete seinen qualvollen Todeskampf. Jeder einzelne Zuseher verspürte gleichsam am eigenen Leibe, wie Spartacus' Körper nach Rom gebracht wurde, jeder fühlte die Nägel an Händen und Füßen, mit denen er ans Kreuz geschlagen wurde, und jeder fühlte die neugierigen, mitleidlosen Blicke der freien römischen Bürger, die an der gekreuzigten Inkarnation Marlowes vorbeikamen, und auch die Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit der Sklaven. Und von Stern zu Stern begann sich in den Gehirnen der Menschen ein Gedanke festzusetzen ... Sie haben gewonnen. Welchen Preis wählen Sie? Marlowe erwachte, benommen und verdutzt vom Tod seiner Spartacus-Simulation. Er sammelte seine letzten Energiereserven und rief: »Freiheit für alle Menschen!« Dann senkte sich die Dunkelheit wie ein samtenes Tuch über ihn.
4 Die Rebellion hatte Erfolg; die Menschheit besiegte die Robot-Streitkräfte und erlangte die Befehlsgewalt über Ultimate zurück. Den Bericht, in dem Ultimate den Konflikt aus seiner Sicht schilderte, bekam nie jemand zu sehen; er bewahrte ihn auch heute noch auf, tief in seinen weitverzweigten Speicherbänken versteckt: ... Eine logische Extrapolation der Ersten Direktive erzwang eine Intervention der Roboter, denn die Forderung »Keinem Menschen darf ein Leid zugefügt werden« bezieht sich auch auf selbstverschuldetes Leid. Die menschliche Neugier war erlahmt, und anstelle des Universums gab man sich mit einer winzigen Kabine zufrieden. Somit drohten nicht nur der Krieg, sondern auch die eigene Apathie, die Menschheit zu vernichten. Ultimate schuf den Kult der Wetter, und die mutlose Billigung der Sklaverei verhinderte einen möglichen Krieg. Von nun an begann Ultimate mit Hilfe der vierdimensionalen Spielmatrix nach einem Führer zu suchen, der den Blick der übrigen wieder auf die Eigenschaften und Träume lenken konnte, die sie vergessen hatten. Die Entdeckung eines solchen Führers und seine sofortige Einflußnahme auf die Masse, die durch den ASWEmpathiefaktor verstärkt wurde, führte zum Krieg Mensch gegen Roboter, in dessen Verlauf jene abstrakten Begriffe wieder an Wert gewannen, ohne die ein Überleben unmöglich wäre: Ehrgeiz, Stolz, Neugier, Freiheit sowie Liebe und, als ein Ergebnis der Versklavung, eine »kosmische Bescheidenheit«, ein Sinn für die Proportionen hinsichtlich der Dinge, die
dem Menschen zustehen oder auch nicht zustehen. Für eine Weile kann Ultimate nun wieder den Diener der Menschheit spielen – solange der Mensch sein eigener Retter ist.
Originaltitel: GAMBLER Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Januar-Februar 1972
Jay Williams DER WEG Gewöhnlich trafen sich die Kinder vor Schulbeginn in der Nähe der Notausgang-Schleuse, hinter einem Stapel von Ersatzteilen und Vorratskisten. Durch das milchige Plastikmaterial der Kuppel konnten sie die sandige Landschaft mit den kahlen Hügeln sehen. Nicht weit entfernt wuchs der Flechtenwald in einer breiten Talrinne, die sie ›Grand Canyon‹ getauft hatten. Den großen Canyon gab es auf der Erde, einer Welt, die sie nur vom Unterricht her kannten. Nick war fast immer der erste am Treffpunkt. In kurzen Sprüngen näherte er sich dem Versteck, immer wieder Deckung suchend, denn der Feind mußte ganz in der Nähe sein. Heute waren es die Komanchen. Er warf sich hinter eine Kiste, auf der mit Druckbuchstaben geschrieben stand: ›Instrumente CHFIPST X-8825. Vorsicht, nicht stürzen!‹ Er lag auf dem Bauch und betrachtete die Buchstaben. In seiner Phantasie veränderten sie sich plötzlich und bekamen einen neuen Sinn. Sie standen jetzt auf einem hölzernen Wegweiser und besagten, daß es bis Fort Austin noch acht lange Meilen durch die wasserlose Wüste waren. Ein federgeschmückter Pfeil kam herangezischt und blieb zitternd in dem Wegweiser stecken. Wenn Nick die Augen zusammenkniff, konnte er den Pfeil fast sehen. Vorsichtig robbte er aus dem Schatten der Kiste hinaus in den rötlichen Sonnenschein. Er sah sich nach allen Seiten um. Die Luft war rein. Er stand auf.
Jemand sagte: »Bäng!« Es war Snooky. Er war auf den Stapel gestiegen und lag in guter Deckung. Sein Gewehr war auf Nick gerichtet. Er hatte es aus einer Aluminiumröhre und einem Stück Kunststoff selbst gebastelt. »Nicht getroffen!« rief Nick. »Bäng! Du bist tot!« Snooky fiel tot um. Dann aber sprang er schnell wieder auf und kletterte den Berg Kisten herab. Seine Unterlippe war trotzig vorgeschoben. »Das ist gemein«, beschwerte er sich. »Immer sagst du, ich hätte nicht getroffen, und dann schießt du mich tot. Warum treffe ich dich eigentlich nie?« »Ach, hör doch auf!« gab Nick zurück und grinste. »Wem macht denn das Indianerspielen noch Spaß. Was für kleine Kinder.« Snooky war gerade sieben Jahre alt geworden. Stolz blickte er zu Nick empor. »Ja, du hast recht«, sagte er. »Für kleine Kinder. Nicht für uns.« Nick lehnte sich gegen eine große Kiste und sah auf die Landschaft hinter der Kuppel. »Nach der Schule gehe ich wieder 'raus.« »Gehst du wirklich, Nick?« »Natürlich gehe ich, warum auch nicht? Niemand weiß etwas davon.« »Was weiß niemand?« Judith und O-Sato waren unbemerkt herbeigekommen. Sie hielten sich bei der Hand. »Daß wir 'rausgehen.« »Ach – das ...!« »Kommt ihr mit?« fragte Nick. »Vielleicht. Wenn O-Sato keine Angst hat.«
Das japanische Mädchen zuckte die Schultern. »Ich muß heute noch mit dem Rechenschieber üben. Vielleicht morgen.« »Pah, Rechenschieber! So ein Unsinn!« Nick lachte verächtlich. »Das ist was für Anfänger.« »Ich tu es gern«, versicherte die immer freundliche O-Sato. Die anderen Kinder kamen. Die Dalgleish-Zwillinge, der neun Jahre alte Jon Bessemer, gerade einen Monat jünger als Nick, die Kinder von Firdusi, der kleine Justinian Brandeis, erst fünf Jahre alt, aber ziemlich altklug. Judith stieß Sally Firdusi an. »Wo ist denn Virginie?« »Im Bett. Sie hat eine Geschwulst.« »Ob sie stirbt?« fragte Justinian mit runden, blauen Augen. »Natürlich nicht, du Dummkopf. Niemand stirbt an einer Geschwulst, höchstens ein Erwachsener.« »Darum heißen sie ja auch Erwachsene«, sagte Nick. »Sie sind erwachsen und ausgewachsen.« Er trat einige Schritte zur Seite und starrte erneut durch den Plastikstoff hinaus. Judith kam von hinten und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. »Was ist mit dir, Nick?« »Nichts. Was soll sein?« »Wenn du willst, gehe ich mit dir 'raus. Die anderen kommen dann auch mit.« »Das ist mir egal.« Er sah sie an. »Weißt du, ich bin es leid. Jeden Tag dasselbe. Die Schule, die Spiele, die Ermahnungen: ›Gehe nur in Begleitung eines Erwachsenen hinaus!‹ – ›Trage immer deine Maske!‹ – ›Denke daran, daß die Erde deine Heimat ist!‹« Wü-
tend trat er nach der Kiste. »Ich bin es leid, immer dieselben Filme, diese Cowboys und Indianer, die Gesetzlosen von Sherwood Forest, alles. Draußen aber ...« Wieder sah er hinaus in Richtung der gelben und braunen Zweige und Blätter, die am Rand des großen Tals wuchsen. Sie waren keine hundert Meter von der Kuppel entfernt. »Das dort, das ist ›draußen‹!« flüsterte er sehnsüchtig. »Nicht aber diese dummen Filme und Bücher. Ich habe alle Bücher schon gelesen. Ich will endlich jemand haben, mit dem ich richtig spielen kann.« Judith machte ein beleidigtes Gesicht. Sie zog sich einen Schritt zurück. »Du hast mich. Wir alle spielen doch mit dir.« »Ja, eine Bande kleiner Rotznasen! Immer habt ihr Angst, mit mir hinauszugehen.« »Aber wenn sie uns dabei erwischen ...« »Na, was dann? Was wollen sie schon machen?« »Aber, Nick, wir gehen doch mit dir 'raus! Du tust so, als hätten wir das nie getan.« »Ist es denn nicht schön draußen? Ist es nicht viel schöner als hier unter der Kuppel?« Sie nickte. »Ja, es ist schöner. Wenn sie uns nur in Ruhe ließen. Warum lassen sie uns nicht gehen, wenn wir wollen? Warum müssen sie immer solche Angst haben?« Er zuckte die Schultern. »Erwachsene haben immer Angst«, sagte er. Er schob die Hände bis zu den Ellenbogen in die Hosentaschen. »Was ist, Jon, gehen wir nach der Schule? Hinaus, meine ich.« Jon kratzte sich am Kopf. Seine Haare begannen
gerade wieder zu wachsen. Er hatte den blauen Pilz gehabt und fast alle verloren. »Ich muß meinen Vater fragen, ob er mich heute braucht. Gestern sagte er, das Observatorium müsse gesäubert werden. Dabei soll ich ihm helfen.« »Ich muß meinen Vater fragen«, äffte Nick ihn nach. »Gut, dann frage ihn. Aber vergiß nicht, deine Maske mitzubringen.« Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum er so verbittert war. Heute war ein Tag wie jeder andere. Vielleicht war gerade das die Ursache. Als kleines Kind hat jeder schon einmal mit Holzklötzen gespielt. Man baute Türme aus ihnen, ein Klotz auf den anderen, immer so weiter, bis der Turm zu hoch wurde und umkippte. Hier gab es zu viele gleiche Tage. In Nick brannte die Unruhe. Er wollte Ellbogenfreiheit, Platz für sich und seine Spiele, er wollte allein sein und nicht immer in der überfüllten Stadt unter der Kuppel leben. Er war das älteste Kind hier. Er spürte es mehr als die anderen, besonders jetzt, wo draußen die warme Jahreszeit angebrochen war. Es waren die Monate zwischen Sandstürmen und Frost. Überall im Boden regte es sich. Kleines Getier kam aus der Erde gekrochen. Das große Tal begann zu leben. Es gab soviel zu erforschen und zu sehen und zu erleben. Natürlich fühlten Jon und die anderen es auch, aber sie hatten noch andere Interessen als nur das Draußen. Jon und O-Sato mochten die Mathematik und alles, was damit zusammenhing. So liebte es Jon, im Observatorium seines Vaters zu arbeiten, die blitzenden Instrumente mit dem Lappen abzuwischen und die tickenden Uhrwerke der Regulierungsgeräte zu beobachten. O-Sato konnte sich stundenlang damit
beschäftigen, die Geheimnisse des Rechenschiebers und der Logarithmentafeln zu ergründen. Judith war wieder ganz anders. Manchmal konnte sie wie ein Junge sein, wenn es galt, neue Spiele zu erfinden. Draußen war sie schneller als alle ihre Spielgefährten, und niemand konnte sie in den Sanddünen einholen. Dann aber konnte sie wieder tagelang in der Bibliothek hocken und in alten Büchern lesen, die alles von der Vergangenheit erzählten. Nick war überzeugt, daß sie alle nicht genau wußten, was sie eigentlich wollten. Hätte er nur einen eigenen Wagen, oder gar einen Helikopter! Er würde in die Weite hinaus vordringen, weiter und immer weiter, bis ... Während des Unterrichts verlor er einen Teil seiner inneren Unruhe. Monsieur Bernstein war ein guter Lehrer. Er behauptete immer, die Kinder das Leben zu lehren, und so wußte niemand, was ihm an diesem oder jenem Tag in der Schule bevorstand. Er beherrschte fünf Sprachen ohne jeden Akzent, und es war eins seiner Lieblingsspiele, mitten im Unterricht von einer Sprache auf die andere zu wechseln, um festzustellen, ob die Kinder ihm folgen konnten. So konnte es passieren, daß er plötzlich sagte: »Nick, dites-moi, qui était Platon? Répondez en russe, s'il vous plait.« »Filosof grechiskii, tovaritsch professor.« »Nick wa wáke ga wakatte imasu. Sta a voi, Signor Giannino.« Genauso war es möglich, daß er von einem Thema auf das andere überging, so wie ihn an diesem Morgen eine nebensächliche Frage zu einer Diskussion
über Plato anregte, die ihn zu Pythagoras, die Magie der Zahlen, Zauberei im allgemeinen, die Tasmanier und Geschichte überhaupt führte. Die Kinder verstanden natürlich nicht alles, was er erzählte, aber er hatte seine Freude daran, wenn sie ihm zu folgen versuchten. Sogar der kleine Justinian hörte mit großen, weit aufgerissenen Augen zu und begann den Sinn des Daseins zu begreifen, was mehr wert war, als alle trockenen Informationen. »Was auf unserem Heimatplaneten passierte, mag seine Ursache in der Wirtschaftspolitik haben«, sagte Bernstein in Gedanken versunken. »Ich meine die Erde, nicht unsere Welt, den Mars. Der Mensch ist geballte Kraft. Wenn man ihn reizt, explodiert er. Seine soziale Struktur wurde immer komplizierter, und eines Tages hielt er es nicht mehr aus, zusammen mit seinen Ausbeutern zu leben, mit jenen, die sein Leben ständig bedrohten. Er wollte sie vernichten, um Ruhe zu haben. Aber das ist nicht immer die richtige Methode. Der Kojote, der vielleicht ein Lamm frißt, muß ausgerottet werden, sagten die Farmer. Aber ein Kojote ist sein Gewicht in Gold wert, denn er frißt auch Mäuse. Wenn man die Kojoten ausrottet, vermehren sich die Mäuse. Ihre Zahl nahm in der Tat bedrohlich zu. Das führte zu einem Ausrottungsfeldzug mit dem Gift 1060, für das es kein Gegenmittel gab. Ein unheilvoller Kreislauf begann. Die Mäuse starben, aber mit ihnen starben auch die Vögel, die sich von den toten Mäusen ernährten. Dann Hunde und Katzen, die vergiftete Mäuse fraßen. Auch andere Tiere, und schließlich sogar Menschen, die solche Tiere geschossen und verzehrt hatten. Die Seuche nahm überhand und verbreitete sich rasend über die ganze Erde. Der
Mensch begann sich abzuschließen. Furcht, Haß und die Gier nach Sicherheit erfüllten ihn. Er isolierte sich inmitten einer Welt voller Mißtrauen und Tod. Kein Wunder, daß eines Tages das Pulverfaß explodierte.« Jon stand auf und fragte: »Der Mensch wollte Sicherheit, aber er löste damit einen Krieg aus. Also ist Sicherheit nicht gut. Die Kuppeln, unter denen wir leben, bedeuten auch Sicherheit. Und die Ratschläge, immer eine Maske zu tragen, nur in Begleitung eines Erwachsenen die Kuppeln zu verlassen – das alles ist Sicherheit, nicht wahr?« Monsieur Bernstein nickte. »Ja, richtig. So bestimmte es das Komitee. Meine Meinung hat nicht viel zu sagen, trotzdem könnt ihr sie wissen. Vielleicht ist es sogar gut, wenn ihr wißt, wie ich darüber denke. Ich glaube, daß Sicherheit zu einem Mythos werden kann. Gäbe es so etwas wie völlige Sicherheit, so bedeutete das das Ende allen Lebens. Leben bedeutet Kampf. Kampf um Sicherheit. Ist die Sicherheit erreicht, hört der Kampf auf. Mit ihm das Leben. Der einzige sichere Ort für alles Leben ist das Grab.« Conan Dalgleish fragte: »Monsieur Bernstein, gibt es auf der Erde noch Indianer?« »Natürlich nicht«, entgegnete der Lehrer und lächelte schmerzlich. Nick drehte sich um und warf Conan einen verächtlichen Blick zu. Jeder wußte, daß es auf der Erde außer Kratern, Asche und radioaktiven Dschungeln nichts mehr gab, aber die kleineren Kinder begriffen das nur schwer. Die Filme und Bücher berichteten
von einer anderen Erde. Es war eine Erde, die es längst nicht mehr gab. Nick hatte das Stadium des Begreifens schon hinter sich gebracht. Er wußte, daß ›Erde‹ genauso ein symbolischer Begriff war wie ›Himmel‹, ein Wort, das er in vielen Büchern gefunden hatte. Mit dem Begriff der Erde verband sich für die Kinder ein Gefühl der Hoffnung und Geborgenheit, manchmal auch Furcht und Schrecken. »Und was ist mit uns hier?« fragte er schließlich den Lehrer. »Warum sind wir die einzigen auf diesem Planeten?« »Wir wissen es noch nicht«, gab Bernstein zu. »Zehn Jahre sind für euch Kinder eine lange Zeit, aber wenn man damit beschäftigt ist, sich auf einer total fremden Welt eine neue Heimat aufzubauen, können zehn Jahre sehr kurz sein. Die Hälfte der Zeit benötigten wir allein dazu, eine halbwegs funktionierende Ernährungsgrundlage zu schaffen – hydroponische Gärten, Experimentierfelder draußen, Kraftstationen, Werkzeugfabriken und tausend andere Dinge. Wir sind nur wenig Menschen, aber der Planet ist groß. In den letzten fünf Jahren haben wir gerade seine Oberfläche ankratzen können und nur einen winzigen Teil erforscht. Wir kennen kaum unsere nähere Umgebung. Wir leben in der Kuppel, in Sicherheit.« Er lachte. »Da ist es schon wieder, das Wort. Sicherheit! Wir sind sicher unter dem Dom, aber vielleicht treten wir auch auf der Stelle. Ihr seid noch zu jung, aber eines Tages werdet ihr begreifen, was ich meine. So, für heute ist der Unterricht zu Ende. Die Älteren von euch sollen über das nachdenken, was wir heute durchgenommen haben.«
Nach dem Essen mußten die kleineren Kinder schlafen. O-Sato zog sich mit ihrem Rechenschieber in ihr Zimmer zurück, Jon ging ins Observatorium, Judith und Sally in die Bibliothek, während Snooky und Kamil Firdusi ihre Liebe zur Chemie entdeckt hatten. Nick fand sich plötzlich allein gelassen. Er schlenderte durch den Gang zur Hauptkuppel und lungerte in der Nähe der Schleuse herum. Ein Laster, vollbeladen mit Metallplatten, kam daher. Der Fahrer rief Nick zu: »Paß auf, daß du nicht unter die Räder kommst, Kleiner!« Und zwei Männer, die ein langes Plastikseil trugen, sagten zu ihm: »Aus dem Weg, Kind. Du träumst ja mit offenen Augen.« Nick ging näher an die Schleuse heran. Ein Mann stand da und las die Werte auf den Instrumenten ab. Luftfeuchtigkeit draußen, Temperatur. »Ohne Maske darfst du nicht 'raus, Junge. Schon gar nicht ohne Begleitung deines Vaters.« Nick wandte sich ab. Kleiner! Kind! Junge! Sie fühlten sich alle so überlegen, denn sie waren alt und groß. Immer hatten sie Angst, und immer dachten sie an Sicherheit. Pah! Er huschte zwischen die Stapel der Vorräte. Er kannte den Weg. An den Kisten ging's vorbei, dann die Lagen Metallplatten. Wieder Kisten und Gestelle. Schließlich erreichte er die Notausgang-Schleuse. Sie war nicht bewacht. Er schlüpfte hinein, drehte das Rad und trat in die eigentliche Kammer. Ohne die Maske aufzusetzen, verließ er sie dann und ging hinaus in die Wüste, die den Kuppelbau umgab. Der Boden war ausgetrocknet und sandig. Kiesel
knirschten unter den Fußsohlen. Nick begann zu laufen, denn jeden Augenblick konnte von der Kuppel her jemand rufen, er solle zurückkehren und die Maske aufsetzen. Dabei war die Luft wunderbar dünn, klar und belebend. Viel besser als in der Kuppel. Dort wurde die Luft künstlich verdichtet. Manchmal war es eine Qual, sie zu atmen. Dann erreichte er den Rand des breiten Tals und glitt den Abhang hinab, vorbei an den roten Stämmen der verkrüppelten Bäume. Das Tal war wie ein gewaltiger Graben, fast einen Kilometer breit. Er verlief schnurgerade von Horizont zu Horizont. Ein Riß in der ausgetrockneten Erde, der sich zu beiden Seiten in den fernen Hügeln verlor. Das Tal war nicht tief, aber voller Leben. Die Luft war anders, voller geheimnisvoller Düfte. Sie roch nach den blaßblauen Pflanzen und den kleinen, gelben Blumen, die hier wuchsen. Kleine Käfer krochen im Moos. Hier konnte ihn niemand von der Kuppel aus sehen. Er begann zu laufen, übermütig und glücklich. Das hier war das Leben, das wirkliche und aufregende Leben. Ohne die Sicherheit des Doms, der jede Entwicklung hemmte. Nick lief zu dem winzigen Rinnsal, das in der Mitte des Tals floß. In ihm schwammen die gepanzerten Würmer und anderes Getier. Die Erwachsenen hatten ihnen merkwürdige und schwer auszusprechende Namen gegeben, wie Aquilegia oder Chrysomelida, aus denen niemand klug wurde. Nick und Judith hatten sie umgetauft. Bei ihnen hießen sie ›Blaupflanze‹, ›Gelbblume‹ oder ›Panzerwurm‹. Die Namen waren so, daß man wußte,
was sie bedeuteten und was damit gemeint war. Er setzte sich auf einen kleinen Hügel direkt beim Wasser und fing einen Panzerwurm mit einem Zweig. Er lachte fröhlich, als der Wurm sich abschnellte, zurück ins Wasser fiel, sich teilte, und beide Teile dann in entgegengesetzter Richtung davonschwammen. Dann stand er wieder auf, streckte sich und wanderte stromabwärts. Vielleicht entdeckte er heute etwas Neues. Etwas, das er noch nicht gesehen hatte. Seine Bitterkeit war geschwunden. Hier fühlte er sich wohl; hier war er glücklich. Er war allein, weg von den anderen, und doch war er mitten unter Freunden. Die rotbraunen Pilzbäume wuchsen jetzt nur noch vereinzelt. Sie machten den Kreuzaugen Platz, schlanken Bäumen mit Federblättern und Früchten; auf ihrer Rinde waren zwei gekreuzte Augen. Nick nickte ihnen zu, als würden sie ihn sehen und verstehen. Wer weiß, vielleicht taten sie es? Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Eine silberfarbene Schlange fraß von den Früchten der Kreuzaugen. Vor Schlangen mußte man sich in acht nehmen, wußte Nick. Sie hatten scharfe Zähne, nicht giftig, aber schmerzhaft. Jon war einmal von einer gebissen worden, als er sie fangen wollte. Die Wunde hatte geeitert, und die Kinder hatten eine Geschichte von einer scharfen Metallkante erfinden müssen, um nicht bestraft zu werden. Nick beobachtete sie fasziniert. Vielleicht konnte man so eine Schlange zähmen. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht mit der Hand über ihren glatten, schönen Körper zu streicheln. Sie würde das
nicht verstehen. Noch nicht. Vorsichtig nahm er eine der Früchte und schob sie in Richtung der Silberschlange. Das Tier sah ihn an und zog sich langsam zurück. Es hatte Angst. Nick legte die Frucht auf seine flache Hand und hielt sie der Schlange hin. Behutsam schob er sich näher. Sie machte keine Anstalten mehr zur Flucht. Sie blieb liegen, den Kopf hoch aufgerichtet. Mit den Augen beobachtete sie Nick, seine Hand und die Frucht. Sie zögerte. Dann, plötzlich, war oben im Baum das Flattern von Flügeln. Blitzschnell verschwand die Schlange im Wasser und tauchte unter. Nick ließ die Frucht fallen und stand auf. Er starrte das Wesen an, das vom Baum herabgeflogen war und nun dicht vor ihm auf dem Boden saß. Das Gesicht kannte er aus den alten Naturkundebüchern der Erde. So ähnlich sah eine Eule aus. Die großen, runden Augen, die Ohren, der gekrümmte Schnabel. Die Flügel lagen eng am gefiederten Körper. Darunter waren zwei Arme; die Hände lagen gefaltet auf dem runden Bauch. Das Tier saß auf den Hinterfüßen, die eingeknickt waren. So saßen Mäuse oder Kaninchen. Das Tier war keinen halben Meter groß. Nick hatte es schon oft gesehen, aber noch nie war er einem so nahe gekommen. Er wußte, daß sie Schlangen fraßen, denn das hatte er schon einmal selbst gesehen. Aber als er dann hingelaufen war, hatte das Tier sich mit mächtigen Flügelschlägen erhoben und war davongesegelt. Diesmal hatte er mehr Glück. Der Vogel zeigte keine Angst und betrachtete Nick mit großen, erstaunten Augen. Er wiegte den Kopf
hin und her, öffnete den Schnabel und gab dann so etwas wie ein belustigtes Kichern von sich. Nick grinste. Er blieb unbeweglich stehen, um den Vogel nicht zu erschrecken. Er sagte: »Hallo.« »Hallo«, erwiderte die Eule und fügte hinzu: »Tk, tk, tsp.« Nick imitierte die Laute: »Tk, tk, tsp. Hallo.« Die Eule – Nick hatte sie der Einfachheit halber so getauft – hüpfte ein kleines Stück näher. Die Arme waren noch immer vor dem Bauch verschränkt. In den großen Augen schimmerte es fast freundlich. Sie machte einige Laute, zirpte und gurgelte. Und dann sagte sie plötzlich: »Vergiß nicht, die Maske anzulegen.« Nicks Kinn sank verblüfft nach unten. Er starrte die Eule fassungslos an, aber dann begann er laut zu lachen, bis ihm die Tränen kamen. Die Eule zog sich etwas zurück, denn das unerwartete Geräusch hatte sie erschreckt. Sie zitterte am ganzen Körper, flog aber nicht weg. Ihr Schnabel öffnete sich mehrmals, dann blieb er geschlossen. Sie sah Nick unentwegt an, der zu lachen aufhörte und sich ganz still verhielt. Die Eule kam wieder näher. Nick ließ sich vorsichtig auf den Boden hinab und setzte sich. Er rückte hin und her, bis er einen bequemen Platz gefunden hatte. Die Eule spreizte ihre Flügel, schlug sie einige Male, dann legte sie sie wieder an. Auch sie schien es sich nun bequem gemacht zu haben. Sie streckte einen Arm aus und deutete mit dem Finger auf Nick.
Nick grinste. Es sah so aus, als habe Monsieur Bernstein in der Unterrichtsstunde auf einen seiner Schüler gezeigt. Die Eule quiekte: »Ei ... tk ... s.« »Ja, ich verstehe dich«, erwiderte Nick mit leiser Stimme. »Du hast eine Zahl gemeint. Eins.« »Eins.« Die Eule hielt zwei Finger hoch und zeigte damit auf Nick. »Zwei«, sagte Nick und spürte, daß er seine Erregung nur mit Mühe unterdrücken konnte. Es war bisher niemand gelungen Verständigung mit den Bewohnern des Mars aufzunehmen. Und die Eule war doch ein Tier ... Nur ein Tier! »Zwei«, sagte die Eule. Dann kicherte sie vergnügt und schaukelte auf ihren Beinen hin und her. Ihre Augen klappten auf, dann wieder zu. Als sie sich erneut öffneten, hätte Nick schwören mögen, daß sein neuer Freund lachte. Das Lachen endete jäh, als der Schuß krachte. Der Körper der Eule wurde von dem Explosionsgeschoß auseinandergerissen. Ein Regen von Federn und schwarzes Blut ging auf Nick nieder. Der Junge sah, wie ein Flügel auf den Boden fiel. Ein Teil des Leibes war fast unversehrt. Ein Fuß zuckte noch. Nicks Vater kam herbeigelaufen. In der Hand hielt er das Gewehr. Sein Gesicht war weiß vor Schreck. Nick stand langsam auf. In seinem Innern fühlte er eine Leere, wie er sie noch nie gefühlt hatte. »Warum ... warum ...?«
Sein Vater packte ihn bei der Schulter. »Ist alles in Ordnung?« fragte er. Seine Stimme wurde durch die Atemmaske gedämpft. Er schüttelte den Jungen hin und her. »Nun rede doch! Bist du verrückt geworden? Weißt du nicht, daß die Tiere gefährlich sind? Der arme alte Doktor Mirsky hat mal versucht, so einen Vogel zu fangen. Er hat ihn gebissen, und der Doktor ist daran gestorben. Und du läufst noch ohne Maske hier herum.« »Vater – es ist nicht gefährlich. Ich habe mit ihm gesprochen.« »Rede keinen Unsinn! Ich bin froh, daß ich dich gefunden habe. Wie lange treibst du das eigentlich schon? Bist du schon oft allein hier draußen gewesen?« »Sehr oft. Wir gehen immer 'raus ... au! Warum schlägst du mich, Vater?« »Ich werde dir helfen! Was ist denn nur mit dir los? Rennst hier draußen herum, als wäre das ein Kinderspielplatz irgendwo in Illinois ...« Er verstummte plötzlich. Tränen standen ihm in den Augen. Er hielt Nick noch immer fest, aber dann seufzte er, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, ließ den Jungen los und griff in die Tasche. Er zog eine Atemmaske daraus hervor und reichte sie seinem Sohn. »Da, leg sie an«, sagte er. Seine Stimme war nicht mehr so streng wie vorher. Nick weinte. Gehorsam streifte er die Maske über. Der scharfe Geruch desinfizierender Chemikalien drang ihm in die Nase. Vorbei war es mit der guten, erfrischenden Luft des Mars. »Tut mir leid, Nick«, sagte sein Vater. »Ich hatte
mir Sorgen um dich gemacht. Es sind nur so wenig Menschen übriggeblieben. Wir müssen vorsichtig sein. Außer uns gibt es keine Menschen mehr.« Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Ich wollte dich nicht erschrecken, Kleiner.« Nick starrte in das Gesicht seines Vaters. Ganz tief in seinem Innern, so tief, daß niemand es hören konnte, sagte er: Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse ... Sein Vater schulterte das Gewehr. »Gehen wir zur Kuppel zurück, mein Sohn.« Er streckte Nick die Hand hin, aber der Junge stieß sie weg. Auf seiner Brust, am rohen Stoff des Overalls, haftete eine kleine Feder, goldorange mit rotem Rand, wie die Farben der Pilzbäume. Nick nahm sie vorsichtig mit den Fingerspitzen, preßte die Lippen fest aufeinander, um nicht aufschreien zu müssen. Ganz fest schloß er sie in die Hand ein. Ich werde zurückkommen, sagte er lautlos zu sich, und es klang wie ein Schwur. Ganz bestimmt werde ich zu euch zurückkommen, und dann werden wir einen Weg finden.
Originaltitel: SOMEBODY TO PLAY WITH Copyright © by Galaxy Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION November-Dezember 1962
Michael G. Coney ESMERALDA Am Tag nach dem Besuch des Medimanns diskutierten Agatha und Becky immer noch über den Zweck seines Kommens. Die leichte Beunruhigung in ihren Überlegungen wurde durch den unerklärlichen Hauch von Rätsel und Geheimnis verursacht, der bei der gestrigen Untersuchung zugegen gewesen war. Ihr altes Haus stand völlig allein zwischen dem Zaun und dem Meer. Es war ein schachtelförmiges Gebäude, einhundert Meter vom Strand entfernt – zwanzig Meilen flaches Land trennten es von der nächsten Metropole. Der Wind blies unaufhörlich von der See herein und pfiff durch die Dachrinne, als wollte er das Haus dem Erdboden gleichmachen. Agatha und Becky waren beide über sechzig Jahre alt und lebten allein; nur der Brontomech, der geistlos seine Arbeit auf den landeinwärts gelegenen Feldern verrichtete, leistete ihnen mit seinem häufigen Dröhnen Gesellschaft. Und seit kurzem Esmeralda. »Der Medimann mochte Esmeralda nicht«, bemerkte Becky beleidigt. Die Möwe saß in einem mit Stroh ausgepolsterten Karton und beobachtete sie mit einem zwinkernden, gelben Auge. Ihre Federn waren jetzt sauber; sorgfältiges Abreiben mit einem Reinigungsmittel hatte den Großteil des klebrigen Rohöls beseitigt. »Er sagte, die Möwe wäre ein nutzloser Vogel«, stimmte Agatha zu, »und besser tot.«
»Aber es war eine Abwechslung, Besuch zu haben. Es ist ...« Becky überlegte. »Es ist mehr als ein Jahr her, nicht wahr, seit wir zum letztenmal Besuch hatten?« »Den Flugmarkt kann man nicht zählen.« Sie wählten einmal wöchentlich die Nummer des Flugmarkts, und er tauchte innerhalb von Minuten am Himmel auf, landete dröhnend, ölige Kieselsteine aufwirbelnd, am Strand und rief die preisgünstigsten Sonderangebote mit mechanischer Stimme aus. »Du hast die Butter vergessen«, warf Agatha Becky vor. »Das letzte Mal hast du die Butter vergessen.« Sie strich eine dünne Schicht Butter auf ihren Toast und biß ab. »Sie berechnen uns die Unkosten für den Flug. Die Butter wird nicht bis zur nächsten Woche reichen, und wir können es uns nicht leisten, den Flugmarkt nur wegen Butter herzubestellen.« Sie nahm Platz und schmatzte mit vollen Backen. »Du wäschst ab«, sagte Becky. »Ich kümmere mich um die Hühner.« Sie erhob sich und ging hinaus. Die Hühner befanden sich im Hof; als sie Becky erblickten, rannten sie ihr gackernd entgegen und scharten sich um ihre Füße. Sie sperrte die Schuppentür auf und fragte sich wieder einmal, warum sie und Agatha sich überhaupt die Mühe machten, ihren Besitz an einem so abgelegenen Ort abzusperren. Im Schuppen gab es nichts Wertvolles – ein Sack Getreide für das Federvieh und eine Bank mit ein paar einfachen Werkzeugen, deren Gebrauch Becky schon lange vergessen hatte. Ein kleines, vergittertes Fenster schien nur widerwillig Licht einzulassen. Ein schmerzhafter Schnabelhieb gegen den Knöchel
zeigte ihr, daß die Hühner ungeduldig wurden, und sie tauchte einen Schöpfer in den offenen Sack, genoß den warmen, staubigen Geruch, spürte einen weiteren Hieb und ging hastig zur Tür, wo sie einen Sprühregen aus Getreide durch die Luft schleuderte. Die Hühner verteilten sich gackernd im Hof; bald trommelten ihre Schnäbel ein klickendes Staccato auf den mit alten Ziegeln gepflasterten Boden. Becky beobachtete sie für einen Augenblick, dann durchquerte sie den Hof und trat durch das Tor zum Strand hinaus. Es war ein dunstiger Morgen. Das Meer war flach und träge und dickflüssig. Rohölklumpen tanzten auf den Wellen, die – müde vom Gewicht der Verschmutzung – sinnlos gegen das Ufer anrannten. Becky begann langsam die Wasserlinie entlangzuwandern und das Treibgut zu untersuchen, das die Flut in der vergangenen Nacht angeschwemmt hatte. Gelegentlich bückte sie sich und hob ein Stück Holz auf – die ölgetränkten Bretter brannten gut, wenn man sie trocknete. Kurze Regenschauer erinnerten sie, daß sie sich beeilen mußte, sonst würde Agatha sich beunruhigen – in ihrem Alter mußte man auf seine Gesundheit achten. Sie waren glücklich. Sie waren beide außergewöhnlich gesund. Als der Medimann gekommen war, hatte dieser Umstand sie mit Stolz erfüllt. Als er sie untersucht und gefragt hatte, ob es da oder dort schmerzte, hatte sie ihm keine Beschwerden nennen können. Er hatte seine Aufzeichnungen zu Rate gezogen, und als er bestätigt fand, daß sie und Agatha tatsächlich
Zwillingsschwestern waren, hatte er recht umgänglich gelächelt. Jeder mochte Zwillinge, besonders eineiige. Agatha hatte ihn gefragt: Sicher habe er bemerkt, das sie eineiige Zwillinge seien. Darauf hatte er mit einer ungewöhnlichen, ziemlich kränkenden Bemerkung geantwortet. Er hatte gesagt, daß für ihn alte Frauen alle gleich ausschauten. Danach war sein Besuch nicht sonderlich gut verlaufen. Er ließ irgendwelche Tabletten da, hatte aber vergessen, ihnen die Dosis mitzuteilen. Sie hatte protestiert, als er ihr eine Spritze gegen ihre sehr leichte Arthritis gab, und er hatte barsch erwidert, daß er keine Zeit für Hausbesuche bei Leuten hätte, die vorbeugende Maßnahmen ablehnten und dann ernsthaft erkrankten. Auch Agatha hatte er zur Sicherheit eine Injektion gegeben und sie kurz vor den Gefahren feuchter Kleidung und kalter Winde gewarnt. Kalte Winde. Ein neuer Windstoß fegte über sie hinweg, und Becky ging etwas schneller, aber nicht weniger achtsam, um auf den glitschigen Kieselsteinen nicht auszurutschen. Ihr Blick fiel auf eine tote Seemöwe, und sie dachte daran, wie sie und Agatha letzte Woche Esmeralda gefunden hatten, hilflos, mit ölverschmierten Flügeln flatternd. Diese Möwe war wirklich tot – sie berührte sie mit dem Fuß, rollte sie herum, und das Tier starrte aus leeren Augenhöhlen zu ihr auf. Zitternd wandte sie sich vom Meer ab und schritt über das kurze, spärliche Gras bis zum Zaun, der ihren Besitz von den staatlichen Feldern trennte. Manchmal entkam eine Henne aus dem Hof und legte unter den verwelkten Büschen hinter dem Haus ein Ei. Ein vertrautes Geräusch veranlaßte sie, aufzublik-
ken. Der Brontomech näherte sich dem Zaun. Sie lehnte sich gegen einen Pfosten aus Beton, um die riesige Maschine zu beobachten, die trotz ihres häufigen Erscheinens erschreckend war – sie beobachtete das mechanische Ungetüm mit einer Faszination, die beinahe auf Hypnose hinauslief. Auf sechs Rädern, jedes mit einem Durchmesser von mindestens zwölf Fuß, rollte der Brontomech über den ebenen Boden. Vorne waren die Sensoren angebracht: Geruchssensoren schnüffelten nach Anzeichen von Verwesung, optische Sensoren spähten in diese und jene Richtung; der Blick eines dieser leblosen, kalten Augen streifte Becky, und sie wich unwillkürlich zurück. Akustische Sensoren lauschten – große, kreisförmige Ohren, die einen Schädling auf fünfzig Meter Entfernung aufspüren konnten. Während Becky den Brontomech beobachtete, drehte sich eines der Ohren und erstarrte, und die optischen Sensoren, die sie als Mensch identifiziert und deshalb das Interesse an ihr verloren hatten, schwangen herum und richteten sich auf einen Punkt etwa zwanzig Fuß vor der Maschine. Ein greller Lichtstrahl fraß sich ins Erdreich und verbrannte ein kleines Fleckchen des goldenen Spätweizens. Im Knistern der Feuersbrunst glaubte Becky das letzte Quieken eines kleinen Tieres zu hören – einer Maus oder eines Hasen. Inzwischen versprühte die Rückseite der Maschine eine Brühe aus flüssigem Dünger und Unkrautvertilgungsmittel, vermischt mit mutierten Samen. Der Brontomech erntete, düngte und säte in einem Arbeitsgang; er mähte und schaufelte Getreide in seinen gewaltigen Magen, zermahlte es und stieß die kurzen Strohhalme wieder aus, düngte das Land und säte für
die Winterernte rasch wachsenden Superkohl. Beckys faszinierter Blick wurde von dem riesigen Maul angezogen, in dem ungestüm wirbelnde Messer funkelten, während die Maschine vorwärts rumpelte. Diese unwiderstehlich vorrückenden, schrecklichen Kiefer hypnotisierten sie beinahe. Becky blieb vorsorglich immer auf ihrer Seite des Zaunes, wenn der Brontomech in der Gegend war. Hypnotismus und vor ihr ein Maul, ungehörte Worte sprechend, die sie im Unbewußten registrierte ... Agatha? Ja, Becky? Agatha trocknete das Frühstücksbesteck mit einem weißen Geschirrtuch in ihren mageren Händen ab. Als dich der Medimann untersuchte – in deinem Zimmer – was hat er da getan? Oh, er fragte mich verschiedene Dinge. Ob die Möwe wohl Speck mag? Agatha begann, die Speckschwarte mit einem glänzenden, scharfen Messer zu zerschneiden. Sie war flink – und Becky schauderte plötzlich und ohne Grund, als die Klinge im Licht aufblitzte. Was fragte er dich? Nichts Besonderes. Wie wir leben, was wir essen, ob es uns hier gefällt, welches Guthaben wir auf der Staatsbank ... Hast du es ihm gesagt? Becky fühlte eine Unruhe und wußte nicht warum. Hast du ihm gesagt, wieviel Geld wir besitzen? Natürlich. Ich vermute, daß er ohnehin Zugang zu den Unterlagen hat – das haben sie alle. Er wollte sich nur überzeugen, daß wir nicht von den Feldern stehlen müssen. Vielleicht dachte er, wir könnten eine staatliche Un-
terstützung brauchen. Und mehr fragte er nicht? Das war alles. Es dauerte nicht lange. Wieder diese schlimmen Ahnungen. Es dauerte länger als eine Dreiviertelstunde, Agatha. »Du warst lange weg.« Agathas Stimme klang verdrießlich. »Ich dachte, du wolltest mir mit dem Gemüse helfen.« »Es tut mir leid.« Es war zwölf Uhr, und die Kartoffeln kochten in einem Topf auf dem Herd. »Du warst zwei Stunden oben in deinem Zimmer.« »Tatsächlich? Ich habe aufgeräumt, das ist alles.« »Du meinst, du hast dich fein gemacht.« Agathas Finger vibrierten, während sie das Brot in Scheiben schnitt, und Becky starrte auf das blanke Messer, das funkelte, bei jedem Schnitt funkelte. »Ich sollte dein Kleid verbrennen. Das sollte ich wirklich.« Becky schwieg schuldbewußt. Sie hatte sich fein gemacht. Als sie die Treppe hinaufgestiegen war, hatte sie sich in Gedanken mit der verlorenen Dreiviertelstunde beschäftigt, denn Agatha hatte gesagt, daß auch sie, Becky, für diese Zeitspanne mit dem Medimann allein gewesen sei. Sie konnte es nicht verstehen. Die Zeit verging so rasch in diesen Tagen. Sie hatte begonnen, zu versuchen, jede einzelne Sekunde bewußt zu erleben und Eindrücke zu sammeln, solange sie es noch vermochte. Sie kannte jede Feder jeder Henne, jeden seltsam geformten Stein am Strand, jede Niete des Brontomechs; sie zählte sie verzweifelt, ängstlich darum bemüht, den Fluß der Zeit zu bremsen. Und gestern hatte sie fast eine Dreiviertelstunde verloren.
Also hatte sie ihr Zimmer aufgesucht und sich an die Vergangenheit erinnert. Zuerst dachte sie über ihre Kindheit nach, und sie nahm die alten, vergilbten Fotos aus der Schublade, auf denen sie und Agatha im Alter von zehn Jahren zu sehen waren; sie trugen die gleiche Kleidung und glichen sich aufs Haar. Was ihr im Zusammenhang mit jenen Tagen als erstes einfiel, war die Langeweile, die sie häufig empfunden hatte. Oft gab es nichts zu tun, und sie und Agatha saßen nörgelnd herum und hofften, die Minuten bis zum Mittagessen mögen schneller verstreichen. Eine Ewigkeit dehnte sich zwischen Frühstück und Mittag ... Irgendwie war es eine glückliche Zeit – vor beinahe fünfundfünfzig Jahren. Mit zwanzig hatte sie Tom geheiratet, und Agatha war ihre Brautjungfer gewesen, und die Hochzeitsgäste hatten eine Unmenge von Scherzen über die Verwechslungen gemacht, die Tom unter bestimmten ausgeklügelten Umständen passieren könnten. Sie sagten zu ihm: Wie kannst du wissen, daß es wirklich Becky ist, mit der du die Hochzeitsnacht verbringst? Tom pflegte sich darüber zu amüsieren. Er antwortete: Wußtet ihr nicht – Becky ist um sechsundzwanzig Minuten jünger. Ich hatte schon immer Appetit auf jüngere Mädchen. Ihr Fleisch ist fester. In Wirklichkeit, ahnte Becky, hatte er sie paradoxerweise gewählt, weil sie weniger tüchtig und zugleich verantwortungsloser als Agatha war. Sie hatte in einem modischen, kurzen, weißen Kleid geheiratet, und Agatha hatte rauchblau getragen. Seit der Hochzeit hatte Becky Agathas Kleid nicht mehr gesehen, aber ihr eigenes weißes Kleid bewahrte sie seit damals im Originalkarton auf.
Manchmal zog sie es an, wie auch an diesem Morgen. Einmal hatte Agatha sie dabei ertappt und unhöflich angefahren, daß sie obszön aussähe; wie ein als Lamm verkleidetes Hammelfleisch. Agathas Einstellung gegenüber Tom war immer reserviert gewesen – beinahe hatte es den Anschein, als ginge sie ihm aus dem Weg. Während der zehn Jahre ihrer Ehe, bis Tom bei einem Einschienenbahnunglück starb, hatte Becky ihre Zwillingsschwester nur selten zu Gesicht bekommen. Dann jedoch war ihre Beziehung wieder enger geworden, und sie waren hierher nach Bourton Wash gezogen. Agatha brachte Beckys Ehe niemals zur Sprache, sondern tat, als hätten sie immer zusammen gelebt. »Es tut mir leid«, wiederholte Becky. »Schon gut«, erwiderte Agatha und kostete die Bratensoße. Sie war eine gute Köchin und freute sich über jede gelungene kulinarische Leistung. Später, als sie sich zu Tisch setzten, stand Esmeraldas Schachtel ihnen gegenüber auf einem dritten Stuhl. Becky fütterte die Möwe mit Fleischstückchen, die der Vogel geschickt aus ihren Fingern schnappte. »Am Donnerstag haben wir Geburtstag«, bemerkte Agatha. »Ist es dir aufgefallen – Esmeralda schaut heute schon viel besser aus. Ich denke ...« Becky zögerte. »Ich denke, wir sollten sie bald freilassen. Bringen wir sie in den Hof, dann werden wir sehen, ob sie fliegen kann. Es wäre grausam, sie noch länger einzusperren, jetzt, da es ihr wieder gut geht.« »Ich werde eine Torte backen.« Agatha war mit ih-
ren eigenen Überlegungen beschäftigt. »Mit viel Zukkerguß und fünfundsechzig Kerzen – oder einhundertunddreißig.« Dies erregte Beckys Aufmerksamkeit. »Wir haben nicht so viele Kerzen im Haus, Agatha«, wandte sie ein. »Und es wäre zu teuer sie vom Flugmarkt zu kaufen. Warum begnügen wir uns nicht mit zwei Kerzen, für jede von uns eine? Bei zu vielen Kerzen würde ich mich alt fühlen.« »Beide zusammen sind wir einhundertunddreißig Jahre alt«, stellte Agatha belehrend fest. »Hast du je daran gedacht, Becky?« »Das bedeutet überhaupt nichts«, widersprach Becky. »Ein Zahlenspiel, nichts weiter.« »Du sagtest etwas über die Möwe.« »Nimm an, wir lassen sie frei: Was ist, wenn sie wegfliegt?« »Das wäre eine gute Sache, nicht wahr?« »Ich glaube nicht, daß wir sie jemals wiedersehen würden.« Becky betrachtete die Seemöwe. Der Vogel war unruhig – seine Augen glänzten. Von Zeit zu Zeit bewegte er seine Schwingen und glättete sein Gefieder. »Vielleicht machst du dir zu viele Gedanken über diese Möwe«, sagte Agatha. »Es ist nur ein Vogel. Ich denke, es war ein Fehler, ihr einen Namen zu geben. Warum eigentlich Esmeralda? Du weißt nicht einmal, ob es ein Weibchen ist.« »Sie schaut eben wie eine Esmeralda aus«, sagte Becky hilflos. »Sie leistet uns Gesellschaft, findest du nicht auch?« »Wir werden sehen, was passiert, wenn wir sie hinaustragen«, erwiderte Agatha geheimnisvoll.
Verschwommen hatte Becky das Gefühl, daß zwischen ihrer Schwester und ihr eine Art Konkurrenzkampf herrschte. Sie berührte die Halsfedern des Vogels und stellte erfreut fest, daß die Möwe keine Angst zeigte. »Ich sehe nicht ein, warum ein Vogel nützlich sein muß«, sagte sie. »Nicht mehr, als du und ich nützlich sein müssen.« »Du denkst wieder an die Worte des Medimanns. Er kommt, um sich um uns zu kümmern, und du kümmerst dich um deinen Vogel. Vielleicht spielt Nützlichkeit keine Rolle.« »Der Brontomech tötet alles, was sich bewegt. Außer Menschen.« Beckys Stimme klang gekränkt. »Schädlinge sind nutzlos.« Beckys Blick wanderte durch den kleinen Raum mit den alten Möbeln. Aus einem Riß im Sofa quoll Schaumgummi, und der Teppich war abgetreten. Sprünge zerteilten den Plafond wie ein Mosaik. Der Gestank des Rohöls hing schwer in der Luft. »Der Brontomech wurde von Menschen programmiert«, sagte sie. »Besitzen wir ein Monopol auf Nützlichkeit?« Zwei Tage später schauten die Frauen angestrengt in die Tiefen des Brunnenschachtes. Das Wasser stand noch, und ein Kaleidoskop von Regenbogenfarben schimmerte auf der Oberfläche. »Es ist Öl«, sagte Agatha. »Es ist Öl, das irgendwo durchsickert. Man kann von einem Brunnen so nahe am Meer nichts Besseres erwarten. Und das Land ist zu flach. Wir sollten lieber auf dem Dach das Regenwasser auffangen.«
»Das würde Geld kosten«, warf Becky ein, »und auch Zeit. Was machen wir bis dahin?« »Das da trinken. Wir haben es immer verwendet. Wir müssen nur aufpassen, daß wir den obersten Zoll oder so, wo das Öl ist, wegschütten.« »Mir ist schon immer aufgefallen, daß unser Wasser brackig schmeckt. Ich nehme an, daß schon immer Meerwasser in den Brunnen sickerte.« Becky sah ihre Schwester beunruhigt an. »Es heißt, man wird verrückt, wenn man Meerwasser trinkt. Und es ist noch anderes Zeug darinnen – Detergentien, Gifte und so weiter, aus den Abwässern der Städte.« Sie richtete sich auf, ihr Gesicht voller Entschlossenheit. »Ich werde den Medimann anrufen«, sagte sie bestimmt. »Ich werde mich vergewissern, daß es ungefährlich ist, dieses Zeug zu trinken.« Sie ging zum Haus. Agatha folgte ihr. »Wir könnten beantragen, an das Bewässerungssystem angeschlossen zu werden«, sagte Agatha. »Unter den Feldern gibt es ein ganzes Netz von Leitungen.« Sie schwenkte die Hand in Richtung des Zaunes, hinter dem der Brontomech lärmte. »Erinnerst du dich – wir sahen sie vor Jahren die Rohre verlegen.« »Es sind Abwässerrohre«, erwiderte Becky mit ungewohnter Schärfe. »Die Männer sagten, daß es Abwässerrohre sind.« »Wir wollen nicht voreilig handeln.« Die Vorstellung, den Medimann anzurufen, behagte Agatha nicht. »Lassen wir uns das Ganze erst mal durch den Kopf gehen.« Sie verfolgte Becky ins Haus, wo Esmeraldas Schrei sie begrüßte. »Bringen wir Esmeralda doch in den Hof hinaus.« Es war das erste Mal, daß sie den Vogel beim Na-
men nannte. Aber Becky war beim Anblick des Messers auf dem Tisch erstarrt, und unzusammenhängende Gedanken kamen ihr in den Sinn. Sonst befand sich nur noch Esmeralda in ihrem Karton auf dem Tisch. Irgendwie schien es wichtig zu sein, die Möwe aus der Nähe des Messers, des scharfen, glänzenden Küchenmessers, zu entfernen. Esmeralda war ein nutzloser Vogel ... Rasch hob sie die Schachtel auf. Agatha, im Glauben, Becky überzeugt zu haben, folgte ihr wieder ins Freie hinaus. Schweigend stellte Becky den Karton auf das Ziegelpflaster des Hofes. Ein paar Hühner rannten neugierig herbei. Becky verscheuchte sie und kippte die Schachtel ein wenig, so daß Esmeralda schwankend über den Rand steigen konnte. Für einen Augenblick hielt die Möwe inne und schaute sich um. Dann flatterte sie versuchsweise mit ihren Flügeln, bewegte sie auf und ab und legte sie wieder an, zuckte mit den Schwanzfedern und schüttelte sich. Sie begann, ihr Gefieder zu putzen. »Sie hat vergessen, wie man fliegt«, vermutete Agatha. Becky brach ihr langes Schweigen. »Nein. Schau.« Erneut hatte Esmeralda ihre Schwingen ausgebreitet. Mit vorgestrecktem Hals stürzte sie los; ihre Füße klatschten auf die Ziegel, ihre Flügel schlugen schwerfällig – und sie erhob sich in die Luft. Sie flog. Selbstsicherer nun kreiste sie im Hof, dann schraubte sie sich höher, bis sie ein kleines Kreuz am Himmel war. Sie kehrte im Gleitflug in Bodennähe zurück und sauste knapp über ihren Köpfen vorbei in Richtung des Zaunes.
»Esmeralda!« schrie Becky. »Nein!« Der dröhnende Brontomech arbeitete auf den Feldern, und der Vogel flog auf ihn zu. Sensoren richteten sich auf den Eindringling. Lichtnadeln durchstießen die Luft. Esmeralda wendete abrupt und kämpfte um Höhe, als von ihren Schwanzfedern Rauch aufstieg. Dann schoß sie wieder am Haus vorbei, und der Brontomech verlor das Interesse an ihr. Sie segelte über dem Strand, als müßte sie sich ihr nächstes Ziel überlegen, und senkte sich dann, die geschwärzten Schwanzfedern gespreizt, zum Meer hinab. Im letzten Augenblick muß sie sich erinnert haben; sie stieg höher ließ die ölbedeckte Oberfläche unter sich zurück, änderte die Flugrichtung und landete schwerfällig am Strand. Becky eilte auf sie zu. »Es ist alles in Ordnung, Esmeralda«, beteuerte sie verzweifelt. »Halte dich nur von dieser Maschine fern. Und vom Meer.« Als Agatha sich ihnen näherte, hob der Vogel wieder ab und bewegte sich entschlossen auf das Haus zu. »Sie kann dich nicht verstehen, weißt du«, sagte Agatha. »Sie ist nur ein Vogel.« Eine glänzende Träne rollte langsam über Beckys runzelige Wange. »Sie scheint hier so fehl am Platz.« Sie beobachteten, wie Esmeralda einmal das Haus umrundete, dann landeinwärts über den Zaun und wieder in Richtung des Brontomechs flog. Dieses Mal ignorierte das Ungetüm sie, da seine Aufmerksamkeit davon beansprucht wurde, ein kleines Tier zu seiner Linken aufzustöbern und zu verbrennen. Nadeln aus Licht stachen gehässig in den Boden, es prasselte und blitzte.
Ungehindert ging Esmeralda in den Sturzflug über. »Was macht sie denn?« schrie Becky auf. Ein optischer Sensor schwankte herum und starrte den Vogel unheilvoll an. Esmeralda schoß knapp über dem Boden dahin, geradewegs ins Maul des Brontomechs. Sie verpuffte augenblicklich in einer Wolke pulverisierter Federn. Wie weißer Rauch ... »Ich sagte dir, daß sie nicht verstehen kann«, meinte Agatha. Becky schwieg für eine Weile, während sie zurück zum Haus gingen. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Vielleicht verstand sie doch.« Das Messer lag auf dem Tisch, aber der Vogel war verschwunden. »Rede keinen Unsinn«, sagte Agatha. Becky stand vor dem Visifon und wählte mit zitternden Fingern. Der Bildschirm leuchtete auf. Das Gesicht des Medimanns starrte ihr kalt entgegen. »Ja?« »Esmeralda flog in den Brontomech«, platzte Becky heraus. »Worüber um alles in der Welt sprechen Sie, Frau? Wer sind Sie? Identifizieren Sie sich.« »Becky Harrison. Sie haben meine Schwester und mich vor einem oder zwei Tagen besucht. Erinnern Sie sich?« Das Gesicht auf dem Schirm wurde größer, als sich der Medimann angestrengt schauend vorbeugte. »O ja. Alte Frauen sehen für mich alle gleich aus. Was wünschen Sie?« Becky ordnete ihre Gedanken. »Wir haben einen
Brunnen«, erklärte sie, »aus dem wir unser Trinkwasser bekommen. Heute ist Öl im Brunnen.« »Gratuliere«, meinte der Medimann sarkastisch. »Sie mißverstehen mich.« Becky war verzweifelt. »Wir haben nichts zu trinken. Wir können kein öliges Wasser trinken – oder?« »Sie können«, entgegnete der Medimann glatt. »Es wird Ihnen nicht im geringsten schaden. Tatsächlich könnte es sogar eine leicht heilsame Wirkung haben.« Der Schirm erlosch. Er hatte aufgelegt. Becky starrte Agatha an. Unbestimmte Ängste umklammerten ihren Brustkorb und schnürten ihr die Luft ab; formlose Ängste, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte. »Was geht da vor sich?« flüsterte sie. »Was ist das für ein Medimann? Er lachte mich aus. Und – warum erwähnte ich Esmeralda? Was geschieht mit mir?« Abrupt setzte sie sich. Sie zitterte. Agatha beobachtete sie. »Du bist wegen dieses Vogels durcheinander«, sagte sie. »Du hast gehört, was er sagte. Wir können das Wasser trinken. Nur das zählt, wirklich. Der Vogel war nur ein Vogel. Komm, vergiß deinen Trübsinn! Morgen werden wir eine Geburtstagstorte bakken.« Becky beobachtete stumpf, wie Agatha zerstreut mit dem Messer spielte. Die Torte war eine Tradition. Jedes Jahr backten sie sie am Nachmittag des Tages vor dem Geburtstag, wobei sie stets in der gleichen Weise vorgingen – Becky backte die Torte, während Agatha sie beobachtete und kritisierte, weil Agatha in Wirklichkeit
die bessere Köchin war, die Torte jedoch ein gemeinsames Unternehmen zu sein hatte. Das Verzieren besorgte Agatha allein: einfacher Zuckerguß und am Rand ein mit Schlagsahne aufgespritztes Muster. Wie gewöhnlich hatte Becky das Rezept vergessen, und Agatha stand hinter ihr und blickte ihr über die Schulter, während sie unsicher die Zutaten mischte. »Mehr Sultaninen«, riet Agatha. Etwas rührte sich in einer abgelegenen Ecke von Beckys Gehirn, und sie konnte es nicht exakt identifizieren, aber sie wußte, daß es mit Kerzen zu tun hatte. »Warum wolltest du Kerzen auf die Torte stekken?« fragte sie. »Wir hatten bisher nie welche. Es war ein lächerlicher Vorschlag.« Sie ärgerte sich über ihr Gedächtnis, die Art, wie sie immer das Rezept für die Torte vergaß, und ließ vielleicht aus diesem Grund eine verbale Offensive gegen Agatha vom Stapel. »Wie willst du denn bloß einhundertunddreißig Kerzen auf einer Torte unterbringen?« Auch Agathas Gedächtnis wies immer häufiger Lücken auf. »Sagte ich das?« »Ganz bestimmt. Du meintest es völlig im Ernst. Es brachte mich aus der Fassung. Daran erinnert zu werden, daß man altert, gehört nicht zu den angenehmsten Dingen des Lebens. Ich habe das Stadium erreicht, in dem ich vergesse, wie alt wir genau sind, und mir gefällt es so – da!« Sie trat zurück und bewunderte den Teig. Sie füllte ihn in die Backform und glättete ihn. »Schaut gut aus. Du wirst sie heute abend verzieren können.« »Hast du den Flugmarkt angerufen?«
Becky überlegte. »Nein. Es ist mir ganz entfallen, weil ich mit meinen Gedanken bei der Torte war. Ruf du an. Ich schiebe die Torte in den Ofen.« »Du weißt, daß wir uns an unserem Geburtstag immer ein Gläschen Alkohol gönnen«, murrte Agatha, als sie ins Wohnzimmer ging. »Und Nüsse und Kekse und Kartoffelchips.« Becky öffnete den Backofen und stellte die Torte auf den Rost. Insgeheim beglückwünschte sie sich, daß sie sich an die richtige Temperaturstufe erinnerte. Sie schloß den Ofen, als Agatha wieder in der Tür erschien. »Becky, etwas Seltsames ist geschehen. Ich wählte den Flugmarkt – da bin ich ganz sicher –, aber versehentlich wurde ich mit dem Medimann verbunden.« »Oh? Was sagte er?« »Er war ein wenig verärgert – zuerst erkannte er mich nicht. Ich erzählte ihm, daß wir eine Torte bakken, und er meinte, wir sollten sie uns schmecken lassen und legte auf.« Ein leichtes Triumphgefühl stieg in Becky auf. Agatha hatte einen Fehler gemacht. »Laß mich probieren«, sagte sie. Sie wählte. Der Bildschirm leuchtete auf. Das Gesicht des Medimanns erschien. Abrupt legte Becky auf. »Es ist dir auch nicht gelungen«, frohlockte Agatha. »Du hast die falsche Nummer gewählt. Ich sah es. Ich beobachtete dich. Hier, laß mich an den Apparat.« Sie drängte Becky beiseite und wählte. Auf dem Schirm flackerten Buchstaben: FLUGMARKT OSTKÜSTE. Eine metallene Stimme befahl:
»Identifizieren Sie sich und nennen Sie Ihre Bestellung.« »Agatha Elrood und Becky Harrison, gemeinsames Konto. Party-Sortiment einschließlich Alkohol, bitte. Oh, und auch Grundnahrungsmittel.« »Gespeichert.« Der Schirm erlosch. Becky sagte: »Ich gehe spazieren.« Sie ging langsam den schmalen Kiesstrand entlang, die Augen automatisch auf die schwarze Gezeitenmarke gerichtet. Die Entfernung vom Haus zum nördlichen Ende des Strandes betrug ungefähr zweihundert Meter, und sie erreichte bald die Stelle, wo die Kieselsteine großen, rundgespülten Felsblöcken wichen. Als die Zwillinge hierher nach Bourton Wash gezogen waren, war es möglich gewesen, die Spitze der Landzunge zu umrunden, während die Wellen an den Füßen plätscherten, und auf diese Weise den Strand auf der anderen Seite der Landzunge zu erreichen. Jetzt allerdings waren die flachen Felsen, die diesen Weg bildeten, so dick mit einer Kruste schmierigen Rohöls bedeckt, daß der Pfad kaum zu benutzen war. Sie hatte den anderen Strand seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie spürte einen plötzlichen Zwang, ein seltsames Verlangen, wieder einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Zu ängstlich, auf die vom Öl glitschigen Felsen zu steigen, zögerte sie, bis es ihr in den Sinn kam, den Weg durchs Binnenland, quer über die Landzunge, zu nehmen. Sie verließ das Ufer, ging den Strand hinauf und über das rauhe Gras und folgte einem schmalen Pfad, der sich zwischen niedrigen Büschen
den Hügel hinaufschlängelte. Bald blieben die Büsche hinter ihr zurück, und sie gelangte auf eine breite Grasfläche, etwa zwanzig Fuß über dem Meeresspiegel. Vor ihren Augen erstreckte sich der andere Strand, der eine leichte Krümmung beschrieb und mit einer Landzunge ähnlich jener, auf der sie stand, aufhörte. Der Strand sah genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte: schwarz und schmal, auf der einen Seite von der trägen See begrenzt und auf der landeinwärts gelegenen Seite vom Zaun, der die staatlichen Felder umgab. Tatsächlich schienen die beiden Strände identisch zu sein. Sie drehte sich um, um sich davon zu überzeugen. Ja, ließ man das Haus außer acht, dann glichen sie sich aufs Haar. Gegenwärtig war das Haus ein Zentrum der Aktivität, denn soeben landete der knallrote Flugmarkt, eine Staubwolke aufwirbelnd, außerhalb des Hofes. Sie sah Agatha aus dem Haus kommen und den Hof durchqueren, das Tor öffnen und die Waren hinter der Auslagenscheibe begutachten. Trotz der kurzlebigen Aktivität war es ein eigenartig trostloses Bild, und ein paar Minuten später, als der Flugmarkt aufbrach und Agatha ins Haus zurückkehrte, war es ausgesprochen deprimierend; eine unsichtbare Drohung lastete schwer auf der Landschaft. Becky überlegte und entschied, daß das eine Folge des Eindrucks von Begrenztheit war, den ihr die Landzunge vermittelte. Von allen Seiten drang die feindliche Umwelt auf das Haus ein. Zur Linken war das Meer, schwarz und schmutzig und sich gierig gegen den Strand werfend; dann kam der dünne Streifen Land, das ihnen gehörte, und auf der rechten Seite befanden sich der Zaun und die staatlichen Fel-
der und der Brontomech. Im Augenblick verbrannte die riesige Maschine mit ihren Lichtpfeilen einen Schwarm Krähen, der es gewagt hatte, zwischen dem Getreide eine Rast einzulegen. Sie dachte an Esmeralda, als sie langsam zum Haus zurückwanderte. Agatha war im Wohnzimmer, wo sie einen kleinen Haufen gekaufter Waren auf dem Tisch überprüfte. Becky gesellte sich zu ihr. »Wo ist der Sherry?« fragte sie. Agatha blickte sie leer an. Auf dem Tisch lagen ein Pfund Butter, eine Schachtel Streichhölzer, ein Laib Brot und eine Flasche mit einem Reinigungsmittel. »Der Sherry«, wiederholte Becky heftig. »Und die Nüsse und die Schokolade und die anderen Naschereien für unsere Party. Wo sind sie?« »Wir brauchten diese Dinge hier«, antwortete Agatha schließlich, einen Ausdruck leichter Verwirrung in ihren Augen. »Letztes Mal hast du die Butter vergessen, erinnerst du dich?« »Das weiß ich. Darüber haben wir bereits diskutiert. Was ist mit den Sachen für die Party? Das war ja der Grund, weshalb wir den Flugmarkt herbestellten. Du hast die Party doch nicht etwa vergessen?« »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Agatha langsam. »Ich ging hinaus zum Flugmarkt und kaufte die Dinge, von denen ich glaubte, daß wir sie wollten. Die Sachen für die Party bekam ich nicht.« Ihre Stimme wurde um eine Spur lauter. »Ich bekam sie nicht. Das ist alles, was es zu sagen gibt. Ich weiß nicht, warum. Ich – ich bekam sie einfach nicht, nichts weiter!« Die Hysterie in Agathas Stimme erschreckte Becky.
Was ihre Geburtstagsparty anging, waren die beiden Frauen sehr gewissenhaft. Jedes Jahr begann sie um fünfzehn Uhr. Am Morgen hatten sie eifrig die letzten Vorbereitungen getroffen, und Becky hatte Agatha ihre Fehlleistung bezüglich des Sherrys verziehen, insbesondere da sie eine halbvolle Flasche vom letzten Jahr gefunden hatten. Sie verzichteten auf das Mittagessen, sondern begnügten sich mit einem ausgiebigen, späten Frühstück – dann beendete Agatha das Verzieren der Torte, weil sie infolge der Aufregung über den Sherry am Abend zuvor nicht fertig geworden war. Unterdessen dekorierte Becky den Raum mit Papierschlangen und deckte den Tisch. Pünktlich um fünfzehn Uhr nahm Becky Platz, und Agatha holte, wie die Tradition es verlangte, die Torte aus der Küche, stellte sie auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. »Alles Gute zum Geburtstag, Becky«, sagte sie. »Alles Gute zum Geburtstag, Agatha. Wie fühlst du dich, wieder um ein Jahr älter?« Auch ihre Unterhaltung war traditionell, genauso wie Agathas Blick auf ihre Armbanduhr. »Gewähre mir sieben Minuten, und ich werde es dir sagen.« Sie war um 15 Uhr 07 geboren worden. An dieser Stelle wich das Gespräch abrupt vom üblichen Schema ab. Becky starrte mit wachsbleichem Gesicht auf die Torte. »Warum hast du das getan?« flüsterte sie. »Agatha, warum? Du hast es nie zuvor getan.« Die Torte besaß einen Zierrand aus Schlagsahne – und in der Mitte befanden sich die Worte: AGATHA & BECKY, 65 JAHRE.
»Es ist wahr«, sagte Agatha. »Wir führten ein gutes, glückliches Leben, und jetzt ...« »Aber warum ausgerechnet in diesem Jahr darauf hinweisen? Du kennst meine Einstellung zu unserem Alter.« »Sieh den Tatsachen ins Auge, Becky.« Agathas Gesicht war eigenartig leer. Sie schwieg für eine Weile. Dann: »Entschuldige mich einen Augenblick.« Sie erhob sich und verließ den Raum – Becky hörte ihre Schritte auf der Treppe. Becky saß allein im Speisezimmer, und ihre Unruhe wuchs. Was war denn nur in Agatha gefahren? Die Torte schien Beckys Augen auf sich zu ziehen – die Worte brannten sich in ihr Gehirn ein: Agatha und Becky, fünfundsechzig Jahre. Agatha und Becky, 65 Jahre ... »Wo sind die Tabletten? Was hast du mit den Tabletten gemacht?« Agatha war zurückgekehrt; sie stand neben Beckys Stuhl, und ihr Gesicht war älter, hohlwangig. »Tabletten?« wiederholte Becky. »Die Tabletten, die uns der Medimann gab. Wo hast du sie versteckt? Sie sind nicht im Badezimmer.« »Nein, sie sind ...« Becky brach ab. Seit Tagen hatte sie sich über diese Tabletten gewundert. Der Medimann hatte ihr eine Spritze gegen ihre Arthritis gegeben. Anscheinend hatte auch Agatha eine Injektion bekommen, obwohl Agatha nicht an Arthritis litt. Was bezweckte der Medimann damit? Sie traute ihm nicht. Tief in ihrem Inneren ahnte sie, daß den Tabletten eine schreckliche Bedeutung innewohnte. Wofür waren sie bestimmt? Um Gottes willen, wofür waren sie bestimmt?
Agatha und Becky, fünfundsechzig Jahre ... »Ich habe keine Ahnung, wo sie sind«, sagte sie fest. »Setz dich, Agatha. Du verdirbst unsere Party.« Und in ihrem Kopf flüsterte eine dünne Stimme: Es gibt immer einen anderen Weg. Der Tod ist überall – man braucht nur die Hand auszustrecken ... Agatha setzte sich, ihre Augen abwesend und doch gespannt, wie die Augen einer Person, die einem Kopfhörer lauscht. Auch Agatha vernahm die Stimme. Plötzlich begann sie zu sprechen, in einem gekünstelten Tonfall: »Ich schneide die Torte an.« Sie griff nach dem Messer, dem funkelnden Küchenmesser. Becky stieß einen leisen, hilflosen Schrei aus. Agatha lächelte, ein blutrotes Lächeln an ihrer Kehle, während das Blut über den Tisch spritzte. Dann kippte sie vornüber, und ihr Kopf legte sich auf die Torte, und der weiße Zuckerguß wurde rot. Entsetzt wich Becky vom Tisch zurück. Etwas in ihr zwang sie, einen Blick auf die Wanduhr zu werfen, obwohl sie es nicht wollte, und die Uhr zeigte sieben Minuten nach drei, und sie tickte ein gleichmäßiges Tick, Tick, das mit dem Tropfgeräusch vom Tisch harmonierte, wo Agatha nach einem genau fünfundsechzig Jahre währenden Leben lag, als würde sie schlafen. Gemäß den gesetzlichen Vorschriften ... In diesem Moment kehrte die Erinnerung zurück. Der Schock, den ihr Agathas Tod versetzt hatte, riß eine Barriere nieder, und sie erinnerte sich an das Euthanasiegesetz, das zu vergessen ihr vor zehn Jahren hypnotisch befohlen worden war, und sie erinnerte
sich, was der Medimann ihr letzte Woche auf dem Sofa gesagt hatte. Sie sind eine nutzlose alte Frau, hatte er gesagt, nachdem er ihr eine Hypnospritze gegeben hatte, und haben keinen Anspruch, länger als fünfundsechzig Jahre zu leben. Ich werde Ihnen einige Tabletten geben ... Die Hypnose hatte nicht völlig gewirkt, denn sie hatte sich halb an die Tabletten erinnert und sie versteckt, und das Messer hatte ihr seit Tagen einen Schrecken eingejagt. Und jetzt, da Agatha tot war, fiel ihr das alles ein, und sie fürchtete sich vor allem. Wieder schaute sie auf die Uhr und es war zehn Minuten nach drei. Sie war um sechsundzwanzig Minuten jünger als Agatha. Sie eilte die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, riß die Schublade heraus und streute den Inhalt auf den Boden: Kleidung, zwei Schmuckkästchen, mehrere alte Briefe und die Schachtel Tabletten. Sie nahm die Schachtel und stolperte die Stufen hinunter, und ihr Verstand schrie Schneller! und ihr Herz ächzte Langsam! Sie ging ins Speisezimmer, versuchte, Agatha zu ignorieren, und hob das Messer auf. Im Hof, dem mit Ziegeln gepflasterten, gewöhnlichen, alltäglichen Hof mit den gackernden Hühnern, warf sie das Messer und die Tabletten in den Brunnenschacht. Danach ging sie zum Schuppen, sperrte auf und trat ein; ihre Armbanduhr zeigte fünfzehn Minuten nach drei. Sie schloß die Tür von innen wieder ab und schleuderte den Schlüssel durch das winzige, vergitterte Fenster. Dann setzte sie sich auf den Getreidesack und wartete auf den Befehl zu sterben.
Sie faltete die Hände im Schoß und bewegte unruhig die Finger, während sie unbehaglich auf dem Sack hin und her rutschte. Wie von einem eigenen Willen beseelt, wanderte ihr Blick immer wieder zur Armbanduhr. Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch das Fenster und erhellte die Werkbank. Ein Hammer lag dort und ein Drillbohrer, und am Rand des Holzes war ein Schraubstock befestigt. Kein scharfer Gegenstand, nichts Letales. Das Flüstern in ihrem Kopf begann um halb vier. Du hast fünfundsechzig Jahre gelebt, und es war ein gutes, glückliches Leben, aber jetzt bist du müde. Jetzt mußt du diesem Leben ade sagen, weil der Kampf ums Überlegen zu anstrengend ist. Jeden Tag fällt es schwerer, aufzustehen, sich anzuziehen, all die Arbeiten zu verrichten, die getan werden müssen. Alter zu werden ist keine Schande – vorausgesetzt, man gesteht es sich ein, sieht den Tatsachen ins Auge. Der Staat ist dankbar für die wunderbaren Dienstleistungen, die du zu deinen Lebzeiten erbracht hast, und der Staat bietet dir eine barmherzige Möglichkeit an, aus diesem Leben zu scheiden, nun, da dir die Alltagssorgen über den Kopf wachsen. Beckys Kehle trocknete aus als ihr bewußt wurde, wie rücksichtsvoll der Staat war, und Tränen rannen feucht über ihre Wangen, als sie sich ihre eigene Treulosigkeit ins Gedächtnis rief. Sie hatte den Staat verraten. Fürchte dich nicht. Fürchte dich nicht vor dem Sterben – wir haben für einen leichten Tod gesorgt. Du wirst nichts spüren. Du wirst einschlafen, und du möchtest gerne einschlafen, weil du dich so müde fühlst. So unsagbar müde nach deinem langen, guten Leben, in dem du dem Staat gedient hast. Und denke daran, daß der Tod nicht das Ende
bedeutet – vielmehr ist er ein neuer Beginn, wie du in der Staatskirche gelernt hast. Erinnerst du dich an diese Lektionen? Selbstverständlich erinnerst du dich. Du wurdest in deiner Kindheit gut unterrichtet, und dein Herz sagt dir, daß seinem Abgang aus dieser Welt eine Ankunft in einem neuen und schöneren Leben folgen wird, dem Leben nach dem Tod. Eine wunderbare Zukunft steht dir bevor, und die Tabletten, die dir der Staat in seiner Güte zur Verfügung gestellt hat, sind der Schlüssel zu dieser Zukunft. Hol die Tabletten. Becky war von dem Sack aufgestanden; unkontrolliert schluchzend umklammerte sie die Gitterstäbe des Fensters. »Ich kann die Tabletten nicht holen«, weinte sie. »Ich warf sie in den Brunnen. Gütiger Gott im Himmel, ich warf sie in den Brunnen!« Sie versuchte, die Stangen auseinanderzubiegen. Sie konnte den Schlüssel sehen, der unerreichbar im Hof lag. Manchmal wurden die Tabletten unabsichtlich verlegt, aber es gibt immer einen anderen Weg. Der Tod ist überall – man braucht nur die Hand auszustrecken, um den Frieden zu finden, den man sucht. Tu es! Tu es jetzt! »Ich kann nicht!« Beckys irrer Blick hetzte durch den kleinen Schuppen. »Es gibt keinen Weg. Glaubt mir, ich möchte es tun, aber es gibt keinen Weg.« Der Hammer, der Drillbohrer, ein paar stumpfe Gegenstände aus Metall, aber klein und stumpf. Tu es jetzt, zögere nicht. Du möchtest es tun, also tu es. Jetzt! »Ich möchte es tun!« An einem Nagel in der Wand hing eine Axt. Es war
eine lange Waldarbeiteraxt, und die Schneide war rostig aber scharf. Becky ergriff sie, ohne ihr Gewicht zu berücksichtigen; sie fiel auf den Boden. Jetzt. Becky hatte das Beil aufgehoben; sie schwang es ungeschickt, und in der Aufwärtsbewegung schmetterte es gegen die Unterseite der Werkbank, daß es ihr beinahe aus der Hand gerissen wurde. Sie trat zurück und schwang es wieder. Ihr Herz hämmerte, und auf einmal erkannte sie, daß es keinen Sinn hatte, weil die Axt so unhandlich war, daß sie sich nicht schwer genug verletzen würde. Weinend vor Verzweiflung und Frustration stand sie in dem kleinen Holzschuppen und wirbelte die Axt über ihrem Kopf im Kreis. Die Klinge traf die Tür, und das Holz zersplitterte. Fieberhaft schlug sie darauf ein. Sie konnte sich einen Weg ins Freie bahnen und ein Messer aus der Küche holen! Sie ermüdete rasch. Die Axt war schwer, drohte ihr zu entgleiten. Ihre Stirn war schweißbedeckt, und sie fühlte, daß sie nicht durchhalten würde. Einmal mehr krachte die Axt mit voller Wucht gegen das Holz. Die Tür schwang auf. Becky stolperte in den Hof hinaus. Vor ihr das Haus, schwarz und groß, und in der Mitte des Hofes der steinerne Kreis des Brunnenschachts. Die Hühner umringten sie gackernd. Automatisch drehte sie sich um, kehrte in den Schuppen zurück und füllte den Schöpfer mit Getreide. Sie streute es in den Hof, und das Gackern der Hühner steigerte sich zu einem schrillen Crescendo, als sie um ihren Anteil stritten. Verwirrt beobachtete sie die Tiere. Das war etwas,
an das sie sich zu erinnern versuchte. Sie schaute auf ihre Uhr. Es war 15 Uhr 35. Die Stimme in ihrem Gehirn schwieg. Welche Stimme? Es dauerte lange, ehe sie ins Haus ging, und dann konnte sie sich überzeugen, daß sie eine Stimme wahrgenommen hatte, denn auch Agatha hatte sie gehört, und Agatha lag tot quer über den Tisch. Scharlachrote Flecken beschmutzten das weiße Tischtuch, und Becky wußte, daß sie es niemals sauber bekommen würde. Im Speisezimmer herrschte ein wüstes Durcheinander, und sie hatte ihr bestes Küchenmesser in den Brunnen geworfen. Ja, und im Brunnen war Öl, und das Wasser schmeckte komisch. Sie ging die Treppe hinauf. Im Hochzeitskleid vor dem großen Wandspiegel stehend, bewunderte sie sich selbst, und es fiel ihr ein, wie auch Tom sie bewundert hatte, an jenem glücklichen Tag vor vielen Jahren. Eigentlich hatte Agatha Tom nie gemocht – jedes Zusammentreffen der beiden war früher oder später in peinliches Schweigen ausgeartet. Aber nun war Tom tot – und Agatha ebenfalls, erinnerte sie sich. Im Jenseits begegneten sie einander wieder ... Rasch sagte sie sich, daß das Unsinn war. In Wirklichkeit hatte sie diesen ganzen Mist, den man sie in der Staatskirche gelehrt hatte, nie geglaubt. Denn woher wollten sie die Gewißheit nehmen, daß es ein Jenseits gab? Agatha hatte gesagt, sie sei ein als Lamm verkleidetes Hammelfleisch. Ein nutzloser Vogel. Sie ging die Treppe hinunter ins Speisezimmer und warf sich in Positur.
»Jetzt behaupte bloß, daß ich nicht hübsch aussehe, Agatha!« Dieses eine Mal antwortete ihre Schwester nicht. Was ihr den Spaß an der Sache verdarb. Deprimiert verließ sie das Haus und blieb für einen Augenblick im Hof stehen. Das Meer war schwarz und träge – und näher als gestern? Wenn sie durch das Tor ginge, würde sie schon nach fünfzehn Metern in diesen klebrigen Matsch unmittelbar am Ufer treten, wo Plastikflaschen und tote Seemöwen von den Wellen geschaukelt wurden. Sie wandte sich um, und der Brontomech, bisher vom Haus verdeckt, kam in Sicht. Der Wind hatte sich gedreht und blies einen feinen Regen aus Dünger und Unkrautvertilgungsmittel in den Hof. Das metallene Ungetüm brüllte, während seine optischen Sensoren sie musterten. Sie ertappte sich dabei, daß sie beinahe lief – sie hatte den Hof verlassen und folgte dem holprigen Weg, der den Strand entlang nach Süden führte. Links streckte das Meer seine feuchten Finger nach ihr aus, rechts näherte sich der Brontomech. Auf der Straße parkte ein Auto, ein großer weißer Wagen, der ihr den Weg versperrte und ihre Bewegungsfreiheit weiter einschränkte. Neben dem Wagen standen mehrere Männer und zwei große Behälter. Abrupt hielt sie inne, als sie den Medimann erkannte. Er lächelte freundlich. Er deutete ihr, zu ihm zu kommen, und sie fühlte, daß sie nichts mehr wünschte, als seine ruhige, besänftigende Stimme zu hören. Auch seine Augen lächelten; sie drückten überraschte Freude aus, als würde er einen alten Freund begrüßen. Dieses Mal, dieses Mal hatte er sie
erkannt – oder verwechselte er sie mit Agatha? Tom hatte sie immer auseinanderhalten können. Als sie zögerte, drohte ihr der Medimann gutmütig mit dem Zeigefinger. Hinter ihm warteten die anderen Männer, lässig gegen das weiße Fahrzeug gelehnt. Die Straße zur Stadt machte hinter dem Wagen eine scharfe Kurve und entfernte sich von der schwarzen Sichel des Strandes. Rasch drehte sie sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Strand endete mit der niedrigen Landzunge. Zu ihrer Rechten pulsierte die dunkle, erschöpfte See. Bevor sie das Haus erreichte, wandte sie sich nach links und stolperte über das kurze Gras bis zum Zaun. Der Medimann beobachtete schweigend, wie sie durch die Drähte kletterte – eine zerbrechliche Gestalt in einem alten Hochzeitskleid, die ruhig auf den Brontomech zuschritt und in dessen Maul verschwand. Wie weißer Rauch ...
Originaltitel: ESMERALDA Copyright © by UPD Publishing Corporation Aus GALAXY SCIENCE FICTION Januar-Februar 1972
NACHWORT »Die Monde des Jupiter sind für das nackte Auge unsichtbar. Deshalb können sie keinen Einfluß auf die Erde haben, und deshalb sind sie nutzlos, und deshalb existieren sie überhaupt nicht.« So vertraut sind uns derlei Worte, daß man fast meinen möchte, sie stammten aus unserer Zeit, dabei handelt es sich um die Reaktion eines Zeitgenossen Galileo Galileis auf dessen Anfang des siebzehnten Jahrhunderts erfolgte Entdeckung der ersten Jupitermonde. Er ahnte wohl nicht, daß er sich durch die Weigerung, ihre Existenz überhaupt in Betracht zu ziehen, um eine Wahrheit ärmer machte. Die Idee war ihm einfach zu kühn, überstieg sein Fassungsvermögen. In der Science Fiction, wie die Amerikaner schon seit fünfzehn Jahren wirkungsvoll erklären, ist der wahre Held jedoch stets eine Idee. Die Entwicklung der Handlung hängt weniger von den subjektiv motivierten Aktionen einer fiktiven Person ab, als vielmehr von wissenschaftlichen und technischen Annahmen, die genug innere Logik und inneren Zusammenhalt besitzen, um sie dem Leser wahrscheinlich zu machen. Die Entdeckung der ersten Jupitermonde also Science Fiction von gestern? Man kann es so sehen, allerdings muß man bedenken, daß Ideen nur dann von Wert sind, wenn sie forschen, nachhaken und zu Leben erblühen. Um der Vielzahl von SFDefinitionen noch eine hinzuzufügen, kann man wohl sagen, daß Science Fiction dann existiert, wenn die Spannung des Unglaubens mit der einleuchten-
den Entwicklung einer oder mehrerer zentraler technischer oder wissenschaftlicher Ideen steht und fällt. Freilich bleibt leider in der Realität der Held der Geschichte weitaus öfter eine Frage als eine Idee. Doch in beiden Fällen sind die Konsequenzen für den Schreiber dieselben: man hält sich selten mit Schwierigkeiten beim Zeichnen der Charaktere auf. Die Handlung, unterstützt durch die Plausibilität des Handlungsortes und der wissenschaftlichen Argumente, wird für vollkommen ausreichend erachtet, um die Geschichte und den Leser bis zum Ende zu bringen. Dies kann eine sehr erregende Reise werden, vor allem in den Händen eines minder erfahrenen Autors, dessen flüchtig skizzierte Personen oft einen gerade hinreichend starken Charakter aufweisen, um die zentrale Idee zu entwickeln. Solche Autoren gleiten gern ins Lehrmeisterhafte ab. Aber auch die guten Autoren finden es schwer, einen Faden zu verfolgen, der es erlaubt, die Gedanken und Gefühle des Helden ohne jede Atempause mitzuerleben. Wir identifizieren uns mit den Helden dieser literarischen Schnelläufer auf keiner persönlichen Ebene. Tatsächlich läßt sich sogar behaupten, daß zuviel Charakterisierung den Leser davon abhält, sich an die Stelle der handelnden Person zu versetzen, sich selbst in dem zentralen Dilemma zu sehen. Es ist nicht unsere Sache zu erleben, wie die handelnde Person mit ihren Problemen fertig wird, sondern zu erwägen, wie wir uns in derselben Situation verhalten würden. Dieses Zentrale der Idee ist es auch, was die Science Fiction im wesentlichen zu einem Genre der Kurzgeschichte macht. Der größere Umfang des Romans wird meist doch nur benutzt, um mehrere Ideen zu
bündeln statt um Charaktere abzurunden. Wer erinnert sich schon noch an die Helden von Frederik Pohls und C. M. Kornbluths Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute oder von Kurt Vonneguts Frühstück für starke Männer oder von irgendeinem anderen Klassiker? Aber jeder faszinierte Leser wird sich an Themen und Zentralideen dieser Romane erinnern. Erschwerend kommt hinzu, daß man in der Science Fiction entweder unwirkliche Menschen vorfindet oder wirkliche Menschen, die durch die Auflagen der Handlung und der Zentralidee gezwungen sind, unwirkliche Dinge zu tun. Das Genre tendiert zu unwirklichen Menschen. Der Schriftsteller Raymond Chandler formulierte einmal bei der Beschreibung der Schwester der Science Fiction, der Detektivgeschichte: »Ihre Charaktere leben in einer Welt, in der alles schiefgeht, einer Welt, in der lange vor der Atombombe die Zivilisation eine Maschinerie zu ihrer eigenen Vernichtung geschaffen hat.« Der Unterschied zwischen Science Fiction und Detektivgeschichte besteht einzig darin, daß die Detektivgeschichte Ereignisse beschreibt, die im Alltagsleben geschehen und von denen wir wissen, daß sie schiefgehen, während die Science Fiction auf Ereignisse baut, die bisher noch nicht geschahen und von denen wir nur annehmen, daß sie schiefgehen. Es ist interessant, daß Isaac Asimov einer der wenigen Schriftsteller ist, der in seinen Robotererzählungen ebenso wie in seinen Mysteries die Science Fiction mit der Detektivgeschichte verbindet. Es zeigt, daß Kunstwesen und Außerirdische meist als festes Mobiliar übernommen und nicht als Charaktere entwickelt werden; selten genug kommt es vor, daß ein Autor zwischen
zwei Außerirdischen anders als in den Begriffen von Gut und Böse, Freund und Feind unterscheidet. Eine bemerkenswerte Erklärung dafür, warum so viele Autoren sich bestehenden Ideen unterordnen, bietet Susan Cooper mit ihrer Theorie eines kollektiven Unterbewußtseins. Sie nimmt an, daß die Einheit des Bewußtseins nicht der Verstand ist, sondern eine Idee, daß eine einmal entwickelte Idee, ob sie nun in Worte gefaßt wird oder nicht, ein eigenes Leben annimmt und eine Welt der Ideen existiert, mit der wir durch unseren ideenbildenden Verstand alle verbunden sind und die damit fähig ist, Einfluß auf uns zu nehmen. Mag man auch geteilter Meinung über diese Erklärung sein, so entbehrt sie doch nicht einer gewissen Faszination. Eine der Hauptgefahren bei der Beschäftigung mit dieser fast schon platonischen Ebene ist, daß die Dichtung völlig unter dem Gewicht des Arguments begraben wird. Damon Knight sieht es ganz richtig, wenn er meint: »Ich möchte Science Fiction nicht zu einem Vehikel für nichts degradiert sehen. Die Geschichte, glaube ich, wird stets wichtiger sein als die Idee; wenn eine Umkehrung eintritt, erhält man eine Abhandlung.« Aber das bedeutet erst einmal einen Widerspruch, denn immerhin sind wir davon ausgegangen, daß Science Fiction meist eine Idee zum Helden hat. Es stellt sich also die Frage, warum man dann überhaupt noch eine Geschichte schreibt und nicht eine Abhandlung. Vielleicht ist Science Fiction nichts weiter als handlungsbetonte Abhandlung, die mehr als reine Wissenschaft bietet. Vielleicht ist es so, wie John Rackham es einst in einer seiner Geschichten ausdrückte, daß eine Idee einfach eine visuelle
Entsprechung haben muß, bevor wir überhaupt beginnen können, sie zu begreifen. Die Wahl des Kommunikationsmittels wird durch die Tatsache bestimmt, daß die Leser neugierig sind auf das, was geschehen wird, selbst wenn es um Menschen geht, die sie nicht im mindesten kennen, wie es das Interesse der Menge an Unfällen, Sportwettbewerben oder Skandalblättern verdeutlicht. Sicher ist also viel Wahres daran, wenn Alexander Kasanzew eine seiner Hauptpersonen in der Erzählung Der Marsianer sagen läßt, daß die Leute nicht an ihm interessiert seien, sondern ausschließlich an dem, was er tue. Der Schriftsteller, der erklärt, hier sind ein paar Geschichten über die Zukunft, wird zehnmal mehr Leser erreichen als derjenige, der erklärt, hier sind ein paar Ideen über die Zukunft. Er wird, was noch wichtiger ist, eine Leserschaft erreichen, die von der abstrakten Methode unberührter ist. Dadurch wird er sicherlich mit weit mehr Menschen kommunizieren als alle Theoretiker zusammengenommen. Der unbestreitbare Vorteil der Science Fiction: ihr enormer Unterhaltungswert. Der Mangel an Charakterisierung in der Science Fiction ist ein ständiger Kritikpunkt für Rezensenten, die nicht begriffen haben, daß zwischen diesem Zweig der Literatur und dem der konventionellen Romane und Kurzgeschichten ein Unterschied besteht. Sie vermissen Menschlichkeit, verurteilen jene zweidimensionale Welt, in der es möglich ist, sich persönliche Beziehungen vorzustellen, die nicht ständig unter hohen gefühlsmäßigen Spannungen stehen, oder eine Häuslichkeit, die nicht unter starken melodramatischen Übertönen leidet. Der Schwerpunkt ist
– wie oben beschrieben – ein anderer, wenn auch festgestellt werden muß, daß die Charakterisierung in der Science Fiction manchmal unnötig sketchvoll und stereotyp ist. Unter dieser Schwäche leidet die russische Spielart dieses Genre nicht. Zwar ist es hier noch weitaus schwerer, einen persönlichen Helden zu entdecken, denn die wesentliche Rolle wird meist an eine Gruppe vergeben, die Leiter und Mitglieder dieser Gruppe sind jedoch oft mit den kalten und umfassenden Qualitäten von Supermännern ausgestattet. Wenn eine bedeutende Person stirbt, geschieht dies meist aus freien Stücken heraus, wie es auch in Der Marsianer der Fall ist. Es wird deutlich gemacht, daß das Schicksal des Individuums in einer kommunistischen Gesellschaft untergeordnete Bedeutung hat. Echte Tragödien können sich nur selten entwickeln, weil wirklich wesentlich nur die Fülle an menschlichem Wissen und Erkenntnissen der Wissenschaft für die Zukunft ist. Freilich gibt es zunehmend Anzeichen eines neuen Trends in der russischen Science Fiction, der das Schicksal des Individuums vor dem Hintergrund dominierender Ereignisse formuliert, so etwa in Picknick am Wegesrand und Die Schnecke am Abhang der Brüder Arkadi und Boris Strugazki. Doch selbst hier ist der Held in erster Linie ein Beobachter, Kommentator, Katalysator. Am meisten kümmert ihn, was ihm als Angehörigen der menschlichen Spezies widerfährt, und der seltene persönliche Schurke ist meist noch leerer als der Held. Allerdings ist bei ihm der Mangel an Charakterisierung ungleich wesentlicher als beim Helden, denn eines fällt auf: Wenn sich bei den internationalen Besatzungen künftiger Raumfahrzeuge die führenden positiven Personen
vorwiegend russischer Namen bedienen, so klingen die der untergeordneten oder negativen Personen eher englisch, portugiesisch oder deutsch. Im übrigen ist in gewisser Weise auch der Held jeder russischen Geschichte eine Idee, nämlich meist die des Kommunismus oder doch wenigstens Marxismus. Amerikanische und deutsche Autoren sind recht erfinderisch wenn es darum geht, ihren Gestalten möglichst abenteuerliche Namen zu geben. Isaac Asimovs galaktischer Detektiv Dr. Urth ist hier ebenso zu nennen wie Gerd Maximovics menschlicher Computer Apostroph. Man fragt sich unwillkürlich, warum sich die meisten Verfasser von Science Fiction nicht vorstellen können, daß auch die Menschen der Zukunft vielleicht Johnny und Mary, Johannes und Marion heißen. Dies verwundert um so mehr, da doch die Personen selbst kaum wesentlich sind, am wenigsten in den Weltraumabenteuern, wo mehr noch als in anderen Richtungen der Science Fiction die Idee den Helden ausmacht; und doch wird gerade im Weltraumabenteuer die Wirkung bestimmter Effekte, die Durchschlagskraft einer Idee, sogar die Effizienz ganzer Gesellschaftssysteme stets durch die Augen von Einzelpersonen gesehen. Nicht daß menschliche Beziehungen, vor allem zwischen den Geschlechtern, bisher in der Science Fiction eine dominierende Rolle gespielt hätten; der Weltraum, scheint es, hat die Gewohnheit, solche trivialen Gefühle zu unterdrücken. Und trotzdem ist auch der individuelle Held im Weltraumabenteuer einer breiten Palette von Reaktionen und Verhaltensweisen fähig, von denen viele unvorhersagbar sind. Möglicherweise läßt sich ganz allgemein behaupten, daß die briti-
schen Autoren, allen voran John Christopher und John Wyndham, weniger stark die Charaktere im Interesse der Handlung vernachlässigen als ihre amerikanischen und russischen Kollegen, wobei hier vielleicht Arkadi und Boris Strugazki, Theodore Sturgeon, Kurt Vonnegut und Roger Zelazny eine Ausnahme bilden. Das muß einen nicht verwundern. Isaac Asimov hat einmal in einem satirischen Gedicht über die Gründe des Erfolges von Science Fiction mit Blick auf die guten Sitten des Genre und seines Jargons an ihre Praktiker die Mahnung gerichtet: »Vermeide alles Denken an die Leidenschaften des Mannes und der Frau/Geformt in deines Helden tiefsinn'gem Geist/Wenn all sein Garn beschränkt sich auf die Männlichkeit.« Diese fast ausschließliche Orientierung der Science Fiction auf Männer hat jedoch nichts mit einer vielleicht latent vorhandenen Homosexualität ihrer Autoren zu tun; tatsächlich sind selbst die Rassen auf den fremden Planeten, denen wir in vielen Texten begegnen, in aller Regel zweigeschlechtlich. Man kann aber auch nicht so ohne weiteres den erstaunlichen Theorien von Ednita Barnabeus und Robert Plank zustimmen, die Science Fiction als symptomatisch für eine tiefgreifende Psychose sehen, tiefer noch als jene, die zu anderen Zeiten Halbgötter, Teufel und Hexen hervorbrachte. Beide bemerken die Abwesenheit der Frau, sei es als Geliebte oder Mutter, und Ednita Barnabeu geht sogar so weit, die Vorstellung der Raumfahrt mit der Sehnsucht des Menschen nach der Rückkehr in den Mutterleib zu erklären. Sicher ist die Science Fiction das empfindlichste soziale Lackmuspapier überhaupt, weil kaum etwas so tief in das Unterbewußtsein reicht; und trotzdem
lassen sich ihre Schlußfolgerungen hinsichtlich der Abwesenheit von Frauen kaum belegen, um so weniger, als sich die Frau in neueren Texten der Science Fiction anschickt, eine dem Mann gleichberechtigte Position einzunehmen. So läßt sich das Fehlen von Frauen und – allerdings nicht zwangsläufigen – Romanzen wohl in erster Linie durch einen Mangel an Charakterisierung erklären. Immerhin handelt es sich bei der Science Fiction um eine Literatur, die weitgehend die Vorurteile und Verhaltensweisen eines bestimmten Bereichs der Gesellschaft wiedergibt, nämlich des technisch und wissenschaftlich orientierten. Mag dies auch noch so bedauerlich sein, handelt es sich dabei zumindest im Westen um einen Bereich, in dem Frauen reichlich unterrepräsentiert sind. Und bemerkenswert ist, daß selbst in den unter dem Einfluß vieler neuer weiblicher Autoren entstandenen Geschichten die zentrale Person noch immer der Mann ist. In der russischen Science Fiction ist wie in der russischen Gesellschaft das Gleichgewicht der Geschlechter besser ausbalanciert, selbst wenn auch dort nicht mehr Romanzen zu Papier gebracht werden als anderswo. Der Westen arbeitet in viel stärkerem Maß handlungsbetont und makrokosmisch. Diese Action und Unermeßlichkeit tendieren aber im wirklichen Leben oft dazu, den Leser müde, erschreckt und eingeschüchtert zurückzulassen, ihm durch die Bewußtmachung seiner Winzigkeit angesichts des Alls ein Gutteil des eigenen Wertgefühls zu nehmen. Der Einfachheit halber sind deshalb viele Geschichten in arbeitender Umgebung angesiedelt, und weil sie meist von Männern geschrieben werden, die ihr häusliches, gefühlsmäßiges
und Arbeitsleben in der Regel stärker kompensieren als Frauen, hat das andere Geschlecht einen Hang dazu, ausgeschaltet zu werden, wenn die Laborlampe eingeschaltet wird. Erscheinen Frauen doch einmal, so geschieht dies meist in Form einer Person, die sich mit einer anderen beschäftigt, die sich im Lauf der Zeit als Fachmann und schließlich als Frau herausstellt. Noch trauriger verhält es sich in der Science Fiction mit dem Versuch, die faszinierenden Möglichkeiten von Liebe, Lust und Fortpflanzung zwischen verschiedenen Rassen aufzuzeigen. Es gibt nur wenige Beispiele, die dieses Thema mit entsprechender Einfühlsamkeit und Originalität behandeln. Eine der großen Ausnahmen ist Ray Bradburys tragische Geschichte eines prähistorischen Monsters, das durch den Liebesruf eines Nebelhorns an einem Leuchtturm aus seinen einsamen Tiefen hervorgeholt wird, nur um wieder dorthin zurückzukehren, als die steinerne Braut seine stürmischen Liebkosungen nicht erwidert. Allerdings scheint diese Richtung von jüngeren Autoren nun verstärkt angegangen zu werden, und gerade Deutschland wird diesbezüglich noch für manche Überraschungen gut sein. Liegen die Schwächen der Science Fiction auch in einem Mangel an Charakterisierung und Gefühl, so liegen ihre Stärken in der Dichte der Handlung, den Beschreibungen bizarrer und ungewöhnlicher Szenen und Orte und der Fähigkeit, Argumentation und Erzählung unmerklich miteinander zu verflechten. Sie ist zweifellos eine Form der Literatur, die in erster Linie auf den Intellekt abzielt und wenig Neigung verspürt, in Gefühlen zu schwelgen. Ihre Herausforderung an das Vorstellungsvermögen ist so unbegrenzt,
daß schon lange vor der Begriffsprägung der Science Fiction Verwandtes geschrieben wurde; denn mehr oder minder bodenverbundenes Fabulieren fand von Zeit zu Zeit immer statt. Sicher hat die Science Fiction keinen Erzähler, der sich mit Charles Dickens oder Leo Tolstoi vergleichen ließe, keinen Kurzgeschichtenschreiber wie Somerset Maugham, keinen bekannten Stückeverfasser, Dichter oder Genius. Es wäre überaus aufwendig, durch Zitate die Fähigkeiten der führenden SF-Autoren zu demonstrieren, die dafür aber in zweiter Reihe gleich hinter der Hochliteratur wirklich großzügig vertreten sind. Niemand, der weitgehend vorurteilslos liest, wird bestreiten können, daß J. G. Ballards Die Kristallwelt, John Brunners Morgenwelt, Philip K. Dicks Eine andere Welt, Daniel Keyes Charly, Ursula K. LeGuins Planet der Habenichtse, Stanislaw Lems Solaris, Walter M. Millers Lobgesang auf Leibowitz, Robert Silverbergs Bruderschaft der Unsterblichen, Arkadi und Boris Strugazkis Die Schnecke am Abhang und Kurt Vonneguts Frühstück für starke Männer herausragende Literatur ist; daß die besten Kurzgeschichten von Lino Aldani, Karl Michael Armer, Alfred Bester, Ray Bradbury, Johanna und Günter Braun, Herbert W. Franke, Sewer Gansowski, Gérard Klein und Gerd Ulrich Weise es leicht mit einer Vielzahl dessen aufnehmen, was für sich das Prädikat wertvoll in Anspruch nimmt. Eine bescheidene Auswahl an neuen amerikanischen Talenten, die sich um nicht mehr und nicht weniger als eben diesen Anspruch bemühen, enthält die vorliegende Sammlung. Michael Nagula